Die Geburt der Humanität: Zur Kulturbedeutung der Religion bei Ernst Cassirer 9783787335732, 9783787314324

Die systematische Darstellung der Religionstheorie Cassirers bietet im ersten Teil eine plausible Interpretation seiner

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German Pages 184 [193] Year 1999

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Die Geburt der Humanität: Zur Kulturbedeutung der Religion bei Ernst Cassirer
 9783787335732, 9783787314324

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Thomas Vogl

Die Geburt der Humanität Zur Kulturbedeutung der Religion bei Ernst Cassirer

Meiner

CASSIR ER-FORSCHUNGEN

CASSIR ER-FORSCHUNGEN

Band 4

FELIX MEINER VER LAG HAMBURG

Thomas Vogl

Die Geburt der Humanität Zur Kulturbedeutung der Religion bei Ernst Cassirer

FELIX MEINER VER LAG HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1432-4 ISBN eBook: 978-3-7873-3573-2

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2016. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 1996 von der Evangelisch-theologischen Fakultät München als Promotionsschrift angenommen worden. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Dr. Hermann Timm, der mich viele Jahre in meiner akademischen Entwicklung gefördert hat. Er hat mir nicht nur durch seinen Ideenreichtum Freude an der Theologie vermittelt, sondern mich auch mit Toleranz und Diskussionsfreudigkeit im eigenen Denken begleitet. Schließlich hat er die Mühen des Erstreferats auf sich genommen. Ebenso sei Prof. Dr. Gunter Wenz für die Übernahme des Zweitreferats gedankt. Prof. Dr. Enno Rudolph, den Herausgebern der Reihe und dem Meiner Verlag danke ich für die Übernahme dieses Buches in die Reihe der Cassirer-Forschungen sowie für die Kooperation bei den Vorbereitungen der Drucklegung. Anca Negulescu danke ich für ihre Geduld, meine teilweise einsam zurückgezogenen Phasen bei der Niederschrift ertragen zu haben. Ein herzliches Dankeschön sage ich auch meinen Freunden Dr. Martin Laube, Dr. habil. Christian Schwarke, Dr. habil. Michael Murrmann-Kahl, Dr. Markus Buntfuß, Dr. Christian Senkel und Dr. Friedemann Voigt, die mir stets mit Rat und Tat zur Seite standen und mich in bereichernden Diskussionen bei Laune gehalten haben. Meine Eltern haben den Abschluß meiner Arbeit mit Stolz erlebt. Inzwischen ist meine Mutter gestorben. Dieses Buch sei deshalb meinem Vater und dem Andenken an meine Mutter gewidmet. München, im November 1998

Thomas Vogl

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil. Ernst Cassirers kritischer Idealismus als Kulturphilosophie I. Entfaltung der Begriffslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Cassirer und Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Cassirers Kritik der formal-logischen (Mare-Wogau) und der positivistischen (Vaihinger) Begriffslehre . . . . . . . 3. Der Begriff als funktionale Beziehung und das >System der Wirklichkeit< . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die drei Dimensionen des Symbolbegriffs . . . . . . . . . . . . . a) Symbolische Prägnanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Symbolische Formen und symbolische Funktionen . . . 5. Resümee. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 6 6 20 25 30 34 36 45

II. Von der Vernunftkritik zur Kulturkritik . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Problem der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.Das Problem der >Wissenschaften vom Menschen< und die >Krise der menschlichen SelbsterkenntnisLebensLebensformReligion der Aufklärung< und die Freiheit . . . . . . . . . 3.Resümee........................................

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VII. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Cassirers >Philosophie der symbolischen Formen< ist ihrem Selbstverständnis nach eine >TranszendentalphilosophieBedingungen der Möglichkeit< dieser Erfahrung - den Geltungsgrund - zurückgefragt wird. Die konkrete Fülle der wissenschaftlichen Erfahrung wird auf wenige abstrakte Kernstrukturen reduziert, die für die Konstitution der Erfahrung als Fundament fungieren. Sind diese Kategorien in ihrer vollständigen und notwendigen Anzahl bestimmt, dann kommt der philosophische Erkenntnisprozeß in dieser >Letztbegründung< zur Ruhe. Die so gewonnene Erkenntnissicherheit wäre um den Preis erkauft, die konkrete Fülle der Erfahrung in der Theorie nicht mehr repräsentiert zu sehen. Mit diesem Bild einer Transzendentalphilosophie jedoch hat Cassirers >kritischer Idealismus< weniger gemein als auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Zum einen interessiert er sich nicht ausschließlich für die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern für die Gesamtheit der geistigen Formprozesse, die das kulturelle Leben des Menschen bestimmen. Er ist dabei durchweg der Bestimmung der symbolischen Formen aus ihrer konkreten Äußerung und historischen Fülle heraus verpflichtet. Seine Hermeneutik dieser symbolischen Formen bleibt deshalb überall auf die Ergebnisse der Geistes- und Humanwissenschaften bezogen und angewiesen. Die >Philosophie der symbolischen Formen< macht auf kein eigenes Gegenstandsgebiet jenseits der übrigen Wissenschaften Anspruch. Zum anderen dient ihm die Systematik der symbolischen Formen dazu, jede Einzelne von ihnen in ihrer Kulturbedeutung einschätzen zu können. Die mit jeder Transzendentalphilosophie einhergehende Frage nach der Geltung von Weltverständnissen wird ihm zu der konkreten Frage nach der historisch und logisch aufweisbaren Funktion, die eine bestimmte geistige >Sicht< auf die Welt für den Aufbau des Kulturganzen innehat. Das Kulturganze unterstellt Cassirer, auf noch zu klärende Weise, der Norm der >Realisierung der FreiheitHumanwissenschaften< und >Geisteswissenschaften< empfiehlt. Um diesen Fragen nachgehen zu können, ist eine einheitliche lnterpretationsperspektive für die Cassirersche Kulturphilosophie zu erarbeiten (Erster Teil). Dazu soll zunächst der transzendentalphilosophische Grundansatz Cassirers dargestellt werden (1). Darüberhinaus ist zu zeigen, wie Cassirer von seinen transzendentalphilosophischen Wurzeln aus zu der kulturphilosophischen Perspektive der >Philosophie der symbolischen Formen< gekommen ist. Cassirers philosophische Interessen haben seiner Selbsteinschätzung nach eine Wandlung von der >Vernunftkritik zur Kulturkritik< durchgemacht, mit der seine bewußte Hinwendung zu Sprachphilosophie und Geisteswissenschaften einhergeht (II). Schließlich ist zu klären, wie Cassirer die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion versteht. Es wird sich zeigen, daß diese Frage eine doppelte Perspektivierung verlangt (111). Nachdem die Grundzüge seiner Kulturphilosophie dargestellt sind, kann seine Beurteilung der Religion expliziert werden (Zweiter Teil). Seiner doppelten Perspektive folgend ist zum einen die Religion im Vergleich mit und in Konkurrenz zu den symbolischen Formen des Mythos (IV} und der Kunst (V) zu diskutieren. Zum anderen muß gefragt werden, wie die Religion vor der Kulturnorm Cassirers - der >Realisierung der FreiheitReligion der Freiheit< (VI)? Schließlich sind am Ende der Arbeit die Ergebnisse auf die Grundfrage des Verhältnisses von Normativität und Konkretion hin zu sichten und theologisch zu beurteilen (VII).

Erster Teil. Ernst Cassirers kritischer Idealismus als Kulturphilosophie Cassirers Werk vereint die Vorzüge verschiedener philosophischer Traditionen und Denkrichtungen. Seine wechselnden Kennzeichnungen als >KulturphilosophiePhilosophie der symbolischen FormenPhänomenologie der Erkenntnis< und- vor allem in den frühen Jahren- >kritischer Idealismus< sind geeignet, nicht nur die Weite seines Denkens und methodischen Inventars anzudeuten, sondern auch die Vielfalt möglicher Interpretationen bereits vorwegzunehmen. Sein Oeuvre deckt den Themenbestand von den Grundfragen der >Lebensphilosophie< bis zum neukantischen >Kritizismus< ab, ohne eine >Schülerschaft< im epigonalen Sinn gegenüber seinen Lehrern Simmel und Cohen erkennen zu lassen. Es scheint sich deshalb zunächst Cassirers Verhältnis zu Kant als Ausgangspunkt einer Interpretation nahezulegen. Die Detailfragen seiner Beziehung zur zeitgenössischen Philosophie lassen sich so zurückstellen. Die philosophiehistorische Zuordnung Cassirers macht eine erste Hürde der Interpretation seines Werkes aus. Die Frage ob Cassirers >Philosophie der symbolischen Formen< einen »Abschied von kantianisierender Letztbegründung« bedeutet, »muß verneint werden«t; gleichwohl bleibt ihr vermittelnder, integrativer Grundzug verkannt, »wenn übersehen wird: Sie ist das Resultat von Cassirers Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie«2. Und doch sucht Cassirer weder einen letzten Ursprung des Geistes im >reinen Begriff< noch strebt er eine Kritik des Geistes durch das in sich selbst gründende >Leben< an. Es macht gerade den eigentümlichen Anspruch der Cassirerschen Philosophie aus, daß sie die Begründungslasten einer erneuten prima philosophia nur schultern zu können vermeint, wenn es ihr gelingt, die Totalität von vorwissenschaftliehen Weisen des Weltverstehensund wissenschaftlich-begrifflichem Erkennen in eine systematisierbare Vielfalt von geistigen Formprozessen zu bündeln. Eine zweite Interpretationshürde zeigt sich beim einfachen chronologischen Überblick über Cassirers Werke. Unter dem Eindruck des umfassenden kulturhistorischen Materials der Bibliothek Warburg expandieren seine philosophischen Interessen ab 1919 in so gewaltigem Maße,

1 Marx, Cassirers Philosophie, S.75. 2 Krois, Aktualität der Cassirerschen Philosophie, S.16. Es wird in 111,2 zu diskutieren sein, mit welcher metaphysikkritischen Pointe gegenüber der Lebensphilosophie dieser Hinweis gilt.

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Kritischer Idealismus als Kulturphilosophie

daß sich die Frage aufdrängt, wie die überwiegend wissenschaftstheoretisch orientierte Frühphilosophie mit den kulturtheoretischen Schriften seit der >Philosophie der symbolischen Formen< soll in einen inneren Zusammenhang gebracht werden können3. Daß Cassirers Denken in eine Kultur- und Sozialphilosophie einmündet, sagt für sich allein über den spezifischen Einheitsgesichtspunkt seines Werkes nichts aus. Der vielzitierte Hinweis auf einen Übergang von der >Vernunftkritik zur KulturkritikNotwendigkeit< und innere Schlüssigkeit dieses Übergangs geklärt ist. Ein Beispiel soll die Vorgehensweise erläutern: Der »Anfang einer Philosophie der Kultur« sei mit dem Versuch zu machen, die kulturellen »Tatsachen als ein System zu verstehen«. Diese »Arbeitshypothese« ließe sich verifizieren, wenn von den kulturellen Formen angenommen werden dürfe, »daß zwischen ihnen eine innere Einheit besteht«s. Daß diese innere Einheit im zitierten >Versuch über den Menschen< (19441) »als funktionale Einheit aufgefaßt«6 wird, setzt den Funktionsbegriff seiner »Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik«7 (19101) voraus. Schon durch die Aufgabenstellung von Cassirers Spätphilosophie sieht man sich deshalb an das Frühwerk verwiesen. Über diesen Hinweis auf den Einheitsgesichtspunkt seines Werkes hinaus läßt sich gerade für die Begriffslehre des frühen Cassirer zeigen, daß sie ein Verständnis funktionaler Einheit bereitstellt, das die Ausweitung seiner Erkenntniskritik zur Kulturphilosophie ermöglicht hat. Die Kulturphilosophie versucht zu zeigen, daß in den verschiedenen Formmodalitäten des Mythos, der Religion, der Kunst, der Wissenschaft etc. auf unterschiedlichen >Niveaus< dieselbe symbolisierende Tätigkeit am Werke ist, die freilich erst im wissenschaftlich-philosophischen Ver3 Daß der frühe Cassirer von seinen Zeitgenossen tatsächlich nicht annähernd mit dem Kulturthema in Verbindung gebracht wurde, läßt sich aus einem Brief Simmels an Rickert vom 15.12.1909 entnehmen. Im Kontext der Begründung der Zeitschrift >LogosPhilosophie der symbolischen Formen< »als eine Erweiterung und Vertiefung des Grundgedankens meiner [Cassirers; Th.V.] Begriffslehre«9 zu verstehen. Sie geht darin zwar nicht auf - und die Darstellung wird die Bedingungen, unter denen sie einer theoretischen wie thematischen Erweiterung zugeführt werden mußte, in einem zweiten Schritt zu erhellen haben (II) -, doch der Anfang ist mit der Begriffslehre zu machen (1). An den Grundzügen seiner Kulturphilosophie wird schließlich zu entwickeln sein, was die Frage nach der Kulturbedeutung einer symbolischen Form bei Cassirer bedeutet und wie sie an die Religion gestellt werden kann (III).

8 Ders.,

9 Ders.,

VdM, S.115. Symbolbegriff, S.223.

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I. Entfaltung der Begriffslehre

Die Grundlagen der Cassirerschen Begriffslehre sollen aus seiner Kantinterpretation entwickelt werden10, Der weitere Fortgang der Untersuchung wird ein Begriffsverständnis verdeutlichen, das sich als produktive Synthesis einer Relation, die einen funktionalen Richtungssinn einschließt, beschreiben läßt. Die Bedeutung des Synthesisbegriffes läßt sich von Cassirers Kantinterpretation her verstehen (1.). Die besondere, ontologiekritische Pointe des Relationsbegriffes wird in Cassirers kritischer Auseinandersetzung mit den Begriffslehren Conrad MarcWogaus und Ernst Vaihingers deutlich (2.). Die Produktivität des Begriffsverhältnisses erklärt sich aus der Funktion, die die Beziehung seiner Relate impliziert. Auf welche Weise Cassirer dieses funktional-relationale Begriffsverständnis an die Stelle der substantialistischen Begriffslehre setzt, erschließt sich aus seinem Buch zum >Substanzbegriff und Funktionsbegriff< (3.). Schließlich muß gezeigt werden, wie sich die Bedeutung der Grundbegriffe der Cassirerschen >Philosophie der symbolischen Formen< aus seiner kantischen Begriffslehre einsichtig machen läßt (4.). Ein erstes, allgemeines Vorverständnis davon, wie eine >Philosophie der symbolischen Formen< die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion aufzunehmen in der Lage ist, wird den Ertrag dieses Kapitels abrunden (5.). 1. Cassirer und Kant

Cassirer hat sich sein Leben lang kontinuierlich mit der Kantischen Philosophie auseinandergesetztll, deren Bedeutung ihm zuerst von seinem Doktorvater Hermann Cohen erschlossen wurde12, Beides zusam-

10 Der nähere Zusammenhang der Cassirerschen Begriffslehre mit dem Cohenschen und Natorpschen Kantianismus findet sich bei Knoppe, Die theoretische Philosophie, in den ersten beiden Kapiteln des Buches dargestellt. 11 Eine vollständige Liste der Cassirerschen Titel zu Kant hat Bast zusammengestellt. Sie findet sich in seiner Einleitung zu Cassirer, RKG, S.XIIIf. 12 Anläßlich des Todes Cohens schreibt Cassirer: »Aber mit inniger Dankbarkeit muß ich hier des persönlichen Eindrucks gedenken, den ich selbst, vor mehr als zwanzig Jahren, von Cohens Kant-Büchern erfahren habe. Ich bin mir bewußt, durch diese Bücher zuerst in den ganzen Ernst und in die ganze Tiefe der Kantischen Lehre eingeführt worden zu sein.« Cassirer, KLL, S.VII. Sieg weist zu Recht darauf hin, daß sich die zitierte Kantmonographie Cassirers cum grano salis »wie eine Illustration der Cohenschen Kantdeutung« (Ders., Aufstieg und Niedergang, S.448.) lese.

Entfaltung der Begriffslehre

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men mag dazu beigetragen haben, daß Cassirer lange Zeit als Vertreter des- weithin philosophisch für obsolet erachteten- >Neukantianismus< galt13. Mit dieser Zuordnung hatte er sich bereits zu Lebzeiten auseinanderzusetzen. Im schwedischen Exil erklärt er in einem Vortrag, er sei selbst häufig als Neukantianer bezeichnet worden, »und ich nehme diese Bezeichnung in dem Sinne an, daß meine gesamte Arbeit im Gebiete der theoretischen Philosophie die methodische Grundlegung voraussetzt, die Kant in der >Kritik der reinen Vernunft< gegeben hat. Aber viele der Lehren, die in der philosophischen Literatur der Gegenwart dem NeuKantianismus zugeschrieben werden, sind mir nicht nur fremd, sondern meiner eigenen Auffassung diametral-entgegengesetzt.«14 Die Grundlagen der Cassirerschen theoretischen Philosophie sind somit im Werk Kants zu suchen, das Cassirer in seiner Wertschätzung den Philosophien des Plato und Aristoteles ranggleich beiordnet15. Neuere Versuche die Cassirersche Begriffslehre auf den Einfluß Leibnizens zurückzuführen, scheinen mir die Rollen zu verkennen, die Cassirer Leibniz und Kant in der Philosophiegeschichte jeweils zuweist. Es ist Leibniz, der zuerst den mathematischen Funktionsbegriff entwickelt, diesen auf die Erkenntnisprobleme der Ethik und Metaphysik übertragen und dabei die für Kant leitende Unterscheidung der Erkenntnisvermögen- des Intelligiblen und Sinnlichen- eingeführt hat16. Aber die Befreiung der Metaphysik von der Substanzontologie, die den eigentlichen Stolz des »kritischen ldealismus«17 ausmacht, blieb Kant vorbehalten. Dabei lassen sich Begriffslehre 13 Simmel schlägt Max Weber in einem Brief vom 15.12.1909 Cassirer als Mitarbeiter an der Zeitschrift >Logos< mit folgender Begründung vor: »allenfalls wäre ich noch für den Privatdozenten Cassirer in Berlin, mit dem einerseits die Marburger Richtung (so wenig ich sie liebe), andererseits die jüngere Generation als solche vertreten wäre.« (Gassen, Landmann (Hrsg.), Buch des Dankes, S.130.) Vgl. dagegen Anm.3. 14 Cassirer, Subjektivismus, S.201f. Das Zitat stammt aus dem Jahre 1939. In einem Brief an Natorp konnte sich Cassirer 1907 noch freuen, daß seine Replik gegen eine Rezension Leonard Nelsons, in der dieser gegen die >Logik der reinen Erkenntnis< von Cohen polemisiert hatte, ihm Gelegenheit bot, seine Zugehörigkeit zum Marburger Kreis öffentlich klarzustellen: »Am 30. April 1907 betonte er in einem Schreiben an Natorp die erfreuliche Seite der >ganzen Streitigkeiten mit den Nelsonianern [ ... ],dass sie meiner Zusammengehörigkeit mit den >Marburgern< auch nach aussen hin ein sichtliches Zeugnis geben und dadurch das frohe Gefühl einer idealen Arbeitsgemeinschaft in mir verstärken.kritischer Idealismus< von Kant, vgl. ders., Prolegomena, S.293. Die Ablösung des Wahrheitsproblems von der Substanzmetaphysikkann Leibniz noch nicht zugesprochen werden. »Für Descartes

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und Metaphysikkritik für Cassirer nicht trennen18. Sie sind lediglich zwei Seiten einerneuen philosophischen Lösung, die mit einem vertieften Verständnis der Naturwissenschaften und der Infragestellung der Metaphysik >der Alten< begann, um diese in kritischer Perspektive sowohl zu entsockeln, wie- modifiziert- zu restituieren19. Es gibt also keinen systematischen Grund, um für die Entfaltung der Cassirerschen Begriffslehre hinter den Einfluß Kants zurückzugehen20. Im folgenden wird Cassirers und Malebranche, für Spinoza und Leibniz gibt es keine Lösung des Wahrheitsproblems außer durch die Vermittlung des Gottesproblems: die Erkenntnis des

göttlichen Seins bildet das oberste Prinzip der Erkenntnis, aus dem alle anderen abgeleiteten Gewißheiten herfließen.« (Cassirer, Aufklärung, S.211.) Leibniz hat das statische Substanzverständnis zu einer dynamischen Auffassung der Substanz-Monade fortentwickelt, die freilich im Begriff der >Kraft< die gesamte metaphysische Ursprungslogik der aristotelischen Tradition weiter mitführt (vgl. auch a.a.O., S.36ff. und S.305f. und ders., PhsF I I I, S.536.). 18 Vgl. ders., SuF, S.VII: »Das System der Erkenntnis duldet keine isolierte >formale< Bestimmung, die nicht im Ganzen der Erkenntnisaufgaben und Lösungen weiterwirkte. Die Auffassung, die man einmal von der Grundform des Begriffs gewonnen hat, greift daher unmittelbar in die Beurteilung der sachlichen Fragen ein, die man herkömmlicherweise der >Erkenntniskritik< oder der >Metaphysik< zuweist.« 19 In welcher Weise Cassirer die Rede von einer >Metaphysik der symbolischen Formen< beibehalten kann, wird unter Ill, 2 zu diskutieren sein. 20 Vgl. dagegen Pätzold, Cassirers leibnizianische Begriffslehre, und vgl. auch Rudolph, Leibnizrezeption als Kantkritik. Pätzold weist zu Recht darauf hin, daß die spezifische Fassung des Cassirerschen Symbolbegriffes sich schon bei Leibniz angedeutet findet. Leibniz gebraucht ebenfalls den Terminus des >SymbolischenKritik der UrteilskraftKantkritik Cassirers< der »stolze Anspruch[ ... ] auf das unbedingte Apriori eines >transzendentalen Subjekts< [ ... ] dem bescheidenen eines hypothetischen Voraussetzens weichen« (Rudolph, a.a.O., S.93) soll, so wäre doch allererst zu zeigen, daß das >unbedingte Apriori eines transzendentalen Subjekts< in Cassirers Kantverständnis überhaupt eine Rolle spielt. Das scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Die gleichsam restmetaphysische »Figur des gesetzeaufstellenden unbedingten Subjekts einerseits und der >gehorsamen< Natur andererseits bei Kant« (a.a.O., S.91) wird von Cassirer ausdrücklich nur für den »Beginn von Kants kritischer Untersuchung« zugestanden (Cassirer, PhsF Ill, S.9). Schon für die - von ihm so genannte- >subjektive< Deduktion der Kategorien (vgl. Kant, KdrV, A95ff.) läßt sich nach Cassirer diese Kaminterpretation - passive Materie vs. formendes

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Interpretation der Kantischen Vernunftkritik dargestellt, soweit sie für das Verständnis seiner eigenen Theorie von Belang ist. Welche Plausibilität seine Kantinterpretation hat, spielt insofern keine Rolle, als es hier nur darum geht herauszufinden, was er bei >seinem< Kant gelernt hat. Um zu zeigen, auf welchen Wegen sich in der kritischen Auseinandersetzung mit Kant die Cassirersche Begriffslehre entwickelt hat, ist zunächst darzulegen, wie Cassirer den transzendentalen Grundgedanken Kants gegen psychologische und substantialistische Mißverständnisse zu bewahren versucht21. In einem zweiten Schritt gilt es zu untersuchen, aus welchen Gründen und an welchen Stellen Cassirer an der kantischen Erkenntnistheorie Korrekturen vornimmt. Entscheidend ist dabei, daß Cassirer seine Kritik nicht von außen an Kant heranträgt, sondern sich durch die >Kritik der Urteilskraft< berechtigt sieht, die Lehre der ersten Kritik zu modifizieren. Kant teilt nach Cassirer mit der Tradition das gemeinsame Thema einer möglichen Begründung der Metaphysik. Den entscheidenden Unterschied zwischen Kant und seinen Vorgängern was das Verhältnis zur Metaphysik betrifft, sieht Cassirer nicht im Verständnis ihres Gegenstandes, des Unbedingten, begründet, sondern in der Art der Frage nach ihm22. Kant verabschiede die ganze Fragerichtung der Ontologie. Die Frage laute fortan nicht mehr, wie ein suisuffizienter Seinsgegenstand in seiner Objektivität uns zum subjektiven Erkenntnisgegenstand werden kann, sondern was die Rede von >Objektivität< überhaupt bedeutet23. Dabei ist >Objektivität< zunächst nicht mehr als eine Auszeichnung, die wir Urteilen beilegen, »wenn wir Grund zu der Annahme haben, daß die Gesetz - nicht mehr uneingeschränkt aufrechterhalten (Vgl. Cassirer, a.a.O., S.lOf., so auch ders., EP 111, S.6ff.). Rudolph findet bei Cassirer eine »bemerkenswert häretische Umdeutung des erkenntnisgarantierenden Ranges der kantischen Kategorien« (Rudolph, a.a.O., S.93), wo Cassirer selbst eine Entwicklung und Ergänzung der Philosophie Kants im kantischen Sinne intendiert hat. Auf das Problem wird unten nocheinmal zurückgekommen. 21 Historisch ist dieses Bemühen in Cassirers Auseinandersetzung mit der Fries-Nelsonsehen Kantinterpretation dokumentiert. Vgl. Bast, Einleitung, S.Xff. Vgl. auch Sieg, Aufstieg und Niedergang, S.241ff. 22 Vgl. Cassirer, KLL, S.155. 23 Vgl. Ders., Erken~tnistheorie, a.a.O., S.5: »Die Erklärung, daß die Wahrheit einer Erkenntnis ihre >Ubereinstimmung mit dem Gegenstande< bedeutet, erweist sich als Zirkel: denn sie stellt die Frage erst, die sie zu lösen vorgibt. Der Begriff des >Gegenstands< vermag uns keine befriedigende Antwort zu geben, da in ihm die Aufgabe nur in anderer Wendung, dem eigentlichen Gehalt nach aber völlig identisch, wiederholt wird. Denn das Prädikat der >Gegenständlichkeit< bedeutet nach der transzendentalen Grundanschauung nichts anderes, als eine >Dignitäthinter< dem Erkenmnisgegenstand, das >Ding an sichOrdnung der Dinge< liegt in der Gewißheit von Urteilen begründet, die uns erst ein Konstanzwissen vermitteln, das in seiner Allgemeingültigkeit Anspruch auf Objektivität erheben darf. Damit ist ein zweiter Unterschied zur Substanzmetaphysik vorbereitet. Die Ontologie kenne nämlich nur eine Form substantieller Gegenständlichkeit. Mache man dagegen die Notwendigkeit von Urteilen zur Basis des Gegenstandsbegriffs, so ergeben sich neue Typen von Gegenständlichkeit, deren Notwendigkeit »sich im ethischen oder ästhetischen Urteil ausspricht.«26 Die >Revolution der Denkungsart< bestehe nun darin, daß zunächst die verschiedenen Erkenntnis- und Urteilsfunktionen in ihrer spezifischen und begrenzten Geltung herausgearbeitet werden müssen, ehe die Reflexion über >Gegenstände< folgen kann. In dieser methodischen Eigentümlichkeit Kants liegt für Cassirer »die vollständige und erschöpfende Deutung des Kamischen Begriffs der >Subjektivität< wie des Kamischen Begriffs des >TranszendentalentranszendentalSubjektivität< der Begriffe dieser Gegenständlichkeiten ausmacht. Im Grunde bedeuten das >Transzendentale< und die >Subjektivität< nicht mehr als diesen gleichbedeutenden Rückgang vom Erkenntnisobjekt auf die Erkenntnisfunktionen. »Eine Verwechslung dieser Subjektivität der >Vernunft< mit der Subjektivität der Willkür oder der psychischphysischen

24 Ders., KLL, S.157. 25 A.a.O., S.158f. 26 A.a.O., S.160f. 27 A.a.O., S.161.

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>Organisation< ist nicht mehr möglich: denn eben um diese aufzuheben, wird jene angenommen und aufgezeigt.«28 Das Thema der Metaphysik ist damit restringiert auf das Einheitsproblem der Grundsätze und Prinzipien verschiedener Erkenntnisfunktionen. Damit wandelt sich, wie wir sehen werden, zugleich die Bedeutung des >Dinges an sich< je nach der Erkenntnisfunktion, für die es die Totalität und Zweckmäßigkeit der Gestaltungsweisen zu postulieren gilt. Das Thema der Philosophie insgesamt ist so auf die verschiedenen, die Wissenschaften begründenden Funktionsweisen des menschlichen Verstandes gerichtet. Dabei ist der >Verstand< »hier in keiner Weise im empirischen Sinne als die psychologische Denkkraft des Menschen, sonde·rn rein im transzendentalen Sinne als das Ganze der geistigen Kultur zu verstehen.«29 Die Bedeutung des dritten Hauptterminus Kants, der >Synthesis a prioriMerkmale< prädiziert, die in deren Begriff bereits enthalten sind. In der mathematischen >Synthesis a priori< dagegen wird von einer bestimmten allgemeinen Verknüpfungsweise ausgegangen, die die Vielzahl besonderer, unter ihr begriffener Gestalten aus sich heraussetzt. »Wir denken in einer einzigen, umfassenden und erschöpfenden Regel die verschiedenen Möglichkeiten, Schnittflächen durch einen Kegel zu legen, zusammen; und wir haben damit zugleich die Gesamtheit jener geometrischen Gebilde erzeugt, die wir als Kurven zweiter Ordnung, als Kreise, Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln bezeichnen«.JO Das Spezifikum der Synthesis a priori liegt in der fruchtbaren Konstruktivität, die sie in ihrem Bezug auf eine solche mathematische >reine Anschauung< erhält. Sie schließt nach Regeln den Zugang zu besonderen Gestaltungen erst auf, die weder empirisch hätten aufgelesen noch aus dem Subjekt eines logischen Allgemeinsatzes hätten entnommen werden können. Wählt man als Verknüpfungsweise, wie im vorangehenden Beispiel, das Neben28 A.a.O., S.163. 29 A.a.O., S.166 Jo A.a.O., S.171.

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einander des Raumes, so entsteht der Raum nicht aus einer Aneinanderreihung von Punkten, sondern allgemeiner Raum und besondere räumliche Gestalt sind nur gemeinsam als Synthesis a priori, nach Art der vorausgesetzten Erkenntnisfunktion >AnschauungvorfindenganzerKritik der reinen Vernunft< angespielt wird. Die mathematische Konzeption der Beschleunigung hatte Galilei - darin liegt die Pointe - schon ausgearbeitet, bevor er Kugeln die schiefe Ebene herunterrollen ließ, um deren Beschleunigung empirisch zu messen. »Der Ausgang des Experiments entschied jetzt nur noch darüber, welche Größen für den freien Fall gelten; daß aber überhaupt solche Größen gesucht und gefordert werden müssen: das war es, was für Galilei zuvor, nach jenem >Entwurf der Vernunft< feststand, von welchem aus das Experiment erst erdacht und eingerichtet werden konnte.«3 2 Weder die vorgängige Struktur der >Natur< (Empirismus) noch die Struktur des Begriffs (Rationalismus) allein erklären die Funktionsweise und den Fortschritt der Naturwissenschaften, da die spezifische naturwissenschaftliche Erfahrung beide nur als aufeinander bezogene Momente in sich trägt. Die naturwissenschaftliche Erfahrung zeigt insofern ein der reinen Anschauung analoges Gepräge, als auch hier ein Allgemeines die Bedingung des Besonderen ist, eine Allgemeinheit von Verstandesgrundsätzen (Größe, Kausalität etc.) die logische Vorbedingung zur >Spezifikation< von besonderen Naturgesetzen bildet33. Nur weil die VorKant, KdrV, B XIII. Cassirer, KLL, S.176. 33 Vgl. a.a.O., S.178f. 31 32

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bedingungen, die den Anschauungen eine urteilsfähige Bezogenheit auf das System der >Natur< garantieren34, a priori gewußt werden können, darf auf die Allgemeingültigkeit naturwissenschaftlicher Aussagen gehofft werden. Deren Notwendigkeit liegt nicht mehr in den >Dingen selbst< oder einer sensualistischen »Rhapsodie von Wahrnehmungen«3s, sondern in der Erkenntnisart der Edahrung, die ihre Bedingung der Möglichkeit apriori in der Beziehung zwischen reiner Anschauung und reinen Verstandesbegriffen hat. Die Bezugsmöglichkeit von empirischen Urteilen auf empirische Gegenstände ist dabei über die Funktion und vollständige Anzahl der reinen Verstandesbegriffe vermittelt. Denn die einzelnen Kategorien bestimmen als Prinzipien einerseits den Umfang der möglichen formal-logischen Urteilsformen, und lassen sich andererseits zu den Grundsätzen empirischer Edahrung konkretisieren36. Der mögliche Bezug empirischer Urteile auf empirische Vorstellungen ist damit a priori gegeben und die Möglichkeit gültiger naturwissenschaftlicher Urteile im Sinne Kants erwiesen. Die Cassirersche Darstellung der transzendentalen Analytik ist in ihrem elementarsten Grundriß vergegenwärtigt. Seine ausführliche Erläuterung des Systems aller Grundsätze des reinen Verstandes wurde fortgelassen, da es hier lediglich um die Kennzeichnung des spezifisch Cassirerschen Zugangs zu Kant gehen soll. Um den nicht zu übersehen, muß präsent gehalten werden, daß in Cassirers Kautinterpretation nie »von dem Entstehen der Edahrung« die Rede ist, »sondern von dem, was in ihr liegt. Das erste gehört zur empirischen Psychologie und würde selbst auch da ohne das zweite [... ] niemals gehörig entwickelt werden können«37, wie es in Kants >Prolegomena< heißt. Es geht der transzendentalen Methode um den Aufweis des Konzeptes der Edahrung; ihre individuelle Konzeption und Produktion gehört einem ganz anderen Fragenbereich an. Kant habe diese klare transzendentale Ausrichtung auf die Struktur der Edahrung durch seine Rede vom >GemÜt< und dessen >Vermögen< jedoch selbst wieder verdunkelt. Es ist diese Zweitsemantik Kants, gegen die Cassirer sich wendet38. Wie es den ungleichartigen seeV gl. Kant, Prolegomena, S.300. Kant, KdrV, B 195. 36 Cassirer, KLL, S.184ff. Vgl. Kant, Prolegomena, §21. 37 Kant, Prolegomena, S.304. 38 Vgl. Cassirer, PhsF 111, S.226: »Die neue >transzendentale< Einsicht, die er [=Kant; Th.V.] zu gewinnen und zu sichern bestrebt ist, spricht sich in den Begriffen der Vermögenspsychologie des 18. Jahrhunderts aus. Und so kann es scheinen als würden >Rezeptivität< und >SpontanitätSinnlichkeit< und >Verstand< hier doch wieder als seelische Grundkräfte gedacht, deren jede für sich als psychische Wirklichkeit besteht und die sodann in ihrem realen Zusammenwirken, in ihrem ursächlichen lneinandergreifen, die Erfahrung als >Produkt< her34 35

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lischen Vermögen der Anschauung und des Verstandes möglich ist, in der Erfahrung zusammenzukommen, ist eine rein psychologische Frage; sie wird von Kant mit der Lehre vom Schematismus beantwortet. Später soll Cassirers Beurteilung und Revision dieser Lehre dargestellt werden. Sie bildet in gewisser Weise den Hauptpunkt der Cassirerschen Kantrezeption, soweit es seine Begriffslehre betrifft. Zunächst aber muß Cassirers Verständnis des Kamischen >Dinges an sich< behandelt werden. Die Frage, kraftwelcher transzendentalen Ursache das Gemüt angeregt wird, seine Synthesisleistungen zu vollbringen, legt eine Antwort nahe, die zwar den transzendentalen Ansatz sprengt, in psychologischer Hinsicht aber durchaus Sinn macht: Von irgendeinem Ursprung aus muß die Erfahrung anheben und die Erfahrung kennt nichts außer sich als das >Ding an sichDing an sich< nicht zulassen, muß er eine rein transzendentale vorstellen: Die Begriffe >SeeleWelt< und >Gott< scheinen jeweils einen erkenntnisunabhängigen und erkenntnisbegründenden Sachverhalt vorstellig zu machen, können jedoch paradoxiefrei lediglich als >regulative Prinzipien< der Erkenntnis aufgefasst werden. Als >Seele< lasse sich kein Ichsubjekt bezeichnen, das als >Träger< den Akten des Denkens, Wollensund Fühlens vorausginge. Es handle sich dabei vielmehr um einen Trugschluß, der sich nur durch die Substantialisierung der allgemeinen Einheitsfunktion des Bewußtseins erklären läßt. »Denn der gesamte herkömmliche Seelenbegriff beruht darauf, daß wir eine Einheit, die in der Reihe der Bewußtseinsphänomene aufzeigbar [... ] ist, aus dem Ganzen dieser Reihe herausheben und sie einem ursprünglich für sich bestehenden Substrat zuschreiben, von dem die besonderen Erscheinungen des Bewußtseins nur eine mittelbare Folge sein sollen.«39 Deutlicher zeigt sich der bloß regulative Gebrauch der Totalitätsbegriffe am Beispiel der >WeltSeeleTranszendentalen< selbst aufgehoben wäre, ist freilich ersichdich«. 39 Ders., KLL, S.213.

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abgeschlossenes Sein, sondern als ein Werden gegeben: nicht als em Resultat, das hinter uns, sondern als ein Ziel, das vor uns liegt.«40 Setzt die Erkenntnis nach ihrer quantitativen Bestimmtheit den Zielbegriff der >Welt< voraus, so nimmt sie für die durchgängige qualitative Bestimmtheit ihres Gegenstandes einen >Inbegriff aller Realität< in Anspruch, welcher paradigmatisch im ontologischen Argument seinen Ausdruck findet. Gott als das ens realissimum kann das Prädikat der Existenz nicht missen, da dies der in seinem Begriff liegenden Vollkommenheit widerspräche. Er existiert deshalb notwendig aus sich selbst. Das ens realissimum muß als ens necessarium gedacht werden. Quod erat demonstrandum. »Vom transzendentalen Standpunkt aus aber ist längst erkannt, daß die >Existenz< überhaupt kein einzelnes begriffliches Prädikat ist, das gleichartig neben anderen stünde, sondern daß sie ein Problem der Erkenntnis ist, das fortschreitend mit der Gesamtheit ihrer Mittel bestimmt und bewältigt werden muß.«41 Der Inbegriff aller Realität ist als logische Voraussetzung der Erkenntnis und nicht als ihr suisuffizienter Grund zu verstehen. Die vorausgesetzten >Dinge an sich< verlieren in Cassirers Kantverständnis ihren ontologischen Status, um als regulative Prinzipien der reinen Vernunft den Forschungsprozeß zu leiten. Dieser kommt ohne einen transzendenten Grund aus, solange die Erfahrung nur danach befragt wird, >was in ihr liegtKritik der praktischen Vernunft< erfährt der Gedanke des Unbedingten schließlich eine neue Modifikation, die sich aus der Paradoxie der Freiheit ergibt. Die durchgängige kausale Bestimmtheit der Erfahrungswirklichkeit scheint der im Freiheitsbegriff vorausgesetzten Unbedingtheit des Handeins unmittelbar zu widersprechen. Eine >causa noumenon< sei im Bereich theoretischer Vergegenständlichung ein Unbegriff42. Wird die Freiheit jedoch nicht als vorauszusetzendes, ursächliches >Ding an sich< des Handeins betrachtet, kann sie als Ziel des Handeins angesehen werden, das uns im Sittengesetz zumindest formal bewußt ist. Die Geltungswerte im intelligiblen >Reich der Zwecke< sind von ganz anderer Art als in der empirischen Erkenntnis. Die empirische Erfahrung könne der 40 A.a.O., S.219. 41 A.a.O., S.222. 42 Vgl. a.a.O., S.270ff.

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praktischen Vernunft deshalb nichts bestätigen oder bestreiten, da sie sich einer spezifisch verschiedenen Erkenntnisfunktion verdankt. »Man hätte sich manche Schwierigkeit und manche subtile Spekulation über Kants Lehre vom >Ding an sich< - die freilich schon in diesem ihrem Ausdruck paradox und zweideutig ist - erspart, wenn man sich diesen Zusammenhang stets in voller Klarheit gegenwärtig gehalten hätte. Das >An sich< in praktischer Bedeutung bestimmt keineswegs die >transzendentale Ursache< der Erscheinungswelt; wohl aber führt es auf ihren >intelligiblen Grund< zurück, sofern uns dadurch der Endzweck auch für alles empirische Wollen und Handeln gewiesen wird.«43 Auch der Begriff der >Freiheit< wird so als Postulat und Aufgabe, aber nicht mehr als ontologische Gegebenheit verstanden. Es zeigt sich gerade in der Bedeutung, die Cassirer dem Problem des >Dinges an sich< gibt, wie er gegenüber jeglichem Anschein von >Restmetaphysik< in Kants Denken- den seine psychologische Zweitsemantik nahelegt - an der transzendentalen Methode festhält. Sie aber steht, wo sie nicht auf die bloße Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, sondern auf bestimmte Gegenstände der Erfahrung bezogen wird vor einer neuen Prüfung ihrer gedanklichen Leistungsfähigkeit. Sie hat sich am Problem der synthetisch-empirischen Urteilsform zu bewähren, kraft deren die Urteilskraft die klassifikatorische Bestimmung des Seienden vornimmt. Jede Klassifikation der naturwissenschaftlichen Tatsachen in einer Stufenfolge der Phänomene steht vor dem Problem der Naturteleologie. Denn die Zweckmäßigkeit der Naturerscheinungen- daß die Mannigfaltigkeit natürlicher Phänomene sich zu einem systematischen und in sich nachvollziehbaren Ganzen gestaltet- ist nicht aus der Verstandestätigkeit allein erklärbar. Der Verstand setzt dabei die Regeln des Übergangs von den verstandesmäßigen möglichen Erfahrungen zur empirischen Beurteilung der bestimmten, faktischen Erfahrungen voraus, »weil sie sonst keine Naturordnung ausmachen würden, ob er gleich ihre Notwendigkeit nicht erkennt oder jemals einsehen könnte.« 44 . Die Natur ist der bloßen Möglichkeit nach ohne weiteres als ein durchgängig kausal bestimmtes, aber sich der Klassifikation entziehendes Chaos denkbar. Die Urteilskraft jedoch kann sich der Natur gegenüber nicht präskriptiv, sondern nur auf die Ordnung des Bestandes >reflektierend< verhalten; wir finden also »dasjenige, was wir die >Verwandtschaft< der Arten und Naturformen nennen [... ] in der Natur nur darum, weil wir es nach

43 A.a.O., S.273. 44 Kant, KdU, S.XXXV.

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einem Prinzip unserer Urteilskraft in ihr suchen müssen.«45 Wir finden eine kunstvolle Ordnung der Natur vor, weil wir vorab die Natur als Kunst verstehen müssen. Auf diesen Begriff der hypothetisch zu fordernden, nicht aber zeitlos vorgeschriebenen, kategorialen Synthesis hat es Cassirer abgesehen. Die Möglichkeit natürliche Phänomene >zweckmäßig< in Gattungen, Arten und Unterarten zu klassifizieren, lasse sich nicht mehr apriori als Gesetz aussagen; sie sei nur als notwendige Prämisse der Urteilskraft zu begreifen. Die Urteilskraft reflektiert auf die Mannigfaltigkeit der natürlichen Phänomene, als ob ein Verstand sie zweckmäßig geordnet hätte. »Der Gedanke der >Nomothetik nach transzendentalen VerstandesgesetzenVoraussetzung< geltend machen kann.«46 Wenn Cassirer in >Substanzbegriff und Funktionsbegriff< die Bedeutung des Apriori einschränkt auf die »letzten logischen Invarianten [... ], die jeder Bestimmung naturgesetzlicher Zusammenhänge überhaupt zugrunde liegen«nicht als ob diese Invarianten vor der Erfahrung lägen, »sondern weil und sofern sie in jedem gültigen Urteil über Tatsachen als notwendige Prämisse enthalten«47 sind -, dann schließt er sich in seinem Apriorizitätsbegriff offensichtlich der >Kritik der Urteilskraft< an, die den hypothetischen Voraussetzungscharakter des Gesetzes- wenigstens für die empirische Tätigkeit der Urteilskraft- erkennt. Cassirer sieht hier, mit deutlicher Wertung, eine »Weiterführung und eine schärfere Fassung des Aprioritätsbegriffes« 48 gegenüber dem der ersten Kritik. Der apriorische Status der allgemeinen Formen bedeutet keine Trennung von der und Überordnung über die besondere Materie, das Apriori wird im Gegenteil zum Ausdruck einer den Forschungsprozeß leitenden Forderung nach der >Gesetzlichkeit des ZufälligenKritik der reinen Vernunft< als Grundsatz und präskriptives Gesetz bestimmt ist, so erklärt sich diese Umwidmung des Apriori nicht aus einer >Leibnizrezeption als 45 Cassirer, KLL, S.313. 46 A.a.O., S.322. 47 Ders., SuF, S.357.

Ders., KLL, S.326 Anm. Ders., EP 111, S.14f. 50 Vgl. Rudolph, Leibnizrezeption als Kantkritik, S.93.

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KantkritikKritik der Urteilskraftschärfere Fassung des Aprioritätsbegriffes< von Cassirer auf die transzendentale Methode als Ganze übertragen wird5t. Die Kategorien liegen nicht im Verstandesvermögen des Gemütes oder eines ortlosen >transzendentalen Subjektes< aufbewahrt, um als Gesetze der >Natur< höchstrichterlich vorgeschrieben zu werden, sondern sie verdanken sich dem >Entwurf der Vernunft< in der Dynamik des naturwissenschaftlichen Forschungsprozesses, dessen Urteilen sie als Invarianten und Prämissen inhärieren52. Damit ist die Statik der Kategorientafel bei Kant überwunden. Es bleibt mithin nur noch eine letzte Möglichkeit des psychologischen Mißverstehens der transzendentalen Methode, und auch diese wäre ausgeschaltet, wenn das Schematismuskapitel der >Kritik der reinen Vernunft< - auf das nun zurückzukommen ist - eine andere als die psychologische Deutung zuließe. Der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe wird von Kant eingeführt, um »die innere >Ungleichartigkeit< zu heben, die zwischen dem reinen Verstandesbegriff und den sinnlichen Anschauungen, auf die er angewandt werden soll, zu bestehen scheint.«53 Allein die Frage nach der >Anwendung< der Begriffe geht über den Bezug auf die Erfahrung, sofern erkannt werden soll, >was in ihr liegtErkenntnisvermögen< des Verstandes und der Sinnlichkeit, des Begriffes und der Anschauung stets nur als schon aufeinan51 Zwar wird durch die Forderung der >Gesetzlichkeit des Zufälligen< »der tiefere Sinn des Leibnizschen Harmoniebegriffs [... ] in Kant von neuem lebendig« (Cassirer, EP 111, S.15), aber »die schmale und scharfe Grenzlinie, die hier Kant und Leibniz trennt,« (A.a.O., S.16) besteht eben gerade darin, daß Leibniz die formale Zweckmäßigkeit ontologisch gegeben, Kant sie aber lediglich transzendental gefordert sein läßt. 52 Die früheste systematische Durchführung einer Kantinterpretation, die die >Kategorien als Postulate< versteht, findet Cassirer bei Jakob Sigismund Beck (Grundriß der kritischen Philosophie, Halle 1796), dessen Verdienst es sei, »daß er die Lehren der Kantischen Analytik zuerst in ihrer eigentlich grundlegenden Bedeutung gewürdigt und sie [ ... ] mit wahrhaft eindringendem systematischem Verständnis, den Zeitgenossen entwickelt und erläutert hat.« (Cassirer, EP 111, S.69; vgl. v.a. S.75ff.) 53 Ders., EP II, S.712. 54 Kant, KdrV, B S.180f. 55 Cassirer, EP II, S.715.

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der bezogene aufweisbar. »Ist dies einmal erkannt, so mag in der Tat die Lehre vom Schematismus immerhin wegfallen; - denn diese Lehre will ihrem ganzen Sinne nach nichts anderes vermitteln, als eben diese Erkenntnis selbst.«56 Hält man rein die transzendentale Methode fest, ohne sich auf psychologische oder metaphysische Erklärungen einzulassen, so bleibt als apriorische Erkenntnis die notwendige Korrelation von Sinnlichkeit und Verstand zu konstatieren. Beide sind in der Edahrung ineinander verwoben und nur in abstracto zu unterscheiden. Diese Form der Synthesis zweier unterschiedener aber unauflöslich bezogener Relate wird zu Cassirers Begriff der Synthesis apriori überhaupt. Und auch in diesem zweiten Fall der Cassirerschen Kantkritik war es kein Anstoß von außen, der Cassirer bewog, Kants Lehre vom Schematismus zu eliminieren, sondern der ästhetische Edahrungsbegriff der >Kritik der Urteilskraftganz Ungleichartiges< gegenüber, so daß sie erst durch eine fremde Vermittlung einander genähert und durch einen kunstreichen Schematismus miteinander verknüpft werden müssen, sondern sie sind wahrhaft ineinander verschmolzen und aufgegangen.«57 Hier ist eine Zweckmäßigkeit der Erkenntnis zu sehen, die sich nicht auf die Gegenstände und deren diskursive Klassifikation bezieht, sondern auf das Zusammenspiel der Erkenntnisfunktionen des Verstandes, der Einbildungskraft und der Anschauung in ihrer Einheit selbst. Die ästhetische Erfahrung wird in der Analyse als eine Beziehung von >Teil< und >GanzemZweckmäßigkeit ohne Zweck< seine Edüllung findet. »Das Einzelne weist hier nicht auf ein hinter ihm stehendes, abstrakt-Universelles hin; sondern es ist dieses Universelle selbst, weil es seinen Gehalt symbolisch in sich faßt.«58 Lassen sich die Synthesisformen der Wissenschaft und der Ethik noch der ZweckMittel-Kategorie zuordnen, so tritt die Synthesis der ästhetischen Edahrung aus diesem Zusammenhang heraus und macht ein >Ineinander< der Beziehungsmomente vorstellig, das der Edahrung keine Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine mehr erlaubt. Diese zwecklose Zweckmäßigkeit wird Cassirer zum Charakteristikum der >symbolischen 56 A.a.O., S.717. 57 Ders., KLL, S.337. 58 A.a.O., S.328.

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Form< überhaupt59, wie auch das symmetrisch-gleichgewichtige Zuordnungsverhältnis von Allgemeinem und Besonderem die Struktur des Grundbegriffes der >symbolischen Prägnanz< vorzeichnet. Bevor nun die Probe aufs Exempel gemacht und der Synthesisbegriff, wie Cassirer ihn bei Kant interpretativ gewonnen hat, mit Cassirers Begriffslehre in >Substanzbegriff und Funktionsbegriff< verglichen werden kann, ist zur weiteren Verdeutlichung zu zeigen, auf welche Weise Cassirer seine transzendentale Methode gegen die positivistische und formallogische Begriffslehre verteidigt hat. 2. Cassirers Kritik der formal-logischen (Mare-Wogau) und der positivistischen (Vaihinger) Begriffslehre Die erkenntniserweiternde Leistung des Begriffs liegt in der >Synthesis a prioriMomenteElemente< gedacht werden. Die Hypostase von Momenten der Erfahrung zu >Dingen< macht nach Cassirer das proton pseudos jeder metaphysischen Theorie aus6o. Sowohl die formallogische Begriffslehre, die die Geltung des Begriffs allein an die logische Stimmigkeit seines Inhaltes knüpft und die konkreten Sachverhalte, auf die er bezogen werden soll, als geltungsirrelevant von ihm zu distanzieren sucht, als auch die positivistische Begriffslehre, die den Inhalt des Begriffs als >primitive Analogiebildung< aus den Merkmalen der konkreten Gestalten, auf die er bezogen ist, herzuleiten sucht, machen sich dieser Hypostasierung schuldig. Sie greifen die Relate der Begriffsbeziehung einzeln auf, um dann die Geltung der Erfahrung von der einen oder anderen Seite allein abhängig zu machen. Man sieht, daß hier die UnterscheiVgl. Ders., >Geist< und >LebenMomenten< in eine Doppelheit von >Elementen< umzudeuten. Kein Glied der hier bezeichneten Gegensatzpaare aber kann jemals im eigentlichen Sinne Element sein, da es immer erst durch sein korrelativ >Anderes< zu einem in sich vollständigen und faßbaren Sinn gelangt.« Und ders., SuF, S.313f.: »Das Grundmotiv, das aller Metaphysik der Erkenntnis eigen ist, tritt hier wiederum deutlich hervor. Was im Erkenntnisprozeß selbst als unlösliche Einheit von Bedingungen erscheint und wirksam ist, das wird in der Betrachtungsweise der Metaphysik zu einem Widerstreit von Dingen hypostasiert.« Vgl. auch a.a.O., S.359. 59 60

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dungder >Synthesis a priori< von den analytischen Urteilenapriori einerseits und den empirischen Urteilenaposteriori andererseits, die in Cassirers Kantinterpretation begegnete, die Grundlage der Auseinandersetzung bildet. Die Unterscheidung zwischen >formal-logischer< und >positivistischer< Begriffslehre ist >idealtypisch< gewählt, und es lassen sich gewiß nicht leicht Autoren finden, die sich differenzlos dieser Einteilung fügen. Aber aus den Bemerkungen Cassirers zu Konrad Mare-Wogau61 auf der einen und Ernst Vaihinger62 auf der anderen Seite kann durchaus geschlossen werden, daß Cassirer den gedanklichen Kern dieser beiden Typen bei ihnen auffand und seine eigene Begriffslehre gegen die genannten >Elementarisierungen< zu profilieren suchte. Mare-Wogau beschreibt ein doppeltes Problem der Begriffslehre, das sich als die logische und empirische Unmöglichkeit erweist, den Inhalt und den Geltungsumfang eines Begriffes notwendig zusammenzudenken. Er hebt auf den Nachweis ab, »daß die gesamte bisherige Geschichte der Logik an dem Problem, das hier vorliegt, gescheitert ist.«63. MareWogau teilt mit Cassirer die Einsicht, daß die Bestimmung eines notwendigen Verhältnisses zwischen Begriffsinhalt und Begriffsumfang nur als Begriff des Begriffs möglich ist und deshalb von seinem Inhalt auszugehen hat. Dann dürfe man aber »nicht länger verlangen, daß die Beziehung zum Besonderen (>Konkretenunter sich befassterfasst< wird und >in ihm aufgehtInhalt< und den >Umfang< des Begriffs zusammenhält«,66 zu durchtrennen. Cassirer antwortet Mare-Wogau mit einer Fülle von Beispielen, von denen im Folgenden nur zwei besonders prägnante dargestellt werden. Beschränke man die Geltung des Begriffs auf die Sphäre des rein Logischen, dann könne zwar noch angegeben werden, was der Begriff meint, er gehe aber seiner Leistung für die Erkenntnis verlustig. Denn seine »positive Fruchtbarkeit [... ] besteht nicht darin, daß er überhaupt >gedachtauf einen Gegenstand bezogen< werden kann.«67 Dieser Bezug ist als Korrelation selbständiger Bedeutungen zu bestimmen, die nicht »im Sinne einer naivdinglichen Auffassung[ ... ] voneinander trennbar sind.«68 Ein naturwissenschaftlicher Gesetzesbegriff sei ohne konstitutiven Bezug auf ein bestimmtes Phänomengebiet nicht denkbar, müsse ihm aber deshalb schon jede Eindeutigkeit abgesprochen werden? Im naturwissenschaftlichen Zirkel, der von der hypothetischen Gesetzesaussage zur Verifikation durch Messung fortschreitet, zeigt sich die unauflösliche Verbindung von Allgemeinem und Besonderem darin, daß die hypothetische Gesetzesaussage auch "die Voraussetzung des Maßstabes und damit der Maßaussagen der besonderen Beobachtung impliziert. »Die Beziehung des >Allgemeinen< auf das >BesondereBesonderen< auf das >Allgemeine< stellt sich uns hier gewissermaßen in paradigmatischer Deutlichkeit dar: >Trennung< und >Teilhabe< treten klar hervor, aber sie sind von jedem dinglich-räumlichen Nebensinn befreit und als ein rein logisches Verhältnis der Komplementarität verstanden.«69 Die Forderung, daß der Begriffsinhalt auch die vollständige Angabe seines Geltungsumfanges enthalten müsse, kann nicht dogmatische Voraussetzung der Forschung sein, sondern muß nach Cassirer als >regulatives Prinzip< des Forschungsprozesses gelten. Welchem Teilbereich der Wirklichkeit ein Begriff >entsprichtPlanetenDinge< zugleich angesehen werden müßte. Ernst Vaihinger geht den umgekehrten Weg und erklärt, »daß alles begriffliche Denken« im Vergleich mit der unmittelbaren Wirklichkeit der Empfindungen »lediglich fiktiven Charakter besitzt.«73 Die Kategorien, naturwissenschaftlichen Begriffe und Ideen im kantischen Sinne sind in sich widerspruchsvolle Fiktionen, die »zur Erfassung der >wahren Welt< untauglich seien«.74 Die Kategorien werden verstanden »als analogische, ja im Grunde mythologische Apperzeptionsformen, durch die ein 71

A.a.O., S.190.

73

Cassirer, Erkenntnistheorie, S.53.

72 A.a.O., S.197.

74 A.a.O., S.54. Das Zitat lautet im Ganzen: »Allerdings sind viele wissen-

schaftliche Begriffe fiktiv und widerspruchsvoll, und kein Abdruck des Wirklichen, das uns überhaupt unzugänglich ist, aber darum sind sie doch nicht wertlos. Sie sind psychische Gebilde, welche nicht nur die Illusion des Begreifens hervorbringen, sondern es uns auch ermöglichen, uns in der wahren Welt praktisch zu orientieren.« (Vaihinger, a.a.O., S.92)

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wahrhaftes Begreifen der Welt daher niemals zu gewinnen ist.« 75 Ihre >Wahrheit< sei nicht theoretischer, sondern praktischer Natur, da sie zwar kein Wissen über die Welt vermitteln, aber viables Handeln in der Welt ermöglichen. Ihnen komme zwar keine Wahrheit, wohl aber biologische >Notwendigkeit< zu, insofern der menschliche Organismus, um überleben zu können, auf ein hypothetisches Konstrukt der Außenwelt angewiesen ist. So gelangt Vaihinger zu der These, »daß das, was wir gewöhnlich Wahrheit nennen, nämlich eine, wie man sagt, mit der Aussenwelt zusammenstimmende Vorstellungswelt, dass diese Wahrheit nur der zweckmässigste Irrtum ist.«76 Die von gedanklicher Prägung noch unberührten Empfindungen allein machen die realitätsgesättigte, psychischphysische Erlebnismöglichkeit der äußeren Wirklichkeit aus. Die vorkategoriale Wirklichkeit erschöpft sich in der Sukzession verschiedener, einfacher Qualitäten wie Kälte, Rauhheit, Helligkeit etc. »Im weiteren Verlauf zeigt es sich jedoch, daß sich der kritische Positivismus, der nach Vaihinger >die einzige fiktionsfreie Behauptung in der Welt< darstellt, hiermit keineswegs begnügt. Nicht nur, daß Empfindungen in dieser oder jener Beschaffenheit >da sindnackten Daten< der Empfindungen eine Notwendigkeit hinein, die an dieser einen Stelle dem Denken offenbar doch einen Zugang zur Wirklichkeit gestatte, der überall sonst versperrt scheine. Solle der Empfindungsfluß ein geregeltes Geschehen darstellen, dann müsse die Bedingung der Erkennbarkeit dieser Regelmäßigkeit in dem logischen Bezugssystem unserer Erfahrung gesucht werden. Dann aber können die Kategorien »als die verschiedenartigen Ausdrücke eben dieser Gesetzlichkeit selbst« 79 nicht zu reinen Fiktionen erklärt werden. Dem dabile (Empfindung) kann nur in der Beziehung als einem cogitabile (Denkregel) Notwendigkeit zugesprochen werden. Die Wahrheit der >Fiktionen< läge dann in ihrer Stimmigkeit als Relationen, die zwischen Empfindungen geknüpft werden können. »Denn die Wahrheit als gültige Relation besitzt freilich nicht die >Wirklichkeit< eines Einzeldinges

75 Cassirer, a.a.O., S.55. 76 Vaihinger, a.a.O., S.192. 77 Cassirer, A.a.O., S.55. 78 Gleichwohl stellt Cassirer die Fiktionalität aller logischen Kategorien als letzte Konsequenz des Humeschen Psychologismus dar. Vgl. Cassirer, SuF, S.339f. 79 Ders., Erkenntnistheorie, S.57.

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oder einer Einzelempfindung.«8o Sie besitzt die Wirklichkeit des Gedankens. Vaihinger rechnet die ganze Wahrheit und Wirklichkeit dem Abstraktum >Empfindung< zu, das, der Relation zum Verstandesdenken entnommen, nicht als gesetzmäßig verfaßt angesehen werden kann. Er zerschneidet wie Mare-Wogau das Band zwischen konkretem Faktum und allgemeinem Begriff, um nun nicht dem Begriff, sondern dem Faktum der Empfindung alle Wahrheit zuzusprechen. Fiktionen wären die Begriffe, wenn sie zu der >Dingwelt< der Empfindungen eine Nebenwelt von >Dingen< ausbilden würden. Nur so ließe sich eine Faktizität behaupten, die in keiner notwendigen Relation zum Begreifen steht. Der Fehler dabei ist, »daß in der Form von Dingbegriffen gesucht wird, was nur in der Form objektiver Verhältnisbegriffe zu finden ist.«81 Fakten, auf die hin Wahrheitsansprüche oder auch nur Nützlichkeitsansprüche erhoben werden können, sind allemal schon theoretisch verlaßt. »Aber andererseits wird eben damit, daß dieser Begriff des Faktischen fällt, wiederum freie Bahn geschaffen für eine andere und weitere Auffassung von Objektivität, die an die Existenz von Einzeldingen oder Einzelempfindungen nicht gebunden bleibt.«82 Cassirer versucht demnach die Reifizierung der Begriffsmomente dadurch zu unterlaufen, daß er auf die vorgängige Relation dieser Momente abhebt. Die konstruktive Synthesis des Begriffsverhältnisses läßt sich nicht aus einem seiner Momente allein erklären. Sie liegt vielmehr den Momenten als das, was ihnen ihre Bedeutung erst verleiht, zugrunde. 3. Der Begriff als funktionale Beziehung und das >System der Wirklichkeit< Die Lehre vom Begriff als Synthesis einer Beziehung von zwei Momenten zieht einen veränderten philosophischen Grundansatz nach sich. Die Funktion des Begriffs, Urteile zu ermöglichen, macht seiner angestammten Funktion, Sachverhalte zu bezeichnen und abstraktiv zu subsumieren, die Dignität streitig. So sind es zunächst der Begriff der Relation und der Funktion selbst, die den Ding- und den Substanzbegriff in ihrer erkenntnisleitenden Rolle ablösen. Aus dieser doppelten Umgewichtung ergibt sich für Cassirer ein veränderter Wirklichkeitsbegriff. >Wirklichkeit< ist weder das Prädikat einer erkenntnisunabhängigen Substanz noch deren >Wirkung< auf unsere Vorstellungswelt, sondern der 80 Ebd. 81 A.a.O., S.58. 82 Ebd.

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Zielbegriff der menschlichen Bemühungen um Konstanzwissen. Die Frage schließlich, wie sich >Subjekt< und >Objekt< zueinander verhalten, muß dieser Einsicht gemäß dahingehend umformuliert werden, welchen Urteilen das Prädikat der >Subjektivität< oder >Objektivität< zugestanden wird83. Das herkömmliche Begriffsverständnis verdankt sich der aristotelischen Ontologie, die deshalb den Ausgangspunkt der Cassirerschen >Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritiknatürlichen WeltsichtEtwasalles und nichts< gilt. Aber auch schon die weniger abstrakten Gattungsbegriffe können nicht allein durch Vergleich und Abstraktion gewonnen werden, da die selektive Aufzählung von Merkmalen die Besonderheit der Dinge nivelliert und zu keinem klassifikatorisch wertvollen Begriff zu führen vermag. So ließen sich »Kirschen und Fleisch unter die Merkmalgruppe rötlicher, saftiger, eßbarer Körper unterordnen«86 ohne damit zu einem bedeutungsvollen Begriff anzuleiten. Dieses Problem, Kriterien für die Merkmalsauswahl finden zu müssen, wird im aristotelischen Denken metaphysisch gelöst. Die Gemeinsamkeiten der Dinge drücken das Kräftespiel der Realität aus, in dem sich das Seiende spezifiziert. »Die echten und letzten Gemeinsamkeiten der Dinge sind zugleich die schöpferischen Kräfte, aus denen sie hervorgehen und denen gemäß sie sich 83 Vgl. zum Ganzen Graeser, Cassirer, S.129ff. 84 Cassirer, SuF, Untertitel. 85 A.a.O., S.6. 86 A.a.O., S.8.

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gestalten.«8 7 Die Gattungsbegriffe sind als Entsprechungen dieser Kräfte durch das Telos der Selbstentfaltung der Substanz gedeckt. »So ist es dieser Grundbegriff der Substanz, auf den auch die rein logischen Theorien des Aristoteles dauernd bezogen bleiben. Das vollständige System der wissenschaftlichen Definitionen wäre zugleich der vollständige Ausdruck der substantiellen Kräfte, die die Wirklichkeit beherrschen.«88 Die begriffsbildende Vorgabe bleibt dabei auf den Unterschied von Ding und Eigenschaft restringiert, während die Beziehungen unter den Dingen als unwesentlich beiseite gesetzt werden können. Weder der Streit zwischen Nominalismus und Realismus noch die psychologische Begriffskritik eines Berkley oder Hume hätten diese Grundvoraussetzung wirklich angegriffen. Im ersten Fall werde zwar die Existenzweise der Begriffe diskutiert; daß diese Begriffe als Gattungsbegriffe zu verstehen sind, bleibe gleichwohl auf beiden Seiten unstrittig. Die psychologische Begriffsskepsis dagegen verlagere lediglich den Ort der Auseinandersetzung in die Seele, ohne die logischen Voraussetzungen der Begriffslehre anzutasten. »Waren es zuvor die äußeren Dinge, die verglichen und aus denen ein gemeinsamer Bestand herausgehoben werden sollte, so wird nunmehr das gleiche Verfahren nur auf die Vorstellungen als ihre seelischen Korrelate übertragen.«89 Das Problem lasse sich nur beheben, wenn die in Frage stehende Bedeutung und Leistung des Substanz- und des Dingbegriffes grundsätzlich überprüft wird. Die größten Schwierigkeiten stellten sich dem aristotelischen Begriffsverständnis zunächst durch die Mathematik. Der Begriff des Punktes oder der Linie in der Geometrie können durch die Wahrnehmung nicht gewonnen, sie müssen konstruktiv erstellt werden. Die Mannigfaltigkeit mathematischer Gegenstände wird- im Unterschied zu der empirischer Gegenstände- nach Regeln gesetzt, so daß der Vergleichung und Subsumtion »hier ein eigener Akt des Denkens, eine freie Produktion bestimmter Relations-Zusammenhänge«9o gegenübertritt. Auch die Bildung des Gattungsbegriffes schließt insofern eine eigene, den Dingen fremde Leistung ein, als die Merkmale der zueinandergehörigen Dinge in ihrer Ähnlichkeit erst erkannt werden müssen. »Dem Denken wird eine eigentümliche Funktion zugestanden, einen gegenwärtigen Inhalt auf einen vergangenen zu beziehen und beide in irgendeiner Hinsicht als identisch zu erfassen.«91 Diese Synthesis »besitzt in den verglichenen Inhalten selbst kein unmittelbares sinnliches 87

A.a.O, S.9.

90

A.a.O., S.15.

88 Ebd. 89 A.a.O., S.12.

91 A.a.O., S.19.

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Korrelat«92. Um diese Synthesis erzeugen zu können, um überhaupt wissen zu können, welche Reihe von ähnlichen Gegenständen herausgehoben werden soll, müsse vorgängig ein Prinzip der Reihenbildung festgestellt sein. Nur relativ zu dieser Erzeugungsregel von Anschauungsreihen lasse sich die Einheit einer Merkmalsgruppe feststellen. »Die Identität dieser erzeugenden Relation, die bei aller Veränderlichkeit der Einzelinhalte festgehalten wird, ist es, die die spezifische Form des Begriffs ausmacht.«93 Die Logik der Gattungsbegriffe folgt in diesem Verständnis genau der Logik des mathematischen Funktionsbegriffs, der durch ein Gesetz die Zuordnung von Reihengliedern ordnet. Dabei ist die »Funktion F(a,b), F(b,c) [... ],die die Art der Abhängigkeit zwischen den aufeinanderfolgenden Gliedern festsetzt, [ ... ] augenscheinlich nicht selbst als Glied der Reihe aufzeigbar, die ihr gemäß entsteht und sich entwickelt.«94 Das bedeutet, daß gerade die Stiftung von Relationen die Leistung und Funktion des Begriffs bestimmt, und die >Dinge< »als metaphorische Ausdrücke für dauernde Gesetzeszusammenhänge der Phänomene und somit für die Konstanz und Kontinuität der Erfahrung selbst«95 angesehen werden müssen. Damit ist der Boden der aristotelischen Ontologie verlassen, und es stellt sich die Frage, welcher Wirklichkeitsbegriff aus dem Verständnis des Begriffes als funktionaler Beziehung folgt. Cassirers Einführung des Wirklichkeitsverständnisses unterscheidet sich zunächst dadurch vom metaphysischen Wirklichkeitsbegriff, daß er die methodische Fragerichtung umkehrt. Geht die metaphysische Frage vom Unterschied zwischen Denken und Sein, Subjekt und Objekt etc. aus und versucht, um die Möglichkeit gültiger Erfahrungen zu erweisen, die als Realopposition gedeutete Differenz in einem zweiten Schritt wieder zu vermitteln, so geht Cassirer mit Kant von der Erfahrung aus und fragt, warum innerhalb ihrer diese Differenzen überhaupt erst eingeführt werden. »Somit lautet die Frage nicht länger, welche Trennung im Absoluten dem Gegensatz des >Innen< und >AußenVorstellung< und des >Gegenstands< zugrunde liegt, sondern lediglich, aus welchen Gesichtspunkten und welcher Notwendigkeit heraus das Wissen selbst zu diesen Scheidungen gelangt.«96 Die unmittelbare Erfahrung kennt noch keinen Unterschied zwischen >objektiv< und >subjektivsubjektive< und >objektive< Sphäre in sich.«97 Dem Unterschied der Referenzen geht ein Unterschied in der Geltung voraus. Die empirische Erkenntnis strebt danach, Invarianten der Erfahrung zu eruieren, die eine Unterscheidung zwischen konstanten Zusammenhängen und variablen Erfahrungsinhalten ermöglichen. Da sich invariante Voraussetzungen jedoch zu einem späteren Zeitpunkt als korrekturbedürftig und variabel herausstellen können, kommt dem Unterschied des >Subjektiven< und >Objektiven< lediglich relative Bedeutung zu. Die Differenz übernimmt eine Funktion im Aufbau der Erkenntnis, ohne sich je in zwei statisch voneinander abgrenzbare Bereiche zu sondern. »Die gegenwärtige Phase erscheint der vergangenen gegenüber ebensosehr als >objektivsubjektiv< erweist. Nur dieser wechselseitige Akt der Berichtigung selbst, nur die Funktion, die die Entgegensetzung zu erfüllen hat, bleibt bestehen, während der materiale Inhalt der beiden Gebiete in stetem Fluß begriffen ist.«98 Wieder bestehe der Fehler der metaphysischen Theorien darin, die Differenzmomente zu trennen »und somit das Logisch-Korrelative in ein Dinglich-Gegensätzliches«99 umzudeuten. In der Folge müsse gefragt werden, wie >das Subjekt< >die Objekte< begreifen, wie das Denken zum Sein gelangen kann. In kritischer Perspektive erübrigen sich jedoch diese Fragen. Welcher Erfahrungszusammenhang welches Prädikat erhält, hängt von dem Gesichtspunkt ab, unter dem er thematisiert wird. »Die sinnliche Wahrnehmung bedeutet, der Halluzination und dem Traume gegenüber, den eigentlichen Typus des Objektiven, während sie, an dem Schema der exakten Physik gemessen, zu einem Phänomen werden kann, das keine selbständige Eigenschaft der >Dinge< mehr, sondern nur einen subjektiven Zustand des Beobachters ausdrückt.«1oo Vorausgesetzt ist dabei das Erfahrungsganze, dem die Einzelerfahrungen in ihrem Wert nur intern, durch den Vergleich mit anderen Erfahrungen, zugeordnet werden können. Die Frage, ob das Erfahrungsganze wiederum als >subjektiv< oder >objektiv< einzuschätzen ist, habe denselben logischen Wert wie die Vermutung, der Raum könne als ganzer >oben< oder >unten< seintot. Durch die Reifizierung der Differenz wird das logische Bezugssystem pervertiert und die fortschreitende Bestimmung der Wirklichkeit unmöglich. Denn die Wirklichkeit ist erst erreicht, wenn im Erfahrungsganzen die Einzelerfahrungen - relativ auf die jeweiligen logischen Invarianten- in ihrem Geltungswert bestimmbar 97 A.a.O., S.361. 98 A.a.O., S.363. 99 A.a.O., S.359. 1oo A.a.O., S.365 101 Vgl. ders., Subjektivismus, S.215f.

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geworden sind. »Es ist somit die logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten, was den eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffes bildet.«102 Erst die vollständige Erfassung aller Invarianten im funktionalen Gefüge der Erfahrung könnte die Einheit und Konstanz garantieren, die im metaphysischen Begriff des >Dinges< gegenüber seinen akzidentellen Eigenschaften bereits vorausgesetzt ist103. »So wenig diese Einheit jemals fertig vorliegt, so sehr sie vielmehr stets >projektierte Einheit< ist und bleibt, so ist doch ihr Begriff darum nicht minder eindeutig bestimmt. Die Forderung selbst ist das Bleibende und Feststehende, während jegliche Form der Erfüllung wiederum über sich selbst hinausweist.«104 Cassirers Begriffslehre ist nun genauer bezeichnet. Die begriffliche Synthesis umfaßt eine funktionale Relation. Das Besondere bildet einen Funktionswert der allgemeinen BegriffsregeL Dabei können die Begriffe selbst als Invarianten der Erfahrung in ihrer Funktion für andere Begriffe und für die Bestimmung des Erfahrungsganzen eine neue Bedeutung annehmen, wenn der Fortschritt der Erfahrung dies erfordert. >Symbolisch< ist in diesem Begriffsverhältnis zunächst nur die Bedeutung, die ein sinnlicher Einzelgehalt für die Gesamtheit der Erfahrungsbegriffe hat, auf die er verweist. »Jedes Einzelglied der Erfahrung besitzt insofern symbolischen Charakter, als in ihm das Gesamtgesetz, das die Allheit der Glieder umschließt, mitgesetzt und mitgemeint ist.«1os Welcher erweiterte Begriff vom >Symbolischen< die Grundlage für Cassirers Kulturphilosophie bildet, muß nun gezeigt werden. Die Analyse der >materialen< Bedingungen jedoch, die für Cassirer die Ausweitung der Erkenntniskritik zur Kulturkritik erforderlich machten, soll einem eigenen Kapitel vorbehalten bleiben. 4. Die drei Dimensionen des Symbolbegriffs

Es ist, dem an Kant orientierten Grundduktus der bisherigen Interpretation gemäß, zunächst zu zeigen, wie die Einführung des Cassirerschen Symbolbegriffs im Zusammenhang mit der kantischen Lehre von der >transzendentalen Apperzeption< steht. Dabei läßt es sich nicht vermeiden, daß das Grundmotiv des Überganges von der >Vernunftkritik zur Kulturkritik< bereits hier zur Sprache kommt. Es soll, um den Einheits102 Ders., SuF, S.371. 103 Vgl. a.a.O., S.387. 104 A.a.O., S.427. 1os A.a.O., S.399.

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gesichtspunkt der Cassirerschen Philosophie nicht zu verfehlen, im nächsten Kapitel dargestellt werden. Cassirer unterscheidet eine urtümliche Grundfunktion des Symbolischen, die >symbolische Prägnanz< oder >natürliche SymbolikSymbolisieren< überhaupt, oder aber auf unterscheidbare >EbenenSymbolische< kann aber drittens die verschiedenen >symbolischen Formen< meinen, die den phänomenologischen Ausgangspunkt der Cassirerschen Philosophie bilden. Schließlich muß, wenn schon nicht der konkrete Zusammenhang, so doch jedenfalls der ideelle Orientierungsrahmen skizziert werden, der Cassirer das Zusammenwirken der symbolischen Formen erklärt. Die apriorische Synthesis verbürgte Kant drei unterschiedliche >UrteilsartenWahrenGuten< und >Schönen< einer ontologiekritischen Deutung zuführen. Cassirer erweitert darüber hinaus auf der Basis seiner kantischen Begriffslehre den Kreis der originären Bewußtseinsformen. Schon die Analyse des Wahrnehmungsbewußtseins in der >Kritik der reinen Vernunft< zeigt Formen der Einheitsbildung - der >synthetischen Einheit der Apperzeption< auf, die noch nicht auf Urteile im engeren Sinn zielen oder gar angewiesen sind. »Ohne diese, ohne die Synthesis der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition gäbe es für uns so wenig ein wahrnehmendes, wie ein denkendes Ich - gäbe es so wenig einen rein gedachten, wie einen empirisch-wahrgenommenen >Gegenstandhöheren< Funktionen des Wissenserwerbs schon vorausgesetzt werden muß. Zugleich ist eine Weise des Bewußtseins benannt, die keine bloße >Materie< der Erkenntnis mehr denkbar sein läßt, die sodann >geformt< werden müßte. >Stoff< und >Form< werden selbst zu Reflexionsbegriffen und erscheinen so als »Glieder einer methodischen Opposition, die zugleich methodische Korrelation ist«l07, Ist aber diese apriorische, synthetische Formung der vorwissenschaftliehen Erfahrung festgestellt, dann darf sich die Kritik, »wenn sie die Struktur der Gegenstandserkenntnis aufdecken will, 106 Ders., PhsF 111, S.ll. 107

A.a.O., S.13.

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nicht auf jene intellektuelle >Sublimierung< der Erfahrung, nicht auf den Oberbau der theoretischen Wissenschaft beschränken, sondern sie muß ebensowohl den Unterbau, sie muß die Welt der >sinnlichen< Wahrnehmung als ein spezifisch-bestimmtes und spezifisch-gegliedertes Gefüge, als einen geistigen Kosmos sui generis, verstehen lernen.«1os Die >Kritik der reinen Vernunft< hat diese Aufgabe bezeichnet, aber sie war nicht primär an dem Ganzen des >objektiven GeistesUrformen der Synthesis< - der Begriff des Raumes, der Zeit sowie der der Zahl - so zielt die geistige Tendenz der Wahrnehmung doch nicht ausschließlich auf die Systematik der Naturerkenntnis und deren mathematisch-kategoriale Objektivierung. Die Grundkategorien als >Relationsqualitäten< nehmen in anderen - sprachlichen und mythischen - >Symbolisierungsmodalitäten< einen je verschiedenen Charakter an, ohne doch ihren Status als Invarianten der Erfahrung deshalb verlieren zu müssen110. Werden jedoch dem Bewußtsein weitere originäre Erkenntnisfunktionen zugestanden, dann verschiebt sich auch die Geltungsfrage fort vom Maßstab der naturwissenschaftlichen Erfahrung und kann nur noch im rekonstruktiven, phänomenologischen Durchgang durch die Gesamtheit des >objektiven Geistes< beantwortet werden, von dem aus sich auch das Verständnis der >Subjektivität< erst erschließt. Cassirer lehnt sich damit explizit an die Aufgabenstellung der Hegeischen >Phänomenologie des Geistes< an, die es unternimmt das >Wahre< im >Ganzen< zu suchen111. Die Valenz der verschiedenen Erkenntnisfunktionen und >Kulturdimensionen< ist anders nicht mehr bestimmbar, denn der »Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft ist ein anderer, als es der der Religion oder der Kunst ist - so wahr es ein besonderes und unvergleichliches Grundverhältnis ist, das in ihnen zwischen >Innen< und >Außenkünstliche Symbolik< der symbolischen Formen in ihrem steten Zusammenhang mit der >natürlichen Symbolik< des Bewußtseins überhaupt, der 108 A.a.O., S.14. 109 A.a.O., S.16. 110 Vgl. A.a.O., S.17f. und PhsF I, S.29f. 111 Vgl. PhsF III, Vorrede. 112 PhsF I, S.24.

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>Synthesis der transzendentalen Apperzeptionkünstlichen Symbolik< der symbolischen Formen >asymmetrisiertgegebene< Synthesis der Wahrnehmung wird dabei »als Vehikel, als Mittel des Ausdrucks«116 einer Bedeutung funktionalisiert. >Sinn< und >Substrat< 113 Vgl. a.a.O., S.41f. 114 A.a.O., S.42. 115 Andreas Graeser bemerkt, daß das Grundverhältnis der natürlichen Symbolik »schwierig und irgendwie undurchsichtig« (Ders., Cassirer, S.145) sei, da es Cassirer nicht gelinge, das Verhältnis zwischen >Empfindungsmaterie< und >Formmoment< schlüssig zu klären. »Dies hängt vermutlich damit zusammen, daß er [Cassirer; Th.V.] die kausalen Faktoren, die zur Erklärung von Wahrnehmungen angenommen werden müssen, zugunsten der ideellen Bedingungsgründe in den Hintergrund schiebt.« (A.a.O., S.146) Der Transzendentalphilosoph fragt aber gerade nicht nach den kausalen Anfängen der Wahrnehmung, da dies - wie Cassirer nicht müde wird zu betonen - einen Zirkel in sich schlösse. Die natürliche Symbolik stellt umgekehrt die Bedingung für unser Wissen um Ursachen dar. Nach der Verursachung der wahrnehmbaren Kausalität zu fragen käme einer petitio principii gleich. Der transzendentalen Methode gemäß kann sich die Frage nur darauf richten >was in der Wahrnehmung liegtEmpfindungsmaterieAkten< des Bewußtseins geformt würde, ist deshalb nicht zu sprechen. 116 Cassirer, PhsF I, S.42. Kaegi schränkt den Bedeutungsumfang der >natürlichen Symbolik< auf die Logizität der Anschauung ein, die den künstlichen >Zeichensystemen< der symbolischen Formen als noch uninterpretierte Wirklichkeit zugrundeliegt. Bei Cassirer scheint jedoch die >natürliche Symbolik< als logischer Grundzug von Bewußtsein überhaupt eingeführt zu werden. Stimmt diese Interpretation, dann wären >natürliche Symbolik< und >symbolische Prägnanz< bedeutungsgleiche Begriffe, die einen Sachverhalt bezeichnen, der nicht nur die nachträgliche Formbarkeit von Anschauungen, sondern die apriorische >Anschaulichkeit< aller symbolischen Formprozesse meint (vgl. Kaegi, Jenseits der symbolischen Formen). Entschieden anderer Meinung ist Dubach (vgl. ders., Symbolische Prägnanz). Dubach bestreitet zum einen mit komplizierten Argumenten, daß symbolische Prägnanz überhaupt als Grundbegriff der Cassirerschen Philosophie angesehen werden müßte, zum anderen, daß dieser Begriff in der angeführten Weise auf die >natürliche Symbolik< bezogen werden könne.

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werden in der künstlichen Symbolik bewußt unterscheidbar. Der Gehalt symbolischer Zeichen schließlich »geht rein und vollständig in der Funktion des Bedeutens auf.«117 Die Zeichensprache eines mathematischen Kalküls ist im Verhältnis zu ihrer Bedeutung arbiträr. Deshalb verliert sich jedoch die >symbolische Prägnanzpassiven< sinnlichen Wahrnehmung. In den symbolischen Formen »ist das Bewußtsein, um das Ganze im Einzelnen zu erfassen, nicht mehr auf die Anregung des Einzelnen selbst, das als solches gegeben sein muß, angewiesen, sondern hier erschafft es sich selbst bestimmte konkret-sinnliche Inhalte als Ausdruck für bestimmte Bedeutungskomplexe.«118 Bevor nun die verschiedenen Funktionsebenen der symbolischen Formung dargestellt werden können, muß der Begriff der >symbolischen PrägnanzPhilosophie der symbolischen Formen< ausmacht, genauer herausgearbeitet werden. a) Symbolische Prägnanz Jeder Erfahrungskomplex bietet sich dem Bewußtsein irgendwie >geordnet< dar. Von der einfachen sinnlichen Wahrnehmung angefangen bis hinauf zu den abstrakten Begriffen der Mathematik zeigt sich zum einen in jeder Erfahrung eine eigentümliche geistige >FruchtbarkeitAnlagerung< von Bedeutung strebt. Zum zweiten erhält sich in jeder Erfahrung eine symbolische >GestaltungZweckmäßigkeit< ausmacht. Alle Erfahrungen finden darin ihre formale Identität, »daß von jedem ihrer Momente ein Übergang zum Ganzen möglich ist, weil die Verfassung dieses Ganzen in jedem Moment darstellbar und dargestellt ist.«12o Bewußtsein ist zum einen als produktive Dynamik und >EnergiesymWie unter seinen Voraussetzungen eine alternative, vergleichbar einheitliche Auslegung der Texte zustandekommen könnte, bleibt aber unklar. 117 Cassirer, PhsF I, S.42. 118 A.a.O., S.42f. 119 PhsF III, S.236. 120 A.a.O., S.222.

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bolischen Prägnanz,121. Sie ist das Erkennungsmerkmal für die Tätigkeit der produktiven Einbildungskraft. Was die Struktur der Begriffslehre Cassirers auszeichnet, die unauflösliche Einheit zweier Bezugspunkte unter Einschluß einer Richtung auf[ ... ], eines Stehens für Anderes, das wird nun zum allgemeinen Charakteristikum jeder Erfahrung. Schon für die einfachsten, >elementarsten< Ausdruckserlebnisse gilt die Einsicht, daß dem einzelnen, sinnlichen >Substrat< eine ideelle Bedeutung nicht nur nachträglich funktional zugeordnet, sondern gleichsam >eingeschrieben< ist. Das Erlebnis der Schamröte macht eodem actu in der sinnlichen Wahrnehmung der >Röte< die Bedeutung der >Scham< vorstellig. »Hier herrscht nicht bloßes Beieinander, sondern jenes Verhältnis, das ich mit dem Ausdruck der >symbolischen Praegnanz< zu bezeichnen versucht habe.«122 Prägnant ist dabei, daß die ideellen und sinnlichen Erlebnismomente nicht sensualistisch >auseinanderfallen< um assoziativ wieder verbunden werden zu müssen, sondern stets schon in einer synthetischen, bedeutungshaften Formung auftreten. Auch für die Vorwissenschaftlichen Weisen des Weltverstehens gilt deshalb, daß das >Gesehene< nie außerhalb einer bestimmten >Sichtimprägniert< erscheint. »Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck der >Prägnanz< bezeichnen.«124 Alle weitere >Anreicherung< der Wahrnehmungen mit symbolischen Sinnfunktionen setzt dieses funktionale Grundverhältnis voraus125. Der Primat unter den Erkenntnisfunktionen ist damit der produktiven Einbildungskraft zuzusprechen, die die Verständlichkeit der sprachlichen, wissenschaftlichen etc. Symbolwelten, wie weit auch immer sie sich von der Bindung an die bloße >Sinnlichkeit< entfernen mögen, garantiert126. 121 Vgl. Krois, Aktualität der Cassirerschen Philosophie, S.25: »Das Wort >Prägnanz< kommt etymologisch von dem deutschen >Prägen< und dem lateinischen >praegnans< und verbindet deshalb die Idee der scharfen Form mit der der Fruchtbarkeit.« 122 Cassirer, Symbolbegriff, S.223. 123 Vgl. PhsF III, S.155. 124 A.a.O., S.235. 125 Vgl. dazu aber Knoppe, Die theoretische Philosophie, S.99f.: »In und durch Sprache erreichen Anschauung und Wahrnehmung erst symbolische Prägnanz.« In dem von ihm als Beleg zitierten Zusammenhang in PhsF III, S.133 ist jedoch explizit davon die Rede, daß die Möglichkeit eine »Totalerscheinung [... ] im Einzelmoment und an ihm prägnant zu >habenFacette< im Begriff der >symbolischen Form< unterscheiden (Vgl. Paetzold, Die

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Um nun die Bedeutung der Begriffe >symbolische Form< und >symbolische Funktion< genauer zu bestimmen, legt es sich nahe, mit einem Beispiel einzusetzen, das Cassirer selbst häufig verwendet127. b) Symbolische Formen und symbolische Funktionen »Wir gehen von einem bestimmten Wahrnehmungserlebnis aus: von einer Zeichnung, die wir vor uns sehen, und die wir in irgendeiner Weise als eine optische Struktur, als ein zusammenhängendes Ganzes erfassen.«128 Es soll ein einfacher Linienzug zu sehen sein, der erst in einem zweiten Schritt »sich gleichsam als Ganzes von innen her zu beleben«129 und also mit Bedeutung anzureichern beginnt. Ihrem Ausdruckssinn nach zeigt die Linie einen bestimmten >physiognomischen CharakterStimmungSicht< ein, in der allein Gegenstände dem Bewußtsein zukommen. Der Linienzug wird von Cassirer nur deshalb >an sich< und unabhängig von seiner Bedeutung thematisiert, weil so allein gezeigt werden kann, welche verschiedenen geistigen >Formen< ein Linienzug aufweisen kann. Er darf deshalb nicht als >Materie< verschiedener nachträglicher Deutungen mißverstanden werden. Außerhalb des Verhältnisses der symbolischen Prägnanz ist kein Bewußtseinsinhalt gegeben. Die Linie >an sich< ist hier lediglich aus Darstellungsgründen gedacht wie >gegebenEnergie des Geistes< abhebt, die dieses Faktum im Zusammenspiel von Sinn, sinnlichem Zeichen und Interpret erzeugt. Erzeugungsmetaphern, wie >Energie des GeistesInterpretTheorie selbst schon istWas in ihm liegtTätigkeiten< u.ä. bezogen werden, erklärt wird damit aber nichts. 127 Vgl. Cassirer, PhsF 111, S.232ff., auch: ders., Symbolproblem, S.Sff. und ders., Symbolbegriff, S.211f. 128 Ders., Symbolproblem, S.5. 129 A.a.O., S.6. 130 PhsF III, S.232. 131 Symbolproblem, S.6.

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Linie kann zudem als Träger einer mythischen Bedeutung aufgefasst sein. »Sie ist umwittert von einem magischen Zauberhauch; sie wirkt nicht mehr als bloß ästhetische Form, sondern wie eine Uroffenbarung aus einer anderen Welt: aus der Welt des >Heiligensymbolischen Form< vor. Das Moment des sinnlichen Erlebnisses >Linie< ist mit wechselnden Momenten symbolischer Formung zu einem je einheitlichen Bewußtseinsinhalt korrelativ verbunden. Diese symbolischen Formen sind weniger verschiedene Realitäts- oder Bedeutungsbereiche als vielmehr Dimensionen der Weltauffassung, die auf verschiedenen Funktionen des Bewußtseins aufruhen. Als ein »allgemeinstes gedankliches Bezugssystem«m unterscheidet Cassirer die Ausdrucks-, die Darstellungs- und die Bedeutungsfunktion136, die in den verschiedenen symbolischen Formen - graduell abgestuft - präsent und wirksam sein können. Der dritte Band der >Philosophie der symbolischen Formen< schreitet in Ebd. A.a.O., S.7. 134 PhsF III, S.233. 135 Symbolproblem, S.8. 136 Diese Unterscheidung findet sich zuerst in dem 1927 erschienenen Aufsatz über >Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie< (vgl. Cassirer, Symbolproblem); die beiden ersten Bände der >Philosophie der symbolischen Formen< bezeichnen denselben Sachverhalt noch in einer anderen Terminologie. So unterscheidet Cassirer einen mimischen, einen analogischen und einen symbolischen Ausdruck in der Sprache, um damit den Zugewinn an freier Bedeutungszuweisung gegenüber dem bloßen Ausdruckserleben zu bezeichen (vgl. ders. PhsF I, S.134ff.). In vergleichbarer Weise führt er auch die Goethesche Trias von Nachahmung, Manier, Stil an (vgl. ders., Der Begriff der symbolischen Form, S.182). Gleichwohl bleibt die hier zur Darstellung herangezogene Triade »die anscheinend reifste Formel, die Cassirer gefunden hat« (Orth, Beschreibung, S.603.). 132 133

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der Darstellung die symbolischen Funktionen ab und weist ihnen ihren jeweiligen Ort im Aufbau des Bewußtseinsganzen zu. Dabei wird die Leistung der symbolischen Formen in Beziehung zu den symbolischen Funktionen bestimmt, die wiederum kantisch der sinnlichen Wahrnehmung, der repräsentierenden Anschauung und dem wissenschaftlichen Verstand zugeordnet sind. Dieses komplexe Argumentationsgefüge kann hier nur grob skizziert werden137. Es genügt fürs Erste, den Unterschied zwischen den Funktionen deutlich werden und deren Bezüge zu einigen symbolischen Formen aufscheinen zu lassen. Die Ausdrucksfunktion ist die basale Weise, symbolisch prägnante Bewußtseinsinhalte aufzufassen. Ihr angestammtes Gebiet ist das Wahrnehmungsbewußtsein im allgemeinen und die Wahrnehmung des sogenannten >Fremdseelischen< im besonderen. Die konkrete Wahrnehmung schließt insofern schon immer eine geistige >Sicht< mit ein, als sie Wahrnehmung von Ausdruckscharakteren ist. Im Zusammenhang des Begriffes der >symbolischen Prägnanz< wurde bereits das Beispiel der >Schamröte< angeführt, das die Ausdrucksfunktion in der Wahrnehmung verdeutlichen kann. Von einer sprachlich-begrifflichen Objektivierung und Repräsentation kann hier noch keine Rede sein, dennoch zeigt sich bereits in der bloßen Präsenz des Ausdruckswertes im wahrgenommenen Gesicht die geistige Tendenz zur Objektivierung. Es wird der Empfindungskomplex >Gesicht< mit der Bedeutung >Scham< nicht künstlich verknüpft. »Der Ausdrucks-Sinn haftet vielmehr an der Wahrnehmung selbst; er wird in ihr erlasst und unmittelbar >edahrensymbolischen Prägnanz< - schwierig macht zu sagen, wo genau der Übergang von der Ausdrucksfunktion zur Darstellung liegen soll. Jedes Ausdruckserlebnis muß für sich schon symbolisch prägnant sein, sonst wäre es nicht anschlußfähig für Darstellungssinn. Cassirer spricht davon, daß die >natürliche Symbolik< »schon in jedem einzelnen Moment und Fragment des Bewußtseins notwendig enthalten oder mindestens angelegt« (PhsF I, S.41.) sein müsse. Gleichwohl scheint Cassirer die >symbolische Prägnanz< mit einem privilegierten Bezug auf die Funktionsebene der Darstellung einzuführen. Völlige Klarheit läßt sich diesbezüglich nicht herstellen. Eine nahezu vollständige Liste aller möglichen Begriffsverwirrungen, denen sich eine Lektüre der Cassirerschen Schriften ausgesetzt sehen kann, findet sich bei Orth, Operative Begriffe. Orth legt seinen Ausführungen die Unterscheidung operativer und thematischer Begriffe zugrunde. Interessant ist dabei, daß die wortfeldhafte und metaphorisch-vieldeutige Verwendung von operativen Begriffen und Begriffszitaten nicht als Mangel an klarer Ausdrucksweise geschmäht wird, sondern gerade die Bedingung dafür ausmachen soll mit einem Autor in den Prozeß der Verständigung eintreten zu können (a.a.O., S.47f.).

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Welt erst ihre volle Aufhellung.«138 Denn auch im Mythos ist die Bedeutung der Wahrnehmung distanzlos >inkarniertIndifferenz< wird erst dann völlig verständlich, wenn man erwägt, daß es in der mythischen Welt noch keinen logischen Darstellungs- oder Zeichen-Sinn gibt, sondern daß hier noch, unbefangen und fast unumschränkt, der reine Ausdrucks-Sinn waltet.«Ho Dieser bloße Ausdruckssinn wird von der sprachlichen und wissenschaftlichen Objektivierung in seine engen Grenzen gewiesen und kann doch nie völlig überwunden werden. Zumindest für den >Gegenstandsbereich< des Lebendigen bleibt die Ausdrucksfunktion konkurrenzlos in Kraft. Für die Bestimmung des >FremdseelischenDuAllbeseelung< im mythischen Bewußtsein führt nicht dazu, nichts Beseeltes mehr wahrnehmen zu können. Man muß nur das Leib-Seele-Verhältnis, das hier in den Vordergrund tritt, nicht mythisch oder metaphysisch, sondern symbolisch aufzufassen wissen. Cassirer kann geradezu sagen: »Das Verhältnis von Seele und Leib stellt das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation dar, die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprünglich weder ein Innen und Außen, noch ein Vorher und Nachher, ein Wirkendes oder ein Bewirktes; hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist, das sich selbst interpretiert, - das sich in eine Doppelheit von Momenten auseinanderlegt, um sich in ihnen >auszulegenBewußtseinsPhilosophie der Leiblichkeit< oder einer biologischen Begründung der Cassirerschen Philosophie eintragen zu wollen, scheint- im weiteren Kontext der Cassirerschen Gedanken - eher ein Mißverständnis zu sein.

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So sehr die Sprache auch der Ausdrucksfunktion verhaftet bleibt, es zeigt sich in ihren höheren Formen zusätzlich eine Funktion der Darstellung, die eine neue Weise der Objektivierung von Wirklichkeit zuläßt. Wo ein sinnlicher Inhalt nicht in seiner bloßen Präsenz aufgeht, sondern anderes zu repräsentieren vermag, ist die Sphäre des Ausdruckssinns verlassen. »Der Moment, in dem irgendein einzelner sinnlicher Eindruck symbolisch gebraucht und als Symbol verstanden wird, ist immer wie der Anbruch eines neuen Weltentages.«143 Die Gliederung der anschaulichen Welt in >Dinge< und >Eigenschaften< sowie die einfachen Akte sprachlicher Benennung wurzeln gleichermaßen in der Möglichkeit des >Wiederfindens< eines vergangeneo Erlebnisses im gegenwärtigen. Sie setzen die Repräsentation des Ganzen in einem seiner Momente voraus. Cassirers Beispiel der Farbwahrnehmung mag dieses Verhältnis erläutern: »Auch als bloßer Lichteindruck genommen ist eine einzelne Farbnuance nicht nur schlechthin >präsentrepräsentativein< Rot, als Exemplar einer species, die durch es vertreten wird, bewußt.«144 Es fungiert als ein Reihenglied von Rotnuancen, deren Gesamtheit es mit zur Darstellung bringt. Analog erfährt etwa die Kategorie des Raumes unter der Funktion der Darstellung eine Umwandlung vom bloß pragmatischen Erlebnisund Handlungsraum zum distanzierteren, anschaulichen Gegenstandsraum145. >>Der Übergang von der bloßen Aktion [... ] zur Darstellung bedeutet in jedem Falle eine echte >Krisis< des Raumbewußtseins, und zwar eine solche, die nicht auf den Umkreis dieses Bewußtseins beschränkt bleibt, sondern die mit einer allgemeinen geistigen Wendung und Wandlung, mit einer eigentlichen >Revolution der Denkart< Hand in Hand geht.«146 Der Übergang zu einerneuen symbolischen Funktionsebene kommt einer >Metamorphose< der Weltauffassung im Ganzen gleich. Der Wechsel von der Ausdrucksfunktion zur Darstellungsfunktion bringt zwar in allen Modalitäten der symbolischen Formung einen Zugewinn an Konstanzwissen und >Objektivität< mit sich. Dennoch verbleibt die Weltauffassung der sinnlichen Wahrnehmung, der Anschauung und der Sprache hier noch im »Bereich des >natürlichen WeltbegriffsPräsenz< verharrten, sondern aus der Grundfunktion der >Repräsentation< entsprangen. Aber erst innerhalb der reinen Bedeutungssphäre gewinnt diese Funktion nicht nur an Ausbreitung, sondern hier erst tritt das Spezifische ihres Sinnes in voller Klarheit und Schärfe hervor.«t48 Die Erkenntnis abstrahiert von der konkret-dinglichen Wirklichkeit und wendet sich den Beziehungen zwischen den Sachverhalten und ihrem Maßsystem zu. Der Geist kann nicht dabei stehen bleiben, die anschauliche Wirklichkeit an Ausdruck und Darstellung gebunden zu durchmessen, »er muß dazu übergehen, ein Reich der Symbole in voller Freiheit, in reiner Selbsttätigkeit aufzubauen.«149 Hier schließt sich der Kreis zu jenem ersten Symbolverständnis, das in Cassirers >Substanzbegriff und Funktionsbegriff< begegnete. Die Symbolizität des Begriffs ist nun klarer gefaßt als die reine >symbolische Bedeutung< im Unterschied zur >symbolischen PrägnanzSpannung< zwischen >Sinnlichkeit< und >Sinn< unterscheiden lassen. Darin liegt die erkenntnistheoretische Rechtfertigung dafür, die Bedeutung des >Symbolischen< über die Begriffslehre 148 149

A.a.O., S.332. A.a.O., S.333.

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hinaus zu erweitern. Die drei unterschiedlichen Erkenntnisfunktionen sind dabei als der ideelle Orientierungsrahmen einer >Phänomenologie des Geistes< zu verstehen, nicht als ontologisch vorauszusetzende >Kräfte< der >Weltenschaffungsymbolischen Form< genauer zu klären. Auf Mythos, Sprache, Wissenschaft wurde angespielt, ohne daß hinreichend klar geworden wäre, was unter diesen >Modalitäten< zu verstehen sein soll. Sie setzen die kategorialen Qualitäten des Raumes, der Zeit etc. sowie Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Verstand als Erkenntnisfunktionen voraus, verbinden sich mit ihren >Sphären< und bleiben doch von ihnen als materiale >Kulturbereiche< unterschieden. Die berühmteste diesbezügliche Definition Cassirers lautet folgendermaßen: »Unter einer >symbolischen Form< soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.«150 Um unter der Bedingung der Zeit im Bewußtsein - im >stream of consciousness< - Konstanz erringen zu können, muß eine Verbindung von einzelnen Bewußtseinsinhalten zu allgemeinen Bedeutungen geschlagen werden und insofern eine Synthesis des Besonderen und Allgemeinen erfolgen151. Formen dieser Synthesis sollen >symbolische Formen< heißen. So weit scheint der Begriff deutlich zu sein. Und doch bleibt eine Spannung zwischen dem Begriff der >Form< und dem der >Energie< des Geistes, solange die Form als statisches Gebilde der Energie als >dynamis< entgegensteht. Die Doppeldeutigkeit der Definition ist offenbar der doppelten Bestimmtheit der >symbolischen Prägnanz< analog. Im Begriff der >Prägnanz< zeigte sich sowohl der Hinweis auf eine >Fruchtbarkeit< und ein tendenzielles >Streben< nach Bedeutung als auch die Statik der zweckmäßigen Gestaltung. Der Widerspruch löst sich vielleicht auf, wenn deutlich wird, daß die Synthesis des Bewußtseins ein >Prozeß< ist, der zum Ziel hat, im Werden ein Sein erst zu stiften, variable Inhalte relativen Bedeutungseinheiten zugeordnet sein zu lassen. Das Beharrliche ist dabei nicht die Gestalt selbst, sondern die Relationalität der Gestaltung. Aber auch hier verbirgt sich noch ein Problem. 150 Ders., Der Begriff der symbolischen Form, S.175. Vgl. dazu Orth, Lebensordnungen, S.lO: »Offen bleibt hier [PhsF I; Th.V.], wer genau der Träger und Akteur solchen Tuns und Produzierens, solcher Energien ist.« Diese Frage kann kaum beantwortet werden, weil sie ein substantialistisches Verständnis der Einheitsfunktion des Bewußtseins impliziert. Sie kommt aber auf, weil Cassirers metaphorische Rede von >EnergienVermögensymbolischen Form< Gemeinte ist ihre Tendenz, zu metaphysischen Fehlverständnissen anzuleiten. Von symbolischen >Formen< zu sprechen, legt die Frage nach konstanten >Beständen< dieser Formen nahe, obwohlleicht einsichtig zu machen ist, daß solche medial fixierten Bestände als das, was sie sind, wiederum nur unter Inanspruchnahme der symbolischen Sicht, deren Erhalt und Sein sie garantieren sollen, erkannt werden können152. Die Rede von den geistigen >Energien< führt dagegen sofort in die Aporien der Vermögenspsychologie zurück, da das Gemeinte Bedingung der Möglichkeit der Objektivation vermögenspsychologischer Sachverhalte sein soll, die deshalb nicht als deren Grund fungieren können. Von einem >Prozeß< der symbolischen Formung zu sprechen, scheint zwar eine überindividuelle und deshalb brauchbare Deutung der geistigen >Energien< zu sein. Gleichwohl läßt sich dieser Begriff leicht im Sinne des Hegeischen Weltgeistes mißverstehen, der sich als metaphysischer >Selbstläufer< im Produzieren von Kulturobjektivationen seiner Idee ergeht153. Der Begriff der >symbolischen Form< ist insgesamt sehr viel vorsichtiger zu interpretieren. Dem Duktus des Cassirerschen Denkens gemäß, wie es sich bislang dargestellt hat, ist er phänomenologisch, in transzendentalem Sinn, zu verstehen. Bestimmte Phänomenbereiche des Geistes zeigen bestimmte Invarianten der Formung, die als deren kategoriale Bedingung der Möglichkeit- aber nicht als ihre Ursache -angesehen werden müssen. In diesem Sinn hat zum Beispiel auch der Mythos seine >KategorialitätStrukturforma formansforma formatavorliegenden Zeichen< gar nicht sprechen. Jedes >Gegebene< ist nur und immer für ein >Gedachtes< gegeben. 153 Zur Cassirers Kritik des Prozeßdenkens vgl. ders., Metaphysik, S.lOlff. 154 Der Widerstreit zwischen Energie und Bestand, zwischen Dynamik und Form wird von Cassirer am Beispiel der Sprache veranschaulicht. Denn im Sprachprozeß »wird auch das Festgewordene immer wieder umgeschmolzen, so daß es sich nicht >zum Starren waffnen kannUrsprung< in bestimmtenUrbeständen oder Urkräften zu fragen, geht fehl, da alldiesen symbolischen Formen lediglich das >Urphänomen< des

Bewußtseins zugrundeliegt, das sich in dem Faktum erschöpft, daß Synthesis statthat. Der Mensch schafft sich- wenn man so will- die symbolischen Formen, aber dieses >Tun< ist, wie das >Leben< »ein Letztes- an ihnen ist nichts weiter zu >wissen< und zu erklären«.m Der offene Gesamtraum der Kultur wird von Cassirer - bildlich gesprochen - nach seinen drei verschiedenen Dimensionsachsen zugleich vermessen, wobei jeweils nur die Angabe aller drei Variablen und ihres Zusammenspiels die hinreichende Bestimmung eines Kulturphänomens verspricht156. Zum Einen ist symbolische Prägnanz als Synthesis unter der Bedingung der Grundkategorien des Raumes, der Zeit und der Zahl überhaupt vorausgesetzt. Die Bedeutung dieser Kategorien variiert jeweils zum Zweiten in den Erkenntnisfunktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der symbolischen Bedeutung. Schließlich sind drittens diese beiden Reihen hinsichtlich ihres Bedeutungs- und Funktionswandels in der Pluralität der symbolischen Formen zu bestimmen. Nur so vermag Cassirer einen philosophischen »Standpunkt zu finden, der überall diesen Formen und der doch andererseits nicht schlechthin jenseits von ihnen liegt: - einen Standpunkt, der es ermöglichte, das Ganze derselben mit einem Blicke zu umfassen und der in diesem Blicke doch nichts anderes sichtbar zu machen versuchte, als das rein immanente Verhältnis, das alle diese Formen zueinander, nicht das Verhältnis, das sie zu einem äußeren, >transzendenten< Sein oder Prinzip haben.«157

Dynamik und Rhythmik sich ändern kann. Es ist freilich ersichtlich, daß auch alle diese Wendungen nichts anderes und nicht mehr sein können als Gleichnisse; aber, wenn überhaupt, so läßt sich nur in solchen dynamischen Gleichnissen[ ... ] der Zusammenhang zwischen dem >Besonderen< und dem >Allgemeinen< in der Sprache [... ] beschreiben. Und das gleiche Grundverhältnis, das hier innerhalb der Sprache aufgewiesen wurde, wiederholt sich in jeder anderen echten >symbolischen FormGeist< und >LebenGegenstandKritik der Urteilskraft< der ästhetischen Synthesis zuschreibt, und erklärt den Gedanken ihrer nachträgliche Vermittlung durch Schemata für vedehlt. Er gewinnt so bei Kant die Grundstruktur eines Begriffsverständnisses, das in >Substanzbegriff und Funktionsbegriff< zu einer Synthesis zweier funktional bezogener Relate konkretisiert ist. Cassirers Auseinandersetzung mit der formallogischen und der positivistischen Begriffslehre unterstreicht sein Festhalten an der transzendentalen Grundansicht. Jede nicht-transzendentale Begriffslehre wird von ihm als unfähig angesehen, die Produktivität des Begriffsverhältnisses zu erklären. Der Gedanke der Produktivität und gleichzeitigen, zweckmäßigen >Bestimmtheit< der Bewußtseinsleistungen überhaupt, wie er im Terminus der >symbolischen Prägnanz< zum Grundbegriff der Philosophie der symbolischen Formen wird, ist gemäß der Struktur seiner Begriffslehre entwickelt. Die Erweiterung der Vernunftkritik zur Kulturkritik, über die kantisch-neukantischen Vorgaben hinaus, hat ihren erkenntnistheoretischen Rechtsgrund in der Schlüssigkeit dieser Entwicklung. Es konnte auf der Basis der erarbeiteten Einsicht in die Grundhaltung des Cassirerschen Denkens eine Interpretation des Begriffs der >symbolischen Form< gegeben werden, die die nähere Darstellung seines Kulturverständnisses leiten wird. Die >symbolischen Formen< sind Beobachtungsbegriffe, die sich auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit unterscheidbarer Kulturdimensionen beziehen. Sie fragen danach, welche apriorischen Formgesetze in der sprachlichen, mythischen, wissenschaftlichen etc. Erfahrung liegen. Inwiefern die Objektivationsmodalitäten der symbolischen Formen >geltenReligion< abzugrenzen. Die transzendentale Analyse führt die vielfältigen religiösen Phänomene auf ihre Strukturinvarianten zurück und bezeichnet so das >Wesen< der Religion. Der transzendentale Ansatz definiert sich nicht mehr über den Unterschied zur Empirie oder zur Geschichte, sondern über die Abwehr dogmatisch-metaphysischer Wissensansprüche. Cassirers transzendentale Hermeneutik ist deshalb überall auf die Ergebnisse der historischen und empirischen Wissenschaften angewiesen.

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//. Von der Vernunftkritik zur Kulturkritik Cassirers Beschäftigung mit den kulturphilosophischen Zusammenhängen der >Philosophie der symbolischen Formen< hat ihre Vorläufer in den geistesgeschichtlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Studien zu >Freiheit und Form< einerseits und dem> Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit< andererseits158, Wie der >szientifische Funktionalismus< und der >literarische Humanismus< Cassirers zu einem einheitlichen kulturphilosophischen Konzept zusammenkommen konnten, macht das Problem der Interpretation aus. Cassirer kann unabhängig davon ob er über >die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis< oder über >Charakter und Grundrichtung des mythischen Gegenstandsbewußtseins< schreibt, den Text mit Goethezitaten illustrieren, oder sogar argumentativ unterfüttern159, Er hat sich in >Idee und Gestalt< zu Kleist, Hölderlin, Schiller und natürlich Goethe geäußert, der ihn wenn nicht sogar nachhaltig inspiriert hat, so ihm doch zumindest als durchgehendes Beispiel für sein eigenes Denken dient. »Wenn diese beiden Motive - der an den exakten, mathematischen Naturwissenschaften präzise explizierte Funktionalismus einerseits und der eher geisteswissenschaftlich orientierte, literarisch praktizierte, lebendige Zusammenhang der konkreten Kulturverhältnisse andererseits - systematisch zusammengeführt werden konnten, dann mußte sich der umgreifende Begriff der >symbolischen Formen< und der >symbolischen Formung< einstellen.«160 Damit ist freilich zunächst nur das Pro158 Vgl. Orth, Lebensordnungen, S.16ff. Daneben wären noch die Arbeit >Zur Einsteinsehen Relativitätstheorie< (in: ZmPh) sowie die Studien zur deutschen Klassik, >Idee und GestaltSymbolkosmos< vorausweisen. 159 Vgl. z.B. ders., PhsF 111, S.477 und ders., PhsF II, S.54. 160 Orth, Lebensordnungen, S.16f. Vgl. auch a.a.O., S.17:»}a, man kann zugespitzt formulieren: Die Konzeption der symbolischen Formen und der symbolischen Formung mußte Cassirer erfinden, um das Problem der Wissenschaftsund Philosophiegeschichte - oder auch der Geschichtlichkeit und Kulturhaftigkeit der Philosophie und der Wissenschaften- zu bewältigen. Und ein weiterer Gesichtspunkt ist für Cassirers Unternehmen wichtig: Eine solche Erfindung war nur möglich und anwendbar, weil die Kulturentwicklung selbst, die immer schon nach dem Modell der symbolischen Formung verläuft, eben die Formulierung dieses Modells aus sich hervortreibt. Hier liegt ein eigentümlicher geschichtsphilosophischer Aspekt der Cassirerschen Konzeption.« Oder der Orthschen. Es ist nicht ausgemacht, daß Cassirer dieser Hegelianisierenden Geschichtsphilosophie gefolgt wäre. Die Geschichte als aktive Substanz verstanden, die die Einsicht in ihre eigene Entwicklungslogik >aus sich heraustreibt< - das scheint ein mit Cassirers Metaphysikkritik und seiner Bestimmung der Geschichte als symbolischer Form nicht recht vereinbarer Gedanke zu sein.

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blem benannt. Schon Cassirers neukantische Fassung der transzendentalen Methode gewährleistet aber zumindest grundsätzlich die Aufschließbarkeit seiner Philosophie für geistes -und kulturhistorische Zusammenhänge im weiteren Sinn. In der ersten Einleitung zum ersten Band des >Erkenntnisproblems< (1906) weist Cassirer darauf hin, daß die Wissenschaft »ein geschichtlich sich entwickelndes Faktum ist [ ... ]. Wenn bei Kant diese Einsicht noch nicht unzweideutig zu Tage tritt, wenn die Kategorien bei ihm noch als der Zahl und dem Inhalte nach fertige >Stammbegriffe des Verstandes< erscheinen können, so hat die moderne Fortbildung der kritischen und idealistischen Logik über diesen Punkt volle Klarheit geschaffen.«161 Die Wissenschaft erscheint so von vornherein eingebettet in den historischen Gesamtzusammenhang. Cassirer mußte also keineswegs den Boden der kantisch-neukantischen Philosophie verlassen um sich der Kulturphilosophie widmen zu können162, Zumindest über das Problem der Geschichte war der weite Problemkreis der >Kultur< in seinem Denken impliziert163, Denn der Gegenstand der Geschichte ist dem Gegenstand der Naturwissenschaften und ihrer Begriffsform nicht völlig wesensfremd, sondern »auch hier müssen Form (wissenschaftliche Struktur) und Gehalt (geschichtlich-kulturelle Konkretion) als unauflösliche und unvermeidliche Korrelation angesehen werden.«164 So kann beispielsweise das spannungsvolle Verhältnis zwischen der Kategorie der >Freiheit< und der der >FormKritik der Vernunft< zur >Kritik der Kultur< geworden ist, dann liegt darin keineswegs die Verabschiedung des Kantischen Theorieprogramms, die Grundlagen von Denken, Erkennen und Handeln aufzuklären und zu sichern, sondern vielmehr der Versuch zur Erneuerung unter veränderten Vorzeichen: Was für die Grundlagen der Wissenschaften speziell gilt - daß sie nur als in diesen wirkend anerkannt werden können -, das gilt generell für die Kultur in allen ihren Bereichen.« 163 Vgl. Orth, Konzeption, S.169: »Es liegt zunächst in Cassirers persönlicher Bildungsgeschichte und in seiner persönlichen Begabung begründet, die man als einen - möglichen - Reflex seiner Zeit ansehen mag, daß er jedwede Erfahrung, jedwedes Wissen und jedwede Methode des Weltverständnisses prinzipiell als Sachverhalt der historisch werdenden und gewordenen Kulturwelt auffasst. In diesem Sinne ist seine Philosophie von Anbeginn an eine Philosophie der Kultur, noch bevor er sie als solche bezeichnet.« 164 Orth, Lebensordnungen, S.17. Vgl. auch Knoppe, Die theoretische Philosophie, S.63. 165 Cassirer, FuF, S.XV.

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>Geistesrichtungen< konkretisiert werden können. Die relative Einheit der Geistesgeschichte bleibt in der Religionsgeschichte, Philosophiegeschichte, Literaturgeschichte und der Geschichte des Staatsgedankens vermittelt durch den Gedanken der Autonomie des Geistes, der den Menschen in diesen Formen zugänglich wird. Schon 1910 war dieser Prozeß für Cassirer keine humanistisch beschönigte Fortschrittsgeschichte des Freiheitsgedankens. Die Angewiesenheit der geistigen Spontanität auf ihre Äußerung in distinkten Formen schließt im Gegenteil die Konkurrenz dieser Formen in sich ein. »Denn eben dies ist das Gesetz, unter dem die geschichtliche Entwicklung steht, daß der Gedanke der Autonomie des Geistigen, sofern er in ihr überhaupt erfasst wird, sich zunächst nur innerhalb eines bestimmten und eingeschränkten Einzelkreises betätigen und verwirklichen kann. Indem eine einzelne Sphäre, wie etwa die des Religiösen, sich zum Bewußtsein ihrer Selbständigkeit erhebt, nimmt sie für sich zugleich allumfassende und absolute Geltung in Anspruch, schließt aber damit eben all das, was außerhalb ihrer selbst liegt, von diesem Prozeß der Selbstbefreiung aus.« 166 Cassirers geistesgeschichtliche Gesamtansicht stellt so den Objektivitätsanspruch der naturwissenschaftlichen Vernunft von vornherein in ein Verhältnis zu anderen >symbolischen FormenWirklichkeit< in den Naturwissenschaften erkenntniskritisch als Idee bestimmt werden muß, dann können - neben der ästhetischen und ethischen Form des Weltverstehens- auch mythische, religiöse oder sprachliche Geltungsofferten nicht einfach diskreditiert werden. »Der naive Realismus der gewöhnlichen Weltansicht, wie der Realismus der dogmatischen Metaphysik verfällt freilich immer aufs neue diesem Fehler. Er löst aus der Gesamtheit der möglichen Wirklichkeitsbegriffe einen einzelnen heraus und stellt ihn als Norm und Urbild für alle übrigen auf[ ... ] Ob wir als dieses letzte Sein die >Materie< oder das >LebenNatur< oder die >Geschichte< bestimmen: immer ergibt sich für uns auf diesem Wege eine Verkümmerung der Weltansicht, weil bestimmte geistige Funktionen, die an ihrem Aufbau mitwirkten, ausgeschaltet und dagegen andere einseitig hervorgehoben und bevorzugt scheinen.«167 Diese >geistigen Funktionen< werden jedoch der allgemeinen Logik der Erkenntnis gerade dadurch zum Problem, daß sie als vor166 Ebd. 167 Ders., Relativitätstheorie, S.109.

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wissenschaftliche Weisen des Weltverstehens bestimmt werden müssen. Solange lediglich die Einheit der Geistes- und Naturwissenschaften erkenntnistheoretisch festgestellt werden soll, bleibt deren Gesamtheit im Verhältnis zu anderen, vorwissenschaftliehen Weltverständnissen noch ganz unbestimmt. »Vor völlig neue Fragen sieht sich dagegen die Logik gestellt, sobald sie versucht, ihren Blick, über die reinen Wissensformen hinaus, auf die Totalität der geistigen Formen der Weltauffassung zu richten. Jede von ihnen- wie die Sprache und der Mythos, die Religion und die Kunst - erweist sich jetzt als ein eigentümliches Organ des Weltverständnisses und gleichsam der ideellen Weltschöpfung, das neben der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis und ihr gegenüber seine besondere Aufgabe und sein besonderes Recht besitzt.«168 Aus dieser, an der Geschichte des Erkenntnisproblems und der deutschen Geistesgeschichte gewonnenen Einsicht heraus kann Cassirer 1921 die Aufgabe der Philosophie kulturphilosophisch bestimmen und verwendet dabei den Begriff der symbolischen Form zum ersten Mal in seiner systematischen Bedeutung: »Sie hat das Ganze der symbolischen Formen, aus deren Anwendung für uns der Begriff einer in sich gegliederten Wirklichkeit entspringt - kraft deren sich für uns Subjekt und Objekt, Ich und Welt scheiden und in bestimmter Gestaltung gegenübertreten, zu erfassen und jedem Einzelnen in dieser Gesamtheit seine feste Stelle anzuweisen.«169 Damit ist aber noch nicht geklärt, welche historisch vermittelten Probleme die Fokusverschiebung unter systematischem Gesichtspunkt geleitet haben. Es ist auffällig, daß sich dafür zunächst nur zwei Kandidaten anbieten: Die >Philosophie der symbolischen Formen< mündet zwar in eine Darstellung des >Aufbaus der wissenschaftlichen Erkenntnis< ein, ihr gehen aber lediglich die Behandlung des Sprach- und des Mythosproblems voraus. Darüberhinaus bietet Cassirer später im >Versuch über den Menschen< eine eigene Deutung der Notwendigkeit des Überganges von der Vernunft- zur Kulturkritik, die ebenfalls an den Problemen der Sprache und des Mythos orientiert bleibt. Beide Probleme werden von Cassirer zunächst unter dem allgemeinsten Aspekt aufgegriffen. Die philosophische Selbsterkenntnis des M enschen bleibe immer auf den Umweg der Erkenntnis des menschlichen Wirkens angewiesen. Die Erfahrung und die Philosophie »können die Erkenntnis vom >Wesen< des Menschen nur dadurch gewinnen, daß sie den Menschen in der Kultur und im Spiegel seiner Kultur erblicken; aber sie können diesen Spiegel nicht umwenden, um zu sehen, was hinter ihm

168 Ders., Die Begriffsform, S.7. 169 Ders., Relativitätstheorie, S.ll 0.

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liegt.«1 70 Sprache und Mythos liessen es jedoch zweifelhaft werden, ob das Wesen, das sich im Spiegel der Kultur erblickt als animal rationale hinreichend beschrieben ist. Zwar ist Rationalität »ein allem menschlichen Handeln innewohnendes Merkmal.«171 Es sei dennoch »nicht möglich, die Struktur des Mythos als rational zu bezeichnen.«172 Die >Begriffsform des Mythos< mag der Analyse verständlich und nachvollziehbar sein, sie genügt deshalb aber nicht schon den Rationalitätskriterien eines aufgeklärten Vernunftverständnisses. Auch die Logizität der Sprache geht in der Ermöglichung begrifflich-vernünftigen Denkens nicht auf, denn »zuallererst drückt die Sprache nicht Gedanken oder Ideen aus, sondern Gefühle und Affekte.«173 Schließlich sei auch »eine Religion >in den Grenzen der reinen VernunftVernunft< als Normbegriff »höchst ungeeignet, die Formen der Kultur in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit zu erfassen. Alle diese Formen sind symbolische Formen. Deshalb sollten wir den Menschen nicht als animal rationale, sondern als animal symbolicum definieren.«1 75 Damit ist in aller Kürze die Notwendigkeit der thematischen Erweiterung des >kritischen IdealismusGeschichte< der symbolischen Formen alle weiteren Möglichkeiten des Weltverstehens erst dem vorgängigen mythischen Bewußtsein abgerungen werden mußten und nahezu alle Darstellungsleistungen die Sprache in Anspruch zu nehmen genötigt sind, drängt sich ihm diese Vorrangstellung auf. Beide Themen sind jedoch darüberhinaus in ein spezifisch neuzeitliches Problem eingebettet. Das achtzehnte Jahrhundert kannte noch keine ausdifferenzierten Geisteswissenschaften. Keine der modernen Geistesoder Humanwissenschaften vermag aber allein die Frage nach dem Menschen zu beantworten. Die Philosophie der symbolischen Formen nimmt so das Problem auf sich, unter neuen Bedingungen, auf die die kantische Philosophie nicht reagieren mußte, die philosophische Grundfrage nach 170 Ders., ZLK, S.102. 171 172

Ders., VdM, S.50. A.a.O., S.51.

173 Ebd. 174 Ebd. 175 Ebd.

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dem Selbstverständnis des Menschen gleichwohl im Rahmen der kantischen Methodik zu beantworten. Der Begriff der >symbolischen Form< dient Cassirer letztlich dazu, einerseits die Ergebnisse der >Humanwissenschaften< in ein integrales Selbstverständnis des Menschen aufnehmen zu können und dabei andererseits der transzendentalen Methode treu zu bleiben. In der folgenden Darlegung seiner Argumentation bleibt das Problem des mythischen Bewußtseins abgeblendet, um dem zweiten Teil dieser Arbeit nicht vorzugreifen. 1. Das Problem der Sprache

Cassirers Sprachphilosophie bezieht sich, wie seine Begriffslehre, kritisch auf die kantische Philosophie. Sie stellt überall das Fundament bereit, auf dem seine eigenen Überlegungen aufbauen und von dem sie sich abheben können176, Die kantische Grundlegung der Wissenschaften mache sich letztlich einer petitio principii schuldig, wenn sie die sinnliche Anschauung lediglich im Hinblick auf die Ermöglichung wissenschaftlicher Erfahrung betrachte. Der Anschauung werde über die Verstandestätigkeit von vornherein die Gesetzmäßigkeit und >Spontanität< zugeschrieben, die als Bedingung der Möglichkeit von Naturerkenntnis wieder aus dem Zusammenwirken von Sinnlichkeit und Verstand herausgelesen werden kann1 77. Dabei bleibt die Erkenntnisleistung der sinnlichen Wahrnehmung für andere symbolische Formen ganz unbestimmt und kann nur hinsichtlich »des Zieles der wissenschaftlichen Objektivierung, des theoretischen Einheitsbegriffes der >NaturBedeutungsintentionen< der Anschauung werden unterschlagen. Das sinnliche >Material< der Anschauung untersteht zunächst nicht schon der wissenschaftlichen, begrifflichen Prägung und Bestimmung, sondern dieser geht die Benennung in einfachen Sprachbegriffen voraus. Die Erfahrung und Begrifflichkeit der Naturwissenschaften nimmt somit als weitere Bedingung ihrer Möglichkeit nicht nur die Mannigfaltigkeit der sinnlichen Anschauung sondern zumindest auch die Sprachbegriffe in Anspruch. Denn der »Name ist es, der das erste Moment der Konstanz und Dauer in diese Mannigfaltigkeit einführt,- die Identität des Namens 176 Es kann hier nicht darum gehen, die Sprachphilosophie Cassirers darzustellen. Lediglich die Gründe zur Erweiterung und Umbildung des kritischen Idealismus sollen angeführt werden, die durch das Problem der Sprache für Cassirer zwingend wurden. Zum Ganzen vgl. Göller, Sprache in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. 177 Vgl. Cassirer, PhsF III, S.17. 178 Ebd.

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ist die Vorstufe und die Antizipation der Identität des logischen Begriffs.«179 Die Notwendigkeit einer Sprachphilosophie ergibt sich so aus dem Anspruch, die Möglichkeit der reinen Naturerkenntnis zu erweisen, von selbst. Gilt der >Begriff< als die funktionale Voraussetzung dafür, eine Merkmalsgruppe einem Klassenterminus zugeordnet sein zu lassen (vgl. 1.3), so bleibt das Problem bestehen, auf welche Weise das Bewußtsein in den Besitz von >Merkmalen< kommt. Dies gelingt nur über die Sprache: »Denn der Begriff der >Merkmal-FindungBestand< auf die Funktion, vom Faktum >Sprachbegriffe< auf die spezifische »intellektuelle Arbeit«181 sprachlicher Fixierung zurückgehen. »Der Theorie der logisch-wissenschaftlichen Begriffsbildung muß eine Theorie der sprachlichen Begriffsbildung vorangeschickt werden.«182 Die genauere Betrachtung des Phänomens >Sprache< zeigt jedoch, daß für die besondere Eigenart dieser geistigen Form in der kantischen Systematik kein angemessener Ort zu finden ist. »Zwei große Problemkreise sind es hauptsächlich, auf welche die Betrachtung Kants sich bezieht und um die sie sich gruppiert. Der Begriff der Natur und der Naturerkenntnis wird durch die Mathematik, der Begriff der Geschichte und der Geisteswissenschaften wird durch die Ethik konstituiert. Der Gedanke der theoretischen Notwendigkeit [... ] und der Gedanke der Freiheit [... ] bilden die beiden unverrückbaren Pole der kritischen Philosophie.«183 Die sprachliche Form des Weltverstehens läßt sich aber weder auf die praktische Teleologie noch auf die mathematische Notwendigkeit verrechnen. In ihr drückt sich ein genuines Verhältnis von Natur und Freiheit aus, das gegenüber Ethik und Naturwissenschaft »als ein exzentrisches Gebilde erscheinen«184 muß. Die Kantkritik Hamanns und Herders habe diesen Sachverhalt eingeschärft. Gleichwohl mußte die »Philosophie der Sprache selbst erst durch die Methodik des kritischen Idealismus befruchtet und von innen her umgebildet sein«185, um es der kritischen Philosophie zu erlauben, sich »fortschreitend immer neue geistige Gebiete anzueig179 A.a.O., S.18. 180 A.a.O., S.392. 181 Ders., Zur Theorie, S.162. 182 A.a.O., S.163. Vgl. auch ders., PhsF III, S.134f. 183 Cassirer, Die kantischen Elemente, S.236. 184 A.a.O., S.239. 185 A.a.O., S.241.

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nen«186. Die >Aufklärungsphilosophie< hatte die Sprache als bloßes Mittel und Werkzeug des Geistes verstanden. Herders Sprachphilosophie löste sich von dieser Vorstellung und betrachtete die Sprache - wie Kunst und Geschichte - als geistige, in sich zweckmäßige Form. In seiner Lehre vom Ursprung der Sprache im Affektausdruck zeige sich schon die neue Funktion sprachlicher Formgebungen: Der Affektausdruck wird zur entwicklungslogisch ersten Form der Benennung und Unterscheidung der Welt.187 In dieser Auffassung werde die Sprache deshalb >>Zu einer aktiven Energie und Lebensform des Geistes«188. Insofern liegt in der Sprache »die Urfunktion des Urteils beschlossen, vermöge deren es für uns erst eine >WeltEntwicklung< angemessen zu fassen, und verstellte ihr dadurch den Zugang zum Verständnis der >Geschichtekritischen Idealismus< entdeckt. »Die Sprache erscheint jetzt nicht mehr als >ErgonEnergeiaObjektivitätLebensform< zeigt sich in diesem Schritt vom eindrücklich Empfundenen zum autonomen Ausdruck eines Sinnes des Empfundenen. Cassirer fand in Humboldts Sprachphilosophie die Möglichkeit, seinen kritischen Idealismus der Kulturthematik und Anthropologie zu öffnen. Auf diesem Wege gelang es ihm, eine transzendentalphilosophische Kulturtheorie zu formulieren, die nahezu bruchlos der philosophischen Grundhaltung seines Frühwerkes die Treue hält. Diese sprachphilosophische Erweiterung seines Denkens bildet- unter Inanspruchnahme der logisch-strukturellen Kongruenz seiner Begriffslehre mit dem Begriff des >Symbolischen< - die Grundlage, das Parallelproblem der >Geisteswissenschaften< in eigenständiger Weise zu thematisieren. 2. Das Problem der >Wissenschaften vom Menschen< und die >Krise der menschlichen Selbsterkenntnis< Der neukantische Versuch, vom >Faktum der Wissenschaft< ausgehend die spezifische Geltung der Naturwissenschaft, Ethik und Ästhetik zu bestimmen, führt nicht nur im Zusammenhang mit der Sprache umgehend an die Grenzen des kantischen Systems195, »Das >Faktum der Geisteswissenschaftenich fasse meine eigene Entwicklung nicht als Abfall von Cohen aufPhilosophie der symbolischen Formen< einzugreifen.«196 Man wird der von Cassirer ins Auge gefaßten Problematik leichter ansichtig, wenn der Begriff der >Geisteswissenschaften< hier im allerweitesten Sinne genommen wird. Alle Wissenschaften werden von Cassirer der Aufgabe der Selbsterkenntnis des Menschen unterstellt. Es geht also nicht um die abstrakte Zurückstellung der - neukantischen - Begründung der Naturwissenschaften hinter die humanistisch relevantere Begründung der Geisteswissenschaften. Denn auch die naturwissenschaftlich-kausale Analyse leistet ihren Beitrag zur Bestimmung des >objektiven GeistesHumanum< Ausdruck verschafft. Die basale menschliche Wahrnehmung zielt von vornherein sowohl auf die Dingwahrnehmung des unbelebten >Es< als auch auf die Ausdruckswahrnehmung des belebten >DuSchranke< des kantischen Systems auch ders., ZLK, S.16: »Eine Strukturanalyse der >Kulturwissenschaften< hat er nicht mehr in gleichem Sinne zu geben versucht, wie er sie für die Naturwissenschaften gegeben hat. Aber dies bedeutet keineswegs eine immanente und notwendige Schranke des Problems der kritischen Philosophie. Es zeigt sich hierin lediglich eine geschichtliche und insofern zufällige Schranke, die sich aus dem Stand der Wissenschaft im achtzehnten Jahrhundert ergab. Indem diese Schranke fiel, indem seit der Romantik eine selbständige Sprachwissenschaft, Kunstwissenschaft, Religionswissenschaft entstand, sah sich damit auch die allgemeine Erkenntnislehre vor neue Aufgaben gestellt.« 197 Vgl. a.a.O., S.38ff. 198 Ders., VdM, S.44. Die von Cassirer dargestellte kurze >Geistesgeschichte

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Cassirer geht davon aus, daß schon die vorwissenschaftliehen Weltverständnisse des mythischen Bewußtseins eine Rudimentärform der Anthropologie ausgebildet hätten. Die biologische Notwendigkeit des Menschen, sich in seiner Umwelt zurechtzufinden, der Zwang, eine Neugier für die Welt zu entwickeln, werde im Laufe der Kulturgeschichte durch das Interesse des Menschen an sich selbst ergänzt. Der kosmologischen Frage geselle sich das geforderte Selbstverständnis nicht nur als neutrale Zusatzaufgabe hinzu. Es zeige vielmehr den Charakter einer ersten ethischen Selbstverpflichtung des Menschen auf, die gleichermaßen in der Entwicklung der Religionen, wie im Fortschritt der griechischen Philosophie zu finden ist. »Die großen religiösen Denker haben als erste diese moralische Forderung erhoben. In den höheren Religionen gilt die Maxime >Erkenne dich selbst< als kategorischer Imperativ, als moralischer Grundsatz und religiöses Gesetz. In diesem Imperativ beobachten wir gleichsam eine plötzliche Umkehrung des ersten natürlichen Wissenstriebs- wir sehen darin eine Umwertung aller Werte.«t99 Analog läßt sich die Grenze zwischen dem vorsokratischen und dem sokratischen Denken über die Stellung, die jeweils das Problem des menschlichen Selbstverständnisses einnimmt, bezeichnen. »>Ein Leben ohne Selbsterforschungverdient gar nicht gelebt zu werdenKanon der Standardgeschichten des Abendlandes< längst aufgenommen. Sie kann deshalb im Folgenden in gedrängter Kürze nachvollzogen werden. 199 A.a.O., S.18. 2oo A.a.O., S.22.

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werden, jegliche Plausibilität. »Der Anspruch des Menschen auf die Position im Zentrum des Kosmos ist bodenlos geworden.«2o1 Die einheitliche Vermittelbarkeit von Kosmologie und Anthropologie wird deshalb im 17. Jahrhundert der Mathematik zur Aufgabe gemacht, der sich die >kopernikanische Revolution< verdankt. Ein >objektives< Selbstverständnis des Menschen soll sich durch den mathematischen Ausschluß jedes anthropozentrischen Denkens erreichen lassen. »Die mathematische Vernunft ist das Bindeglied zwischen Person und Universum; sie gestattet es uns, ungehindert von einer Sphäre in die andere überzuwechseln.«2o2 Die unterschiedlichen Versuche, mit gleichsam mathematischer Notwendigkeit dem Wesen des Menschen auf die Spur zu kommen, sind durch Darwins Werk >Über den Ursprung der Arten< einer erneuten Kränkung unterworfen worden. Denn die Beobachtung der zufälligen, naturgeschichtlichen Veränderungen der Lebewesen reicht zu, die Entstehung des Menschen zu erklären. Wie diese naturwissenschaftlich-biologische Bestimmung des Menschen mit der Kennzeichnung des Menschen als Kulturwesen zusammengehen soll, macht die Schlüsselfrage der neuen Kulturphilosophie des 19. Jahrhunderts aus. Hier spitzt sich die philosophische Lage noch einmal zu, da dem diachronen Wechsel der anthropologischen Leitwissenschaften die synchrone Konkurrenz zur Seite tritt. An die Stelle jeweils nur einer erkenntnistheoretisch dominanten Bemühung, die Pluralität der Wissenschaften zu systematisieren und auf eine gemeinsame Grundlage zu stellen, treten die verschiedenen Erkenntnislehren der Historik, Physik und Psychologie. Eine philosophische Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, die die internen erkenntnistheoretischen Versuche der konkurrierenden Wissenschaften nicht aufnimmt, ist seitdem unmöglich geworden. Die physikalisch orientierte, die psychologische und die historische Bestimmung des Menschen und seiner Kultur stehen einander unversöhnt gegenüber. »Daß diese Unversöhnlichkeit nicht nur ein großes theoretisches Problem ist, sondern auch eine innere Bedrohung für unser ethisches und kulturelles Leben insgesamt darstellt, unterliegt keinem Zweifel.«203 Die systematische Geschlossenheit der Cassirerschen Philosophie bewährt sich nun darin, daß er dieser historisch-kontingenten Situation eine transzendentalkritische Bedeutung zu verleihen vermag. Der Streit darum, ob der Charakter der Kulturbegriffe historisch, nach Analogie der Naturwissenschaften oder psychologisch zu bestimmen sein soll, verliert seine Grundlage, wenn der Begriff des Kulturgegenstandes 201 A.a.O., S.33. 2o2 A.a.O., S.37. 203 A.a.O., S.45.

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anders bestimmt wird. Ein Kulturobjekt ist trivialerweise als ein historisch Gewordenes zu bestimmen. Es ist ohne ein physisches >Substrat< - Leinwand, Papier etc. -nicht denkbar. Und schließlich muß es »als Ausdruck bestimmter seelischer Grundhaltungen, die für uns in irgendeiner Weise nachfühlbar sind, verstanden werden. Physikalische, historische und psychologische Begriffe gehen daher stets in die Beschreibung eines Kulturobjekts ein. Aber das Problem, das uns bei dieser Beschreibung entgegentritt, besteht nicht im Inhalt dieser Begriffe selbst, sondern in der Synthese, kraftderer wir sie ideell zusammenfassen und zu einem neuen Ganzen, zu einem Ganzen sui generis vereinen.«204 Es bedad einer eigenen Hermeneutik, um die menschlichen Kulturwerke in ihrem Sinn, in dem zu verstehen, »was sie uns zu sagen haben«205, In die Analyse ihres Gewordenseins gehen dann kausale, geschichtliche und psychologische Erklärungen mit ein206, Ein integrales Verständnis der menschlichen Kultur und damit eine disziplinenübergreifende Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Selbstverständnis ist jedoch nur zu erwarten, wenn der Werk- und Werdensanalyse die Formanalyse zur Seite gestellt wird. Hier empfiehlt sich die >Philosophie der symbolischen Formen< als Methode, die geforderte Einheit des menschlichen Selbstverständnisses wiederherzustellen207. »Es gilt, generell betrachtet das >Was< jeder einzel204 Ders., ZLK, S.57. 205 A.a.O., S.97. 206 Vgl. a.a.O., S.lOO. Graeser meint, Cassirer versuche zu zeigen, »daß die spezifisch geisteswissenschaftliche bzw. kulturwissenschaftliche Erkenntnis eben nicht an Erkenntnisse historischer, psychologischer oder naturwissenschaftlicher Art gebunden sei.« (ders., Ernst Cassirer, S.126.) Das läßt sich so ausschließend wohl nicht sagen. Im Hintergrund der Cassirerschen Theorie der Kulturwissenschaften steht wie in seiner Begriffslehre immer der neukantisch verstandene Unterschied zwischen Geltung und Genese. Der Geltungsaspekt kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung kann nur auf der Ebene der Sinn- oder Formbegriffe entschieden werden. Die Genese von Kulturobjekten bleibt dagegen den kausalen Erklärungen in Psychologie, Naturwissenschaft und Historik vorbehalten. Cassirer sieht sich durch die moderne Entwicklung der Physik, Biologie und Psychologie darin bestätigt, daß diese beiden Aspekte keine absolute Trennung bedeuten können, denn »Form-Analysen und kausale Analysen erscheinen nunmehr als Richtungen, die einander nicht widerstreiten, sondern die einander ergänzen, und die sich in allem Wissen miteinander verbinden müssen.« (Cassirer, ZLK, S.96. Zum Ganzen vgl. a.a.O., S.87-102.) 207 Dabei hat die Philosophie kein den anderen Wissenschaften gegenüber eigenes Gegenstandsgebiet. Vgl. ders., Beilage, S.264: »Das ist das Eigentümliche der philosophischen Erkenntnis als >Selbsterkenntnis der VernunftWesen< der Sprache, der Religion, der Kunst zu bestimmen. Was >istTheorie< der Kultur, die letzten Endes ihren Abschluß in einer >Philosophie der symbolischen Formen< suchen muß- mag dieser Abschluß auch als ein >unendlich-ferner Punkt< erscheinen, dem wir uns nur asymptotisch annähern können.«2os 3. Resümee

Die sachliche Erweiterung und Umformung der Cassirerschen Frühphilosophie stellt weniger einen Bruch mit dem kantisch-neukantischen Erkenntnisideal dar, als vielmehr die Konsequenz aus der Einsicht in die grundlegende Historizität jeder Erkenntnisbemühung. Die Geschichte des >deutschen Geistes< und die >Geschichte des Erkenntnisproblems< stellen die kantische Trias der Physik, Ethik und Ästhetik von vornherein in den Kontext weiterer Kulturbereiche. Es waren aber nicht die Rechtsgeschichte, Literaturgeschichte oder die Geschichte des Staatsgedankens, denen sich die >Philosophie der symbolischen Formen< zunächst zuwandte, sondern die Sprache und der Mythos. Dies erklärt sich aus der besonderen Stellung dieser symbolischen Formen im Kulturganzen. Das mythische Bewußtsein fungiert in Cassirers Philosophie als >Mutterboden< der Kultur, von dem sich jede andere symbolische Form negativ abzuheben genötigt ist. Die Sprache wird vergleichbar ubiquitär positiv in Anspruch genommen. Den Argumenten, die für die Integration der Sprachphilosophie und der Philosophie des Mythos in den kritischen Idealismus sprechen, gesellt sich ein historischer Umstand zu, der die Öffnung hin auf die >Geisteswissenschaften< insgesamt notwendig erscheinen läßt. Die >Geisteswissenschaften< haben sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in konkurrierende Projekte ausdifferenziert, die es unternehmen die Basiswissenschaft für das >menschliche Selbstverständnis< zu erstellen. Die partikularen Anstrengungen, die Führung der Wissenschaften zu übernehmen, scheitern jedoch an der jeweiligen Reduktion, die sie am zu deutenden Kulturganzen vorzunehmen gezwungen sind. Die >Philosophie der symbolischen Formen< empfiehlt sich als transzendentalphilosophische Methode, die es zum einen vermag, das Gespräch der Einzelwissenschaften auf die gemeinsame Aufgabe zu lenken, 208 Ders., ZLK, S.97.

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die Frage nach dem Selbstverständnis des Menschen erneut zu beantworten. Zum anderen macht sie den Anspruch geltend, die heterogenen Perspektiven der Wissenschaften in einem theoretischen Zusammenhang miteinander vermitteln zu können. Die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion wird so in einem philosophischen Rahmen zu stellen sein, der nach Cassirer grundsätzlich die interdisziplinäre Perspektive auf Kulturphänomene erfordert.

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Kritischer Idealismus als Kulturphilosophie /I/. Die Grundzüge der Kulturphilosophie

Cassirers Theorie der Kultur geht von normativen Prämissen aus, die die Grundzüge seiner Kulturphilosophie bestimmen. Zwei Beispiele aus den vorangehenden Kapiteln sollen diese These vorweg erläutern. (1) Schon die grundlegende Unterscheidung dreier symbolischer Funktionen des Bewußtseins - der Ausdrucks-, der Darstellungs- und der Bedeutungsfunktion- gewinnt ihren tieferen Sinn über die Wertunterschiede in den Freiheitsgraden, die diese Differenzierung impliziert (vgl. I). (2) Die Geistesgeschichte wird von Cassirer als Entdeckungsgeschichte verstanden. Die Menschen entdecken in Religion und Philosophie den Gedanken der Selbstverpflichtung, der als Idee der Freiheit die europäische Geistesgeschichte seit der Renaissance beherrschen soll (vgl. II). Die Kulturphilosophie Cassirers kann deshalb nur dann angemessen interpretiert werden, wenn sie ihrem transzendentalphilosophischen und phänomenologischen Anspruch zum trotz auch als ethische Theorie verstanden wird, die jedes Kulturphänomen der allgemeinen Norm der >Realisierung der Freiheit< unterstellt. Als Transzendentalphilosophie hat sie eine thematische Erweiterung erfahren, der ein methodisch modifizierter Begriff des >Transzendentalen< zugrundeliegt. Die Frage nach den >Bedingungen der Möglichkeit< eines Wissensbereiches wird schon in >Substanzbegriff und Funktionsbegriff< zur Frage nach der viablen Konstruktion von Invarianten dieses Bereiches. Wie sich in der Darstellung der Begriffslehre gezeigt hat, ist >transzendental< in Cassirers Denken nicht der Gegenbegriff zu >empirischdogmatisch-metaphysischsymbolischen Formenwesentliche< Strukturinvarianten im Bewußtsein nicht einfach >vorliegenWesensbestimmung< nach einem >Entwurf der Vernunft< hat als Geltungsfrage mittelbar ethischen Charakter. Cassirer hat keine Ethik geschrieben, weil seine transzendentalhermeneutische Fragestellung mit seiner ethischen Grundhaltung und ethischen Methode gleichbedeutend ist209, Der Rückgang von dem beobachtbaren Faktum einer symbolischen Form auf ihre >FunktionBedingungen ihrer Möglichkeit< nach ist, wie dazu, was sie kraft dieser Bestimmung sein kann und sein soll. Die >Bedingungen der Möglichkeit< einer Kulturleistung stehen ihrer faktischen Realisation auch als Norm gegenüber2to. Und diese, im Terminus der transzendentalhermeneutischen >Bestimmung< einer symbolischen Form sinnfällig werdende Doppeldeutigkeit wiederholt sich in der Kennzeichnung der Funktion der Kultur als ganzer. Die Funktion der Kultur ist mit ihrer inneren Norm- oder ihrem >immanenten RichtungssinnGeist der Kultur< zu dem ihm vorausgesetzten menschlichen >Leben< verhält. Dabei wird die Frage nach einer >Metaphysik der symbolischen Formen< aufzuwerfen sein. Schließlich muß gezeigt werden, welche innere Grundrichtung der Kultur sich Cassirer als Norm der Beurteilung kultureller Erscheinungen nahelegt, und wie die einschlägige Formel von der >fortschreitenden Selbstbefreiung der Menschheit< dabei zu verstehen ist. 1. Der Zusammenhang der symbolischen Formen im System der Kultur

Der Begriff >System der Kultur< legt den Gedanken nahe, es gebe eine begrenzte und bestimmte Anzahl von symbolischen Formen. Diese Liste der symbolischen Formen aus Cassirers Schriften zu erheben, wird jedoch bald zu einem unübersichtlichen Unternehmen. Die drei Bände 210 Hier zeigt sich eine der interessantesten und gleichzeitig problematischsten Zweideutigkeiten der Cassirerschen Philosophie. Denn einerseits verficht Cassirer die kantische Ethik des Willens, die eine strikte Trennung von Sein und Sollen zur Voraussetzung hat. Andererseits koinzidieren Sein und Sollen in seiner Methode der >Wesensbestimmung< von symbolischen Formen, die deshalb nur schwer vom Vorwurf des >naturalistischen Fehlschlusses< freizusprechen ist. Nur der Mythos, dessen >Wesen< sich einer >Dialektik< ausgesetzt findet, die über ihn selbst hinausweist, macht hier eine Ausnahme {vgl. IV, 2).

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der >Philosophie der symbolischen Formen< wenden sich in extenso lediglich der Sprache, dem Mythos, der Religion und der Wissenschaft zu. Die Kunst wird mehrmals erwähnt, eine eigene Darstellung als symbolischer Form wird ihr aber erst im >Versuch über den Menschen< zuteil. Dort findet sich dann auch die >Geschichte< unter die symbolischen Formen eingereiht. Im Vorwort zum zweiten Band der >Philosophie der symbolischen Formen< wird die Reihe noch um die Sitte, das Recht, die Technik und sogar die Wirtschaft ergänzt211. Ob diese Aufzählung für Cassirer eine vollständige Angabe aller symbolischen Formen bedeutet, ist schwer zu sagen. Woran könnte festgestellt werden, daß ein bestimmter Bereich der menschlichen Weltgestaltung keine symbolische Form ist? Das Kriterium, von einer symbolischen Form sprechen zu können, liegt in der Universalität einer produktiven geistigen >Sicht< auf die Welt. Symbolische Formen erweisen sich überall da als wirksam, »wo überhaupt das Ganze der Erscheinung unter einen bestimmten geistigen Blickpunkt gestellt und von ihm aus gestaltet wird.«212 In einer etwas anderen Wendung heißt es: »Es ist ein gemeinsames Charakteristikum aller symbolischer Formen, daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können. Nichts ist für sie unzugänglich oder undurchdringlich. Der spezielle Charakter eines Objekts beeinflußt ihre Aktivität nicht.«213 Unter diesem Gesichtspunkt bleibt die Anzahl der symbolischen Formen klein, wobei sich dennoch Grenzfälle denken lassen, wie etwa die >PolitikSystem< der Kultur ergeben, dann muß sich nicht nur angeben lassen welche symbolischen Formen unterscheidbar sind, sondern 211 Vgl. Cassirer, PhsF II, S.IX. 212 Ders., PhsF I, S.V. Vgl. dazu Krois, Aktualität der Cassirerschen Philosophie, S.19: »In diesem Fall ist die Anzahl der symbolischen Formen sehr begrenzt. In diesem engen Sinne sind etwa >das Mineralogische< oder >das Arabische< keine symbolischen Formen, wohl aber >Wissenschaft< oder >Sitte und RechtStaat< sich in Cassirer, FuT, S.42, neben Wirtschaft, Sittlichkeit, Recht, Kunst und Religion mitangeführt. Vgl. auch ders., Sprache und Mythos, S.112: »Das theoretische, das praktische und das ästhetische Bewußtsein, die Welt der Sprache und der Erkenntnis, der Kunst, des Rechts und der Sittlichkeit, die Grundformen der Gemeinschaft und des Staates: sie alle sind ursprünglich noch wie gebunden im mythisch-religiösen Bewußtsein.«

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auch wie sie miteinander >zusammenhängenTechnik< Cassirers Grundansicht deutlich gemacht werden. An keinem anderen Beispiel hat Cassirer so prägnant skizziert, was er unter der Frage nach der Kulturbedeutung einer symbolischen Form versteht. Das Beispiel hat den Vorteil, Cassirers Umgang mit der strittigen Geltung der symbolischen Form >Technik< aufzeigen zu können. Schließlich legt es sich auch deshalb nahe, weil in der Darstellung der Philosophie des Mythos noch auf Cassirers Überlegungen zu der >Technik des MythosTechnik< als symbolische Form verstanden, dann muß zum einen der Analyse technischer Werke und ihres Gewordenseins die Bestimmung der Form der Technik vorausgehen. Sie muß in ihrem »Selbst-Sinn und Selbst-Wert entdeckt und sichergestellt«215 werden. Zum anderen kann sie dann nicht mehr als >angewandte Naturwissenschaft< verstanden werden, sondern ist als eigener Bereich des Geistes in Konkurrenz zu den anderen symbolischen Formen zu betrachten. Dabei sei die Frage nach der Leistung der Technik zugunsten der Frage nach ihrem >Sinn< zunächst zurückzustellen. »Will die Philosophie ihrer Mission treu bleiben, will sie ihr Vorrecht behaupten, gewissermaßen das logische Gewissen der Kultur zu bedeuten, so wird sie - wie sie nach der >Bedingung der Möglichkeit< der theoretischen Erkenntnis, der Sprache, der Kunst, fragt-, so auch nach den >Bedingungen der Möglichkeit< des technischen Wirkens und der technischen Gestaltung fragen müssen. Sie wird auch hier die Seinsfrage und die Rechtsfrage erst stellen können, nachdem sie die Sinnfrage von Grund aus geklärt hat.«216 Nicht die materielle Wirksamkeit der Technik und auch nicht ihre Geschichte schließen ihr Wesen auf, sondern die eigentümliche Sinnform des technischen Handelns. Die Technik trägt, wie die Sprache, die Religion etc. auf spezifische Weise dazu bei, ein neues Verhältnis zwischen >Ich< und >Welt< zu stiften217. Dieses neue Verhältnis muß der magisch-mythischen Weltauffassung erst abgerungen werden. Wenn im Jagdzauber der Verlauf der Jagd magisch vorweggenommen wird, dann läßt sich diese Handlung zwar als gelungener Versuch beschreiben, sich durch den Bezug auf Zukünftiges von dem unmittelbaren Eindruck des sinnlich Gegenwärtigen zu distan215 Ders., FuT, S.41. 216 A.a.O., S.43. 217 Vgl. a.a.O., S.54f.

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zieren. Über den Zauber nimmt der Mensch, der Technik analog, gewissermaßen Besitz von der Welt, indem er sie von sich distanziert. Die Differenz zwischen dem technischen und dem magisch-mythischen Bewußtsein zeigt sich nun aber an der Art und Weise, wie durch sie ein vermitteltes Weltverhältnis garantiert werden soll. Das magische Bewußtsein steht die Selbstunterscheidung von der Welt nicht wirklich durch und überwindet die Abhängigkeit von der eigenen Empfindung nur um sich in die wiederum distanzlose Abhängigkeit von den eigenen Wünschen begeben zu können. »Schon in der magischen Weltansicht reißt sich somit der Mensch von der unmittelbaren Gegenwart der Dinge los und richtet sich ein eigenes Reich auf, mit dem er in die Zukunft hinausgreift. Aber wenn er damit im gewissen Sinne von der Macht der unmittelbaren Empfindung frei wird, so hat er an ihrer Stelle nur die Unmittelbarkeit des Begehrens eingetauscht.«218 Indem er die Welt mit seinen Wünschen >besetzt< und identifiziert, meint er die >Allmacht seiner Gedanken< über das Sein zu erleben und verliert so die gewonnene Distanz zur Welt wieder. Das technische Handeln ergreift dagegen die Welt nicht mit der Unmittelbarkeit des Begehrens, es gesteht der Welt zunächst ein unabhängiges Sein zu und versucht in kontrollierter Weise, die als unbeherrscht akzeptierte Welt zu beherrschen. Erst in diesem Auseinandertreten von Welt und Wille ist die Voraussetzung für eine Welt von >Gegenständen< geschaffen. Schon der primitivste Werkzeuggebrauch räumt einen Unterschied zwischen den eigenen Wünschen und den wunschindifferenten >Regeln des Möglichen< ein. Analog zu der Leistung der Sprache, die in ihren einfachsten Benennungen den Begriff des >Dinges< vorbereitet, weist die Technik der Erkenntnis und Entdeckung eines unabhängigen Gefüges von >Gegenständen< den Weg. »Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß in dem Übergang zum ersten Werkzeug nicht nur der Keim zu einer neuen Weltbeherrschung liegt, sondern daß hier auch eine Weltwende der Erkenntnis einsetzt. In der Weise des mittelbaren Handelns, die jetzt gewonnen ist, gründet und festigt sich erst jene Art von Mittelbarkeit, die zum Wesen des Denkens gehört.«219 Die in dieser Mittelbarkeit erschlossene Absichtlichkeit des Handeins beruht auf der technischen Fähigkeit, vom Ziel des Handeins absehen zu können, um es durch Zwischenglieder desto sicherer zu erreichen. Das mythisch-magische Gefühl, alle Erlebnisse irgendwie miteinander >assoziiert< zu finden, erhebt sich nun zur Einsicht in die notwendige, letztlich kausale Verknüpfung von Gegenständen. Das Kräftespiel der Welt beginnt, sich von dem menschlichen Triebleben zu unterschei21s A.a.O., S.58. 219 A.a.O., S.61.

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den. Keine anthropomorphen Mächte, sondern in selbständigen Gesetzen geordnete Kräfte leiten das Geschehen. Insofern »kündigt sich die Götterdämmerung der magisch-mythischen Welt«22o im regelmäßigen Werkzeuggebrauch an. Das Werkzeug und auch die Sprache selbst werden freilich »keineswegs unmittelbar als Schöpfung des Menschengeistes begriffen, sondern beide wirken als fremde und überlegene Kräfte. [... ] Das Ganze der Worte und das Ganze der Werkzeuge erscheinen selbst wie eine Art von Pandämonium.«22t Erst indem er beginnt, vom bloßen Gebrauch zu der freien Umbildung der Werkzeuge überzugehen, wird sich der Mensch seiner Herrschaft über das Reich der Werkzeuge bewußt. Aus der Welt der unmittelbaren Wunschedüllung wird so die Aufgabe, sich die eigene Welt erst zu erarbeiten. Das letzte Ziel dieser Arbeit rückt dem Menschen in die Ferne. Die neue Kraft des Schaffens kommt in keiner Triebbefriedigung mehr gänzlich zur Ruhe. »Aber statt dessen setzt jetzt für sein Bewußtsein auch eine neue Wert- und Sinnbestimmung ein: der eigentliche >Sinn< des Tuns läßt sich nicht mehr an dem, was es bewirkt und was es zuletzt erreicht, bemessen, sondern es ist die reine Form des Tuns, es ist die Art und Richtung der gestaltenden Kräfte als solcher, wonach sich dieser Sinn bestimmt.«222 Das eigentliche Problem der Kulturbedeutung der Technik stelle sich jedoch erst, wenn die berechtigte Frage laut wird, ob dieser neue Geist und dieses neue Selbstbewußtsein, die anhand der Technik gewonnen werden konnten, nicht den zu hohen Preis der >Seele< kosten. Der despotische Geist der Naturbeherrschung - so Ludwig Klages223 - entfremde den Menschen von dem ursprünglichen Eingebundensein in den lebendigen Rhythmus des Kosmos. Cassirers Eingehen auf dieses Bedenken bestätigt sein grundsätzlich ethisches Interesse an der Bedeutung der Kulturbereiche. Ein eudämonistisches oder utilitaristisches Abwägen von Lust- Unlustsummen, die erwünschten und verderblichen Technikfolgen betreffend, wird als unsachgemäß abgelehnt. »Denn die Frage richtet sich nicht auf die Folgen, sondern auf die Gründe; nicht auf die Ereignisse, sondern auf die Funktionen. Solche funktionale Betrachtung und Analyse ist es, von der jegliche Kritik eines bestimmten Kulturinhalts und Kulturgebietes ausgehen muß. Im Mittelpunkt dieser Kritik muß stets die Frage nach dem Menschen selbst, nach seiner Bedeutung und >Bestimmung< stehen.«224 Diese Bestimmung läßt sich aber von außerhalb des Kreises der symbolischen Formen nicht erheben, weil erst 22o A.a.O., S.63. 221 A.a.O., S.65. 222 A.a.O., S.67. 223 Cassirer bezieht sich auf Klages, Eros, und ders., Mensch und Erde. 224 A.a.O., S.69.

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in der >Emanzipation von der organischen Schranke< (K. Marx), im Überstieg von der Natur- in die Kulturgeschichte, das unterscheidend >Humane< sich Ausdruck verschafft. Der erste Ausdruck des spezifisch menschlichen Bewußtseins ist zwar der Mythos. Daß dieser Überstieg aber letztlich auch eine Entfernung von der gleichermaßen wohligen wie unheimlichen Enge des mythischen Bewußtseins und eine notwendige Distanzierung von der ursprünglichen >Natur< des anschaulichen Erlebens bedeutet, gilt für alle >höheren< symbolischen Formen. Auch die Technik, deren erste Werkzeuge noch nach Analogie der menschlichen Gliedmaßen gestaltet sind, schreitet diesen Weg der Abstraktion fort. Die Funktionalität der Maschinen feiert ihre Triumphe gerade deshalb, weil der Maschinenbau sich der freien Konstruktion zuwendet und die Ähnlichkeit zum natürlich Vorfindlichen und Vorbildlichen als irgendwie relevantes Kriterium beiseite stellt. Flugzeuge fliegen erst, seit sie nicht mehr mit den Flügeln schlagen müssen225. Die eigentümliche Leistung der Technik kommt erst in diesem Prozeß der Abstraktion und Distanzierung zur Geltung. »So untersteht auch hier der Gang der Technik einer allgemeineren Norm, die die Gesamtheit der Kulturentwicklung beherrscht. Aber der Übergang zu dieser Norm kann sich freilich, hier sowenig wie in anderen Gebieten, ohne Kampf und ohne schärfsten Widerstreit vollziehen. Indem der Mensch das Wagnis unternimmt, sich von der Vormundschaft der Natur loszusprechen und sich rein auf sich selbst, auf das eigene Wollen und Denken, zu stellen, hat er damit auch allden Wohltaten, die die unmittelbare Nähe zur Natur in sich schloß, entsagt [ ... ] In dem Augenblick, in dem sich der Mensch dem harten Gesetz der technischen Arbeit verschrieben hat, sinkt eine Fülle des unmittelbaren und unbefangenen Glücks, mit dem ihn das organische Dasein und die rein organische Tätigkeit beschenkte, für immer dahin.«226 Diese zunächst als Befreiung erfahrene Arbeit werde in dem Moment zu einem weiteren Faktor der Entfremdung, in dem der erlebbare Zusammenhang zwischen Arbeit und Werk durch den Gebrauch von Maschinen zerschnitten wird. Die vom Menschen intendierte >Sachordnung< verselbständigt sich im Produktionsprozeß und läßt den Menschen zu ihrem unselbständigen >Teil< regredieren. Nur sei diese -von Simmel in Anschlag gebrachte - >Tragödie der Kultur< mit der Funktion von Kultur identisch227. Die Technikkritik gehe hier zwar mit Konsequenz in eine allgemeine Kulturkritik über. Deren Maßstab könne 22s Vgl. a.a.O., S.73f. 226 A.a.O., S.74. 227 Cassirers grundsätzliche Simmelkritik wird im nächsten Unterkapitel dargestellt.

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aber nicht der »bloß-vitalen Sphäre entnommen werden.«22s Die gesamte Kulturentwicklung stehe von vornherein unter dem Vorzeichen der Entsagung. Die Beurteilung der Kulturbedeutung der Technik werde sich deshalb auf einen anderen, geistigen Sinn der Technik stützen müssen. »Findet sich, daß das Wachstum technischen Könnens und technischer Güter notwendig und wesentlich ein immer stärkeres Maß von Gebundenheit in sich schließt, daß es die Menschheit, statt ein Vehikel zu ihrer Selbstbefreiung zu sein, mehr und mehr in Zwang und Sklaverei verstrickt: so ist der Stab über die Technik gebrochen. Zeigt sich umgekehrt, daß es die Idee der Freiheit selbst ist, die ihr die Richtung weist und die dazu berufen ist, in ihr zuletzt zum Durchbruch zu kommen, so kann die Bedeutung dieses Zieles nicht dadurch geschmälert werden, daß man auf die Leiden und Mühen des Weges hinblickt.«229 Es ist schon deutlich geworden, daß diese Frage im Cassirerschen Sinn auf keinen Fall ambivalenzfrei so oder so entschieden werden kann. Bevor hier überhaupt auf eine Antwort gehofft werden kann, muß der Geltungsanspruch der Technik im Hinblick auf die konkurrierenden Geltungsofferten der anderen symbolischen Formen analysiert sein. Denn die Entfremdung des >Geistes< von der >Natur< beruhigt sich nicht tröstlich in einem harmonischen Ganzen der Kultur. Das Bestreben der einzelnen symbolischen Formen, ihre jeweilige Funktion absolut zu setzen, führt im Gegenteil dazu, das einheitliche Ziel des Kulturlebens strittig werden zu lassen. »Hier bricht somit, im Kreise des geistigen Tuns und gewissermaßen in seinem eigenen Schoße, ein neuer Konflikt auf. Was nun verlangt wird, ist keine bloße Auseinandersetzung mit der >NaturWirklichen< ist in ganz anderem Maße auf den Umweg über das >Mögliche< angewiesen. Damit scheint die Funktion der Technik als Exponent des >Möglichkeitssinns< in die Gefilde der Kunst überzugreifen. Die Ähnlichkeit und Verwandschaft zwischen technischer und künstlerischer Kreativität sei so frappant, daß sich zunächst kein brauchbares Unterscheidungskriterium nahezulegen scheine. Verstehe man >Schönheit< in einem hinreichend weiten Sinn, als den >Sieg< der zweckmäßigen >Form< über die zu gestaltende >Materiepoetische< Qualitäten nicht abgesprochen werden. Ein Unterschied komme erst in den Blick, wenn nicht mehr die unterschiedliche Art der künstlerischen und technischen Objekte, sondern die unterschiedliche Weise der Objektivierung in den Blick genommen werde232. Hier zeige sich eine besondere Nähe des künstlerischen Schaffens zur Bewußtseinsfunktion des Ausdrucks, die dem technischen Konstruieren fremd bleiben muß. »Das Kunstwerk läßt in einer durchaus eigenartigen, ihm allein vorbehaltenen Weise >Gestalt< und >Ausdruck< ineinander übergehen.«233 Es bleibt im Objektiven dennoch ganz individueller, subjektiver Ausdruck. »Der Umriß der Gestalt weist hier immer wieder zurück auf einen bestimmten Zug der Seele, die sich in ihr manifestiert; und er ist zuletzt nur aus dem Ganzen dieser Seele, aus jener Totalität, die in jeglicher echten künstlerischen Individualität beschlossen ist, verständlich zu machen.«234 Das technische Werk erhalte dagegen seinen Sinn unabhängig von seinem Schöpfer in der überindividuellen Sachwelt. Es löst sich von dem Ausdruck der ihm zugrundeliegenden individuellen Lebensform vollständig ab. Das technische Schaffen zielt nicht wie das künstlerische auf das »ideale Gleichgewicht«235 zwischen Ausdrucksfunktion und Bedeutungsfunktion, es bemüht sich analog zu der naturwissenschaftlichen Erkenntnis um die Objektivität reiner Bedeutung. Dieser nicht zu leugnende Verzicht auf individuellen Ausdruck könne nun aber nicht kurzschlüssig als bloßer Verlust betrauert werden, denn »diese Möglichkeit, in eine reine Sachwelt überzugehen und aufzugehen, bezeugt selbst eine spezifisch menschliche Kraft - eine selbständige und unentbehrliche Bekundung der >HumanitätGeist der Technik< haben sich diese besonderen historischen Umstände nur >zufällig< aufgedrängt. Cassirer schließt daraus, »daß demnach jeder Versuch der Besserung an dieser Stelle den Hebel anzusetzen hat.«241 Eine Befreiung der Technik aus ihrer Liaison mit der Wirtschaft könnte - so ist wohl zu interpretieren - also nur durch eine Veränderung der Wirtschaft selbst zu erreichen sein. Der >Hebel< zu dieser >Besserung< liege nun aber nicht selbst wieder im Bereich des technisch-wissenschaftlichen Verstandes, sondern in der Gesinnung der Menschen. »Hier genügt es nicht, die Kräfte der Natur oder die Kräfte des bloßen Verstandes, des technischen und wissenschaftlichen Intellekts, aufzurufen; sondern hier stehen wir an dem Punkte, an dem nur der Einsatz neuer Willenskräfte wahrhaft Wandel schaffen kann.«242 Die Technik kann eine neue Grundgesinnung nicht von sich aus herbeiführen helfen, sie kann lediglich den Gedanken einer freien Willensgemeinschaft durch die Setzung einer »Schicksalsgemeinschaft zwischen all denen, die 237 Ebd. 238 A.a.O., S.87. 239 A.a.O., S.88. Dieser Hedonismusvorwurf,- gepaart mit dem Simmelschen Entfremdungstheorem- den sich Cassirer hier im Anschluß an Walter Rathenau zueigen macht, wirkt angesichts der heutigen Zivilisationsprobleme naiv und unsachgemäß, weil sich die Einsicht durchgesetzt hat, daß die Technikfolgen nur wiederum technisch effektiv begrenzt werden können. Eine unbefangene Wertschätzung der technischen Produktivität - jenseits der Alternative von Futurismus und Rousseauismus - war zu seiner Zeit bei den Intellektuellen in Deutschland nicht leicht anzutreffen; wohl aber in Amerika (vgl. z. B. Veblen, Theorie;. Cassirer bezieht sich auf Rathenau, Zur Kritik der Zeit, ders., Zur Mechanik des Geistes, und ders., Von kommenden Dingen). 240 Cassirer, FuT, S.88. 241 Ebd. 242 Ebd.

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an ihrem Werke tätig sind«243, vorbereiten. Der innere Sinn der technischen Objektivierung mag durch die »Solidarität der Arbeit« dem Gedanken einer »Freiheit durch Dienstbarkeit« verpflichtet sein, der freilich nur dann zum Tragen kommt, wenn er »ins geistige und sittliche Bewußtsein erhoben wird. Erst in dem Maße als dies geschieht, wird die Technik sich nicht nur als Bezwingerinder Naturgewalten, sondern als Bezwingerin der chaotischen Kräfte im Menschen selbst erweisen.«244 Diese kulturbedeutsame Funktion habe die Technik bislang nicht hinreichend ausgebildet. Es hat sich in Cassirers Diskussion der Technik gezeigt, daß die transzendentalkritische Frage nach der Funktion der Technik, nach ihrem immanenten Richtungssinn, letztlich und vor allem eine ethische Konsequenz erfährt. Die Beschreibung der reinen symbolischen Form >Technik< läuft darauf hinaus, dem historischen Phänomen >Technik< eine Kulturbedeutung zu vindizieren, die als Norm der Beurteilung ihres faktischen Soseins in Anschlag gebracht werden kann. Die Vermittelbarkeit dieser normativen Formativität mit dem Gestaltungs- und Geltungswillen anderer symbolischer Formen kann nur über einen wiederum normativen Richtungssinn der Kultur als ganzer sichergestellt werden. Darauf wird am Ende des Kapitels zurückzukommen sein. Cassirer versucht die Kulturbedeutung der Technik zunächst in Konfrontation zu den konkurrierenden symbolischen Formen zu beschreiben. Es stellt sich daher die Frage, ob im System der Kultur mit einer oder mehreren >Stufenordnungen< der symbolischen Formen zu rechnen ist. Diese Überlegung trifft jedoch ersichtlich nur in einem einzigen Fall zu: Es gibt, wie sich im vorherigen Kapitel gezeigt hat, eine >Entwicklung< vom wahrnehmungsgebundenen Mythos über die Sprache hin zur Wissenschaft. Alle anderen symbolischen Formen setzen sich vom mythischen Bewußtsein ab, ohne direkt einer nachfolgenden Kulturleistung den Weg zu bahnen. Ob sich dennoch und indirekt ideelle Überbietungsverhältnisse auch unter den anderen symbolischen Formen konstruieren lassen, wird im zweiten Teil der Arbeit zu diskutieren sein. Wenn sich Cassirer von dem Gedanken der Hegeischen Phänomenologie leiten läßt, daß das >Wahre das Ganze< sei, dann stellt sich mit Nachdruck die Frage nach der Einheit in der Pluralität der symbolischen Formen. Diese Frage ist dabei aufs engste mit der Forderung verknüpft, eine allgemeine Norm der menschlichen Kultur als vermittelndes Telos der einzelnen Sinn- und Gestaltungsrichtungen angeben zu müssen.

243 A.a.O., S.89. 244 Ebd.

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2. Die Bestimmung der Einheit der Kultur und das Problem des >Lebens< Die >Philosophie der symbolischen Formen< ist ein Fragment245. Größere Teile des konzeptionierten vierten Bandes des Cassirerschen Hauptwerkes sind erst posthum zur Veröffentlichung gelangt. Sie sind jedoch nicht nur für Cassirers Bestimmung der Einheit der Kultur von größtem Interesse, sondern verblüffen zudem dadurch, »daß Cassirer später auch zu einem positiven Begriff der Metaphysik gekommen ist.«246 Beide Themen verbinden sich im Begriff des >LebensGeistes< diesem vorausgesetzt wurde247. Cassirer hat in den ersten beiden Bänden seines Hauptwerkes die symbolischen Formen der Sprache, des Mythos und der Religion auf die besonderen Bedeutungen hin befragt, die die Grundqualitäten (vgl. 1.4) des Raumes, der Zeit und der Zahl in diesen verschiedenen Modalitäten annehmen. Der dritte Band versucht die so gewonnene Phänomenologie auf die ideelle Systematik der drei symbolischen Funktionen zu beziehen, wobei unter der reinen Bedeutungsfunktion die wissenschaftliche Erkenntnis abgehandelt wird. In der >Metaphysik der symbolischen Formen< wird nun explizit nach der Einheit dieser symbolischen Sinnrichtungen gefragt: »Jetzt aber, nachdem diese Sonderung der einzelnen Wegrichtung erfolgt ist, nachdem die phaenomenologische Analyse die Urform des sprachlichen, des mythischen[,] des wissenschaftlichen Denkens herauszustellen gesucht hat, scheint umso dringender und gebieterischer die Synthese wieder ihr Recht zu fordern.«248 Aber diese Synthese scheine ein rein theoretisches Problem zu sein, das auf der Ebene des >natürlichen Weltbildes< nicht in Erscheinung trete. Die unterschiedlichen symbolischen Funktionen >konkreszieren< in der natürlichen Welt245 Das läßt sich schon ganz formal daran ablesen, daß in PhsF 111, S.27 in der Fußnote auf das Buch 111, Kap. 6 verwiesen wird, der dritte Band der >Philosophie der symbolischen Formen< im dritten Teil, der hier wohl mit >Buch< gemeint ist, aber nur bis zum fünften Kapitel reicht. Es könnte gleichwohl sein, daß Cassirer die Gliederung seines dritten Bandes vor der Drucklegung noch einmal verändert hat und an diese Fußnote nicht mehr dachte. Der geplante Schlußabschnitt der >Philosphie der symbolischen Formen< wurde in Cassirers Nachlaß unter dem Titel >Zur Metaphysik der symbolischen Formen< gefunden. Konvolut 184a war darin mit >Symbolische Formen. Zu Band IV.< betitelt. Näheres zum geplanten vierten Band der >Philosophie der symbolischen Formen< steht in Cassirer, Nachgelassene Manuskripte, S.279-308. 246 So Krois in: Cassirer, Nachgelassene Manuskripte, S.299. 247 Vgl. zu Cassirers Stellung zur Lebensphilosophie v. a. Knoppe, Das Leben: ein Traum. 248 Cassirer, Metaphysik, S.S.

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ansieht, ohne ein theoretisches Differenzbewußtsein auch nur zu benötigen. »Das >natürliche Weltbild< erstreckt sich in alle diese Dimensionen[,] und es lebt und webt in ihnen, - ohne sie jedoch bewusst von einander zu trennen, ohne sie, als verschiedene, zu >habenGeistes< wieder auf diese >natürliche< Konkretion und das unaufgelöste Ineinander seiner Formen zurückzugehen? Alle symbolischen Formen finden im Leben und Erleben des kulturschöpferischen Menschen ihre innere Gemeinsamkeit. Die Formkräfte des individuellen Lebens und Schaffens reißen den kulturellen Raum des Ausdrucks von der instinktiven Eindrucks- und Naturbestimmtheit los, ohne sich von der vorausgesetzten >Subjektivität< vollständig abtrennen zu können. »Und doch handelt es sich in der Lösung, die sich uns hier anzubieten scheint, in Wahrheit nur um einen neuen Ausdruck und um einen neuen Ansatz des Problems. Denn wenn wir die objektive Gegensätzlichkeit der >Formen< in der Einheit des >Lebens< aufgehen lassen, so ist damit die Dialektik nicht beseitigt, sondern sie ist vielmehr nur in den Begriff des Lebens selbst zurückverlegt.«250 Daß die Verhältnisbestimmung von >Leben< und >GeistLebensphilosophie< als metaphysisches Problem aufgenommen wurde, ihren Motiven nach »in einer Grund- und Urschicht des modernen Lebensgefühls«251 wurzelt, gilt Cassirer als ausgemacht. Gleichwohl macht er keinen Hehl daraus, daß diese legitime Fragestellung als metaphysische nur bis zur paradoxen Bezeichnung des Problems, aber nicht bis zu seiner Lösung gelangen kann. »Als eine solche Paradoxie, als ein gedankliches Oxymoron hat Simmel den Begriff der >Transzendenz des Lebens< geprägt.«252 Es mache nach Simmel den Begriff des Lebens aus, sich in der fortschreitenden, allgemeinen Transzendierung lebendiger Gestalten, gleichwohl nur in der Zeugung von neuen Individuen erhalten zu können. Die Selbstaktualisierung des Lebens bleibe darauf angewiesen, im >Fließen< des >Lebensstroms< jedes besondere >Lebewesen< zu transzendieren. Es ist deshalb als allgemeines Leben nur in der wiederholten Setzung und anschließenden Negation von >Individuen< präsent. Simmel sehe nun diese doppelte, unablässige Bewegung von Setzung und Negation der Setzung auf der Ebene des Geistes wiederholt. Der >Lebensstrom< manifestiere sich auf der geistigen Ebene als unabschließbare Bewegung des Wissens von dem eige249 A.a.O., S.6. 250 A.a.O., S.7. 251 A.a.O., S.8. 252 Ebd. Cassirer bezieht sich auf die Werke: Simmel, Lebensanschauung, und ders., Tragödie.

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nen Wissen und Nichtwissen253. Der Individualität geistiger Formen und Grenzsetzungen steht die >Kontinuität< des mit sich selbst identisch bleibenden Lebens unversöhnt gegenüber. Das geistige >Sein< in geprägten Formen und das lebendige, jede Prägung wieder negierende >Werden< bleiben unvermittelt254. Was die Simmelsche Metaphysik von der älteren, aristotelischen Ontologie unterscheide, sei deshalb ihr Dynamismus, die Bestimmung der Substanz als reine Aktualität255. Es bleibe jedoch geltend zu machen, daß die Methode Simmels sich in nichts von der >ontologischen< Metaphysik unterscheidet. Das reine, unbedingte Fürsichsein des Absoluten ist- dem >Leben< völlig analog- für uns nur als diesseitiger Gedanke und durch ihn bedingt gegeben. Die bloße Kennzeichnung der Absolutheit des Lebens schließe als Kennzeichnung einen geistigen Akt ein. »Wie auch alle >negative TheologieSchauensIntuition< des Lebens, möglich. Und diese Intuition kann nie hinter die Welt der Formen schlechthin zurückgehen, weil sie selbst nichts anderes als eine Weise der Formung ist.«256 Indem Simmel diesen Grundsachverhalt zugebe, unterscheide er sich maßgeblich von den >lrrationalisten< der Lebensphilosophie. Er komme der >Philosophie der symbolischen Formen< in gewisser Weise dadurch noch näher, daß er die Eigenwertigkeit der geistigen Formen betont, die schließlich die »Dominanten« vorgeben, »die den Lebensstoff in sich aufnehmen und denen er nachgeben muß.«25 7 Der Kritik verfällt diese Auffassung in dem Moment, wo sie die Differenz von >Geist< und >Leben< reifiziert und sich der Einsicht versperrt, daß es sich um den gedachten >Geist< und das gedachte >Leben< handelt. Werden die diffe253 Vgl. A.a.O., S.9f. 254 Daß sich der >objektive Geist< der »strömenden Lebendigkeit[ ... ] der subjektiven Seele entgegenstellt« und so den »Weg d~.r Seele zu sich selbst« (Simmel, Tragödie, S.116.) blockiert, der auf die geistige Außerung angewiesen ist, stellt eine andere Fassung dieses Problems dar. Sie wird ausführlich von Cassirer in ders., ZLK, S. 103-127 besprochen. Cassirer kritisiert dabei grundsätzlich die Simmelsche Bestimmung der Idee der Kultur. Ziel der Kultur sei es nicht nur, die Selbstkultivierung der Einzelseele zu ermöglichen, sondern über die kulturellen Gebilde eine Verständigung zwischen den Individuen zu garantieren. Das kulturelle Werk »wird zum Vermittler zwischen Ich und Du, nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem einen auf das andere überträgt, sondern indem sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet.« (A.a.O., S.lll.) Hier interessieren jedoch lediglich die Konsequenzen der Simmelschen Lebensmetaphysik für Cassirers Bestimmung des Metaphysikbegriffes. 255 Vgl. ders., Metaphysik, S.9. 256 A.a.O., S.12. 257 A.a.O., S.13.

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renten Momente der Korrelation als unmittelbares Leben hier und bloße Mittelbarkeit des Geistes da gesetzt, dann läßt sich von dem >Leben< nur mittelbar, bildlich reden. Es hängt in der Folge alles daran, den symbolischen Charakter dieser Bilder, im Gegensatz zu ihrem räumlich-metaphorischen, auf den Vergleich von >Dinglichem< zielenden Charakter, festzuhalten. »Die Kluft, die sich damit auftut, ist nicht die zwischen dem Bereich des Metaphysisch-Wirklichen und dem Bereich des >Sinnes< sondern die zwischen dem >Sinn< in seiner idealen Reinheit und seinem bildliehen und bildhaften Ausdruck.«258 Es machte gerade die fruchtbare innere Spannung des Begriffs der >symbolischen Form< aus, daß in ihr >Energie< und geprägter >Bestand< zusammen gedacht werden müssen. Zwei Beispiele Cassirers illustrieren diesen Sachverhalt. Die Sprachform, wie sie in Syntax und Grammatik festgeschrieben ist, wirkt nie nur als Beschränkung des lebendigen Sprechens, sondern wird durch die fortwährenden Akte des Sprechens selbst überhaupt erst ihrer Dauerhaftigkeit versichert. »Die Form erweist sich hier nicht als [... ] Hemmschuh, sondern als ein stets bereites Organ - und zwar als ein Organ, dessen Wert darauf beruht, daß es im höchsten Maße modifizierbar und gestaltbar ist.«259 Der Unterschied zwischen dem dynamischen >Werden< im Vollzug des Sprechens und dem >Sein< in der Sprachform geht selbst nicht auf eine Trennung im Sein zurück, sondern ist in dem Prozeß des Sprechens als ein Gegeneinander »von reinen Funktionen«260 zu denken. »Was, vom Sein aus gesehen, als Real- Opposition erschien das wird zum In- und Miteinander, zu einer Korrelation und Ko- Operation, wenn man es sub specie des Tuns, des geistigen Schaffens betrachtet.«26t Das >Leben des Geistes< erhält sich gerade in dieser Spannung zwischen der aktuellen Inanspruchnahme einer geistigen Formweise und dem damit verbundenen, unter Umständen modifizierenden, Rückgriff auf geprägte Formen dieser Sinnrichtung. Auch die persönlichste und individuellste Gotteserfahrung bleibt in ihrer Äußerung gleichwohl an den bestehenden Kanon religiöser Ausdrucksformen gebunden. Eine prophetisch-virtuose Handhabe der religiösen Sprache wird sich dieser Bindung zu widersetzen trachten, um »sie als Bedingtheit kenntlich«262 zu machen. Die wahrhaften Propheten »zerschlagen die forma formata - aber eben in diesem Vernichtungswillen und in diesem Vernichtungsakt machen sie den Weg zur >forma formans< wieder frei.«263 258 A.a.O., S.14. 259 A.a.O., S.16. 260 Ebd. 261 Ebd. 262 A.a.O., S.19.

263 Ebd.

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Die Cassirersche Kritik an der Simmelschen Entgegensetzung von >Leben< und >Form< läßt sich prägnant in der Einsicht zusammenfassen, daß es sich hier um keinen Widerstreit zwischen verschiedenen Sphären der >Wirklichkeit< handelt, sondern um eine dem Geiste allein immanente Spannung. Auch jede Spekulation über eine Entwicklung vom Leben zum >Geistgeistige Leben< sich schließlich gegen das >Leben< in seiner Unmittelbarkeit wendet, bleibt schlechte Metaphysik. Der Kreis der symbolischen Formen, der stets schon geistigen Hinsichtnahmen auf die Welt kann nicht verlassen werden264. Die Differenz zwischen der menschlichen >Kultur< und dem vorausgesetzten natürlichen >LebenUrsprung< des spezifisch menschlichen Geistes aus dem >Leben< bleibt dagegen unbeantwortbar. »Will man diesen Prozeß der Abgrenzung bezeichnen, will man gleichsam die Demarkationslinie zwischen dem Menschen und der Gesamtheit der Welt des Lebendigen ziehen, so kann dies nicht anders geschehen, als indem man von dem Inbegriff und von der Struktur dieser Gebilde ausgeht, und sie nicht sowohl in ihrem Werden als in ihrem reinen Bestand zu ergreifen sucht. Keine Metaphysik und keine Empirie wird jemals imstande sein, uns den >Ursprung< dieser Gebilde in dem Sinne zu erhellen, daß sie uns in ihren zeitlichen Anfang zurückversetzt, daß sie uns unmittelbar ihre Entstehung belauschen lässt. Wir können niemals zu dem Punkte zurückdringen, an dem der erste Strahl des geistigen Bewusstseins aus der Welt des Lebens hervorbricht; wir können nicht den Finger auf die Stelle legen, an der die Sprache oder der Mythos, die Kunst oder die Erkenntnis >wirdNaturphilosophieSubstanzbegriff und Funktionsbegriff< methodisch hinausweisen würde. Die Substanzontologie wie die >Lebensontologie< machen denselben Fehler. Sie hypostasieren korrelativ aufeinander bezogen zu denkende Differenzmomente zu ursächlich aufeinander bezogenen >SeiendenWirklichkeit< auf einen substantiellen >Ursprung< zurückführt,- bei dem es dann keinen wesentlichen Unterschied mehr macht, ob er als noesis noeseos oder als das sich selbst aktualisierende Leben gedacht wird - ist von Cassirer offenbar nicht rehabilitiert worden. Die Frage nach der Einheit der Kultur kann nicht durch den Hinweis auf einen ihr vorausliegenden >Grund< beantwortet werden266. Die Rede von einer >Metaphysik der symbolischen Formen< scheint also nur dadurch gerechtfertigt zu sein, daß Cassirer das Thema und das Problem der Metaphysik - die Einheit der Wirklichkeit - aufnimmt. Wenn er im Anschluß an Hegel mehrfach bemerkt, daß die Kraft des Geistes »nur so groß [ist; Th.V.] als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut«267, dann ist dieses Zitat als Aufforderung zu interpretieren, das Ganze der symbolischen Formen gedanklich zu durchlaufen, um so die Einheit der >Wirklichkeit< sozusagen >von innen< zu bestimmen. Der Hegeische Gedanke scheint mit Cassirers Verständnis von >Transzendentalphilosophie< durchaus vereinbar zu sein. Wie die Beschreibung der »Anthropogonie« in transzendentalkritischer Weise zu bewerkstelligen sei, wird dann auf Seite 65 ausgeführt. Der •genetische Übergang< von der vormenschliehen zur menschlichen Stufe des Lebens kann vom »Standpunkt der reinen Analyse« aus nicht thematisiert werden. Als Ausweg schlägt Cassirer vor, die Ungleichheit der symbolischen Formen dazu zu nutzen, im »Wechsel des Blickpunkts, der sich beim Übergang von der einen Form in die andere vollzieht« die verschiedenen Perspektiven einzunehmen, »aus deren Zusammenfassung sich für uns erst das vollständige Bild dieser Anthropogonie« ergibt. Dieser Wechsel ermögliche es, Phasen der Anthropogonie zu unterscheiden, ohne aus dem Kreis der symbolischen Formen heraustreten zu müssen. Zum Problem der naturalen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis vgl. auch: Laube, Vogl, Das Ende der Suche. 266 Vgl. Ders., Relativitätstheorie, S.109: »Es erscheint als die Aufgabe einer wahrhaft allgemeinen Erkenntniskritik, daß sie diese Mannigfaltigkeit, diesen Reichtum und diese Vielgestaltigkeit der Formen der Welterkenntnis und des Weltverständnisses, nicht nivelliert und in eine rein abstrakte Einheit zusammendrängt, sondern daß sie sie als solche bestehen läßt. Erst wenn wir der Versuchung widerstehen, die Gesamtheit der Formen, die sich uns hier ergibt, in eine letzte metaphysische Einheit, in die Einheit und Einfachheit eines absoluten >Weltgrundes< zusammenzudrängen und aus ihm ableiten zu wollen, erschließt sich uns ihr wahrhafter konkreter Gehalt und ihre konkrete Fülle.« 267 Hegel, Phänomenologie, S.9. Vgl. z. B. Cassirer, >Geist< und >LebenWahrheit als Totalität eines SystemsPhilosophie der symbolischen Formen< den Anspruch auf Einheit und Universalität festhalten, den die Metaphysik in ihrer dogmatischen Gestalt aufgeben mußte. Sie kann nicht nur die verschiedenen Weisen und Richtungen der Welterkenntnis in sich vereinen, sondern darüber hinaus, jedem Versuch des Welt-Verständnisses, jeder Auslegung der Welt, deren der menschliche Geist fähig ist, ihr Recht zuerkennen und sie in ihrer Eigentümlichkeit begreifen. Erst auf diese Weise wird das Problem der Objektivität in seiner ganzen Weite sichtbar, und, so gefaßt, umspannt es nicht nur den Kosmos der Natur, sondern auch den der Kultur.«270 Es entspricht, von der thematischen Erweiterung abgesehen, dem Cassirerschen Frühwerk, daß er hier den Gedanken der >Objektivität< wiederum als Aufgabe bestimmt271. Die Einheit der Kultur nicht nur durch den abstrakten Hinweis auf eine durchgehende, ihr immanente Funktion anzugeben, sondern darüberhinaus den konkreten Nachweis zu führen, daß diese Funktion sich im Gang durch alle Kulturbereiche als >wesentlich< erweist, darf als eine unabschließbare Aufgabe angesehen werden272. 268 Vgl. Hegel, a.a.O., S.18. 269 Vgl. Cassirer, PhsF II, S.17 und im Zusammenhang mit Kants Verzicht auf die Bestimmung des >Dinges an sichStrukturform< des Geistes verständlich« zu machen. 270 Ders., ZLK, S.19f. 271 Vgl. auch als eine Schrift der >Übergangszeit< (1921) ders., Goethe und die mathematische Physik, S.69: »Da das >Wirkliche< für uns, gemäß der idealistischen Einsicht, nicht anders als in diesen Funktionen zu erfassen ist, da Sprache, und Mythos, Kunst und Religion, da mathematisch-exakte und empirisch-beschreibende Erkenntnis für uns nur gleichsam verschiedene symbolische Formen sind, in denen wir die entscheidende Synthese von Geist und Welt vollziehen: so gibt es für uns >Wahrheit< nur insofern, als wir jede dieser Formen in ihrer charakteristischen Eigenart begreifen und uns zugleich die Wechselbezüglichkeit vergegenwärtigen, in welcher sie mit allen anderen zusammenhängt.« 272 Wie Cassirer auch in ZLK, S.97 andeutet: »Hier gelangen wir zu einer >Theorie< der Kultur, die letzten Endes ihren Abschluß in einer >Philosophie der symbolischen Formen< suchen muß- mag dieser Abschluß auch als ein >unendlich-ferner Punkt< erscheinen, dem wir uns nur asymptotisch annähern können.«

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Umsomehr wird hier, wie in der Frage nach der Geltung einzelner symbolischer Formen im vorangehenden Unterkapitel, die Bestimmung der Funktion zur Bestimmung einer allgemeinen Norm. 3. Selbstbefreiung des Menschen als Norm und Leistung der Kultur Es muß nun noch deutlicher gezeigt werden, daß die symbolischen Formen in Cassirers Denken dem Menschen als Mittel zur Selbstbefreiung dienen sollen. Indem ein Mensch an ihrem Bestehen mitwirkt, setzt er sich in ein bewußtes Welt- und Selbstverhältnis. »In diesem Akt der Bewusst-Werdungund der Bewusst-Machung herrscht nicht mehr jene blasse Macht des Schicksals, die im Reich des organischen Werdens waltet, sondern hier ist das Gebiet der Freiheit erreicht. Die eigentliche und höchste Leistung jeder >symbolischen Form< besteht darin, daß sie mit ihren Mitteln und in der ihr gernässen und eigentümlichen Richtung, an diesem Ziele: an dem Übergang vom Reich der >Natur< in das der >Freiheit< mitarbeitet.«273 Worin der Unterschied dieser beiden >Reiche< besteht, läßt sich an Cassirers Überlegungen zur Anthropologie deutlich machen. Er geht mit dem Biologen Uexküll davon aus, daß der tierische Organismus vollständig in seine Umwelt >eingepaßt< ist. Die an der Anatomie des Tierkörpers ablesbaren Komponenten seiner Sensomotorik legen die spezifische Außen- und Innenwelt des Tieres vollständig und von vornherein fest. »Entsprechend seiner anatomischen Struktur besitzt er ein bestimmtes >Merknetz< und ein bestimmtes >WirknetzFunktionskreis< des Lebewesens nennt.«274 Über diesen Funktionskreis ist das Verhalten des Tieres geregelt und determiniert. Dieses Schema treffe zwar auch auf die Beschreibung des menschlichen Organismus zu, hier sei jedoch dem sensomotorischen >Funktionskreis< ein weiteres Moment eingefügt. »Der >Funktionskreis< ist beim Menschen nicht nur quantitativ erweitert; er hat sich auch qualitativ gewandelt. Der Mensch hat gleichsam eine neue Methode entwickelt sich seiner Umwelt anzupassen. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als >Symbolnetz< oder Symbolsystem bezeichnen können.«275 Dieses Symbolnetz versetzt den Menschen in eine andere >Dimension< der Wirklichkeit. 273 Cassirer, Metaphysik, S.109. 274 Ders., VdM, S.48. Vgl. auch ders., Metaphysik, SA0-43.60-63. 275 Ders., VdM, S.49.

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Seine >Reaktionen< auf die Umwelt wandeln sich zu bewußten >Antwortensymbolische Umweg< zur >Wirklichkeit< sich gestaltet, desto stärker wird der Mensch von seinen eigenen >Edindungen< abhängig. »Die physische Realität scheint in dem Maße zurückzutreten, wie die Symboltätigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam ständig mit sich selbst zu tun.«277 Und dieser kulturell vermittelte und erzwungene Selbstbezug betrifft sowohl die Erkenntnis als auch die Praxis. »Auch hier lebt er nicht in einer Welt harter Tatsachen und verfolgt nicht unmittelbar seine Bedüdnisse oder Wünsche, sondern vielmehr inmitten imaginärer Emotionen, in Hoffnungen und Ängsten, in Täuschungen und Enttäuschungen, in seinen Phantasien und Träumen.«278 Der entscheidende Schritt von der tierischen zur menschlichen Welt besteht dabei im Übergang von der emotionalen Reaktion auf die sinnlich wahrgenommene Umwelt zur Konstruktion von Repräsentationen, von >Vorstellungen< der Umwelt. Die deutliche Grenze zwischen dem Tierreich und dem Reich des Menschen wird von Cassirer in dieser spontanen Betätigung der Darstellungsfunktion des Bewußtseins gezogen. Sie erlaubt zu erklären, warum »das Tier über eine praktische Phantasie und Intelligenz verfügt, während allein der Mensch eine neue Form ausgebildet hat: eine symbolische Phantasie und eine symbolische Intelligenz.«279 Wie er am Beispiel des Spracherwerbs der taubstummen Helen Keller280 illustriert, »kann der Mensch seine symbolische Welt aus den beschränktesten und spärlichsten Materialien errichten. Entscheidend sind dabei nicht die einzelnen Steine und Ziegel, sondern ihre allgemeine Funktion als architektonische Form.«28t Ist eine solche symbolische Form in Kraft gesetzt, so bewährt sie sich zum einen an jedem sinnlich wahrgenommenen >MaterialWesen< des Menschen. Gegenüber der Eigentümlichkeit und Eigenwertigkeit seiner kulturellen Leistungen sinken die biologischen Bedingungen für die Bestimmung des Menschen zur Bedeutungslosigkeit herab. Die Einheit der gegenläufigen Tendenzen des menschlichen Kulturlebens sei nicht als ein >statischesdynamisches Gleichgewicht< zu beschreiben285. Dieses Gleichgewicht verdankt sich aber auch nicht der >Ähnlichkeit< der verschiedenen symbolischen Formen. Nicht die Gemeinsamkeit der »verschiedenen Kräfte« verbürgt die Einheit der Kultur, denn »die verschiedenen Formen der Kultur werden nicht durch eine Identität in ihrem inneren Wesen zusammengehalten, sondern dadurch, daß sich ihnen eine gemeinsame Grundaufgabe stellt.« 286 Während im Tierreich jedes erworbene Verhalten mit dem Tod des jeweiligen Lebewesens der Gattung insgesamt wieder verloren geht, vermag der Mensch im >Werk< »sein Wirken zu stabilisieren und >fortzupflanzengemeinsame Grundaufgabe< auch nur in Angriff nehmen zu können. Die Produktion von Kulturwerken stellt nun aber keine konkurrenzfreie Kumulation von menschlichen Schöpfungen dar. Sie untersteht vielmehr der in jeder symbolischen Form beobachtbaren doppelten Tendenz zur Verfestigung eines Formenbestandes einerseits und zur Erschaffung neuer Formen andererseits. »Der Mensch steht zwischen diesen beiden Tendenzen, von denen die eine alte Formen zu bewahren sucht, während die andere neue Formen hervorzubringen strebt. Es herrscht ein unablässiger Kampf zwischen Tradition und Innovation, zwischen reproduzierenden und kreativen Kräften.« 288 Aus diesem >Prozeß der ZivilisationKultur< und >Zivilisation< im >Versuch über den Menschen< promiskue. Vgl. a.a.O., S.Sl.

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unterschiedliche Phasen in diesem Prozeß. In ihnen allen entdeckt der Mensch eine neue Kraft- die Kraft, sich eine eigene, eine >ideale< Welt zu errichten. «290 4. Resümee Die Kulturphilosophie zeigt deutlicher als die frühen erkenntnistheoretischen Arbeiten den ethischen Impetus des Cassirerschen Denkens. Was es heißt, daß die Kulturbedeutung einer symbolischen Form nur in ihrer Auseinandersetzung mit den anderen symbolischen Formen bestimmt werden kann, wurde am Beispiel der >Technik< deutlich. Cassirer grenzt die >Technik< zunächst von >Naturwissenschaft< und >Kunst< ab, um in der Folge ihr spannungsreiches Verhältnis zur >Moral< und ihre Verquickung mit der >Wirtschaft< anzudeuten. Als letzte Norm zur Beurteilung der Technik wird jedoch ihre eigentümliche Funktion, ihr eigener Sinn bemüht, der darin besteht- über die Lebensdienlichkeit der technischen Mittel hinaus- eine solidarische Schicksalsgemeinschaft der Arbeitenden zu stiften. Wenn im System der Kultur die Geltungsfrage in dieser doppelten Perspektive, auf den Zusammenhang der symbolischen Formen einerseits und auf ihre spezifische Eigenart andererseits, entschieden werden muß, dann stellt sich die Frage nach der Einheit der Kultur und der ihr insgesamt zukommenden Norm. Die Frage scheint metaphysischer Art zu sein und verweist zunächst auf die Möglichkeit, den Einheitsgrund der Kultur in dem vorauszusetzenden >Leben< zu sehen. Cassirer kritisiert an dieser lebensphilosophischen Antwort jedoch das metaphysische Substanzdenken und bestimmt im Gegenzug die Frage nach der Einheit des Kultursystems als unabschließbare Aufgabe einer >Philosophie der symbolischen Formen Richtungssinn der Kultur< in der Welt zu realisieren, wird in der Formel der >fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen< zusammengefaßt. Die Transzendentalphilosophie dient Cassirer als Methode, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften nicht nur in eine einheitliche Bestimmung der Kultur zusammenzuführen (vgl. II). Er bemüht sie vielmehr auch dazu, die so systematisierten, konkreten Kulturphänomene in ihrem Zusammenhang zu vergleichen (vgl. I) und einer allgemeinen Kulturnorm zu unterstellen. Die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion untersteht deshalb dem Kriterium der >Realisierung der Freiheitbenachbarten< symbolischen Formen des Mythos und der Kunst zu betrachten sein (vgl. I). Es wird zudem nach der interdisziplinären Integration der >Geisteswissenschaften< in die Cassirersche Religionstheorie zu fragen sein (vgl. II). Sie muß darüberhinaus in ihrer Eigenart, ihrer >Begriffsform< dargestellt werden, um schließlich mit dem Kriterium der >Realisierung der Freiheit< konfrontiert werden zu können (vgl. III). In eine produktive Auseinandersetzung läßt sich mit Cassirers Religionstheorie jedoch nur treten, wenn sie mit Überlegungen zu weiteren Möglichkeiten, die Kulturbedeutung der Religion zu bestimmen, konfrontiert werden kann. Der normative Anspruch der Cassirerschen Kulturphilosophie ist bisher deutlich herausgetreten. Es wird sich jedoch zeigen, daß die Konkretheit seiner kulturphilosophischen Bestimmung des Religiösen noch eine Vertiefung zuläßt, die der transzendentalen Hermeneutik allein nicht gelingt. Ein theoretischer Ertrag ist von einer Konfrontation dann zu erwarten, wenn die Grundfrage Cassirers dabei so geteilt werden kann, daß Hoffnung besteht, der Leistung, aber auch der Ergänzungsfähigkeit seiner Theorie ansichtig werden zu können. Dabei wird hier vorausgesetzt, daß die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion nur dann einer hinreichend konkreten Antwort zugeführt werden kann, wenn nicht nur im >geistigenRealisierung der Freiheit< bildet den idealistischen Fokus und das geistige Zentrum der >Philosophie der symbolischen FormenReligion< im Singular eine unmögliche- oder euphemistisch: unabschließbare - Aufgabe darstellt, ist deutlich. Welche Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen sind, soll am Ende der Arbeit diskutiert werden.

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stabzur Evaluierung symbolischer Formen dar. Die gelungene >Realisierung der Freiheit< läßt sich aber nicht an den >symbolischen Formen< selbst, sondern ausschließlich am Verhalten der Individuen im sozialen Raum beobachten.292 Diese triviale, wenngleich folgenreiche Einsicht ist Cassirer nicht fremd. Keine noch so strikte Unterscheidung zwischen >Geltung< und >Genesequaestio iuris< und >quaestio factiLebensführung< religiöser Menschen im sozialen Raum stellen. Die logisch-ethische Zweideutigkeit der >Wesensbestimmung< symbolischer Formen fordert die Frage nach der faktischen Realisierung der Freiheit durch ein bestimmtes symbolisches Welt- und Selbstverhältnis geradezu heraus. Cassirer deutet solche Bezüge durchaus an, wenn er im Zusammenhang mit Mythos und Religion von der- den symbolischen Formen korrespondierenden - >Lebensform< spricht293.

292 Das ist soziologisch betrachtet freilich ein heikles Thema. Die namentlich in Luhmanns Werken passim eingestreute Bemerkung, mit dieser Orientierung am Menschen und seiner Freiheit einem >alteuropäischen< Denkmuster anzuhängen, das seinen Erklärungswert eingebüßt habe und lediglich einer moralischen Stilisierung soziologischer Sachverhalte diene, ist bekannt. Auf eine ausführliche Diskussion dieser Einwände muß hier verzichtet werden. Aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen an dem Kriterium der Freiheit festgehalten werden kann, findet sich exemplarisch dargestellt bei Rendtorff, Kann Freiheit eine soziale Tatsache sein? 293 Vgl. dazu Orth, Lebensordnungen, S.24: »Wenn wir die hier editierten Texte dennoch unter den Titel >Lebensordnungen< stellen, so deshalb, weil damit Cassirers distanzierte Stellung zu seinen eigenen Begriffselaboraten angedeutet werden soll, vor allem aber weil bei Cassirer das Bewußtsein unverkennbar ist, daß Ziel alles Philosophierens und aller Wissenschaften die Kultivierung von Lebensordnungen ist, die freilich nie in eine vordergründige Polemik gegen die Wissenschaften führt.« Diese >Lebensordnungen< werden von Orth mit den symbolischen Formen identifiziert. Sieht man sich jedoch die Gliederung im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen an, dann stellt sich heraus, daß Cassirer dem Mythos als Denk- und Anschauungsform den Mythos als Lebensform gegenüberstellt. Verhandelt werden darunter Themen von >Das Ich und die Seele< bis zu >Kultus und OpferLebensordnung< oder >Lebensform< der symbolischen Form macht nur eins ihrer Momente aus. Freilich das Moment, das auf das subjektive Selbstverständnis und die subjektive Lebensführung, den individuellen Selbst- und Weltumgang, bezogen ist. So kann Cassirer

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Diese >Lebensform< ist aber nun gerade bei Max Weber einer soziohistorischen und psychohistorischen Betrachtung unterzogen worden. Dabei verhalten sich diese >empirischen< Forschungen und jene >transzendentalphilosophische< Erkenntnis einerseits zueinander wie >Genese< und >GeltungEntdeckungszusammenhang< und logischer >Begründungszusammenhang< - andererseits aber auch wie die Probe aufs Exempel. Der Wert der Cassirerschen Transzendentalhermeneutik liegt zum einen in der Art der Konkretion, die durch sie ermöglicht wird. Es ist theologischer Religionsforschung ebenso wie der Religionsphilosophie unzuträglich, sich einem abstrakt-allgemeinen Religionsbegriff anzuvertrauen, um es in der Folge den idiosynkratischen Interessen des Forschers anheimzustellen, diese oder jene inhaltliche Bestimmtheit des religiösen Bewußtseins zu >betonensymbolischen Form< liegenden Universalität. Dann findet aber die >Definition< der Religion an bestimmten Inhalten des religiösen Bewußtseins keinen sicheren Halt mehr. Die Leistung der >begrifflich-kategorialen< Bestimmung des religiösen Bewußtseins besteht nun gerade darin, angeben zu können, als was inhaltliche Bestimmtheiten in den eigentümlichen Strukturen eines religiösen Bewußtseins konkret fungieren294. Ein halbwegs klar begrenzter >Gegenstandsbereich Religion< wird so überhaupt erst identifiziert295.

schon sehr viel früher etwa von der »Weltanschauung und Lebensform des jungen Goethe« (ders., FuF, S.VIII) sprechen. 294 Ein Beispiel mag das Problem veranschaulichen: Bekanntlich findet sich in der Präambel des Grundgesetzes die Vokabel >GottGott< entschieden werden, weil diese inhaltliche Bestimmtheit davon abhängt, als was sie religiös-theologisch oder aber juristisch fungiert. 295 Die methodischen Vorgaben, die Falk Wagner seiner Interpretation der Barthschen Theologie zugrundelegt, gelten in diesem Sinne für die Interpretation einer Religion gleichermaßen. »Denn die inhaltliche Bestimmtheit[ ... ] ergibt sich nicht aus der bloßen Aneinanderreihung und Nacherzählung von Gehalten. Vielmehr läßt sich von inhaltlicher Bestimmtheit nur dort reden, wo der Inhalt aus seiner funktionalen und strukturellen Bestimmtheit und Geprägtheit erklärt werden kann. Die besondere Prägung und Formung eines Inhalts macht seine Struktur aus.« (ders., Theologische Gleichschaltung, S.122) Vgl. auch a.a.O., S.123: »Deutlich ist also, daß die Forderung nach inhaltlicher Bestimmtheit so lange abstrakt bleibt, als nicht angegeben werden kann, welche funktionale Bedeutung dieser oder jener inhaltlichen Bestimmtheit für einen Gedanken oder eine Theorie zukommt. Erst die funktional interpretierte inhaltliche Bestimmtheit erlaubt es, ihre Struktur aus dem sie tragenden Zusammenhang zu erklären, in dem sie ihre Konkretheit erhält.«

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Zum anderen läßt der funktionalistische Zuschnitt seiner Kulturphilosophie den Bezug auf die Geisteswissenschaften nicht nur zu, sondern fordert ihn konsequent und durchgehend ein. Die transzendental-hermeneutische Methode ist auf die Ergebnisse >empirischer< und historischer Methoden und Wissenschaften angewiesen. Es wird sich aber gleichwohl zeigen, daß die transzendentalhermeneutische Bestimmung des religiösen Selbst- und Weltverhältnisses bei Cassirer seinerseits die Neugier auf ein korrespondierendes Gefühls- und Sozialleben - die >Lebensform< oder >LebensordnungRealisierung der Freiheit< steht unter sozialen und psychologischen Bedingungen, die nur um den Preis einer erneuten Abstraktheit der Theorie von dieser unberücksichtigt bleiben können. Das Bedürfnis nach einer psychohistorischen und soziohistorischen Ergänzung seiner Transzendentalhermeneutik wird von Cassirer selbst formuliert: »Beschreiben wir die Struktur von Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft, so spüren wir ständig das Bedürfnis nach einer psychologischen Terminologie. Wir sprechen von religiösen >EmpfindungenPhantasieobjektiven GeistesGeist< des Kapitalismus« eine mögliche methodische Orientierung am Individuum in seinen seelischen, sozialen und geistigen Bezügen zumindest angedeutet werden298. Um einen Vergleich der Cassirerschen mit der Webersehen Religionstheorie geht es dabei nicht. Es muß hier genügen, ein vorläufiges methodisches Verständnis davon zu entwickeln, nach welchen Anschlußmöglichkeiten in der Cassirerschen Religionstheorie im Fortgang dieses zweiten Teils der Arbeit gesucht werden kann. Webers Studie geht von den AuffäHigkeiten der badischen Konfessionsstatistik aus, wie sie von Martin Offenbacher aufgewiesen wurden.299 Erklärungsbedürftig wird ihm dabei der »ganz vorwiegend protestantische[n] Charakter des Kapitalbesitzes und Unternehmertums sowohl, wie der oberen gelernten Schichten der Arbeiterschaft, und >subjektiven GeistesPrägungReligionssoziologie< zu verweisen. In ihnen ist überall die spezifische Form des religiösen Bewußtseins nicht sowohl als Produkt einer bestimmten gesellschaftlichen Struktur, als vielmehr als deren Bedingung aufgewiesen, so daß hier, in moderner Wendung und Terminologie, der gleiche Gedanke vom >Primat des Religiösen< vertreten wird, den wir in den früher angeführten Sätzen Schellings ausgesprochen fanden. (s. oben S. 211f.)« (Cassirer, PhsF II, S.231 Anm.l) Für die psychologische Seite des Problems wäre v.a. auf Sigmund Freud zu verweisen, der von Cassirer am ausführlichsten in >Der Mythus des Staates< (ders., MdS, S.41-50) gewürdigt wird und der auch das Denken Max Webers beeinflußt zu haben scheint {vgl. z.B. Weber, Wissenschaftslehre, S.189.434). Die >kognitivistischen< Mythostheorien werden von Cassirer mit Freud kritisiert: »Vom Gesichtspunkt unseres Problems aus war dieser Appell an das >Unbewußte< sicherlich ein wichtiger Schritt. Er rief nach einer Neustellung der ganzen Frage. In vielen der früheren Theorien erschien der Mythus als ein sehr oberflächliches Ding. Er wurde für ein einfaches quid pro quo erklärt; ein falscher Gebrauch der allgemeinen Assoziationsgesetze, oder eine Fehlinterpretation von Begriffen und Eigennamen. All diese sehr naiven Annahmen wurden durch die Freudsche Theorie hinweggefegt. Das Problem wurde auf einem neuen Weg angegangen und in neuer Tiefe gesehen.« (Cassirer, MdS, S.44f.) 299 Vgl. Martin Offenbacher, Konfession und soziale Schichtung.

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namentlich des höheren technisch oder kaufmännisch vorgebildeten Personals der modernen Unternehmungen.«3oo Im Zusammenhang mit der stärkeren Neigung protestantischer Handwerker, in die Fabrikarbeit und das gewerbliche Beamtenturn zu wechseln, fällt der erste Hinweis auf die Bedeutung der Religion für den >Geist des KapitalismusBewährungsSicht< sozial-geschichtlich wirksam wird, dazu, ihre psychodynamische Valenz und Funktion mitzuberücksichtigen. Weber täuscht sich nicht darüber hinweg, daß damit aber zunächst nur die subjektiven Bedingun300 Weber, PE, S.l. 30t A.a.O., S.4f. 302 A.a.O., S.5. 303 A.a.O., S.75 Anm.114. 304 A.a.O., S.55. 305 A.a.O., S.165 ergänz. Anm.42 aus der zweiten Auflage.

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gen der kulturbedeutsamen Folgen des Calvinismus angesprochen sind. Daß die Adaption dieser religiösen >Sicht< einen Prozeß der Sozialisation und Erziehung voraussetzt, wurde schon bemerkt306. Den subjektiven, psychologischen Bedingungen sind deshalb die objektiven, soziologischen Bedingungen zur Seite zu stellen: »Es ist hier ganz absichtlich vorläufig nicht von den objektiven sozialen Institutionen der altprotestantischen Kirchen und deren ethischen Einflüssen ausgegangen worden, insbesondere nicht von der so wichtigen Kirchenzucht, sondern von den Wirkungen, welche die subjektive Aneignung der asketischen Religiosität seitens der einzelnen auf die Lebensführung hervorzubringen geeignet war.«307 Die Untersuchung wird dabei nicht nur zur Bestimmung der Kulturbedeutung des Protestantismus angestrengt; sie ist analog der Cassirerschen Grundfrage dem Thema der individuellen Freiheit unter modernen Bedingungen zugeordnet. »Somit ist deutlich, daß Webers Forschungsprogramm, die Besonderheit des okzidentalen Rationalismus in ihrer subjektiven (Fachmenschentum) und objektiven (Bedingungen) Dimension, um des Standes der individuellen Freiheitwillen unternommen wird.«308- Weniger komplex ist eine Antwort auf die Frage nach der kulturbedeutsamen >Lebensform< einer Religion offenbar nicht zu erwarten309. 306 Ein Hinweis auf den Zusammenhang von Sozialisation, Freiheit und >symbolischen Formen< findet sich in Cassirers Aufsatz zu >Goethes Idee der Bildung und Erziehung< (ders., Goethes Idee, S.lOOf.): »Denn mit dem Begriff der >beweglichen Ordnung< sind wir bereits zu einem Zentralproblem aller echten und eigentlichen pädagogischen Selbstbesinnung vorgedrungen. Alle Erziehung will und muß den Einzelnen in feste und sichere, in objektiv-bestimmte und geregelte Lebensordnungen hineinstellen. Aber diese Ordnungen sollen nicht schlechthin von außen her gegeben, sondern sie sollen von innen gefordert sein. Die Form, in die das Einzelwesen eintritt, soll es nicht gleich einem starren Gefäß umschließen; sie soll eine in sich bildsame Form sein, und sie soll die Kräfte des Individuums eben zu dieser eigenen Bildsamkeit benutzen und aufrufen. Alle Form beruht auf der Herrschaft des Gesetzes; aber nur dasjenige Gesetz, das vom Ich aus selbsttätig ergriffen und das von ihm selbst gestaltet wird, kann ihm die wahre Freiheit geben.« 307 Weber, PE, S.119. 308 Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte, $.240. 309 Weber selbst fügt am Ende seiner Studie noch fünf weitere Aufgaben an: »Die Aufgabe ist vielmehr nun, die in der vorstehenden Skizze ja nur angeschnittene Bedeutung des asketischen Rationalismus nun auch für den Inhalt der sozioökonomischen Ethik, also für die Art der Organisationen und der Funktionen der sozialen Gemeinschaften vom Konventikel bis zum Staat aufzuzeigen. Alsdann muß seine Beziehung zu dem humanistischen Rationalismus und dessen Lebensidealen und Kultueinflüssen, ferner zur Entwicklung des philosophischen und wissenschaftlichen Empirismus, zu der technischen Entwicklung und zu den geistigen Kulturgütern analysiert worden. Dann endlich ist sein geschichtliches Werden von den mittelalterlichen Ansätzen einer innerweltlichen Askese aus und

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Festzuhalten bleibt, daß die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion - zur Zeit der Entstehung der >Philosophie der symbolischen FormenRealisierung der Freiheit< erst ein verantwortbar vielschichtiges Wissen um die Religion vorzulegen erlaubt. Welches allgemeine Fragesetting die Auseinandersetzung mit Cassirers Religionstheorie leiten soll, ist deutlich geworden. Es gilt jedoch noch ein weiteres, spezielles Problem zu berücksichtigen, das in der Darstellung der Grundzüge seiner Kulturphilosophie aufgeworfen wurde. Gibt es ideelle Überbietungsverhältnisse zwischen den symbolischen Formen des Mythos, der Religion und der Kunst? Die Frage hängt zum einen aufs engste mit der von Cassirer so genannten >Dialektik des Mythos< zusammen. Ihr bleibt deshalb ein eigenes Unterkapitel reserviert. Zum anderen ist auffällig, daß der zweite Band der symbolischen Formen mit einem Hinweis auf die Funktion der Kunst endet. Der innere Gegensatz des religiösen Bewußtseins- die Spannung zwischen »Sinn und Bild« -sei in der Sphäre der Kunst »wenn nicht aufgehoben, so doch gewissermaßen beruhigt und beschwichtigt«3to (V). Und wie verhält sich das Problem ideeller Überbietungsverhältnisse zwischen den symbolischen Formen zu dem von Cassirer vertretenen allgemeinen ethischen Humanismus und Individualismus? Wie freiheits-und individualitätsfähig ist die Religion, wenn Mythos und Religion »Überhaupt die konservativsten Kräfte im menschlichen Leben zu sein«3tt scheinen? (VI) Doch zunächst ist mit Cassirers Theorie des Mythos zu beginnen.

seine Auflösung in den reinen Utilitarismus historisch und durch die einzelnen Verbreitungsgebiete der asketischen Religiosität hindurch zu vedolgen. Daraus erst kann sich die Kulturbedeutung des asketischen Protestantismus im Verhältnis zu anderen plastischen Elementen der modernen Kultur ergeben.« (a.a.O., 5.154f.) 310 Cassirer, PhsF II, 5.311. 311 Ders., VdM, 5.340.

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IV. Mythos und Religion Zunächst ist Cassirers Phänomenologie des mythischen und religiösen Bewußtseins unter dem Aspekt ihrer wechselseitigen Konkurrenz darzustellen (1). Sodann ist zu klären, wie sich Cassirer den Übergang von der einen in die andere symbolische Form erklärt (2). Schließlich soll nach der >Aktualität des mythischen Bewußtseins< bei Cassirer gefragt werden (3).

1. Der Mythos als symbolische Form Cassirers Anspruch, die reine Analyse von Bewußtseinsphänomenen gegen psychologische und metaphysische Erklärungsversuche abzusetzen, der schon in seiner Kantinterpretation begegnete, bildet auch den Ausgangspunkt seiner Interpretation des Mythos. Den Mythos zu verstehen, sei insofern »eine Forderung der Erkenntnis selbst«312, als es das vorrangige Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis sein müsse, die mythische Denkform aus ihrem Bereich zu verbannen. Die einfache Zurückweisung mythischer >Erklärungen< durch die Erkenntnis kann den Streit zwischen Mythos und Wissenschaft jedoch nicht schlichten. »Für sie gilt vielmehr, daß sie nur das wahrhaft zu überwinden vermag, was sie zuvor in seinem eigentümlichen Gehalt und nach seinem spezifischen Wesen begriffen hat.«313 Es scheinen sich historisch zwei Weisen nahezulegen, den Mythos wissenschaftlich zu begreifen. SeheHing habe als erster die allegorischen Deutungen des Mythos überwunden und so den Weg dafür geöffnet, die eigene Wertigkeit und >Objektivität< des mythischen Bewußtseins anzuerkennen. »Die allegorische Deutung der Mythenwelt wird von ihm durch die >tautegorische< ersetzt - d.h. durch eine solche, die die mythischen Gestalten als autonome Gebilde des Geistes nimmt, die aus sich selbst, aus einem spezifischen Prinzip der Sinn- und Gestaltgebung begriffen werden müssen.«314 Der SeheHingsehe Versuch, auf diese Weise der Eigenart des Mythos auf die Spur zu kommen, scheitere jedoch daran, daß die >tautegorische< Deutung nicht eigenständig, sondern als Funktion einer Theorie des Absoluten auftritt. »Der Mythos hat seine >wesentliche< Wahrheit erlangt, indem er als ein notwendiges Moment im Prozeß der Selbstentfaltung des

312 Cassirer, PhsF II, S.XI. 313 Ebd. 314 A.a.O., S.7.

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Absoluten begriffen ist.«315 Damit werde die zuvor geforderte Eigenständigkeit des Mythos wieder zurückgenommen. Die nachidealistischen Versuche, den Mythos zu verstehen, beruhen auf einem vom Spekulativen zum Empirischen gewendeten Entwicklungsbegriff. Nicht mehr die logisch-genetische, sondern die psychologisch-genetische Notwendigkeit des mythischen Bewußtseins soll »seinen einzigen objektiv-faßbaren Gehalt«316 ausmachen. »An die Stelle der Einsicht in die letzten absoluten Gründe des Mythos sollte jetzt die Einsicht in die natürlichen Ursachen seiner Entstehung treten: an die Stelle der Methodik der Metaphysik trat die Methodik der Völkerpsychologie.«317 Der Gehalt des Mythos lasse sich aber, wie auch der Gehalt der anderen symbolischen Formen, nicht auf die Weise seiner Entstehung reduzieren. »Die Frage nach ihrem >Wesen< läßt sich auch hier niemals dadurch zum Schweigen bringen, daß wir sie in eine empirisch-genetische Frage verwandeln. Die Voraussetzung einer solchen Einheit des Wesens bedeutet für die Kunst und für den Mythos, ebenso wie für die Erkenntnis, die Annahme einer allgemeinen Gesetzlichkeit des Bewußtseins, die alle Gestaltungendes Besonderen bedingt.«318 Um dieser Gesetzmäßigkeit auf die Spur zu kommen, muß der Mythos zum einen in seiner >DenkformObjektivität< ist so an die Beschreibung invarianter Beziehungen unter den wechselnden Sinneseindrücken gebunden. »Wenn das naive, von erkenntnistheoretischen Zweifeln und Fragen unberührte Denken unbefangen von einer Konstanz der >Dinge< und ihrer Eigenschaften zu sprechen pflegt- so löst sich für die kritische Betrachtung eben diese Behauptung konstanter Dinge und Eigenschaften, wenn man sie in ihren Ursprung und ihre letz315 A.a.O., S.12. 316 A.a.O., S.14. 317 Ebd. Cassirer denkt vermutlich an Wundt. 318 Cassirer, PhsF II, S.15.

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ten logischen Gründe zurückverfolgt, in die Gewißheit solcher Verhältnisse, insbesondere in die Gewißheit gleichbleibender Maß und Zahlverhältnisse auf.«319 Der Terminus der >Objektivität< macht darin den Zielbegriff aus, der zur Unterscheidung der >festen< Verhältnisse im Erfahrenen von den >flüssigenwirklichelementarisiert< und zerlegt werden, um den Grad an Bestimmtheit zu erlangen, der dem naturwissenschaftlichen Gesetzesdenken erst einen Anknüpfungspunkt gewährt. Für Konstanzbeobachtungen relevante Differenzen lassen sich in der Wahrnehmung erst ausmachen, wenn ihr bloßes Erscheinen auf >Gründe< bezogen wird. »So kann es z. B. zu keiner Formulierung wahrhaft >exakter< Gesetze der Bewegung kommen, solange wir die Subjekte der Bewegung noch einfach im Bereich der konkreten wahrnehmbaren Gegenstände suchen. Erst indem das Denken diese Sphäre überschreitet, indem es zur Setzung der Atome als >wahren< Subjekte der Bewegung übergeht, wird ihm an diesen neuen ideellen Elementen das Phänomen der Bewegung mathematisch faßbar.«321 In dieser doppelten, analytisch-synthetischen Vorgehensweise sondert sich der Bereich des bloß Subjektiven von dem Bereich des gesetzmäßig Objektiven. Nicht der emotionale Appellwert einer Wahrnehmung entscheidet forthin über ihre >WirklichkeitWirklichkeit< erst durch die Einordnung in einen allgemeingültigen Kreis gesetzlicher Bedingungen für >Wirklichkeit< feststellbar. Die Grenze zwischen dem subjektiv Wirklichen und dem objektiv Wirklichen bleibt dabei im Fortgang der Erfahrung variabel, denn die jeweilige >Objektivität< ist nur von Gnaden der Hypothesen, die die Gesetzeszusammenhänge tragen. Und die können sich ändern. »Das positive Sein des empirischen Objekts wird gleichsam durch eine doppelte Negation gewonnen: durch seine Abgrenzung gegen das >Absolute< einerseits und gegen den Sinnenschein andererseits.«322 Dies bedeutet aber nicht, daß die sinnliche Wahrnehmung nicht selbst schon Kriterien 319 A.a.O., S.41. 320 A.a.O., S.42. 321 A.a.O., S.43. 322 A.a.O., S.45.

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für >Objektivität< kennte. Eine sinnliche Wahrnehmung die durch keine geistige Stellungnahme, keine >InterpretationGrenzbegriff< der Erkenntnistheorie aus. Unbestimmte Unmittelbarkeit ist in keiner Erfahrung aufweisbar. »Denn jede schlichte >Wahrnehmung< schließt bereits ein >Für-Wahrnehmen< - also eine bestimmte Norm und einen Maßstab der Objektivität ein.«323 Der Unterschied zwischen dem Gegenstandsbewußtsein der Wahrnehmung und dem der Naturwissenschaft ist demnach kein absoluter, er hängt allein am Begriff des Gesetzes und dem in Geltung stehenden Urteilszusammenhang. Das mythische Gegenstandsverständnis hält sich dagegen noch ganz an der bloßen Präsenz des sinnlich Wahrgenommenen fest. Die Unterscheidung zwischen >Schein< und >Wirklichkeit< ist ihm fremd. >Objektiv< wird ihm das Wahrgenommene »in der Intensität, mit der es in einem bestimmten Augenblick das Bewußtsein ergreift und von ihm Besitz nimmt.«324 Der mythischen Gegenständlichkeit fehlt gleichsam die >Tiefenschärfe< der Wahrnehmung; nichts hebt sich als >wirklich< im Unterschied zum bloß >Scheinhaften< heraus325. Die gesamte >Überfläche< des mythischen Gegenstandsbewußtseins gewinnt zunächst lediglich dadurch wahrnehmbare Unterschiede, daß bestimmte Eindrücke emotional akzentuiert auftreten, andere aber nicht. Scharfe Schnitte zwischen Sein und Schein bleiben aus. Deshalb kann ein Traumerlebnis als relevant und >wirklich< für das Leben im Wachzustand genommen werden, sofern es emotional hinreichend besetzt ist. »Das gesamte Leben und Wirken vieler >Naturvölker< ist bis ins einzelne hinein von ihren Träumen bestimmt und geleitet.«326 Und auch der scharfe Schnitt zwischen Leben und Tod ist aus diesem Grund dem mythischen Bewußtsein nicht vertraut. Der Tote mag aufgehört haben sich zu bewegen, zu atmen, er kann deshalb immer noch im Traum erscheinen und die gesamte Affektpalette von der Liebe bis zu Furcht und Haß auf sich ziehen. »Das in sich ungeschiedene und unreflektierte Bewußtsein weigert sich, eine 323 A.a.O., S.46. 324 A.a.O., S.47. 325 Vgl. a.a.O., S.48. Vgl. auch ders., VdM, S.123: »Die mythische Welt befindet sich in einem gleichsam flüssigeren, wandlungsfähigeren Zustand als unsere theoretische Welt der Dinge und Eigenschaften, der Substanzen und Akzidenzen. Um diesen Unterschied zu begreifen und darzustellen, könnte man sagen, der Mythos nehme in erster Linie nicht objektive, sondern physiognomische Merkmale wahr. Die Natur im empirischen oder wissenschaftlichen Verstande läßt sich beschreiben als >das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt istNatur< gibt es für die Mythen nicht. Die Welt des Mythos ist dramatisch- eine Welt des Handelns, der Kräfte, der widerstreitenden Mächte.« 326 Ders., PhsF II, S.48f.

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Trennung zu vollziehen, die in der Tat nicht unmittelbar und zwingend im Erlebnisinhalt als solchem liegt, sondern die letzten Endes nur durch die Besinnung auf die empirischen Bedingungen des Lebens - also durch eine bestimmte Form der kausalen Analyse - gefordert wird.«327 Die Sterblichkeit des Menschen anzuerkennen, sei eine theoretische Errungenschaft, die dem mythischen Bewußtsein fehlt. Die eigentümliche Indifferenz des mythischen Bewußtseins gegenüber den verschiedenen und unterschiedlich gewerteten >Objektivitäten< mache in gewisser Weise den Hauptpunkt der Interpretation des Mythos aus. Denn die >flächige< Gleichstellung und Beiordnung der mythischen Inhalte, gerade das Fehlen einer Unterscheidung zwischen realer Erscheinung und idealem Grund der Erscheinung, legt dem Forscher scheinbar die Aufgabe nahe, hinter den >Selbstaussagen< des mythischen Bewußtseins einen tieferen, >allegorisch< verschlüsselten Sinn erst zu suchen. Was bedeuten die mythischen Bilder eigentlich, welcher ideelle Sinn findet sich in ihnen chiffriert? »Blickt man dagegen auf den Mythos selbst hin, auf das was er ist und als was er selbst sich weiß, so erkennt man, daß gerade diese Trennung des Ideellen vom Reellen, diese Scheidung zwischen einer Welt des unmittelbaren Seins und einer Welt der mittelbaren Bedeutung, dieser Gegensatz von >Bild< und >SacheRealität< ausgestattetes. »Es ist kein bloßes Schaustück und Schauspiel, das der Tänzer, der in einem mythischen Drama mitwirkt, aufführt; sondern der Tänzer ist der Gott, wird zum Gott.«329 Die Bedeutung des Ritus geht vollständig in seinem Vollzug auf. Dasselbe Unvermögen, Bedeutung und >Sache< zu trennen zeige sich im mythischen Umgang mit Namen und Bildern von etwas oder jemandem. Der Name eines Menschen wird als mit seiner Person identisch angesehen. »Bei den Männerweihen und sonstigen 327 A.a.O., S.49. 328 A.a.O., S.Sl. 329 A.a.O., S.52.

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Initiationsbräuchen empfängt der Mensch einen neuen Namen, weil es ein neues Selbst ist, das er hier erhält.«330 Entsprechend wird die Macht eines Gottes durch Anrufung seines Namens herbeigefordert. Die Polyonymie eines Gottes zeugt von der Vielfalt der Wirkens- und Machtkreise, die er in sich versammelt hat. Schließlich kann der Name eines Gottes mit seinem >Sein< so verschmelzen, daß der Name geradezu als die substantielle Kraft erscheint, die den durch ihn bezeichneten Gott erst schafft. »In Ägypten, das als das klassische Land der Magie und des Namens-Zaubers auch diesen Zug in seiner Religionsgeschichte am deutlichsten ausgeprägt hat, gilt nicht nur das Universum als durch den göttlichen Logos geschaffen, sondern auch der erste Gott selbst ist durch die Kraft seines eigenen gewaltigen Namens hervorgebracht: - im Anfang war der Name, der sodann alles Sein, auch das göttliche, aus sich entlassen hat.«331 So ist in gleicher Weise das Bild einer Person mit ihr selbst substantiell identisch. »Auch das Bild stellt die Sache nicht nur für die Reflektion eines Dritten, eines Zuschauers dar, sondern es ist ein Teil ihrer eigenen Wirklichkeit und Wirksamkeit. Wie der Eigenname eines Menschen, so ist auch sein Bild ein alter ego: was ihm widerfährt, widerfährt dem Menschen selbst.«332 Die Gleichsetzung von Bild und Sache geht so weit, daß auch der Schatten eines Menschen als realer Bestandteil seines Wesens verstanden wird und entsprechend geschützt werden muß. Der Objektbegriff des mythischen Bewußtseins zeichnet sich also durch eine Konkreszenz von sinnlichem Eindruck und Bedeutung aus, die sich deutlich von der konstitutiven Differenz dieser Momente im naturwissenschaftlichen Denken unterscheidet. Dies bestätigt sich auch in der Modalität, die die Kategorie der Kausalität im mythischen Bewußtsein annimmt. Die Kategorie der Kausalität fungiert im naturwissenschaftlichen Denken als synthetischer Grundsatz. Ursachen und Wirkungen sind nicht >gegebenDinge< werden zueinander in das kausale Verhältnis gesetzt. Vielmehr werden bestimmte Momente eines vorhergehenden ·physikalischen Zustandes mit bestimmten Momenten eines nachfolgenden Zustandes als >Bedingung< und >Bedingtes< beobachtet. Dadurch können Sachverhalte, die der sinnlichen Wahrnehmung nach weit auseinanderliegen und nichts miteinander zu tun haben, zueinander in eine regelmäßige Beziehung gebracht werden. »Auf diese Weise entdeckt 330 A.a.O., S.54. 331 A.a.O., S.55. 332 A.a.O., S.56.

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Newton einen neuen kausalen Begriff der Gravitation, durch den so verschiedenartige Phänomene, wie der freie Fall der Körper, wie der Lauf der Planeten und die Erscheinung von Ebbe und Flut, zu einer Einheit zusammengefaßt und derselben allgemeinen Regel des Geschehens unterworfen werden.«333 Für das mythische Bewußtsein steht dagegen alles, was sich im Raume gleichzeitig begegnet im Verhältnis von >Grund< und >FolgeklebtNotwendigkeit< und >Zufälligkeit< hin. Zu deutlichen Gesetzesbegriffen gelangt es deshalb nicht, weil es die Kategorie der Kausalität nicht dem Gedanken der >ZweckmäßigkeitGesetzlichkeit des Zufälligen< unterzuordnen vermag. Es gibt im mythischen Bewußtsein keine im strikten Sinne zufälligen Ereignisse, die dem Gegenbegriff des >Notwendigen< erst irgendeinen Halt bieten würden. Alles kann im Mythos magisch verursacht sein. »Demnach scheint innerhalb des mythischen Denkens so wenig von gesetzloser Willkür die Rede zu sein, daß man eher versucht wäre, vom Gegenteil, von einer Art Hypertrophie des kausalen >Instinkts< und des kausalen Erklärungsbedürfnisses zu sprechen.«335 Nur die Modalität der Kausalkategorie nimmt hier eine ganz andere Färbung an als im naturwissenschaftlichen Erkennen. Die mythi333 A.a.O., S.59. 334 A.a.O., S.60. 335 A.a.O., S.63. Vgl. dagegen Blumenberg, Arbeit, S.144: »Es ist ganz richtig, wenn Cassirer sagt, innerhalb des mythischen Denkens könne von gesetzloser Willkür am wenigsten gesprochen werden; aber es ist irreführend, wenn er das als eine Art Hypertrophie des kausalen >Instinkts< und des kausalen Erklärungsbedürfnisses bezeichnet. Die Anstößigkeit des Bewußtseins von Zufall ist in der mythischen Vernunft durch andere als Zusammenhänge und Erklärungen ausgeschaltet. Das Erklärungsbedürfnis ist stillgelegt; die Leerstellen , in die es eindringen könnte, sind besetzt bis hin zu dem Dichtigkeitsgrad, der schließlich dem Thales von Milet den Mythos ärgerlich machte: alles sei so voll von Göttern.« Blumenbergs Ausführungen treffen den Cassirerschen Hauptpunkt nicht: Der Mythos, als >Energie< des Geistes, soll ja die Bedingung der Möglichkeit alle >Leerstellen< der Erfahrung >Zuzuerzählen< ausmachen. Blumenberg geht schon von dem entfalteten Mythos aus, der für Cassirer gerade das zu Erklärende ausmacht.

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sehen Kausalverknüpfungen gleichen eher >MetamorphosenBedingungszusammenhangNaturlaufs< bliebe für den Mythos, auch wenn er sich zum Gedanken derselben zu erheben vermöchte, bloße Zufälligkeit, weil sie gerade das, was sein Interesse fesselt und worauf sein Blick einzig gerichtet ist, weil sie das Hier und Jetzt des Einzelfalles, das Sterben eben dieses Menschen zu dieser Zeit, unerklärt läßt.«336 Die sonderbare Indifferenz in der mythischen >Verwendung< von Kategorien zeigt sich erneut in der mythischen Auffassung des Verhältnisses eines Ganzen zu seinen Teilen. Ganzes und Teile werden im mythischen Bewußtsein nur unterschieden, um wiederum identisch gesetzt werden zu können. »Das Ganze >hat< nicht Teile und zerfällt nicht in sie; sondern der Teil ist hier unmittelbar das Ganze und wirkt und fungiert als solches.«337 In seiner quasidinglichen Gesamtauffassung der Wirklichkeit kann das mythische Bewußtsein solche Identitäten zwischen allem und jedem knüpfen. »Wer sich eines noch so geringfügigen körperlichen Teils eines Menschen, ja wer sich seines Namens, seines Schattens, seines Spiegelbildes - die ja im Sinne der mythischen Anschauung gleichfalls durchaus reale >Teile< von ihm sind- bemächtigt, der hat damit von ihm Besitz genommen, der hat die magische Gewalt über ihn erlangt.«338 Durch magische >Bande< sind die Stücke mit dem, wovon sie ein Stück sind, substantiell verbunden. Diese Vorstellung beeinflußt widerum die Auffassung des ursächlichen Wirkens. Den Schritt vom >Ding< zur >Bedingung< vermag das mythische Bewußtsein nicht zu vollziehen. Deshalb wird der >Ursprung< stets als dingliches Objekt verstanden, das nicht seiner Funktion nach in einen zeitlichen Entstehungsprozeß gehört, sondern als erster Stoff einem zweiten Stoff wie das unvermittelte Gegenüber von >Anfang< und >Ende< entspricht. »Die Ursächlichkeit ist hier keine Beziehungsform des vermittelnden Denkens, das sich als ein Eigenes und Selbständiges gleichsam >zwischen< die einzelnen Elemente stellt, um deren Verknüpfung und Scheidung zu vollziehen, sondern hier besitzen und bewahren die Momente, in die das Werden zerlegt wird, noch wahrhaft den Charakter von Ur- Sachen, den selbständigen konkreten Dingcharakter.«339 Auch unanschauliche Verhältnisse und Eigenschaften werden als >Dinge< gedacht. »Daß der Brahmane, der Krieger, 336 A.a.O., S.64. 337 A.a.O., S.65. 338 A.a.O., S.67. 339 A.a.O., S.70.

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der Sudra sich voneinander unterscheiden, ist nicht anders verständlich als dadurch, daß in ihnen verschiedene Substanzen: das Brahman, das Kshatra enthalten sind, die dem, der an ihnen Teil hat, ihre besondere Beschaffenheit mitteilen.«340 Die Eigenschaft der Sünde, um ein weiteres Beispiel anzuführen, >klebt< als Stoff an den Menschen. Sie kann deshalb abgewaschen oder auf einen Bock übertragen werden, mit dessen Vertreibung sie schließlich fortgeschafft ist. Und auch der Begriff der Kraft wird vom mythischen Bewußtsein nicht als Verhältnis verstanden, sondern als >SubstanzartigesEinheit der WeltNatur< vorgezeichnet sind.«342 Auch das Gliederungsprinzip, mit dem dieses Ziel erreicht werden soll, gleicht dem der naturwissenschaftlichen Forschung. »Wie die wissenschaftliche Erkenntnis nach einer Hierarchie der Gesetze, nach einer systematischen Über- und Unterordnung der Gründe und Folgen strebt, so strebt der Mythos nach einer Hierarchie der Kräfte und der Göttergestalten.«343 Der Bestimmtheitsgewinn dieser Hierarchisierung wird aber dadurch konterkariert, daß der Mythos keine wirklich verschiedenen >Seinsarten< kennt, er kann den ideellen >Bereich< des Denkens nicht von dem reellen >Bereich< der anschaulichen Dingwelt trennen. Daß die Relationen und Beziehungsbegriffe tatsächlich Begriffe, Gedanken sind, die nicht zur dinghaft-anschaulichen Welt gehören, die mithin nicht ein selbst wieder Seiendes ausmachen, sondern ein bloßes Verhältnis unter Seiendem stiften, ist für das mythische Bewußtsein undenkbar. »Für den Mythos aber gibt es kein solches Nicht-Seiendes, das mittelbar das Sein, die >Wahrheit< der Erscheinung begründet: er kennt nur unmittelbar Daseiendes und unmittelbar Wirkendes. Daher sind die Relationen, die er setzt, keine gedanklichen Bindungen, durch welche das, was in sie eingeht, zugleich gesondert und verknüpft wird, sondern sie sind eine Art von Kitt, der auch das Ungleichartigste noch irgendwie zusammenzuleimen vermag.«344 340 A.a.O., S.71. 341 A.a.O., S.74. 342 A.a.O., S.80. 343 A.a.O., S.81. 344 A.a.O., S.82.

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Dieses »Gesetz der Konkreszenz oder Koinzidenz der Relationsglieder im mythischen Denken« 345 macht für Cassirer die Grundeigenheit der mythischen Denkform aus, die sich in allen Kategorien des mythischen Denkens wiederfindet. In der Kategorie der Quantität zeige sich dieses Gesetz als Konkreszenz von Ganzem und Teil. Das mythische Bewußtsein faßt die Einheit von Ganzem und Teil nicht als Synthesis einer Beziehung auf, sondern versteht die gesetzte Einheit als gegebene >EinerleiheitstecktGattung< und >Exemplar< der Gattung an. Der Gattungsbegriff wird nicht als logischer Oberbegriff verstanden, der eine Einheit des Mannigfaltigen erst setzt. Die Gattung wird vielmehr als >Substanz< verstanden, die in den einzelnen Gattungsmitglieder >westTönungBestimmung< der Eigenschaft als Substanz wieder einziehen zu können. »Für den Mythos geht auch hier die Einheit, die er stiftet, alsbald wieder in bloße Einerleiheit auf. Für ihn, dem alles Wirkliche in dieselbe Ebene zusammenrückt, >hat< nicht ein und dieselbe Substanz verschiedene Eigenschaften, sondern jede Besonderung als solche ist schon Substanz: d. h. sie kann nicht anders als in unmittelbarer Konkretion, in direkter Verdinglichung erfaßt werden.«347 Am Beispiel der Alchimie illustriert Cassirer diesen Sachverhalt. Die >Metamorphose< eines Stoffes in einen anderen soll durch die korrekte Mischung der benötigten und angestrebten Eigenschaften erreichbar sein. Es sollen substantiell verstandene Eigenschaften Körpern durch bloße Übertragung hinzugegeben werden können. »Allen alchimistischen Operationen, wie immer sie im einzelnen geartet sein mögen, liegt der U rgedanke der Übertragbarkeit und der dinglichen Ablösbarkeit von Eigenschaften und Zuständen zugrunde- der gleiche Gedanke also, der sich in einem naiveren und primitiveren Stadium, z. B. in der Anschauung vom >Sündenbock< u. dgl. bekundet.« 348

345 Ebd. Vgl. die abweichende, aber bedeutungsgleiche Bezeichnung in ders., VdM, S.130: »Wenn es ein Merkmal, ein herausragendes Kennzeichen der mythischen Welt gibt, ein Gesetz von dem sie regiert wird - dann dieses Gesetz der Metamorphose.« 346 Ders., PhsF II, S.83. 347 A.a.O., S.84f. 34 8 A.a.O., S.86.

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Das Gesetz der Konkreszenz wirkt sich schließlich auch in der Kategorie der Ahnlichkeit aus. Dem Bestreben nach will der Mythos, wie auch die Naturwissenschaft, der sinnlichen Mannigfaltigkeit dadurch Ordnung verleihen, daß aus ihr Merkmale und Merkmalsgruppen herausgehoben werden, die in einem Gattungsbegriff zusammengefaßt werden können. Nur zielt das mythische Genus nicht auf einen durch Selektion der Merkmale gewonnenen Begriff, sondern auf eine an jeder beliebigen Ähnlichkeit einheitlich aufzeigbare Gestalt. Ihm genügt eine gleichsam >physiognomische< Ähnlichkeit, die nicht nach dem Kriterium einer übergeordneten Zweckmäßigkeit der Genusbildung gestaltet sein muß. Und deshalb konkresziert im mythischen Bewußtsein die Gattungsgestalt mit dem >ExemplarSinnbildKraft< und Wirksamkeit verstanden, die sich ebensowohl im Pfeifenrauch vorfindet. »Wie in jedem Teil das Ganze, so hat er in jedem >Exemplar< der Gattung diese selbst unmittelbar und mit der Gesamtheit ihrer mythischen >MerkmaleSchatten< der symbolischen Form, solange nicht die intuitive Einheit seiner Anschauungsweisen und schließlich die Einheit seiner Lebensform bestimmt worden ist. Wenn auch »der Mythos sich zu bleibenden Gebilden verdichtet, sofern er den festen Umriß einer >objektiven< Welt von Gestalten vor uns hinstellt - so wird doch die Bedeutung dieser Welt für uns erst faßbar, wenn wir hinter ihr noch die Dynamik des Lebensgefühls verspüren, aus der sie ursprünglich erwächst. Nur wo dieses Lebensgefühl von innen her erregt ist, wo es sich in Liebe und Haß, in Furcht und Hoffnung, in Freude und Trauer äußert, kommt es zu jener Erregung der mythischen Phantasie, die aus ihr eine bestimmte Vorstellungswelt erwachsen läßt.«351 Von den Einzelkategorien des ordnungstiftenden mythischen Denkens müsse deshalb auf die basale Kategorialität der mythischen Anschauungsform zurückgegangen werden, die ihrerseits weiter auf die Lebensform des Mythos verweist.

349 A.a.O., S.87. 350 A.a.O., S.89. 351 Ebd.

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b) Das Heilige in der mythischen Anschauungsform Der allgemeinste Maßstab, mit dem das naturwissenschaftliche Denken eine erste >Krisis< und Grundunterscheidung in der Mannigfaltigkeit des Wahrgenommenen stiftet, ist nach Cassirer der >Satz vom GrundErkennen< heißt den Fortgang von der Unmittelbarkeit der Empfindung und Wahrnehmung zur Mittelbarkeit des bloß gedachten >Grundes< vollziehen«.m Ein solcher >Grundgegensatz< finde sich nun auch in der Anschauungsform des Mythos353. Es wurde schon bemerkt, daß die >eindimensionale< Wirklichkeitsauffassung des mythischen Bewußtseins relevante Unterschiede zunächst nur in verschiedenen affektiven Akzentuierungen von Wahrnehmungen zu edassen vermag. Sein primäres Differenzierungsprinzip beruht demnach auf den unterschiedlichen Erregungswerten, die Wahrnehmungen im Bewußtsein auslösen. Das >UngemeineHeilige< bedeutet im Gegensatz zum >GewöhnlichenZustand< des Ergriffenseins durch ein ungewöhnliches Objekt mag auf den ersten Blick die Züge bewußtloser, passiver >Besessenheit< tragen. Sobald er aber als seelische Krisis auftritt, zieht er die Aufmerksamkeit der mythischen >SichtWonnegraus< erregende, physiognomische Beschaffenheit des Objekts hinaus, der Wahrnehmung ein Moment der ideellen Bestimmung und Gestaltung hinzufügt. Der seelischen Krisis folgt eine erste >symbolische< Krisis, die sich in dem Merkmal der >Heiligkeit< ausdrückt. »Nicht eine bestimmte objektive Beschaffenheit, sondern eine bestimmte ideelle Bezogenheit ist es, die durch dasselbe bezeichnet wird. Auch der Mythos beginnt damit in das unterschiedslose >indifferente< Sein bestimmte Differenzen einzuführen, es in verschiedene Bedeutungskreise auseinanderzulegen.«354 Die für alle späteren mythischen Gestaltungen basale und gleichzeitig noch >indifferenteste< Weise der >Prägung< von Wahrnehmungsinhalten stelle sich in dieser Grundunterscheidung von >Heiligem< und >Profanem< dar. Sie ist im Zusammenhang mit den Tabu-Mana-Vorstellungen der >präanimistischen< Richtungen des mythischen Denkens verhandelt worden. >Manapositiven< Aspekt der Bestimmung. >Mana< ist ein machtvolles Wirken, das jeder überraschenden Wahrnehmung zugeschrieben werden kann. >Tabu< meint dagegen das >negativeHeiligenPunkteBezirkeUrgegensatz< differenziert werden können. Gleichwohl sei der mythische Raum dem geometrischen formal darin vergleichbar, daß auch er eine Allgemeinheit des >Schematismus< erlaubt, »durch dessen Anwendung und Vermittlung die verschiedell.artigsten, auf den ersten Blick völlig unvergleichbaren Elemente aufeinander bezogen werden können.«359 So findet das System der totemistischen Klassenbildung, in dem verschiedene Dinge, Personen und Vorgänge dadurch zusammengefaßt werden, daß sie demselben totemistischen >Zeichen< subsumiert werden, in der mythischen Raumgestaltung eine neue Form. »In dem >mythosoziologischen Weltbild< der Zuiii z. B. [... ]stellt sich die Form der totemistischen Siebengliederung, die durch die ganze Welt hindurchgeht, vor allem in der Auffassung des Raumes dar. Der Gesamtraum ist in sieben Gebiete, den Norden und Süden, den Westen und Osten, in die obere und untere Welt und schließlich in die Mitte, abgeteilt, und jedes Sein besitzt nun innerhalb dieser Gesamteinteilung seine eindeutige Stelle, nimmt in ihr einen fest vorgeschriebenen Platz ein.«360 Den einzelnen räumlichen Richtungen sind dann die Jahreszeiten, die >Elemente< der Natur und die Stände, Berufe und Vorgänge des Soziallebens fest zugeteilt. Diese Form der >Gesamtschau< der räumlichen Bezirke und Richtungen unterscheidet sich von dem mathematischen Gesetzesraum durch ihr Abheben auf einfache totemistische Klassenzuteilungen, die auf einfache wahrnehmbare Richtungsunterschiede bezogen werden. Eine mathematische Funktion und Regel, die gewisse räumliche Gestalten aus anderen hervorzubringen erlaubt, wird dabei nicht gedacht. »Im Gegensatz zu diesem Funktionsraum der reinen Mathematik erweist sich der Raum des Mythos durchaus als Strukturraum.«36t Sein Modell des Kosmos wird als Ganzes, dem Gesetz der Konkreszenz gemäß, in jedem Teil und Stück des Kosmos identisch wiedergefunden. So wird auch die Totalität eines menschlichen Lebens als einfaches Explikat seines ersten Auftretens, seiner Geburtsstunde, gesehen362, »Die Form des Daseins und Lebens erzeugt sich nicht aus den verschiedenartigsten Elementen, aus dem Ineinanderwirken der mannigfaltigsten kausalen Bedingungen, sondern sie ist von Anbeginn an als geprägte Form gegeben, die sich nur noch zu explizieren braucht, die für uns, die Zuschauer, gewissermaßen in der Zeit abrollt.«363 Dieser Gedanke der >Determination< finde in der astrologisch-kosmischen Systematik des 359 A.a.O., S.106f. 360 A.a.O., S.108. 361 A.a.O., S.llO. 362 Vgl. a.a.O., S.lll. 363 Ebd.

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Raumes schließlich seinen mythischen Höhepunkt und Abschluß. Die ersten Orientierungen der mythischen Raumvorstellung heben jedoch an einem ganz anderen Ort an: Die Richtungsunterschiede des Raumes hinten, vorne, oben, unten - werden zunächst am eigenen Körper abgelesen. Ja, sogar die materialen Bestandteile der Welt werden aus diesem Schema >erklärtWesensidentität< betrachtet. Zwischen einem Clan etwa und einer ihm zugeordneten Himmelsrichtung besteht eine notwendige >magische< Bindung. »Stirbt ein Angehöriger eines Clans, so wird sorgfältig darauf gesehen, daß er diejenige Lage und Richtung im Raume erhält, die seinem Clan eigentümlich und wesentlich ist.«365 Wie die mythische Unterteilung des Raumes in Richtungen und Bezirke zustandekommt und durch welche Vermittlung der ambivalente >Urgegensatz< zu verschieden gewichteten Grenzsetzungen im Raum anleitet, erklärt sich aus einem weiteren Grundmotiv des mythischen Bewußtseins. Deutlich geschiedene Wertungen der Raumaufteilung werden über ein einfaches physisches Faktum erlangt: »Die Entfaltung des mythischen Raumgefühls geht überall von dem Gegensatz von Tag und Nacht, von Licht und Dunkel aus«366 Der räumliche Aufbau des Kosmos gewinnt erst durch den Unterschied von Hell und Dunkel verschiedene Bewertungen der einzelnen räumlichen Richtungen. Die Schöpfungsgeschichten fast aller Völker lassen die Welt mit dem Licht aus dem vorherigen Dunkel hervorgehen. Herder habe diesen Sachverhalt gedeutet und ihm seinen >Sitz im Leben< des mythischen Bewußtseins zugewiesen: »Die Darstellung der Weltschöpfung ist ihm nichts anderes als die Erzählung von der Geburt des Lichts, - so wie der mythische Geist sie im Werden jedes neuen Tages, im Anbruch jeder Morgenröte immer von neuem erfährt. Dieses Werden ist für die mythische Anschauung kein bloßes Geschehen, sondern eine echte Urzeugung- kein periodisch wiederkehrender, nach einer bestimmten Regel ablaufender Naturprozeß, sondern ein schlechthin Individuelles, Einzigartiges.«367 Wie Licht und 364 A.a.O., S.112f. 365 A.a.O., S.115. 366 A.a.O., S.119. 367 A.a.O., S.120.

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Dunkel zur >Erklärung< der Erschaffung des Kosmos hinzugezogen werden, so geben sie auch den einzelnen Himmelsrichtungen einen eigenen, verschieden gewerteten Akzent. Der Osten gilt als >Quell des LebensUngemeinesHeiligkeit< einer solchen Grenzsetzung überhaupt sei andererseits auch in den Anfängen der griechischen Mathematik noch als Voraussetzung aufweisbar. »An dem Gedanken der räumlichen Begrenzung entwickelte sich die Form der logisch-mathematischen Bestimmung. Grenze und Unbegrenztes, 1repac; und a7retpov stehen sich bei den Pythagoreern und bei Platon wie Bestimmendes und Bestimmungsloses, wie Form und Unform, wie Gutes und Böses gegenüber.«370 Bis in das mittelalterliche Christentum hinein läßt sich schließlich an der Art des Kirchenbaus die ursprünglich mythische Bedeutung der vier Himmelsrichtungen aufweisen. Die hier aber bildlich und nicht real gemeinte Bezeichnung Christi als der >SonnePassageriten< gewinnen im mythischen Bewußtsein ihren Sinn wiederum aus der Heiligkeit der >Grenze< als solcher, die zwei Bereiche voneinander trennt. »Sie sind es die nicht nur den Übertritt von einer Stadt in die andere, von einem Land ins andere, sondern auch den Eintritt in jede neue Lebensphase, den Übergang von der Kindheit zur Mannbarkeit, 368 Vgl. a.a.O., S.122. 369 Vgl. a.a.O., S.124.127 370 A.a.O., S.125. 371 A.a.O., S.126.

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von der Ehelosigkeit zur Ehe, den Übergang zur Mutterschaft usf. regeln.«372 Das mythische Raumbewußtsein nimmt so- etwas schematisch zusammengefaßt- seinen Ausgangspunkt bei der eigenen Körperwahrnehmung, greift aus auf die Himmelsrichtungen insgesamt, die schließlich über den Gegensatz von >Licht und Dunkelheit< mit unterschiedlichen Wertungen akzentuiert werden können. Letztlich erweist sich im Mythos die gesamte physische Wirklichkeit der Dinge, Personen und Vorgänge als diesen Grundorientierungen zugänglich und verständlich. Den tieferen Charakter des mythischen Bewußtseins erlasse man jedoch erst in seinem eigentümlichen Verständnis der Zeit. Denn in den mythischen Göttergeschichten wird nicht die bloße Orientierung in der Welt angestrebt, in ihnen zeigt sich darüberhinaus die spezifisch mythische Fassung der Geltungsfrage. Das >Ungemeine< wird nicht nur als gegebenes Heiliges angenommen und angebetet. Das mythische Bewußtsein versichert sich der Heiligkeit des Edahrenen vielmehr dadurch, daß es sein Gewordensein bis zum Ursprung zurückvedolgt. »Alle Heiligkeit des mythischen Seins geht zuletzt in die des Ursprungs zurück.«373 Die erzählte Vergangenheit an sich wird dabei als Geltungsgrund akzeptiert. Begnügt sich der Mythos einerseits nicht mit der bloßen Gegebenheit seiner Riten und Bräuche, so ist er andererseits beruhigt und mit der Nachforschung >am EndeGeschichte< läßt sich deshalb im mythischen Bewußtsein nicht sprechen, weil der Mythos die Vergangenheit als absolute Zeit versteht. Hinter den einmal gesetzten Ursprung zurückzufragen ist so unmöglich. Der relative, fließende Zusammenhang der drei Zeitmomente - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - in einem unendlichen Zeitkontinuum, ist dem mythischen Denken fremd. »Die Vergangenheit selbst hat kein >Warum< mehr: sie ist das Warum der Dinge.«375 Diese >statische< Auffassung der Zeit geht, analog zu der Differenzierung der Bereiche und Richtungen des Raumes, von dem einfachsten Unterschied zwischen Tag und Nacht aus, um von hier aus sukzessive zu dem Begriff der zeitlichen >Folge< zu kommen. »Wie die einfachsten Raumverhältnisse, wie links und rechts, vorwärts und rückwärts 372 A.a.O., 5.128. 373 A.a.O., 5.130. 374 Ebd. 375 Ebd.

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sich dadurch sondern, daß durch den Lauf des Tagesgestirns eine Grundlinie, die Ost-West-Linie bestimmt und diese sodann senkrecht durch eine zweite, durch die Nord-Süd-Linie geschnitten wird, so geht auch alle Auffassung zeitlicher Abschnitte auf diese Schneidung und Kreuzung zurück.«3 76 Dieser Voraussetzung für das kosmische Zeitgefühl des Mythos geht das >biologische< Zeitgefühl für die Veränderungen des eigenen Körpers voraus. Die emotionale Sonderstellung der Übergänge zwischen einzelnen Lebensphasen wird deutlich empfunden und »durch eine Fülle positiver Vorschriften und negativer Enthaltungen und Tabus«377 gemeistert. Dabei können diese Übergänge als wahrhafte Einschnitte und Neuanfänge erscheinen, durch die »geradezu die Kontinuität des Lebens aufgegeben wird. Es ist eine weitverbreitete, in verschiedenen Formen immer wiederkehrende Vorstellung, daß der Mensch, indem er von dem einen Lebenskreis in einen anderen übergeht, in jedem von ihnen als ein anderes Ich erscheint, - daß z. B. beim Eintritt der Pubertät das Kind stirbt, um als Jüngling und Mann wiedergeboren zu werden.«378 Und auch die kosmische Zeit wird zunächst als einfacher Lebensvorgang erlebt. Der eigene Körper dient - wie in der Bestimmung der Himmelsrichtungen über die primäre Körperorientierung - dazu, ein erstes Verständnis der kosmischen Rhythmik zu gewinnen. Der Wechsel der Jahreszeiten gilt deshalb nicht als Gesetz. Er ist vielmehr als Lebensvorgang mannigfaltigsten Gefährdungen ausgesetzt- der Sommer könnte ausbleiben -, aber auch magischer Beeinflußung zugänglich. Diese magische Sicht der kosmischen >Ordnung< wird erst überwunden, wenn das Interesse des mythischen Bewußtseins sich auf die Totalität der zeitlichen Vorgänge zu richten beginnt. Die durch unterschiedliche Intensitätsgrade der affektiven Gestimmtheit bei Übergängen differenzierte, >biologische< Phaseneinteilung der Zeit leitet die >Neugier< auf die gleichbleibenden Kreisläufe des Geschehens. »Noch wird dieser Kreislauf nicht sowohl gedacht als er unmittelbar gefühlt wird; aber schon in diesem Gefühl geht dem mythischen Bewußtsein die Gewißheit eines Allgemeinen, einer universellen Weltordnung auf.«379 Die Gestirne werden nicht mehr lediglich als individuelle >Dinge< betrachtet, deren Macht das zeitliche Geschehen irgendwie bestimmt, sie gelten darüberhinaus als Ausdrucksphänomene einer allgemeinen >SchicksalsordnungMaßeshöchsten Gott< des Schicksals und des festen Maßes unterworfen. »Die Götter sind nicht mehr die unbedingten Gesetzgeber der physischen wie der sittlichen Welt, sondern sie haben in ihrem Tun und Wirken ein höheres Gesetz über sich.«382 Und doch wird dieses Gesetz nicht als ein homogenes zeitliches Bezugssystem gesehen. Es ist kein anonymer, vom Menschen selbst als gegeben gesetzter Zusammenhang von >ZeitstellenWesenGestalt< aufprägen kann.«383 Dieses Zeitgefühl nimmt in dem jüdischen Monotheismus, der persischen, indischen, chinesischen und ägyptischen Religion und schließlich in der antiken griechischen Philosophie eine je andere Prägung an. Der jüdisch-prophetische Monotheismus kann in dem periodischen Kreislauf der Natur kein zeitlich angemessenes Bild der Ewigkeit Gottes sehen. Der alttestamentliche Prophetismus richtet nämlich sein Interesse weniger auf die naturerhaltende Macht als auf den Willen Gottes, der sich in der Geschichte zeigt und in die Zukunft weist. Die religionsbegründende Stellung der Patriarchensagen tritt ebenso zurück wie der Schöpfungsgedanke, um einem neuen und reinen Zukunftsbewußtsein 380 A.a.O., S.138. 381 A.a.O., S.140ff. 382 A.a.O., S.143. 383 A.a.O., S.145.

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Raum zu geben. Dieses Zukunftsbewußtsein ist von vornherein ein am Geschichtswillen Gottes allein orientiertes ethisches Bewußtsein. »Wie von dem Menschen ein neues Herz gefordert wird, so bedarf es auch eines >neuen Himmels und einer neuen Erde< - gleichsam als natürlichen Substrats des neuen Geistes, in welchem hier die Zeit und das Geschehen als Ganzes gesehen wird. Die Theogonie wie die Kosmogonie des Mythos und der bloßen Naturreligionen ist damit durch ein geistiges Prinzip von ganz anderer Form und Herkunft überwunden.«384 Die persische Religion teile diese Zukunftsorientierung. Ihre >Eschatologie< sei aber einmal durch den Gedanken eines beständigen Kampfes zwischen Gut und Böse, ein andermal durch die rein innerweltlich kulturelle Vorstellung des Endes der Zeit bestimmt. Ihr Glaube greift wie der jüdische Prophetismus auf eine heilversprechende Zukunft aus, aber »gegenüber dem prophetischen Gedanken vom >Ende der Zeiten< erscheint der Zukunftswille der persischen Religion zunächst begrenzter, irdisch-gebundener. Es ist der Wille zur Kultur und ein optimistisches Kulturbewußtsein, die hier ihre volle religiöse Sanktion erhalten haben.«385 Jedes Handeln und jeder gute Gedanke, der die kulturelle Ordnung - das Gesetz Ahura Mazdas - unterstützt, wirkt an dem Sieg des guten Prinzips über das böse Prinzip mit. In der indischen religiösen Spekulation finde sich auf vergleichbare Weise das Ziel einer Aufhebung der Zeit, das hier aber durch die Kraft des Denkens und nicht durch Wille und Tat zu erreichen versucht wird. »Wenn die Reflexion hinter den Schein der Vielheit der Dinge zurückdringt, wenn sie die Gewißheit des absolut-Einen jenseits aller Vielheit gewinnt, dann ist für sie mit der Form der Welt auch die der Zeit versunken.«386 Erscheint der Schlaf in der persischen Religion als böser Dämon, weil er das Handeln in der Welt unterbindet, so wird er im indischen Denken deshalb zum Bild für die zu erstrebende Herzensruhe im Brahman. »Die Lehre Buddhas hält von der Anschauung der Zeit lediglich das Moment des Entstehensund Vergehens fest: alles Entstehen und Vergehen aber ist ihr vor allem und wesentlich Schmerz.«387 Die Zeitform selbst erscheint so als Grundübel der Wirklichkeit aus dem kein Tun herausführen kann. Nur das Wissen um die Scheinhaftigkeit alles Werdens kann den Geist der Zeit entheben. »Hier liegt das Ziel nicht, wie bei Zarathustra oder den israelitischen Propheten, am >Ende der ZeitenGestalt und 384 A.a.O., S.148. 385 Ebd. 386 A.a.O., S.149. 387 A.a.O., S.150.

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Namen< empfängt, für den religiösen Blickpunkt verschwindet. Die Flamme des Lebens erlischt vor dem reinen Blick der Erkenntnis.«388 Und ein wieder anderes Verhältnis zur Zeit läßt sich im chinesischen Taoismus aufweisen. Die Tugenden des Tao, die Reglosigkeit, Stille und das Nichtstun, werden nicht angestrebt, um damit die Zeitform insgesamt zu negieren. Der Zweck dieser Tugenden besteht vielmehr darin, das Vergehen in der Zeit zu unterbinden. »Es ist bezeichnend, daß, wenn in der Lehre Buddhas die Erlösung vom Leben, vom endlosen Kreislauf der Geburten das eigentliche Ziel bildet, in der taoistischen Mystik die Verlängerung des Lebens gesucht und verheißen wird.«389 Das religiöse Ziel besteht in der innerzeitlichen, aber endlosen Erhaltung des eigenen Körpers. Entstehen und Vergehen werden analog zu der indischen Ansicht negiert, diese Zurückweisung soll jedoch nicht ins Nirwana, sondern zu einem ständigen zeitlichen Fortbestand des Gegebenen führen. »Wenn in den Upanishaden und im Buddhismus das spekulative Denken nach einem Sein jenseits aller Vielheit, aller Veränderung und aller Zeitform sucht, - wenn in den messianischen Religionen der reine Zukunftswille die Form des Glaubens bestimmt, so wird hier die gegebene Ordnung der Dinge, so wie sie ist, perenniert und heilig gesprochen.«390 Die ägyptische Religion teilt wiederum mit dem Taoismus diesen Grundzug der diesseitigen Erhaltung des Bestehenden in der Zeit. Die individuelle Unsterblichkeit wird über die Konservation des Leibes angestrebt, von dessen dauerndem Fortbestand die ewige Existenz der Seele abhängig gemacht wird. Eine ethische oder >metaphysische< Verbesserung des Weltzustandes wird darin nicht erwartet, die ägyptische Religion erstrebt lediglich »die einfache Fortsetzung des Bestehenden [... ] Durch diese Grundanschauung wird alle zeitliche Dynamik zuletzt in eine Art von räumlicher Statik aufgehoben.«39t Dieses statische Modell einer Aufhebung der Zeit finde seinen Ausdruck in der ägyptischen Kunst und Malerei, vor allem aber in den Pyramiden. »Diese Form erringt in ihrer Klarheit, Bestimmtheit und Ewigkeit den Sieg über alles bloß Sukzessive, über das stete Verfließen und Vergehen aller zeitlichen Gestaltungen.«392 Eine wirkliche Überwindung der Zeit sei auf dem Boden des mythisch-religiösen Bewußtseins aber nicht möglich. Die bloße Negation der Zeitmomente in den Religionen bleibe letztlich ein Akt der Abstraktion. Erst in der griechischen Philosophie sei eine Form des Zeit388 A.a.O., S.151. 389 A.a.O., S.152 390 A.a.O., S.154. 391 A.a.O., S.156. 392 Ebd.

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bewußtseins entwickelt worden, die es erlaubt, alle Zeitmomente zu bejahen und so die immanente Überwindung des Schicksals anzustreben. »Sobald einmal dieser Weg beschritten wird, tritt damit die Entwicklung des Zeitbewußtseins und des Zeitgefühls in eine neue Phase ein. Jetzt beginnt die Loslösung der Anschauung der Zeit und des Schicksals von ihrem mythischen Urgrund: der Zeitbegriff geht in eine neue Form, die Form des philosophischen Denkens ein.«393 In dem Lehrgedicht des Parmenides wird die mythische Ursprungsfrage als sinnlos abgetan und das Sein der Dinge als ihre einzige Wirklichkeit bestimmt. Alles Sein ist im Jetzt, ein Gewordensein aus dem Nichtsein ins Sein ist ein leerer Gedanke, weil Sein nur als gegenwärtige Präsenz faßbar ist. Das Werden und Vergehen wird als Schein entlarvt, und das aus einem völlig neuen Grund: weil es sich nicht denken läßt. Die Erfahrung der Zeit wird nicht geflohen, aber dem Denken als kritischer Instanz untergeordnet. »Die Macht der Zeit wird gebrochen, sofern die Zeit, vom Standpunkt des philosophischen Denkens betrachtet, sich selbst dialektisch auflöst, sofern sie ihren eigenen inneren Widerspruch offenbart. Wenn das religiöse Gefühl, besonders in Indien, in der Zeit vor allem die Last des Leidens empfindet, so geht sie für das philosophische Denken, hier wo es zuerst in voller Selbständigkeit und Bewußtheit hervortritt, an der Last des Widerspruchs zugrunde.«394 Wenn die Heraklitische Lehre sich in scheinbarem Widerspruch zu Parmenides gerade am Werden orientiert, dann ist ihr Interesse dennoch nicht in mythischer Weise am Werden an sich interessiert, sondern an den Maßen, die sich an ihm ablesen lassen. »Was ihn ergreift und fesselt, ist somit nicht die nackte Tatsächlichkeit dieses Werdens, sondern sein Sinn.«395 Auch hier stellt sich der Logos über die Zeit, indem er ihre Ordnung erfaßt. »In dieser doppelten Stellung: in diesem Haften an der zeitlichen Anschauung und in der Überwindung derselben durch den Gedanken eines einheitlichen Gesetzes, das mitten in ihr lebendig und unmittelbar an ihr erlaßbar ist, drückt sich wiederum Heraklits Eigenart als griechischer Denker aufs schärfste aus.«396 Ihm ist nur im Werden ein Sein als Form denkbar. Gerade die Gegensätze des Lebens- Gesundheit/Krankheit, Hunger/Überfluß -,die dem Buddhisten dessen Wertlosigkeit verdeutlichen, werden Heraklit zur Bedingung, die Form des Lebens als Einheit in der Verschiedenheit verstehen zu können. Dauer und Wandel werden zu Momenten eines einheitlichen Zeitgefühls. »Der Gedanke der Variabilität und der der Substantialität schließen sich miteinander in eins zusammen. Und aus diesem Zusam393 A.a.O., S.157. 394 A.a.O., S.159. 395 A.a.O., S.162. 396 A.a.O., S.162f.

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menschluß entspringt ein neues Gefühl, das man das rein spekulative Zeit- und Gegenwartsgefühl nennen könnte.«39 7 Die Last des Werdens wird relativiert, weil der Sinn des Werdens im Gesetz verständlich ist. Seine letzte Bewährung und damit verbunden die endgültige Überwindung des mythischen Denkens findet dieses neue Zeitgefühl in Keplers Auseinandersetzung mit der astrologischen Auffassung des Planetenlaufs. Die Planeten nicht mehr als beseelte, machtbegabte Irrsterne zu verstehen, sondern der festen Ordnung ihrer Bewegung auf die Spur zu kommen, wird zur ersten Forderung der Erforschung der Himmelsphänomene. Erst hier »ist die Gesamtanschauung der Zeit und des zeitlichen Geschehens aus der Bildwelt der mythisch-religiösen Phantasie in die exakte Begriffswelt der wissenschaftlichen Erkenntnis übergetreten.«398 Einen deutlichen Unterschied von der naturwissenschaftlich-mathematischen Auffassung macht auch das mythische Verständnis der Kategorie der Zahl aus. Liegt der theoretischen Erkenntnis daran, über die Kategorie der Zahl ungleichartigste Phänomene auf einen gleichartigen Begriff bringen zu können, um sie auf ein Maßsystem zu beziehen, so bleiben im mythischen Bewußtsein die Zahlen immer individuell auf ein sinnlich wahrnehmbares Zählbares bezogen. Der Mythos kann auch hier kein homogenes Verständnis der Zahl erringen, das die Unterschiede der Zahlen untereinander von der bloßen Stellung in einem Gesamtsystem von gesetzlichen Relationen abhängig macht. In der mythischen Anschauung unterscheiden sich Zahlen und Mengen durch ihre verschiedenen Gefühlswerte, die zum Anlaß genommen werden, der Zahl ein substanzhaftes, individuelles Dasein zu unterstellen. »Wo immer zwei Mengen als >gleichzahlig< erscheinen, d. h. wo sich zeigt, daß sie einander Glied für Glied eindeutig zugeordnet werden können - da >erklärt< er diese Möglichkeit der Zuordnung, die in der Erkenntnis als ein rein ideelles Verhältnis erscheint, aus einer sachlichen Gemeinschaft ihrer mythischen >NaturVehikelheiligenungemeine< Manifestationen einer Zahl gesehen werden können. »Denn was in irgendeiner Weise an der Zahl teil hat, was an sich die Gestalt und Kraft einer bestimmten Zahl offenbart: das führt für das mythisch-religiöse Bewußtsein schon kein bloßes irrelevantes Dasein 397 A.a.O., S.165. 398 A.a.O., S.169. 399 A.a.O., S.171.

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mehr, sondern hat eben damit eine ganz neue Bedeutung gewonnen.« 400 So wird die Vierzahl verehrt, weil sie an der Unterscheidung der Haupthimmelsrichtungen, dem >Himmelskreuz< abgelesen werden kann. Von dieser einfachen Anschauung der Vierzahl aus können kumulativ weitere heilige Zahlen gewonnen werden. »Aus dem Kult der Himmelsrichtungen kann sich sodann, ebenso wie die Verehrung der Vierzahl, auch die der Fünf und Siebenzahl entwickeln: indem neben den vier Hauptrichtungen des Ostens, Westens, Südens und Nordens die >Mitte< der Welt, als der Platz, in dem der Stamm oder das Volk seinen ihm zugewiesenen Sitz hat, mitgezählt wird, und ferner das Oben und Unten, der Zenithund Nadir, noch ihre besondere mythisch-religiöse Auszeichnung erfahren.«40t Und auch die Verehrung der Dreizahl hat ganz konkrete, dem Leben entnommene Gefühlsgrundlagen, die sich noch in der Lehre von der Dreieinigkeit entdecken lassen. Mag die Religionsphilosophie die Drei-Einheit als spekulatives Problem bearbeitet haben, seinen mythischen Ausgang nimmt dieses Problem von der soziologischen Primärform der Familie. »Wie unter einer leichten Hülle schimmert häufig unter der spekulativen Dreiheit von Vater, Sohn und Geist noch die natürliche Dreiheit von Vater, Mutter und Kind hindurch.«402 So zeigt sich nach Cassirer für alle Grundkategorien im Mythos das Gesetz der Konkreszenz in Kraft, das den gesamten Aufbau der anschaulichen Dingwelt beherrscht. c) Selbstgefühl und Gemeinschaftsgefühl in der mythischen Lebensform Das Bewußtsein weist aber nicht nur diesen inneren Bezug auf das >EsDinge< auf; gleichursprünglich ist ihm die Richtung auf >Ich< und >Du< 403. Wie sich das Selbstgefühl, die subjektive Wirklichkeit in der mythischen Lebensform herausbildet, ist deshalb als nächstes darzustellen. Dabei betrachtet Cassirer dieses Thema einmal in 400 A.a.O., S.173. 40t A.a.O., S.178. 402 A.a.O., S.182. 403 Diese Grundrichtungen werden im mythischen Bewußtsein aber erst sukzessive klarer ausgeprägt. Vgl., ders., PhsF 111, S.83f.: »Wenngleich daher das mythische Bewußtsein allem, was es ergreift, die Form des Lebens aufprägt, so ist doch eben diese Art der Allbelebung mit der Allbeseelung keineswegs von Anfang an gleichbedeutend; denn das Leben selbst zeigt hier zunächst noch einen fließenden und vagen, einen durchaus >präanimistischen< Zug. Es hält sich noch in einer merkwürdigen Indifferenz zwischen Persönlichem und Unpersönlichem, zwischen der Form des >Du< und der des bloßen >EsEs< als totes Objekt, als bloßes >DingDu< noch kein scharf bestimmtes, streng individuelles Gesicht, sondern ist jeden Augenblick bereit, in die Vorstellung eines bloßen Es, einer impersonalen Gesamtkraft zu verschwimmen.«

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Bezug auf die Entwicklung des Selbstgefühls als kontinuierlicher Abgrenzung gegen die Dingwelt, sodann gegen die Welt der sozialen Gemeinschaft und schließlich im Hinblick auf die Veränderungen des Selbstverständnisses, die sich in Kultus und Gebet Ausdruck verschafft haben. Die Pointe der >Philosophie der symbolischen FormenAußen< und >InnenIch< und >Welt< überhaupt erst gestiftet wird. Und zwar so gestiftet wird, daß der gedankliche Fortschritt in der Bestimmung des Unterschiedes von >Ich< und >Welt< ständig und unauflöslich bezogen ist auf das Handeln des Menschen in der Sach- und Sozialwelt. Nicht deshalb, weil eine neue Art, das Leben.handelnd zu gestalten (z.B. ein Werkzeug), neue Denkmöglichkeiten notwendig verursacht, noch weil eine umgekehrte, einfache Verursachung neuer Lebensweisen durch die >Erfindung< neuer gedanklicher Formen anzunehmen wäre, sondern weil Denkform, Anschauungsform und Lebensform wiederum einen >ideellen Orientierungsrahmen< bilden, in dem alle Momente korrelativ aufeinander bezogen sind. Wenn in der folgenden Darstellung die Frage an Cassirer gerichtet wird, ob nicht eine ausführlichere Inanspruchnahme psychologischer und soziologischer Methodik die Erforschung der Lebensform des Mythos zu größerer Klarheit bringen könnte, dann ist damit nicht gemeint, daß eine zugrundeliegende psychische oder soziale Dynamik die Lebens- und Denkform des Mythos aus sich heraussetzte. Eine solche Fragerichtung würde die transzendentalhermeneutisch gewonnene Eigenständigkeit des Mythos unterminieren und sein >Wesen< zu einer bloßen Erscheinungsform anderer, vermeintlich >tieferliegender< Prozesse degradieren. Eine besondere seelische oder soziale Dynamik kann vielmehr nur als korrespondierendes Phänomen zur Erforschung einer symbolischen Form herangezogen werden. Genausowenig wie sich zwischen der Denk- und Lebensform des Mythos- oder des mythischreligiösen Bewußtseins- eine einfache kausale Beziehung herstellen läßt, darf auf einfache Verursachungsverhältnisse zwischen psychosozialen Vorgängen und der symbolischen Form als ganzer gehofft werden. Das individuelle seelische Leben, das soziale Leben und die beides durchdringende und prägende Form des Mythos sollen als korrelativ aufeinander bezogen betrachtet werden. Der Begriff der >SeeleIch< und - in letzter Konsequenz - der >Persönlichkeit< ist nach Cassirer nicht die Voraussetzung, sondern das Ziel der Entwicklung des mythischen Bewußtseins. Die mythischen Gebilde kommen nicht dadurch zustande, daß der Mensch ein schon fer-

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tiges Wissen um sein Innenleben einfach auf die Außenwelt projiziert. »Vielmehr liegt die entscheidende Leistung jeder symbolischen Form eben darin, daß sie die Grenze zwischen Ich und Wirklichkeit nicht als ein für allemal feststehende im voraus hat, sondern daß sie diese Grenze selbst erst setzt- und daß jede Grundform sie verschieden setzt.«404 Der Ausgangspunkt dieser >AuseinandersetzungAllmacht des Gedankens< meint der Mensch, alle Dinge beherrschen zu können. Sein in dieser Hinsicht gesteigertes Selbstbewußtsein hat aber noch kein hinreichendes Wissen um die objektiven Bedingungen des Wirkens in der Welt und bleibt so- vermittelt über seine Wünsche - den Dingen wiederum distanzlos verhaftet. Ein freies Weltverhältnis würde die bewußte Anerkennung der Eigengesetzlichkeit der Welt und damit den Verzicht auf die magische Kausalität der Wünsche bedeuten. Nur dadurch, daß die Vorstellung über das eigene Bewirkenkönnen beschränkt wird, ließe sich ein Bewußtsein von dem selbständigen Wirken in der Welt und der niemals direkten und unmittelbaren Umsetzbarkeit der Wünsche gewinnen. »Indem der Affekt und der Wille den gewollten Gegenstand nicht mehr unmittelbar zu ergreifen suchen, sondern indem sich zwischen den bloßen Wunsch und sein Ziel immer mehr und immer klarer erfaßte Mittelglieder schieben, gewinnen damit die Objekte auf der einen, das Ich auf der anderen Seite erst einen selbständigen Eigenwert: die Bestimmtheit beider wird erst durch diese Form der Vermittlung erreicht.«407 Das mythische Bewußtsein gelangt jedoch erst nach und nach zu dieser Unterscheidung. Am Anfang steht das indifferente Bewußtsein von Wirken überhaupt, in das noch keine klare Abgrenzung des Seelischen gegen das Materielle eingegangen ist. »In dem mana der Polynesier, in dem manitu der Algonkinstämme N ordamerikas, im orenda der Irokesen usf. läßt sich als gemeinsamer Grundbestand nur der Begriff und die Anschauung der gesteigerten, über alle bloß >natürlichen< Grenzen hinausgehenden Wirksamkeit schlechthin herauslösen, ohne daß es 404

Ders., PhsF II., S.186.

405 Ebd. 406 A.a.O., S.187. 407 A.a.O., S.189.

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innerhalb derselben zu irgendeiner scharfen Abgrenzung zwischen den einzelnen Potenzen des Wirkens, zwischen seinen Arten und Formen kommt.«408 Dabei wird das Mana nicht als eine personhafte Wirksamkeit oder als seelisches Wollen und Wirken verstanden, sondern als ein >UngemeinesSeele< angesehen werden können wie sein Leib. Und selbst da, wo das Weiterleben eines Menschen nach seinem Tode als Fortexistenz seiner schattenhaften Seele beschrieben wird, ist diese Seele noch konkret als Substanz gedacht. Sie wird als Ebenbild des Verstorbenen vorgestellt, das ihm in allen äußeren Zügen gleicht. Und auch die Art der Existenz nach dem Tode wird als einfache Fortsetzung des bekannten Lebens des Verstorbenen gedacht, mit allen materiellen Bedürfnissen und Notwendigkeiten des Essens, Trinkens, Arbeitens etc. »So hält sich der Mythos gerade dort, wo er die Welt der unmittelbar gegebenen sinnlichempirischen Existenz zu überschreiten, wo er sie prinzipiell zu >transzendieren< scheint, an dieser Welt mit klammernden Organen fest.«409 Die Vorstellung von einem Totenreich dient dem mythischen Bewußtsein weniger dazu, sich einen Begriff vom Totsein im Unterschied zum irdischen Leben zu machen, als vielmehr dem Zweck, die Vorstellung vom Tode beiseitezuschieben. Das mythische Bewußtsein erhebt den »leidenschaftlichsten Protest gegen eben diese Vorstellung«4to. Der Gedanke des definitiven Todes muß dem Grundgefühl des Mythos, der Solidarität alles Lebendigen411, als Skandal erscheinen. Neben der indifferenten Betrachtung von Leib, Seele und Leben lasse sich allerdings noch ein weiteres Charakteristikum der mythischen Seelenvorstellung ausfindig machen. Das mythische Bewußtsein hat in 408 Ebd. 409 A.a.O., S.193. 4to Ebd. 411 Im >Versuch über den Menschen< findet sich diese Ansicht, die im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen noch nicht betont ist. Es ist auffällig, daß Cassirer diesen Gedanken der >Solidarität alles Lebendigen< in seinem Spätwerk sehr zentral für die Bestimmung des Mythos einführt: »Das Gefühl der unzerstörbaren Einheit des Lebens ist so stark und unerschütterlich, daß es sogar dem Tode trotzt und ihn leugnet.« (Ders. VdM, S.133) Dies soll nun aber nicht ~ur eine bloße negative Abwehr der Todesangst bedeuten, sondern ihre positive Uberwindung: »Es scheint jedoch, als habe der Mensch schon auf den frühesten und niedrigsten Zivilisationsstufen eine neue Kraft ausgebildet, der Todesfurcht zu widerstehen und sie zu bannen. Dem Tod setzte er sein Vertrauen in die Solidarität, die ungebrochene, unzerstörbare Einheit des Lebens entgegen.« (a.a.O., S.137.)

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seinen Anfängen noch keinen Begriff von der Einheit der Seele. Damit fehlt die Voraussetzung dafür, den Begriff der Persönlichkeit fassen zu können. Das >Ich< des Menschen zerfällt vielmehr in verschiedene, mit jeweils eigenen Aufgaben und Fähigkeiten versehene >EinzelseelenSeeleSeeleGeistes< zu nähern scheint.«412 Zwei verschiedene Wege führen von der mythischen Auffassung einer Pluralität von Seelen zu dem Gedanken einer ideellen, funktionalen Einheit des Ich. Der eine erklärt sich aus der Entwicklung des sittlichen Bewußtseins über die Grenzen des Mythos hinaus, der andere wird in der Ausbildung eines theoretischen Bewußtseins beschritten. In der ägyptischen Religion treten sukzessive neben die materiellen Bedingungen und Vorkehrungen, die zu treffen sind, wenn die Seele des Verstorbenen weiterleben können soll. Diese Bedingungen betreffen das rituelle und sittliche Verhalten des Menschen, der nach dem Tode vör den Richterstuhl des Osiris zitiert wird. »In der Schilderung, die das >Buch der Pforten< enthält, tritt der Tote vor Osiris hin, um vor ihm sein Sündenbekenntnis abzulegen und sich zu rechtfertigen. Erst nachdem sein Herz auf der Waage, die vor dem Gotte steht, gewogen und als schuldlos befunden ist, geht er ins Reich der Seligen ein.«413 Dabei läßt sich im Bilde des Herzens der Begriff der Einheit des ethischen Selbstbewußtseins schon erahnen. Der Mensch erlaßt im Bewußtsein seines sittlichen Handeins sich selbst in neuer Weise als einheitlichen Referenzpunkt zur Beurteilung dieser Handlungen. Und auch im Übergang von der Vorstellung der Naturdämonen zu persönlichen Schutzgeistern läßt sich dieselbe Bewegung nachzeichnen. Jede äußere Erfahrung des >Ungemeinengenius< dessen Wesen aus412 A.a.O., S.195f. 413

A.a.O., S.199.

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macht414. Wie jeder einzelne, so verfügt in der Folge auch jede Gemeinschaft über solche persönlichen Schutzgeister. »Es scheint, daß das mythisch-religiöse Denken diese Vorstellung um so schärfer ausbildet und ihr eine umso bedeutsamere Rolle zuweist, je mehr es von der rein natürlichen Sphäre zur Anschauung eines geistigen >Reichs der Zwecke< durchdringt.«415 Über diese Vorstellung eines geistig-sittlichen Reiches, das nicht mehr unmittelbar mit dem bloßen biologischen Leben der Menschen identisch ist, erwirbt das mythisch-religiöse Bewußtsein ein Gefühl für Persönlichkeit. Doch auch dem theoretischen Ichbewußtsein, das im philosophischen Begriff der Subjektivität seinen Abschluß findet, geht eine Entwicklung im mythischen Bewußtsein voraus. Steht am Anfang dieses Weges noch die Anschauung des Ich als Ding und konkrete Substanz, so wird am Ende der Gedanke eines selbst gestaltlosen und nicht dinglichen Trägers des Wissens um Dinge gefaßt. In den Upanishaden etwa lasse sich diese Entwicklung verfolgen, in der um ein immer abstrakteres Verständnis des Selbst gerungen wird. Das >Atman< wird als Gedanke einer Aktivität des Erkennens erlaßt, die selbst nicht erkannt werden kann, weil sie kein Objekt, sondern die Fähigkeit ist, Objekte zu sehen416. Aber nicht nur in Bezug auf die Welt der dinglichen Objekte beginnt das mythisch-religiöse Bewußtsein ein Selbstgefühl auszubilden, sondern auch in der Grenzsetzung gegenüber dem >DuSicht< sei vielmehr umgekehrt eine der Voraussetzungen und Kräfte, die das soziale Leben formen. Die These einer einfachen Spiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den mythisch-religiösen Bildwelten würde übersehen, daß die Leistung der symbolischen Form gerade in der Ermöglichung von Kommunikation und sozialer Akzeptanz für gemeinsame >Weltbilder< 414 Vgl. a.a.O., S.202. 415 A.a.O., S.202f. 416 Vgl. a.a.O., S.207. 417 A.a.O., S.209.

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besteht. »Der Mythos selbst ist eine jener Synthesen, durch die erst eine Verknüpfung zwischen >Ich< und >Du< ermöglicht wird, durch die eine bestimmte Einheit und ein bestimmter Gegensatz, ein Verhältnis der Zusammengehörigkeit und ein Verhältnis der Spannung, zwischen Individuum und Gemeinschaft hergestellt wird.«418 Die Frage der >Philosophie der symbolischen Formen< zielt deshalb nicht unmittelbar auf die Erkenntnisse der Religionssoziologie, sondern auf die Kategorialität des mythisch-religiösen Bewußtseins. Der besondere >GesichtspunktMenschSympathieentsprichtrealen< Bestandteil der gesamten Jagd423, Das gemeinsame, gleichwohl unterschiedliche Verhalten bei der Jagd, das Wirken in einem gemeinsamen Geschehen, stiftet eine Wesensgemeinschaft zwischen Mensch und Tier. Die totemistische Klassenbildung und ihr Grundzug, bestimmte Totemtiere Menschen und Stämmen zugeordnet sein zu lassen, erklärt sich aus der Begrenztheit des wahrnehmbaren Wirkens. Schon die einfachste Vorstellung von >Wirksamkeit überhauptAffinitäten< abgeteilt, wird es in bestimmte scharf auseinandergehaltene mythische Gattungen und Arten geschieden.«425 Aber dieser Leistung der Grenzsetzung steht das mythische Gefühl der Einheit des Lebens entgegen, das jede Scheidung zwischen Ich und Welt, sowie die Unterschiede der Klassen und Gattungen wieder rückgängig zu machen strebt. Die mythische Erregung des Gefühls wird als 422 A.a.O., S.216f. 423 Vgl. a.a.O., S.217f. 424 A.a.O., S.221. 425 A.a.O., S.223.

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rituelle Intensivierung des Lebens und orgiastische Verschmelzung mit dem >Gesamtleben< angestrebt426. »Nirgends bleibt hier der Mensch in der bloßen Anschauung des Naturgeschehens stehen, sondern überall drängt es ihn, die Schranke, die ihn vom All des Lebendigen trennt, zu durchbrechen, die Intensität des Lebensgefühls in sich derart zu steigern, daß er sich dadurch aus seiner sei es gattungsmäßigen, sei es individuellen Besonderung befreit.«427 Die mythische Erzählung, die den jeweiligen Kult zu >erklären< unternimmt, darf dabei nicht primär als Versuch der Weltdeutung verstanden werden. Sie gilt vielmehr als der äußere Ausdruck eines psychologischen Geschehens, bei dem es sich »um ein echtes Drama, das das religiöse Subjekt in sich erfährt«428, handelt. Das mythische Gefühl für die Einheit des Lebens läßt zudem eine klare kategoriale Scheidung der natürlichen und sozialen Welt nicht zu. Die >Sympathie< alles Lebendigen ermöglicht es, daß natürliche Vorgänge, wie das Wachstum der Feldfrüchte, durch sozial vermittelte, wie den Geschlechtsakt zwischen Mann und Frau, herbeigeführt werden können429. Die soziale Primärform der Familie- Mutter, Vater, Kind -wird in der Natur und in der Götterwelt gleichermaßen wiedergefunden. »So spricht sich im Mythos alles natürliche Sein in der Sprache des menschlich-sozialen Seins, alles menschlich-soziale in der Sprache des natürlichen aus.«430 Eine naturalistische oder soziologische Erklärung der mythischen Bildwelt geht fehl, da sie zum einen dieses durchgängige Füreinandereinstehen der Bereiche im mythischen Bewußtsein übersieht. Zum anderen läßt sie unbeachtet, daß sowohl in die Form natürlicher Gegenstände als auch in die Form des Soziallebens eine mythisch-religiöse Prägung schon miteingegangen ist. Das mythische Bewußtsein kann so nicht aus einer bestimmten Naturanschauung oder Sozialgestalt abgeleitet werden, es stellt vielmehr selbst einen Faktor zur Konstitution der Form dieser Bereiche dar. »Wir kennen keine noch so primitive Gesellschaftsform, die nicht schon irgendeine Art religiöser Prägung aufweise; und als geprägte Form kann die Gesellschaft selbst nur 426 Vgl. ders., VdM, S.150: »Ein solcher magischer Ritus vermittelt uns einen

klaren, konkreten Eindruck vom wahren Sinn der >sympathetischen Magie< und ihrer sozialen und religiösen Funktion. Die Menschen, die ein solches Fest feiern, die die magischen Tänze aufführen, verschmelzen miteinander und verschmelzen mit den Dingen in der Natur. Sie sind nicht isoliert; ihre Freude wird von der ganzen Natur mitempfunden, und auch die Ahnen haben Anteil an ihr. Raum und Zeit sind verschwunden; die Vergangenheit ist Gegenwart geworden; das goldene Zeitalter der Menschheit ist zurückgekehrt.« 427 Ders., PhsF II, S.225. 428 A.a.O., S.226. 429 Vgl. a.a.O., S.227 430 A.a.O., S.229.

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angesehen werden, wenn man die Art und Richtung dieser Prägung stillschweigend voraussetzt.«43t Wenn Durkheim die totemistische Klassenbildung dadurch zu erklären unternimmt, daß er die Einteilung der Natur auf die Einteilung der Gesellschaft in Gruppen und Untergruppen zurückführt, die in jene einfach projiziert wird, dann projiziert er eine Scheidung von Sozial- und Naturwelt in das mythische Bewußtsein, die dieses noch nicht kennt432. »Für das mythische und religiöse Empfinden wird die Natur zu einer einzigen großen Gesellschaft, der Gesellschaft des Lebens.«433 Das mythische Bewußtsein orientiere sich stets an der Totalität des Lebendigen, in der jedes besondere Sein zu einem anderen werden und ein anderes sein kann, weil alles durch das magische Band des Lebens miteinander verbunden ist. »Es begreift sich hieraus, daß auch in den Bildgestalten, in denen der Mythos ursprünglich lebt und ist, in denen er seine Wesensart unmittelbar und konkret verkörpert, die Züge von Gott, Mensch und Tier sich nirgends scharf voneinander abheben. Erst allmählich bereitet sich hier ein Wandel vor, der das unverkennbare Symptom eines geistigen Wandels, einer Krisis in der Entwicklung des menschlichen Selbstbewußtseins ist.«434 Das komplexe Denken des mythischen Bewußtseins wäre aus sich heraus zu keiner klaren Klassenbildung gekommen, es hätte den Gattungsbegriff des >Menschen< nicht bilden können, wenn diese geistige Selbstunterscheidung des Menschen nicht durch die Kunst und Dichtung ermöglicht worden wäre. Die Kunst hat darin die Idee des Menschen vorbereitet, daß »sie dem Menschen zu seinem eigenen Bilde verhalf«435 und so, vermittelt über die Anschauung der Götter, ein menschliches Selbstgefühl und Selbstverständnis auf den Weg brachte. »Es bewährt sich hierin aufs neue die Grundregel, die alle Entwicklung des Geistes beherrscht: daß der Geist erst in seiner Äußerung zu seiner wahrhaften und vollkommenen Innerlichkeit gelangt.« 436 Wird im ursprünglichen mythischen Bewußtsein die Vereinzelung des Ich noch als tragische Ablösung von der Totalität des Lebens erfahren, die ekstatisch zu revidieren ist, so wird durch die Kunst die besondere Gestalt des Menschen und damit verbunden seine konstitutive Endlichkeit zur Anschauung gebracht. Die Tragik des Lebens verlagert sich in der griechischen Tragödie schließlich in den Menschen. Nicht mehr die Einzelheit als solche, sondern das mit der Besonderung des Ich verbundene neue sittliche 431 A.a.O., S.231. 432 Vgl. a.a.O., S.231f. Vgl. auch ders., VdM, S.127f. 433 Ders., VdM, S.132. 434 Ders., PhsF II, S.233. 435 A.a.O., S.234. 436 A.a.O., S.235.

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Selbstbewußtsein bestimmt das Lebensdrama. »Und auch die Götter werden in diese Entwicklung hineingezogen; denn auch sie unterstehen dem Spruch der Dike, der höchsten Gottheit der Tragödie.«437 Erst vermittelt über diese Krisis des religiösen Bewußtseins kommt es zur Ausbildung eines neuen Gemeinschaftsgefühls. Die Aufwertung des Einzelnen zur sittlich verpflichteten Person geht einher mit der Darstellung der ersten Nationalgötter im homerischen Epos, die nicht mehr nur in ihrer Macht lokal begrenzte Stammesgötter sind. »So vollzieht sich hier die Befreiung zum persönlichen Bewußtsein und die Erhebung zum nationalen Bewußtsein in ein und demselben Grundakt der religiösen Gestaltung. Von neuem beweist sich darin, daß die Form der mythischen und religiösen Vorstellung nicht lediglich bestimmte Fakta der sozialen Struktur wiedergibt, sondern daß sie zu den Faktoren gehört, kraftderen jedes lebendige Gemeinschaftsbewußtsein sich aufbaut.«438 Wie die individuelle und gattungsmäßige Selbstunterscheidung des Menschen von der Welt sich vollzieht, wird noch deutlicher an der Entwicklung der mythischen Wirkwelt. Das Bewußtsein des menschlichen Tuns prägt sich zunächst über die Selbstanschauung in den Göttergestalten aus, die die erste Scheidung der menschlichen Bereiche des Wirkens garantieren. Dabei lasse sich hier genausowenig von einer Projektion der menschlichen Persönlichkeit auf einen Götterhimmel sprechen, wie vorher davon die Rede sein konnte, schon bestehende Sozialverhältnisse würden als Vorbild der totemistischen Klassenbildung fungieren. Das Persönlichkeitsgefühl und das klarere Bewußtsein der Wirksphären werden vielmehr synchron im Prozeß der Wirkung auf die Welt und der Gegenwirkung von der Welt gewonnen. »Die Grenzen der inneren Welt können demgemäß nur dadurch bestimmt, ihre ideelle Gestaltung kann nur dadurch sichtbar werden, daß der Umkreis des Seins im Tun umschritten wird. Je größer hierbei der Kreis wird, den das Selbst mit seiner Tätigkeit erfüllt, um so deutlicher tritt die Beschaffenheit der objektiven Wirklichkeit, wie die Bedeutung und die Funktion des Ich heraus.«439 Die wichtigste Entwicklungsvoraussetzung für diese Unterscheidung des Inneren und Äußeren liegt dabei zum einen in der Feldarbeit. Wenn das frühe mythische Bewußtsein die natürlichen Gegenstände zunächst nur aufgrund ihrer affektiven Besetzung zu fassen vermag und sich so mit der umgebenden Wirklichkeit noch magisch identifiziert, dann vermag die Aktivität der Umweltgestaltung im Ackerbau etwa dieser Anschau437 A.a.O., S.237. 4 38 A.a.O., S.238. 439 A.a.O., S.239.

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ung ein neu es Element hinzuzufügen. »Der Mensch fühlt sich nicht nur in seinem Zustand mit irgendeinem besonderen Dasein in der Natur oder mit ihr als Gesamtheit verknüpft, sondern er zieht sie unmittelbar in den Kreis seiner Arbeit hinein.« Die Feld-, Wald- und Wiesendämonen weichen den Tätigkeitsgöttern, die eine bestimmte Arbeit unter ihre Obhut nehmen. Dieser erste Schritt von den Naturmythen zu den Kulturmythen wird zum anderen im technischen Weltumgang und dem Gebrauch von Werkzeugen weitergetrieben. Alle Arzneien, Werkzeuge und Techniken der Feldarbeit werden zunächst als Göttergeschenk aufgefaßt. »Der Mensch begreift auch hier sein Tun nur dadurch, daß er es von sich entfernt und nach außen projiziert: und aus dieser Projektion geht die Gestalt des Gottes hervor, in der er nicht mehr als bloße Naturmacht, sondern als Kulturheros, als Licht- und Heilbringer erscheint. Die Gestalten derartiger Heilbringer sind der erste mythisch-konkrete Ausdruck für das erwachende und fortschreitende Selbstbewußtsein der Kultur.«44o Das Selbstbewußtsein des handelnden Subjekts nimmt dabei mit dem wachsenden Umfang des Wirkens zu, der einem Tätigkeitsgott unterstellt wird. Eine erste Klimax erreicht diese Entwicklung mit der Gestalt einer höchsten Schöpfergottheit, die die polytheistische Göttergemeinschaft überragt. Dieser Schöpfer wird zunächst noch nach dem Bilde des Handwerkes verstanden, der aus einem Stoff die Welt formt. »So wird der australische Baiame (Bäjämi), der gewöhnlich als typisches Beispiel für die Gestaltung des >Urhebergedankens< bei den Primitiven angeführt wird, als der >Schnitzer< der Dinge gedacht: er bringt die einzelnen Objekte hervor, wie eine Figur aus Rinde oder ein Schuh aus einem Fell oder einer Haut hervorgebracht wird.« 44 1 Die Tätigkeit des Schöpfergottes bleibt so immer gebunden an ein konkret vorstellbares Substrat, das seinem Handeln zugrundeliegt. Der Gedanke der Tätigkeit als solcher wird im mythischreligiösen Bewußtsein erst gefaßt, wenn die Mittel und Wege der Schöpfung nicht mehr substantiell, sondern >spirituell< verstanden werden442. Wenn die ältesten ägyptischen Texte noch lehren, daß der Schöpfergott Turn-Ra die anderen Götter durch seinen Samen gebildet habe, führen schon frühe Pyramidentexte die Schöpfung allein auf den Willen und das Wort des Gottes zurück. »Wenn einmal Sprache und Wort als solche geistige Instrumente der Weltschöpfung konzipiert sind, so gewinnt damit der Akt der Schöpfung selbst eine andere rein >spirituelle< Bedeutung. Zwi440 A.a.O., S.244. 441 A.a.O., S.248. 442 Vgl. A.a.O., S.250f.

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sehen der Welt als dem Inbegriff der physisch-materiellen Dinge und der göttlichen im Schöpferwort befaßten und beschlossenen Kraft ist jetzt kein unmittelbarer Übergang mehr möglich: denn beide gehören getrennten Regionen des Seins an.«443 Erst durch diese Trennung wird der Gehalt der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz erfaßbar. Einen Begriff von der reinen Tätigkeit als solcher gewinnt das religiöse Bewußtsein aber nur in den monotheistischen Hochreligionen und ihrer Vorstellung von der Schöpfung aus dem Nichts. Insofern der Gedanke des Wollens und Tuns hier am reinsten ausgesprochen wird, stellt diese Vorstellung »in religiöser Hinsicht [... ] ein Letztes und Höchstes«444 dar. Dieselbe Entwicklung zu einem größeren Selbstbewußtsein des Handeins wird in dem Gebrauch von Werkzeugen vorbereitet. Auch in dem technischen Umgang mit der Welt wird das Bewußtsein gewonnen, die Welt nicht magisch-direkt sondern vermittelt gestalten zu können. Der Wille und der Erfolg des Wollens treten so auseinander, daß die Form der zwischen Wille und Erfolg vermittelnden Tätigkeit in den Blick rückt. Das Begehren richtet sich nicht mehr magisch-unmittelbar auf die Welt, sondern erkennt die Vermitteltheit und Begrenztheit der menschlichen Wirkmöglichkeiten. Und gerade dieses zunehmende Bewußtsein einer Grenze zwischen der selbständigen Innenwelt und Außenwelt gestattet ein neues Selbstbewußtsein des Menschen einerseits und eine neue Anschauung der Natur andererseits. »Das Bewußtsein der Mittel, die zur Erreichung eines bestimmten Zweckes unumgänglich sind, lehrt zuerst das >Innere< und das >Äußere< als Glieder eines kausalen Gefüges begreifen und ihnen innerhalb desselben je eine eigene unvertauschbare Stelle anzuweisen- und hieraus wächst nun allmählich die empirisch-konkrete Anschauung einer Dingwelt mit realen >Eigenschaften< und Zuständen hervor.«445 Das Selbst- und Weltverständnis wachsen so miteinander im Laufe der Erweiterung des menschlichen Wirkens. Ein explizites Wissen um diesen Prozeß begleitet sein Fortschreiten freilich nicht. Die anderen symbolischen Formen differenzieren sich >spontan< aus dem mythischen Bewußtsein heraus, ohne daß diese Differenzierung als das, was sie ist, wahrgenommen würde. »Die Sprache, der Mythos, die Kunst: sie stellen je eine eigene Welt von Gebilden aus sich heraus, die nicht anders denn als Ausdrücke der Selbsttätigkeit, der >Spontaneität< des Geistes verstanden werden können. Aber diese Selbsttätigkeit vollzieht sich nicht in der Form der freien Reflexion und bleibt somit sich selbst verborgen.«446 443 A.a.O., 5.251. 444 A.a.O., 5.253. 445 A.a.O., 5.256. 446 A.a.O., 5.259.

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Diesen Zusammenhang der implizit >fortschreitenden Selbstbefreiung der Menschheit< explizit zu machen, ist - wie sich nun erneut bestätigt die Aufgabe der >Philosophie der symbolischen FormenSpiritualisierung< der mythischen und religiösen Inhalte einher. Wenn sich in der Beobachtung der mythischen Wirkwelt die, für das mythische Bewußtsein passive Anschauung der Götterbilder mit dem menschlichen Verständnis des Individuellen und Sozialen verändert hat, so zeigt sich eine parallele Veränderung auf der Ebene des aktiven Umgangs mit den Göttern. Das religiöse Grundmotiv, das Cassirer zur Illustration dieser Bewegung anführt, ist das Opfer, »das uns überall entgegentritt, wo der Kult und das religiöse Ritual sich bis zu einer gewissen Höhe entwickelt hat.«44 7 Auch im Opfer wird eine klare Scheidung von Innen und Außen, von Ich und Welt, gestiftet. Das Opfer erfüllt dabei gegenüber den Göttern denselben katalytischen Zweck, wie das Werkzeug gegenüber der Welt der Dinge. »Jedes Opfer schließt, seinem ursprünglichen Sinn nach, ein negatives Element in sich: es bedeutet eine Einschränkung des sinnlichen Begehrens, einen Verzicht, den das Ich sich auferlegt. Hier liegt eines seiner wesentlichen Motive, durch die es sich von Anfang an über die Stufe der magischen Weltsicht erhebt.«448 Das magisch-mythische Bewußtsein glaubt in seinem bloßen Wünschen Herr über die Welt und die Götter sein zu können. Es vertraut der >Allmacht seiner Wünschedo ut des< - sondern in neuer Wendung als reiner Ausdruck der Verehrung geübt wird. »Sie vollzieht sich, sobald die religiöse Betrachtung sich nicht mehr einseitig auf den Inhalt der Gabe beschränkt, sondern sich statt dessen auf die Form des Gebens, des Darbringens selbst konzentriert und in ihr den eigentlichen Kern des Opfers beschlossen sieht. Von der bloßen materiellen Ausübung schreitet jetzt der Gedanke zu seinem inneren Motiv und Bestimmungsgrund fort.«452 In der Konsequenz erscheint im Buddhismus das eigene »Innere des Menschen [... ] als die einzige religiös-wertvolle und religiös-bedeutsame Gabe«453, Der Sinn des Opfers, eine Verbindung zwischen dem >Heiligen< und dem >ProfanenDiesseits< und >Jenseits< herzustellen, bleibt dabei auch in den ethischen Verständnissen des Opfers erhalten, wie sie sich im Buddhismus und in der altestarnentliehen Prophetie finden. Nur die Form in der diese Synthese erstrebt wird, unterscheidet sich nach dem Grad der >Spiritualisierung< des Opfergedankens. Das sinnlich wahrnehmbare Opfer erhält einen >spirituellen< Sinn, aber im Gegenzug kann das geistige Motiv der Verbindung zwischen Mensch und Gott dabei wieder nur sinnlich dargestellt werden. »Das Sinnliche wird seiner Existenz, seinem physischen Dasein nach vernichtet: - und erst in dieser Vernichtung erfüllt es seine religiöse Funktion.«454 Ein geweihter Gegenstand, der gewissermaßen die Kluft zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Bereich ausfüllt, wird entfernt und besitzt die Kraft in seiner Vernichtung die Kluft mitaufzuheben. »Aber diese Kraft ist an die Ausübung des sakramentalen Aktes in seiner vollen sinnlichen Bestimmtheit und mit allen Einzelheiten und Besonderheiten, die das Ritual

450 A.a.O., S.266f. 451 A.a.O., 5.267. 452 A.a.O., S.268. 453 A.a.O., S.269. 454 A.a.O., S.273

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vorschreibt, gebunden - die geringste Abweichung und Vedehlung hierin bringt das Opfer um seinen Sinn und seine Wirksamkeit.«455 Eine vergleichbare Entwicklung lasse sich auch in der Form des Gebetes beobachten, das eine, dem Opfer analoge, Verbindung zwischen Gott und Mensch gewährleisten solle. Es war ursprünglich eine auf die Zauberkraft des Wortes vertrauende Weise sich magisch des göttlichen Willens zu bemächtigen, oder sogar mit dem Gott eins zu werden. »Die weitere religiöse Entwicklung des Gebets drängt indes mehr und mehr über diesen magischen Kreis hinaus. In seinem rein religiösen Sinne gefaßt erscheint jetzt das Gebet über die Sphäre des bloß menschlichen Wünschensund Begehrens hinausgehoben. Es richtet sich nicht auf ein relatives und partikulares Gut, sondern auf ein objektiv-Gutes, das mit dem Willen der Gottheit gleichgesetzt wird.«456 In all diesen Fällen sind Opfer und Gebet nicht nur Wege, zwei schon bestimmte Inhalte des göttlichen und menschlichen Seins miteinander zu vermitteln, sondern diese Inhalte in der Vermittlung überhaupt erst klar zu bestimmen457. Der Unterschied zwischen Gott und Mensch wird gesetzt, um im Fortgang die Mittel zu seiner Überwindung zu finden. Dabei wird die Vermittlung zwischen Gott und Mensch als Bewegung von beiden Seiten aufgefaßt. Mit der Menschwerdung Gottes gehe die Theosis des Menschen einher. Was den christlichen Inkarnations- und Kreuzesglauben von dieser- auch in den Mysterienkulten bekanntenVorstellung von der Selbstopferung des Gottes unterscheidet, sei »in der Tat nicht sowohl der Inhalt des Motivs als der neue rein >spirituelle< Sinn, der ihm abgewonnen wird.«458 Aber erst dort wo der Sinn des Opfers nicht mehr durch mythische Elemente verdunkelt auftritt - und Cassirer findet den Mythos noch in dem Anselmschen Gedanken einer unendlichen Schuld der Menschheit, die ein unendliches, i.e. göttliches Satisfaktionsopfer fordere -, da kann die Kluft zwischen Gott und Mensch als überwunden gelten, weil sie nicht mehr religiös gefordert werden muß. In der Mystik ist die »religiöse Bewegung, die sich in der Umbildung und in der Fortschreitenden Vergeistigung des Opferbegriffs ausdrückte, [... ]an einen Abschluß gelangt:- was zuvor als rein physische oder ideelle Vermittlung erschien, das hebt sich jetzt in eine reine Korrelation auf, in welcher sich der spezifische Sinn des Göttlichen wie der des Menschlichen erst bestimmt.«459 455 Ebd. 456 A.a.O., S.274f. 457 Vgl. a.a.O., S.275. 458 A.a.O., S.276. 459 A.a.O., S.277.

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Ob die Mystik in Cassirers Sinne wirklich das ideelle Ende und die Klimax der religiösen Entwicklung bedeutet, muß noch diskutiert werden. Es zeigt sich von diesem -vorläufigen -Abschluß her aber deutlich, wie Cassirers frühere Einsichten auch seine Beschreibung des mythischreligiösen Bewußtseins leiten. Denn der Mythos verhält sich zur Mystik, wie das aristotelische Substanzdenken zum Funktionsdenken (vgl. I 3). Die Überwindung des Mythos durch Prophetie und Mystik bedeutet für die Religion einen Fortschritt, der in der philosophischen und naturwissenschaftlichen Überwindung der Substanzmetaphysik seine genaue Entsprechung findet. In beiden Fällen wird die mythische oder logische Übermacht eines >Gegebenen< und Ansichseienden, eines eigentlich Wirksamen, das der menschlichen Erfahrung selbständig vorausliegt, gebrochen und in eine wechselseitige Korrelation von >Denken< und >GedachtemMensch< und >GottHochreligionenLebensformnatürlicher< Notwendigkeit wird verworfen, »auch wenn er [der Mythos; T.V.] sich zum Gedanken derselben zu erheben vermöchte«462. Daß die Denkbarkeit eines naturnotwendigen Todes hier nicht aus 460 Ders., VdM, S.134. 461 Ders., PhsF II, S.64. 462 Ebd.

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intellektuellen, sondern aus affektiven Gründen abgelehnt wird, ist klar. Cassirer sagt nicht, daß dem mythischen Bewußtsein dieser Gedanke nicht einfallen könnte. Er wäre nur eben nicht zu ertragen, für das traurige Geschehen hier und jetzt keine mythisch belangvolle und das heißt emotional befriedigende Erklärung. Es ist aber nicht zu sehen, weshalb die mit dem Tode eines Mitmenschen einhergehenden Affekte der Trauer, Furcht und des wütenden Protestes gegen den Tod aus solidarischen Gefühlen mit den Mitmenschen, im religiösen Bewußtsein grundsätzlich andere als im mythischen Bewußtsein sein sollen. Die primäre, archaische Gefühlswelt des Menschen ändert sich nicht. Sie nimmt allenfalls eine neue Bedeutung an. Dennoch kann der Gedanke des Todes im religiösen Bewußtsein durchaus festgehalten werden und in Geltung stehen. Soll deshalb die spezifische Differenz angegeben werden, die erst beschreibt, weshalb im einen Falle eine bestimmte Affektlage das Bewußtsein der notwendigen Sterblichkeit verhindert, im anderen Falle aber dieselbe Affektlage diese Freiheif163 zuläßt, dann kann bei der bloßen Benennung von Gefühlen464, oder der Analyse unterschiedlicher Denkformen, nicht stehengeblieben werden. Der Zugewinn an Bewußtheit ist vielmehr nur dann verständlich, wenn davon ausgegangen wird, daß dieselben Gefühle und Affekte in einer veränderten Psychodynamik zu stehen kommen. Sie erhalten im seelischen Zusammenhang eine andere Funktion, wenn sie einmal einem Bewußtsein, das uns als >realitätsangepaßt< gilt, seelisch zugeordnet sind, ein andermal aber diesem so vorgeordnet werden, daß es nicht wirklich zur Geltung kommen kann. Es ist eine psychologisch vertraute Erscheinung, daß Gedanken und Vorstellungen nur dann bewußt bleiben und erinnerbar sind, wenn sie emotional erträglich besetzt auftreten. Das differierende Verhalten dem Tode gegenüber, das dem mythischen und dem religiösen Menschen zugeschrieben werden kann, erklärt sich deshalb nicht allein aus einem veränderten Bewußtsein. Vielmehr läßt sich sagen, daß die seelischen >Bedingungen der Möglichkeit< dieser Bewußtseinsveränderung bei gleichbleibender Affektgestimmtheit gerade das zu Erklärende ausmachen. Der von Cassirer angedeutete - und im folgenden Unterkapitel noch genauer zu diskutierende - Übergang vom mythischen zum religiösen Bewußtsein steht auch unter seelischen Bedingungen, die einer psychologischen Analyse zugänglich sind, der transzendentalhermeneutischen Formanalyse des Geistes aber verborgen bleiben. Den Gesetzmäßigkeiten des Geistes und 463 Für Cassirer besteht die Freiheit gerade darin, sich der Notwendigkeit

bewußt zu werden. Die Freiheit wird also nicht als Willkürfreiheit (liberum arbi-

trium indifferentiae) betrachtet. 464 Vgl. a.a.O., 5.89.

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der Kulturdynamik, entsprechen korrelativ Gesetzmäßigkeiten der Psychodynamik465, die einander bedingen und im Falle eines beschreibbaren Freiheitsgewinnes der Individuen offenbar auch fördern. Eine vergleichbare Erweiterung der Frage nach der Kulturbedeutung der Religion ist auch in soziologischer Hinsicht gefordert. Cassirers Analyse der Grundkategorien des religiösen Bewußtseins zielt nicht auf die Bedeutung dieser Kategorien für bestimmte soziale Gemeinschaftsformen, sondern für die »Konstituierung der Grundformen von Gemeinschaftsbewußtsein überhaupt«466. Lediglich die allgemeine geistige Richtung, die das Gemeinschaftsbewußtsein religiös prägt, soll benannt werden. »Seine nähere Bestimmung erhält dieser Gesichtspunkt immer erst durch die besonderen Lebensbedingungen, unter denen die einzelne konkrete Gemeinschaft steht und sich entwickelt; aber dies hindert nicht, daß man nicht auch hier gewisse allgemeine und durchgehende geistige Motive der Formung als wirksam erkennt.«467 Fragt man aber nach der >Realisierung der Freiheit< der Individuen im sozialen Raum, dann bleibt die transzendentalhermeneutische Klärung der Bedingungen der Möglichkeit von religiösem Gemeinschaftsbewußtsein überhaupt zu blaß. Hier ist vielmehr gefordert die Konkretion einer bestimmten Gemeinschaftsform aus der Wirksamkeit eines religiösen >Sozialideals< unter den >besonderen Lebensbedingungen< einer Gemeinschaft zu erklären. Die Kulturbedeutung der Religion läßt sich in sozialer Hinsicht nicht aus einem allgemeinen religiösen Gemeinschaftsbewußtsein bestimmen. Die kommt vielmehr erst dort zum Vorschein, wo - mit Troeltsch zu sprechen - die >ideelle GesetzgebungSozialidealsozialistischen< und >individualistischen< Liebesgemeinschaft in der Konfrontation mit >profanenTyp< der Adaption des christlichen Sozialideals. 465 Cassirer scheint diese Freudsche Idee eines dynamischen, >psychischen Mechanismus< zu unterstützen: »Wir können und müssen tatsächlich fortfahren, vom Mechanismus der Gefühle als von einem >psychischen< Mechanismus zu sprechen.« (Cassirer, MdS, S.44.) 466 Ders., PhsF II, S.213. 467 Ebd. 468 Troeltsch, Das stoischchristliche Naturrecht, S.168.

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Für die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion ist es unabdingbar, diese soziahistorischen und psychohistorischen Konkretionen miteinzubeziehen, weil sonst das Kriterium der Freiheit die faktische >Lebensform< einer Religion verfehlt und lediglich zur Bestimmung ihrer >Denkund Anschauungsform< herangezogen werden kann. Durch derartige Ergänzungen reichert sich die Analyse der Lebensform des religiösen Bewußtseins mit den psychosozialen Phänomenen an, die der Frage nach der >Realisierung der Freiheit< in einer Religion erst ihre hinreichende Konkretheit verleihen. Werden die psychosozialen Bedingungen einer religiösen Lebensform nicht benannt, dann bleibt die >Religionskritik< eine abstraktnormative >GeltungsfrageDie Dialektik des mythischen Bewußtseins< ein eigenes Kapitel im zweiten Band der >Philosophie der symbolischen FormenDialektik< verbirgt. Dabei werden eine an Kants Begriff der Dialektik und eine an Hegels Dialektikverständnis orientierte Interpretation zu versuchen sein. Vorweg läßt sich jedoch zumindest eine Ansicht ausschließen, die den Übergang vom Mythos zur Religion als kulturgeschichtlichen >Sprung< verstehen möchte. Mythos und Religion seien, so Cassirer, gleichermaßen traditionsverbundene, konservative Kräfte im Kulturleben. Gleichwohl lasse sich in der Entwicklung vom Mythos zur Religion eine Steigerung des menschlichen Selbstbewußtseins beobachten, die schließlich der bloß stabilisierenden Richtung des Mythos eine dynamische, auf religiöse Veränderung bedachte Richtung hinzufügt-469, »Die primitive Religion kann [ ... ] keinen Spielraum für individuelle Gedankenfreiheit lassen. Nicht nur jeder menschlichen Handlung, sondern auch jeder Empfindung erlegt sie ihre festen, strengen, unverletzlichen Regeln auf. Die Existenz des Menschen 469 Vgl. Cassirer, VdM, S.340f.

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steht unter einem ständigen Druck. Sie ist eingeschlossen in einen engen Kreis von positiven und negativen Forderungen, von Heiligungen und Verboten, Geboten und Tabus.«470 Die im Mythos- auf noch zu klärende Weise- >beschlossene< Richtung auf ein religiöses Bewußtsein hin, verfolgt dagegen ein ganz anderes Ziel. Das religiöse Bewußtsein zielt auf die sittliche Gestaltung und die Kritik des Mythos. »Es entsteht eine neue dynamische Gestalt von Religion, die eine neue Perspektive auf das sittliche und religiöse Leben eröffnet. In dieser dynamischen Religion haben die Kräfte der Individualität die Oberhand über die Kräfte der Stabilisierung erlangt. Das religiöse Leben hat Reife und Freiheit gewonnen; es hat den Bann des strengen Traditionalismus gebrochen.«471 Cassirer entleiht die Begriffe der >statischen< und der >dyna-mischen< Religion von Bergson472. Einen plötzlichen Sprung von der ersten, >passiven< Stufe des Mythos zur zweiten, >aktiven< Stufe der Religion, wie ihn Bergson fordert, lehnt er aber ab473, Es sei kein Zeitpunkt angebbar, zu dem der plötzliche Wechsel stattgefunden haben könnte. Vielmehr ließen sich im mythischen Bewußtsein schon religiöse Motive, in der Religion aber eine dauernde Bindung an den Mythos aufweisen. »Von Anfang an ist der Mythos potentielle Religion. Es ist keine plötzliche Krise im Denken und keine Gefühlsrevolution, die von einer Stufe zur nächsten führt.«474 Vielmehr nehme das basale mythische Gefühl für die >Solidarität alles Lebendigen< in der neuen geistigen Form der Religion eine andere Bedeutung und Funktion an. »Diese Form einer universalen ethischen Sympathie trägt in der monotheistischen Religion den Sieg davon über das primitive Gefühl für die natürliche oder magische Solidarität des Lebendigen«475 Aber wie ist dieser Sieg vorzustellen? Wenn nicht von einer plötzlichen Krise, sondern von einer Dialektik des Mythos die Rede sein soll, dann muß diese Dialektik nicht nur die Inhalte, sondern auch die Funktion des Mythos betreffen476. Näherhin soll seine Kraft zur Äußerung in ein spannungsvolles Verhältnis zu seiner eigenen Bildwelt geraten. »Er kann sich nicht anders als in ihr offenbaren und äußern - aber je weiter er fortschreitet, umso mehr beginnt für ihn 470 Ebd. 471 A.a.O., S.341. Das Zitat liest sich wie eine Kurzzusammenfassung des protestantischen Selbstverständnisses. Zumindest dann, wenn man mit Paul Tillich das >Wesen< des Protestantismus in >Kritik und Gestaltung< sehen möchte und darüber hinaus dem Protestantismus eine besondere Affinität zum modernen euro-amerikanischen Individualismus zubilligt. 472 Vgl. Bergson, Die beiden Quellen. 473 Vgl. a.a.O., 5.139-142. 474 A.a.O., S.139. 475 A.a.O., S.159. 476 Vgl., ders., PhsF II, S.281.

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diese Äußerung selbst zu etwas >Äußerlichem< zu werden, das seinem eigentlichen Ausdruckswillen nicht völlig adäquat ist.«477 Indem der Mythos ein eigenes Bewußtsein ausprägt, findet sich in diesem Bewußtsein auch schon die Differenz zwischen seinem >Prinzip< und seinen Gestaltungen. Der Mythos verfügt über kein theoretisches Bewußtsein dieser Differenz, aber die Entwicklung vom Mythos zur Religion zeigt, daß das mythische Bewußtsein den Prozeß von der Ausdrucks- zur Darstellungsfunktion einleiten kann. Im bloßen mythischen Ausdruck konkreszieren Bedeutung und Bild in der Vorstellung eines >Wirksamen schlechthinGemeintesInnerlichkeit< des Gottesverhältnisses wenn nicht sogar stört, so doch jedenfalls nicht tangiert479. »Das sinnliche Bild und die ganze Sphäre der sinnlichen Erscheinungswelt muß des eigentlichen >Sinngehalts< beraubt wer-den: denn nur auf diesem Wege ist die Vertiefung möglich, welche die reine religiöse Subjektivität, die sich in nichts Dinglichem mehr abbilden läßt, im Denken und im Glauben der Propheten erfährt.«480 Die persische Religion teilt mit der Prophetie den Gedanken der Transzendenz Gottes, die ihre nähere Bestimmung nur noch durch die 477 A.a.O., S.282. 478 A.a.O., S.285. 479 Vgl. a.a.O., S.287f. 480 A.a.O., S.288.

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>Prädikate< des Seins und der Güte erhält. Sie nimmt aber eine andere Stellung zu der sinnlichen Erscheinungswelt ein. Eine, der Prophetie vergleichbare, vollständige Entwertung erfährt die Natur in der persischen Religion nicht, weil sie funktional in die religiöse Grundansicht, den Kampf zwischen Ormazd und Ahriman, den Kräften des Guten und des Bösen, integriert wird. Feuer und Wasser werden als verehrungswürdige Elemente angesehen, insofern sie zu den grundlegendsten Bedingungen der Kultur gehören, in der dieser Kampf ausgefochten wird. »Diese Verwandlung ihres bloß physischen Gehalts in einen bestimmten teleologischen Gehalt drückt sich besonders deutlich darin aus, daß das ausgebildete theologische System der persischen Religion sorgfältig bemüht ist, die Indifferenz gegen Gut und Böse, die allem bloß Naturhaftem eigen zu sein scheint, ausdrücklich aufzuheben«481. Ein vergleichbarer Weg zur Unterscheidung von sinnlichem Dasein und Bedeutung wird von der buddhistischen Religion beschritten. Wenn in der alttestamentlichen Prophetie die Eigenbedeutung der sinnlichen Welt geopfert wird, um die reine Beziehung zwischen Ich und Gott deutlicher hervortreten zu lassen, so wird in den Upanishaden die Befreiung nicht nur vom äußeren Dasein, sondern gleichermaßen vom Ich gesucht. »Nicht nur jenseits der Dinge, sondern vor allem jenseits des Tuns und Begehrens liegt demnach die wahre Befreiung. Wer sie gewonnen hat, für den ist nicht nur der Gegensatz von Ich und Welt, sondern nicht minder der von Ich und Du versunken: - für den bedeutet auch die Persönlichkeit nicht mehr den Kern, sondern nur noch die Schale, nur den letzten Rest aus der Sphäre der Endlichkeit und Bildlichkeit.«482 Der religiöse Prozeß der Verneinung der Wirklichkeit macht selbst die einzige Realität aus, zu deren Gunsten alles andere Sein zum bloßen Schein herabgesetzt wird. Auch das Christentum gewinnt in der Auseinandersetzung mit seiner eigenen und der >mythisch-heidnischen< Bildwelt sukzessive einen Sinn für die rein ideelle Bedeutung seiner religiösen >Zeichen< in Offenbarung und Wunder. Insbesondere der Sinn der Sakramente gewinnt durch die Dogmengeschichte eine vom >Mysterium< zum religiösen >Zeichen< gewandelte Bedeutung. »Aber auch hier ist es die Mystik, die den Versuch unternimmt, den reinen Sinn der Religion als solchen, unabhängig von jeder Behaftung mit der >Andersheit< des empirisch-sinnlichen Daseins und der sinnlichen Bild- und Vorstellungswelt, zu gewinnen.«483 Die Mystik negiert in der Konsequenz nicht nur den sinnlichen, sondern 481 A.a.O., S.290. 482 A.a.O., S.294. 483 A.a.O., S.298.

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auch den gedanklich-dogmatischen Ausdruck des Gottesverhältnisses. So wird die Menschwerdung Gottes nicht mehr im Bilde des mythischen Gottmenschen, aber auch nicht in dem dogmatischen Paradox einer Vereinigung zweier Substanzen zu begreifen versucht, sie wird vielmehr »als ein Prozeß gefaßt, der sich immer aufs neue im menschlichen Bewußtsein vollzieht.«484 Gott und Mensch treten dabei als Momente einer Relation auf, die als Beziehung festgehalten wird, ohne, dem Gesetz des mythischen Bewußtseins folgend, in eine einfache Identität umzuschlagen. Gleichwohl bleibt auch in der Mystik die Spannung zwischen dem bildlich-sprachlichen Ausdruck und dem ideellen Sinn des Gemeinten bestehen. Das religiöse Bewußtsein gelangt nirgends zu einer Versöhnung von >Bild< und >SacheErlöser< - angestrebt werden486. Sie kann ein andermal durch den Ausgriff auf das Allgemeine - das >Universum< -versucht werden: »die Gesamtheit des Sinnlichen ist das eigentliche Feld der Offenbarung des Geistigen«487. In beiden Fällen bleibt dem religiösen Bewußtsein aber seine eigene Funktionsweise, das Produzieren der zeichenhaften Darstellungen selbst noch verborgen. Erst die Religionsphilosophie- Schleiermachers- gewinnt ein Verständnis vom religiösen Bewußtsein, in dem die besondere Funktion der Religion erfaßt wird, weil hier nicht mehr auf die unangemessene Gestalt des religiösen Inhaltes, sondern auf die Religion als Weise der Gestaltung selbst, abgehoben wird. Die Unterscheidung von Profanem und Heiligem wird als Setzung erkannt. Alles kann ein >Wunder< sein, wenn es in der spezifisch religiösen >Sicht< genommen wird. »Hier stehen wir an dem Gegenpol jener ursprünglichen Auffassung, nach der das Symbolische ein objektivReales, ein unmittelbar-Gottgewirktes, ein Mysterium bedeutete. Denn die religiöse Bedeutsamkeit eines Geschehens hängt jetzt nicht mehr von seinem Inhalt, sondern rein von seiner Form ab: nicht was es ist und woher es unmittelbar stammt, sondern der geistige Aspekt, unter den es 484 Ebd. 485 A.a.O., S.301. 486 Vgl. A.a.O., S.307. 48 7 A.a.O., S.309.

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tritt, die >Beziehung< auf das Universum, die es im religiösen Gefühl und im religiösen Gedanken erhält, gibt ihm seinen Charakter als Symbol.«488 Es kann hier noch offen bleiben, ob Cassirer diese Einsicht der Religionsphilosophie für einen selbst auch religiösen und religionsgestaltenden Faktor hält, oder nicht (vgl. VI). Worin besteht nun die Dialektik des mythischen Bewußtseins? Wenn sie identisch sein soll mit der >Dialektik< zwischen >Sinn< und >BildSinn< und >Bild< einer religiösen Vorstellung betrachten, sie bestehen zunächst einfach in dem Ausdruckswillen des mythischen Bewußtseins und dem, was es schon ausgedrückt hat. Die Dialektik ist damit dieselbe, die sich schon im Zusammenhang mit der Darstellung des Begriffes der symbolischen Form überhaupt gezeigt hat: Es handelt sich um die Spannung zwischen >Bestand< und >EnergieSprache< und dem Ausdruckswillen im >SprechenÄußerlichem< zu 488 A.a.O., S.310. 489 Diesen Schluß zieht Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen, S.15.18 490 Cassirer, a.a.O., S.283. 491 Um dieses Problem im Bereich der Religion zu illustrieren, zieht Cassirer Augustinus als Beispiel heran: »Er muß seinen Glauben anderen mitteilen, er muß sie mit seiner religiösen Leidenschaft und Inbrunst erfüllen, um des Glaubens wahrhaft gewiß zu werden. Diese Verkündigung ist nicht anders möglich als in religiösen Bildern - in Bildern, die als Symb~~e beginnen, um als Dogmen zu enden. Auch hier ist also jede beginnende Außerung schon der Anfang der Entäußerung. Es ist das Schicksal, und es ist in gewissem Sinn die immanente Tragik jeder geistigen Form, daß sie diese innere Spannung nicht zu überwinden vermag.« (Ders., ZLK, S.55.)

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werden, das seinem eigentlichen Ausdruckswillen nicht völlig adäquat ist.«492 Und in dieser andauernden >produktiven FrustrationTragik< an: Die Unterscheidung von intendierter unendlicher Bedeutung und endlichem, bildlichem Ausdruck. Diese Einsicht setzt völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten frei, die mythischen Bilder fungieren nun auf eine neue, religiöse Weise, aber die Dialektik zwischen >Bestand< und >DynamikTradition< und >Innovationdialektischer ScheinGebrauch der KategorienHeilige< wird zum Zeichen und Abbild einer urbildlieh allein heiligen Transzendenz depotenziert, aber gleichzeitig als notwendiger >Schein< durchschaut. Die von Cassirer beschriebene dialektische Entwicklung weist aber zweitens auch Merkmale auf, die auf den Hegeischen Dialektikbegriff verweisen. Cassirer versteht Hegels >dialektische Methode< folgendermaßen: »Im dialektischen Prozeß enthält und bewahrt jeder neue Schritt alle vorhergehenden. Es gibt keinen abrupten Wechsel und keinen Bruch in der Kontinuität. Aber auf der anderen Seite ist dieser Akt der Bewahrung notwendigerweise ein Akt der Aufhebung. Was immer durch den dialektischen Prozeß hervorkommt, hat seine Wahrheit und seinen Wert nur als aufgehobenes Moment. Es wird als integrales Element bewahrt; aber seine isolierte Realität wird annuliert. Jede bestimmte Existenz muß untergehen, um neuen und vollendeterenGestalten Platz zu machen.«494 Es gibt keinen abrupten Wechsel vom Mythos zur Religion, die mythische Bildwelt ist in der Religion bewahrt und >in ihre Wahrheit gekommenaufgehobenaufgehoben< sondern auch die um Selbständigkeit ringende geistige Form trägt in sich selbst ein Moment der Negation.Vgl. dazu ders., WWS, S.112: Die symbolischen Formen seien zunächst noch eingebunden in das mythische Bewußtsein. »So stark ist dieser Zusammenhang, daß dort, wo er sich zu lockern beginnt, die Welt des Geistes von einem völligen Zerfall bedroht erscheint; daß

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erreichbaren >vollkommenen< Ausdruck abzielt. Die Dialektik des Mythos ist insofern auch von Cassirers Verständnis der Hegeischen Dialektik aus interpretierbar. Es erweist sich aufs neue, wie in Cassirers Idealismus Kamische und Hegeische Motive ineinanderspielen. Cassirer findet die emotionalen Wurzeln des mythischen Bewußtseins, sowie seine Bildwelt, in der Religion zugleich bewahrt wie überwunden. Die neue Freiheit, die das religiöse Bewußtsein ermöglicht, besteht dabei zum einen in der Bewußtmachung der Dialektik des Mythos, zum anderen in dem freieren Selbst- und Weltumgang der Menschen, der mit einem neuen Gefühl für Individualität und einem neuen, dem Tabusystem überlegenen, ethischen Bewußtsein einhergeht496. Funktion und Ausdruckswille des Mythos werden in der Religion gleichsam auf höherem Niveau >umkanalisiertaufgeklärten< Gesellschaft für Cassirer keine bloß historische Harmlosigkeit, wie ihn das traurige Beispiel des Nationalsozialismus lehrte. 3. Die Technik des Mythos Wenn bislang vornehmlich die logischen Unterschiede zwischen Mythos und Religion behandelt wurden, so soll nun der ethische Unterschied zwischen beiden symbolischen Formen unter modernen Bedingungen angeführt werden. Über die >Religion nach der Aufklärung< ist bei Cassirer unmittelbar nichts in Erfahrung zu bringen. Er hat sein Interesse aber einer Kritik des >Mythos nach der Aufklärung< gewidmet, die sich in dem posthum erschienenen Werk >Der Mythus des Staates< findet. Einige Auffälligkeitendes Werkes sollen vorweg angesprochen werden. Im zweiten Band der >Philosophie der symbolischen Formen< ist seltener vom religiösen Bewußtsein, als vom mythisch-religiösen Bewußtsein die Rede. Mythos und Religion werden hier- und die zwangsläufig auch die einzelnen Formen, indem sie aus dem Ganzen herausstreben und sich ihm mit dem Anspruch auf spezifische Eigentümlichkeit gegenüberstellen, damit vielmehr sich selbst zu entwurzeln und einen Teil ihres eigenen Wesens aufzugeben scheinen. Erst allmählich werden wir darüber bekehrt, daß eben diese Selbstaufgabe ein notwendiges Moment in ihrer Selbstentfaltung darstellt, daß die Negation den Keim zu einerneuen Position in sich schließt, daß die Trennung selbst zur Grundlage einer neuen Verknüpfung wird, die aus andersartigen Voraussetzungen erwächst.« 496 Vgl. v.a. Ders., VdM, S.163ff.

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historische Perspektive legt das nahe- als eng zusammengehörige Phänomene betrachtet. Auffällig ist deshalb, daß in >Der Mythus des Staates< die >Religionreligiöse Bewußtsein< noch nicht einmal im Register zu finden sind497. Das Thema der Religion findet lediglich in der Darstellung des mittelalterlichen, theologischen Staatsgedankens eine indirekte, und in der Frage nach politischer Unterdrückung durch religiöse Kämpfe eine kurze direkte Erwähnung: Das theologisch konfliktreiche Verhältnis zwischen Offenbarung und Vernunft in der Zeit zwischen Augustinus und Thomas wird so dargestellt, daß in der Auffassung des Thomas, »die Vernunft in alle ihre Rechte und Würden wieder eingesetzt«498 wurde, die sie durch den Erbsündegedanken verloren hatte. Die Theologie zumindest hat sich also schon im Mittelalter nicht mehr zum bloßen Verbündeten des Mythos gemacht. Eine Vergleichbarkeit zwischen den politischen Mythen des zwanzigsten Jahrhunderts und früherer, religiös motivierter Politik mit ähnlichen Unterdrückungsabsichten, wird abgelehnt. Denn die religiösen Despotismen »stärkten«, wenn auch gegen ihre Absicht, »nur die Gefühle für religiöse Freiheit.«499 Das religiöse Bewußtsein scheint in Cassirers Augen ein inniges Verhältnis zur Freiheit zu haben, das sich unter äußerem Druck nur enger knüpft. Es läßt sich also für die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion nicht unmittelbar auf die letzte Schrift Cassirers zurückgreifen. In zweierlei Hinsicht ist sie mittelbar für dieses Thema dennoch höchst aufschlußreich. Zum einen findet sich hier der Cassirersche Freiheitsbegriff im Zusammenhang mit den Begriffen der Individualität und Persönlichkeit so deutlich dargestellt wie sonst nirgends, weil er im Kontrast zur Unfreiheit und zum Persönlichkeitsverlust verhandelt wird. Es wird sich also zeigen, was unter diesen Begriffen im Cassirerschen Sinne zu verstehen ist, wenn im letzten Kapitel dieser Arbeit dem Verhältnis von >Humanismus< und >Religion< nachgegangen werden soll. Zum anderen läßt sich gleichsam >e silencio< folgern, daß Cassirer der >Religion nach der Aufklärung< die Fähigkeit in der Selbstunterscheidung vom Mythos diesen bewahrend zu zähmen, zumindest nicht in höherem Maße als den anderen symbolischen Formen abspricht. Religiöses 497 Das gilt für die deutsche Ausgabe des Buches. In der englischen Ausgabe gibt es freilich das Stichwort >Religion< mit den Hinweisen »origin, 20, 21; see also Carlyle, Greek religion, Goethe, Middle Ages, Upanishads« (Ders., Myth of the State, S.302.). Keine der dort angeführten Stellen bringt über den Aspekt des >origin< der Religion im Mythos hinaus, die Religion mit der Kritik des Mythos im zwanzigsten Jahrhundert in Zusammenhang. 498 Ders., MdS, S.128. 499 A.a.O., S.374.

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Bewußtsein wird von Cassirer offenbar nicht, im Sinne der radikalen Religionskritik, als bloße Fortsetzung des Mythos unter modernen, religions- und mythosdestruktiven Verhältnissen gedacht. Denn ein genuin mythisches Bewußtsein muß, anders als die Religion, nach der Aufklärung erst künstlich, manipulativ erzeugt werden. Und ein solches, künstlich reaktiviertes mythisches Bewußtsein ist, wie sich zeigen wird, in der Lage, sich alle anderen symbolischen Formen - von der Wissenschaft über das Recht bis zur Sprache und Kunst- zu unterweden. Der moderne Mythos bedeutet in dieser Hinsicht den - vorübergehenden und regionalen - Bankrott des Kulturlebens insgesamt. Es käme aber niemand auf die Idee, die grundsätzliche Bedeutung der Sprache, des Rechtes oder der Kunst für die Realisierung der Freiheit in der Kultur zu leugnen, obwohl jede dieser symbolischen Formen auch dem mythischen Bewußtsein in destruktiver Absicht dienstbar gemacht werden kann. Es zeigt sich deshalb gerade an Cassirers Kritik der modernen Mythen erneut, daß eine >Religionskritik< in seinem Sinne nicht als radikal-genetische Kritik, sondern lediglich als Frage nach der eben auch positiven Kulturbedeutung der Religion auftreten kann. Cassirer hat versucht, mit den Denkmitteln seiner >Philosophie der symbolischen Formen< die exzeptionelle Erscheinung des Nationalsozialismus in Deutschland und ihre Folgen zu verstehen. Das gesamte Ausmaß der Tragödie, die Bestialität der Massenermordungen, konnte er wohl 1945 noch nicht abschätzen, aber er hat in dem Naziregime eine exemplarische Bedrohung des menschlichen Kulturlebens insgesamt erblickt. »Wissenschaftliche Erkenntnis und technische Beherrschung der Natur gewinnen täglich neue und beispiellose Siege. Im praktischen und sozialen Leben des Menschen hingegen scheint die Niederlage des rationalen Denkens vollständig und unwiderruflich zu sein. Man glaubt, daß der moderne Mensch auf diesem Gebiet alles im Laufe seiner intellektuellen Entwicklung Gelernte vergißt. Man ermahnt ihn, auf die ersten und primitivsten Stufen der menschlichen Kultur zurückzugehen. Hier bekennen rationales und wissenschaftliches Denken offen ihren Zusammenbruch; sie kapitulieren vor ihrem gefährlichsten Feind.«soo Dieser Feind ist der Mythos, sofern er das Feld des politischen Handeins bestimmt. Das Staatsverständnis der Nationalsozialisten gilt Cassirer als das unselige Wiederaufleben des Mythos im zwanzigsten Jahrhundert. Seine geistige Vorbereitung habe diese Renaissance in den Theorien von Carlyle, Gobineau und Hegel gefunden, wobei freilich keiner der drei Autoren von Cassirer nicht auch gegen das, was aus ihren Theorien gefolgert wurde, in Schutz genommen wird. Hier interessieren nun weni500

Cassirer, MdS, S.8.

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ger die umfangreichen Ausführungen Cassirers zur Theorie des Staates, die der Legitimation des modernen Rechtsstaatsgedankens dienen, als die Erklärung, die Cassirer in >Der Mythus des Staates< für das Wiederaufleben des mythischen Bewußtseins gibt. Der Mythos wurde nämlich, unter Inanspruchnahme der symbolischen Form der Technik, bewußt erzeugt. Dies konnte nur gelingen, weil die politischen Umstände mythosaffine Radikalismen begünstigten. »Sogar in primitiven Gesellschaften, wo Mythus das Ganze des sozialen Fühlens und des sozialen Lebens des Menschen durchdringt und beherrscht, ist er nicht immer auf gleiche Weise wirksam, noch erscheint er immer in der gleichen Stärke. Er erreicht seine volle Kraft, wenn der Mensch einer ungewöhnlichen und gefährlichen Situation begegnen muß.«50t Nur wo die rationalen Fähigkeiten des Menschen zur Lösung einer kritischen Aufgabe nicht auszureichen scheinen und >Fortune< gefordert zu sein scheint, wird auf magische Praktiken zurückgegriffen. Sobald das politische Leben durch rationale Formen der Selbstverpflichtung in Verfassungen und Gesetzen gelenkt wird, gilt der Mythos dagegen als bezwungen. Die Individuen lernen in der gemeinsamen Ordnung ihre Leidenschaften und Wünsche zu beherrschen. Aber das politische Gleichgewicht bleibt labil. »In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden. Wir müssen auf abrupte Konvulsionen und Ausbrüche vorbereitet sein.«502 Dann kann eine Überwindung der kritischen Situation durch rationale Mittel plötzlich als aussichtslos erscheinen und der Wunsch nach einem >Führer< wach werden. »Der Ruf nach Führerschaft erscheint nur, wenn ein kollektiver Wunsch eine überwältigende Stärke erreicht hat und wenn anderseits alle Hoffnungen, diesen Wunsch auf gewöhnliche und normale Weise zu erfüllen, fehlgeschlagen sind.«503 Die Gestalt des Führers bietet sich dann zur Verkörperung des kollektiven Wunsches an und setzt die sozialen Selbstverpflichtungen außer Kraft, die der nackten Autorität des Führers weichen müssen. In einer Zeit, die dem historischen mythischen Bewußtsein entwachsen ist, müssen aber besondere Mittel der Rationalisierung und >Rechtfertigung< des neu erwachten Mythos gesucht werden. Sie wurden schließlich in Carlyles Theorie der Heldenverehrung und Gobineaus Rassentheorie auch gefunden. Der moderne homo faber regrediert durch sein Bedürfnis nach mythischer Wunscherfüllung nicht einfach zum homo magus. Er weiß vielmehr das eine mit dem anderen zu verbinden. Als Politiker wird er den Mythos planvoll erzeugen. »Er ist der Priester einer neuen, vollstän5ot A.a.O., S.361. 502 A.a.O., S.364. 503 A.a.O., S.365.

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dig irrationalen und mysteriösen Religion. Aber wenn er diese Religion verteidigen und propagieren muß, geht er sehr methodisch vor.«504 Er wird den Mythos technisch verbreiten und durchsetzen. Cassirer sieht in dieser Möglichkeit eine wirkliche Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts, deren Gefährlichkeit er mit der Erfindung einer neuen Waffe vergleicht505. Die Technik des Mythos richtet sich dabei vornehmlich auf die Umgestaltung der Funktion der Sprache und die Überformung der Alltagswelt durch politische Riten. Worte haben einen denotativen und einen affektiven Sinn. Sie können zur Bezeichnung von Sachverhalten oder Dingen aber auch zum Ausdruck von Affekten benutzt werden. Im zweiten Fall wird die Sprache nicht zur Beschreibung herangezogen, sondern um emotionale Wirkungen hervorzurufen. Neue Wörter werden erfunden, alte gewinnen neue Bedeutungen. Das Wort wird zum beschwörenden Zauberspruch, der die Wirklichkeit verändern will. Was dabei tatsächlich verändert wird ist die Gefühlslage der betroffenen Sprachgemeinschaft. Die politische Gleichschaltung der Massen greift die Leidenschaften, den schwächsten Punkt der Menschen, über die Manipulation der Sprache zuerst auf. Die politische Führung der Nazis erreichte ihr Ziel »heftige politische Leidenschaften aufzuwühlen, mit den einfachsten Mitteln. Ein Wort, oder selbst die Verwandlung einer Silbe in einem Wort war oft gut genug, um diesem Zweck zu dienen. Wenn wir diese neuen Worte hören, fühlen wir in ihnen die ganze Tonleiter menschlicher Affekte -von Haß, Angst, Wut, Hochmut, Verachtung, Anmaßung und Geringschätzung.«506 Die in der >magischen< Sprachtechnik gewonnene Übermacht des affektiven über den rationalen Sprachgebrauch wird lebensweltlich flankiert durch die Einführung neuer Riten. Größte Teile des Privatlebens können so politisiert werden. »Niemand konnte auf der Straße gehen, niemand konnte seinen Nachbarn oder Freund grüßen, ohne ein politisches Ritual zu vollziehen.«507 Die Ritualisierung des Alltags verfolgt den Zweck, das Urteilsvermögen der Menschen einzuschläfern. In der ständigen monotonen Wiederholung gleicher Handlungen, die die soziale Integration und Unversehrtheit garantieren sollen, liegt der Tod des kritischen Nachdenkens. Der Mensch erfährt nicht mehr sich selbst, sondern die soziale Gruppe als einziges verantwortliches Subjekt. »Er stellt seine Umgebung nicht mehr in Frage; er nimmt sie als eine natürliche Sache hin.«508 504 A.a.O., S.367. 505 Vgl., a.a.O., S.367f. 506 A.a.O., S.370. 507 A.a.O., S.371. 5os A.a.O., S.373.

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Und dieser Verlust, die eigene soziale Umwelt als unselbstverständlich sehen zu können, macht für Cassirer zugleich den Freiheits- und Persönlichkeitsverlust aus. Menschliche Freiheit und persönliche Verantwortung setzen ein eigenständiges Urteil darüber voraus, was im ethischen Sinne richtig ist. Sie verstehen sich nur aus dieser Autonomie, die kein natürliches Gut des Menschen ist, sondern als Aufgabe betrachtet werden muß509. Die menschliche Freiheit liegt nicht einfach vor, sie ist als ethisches Selbst- und Weltverhältnis erst zu realisieren und kann durch die Unfähigkeit, persönlich Verantwortung zu übernehmen, vereitelt werden. Die Nationalsozialisten hätten nun diese Form der freien Selbstbestimmung dadurch unterbunden, daß sie die Menschen nicht nur auf der Ebene des Handelns, sondern gleichermaßen auf der Ebene des Fühlensund Denkens gleichschalteten. Sie griffen, mit andere Worten, in den Charakter der Persönlichkeit ein. Die Technik des Mythos war in der Lage »die Menschen zu wandeln«5 10, sodaß sie schließlich von selbst dem Willen des Despoten gemäß handelten. Diese Form der Unterdrückung sei neu, weil sie sich nicht auf äußeren Druck beschränkt, sondern die Menschen innerlich gefügig zu machen strebt. Sie werden an den Punkt geführt und gelockt, an dem sie ihre Persönlichkeit von selbst aufgeben und dies auch noch als Befreiung von einer Last empfinden können511. Cassirer versteht Freiheit also mit Kant als Selbstgesetzgebung. »Sie bedeutet, daß das Gesetz, das wir bei unseren Handlungen befolgen, nicht von außen auferlegt ist, sondern daß das moralische Subjekt sich dieses Gesetz selbst gibt.«512 Diese Freiheit wird demnach nur als Selbst509 Vgl. a.a.O., S.375f. .. 510 A.a.O., S.374. Hier wäre anzufragen, ob der scheinbaren Ubermächtigkeit einer solchen Manipulation durch Sprachsteuerung und Ritualisierung, zu ihrem Erfolg nicht eine unterstützende Psychostruktur der Individuen entgegenkommen muß. Vgl. Adorno, Studien, S.1: »Die Untersuchungen, über die hier berichtet wird, waren an der Hypothese orientiert, daß die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine >Mentalität< oder einen >Geist< zusammengehaltenes Denkmuster bilden, und daß dieses Denkmuster Ausdruck verborgener Züge der individuellen Charakterstruktur ist.« Wobei diese Charakterstruktur, wenn sie als typisch, in diesem Falle als >autoritärGeschichte des Geistes< geht nichts verloren, was einmal als geistige Energie in Kraft stand513. »Der Untergang der Inhalte des mythischen Bewußtseins bedeutet keineswegs notwendig zugleich den Untergang der geistigen Funktion, der sie entstammen.«514 Diese Funktion besteht in der Ausdruckswahrnehmung, der physiognomischen und mimischen Betrachtungsweise. Die Funktion des Mythos alle Erscheinungen dadurch als Erfahrungen lesen zu können, daß er sie verlebendigt und nach Analogie der Gesichtswahrnehmung beseelter Wesen versteht, hat ihren bleibenden Ort in jener »Form des Wissens, in der sich uns die Wirklichkeit, nicht sowohl von Gegenständen der Natur, als vielmehr von anderen >Subjekten< erschließt.«515 Es bleibt die Funktion der Ausdruckswahrnehmung andere Menschen, und auch manche Tiere, als leibseelische Einheit, als >Du< im Unterschied zum >EsDenkform< verlangt aber nach einer ergänzenden Bestimmung der religiösen >LebensformRealisierung der Freiheit< in den symbolischen Formen verweist deshalb auf das breitere Problem, über die >Energien< und Formen des geistigen Lebens hinaus, die >Triebkräfte< und Gesetze des psychischen und sozialen Lebens zu berücksichtigen, durch deren Vermittlung allein von gelebter Freiheit gesprochen werden kann. Die unterschiedliche Stellung des mythischen und des religiösen Bewußtseins zum Todesproblem veranschaulichte die Notwendigkeit, auf psychologische Erklärungen zurückzugehen, wenn der Freiheitsgewinn in der Religion beschrieben werden soll. Entsprechend läßt sich anhand der Cassirerschen Bestimmung des religiösen Gemeinschaftsgefühls zeigen, daß die >Realisierung der Freiheit< an der bloßen Kategorialität dieses >Sozialideals< nicht ablesbar ist. Sie kann vielmehr nur dann in den Blick kommen, wenn die soziologisch bestimmbaren typischen und faktischen Umsetzungen dieses idealen >Gemeinschaftsgefühls< beobachtet werden. Cassirers Kulturphilosophie zeichnet sich dabei durch eine große Offenheit und Anschlußfähigkeit für psychologische und soziologische Methoden aus. Die Kulturbedeutung der Religion kann in dieser Hinsicht aber konkreter untersucht werden.

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Im Verhältnis zum Mythos läßt sich die Bedeutung der Religion zunächst darin sehen, daß sie die mythische Bildwelt als Ausdruck und Zeichen versteht, das sich auf eine letztlich undarsteilbare göttliche Realität bezieht. Religion und Mythos teilen die Dialektik zwischen Ausdruckswille und Ausdruckswelt, die aber in der Religion bewußt werden und produktiv gewendet werden kann. Die Religion gewährt zudem ein Gefühl für Individualität, das die erste Voraussetzung für ein Leben in persönlicher Verantwortung ausmacht. Insofern bereitet das religiöse Bewußtsein ein Freiheitsbewußtsein vor, das der Mythos nicht kennt. Dieses Freiheitsbewußtsein ist aber im zwanzigsten Jahrhundert von der Mythentechnik der Nazionalsozialisten transitorisch und regional außer Kraft gesetzt worden. Das religiöse Bewußtsein kann deshalb in Cassirers Theorie auch als ein >Hüter< des Mythos, der in seinem Sinne ja kein bloßes Relikt pristiner Gesellschaften, sondern eine politische Bedrohung darstellt, gesehen werden.

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Die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion V. Religion und Kunst

Nicht nur der Mythos, sondern auch die Kunst bietet sich als >Konkurrent< des religiösen Bewußtseins an. Wie die Religion, so hebt auch die Kunst sich von dem vorgängigen mythischen Bewußtsein ab, indem sie von der Funktionssphäre des emotionalen Ausdrucks zu der der Darstellung übergeht. Auch die Kunst stiftet in ihren Bildern ein eigenes Verhältnis von >Ich< und >Weltideellen Orientierungsrahmen< entwicklungslogisch zu lokalisieren, widerstreiten einander. Der Wille die Kultur als System zu verstehen, wendet sich hier als Zwang gegen die Phänomenbereiche. 1. Abstraktion und Intensivierung von Wirklichkeit

Das mythische Bewußtsein hat ein ungezügeltes, distanzloses Verhältnis zur Affektivität. Es ist gewissermaßen hingerissen von der Welt und weiß sich von seinen affektiv erlebten Sensationen und Situationen nicht dauerhaft zu distanzieren. Das erste Mittel des menschlichen Bewußtseins eine gewisse Freiheit gegenüber der andrängenden Außen- und Innenwelt zu erlangen, besteht in dem bildlich-sprachlichen Ausdruck der Affekte und Objekte. Das letzte Mittel zu diesem Zweck ist die Mathematik. Sie stellt die >reifsteprotowissenschaftliche< Weltverständnis um seine Objektivität bringt. Die Darstellungsleistungen der Religion und der Kunst nun liegen zwischen dem sinnlichen Ergriffensein des Mythos und dem reinen Begreifen der Wissenschaft. Daß diese mittleren Plätze auf der Skala des freien Bedeutens dennoch nicht als mittelmäßig zu betrachten sind, dafür sorgt die Ambivalenz der Extreme, die den Triumph der mathematischen Wissenschaften in anderer Hinsicht auch wieder als Verlust erscheinen läßt. Mit der Überwindung des Mythos hat die Mathematik auch dessen Reichtum an anschaulicher, emotional besetzbarer Wirklichkeit hinter sich gelassen. »Für diesen Triumph der wissenschaftlichen Vernunft müssen wir freilich einen hohen Preis bezahlen. Wissenschaft bedeutet Abstraktion, und Abstraktion ist immer eine Verarmung der Wirklichkeit.«517 Der Kunst wird nun von Cassirer zugestanden, daß sie einerseits die emotionale Wirklichkeit der Anschauungswelt aufnimmt, der der Mythos distanzlos verhaftet bleibt, andererseits aber diese Affektivität in der Funktion des reinen Bedeutens, die sonst der Mathematik und Technik vorbehalten ist, zu etwas benutzt, das Cassirer >Intensivierung von Wirklichkeit< nennt518. Kunstwerke wecken zum Beispiel Gefühle. Allerdings bestehe der Sinn des Kunstwerkes nicht in dieser einfachen Fähigkeit Affekte auszulösen, sondern in der Leistung die typische Form solcher Affekte - insbesondere im Drama - zur Darstellung zu bringen. »Nicht der Grad der Ansteckung, sondern der Grad der Intensivierung und Erhellung ist der Maßstab für die Vortrefflichkeit von Kunst.«519 Durch den Bezug auf die reinen Formen der Wirklichkeit schafft die Kunst eine Ordnung der Welt, die nicht extensiv - wie die naturwissenschaftliche Erkenntnis - sondern intensiv ist. Die Kunst nehme dabei dem Gefühlsleben seinen zwanghaften, überwältigenden Zug520, ohne die 517 Ebd. 518 Vgl. a.a.O., S.221: »Sprache und Wissenschaft sind Abkürzungen der Wirklichkeit; Kunst ist Intensivierung von Wirklichkeit. Sprache und Wissenschaft beruhen auf ein und demselben Abstraktionsvorgang; die Kunst hingegen könnte man als kontinuierlichen Konkretionsprozeß beschreiben.« 519 A.a.O., S.228. 520 Vgl. a.a.O., S.246: »Im ästhetischen Erleben machen wir eine gründliche Verwandlung durch. Die Lust selbst ist hier kein bloßer Affekt mehr, sie wird zu einer Funktion.«

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Bedeutung der Emotionen beiseite stellen zu müssen. Das Wissen, das die Kunst darin gewährt, unterscheidet sich von dem naturwissenschaftlichen Wissen fundamental. Die >idealen< Formen, die der Künstler in der sinnlich-anschaulichen Welt entdeckt, sind etwas anderes als die Gesetze des Wissenschaftlers. Während sich dieser die anschauliche Wirklichkeit so elementarisiert und zurechtmacht, daß sie mathmatisch auf den Zielbegriff des >SeinsWirklichkeit< und >Objektivität< verrechenbar wird, macht jener gerade die Form des sinnlichen >Erscheinens< in anschaulichen Formen selbst zum Thema. Der Künstler weiß seine Bilder als >Scheinens realissimum< gegenüber, als notorisch unsachgemäß und unangemessen. Aber der entscheidende Unterschied zwischen Religion und Kunst liege nun darin, daß das Problem der >ExistenzAngemessenheit< und >ObjektivitätBild< und >Sache< einklagen, es kommt doch nie umhin, über die Bedeutung seiner Gegenstände hinaus auch noch nach deren substantialistischem >Existenzgrund< zu fragen. Das religiöse Bewußtsein verläßt zwar die magische Vorstellungsart- die den Unterschied zwischen Sein und Schein nicht kennt-, bleibt aber in der Verwendung dieser Unterscheidung an das ontologische Substanzdenken gebunden. »Die religiöse Auffassung strebt von dieser ersten magischen Ansicht zu immer reinerer Vergeistigung fort. Und doch sieht auch sie sich immer wieder an einen Punkt geführt, an dem die Frage nach ihrem Sinn- und Wahrheitsgehalt in die Frage nach der Wirklichkeit ihrer Gegenstände umschlägt, an dem sich, hart und schroff, das Problem der >Existenz< vor ihr aufrichtet.«521 Das >Bild< bleibt so dem transzendenten >Sinn< immer untergeordnet, das religiöse Bewußtsein kommt deshalb in keiner Darstellung zur Ruhe. In der Kunst dagegen werde diese Adäquanz von >Bild< und >Sinn< durchaus erreicht, weil der Sinn des Dargestellten in der Kunstschöpfung letztlich mit dem darstellenden Bewußtsein koinzidiert: »das Bild wirkt jetzt nicht mehr als ein Selbständig-Dingliches auf den Geist zurück, sondern es ist für ihn zum reinen Ausdruck der eigenen schöpferischen Kraft geworden.«522 Daß diese letzten Worte in einem dreihundertseitigen Werk zu Mythos und Religion der Kunst gelten, läßt aufhorchen. Soll hier die Kunst als symbolische Form empfohlen werden, die die innere 521 Ders., PhsF II, 5.311. 522 Ebd.

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Spannung und Unausgeglichenheit der Religion auszugleichen vermag? Einiges deutet durchaus darauf hin. Für das mythisch-religiöse Bewußtsein gelte, daß der Sinn einer Darstellung mit ihrem sinnlichen Ausdruck in steter Spannung stehe. »Bald ist der ideelle Gehalt in den Bildgehalt eingeschmolzen und in ihm gleichsam versunken; bald versucht er, sich von dem sinnlich-bildliehen Ausdruck zu befreien, um seiner Gewalt doch stets von neuem zu unterliegen.«523 Erst in der künstlerischen Auffassung sei dieser Streit versöhnt. Statt seiner werde nun ein »reines Gleichgewicht«524 der widerstrebenden Funktionen des Ausdrucks und der Darstellung erlebt. »In diesem Gleichgewicht besteht das Leben des ästhetischen Bewußtseins wie in jenem Gegeneinander das Leben des mythisch-religiösen Bewußtseins besteht.«525 In dieser Formulierung Cassirers erscheinen nun Kunst und mythisch-religiöses Bewußtsein als wesensmäßig verschiedene und deshalb konkurrenzfrei nebeneinander stehende geistige Kräfte. Ein konkurrierendes Verhältnis wird aber zwölf Zeilen später doch wieder behauptet, wenn Cassirer die Kunstsprache im Unterschied zur Wissenschaftssprache behandelt. Auch gegenüber der wissenschaftlichen Sprache »zeigt sich die Kunst als die Erfüllung dessen, was in anderen Gebieten des Geistes, in anderen Richtungen symbolischer Formung als Forderung enthalten ist.«526 Man muß das zuvor besprochene mythisch-religiöse Bewußtsein wohl zu diesen >anderen Gebieten des Geistes< rechnen. Die >ErfüllungKunstsprache< der mathematischen Zeichen der Fall ist, aber der Dichtung geht deshalb die emotionale Bedeut523 Ders., Der Begriff der symbolischen Form, S.190. 524 Ebd. 525 Ebd. 526 A.a.O., S.191. 527 Ebd. 528 Ders., Form und Technik, a.a.O., S.86.

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samkeit des Wortes nicht verloren. »Mitten in der höchsten Bestimmtheit objektiver Darstellung bewahrt jetzt der Laut diese seine innere Bedeutsamkeit.«529 Bei allem Freiheitsstreben und Freiheitsgewinn diese emotionale >Bedeutsamkeit< der Gestaltung zu bewahren, scheint deshalb die oben zitierte immanente Forderung der verschiedenen Richtungen der symbolischen Formung zu sein. Es ist höchst auffällig, daß Cassirer in seiner Bestimmung der Funktion der Kunst eine ganz andere Weise der Realisierung der Freiheit behauptet, als sie in den symbolischen Formen der Technik, der Wissenschaft und der Religion zur Sprache kam. Hier wurde der letztlich ethisch-kulturelle Freiheitsgewinn darin gesehen, daß sich das Bewußtsein von der »Enge und Dumpfheit des sinnlichen Bewußtseins«530 löst, indem es die mythosaffine Ausdrucksfunktion zugunsten der Darstellungs- und Bedeutungsfunktion depotenziert. Denn der bloße Ausdruck bleibt noch überall der Sinnlichkeit und Emotionalität verhaftet. Die Freiheit der künstlerischen symbolischen Gestaltung hingegen soll gerade darin ihren Sinn und ihr Wesen haben, die verschiedenen symbolischen Funktionen des Bewußtseins in ein harmonisches, ihrer Verschiedenheit zu gleichen Teilen Rechnung tragendes Verhältnis zu bringen. Mit dem Terminus der emotionalen >Bedeutsamkeit< wird geradezu ein Konkurrenzbegriff zur höchsten Kulturleistung der >reinen Bedeutung< eingeführt, ohne daß das Verhältnis zwischen den emotionalen und logischen Funktionen des Bewußtseins als geklärt gelten dürfte. Es braucht hier nicht weiter auf die latente Aporetik solcher theorieinternen Spannungen eingegangen werden531, Denn sehr viel interessantere Konsequenzen zeitigt diese >Anomalie< der symbolischen Form der Kunst, wenn sie in ein Verhältnis zu Cassirers Bestimmung der Religion gesetzt wird. Die Erfindung individueller, personaler Göttergestalten scheint nicht der einzige Bezugspunkt zwischen Religion und Kunst und nicht die einzige Leistung der Kunst für die Religion zu sein, vielmehr ist zu vermuten, daß sich der Cassirersche Religionsbegriff nur 529 Ders., WWS, S.191. 530 Ders., WWS, S.199. 531 Die innere Widersprüchlichkeit und Unklarheit der Cassirerschen Unterscheidung von Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion begegnete schon oben im Zusammenhang des Begriffes der >symbolischen PrägnanzBedeutsamkeit< verweist darauf, daß die Repräsentation von Gedanken und Dingen (Darstellung) ebenso wie die Repräsentation von gesetzlichen Beziehungen (Bedeutung) als menschliche Ausdrucksphänomene verstanden werden müssen. Sie gehen insofern nie im reinen, allgemeingültigen >Bedeuten< auf, sondern sind stets auch individuell >bedeutsamGeistes< keinem >ideellen Orientierungsrahmen< restlos fügen möchte.

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deshalb so schiedlich von seiner Bestimmung der Kunst abgrenzen läßt, weil er zu eng ist. 2. Kritik des Cassirerschen Religionsbegriffes Das religiöse Bewußtsein wird von Cassirer als >unversöhntes< Bewußtsein dargestellt, das durch die Einsicht in die >Uneigentlichkeit< seiner Symbolwelt in eine ewige Unruhe versetzt ist und schließlich den unerfüllbaren Wunsch verspüren muß, diese Bilder gänzlich hinter sich zu lassen. In der Konsequenz werden Prophetie und Mystik, ihrer ikonoklastischen Tendenz wegenm, von Cassirer religionsgeschichtlich besonders ausgezeichnet. Der Zielbegriff der Religion wird restringiert auf die Alternative der sprachlosen Innigkeit eines Gottesverhältnisses einerseits und der geschichtsrelevanten Akzeptanz des göttlichen Willens, mit den Menschen das Heil zu verwirklichen, andererseits. Die Freiheit der Religion ist hier immer die Freiheit von den »sichtbaren, greifbaren und hörbaren Erscheinungen«m, denen die Kunst ihre ideale Ordnung gibt. Daß die christliche Religion gleichwohl faktisch in ihrer Anthropologie und Kosmologie überall auf das Universum des sinnlich Anschaubaren bezogen ist, wird unterschlagen. Alle Phänomene, die der Bestimmung der Religion als >Gefühl und Anschauung des Universums< (Schleiermacher534) ihre eigene Wahrheit gegenüber Wissenschaft und Moral verbürgen, werden von Cassirer der Kunst zugerechnet. »Die Wissenschaft gibt uns Ordnung im Denken; die Moral gibt uns Ordnung im Handeln; die Kunst gibt uns Ordnung in der Auffassung der sichtbaren, greifbaren und hörbaren Erscheinungen.«535 Diese Ansicht ist mit Schleiermacher dahingehend zu ergänzen, daß gerade die Religion die Welt nicht in Ursache-Wirkungszusammenhänge oder Zweck-Mittelrelationen zerlegt, sondern in ihrer geistigen Sicht der Gesamtheit der Erscheinungen eine spezifisch religiöse Bedeutsamkeit zu verleihen weiß. Religion und Kunst teilen sich in dieser Hinsicht die Aufgabe, die abstraktionsbedingten Verluste der anderen symbolischen Formen zu kompensieren und die Emotionalität des Menschen als >Bedeutsamkeit< weiterhin zu Ehren kommen zu lassen. Schleiermachers >Reden< gelten Cassirer als ein Beispiel für eine religiöse Sichtweise, die die mythische Auffassung vom unmittelbar sinnlichen Erscheinen der Gottheit zugunsten der freien 532 Cassirer verweist in PhsF II, S.287f. auf Jes 44, 9ff. 533 Ders., VdM, S.257. 534 Vgl. Schleiermacher, Reden. Zum Verständnis des Schleiermachersehen Gefühlsbegriffs vgl. Wagner, Gefühl und Gottesbewußtsein. 535 Ebd.

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symbolisch-religiösen Bezugnahme auf Erscheinungen aufgegeben hat. »Denn die religiöse Bedeutsamkeit eines Geschehens hängt jetzt nicht mehr von seinem Inhalt, sondern rein von seiner Form ab: nicht was es ist und woher es unmittelbar stammt, sondern der geistige Aspekt unter den es tritt, die >Beziehung< auf das Universum, die es im religiösen Gefühl und im religiösen Gedanken erhält, gibt ihm seinen Charakter als Symbol.«536 Diese für Cassirer >höchste< Einsicht in das Wesen der Religion ist jedoch nicht auf die Entdeckung des religiösen Bewußtseins als symbolischer Funktion beschränkt. Die Kulturbedeutsamkeit der Religion erklärt sich unter den Schleiermachersehen Voraussetzungen gerade aus der eigentümlichen Verbindung, die das religiöse Bewußtsein zwischen der von ihm inaugurierten >Totalität des Erscheinenden< und dem Gefühlsleben des Menschen herstellt53 7. Seine emotionale Bedeutsamkeit hält die religiöse Vorstellungswelt, die sich tatsächlich auf die Allheit des Geschehens zwischen Anfang und Ende der Welt und des einzelnen menschlichen Lebens bezieht, in Kraft. In ein konfliktreiches Verhältnis zwischen >Sein< und >ScheinGemachteUneigentlichkeit< an der religiösen Symbolwelt kann gewußt werden, ihrer emotionalen Bedeutsamkeit tut das, wie auch immer es um die theologische oder allgemeinwissenschaftliche Wahrheit dieser Symbole bestellt sein mag, in Schleiermachers Sicht keinen Abbruch. Wenn es stimmt, daß die Spannung zwischen >Sinn< und >Bild< im religiösen Bewußtsein entweder garnicht unmittelbar als bedeutungsvoll, sondern als äußerlich und lediglich religions-philosophisch vermittelt empfunden werden muß, oder aber der Alternative Raum läßt, diese Frage nach der letzten >Wirklichkeit< der religiösen Symbolwelt aus emotionalen Motiven bewußt zurückzustellen, dann findet sich in Cassirers Systematik kein Ort mehr um dieses religiöse Bewußtsein als eigenständige symbolische Form darzustellen. Im ersten Falle könnte nur noch von Mythos die Rede sein, im zweiten Falle wäre von Kunst zu sprechen. Das von Cassirer auf ambivalente Weise als Konkurrenz und ideelle Überbietung stilisierte Verhältnis zwischen Religion und Kunst bleibt in 536 Ders., PhsF II, S.310. 537 Genauer gesagt ist das religiöse Gefühl »durch eine vom fühlenden Subjekt differente objektive Instanz vermittelt« (Wagner, Gefühl und Gottesbewußtsein, S.55.), die als »absolute Einheit des Lebens« (a.a.O., S.54.) ausgesagt werden kann.

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einem klar benennbaren Moment unscharf. Cassirer hat keinen hinreichenden Begriff davon, daß das religiöse Bewußtsein mit >gebrochenen MythenAngegangensein< andererseits charakterisiert werden. Diese emotionale Bedeutsamkeit hat aber wiederum auch nichts mit einem mythischen >SchreckenUngemeinenIntensivierung< der Wirklichkeit bezogen. Weihnachten, um ein Beispiel zu nennen, ist als gebrochener Mythos eben auch - und nicht bloß an letzter Stelle- ein Feiertag, eine mehr oder weniger kunstvolle >Intensivierung< des Lebens im Fest. Die Fixierung in Cassirers Religionstheorie auf ikonoklastische Typen von Religiosität erhält aber in einem anderen Zusammenhang wieder 538 Die von Tillich vorgeschlagene Unterscheidung der ungebrochenen von den gebrochenen Mythen erlaubt eine klarere Zuordnung von Mythos und Religion, als die Cassirersche Unterscheidung der symbolischen Funktionen, weil sie anzugeben vermag, auf welche Weise zumindest ein Aspekt des mythischen Bewußtseins auch in der Religion in Kraft bleibt, nachdem das mythische Bewußtsein als solches überwunden ist. Dieser Aspekt der >emotionalen Bedeutsamkeit< scheint freilich eher durch die Tillichsche Rede von einem >unbedingten Angegangensein< repräsentiert zu werden, als durch den Bezug auf die paradoxe Anschauung des >Unbedingt-TranszendentenUnvordenklichkeit des SeinsSein selbst< wiederkehrt, das in symbolischer Transparenz angeschaut werden können soll, verdankt sich einem substanzontologischen Denkmuster, das von Cassirer mit guten Gründen verabschiedet worden ist. Gleichwohl zeichnet es die in vieler Hinsicht einsame Größe Tillichs aus, nicht nur das Thema des mythischen Bewußtseins, sondern auch den Sinn für die psychologischen lmplikationen dieses Themas in der Theologie wachgehalten zu haben. Vgl. zu Tillichs Cassirerkritik v.a. Tillich, Das religiöse Symbol, a.a.O., S.202-206 und Ders., Probleme des Mythos, in: ThLZ 1924 Nr.6, Sp.115f. 539 Das in den siebziger Jahren neu erwachte Interesse an der Mythologie richtet sich auch insgesamt weniger auf eine Rehabilitierung des schlechthin Irrationalen, wie aufgeklärte Geister befürchten könnten, als auf die emotionale Bedeutsamkeit gebrochener Mythen, also der Religion. Sie gilt als Beispiel und Vorbild für einen Umgang mit dem eigenen Leben, der nicht nur kognitiv-zweckrational, sondern darüberhinaus emotional sinnvoll ist. Vgl. Timm, Vom An-Sinnen des Ursprungs, S.96: »Wer am Ende des 20. Jahrhunderts der religionskritischen Aufklärungsorthodoxie [... ] nicht abschwören möchte, sich gleichwohl aber überzeugt zu haben glaubt, daß dem spätkapitalistischen Diffusionsprozeß etwas lntegratives entgegengestellt werden muß, der spricht von der Gegenwärtigkeit des Mythos, um incognito den Nachholbedarf an kulturrelevanter Theologiebildung aufarbeiten zu können.«

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einen positiven Sinn. Denn die Kulturbedeutung der Religion wird von Cassirer mit der Entwicklung eines ethischen Bewußtseins zusammengebracht, das den modernen euroamerikanischen Individualismus und Humanismus kennzeichnet. Nachdem nun das Verhältnis der Religion zu Mythos und Kunst diskutiert wurde, bleibt als Letztes noch ihr Bezug auf die allgemeine Kulturnorm Cassirers darzustellen. 3. Resümee Das Verhältnis von Religion und Kunst wird von Cassirer ambivalent beschrieben. Einerseits unterscheiden sich beide symbolischen Formen in der Art und Weise, wie in ihnen die symbolische Funktion der Darstellung zur Geltung kommt. Denn das religiöse Bewußtsein erkennt seine Darstellungen ihrem transzendenten >Sinn< gegenüber als notorisch unangemessen. Die Kunst hingegen findet gerade in dem >Schein< ihrer Bilder deren immanenten Sinn. Insofern sich Religion und Kunst hierin wesentlich unterscheiden, kommen sie konkurrenzlos nebeneinander zu stehen: Gerade wegen dieser Wesensverschiedenheit können sie nicht als funktionale Äquivalente gelten. Gleichwohl wird die Kunst als Erfüllung einer immanenten Forderung aller symbolischen Formen angeführt. Denn während Religion und Wissenschaft dem Menschen Freiheitsgewinne ermöglichen, indem sie ihn der sinnlichen Anschauung und der emotionalen Ausdruckswelt entfremden, leiste die Kunst Vergleichbares, ohne jedoch diesen Preis zahlen zu müssen. Die Kunst allein könne in der >emotionalen Bedeutsamkeit< ihrer Darstellungen vor der Forderung bestehen, die Freiheit nicht nur abstrahierend und >spiritualisierend< zu Lasten der sinnlichen Anschauungswelt zu realisieren. Hier ist nun der Punkt, um Cassirers Unterscheidung zwischen Religion und Kunst kritisch zu hinterfragen. Die klare Aufteilung der funktionalen Präferenzen zwischen beiden symbolischen Formen gelingt nur, weil Cassirer die Religionsgeschichte in den beiden Formen der >Mystik< und der >Prophetie< gipfeln läßt. Die ikonoklastische Tendenz dieser Religionsformen legt die Spannung zwischen religiösem >Sinn< und religiösem >Bild< nahe, die Cassirer dem religiösen Bewußtsein als ganzem zuschreibt. Diese Ansicht ist aber mit Schleiermacher dahingehend zu korrigieren, daß >Gefühl und Anschauung des Universumssinnbildliche< und gebrochen mythische Form des religiösen Bewußtseins, gerade ihr positives Spezifikum ausmacht. Abstraktionsbedingte Entwicklungsverluste können der Religion in dieser Hinsicht nicht nachgesagt werden. Sie scheint in ihrer Bildwelt vielmehr ein Beispiel für die Ausdruck und

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Darstellung vermittelnde >Bedeutsamkeit< zu sein, die Cassirer der Kunst vorbehält. Die Kulturbedeutung der Religion besteht damit zum einen darin, daß sie die emotionsgebundenen Ausdrucksbedürfnisse des Menschen so in ihre Darstellungsleistungen aufnimmt, daß die Regression in mythische Selbst- und Weltverständnisse vermieden werden kann. Zum anderen klagt die Religion die grundsätzliche Kritisierbarkeit und Überholbarkeit religiöser Gestal-tungen ein. Schließlich ist- gegen Cassirers Ansichtder christlichen Religion zu attestieren, daß ihre Ablösung vom Mythos und ihr kritisches Selbstbewußtsein nicht in jedem Fall durch einen Verlust an emotionaler Bedeutsamkeit erkauft sind.

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VI. Humanismus und Religion Nachdem die Kulturbedeutung der Religion in ihrem Verhältnis zu den symbolischen Formen des Mythos und der Kunst diskutiert wurde, ist nun zu fragen, wie das religiöse Bewußtsein vor Cassirers Kulturnorm zu stehen kommt. Welchen Beitrag leistet die Religion zu der >fortschreitenden Selbstbefreiung des MenschenWesen< der Religion bliebe hier zu abstrakt, weil die Frage nach ihrer Kulturbedeutung in dieser Perspektive nicht mehr nur die Funktion der Religion, sondern auch ihre faktische, konkrete Entwicklung betrifft. Es wird deshalb auf Cassirers Verständnis der jüngeren Religionsgeschichte einzugehen sein. Dem weitestgehend synchronen Funktionsvergleich der symbolischen Formen des Mythos, der Religion und der Kunst tritt so der diachrone Bezug auf die Religionsgeschichte zur Seite. Die besondere Form der Selbstbefreiung, die die Religion der Menschheit gewährt, kommt nach Cassirer erst in den monotheistischen Religionen voll zum Zuge. In ihnen konstituiert sich »ein neues Freiheitsideal«540, in dem die »Form einer universalen ethischen Sympathie«54t die »magische Solidarität des Lebendigen«542 ablöst. Diesem neuen Weltverhältnis entsprechen neue Lebensformen, die den Zwang des mythischen Tabusystems hinter sich zu lassen vermögen. Das Tabusystem, als erstes soziales - >rechtliches< und >politisches< - Ordnungsgefüge, das die Menschheit sich schuf, erlaubt den Menschen keine positive, individuelle Freiheit. In ihm kann jede Übertretung eines der unzähligen Verbote Folgen- >VerunreinigungUniversum< insgesamt haben. Handlungen Einzelner sind grundsätzlich kollektiv zurechenbar. »In diesem System gibt es keinerlei Andeutung irgendeiner individuellen Verantwortlichkeit.«543 Die monotheistischen Religionen etablieren dagegen ein >Gefühl für IndividualitätRealisierung der Freiheit< dar, die dem Humanisten Cassirer den Sinn des Kulturlebens insgesamt verbürgt. In der Geschichte der Entdeckung des Individuums und der persönlichen Verantwortung hat das Christentum seinen prominenten Platz. Oder muß es nicht vielmehr heißen: seinen prominenten Platz gehabt? Die Frage drängt sich mit Vehemenz auf, weil Cassirer über die Kulturbedeutung der Religion in der Gegenwart nirgends ein Wort verliert. Er spricht im Gegenteil davon, daß über das in der Reformation religiös festgestellte Freiheitsgefühl hinaus eine »tiefere und allgemeinere Fassung des Freiheitsbegriffes«546 notwendig war, um die exklusive Bindung des menschlichen Freiheitsverständnisses an das theoretische Bewußtsein einerseits (Wissenschaft) und das Glaubensbewußtsein andererseits (Dogmen), zu überwinden. Im Mittelalter waren Glaube und Wissenschaft in einem »autoritativen Lehr- und Lebenssystem«547 vereint. In der Brückenzeit der Renaissance und Reformation traten diese »schöpferischen geistigen Energien«548 aber auseinander und gegeneinander, um erst in den folgenden Jahrhunderten, auf der Basis eines neuen Freiheitsbegriffes ein Verhältnis zueinander zu finden, auf dem »ihr neuer geistiger Zusammenhang sich knüpfen und wahrhaft begründet werden konnte.«549 Diese neue Freiheit, die den geistigen Hegemoniebestrebungen der Kulturbereiche ein hierarchiefreies plurales Zusammenwirken autonomer symbolischer Formen entgegensetzen konnte, sei keine Errungenschaft des religiösen Bewußtseins mehr. Denn »diese Aufgabe weist in ihrer Gesamtheit über die Grenzen des religiösen Prinzips und der religiösen Fragestellung überhaupt hinaus.«550 Es verweist, wie sich zeigen wird, auf den Gedanken der Toleranz. Es ist nun zunächst die Bedeutung der Religion für die Entwicklung des Freiheitsbewußtseins in Renaissance und Reformation- bei Nikolaus von Kues und Luther- darzustellen (1). In einem zweiten Schritt soll gefragt werden, ob Cassirer in einem anderen Zusammenhang dem religiösen Bewußtsein nicht über seinen Spitzenbegriff der >Mystik< hinaus doch noch eine Weiterentwicklung zubilligt, die in der von den religiösen 545 A.a.O., S.168. 546 Ders., FuF, S.19. 547 A.a.O., S.18. 548 A.a.O., S.19. 549 Ebd. 550 A.a.O., S.18.

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Denkern der Aufklärung vertretenen Toleranz und Glaubensfreiheit besteht (2).

1. Die Idee des Individuums und die Religion Cassirer fühlt sich in seinen Studien zur Renaissance dem klassischen Werk Burckhardts55t verpflichtet. Das Zeitalter der Renaissance sei als Befreiuungsprozeß zu verstehen, der dem europäischen Menschen einen neuen Sinn für Individualität gegeben habe. Der Aufwertung der Subjektivität des Einzelnen entspreche dabei zugleich eine an Objektivität interessierte Betrachtung der politischen und natürlichen Welt. Burckhardt habe damit aber nur die »eine Seite des großen Befreiungsprozesses geschildert, in dem der moderne Mensch zum Bewußtsein seiner selbst heranreift.«552 Das Aufkommen eines >freien weltlichen Bildungsideals< sei eben nicht nur als kritische Ablösung von der mittelalterlichen >Katholizität< zu verstehen553, sondern müsse gleichermaßen als Entwicklung des religiösen Bewußtseins in seiner Kontinuität mit dem mittelalterlichen Denken begriffen werden. Nikolaus von Kues repräsentiere gerade die gelungene Vermittlung zwischen religiösem Bewußtsein und weltlichem BildungsideaL »Aus dem Zentrum des Religiösen selbst vollbringt er die >Entdeckung der Natur und des Menschen< und in diesem Zentrum sucht er sie zu befestigen und zu verankern. Der Mystiker und Theologe, der Cusanus ist und bleibt, fühlt sich Welt und Natur, fühlt sich der Geschichte und der neuen weltlich-humanen Bildung gewachsen.«554 Wie der Versuch das >weltliche< Humanitätsideal der Renaissance allein aus der Abkehr von dem vorgängigen mittelalterlich-religiösen Denken zu verstehen, sich einer Einseitigkeit schuldig machen würde, so wäre gleichermaßen der Fortgang der Geschichte über Renaissance und Reformation hinaus nicht verständlich, wenn auch hier die kontinuierliche Entwicklung des religiösen Bewußtseins unbeachtet bliebe. Die italienische Renaissance habe ein neues politisches Bewußtsein, die französische Renaissance ein neues ästhetisches Selbstverständnis des Menschen erreicht555. Die Renaissance in Deutschland dagegen erstellt das »Ideal einer freien Laienreligion«556, das in der Reformation zum Zentrum des Interesses wird. Luthers einseitige Konzentration auf die religiöse Sphäre 551 Vgl. Burckhardt, Renaissance. 552 Cassirer, IuK, S.37. 553 Vgl. ders., FuF, S.l. 554 Ders., luK, S.37. 555 Vgl. ders., FuF, S.l-6. 556 A.a.O., S.6.

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drohte nun zwar die Weltliches und Geistliches umspannende Einheit des deutschen Humanismus zu zerstören. Gleichwohl wurde der reformatorische Freiheitsbegriff zu der wirkmächtigsten Form des Renaissancedenkens, die den geschichtlichen Fortgang über das Zeitalter der Reformation hinaus bestimmte. »Die neue Fassung des Freiheitsbegriffs und des Persönlichkeitsbegriffs, die von der Reformation in der ausschließenden Richtung auf das Religiöse festgestellt wird, weist doch zugleich über das eigentümliche Gebiet des Religiösen hinaus: sie enthält eine Frage in sich, die, im Fortgang der Entwicklung, jede besondere geistige Grundrichtung sich selbständig zu stellen und selbständig zu beantworten hatte.«557 Die epochalen Umstellungen, die in die >Neuzeit< oder >Moderne< führen und die von Cassirer mit einem weltlichhumanen Individualitätsideal in Verbindung gebracht werden, sind damit- von ihrem Beginn im Spätmittelalter bis zu ihrem vorläufigen Ende in der Reformationszeit nicht nur als externe Kritik des vorgängigen religiösen >mittelalterlichen< Bewußtseins zu verstehen; ihr motivierendes Kernproblem muß vielmehr in der internen Entwicklung des religiösen Bewußtseins selbst gesucht werden. Der Gedanke der Individualität sei in der Form, in der er das Renaissancedenken trug, von Nikolaus von Kues an dem religiösen Gegensatz des Endlichen zum Unendlichen entwickelt worden. Die Differenz des Absoluten und Bedingten sei von Cusanus aber nicht in herkömmlicher Weise dogmatisch-metaphysisch aufgefaßt worden. Er thematisiere sie vielmehr in Relation zum menschlichen Erkenntnisvermögen. Seine Frage gelte nicht unmittelbar dem Verhältnis Gottes zu den Menschen, sondern den menschlichen Bedingungen der Möglichkeit, von Gott zu wissen. »Diese Stellung zum Erkenntnisproblem charakterisiert Cusanus als den ersten modernen Denker.«558 Die >Modernität< des Cusanus stellt Cassirer zum einen in Bezug auf die wissenschaftliche Erkenntnis, zum anderen im Verhältnis zum Individualitätsgedanken dar. Die Operationsweise des menschlichen Intellekts sei nach Cusanus auf die diskursive Vergleichung homogener Größen in einer endlichen Anzahl von Denkschritten angewiesen. Mit dem Begriff des Unendlichen werde aber gerade auf eine dem endlichen diskursiven Fortschritt der Gedanken heterogene Größe abgehoben, die deshalb von diesem nicht wirklicherfaßt werden könne559, Die Wahrheit des Unbedingten und die bedingte Einsicht verhielten sich dabei zueinander wie ein Polygon zum 557 A.a.O., S.7. 558 Ders., luK, S.lO. 559 Vgl. a.a.O., S.lOf.

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Kreis, mit dem es den Mittelpunkt und die Seitenschnittpunkte teilt. Jede Vermehrung der Winkel im Vieleck nähert dieses der Kreisgestalt zwar an, führt aber niemals zur Kongruenz von Kreis und Polygon560. Die aus der Unerkennbarkeit Gottes resultierende Selbstbescheidung in der >docta ignorantia< sei nun einmal als Negation von Erkenntnismöglichkeiten zu verstehen, ein andermal aber als positive Bejahung eines virtuell unendlichen Erkenntnisfortschritts. Bezogen auf das Unbedingte gilt die menschliche Erkenntnis als unzureichend. Der innerweltlichen empirischen Erkenntnis wird damit aber zugleich ein eigener, durch keine externen, dogmatischen Vorgaben begrenzbarer Erkenntnisweg gewiesen. Die >docta ignorantia< bewährt sich so als bewußter Erkenntnisverzieht und bewußter Erkenntniswille zugleich. »Mit Rücksicht auf die Gotteslehre besagt dieser Begriff den Gedanken des wissenden Nichtwissens; mit Rücksicht auf die Edahrung, auf die empirische Erkenntnis, besagt er den Gedanken des nichtwissenden Wissens.«56t Die empirische Erkenntnis sei dabei in dem Sinne >nichtwissenddocta ignoratia< des Nikolaus von Kues also bewußt im Sinne der Kantischen Vernunftkritik: »Er zeigt, Kantisch gesprochen, daß unser Wissen zwar Grenzen hat, die es nie und nimmer zu übersteigen vermag, aber daß ihm innerhalb des Gebietes, das ihm zugewiesen ist, keine Schranken gesetzt sind - daß es sich, in der Andersheit selbst, frei und unbehindert nach allen Seiten ausdehnen kann und soll.«562 Der entscheidende Unterschied zu Kant besteht aber offenbar darin, daß hier die Autonomie des innerweltlichen Strebens nach Wissen in ihrem Verhältnis zum Gottesbegriff aus dem religiösen Bewußtsein heraus zu begründen versucht wird. Auch die Legitimation des Humanitätsgedankens und des Gedankens der Individualität wird zunächst aus dem vorgängigen religiösmystischen Gedanken der Individualität entwickelt563. Die Vermittlung zwischen dem weltlichen Selbstbildungsanspruch der Humanität und der religiösen Anthropologie des Geschöpfs wird hier aber nicht über den Gedanken der >docta ignorantiadocta ignorantia< die Selbstbescheidung des Menschen in die Grenzen seines Erkenntnisvermögens und die Rechtfertigung seiner autonomen Wissensproduktion lag, so findet sich in der Christusidee die logische Differenz zwischen Gott und Mensch ebensowohl negativ bezeichnet, wie durch den Gedanken der humanitas auch positiv vermittelt. Das Wissen um die Differenz zwischen dem Absolutem und dem Menschen schließt als Wissen schon eine Überbrückung des Hiatus in sich. Das Wissen der Differenz schließt ein Wissen um beide Seiten des Unterschiedenen ein. Die Feststellung, das Unendliche nicht fassen zu können, ist keine bloße Negation, sondern selbst eine positive Erkenntnis. Die deshalb logisch vorauszusetzende Vermittlung von Endlichem und Unendlichem dürfe nur nicht im Intellekt des einzelnen Menschen gesucht werden. Nicht das empirische Selbstbewußtsein, wohl aber das Wesen der Menschheit als solcher sei mit dem Unendlichen in Christus eins. »An Stelle des empirischen Selbst muß vielmehr ein allgemeines Selbst, - an Stelle des Menschen als einer individuellen Sonderexistenz muß der geistige Gehalt der Menschheit treten. Und dieser geistig universelle Gehalt des Menschentums ist es, den Cusanus in Christus beschlossen sieht.«566 Dabei werde nicht einfach das Wesen der Menschheit zu einer außerweltlichen, •göttlichen< Größe; der Makrokosmos der natürlichen Welt werde im Gegenteil als Ganzer auf den Mikrokosmos des Menschen bezogen gedacht. Die Natur des Menschen umgreift die Naturen der Dinge, aber nicht das Göttliche567 • Die >Komplexion< zwischen dem Unendlichen und dem Wesen der Menschheit in Christus schließt deshalb die natürliche Welt, vermittelt über den Menschen, mit ein. »Die Einigung hat sich nicht nur zwischen Gott und dem Menschen, sondern zwischen Gott und allem Geschaffenen vollzogen: der Abstand zwischen beiden ist gefüllt, indem zwischen das schaffende Prinzip und das Erschaffene, zwischen Gott und die Kreatur, der Geist der Menschheit, die humanitas, als ein zugleich Schaffendes und Erschaffenes tritt.«568 Die theologisch-dogmatische Versöhnung des Humanitätsgedankens mit dem religiösen Bewußtsein habe so zwar der Wissenschaft und der Idee der Menschheit die Rechtfertigung gegeben; den vollen Begriff der Humanität zu fassen, 564 Vgl. a.a.O., S.40. 565 Ebd. 566 A.a.O., S.41. 567 Vgl., a.a.O., S.42. 568 Ebd.

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sei sie jedoch nicht imstande gewesen. Die dogmatische, an Augustin geschulte Denkart unterdrücke nämlich den mit dem Humanitätsideal unauflöslich verbundenen Gedanken der Freiheit als Selbstgesetzgebung. »Das Ideal der Humanität schließt das Ideal der Autonomie in sich; und je mehr dieses letztere an Stärke gewinnt, umsomehr sprengt es den religiösen Kreis, in den Cusanus und in den die Florentinische Akademie den Humanitätsbegriff zu bannen suchte.«569 Die Beschränkung des Humanitätsideals liegt dabei weder bei Augustin, noch bei Cusanus in einer Abschwächung des Gedankens der Individualität selbst. Augustin wird von Cassirer geradezu als klassischer Gewährsmann des Subjektivismus angeführt, der die Descartsche Fassung dieses Gedankens vorwegnimmt57o. Cassirer denkt vielmehr an die Augustinische Erbsündenlehre, die als das - in seinen Augen - unselige Erbe der alten Kirche den Gedanken der Autonomie in seiner Entfaltung behinderte. Zwar sei diese der menschlichen Freiheit und der menschlichen Würde widerstreitende Lehre im Denken des Cusanus scheinbar überwunden gewesenm, in der Reformation aber habe Luther sie wieder in ihre alten Rechte gesetzt und so der Entfaltung und Verbreitung des Freiheitsgedankens Schaden zugefügt. In der Epoche der Renaissance hatte ein religiös-humanistisches Denken Raum gewonnen, das »dem christlichen Dogma keineswegs feindlich oder skeptisch gegenüber«572 trat. In der Entwicklung von Cusanus über Ficinus zu Erasmus schien geradezu »eine >Religion innerhalb der Grenzen der Humanität< begründet zu sein.«573 Das neue menschliche Selbstverständnis teilte sich der Mathematik, Naturwissenschaft, Kosmologie und der Ansicht der Geschichte mit, ohne daß darin die religiöse Grundansicht hätte verleugnet werden müssen. »Und dies alles schien jetzt auf dem Boden der Religion möglich - schien nicht gegen sie, sondern durch sie erreicht zu sein.«574 Das religiöse Bewußtsein hatte an Weite und Freiheit gewonnen. »Aber dieser humanistischen Religion erstand in der Reformation ein unversöhnlicher Gegner.«575 Diese Gegenerschaft wird von Cassirer recht ambivalent beschrieben. Denn das mystische Element der Verinnerlichung der Religion, die Entdeckung der religiösen Individualität und >PersönlichkeitRenaissancereligionPersonunversöhnlicher Gegner< des Humanismus angesehen werden kann, verbürgen ihm - über die Streitigkeiten mit Erasmus vermittelt- zwei Theologumena Luthers. Erstens stellt sich sein Festhalten an der Lehre von der Erbsünde dem humanistischen Bestreben entgegen, »das harte Joch der Augustinischen Tradition abzuwerfen.«580 Die Lehre vom Sündenfall drohe das gerade erreichte Selbstbewußtsein der religiösen Subjekte wieder zu entwerten581, Zweitens führe das Prinzip des >sola scriptura< den gläubigen Subjektivismus wieder in eine neue Bindung an ein objektiv-dinghaftes Heilsmittel zurück und leite damit die partielle Restitution mittelalterlicher Denkweisen ein. »Denn die >Freiheit< der Seele, die er verkündet hatte, bedeutete ihr Erhobensein über die Dingwelt, - sei es, daß diese als physische oder als geschichtliche Welt verstanden wird; jetzt aber wird ein Teil dieser Dingwelt selbst- denn was anders könnte auch die heiligste geschichtlich überlieferte und durch Tradition beglaubigte Urkunde bedeuten?- aus 576 Ders., FuF, S.ll. 577 Ebd. 578 Vgl. a.a.O., S.12f. 579 Ders., Aufklärung, S.184. 580 A.a.O., S.185. 581 Vgl. a.a.O., S.185f.

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allen ihren empirischen Bedingungen herausgelöst und zu absolut verbindlicher Geltung erhoben.«582 Auch wenn die Reformation von Cassirer nicht ambivalenzfrei als bloßer Rückschritt hinter den schon erreichten Stand der >humanistischen< Religion beschrieben wird, so scheint sie doch wenigstens den letzten historischen Punkt zu bezeichnen, an dem das christlich-religiöse Bewußtsein einen eigenen weiterführenden Beitrag zur Geschichte der >fortschreitenden Selbstbefreiung der Menschheit< geben konnte. Seine weitere historische Bedeutung scheint im Hinblick auf die Kulturnorm Cassirers nivelliert zu sein. »Nachdem die Bindung, die das Mittelalter in seinem autoritativen Lehr- und Lebenssystem besessen hatte, einmal aufgelöst war, galt es, sie aus dem Grunde des Freiheitsbegriffes selbst, in einem neuen Sinne wiederherzustellen. Aber diese Aufgabe weist in ihrer Gesamtheit über die Grenzen des religiösen Prinzips und der religiösen Fragestellung überhaupt hinaus.«583 Gleichwohl wird die Idee der Religion in der Zeit der Aufklärung von Cassirer als echter Fortschritt des religiösen Bewußtseins geschildert. 2. Die >Religion der Aufklärung< und die Freiheit Die Epoche der Aufklärung wird üblicherweise mit Religionsskepsis und Religionskritik in Verbindung gebracht. Dabei werde jedoch übersehen, »daß auch hier noch alle geistige Problematik in die religiöse Problematik eingeschmolzen ist, und daß sie von dieser letzteren ihre ständigen und stärksten Antriebe empfängt.«584 Aber die geistigen Interessen der Denker der Aufklärung gehen nicht nur von religiösen Problemstellungen wie dem Theodizeeproblem aus, die Aufklärung zielt darüberhinaus auf ein eigenes »Ideal der Gläubigkeit« und eine »neue[n] Form der Religion, die sie in sich verkörpert.«585 Diese Religion ist die >natürliche ReligionVernunftnatürlichen ReligionHochreligionen< in einem neuen Gefühl für Individualität. In der Konfrontation der Religion mit Cassirers Kulturnorm der >Realisierung der Freiheit< verengt sich das Bild erheblich. Cassirers humanistisches Ideal wird nämlich erst in der Zeit der Renaissance zu einer historisch bestimmenden Größe. Die Frage nach der Kultubedeutung der Religion läßt sich in diesem Sinn zunächst nur sinnvoll an das Christentum richten. Adaptiert wurde diese Norm aber lediglich von - um eine vorsichtigere Formulierung zu wählen - bestimmten Ausprägungen des Protestantismus in der Aufklärung. Die Frage nach der >Freiheitsfähigkeit< der symbolischen Form der Religion bei Cassirer führt die Lektüre deshalb von der Gesamtheit der Religionen letztlich zu einer >Unterart< des Christentums. Insofern kennt Cassirer historisch nur eine der jüngsten Vergangenheit entsprungene >Religion der FreiheitGeschichte< der symbolischen Formen jede einzelne Form ihr Freiheitsideal zunächst nur exklusiv - d.h. in Abgrenzung gegen die Freiheitsideale anderer symbolischer Formen- zu realisieren. Ein inklusives Freiheitsbewußtsein, das der Pluralität der symbolischen Formen Raum gibt und sie insgesamt dem Gedanken der >Humanitas< unterordnet, scheint dagegen dem religiösen Bewußtsein nicht mehr zugänglich zu sein. Dieses >weltliche< Freiheitsideal, das Cassirers Kulturnorm ausmacht, wird zuerst im Zeitalter der Renaissance zu einer bestimmenden Größe. Die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion kann deshalb hier nur als historische Frage nach dem Beitrag des religiösen Bewußtseins für die Entwicklung eines inklusiven Freiheitsideals gestellt werden. Cassirers Sicht der Geistesgeschichte ist an dieser Stelle ambivalent. Einerseits wird betont, daß dieser Gedanke der >Autonomie< über den Kreis des religiösen Bewußtseins überhaupt hinaus verweise. Andererseits legt Cassirer Wert darauf, daß der religiöse Humanitätsgedanke in Renaissance und Reformation das historische Zentralproblem ausmache, an dem auch die anderen geistigen Grundrichtungen erst ihr eigenes Profil gewinnen mußten. Diese Ambivalenz findet ihren deutlichsten Ausdruck in Cassirers Lutherverständnis. Luther teile zwar die humanistischen Ideale der >Persönlichkeithumanistische Religion< aber wieder durch sein >Dogma< des >sola scriptura< und die Restitution der Augustinischen Erbsündenlehre. Kann Cassirer den Protestantismus im Zeitalter der Reformation noch als >unversöhnlichen Gegner< der >humanistischen Religion< der Renaissance darstellen, so bietet seine Betrachtung des Protestantismus in der Aufklärung das umgekehrte Bild: Der Protestantismus habe sich schließlich mit dem Humanismus versöhnt und das aufgeklärte >Ideal der Gläubigkeit< in sich aufgenommen. Diese Veränderung des religiösen Bewußtseins gehe mit der Eingliederung der protestantischen Theologie in den Kreis gleichberechtigter Wissenschaften einher. Insofern der aufgeklärte Protestantismus religiös und theologisch das antihumanistische Hegemoniestreben aufgegeben habe, könne er mit Hegel als >Religion der Freiheit< apostrophiert werden.

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VII. Ergebnis In Cassirers Religionstheorie reflektiert sich die Spannung zwischen dem normativen und dem deskriptiven Anspruch seiner Philosophie. Er erzählt zwei Kulturgeschichten in einer. Denn einmal kommt die Religion als ein symbolischer Modus zu stehen, der eine Distanz zur Welt und damit ein Wissen von ihr eröffnet, das dem Mythos verschlossen bleibt. Ein andermal gilt die Religion als Pionier des Individualitätsgedankens und des ethischen Bewußtseins. Dem allgemeinen Objektivitätsanspruch des religiösen Weltverständnisses korrespondiert ein religiöser Anspruch auf Besonderheit und unverwechselbare Subjektivität des einzelnen Menschen in der Gemeinschaft. Cassirers >Wesensbestimmung< der Religion umgreift diese beiden Aspekte. Es soll nun resümiert werden, wie diese beiden kulturphilosophischen Bestimmungen in der Kulturbedeutung der Religion vermittelt sind (1). Sodann ist die Eigenart der Cassirerschen Methode zur Bestimmung der Kulturbedeutung der Religion zu bewerten (2). Schließlich soll die These zur Diskussion gestellt werden, daß die Cassirersche Verbindung von Individualismus und Funktionalismus einem modernen theologischen Wahrheitsbewußtsein zu entsprechen vermag (3). 1) Die symbolischen Formen sind zum einen verschiedene Wege, dem einzelnen Menschen die >Auseinandersetzung< des Subjektiven und Objektiven zu ermöglichen. Diese Auseinandersetzung wird als ein graduell abgestufter Prozeß verstanden. Der magisch-mythische Ausdruck gilt Cassirer als erster Schritt in die Bewußtheit. Aber dieses menschliche Initialbewußtsein bleibt noch stark dem letztlich biologischen Bedürfnis verhaftet, affektive Reizspannungen abzubauen, indem sie im Gefühl und Wunsch gestaltet und in deren Ausdruck >abgeführt< werden. Das mythische Bewußtsein bleibt affektbestimmt. Die religiöse Kraft zur Darstellung ringt sich von diesem primären Ausdruck los. Ihr wird der lähmende Schrecken des >Ungemeinen< zum Erstaunen vor dem Unbekannten. Das >Heilige< wird ihr zum Anlaß, dessen Wirklichkeit zu verstehen und denkend die Objektivität des Geglaubten zu erfassen. Das religiöse Bewußtsein stellt die eigenen Wünsche zurück, um den Gott als nichtmanipulierbare eigenständige Größe >wissen< zu können. Zum anderen sind die symbolischen Formen Wege, eine Brücke vom Ich zum Du zu finden und die Auseinandersetzung zwischen Subjekten zu ermöglichen. Sie konstituieren einen geistigen Raum, in dem sich das Band zwischen Individuum und Sozialität knüpfen kann. Dieses Band stellt sich im mythischen Bewußtsein noch als Fessel dar, die den einzelnen Menschen mit seinem Clan zu einer totemistischen Gesamtindivi-

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dualität verschnürt. Die befreiende Kulturbedeutung der Religion äußert sich hier in dem neuen Gefühl für Individualität. Indem der Mensch vor Gott als singuläres Wesen zu stehen kommt, distanziert er sich von der Gemeinschaft, die ihm nun nicht mehr den Sinn des eigenen Lebens verbürgen muß und kann. Diese Distanz wird gleichwohl als ethische Verpflichtung für die Gemeinschaft erfahren, da die Einzigartigkeit jedem Individuum zuzusprechen ist. Die Freiheit realisiert sich in dieser Hinsicht als Verantwortung und als Gewissen vor den Anderen. Zu dem kognitiven Selbstbewußtsein, die Welt zu unterscheiden und so ein verläßliches Wissen von ihr erlangen zu können, gehört demnach das moralische Selbstvertrauen, in der Unterscheidung von den Anderen ein eigenes ethisches Gewissen auszubilden. Freiheit bedeutet einerseits, im Weltabstand bei der Welt sein zu können, und andererseits, in der Unterscheidung von den Anderen zugleich bei den Anderen sein zu können. Wenn für Cassirer schon in der sinnlichen Wahrnehmung die doppelte Perspektive auf Es und Du beschlossen liegt, dann kommt das entfaltete Bewußtsein schließlich in der Realisierung des Wissens und Gewissens, als individuelles Dabeiseinkönnen in Welt und Sozialität, zu seinem eigenen Sinn. Das religiöse Bewußtsein gewährt dem Menschen die Sammlung von und Hinwendung zur Welt und Mitwelt in höherem Maße als der bloße Mythos. Es hat nach Cassirer das Potential, die Magie unbewußter Identifizierungen von subjektiven und objektiven Sachverhalten, die in der mythischen Bildwelt zum Ausdruck kommen, zu bändigen. In der Bildkritik der religiösen Prophetie und Mystik wendet sich die Funktion des Mythos, das seelische und soziale Bedürfnis nach einem Rationalität ermöglichenden Weltabstand, gegen seine eigene geliebte und gefürchtete Bildwelt. Aber auch dem religiösen Bewußtsein bleibt seine eigene Funktionsweise dabei opak. Unaufgeklärtes religiöses Bewußtsein weiß nicht, daß seine Funktion in der kreativen Setzung einer universellen religiösen Sicht und Lebensgestalt aufgeht. Die ambivalente Selbstbefreiung von der Magie mythischer Bilder wird ihm nur als allgemeinverbindliche Offenbarung einer abstrakt-transzendenten Gottheit erträglich und so als wiederum magisches Befreitwordensein erklärlich. Es droht deshalb ständig den durch Mythoskritik erreichten Freiheitsgewinn dadurch wieder zu verspielen, daß es ihn im Ensemble der Kulturleistungen supranatural verursacht und exklusiv versteht. Die kunstanaloge kulturgenerierende Funktion der Religion kann dann zu einer Wissenschaft, Recht, Politik etc. bekämpfenden mythischen Kraft regredieren, die sich gegen die Einwände aufgeklärter Rationalität auf die bloßen Rationalisierungen ihrer religiösen Inhalte zurückzieht. Die derart reflektierende dogmatische Theologie ist mehr eine Form der vernünftelnden Religionsaus-

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übung als Wissenschaft. Das religiöse Bewußtsein wurde deshalb in der langen Tradition humanistischer theologischer Wissenschaft einem allgemeinen Begriff vom Menschen und seiner Bestimmung zur Vernunft zu recht unter- und eingeordnet. Cassirer sieht diese Entwicklung bei Nikolaus von Kues beginnen, sich in der Renaissance und der späteren Aufklärung bekräftigen, bis sie schließlich in Schleiermachers Kulturtheorie zu ihrem vorläufigen Abschluß gelangt. Der religiöse Freiheitsgewinn wird von Cassirer mit dem humanistischen Anspruch konfrontiert, daß er nicht exklusiv als religiöse Besonderheit gelebt werden kann. Die Freiheitsfähigkeit des religiösen Bewußtseins muß sich vielmehr an der Forderung bewähren, die Autonomie der anderen symbolischen Weltverhältnisse ihrerseits anerkennen zu können. Es muß in der Lage sein, sich im Kulturganzen zu verorten, seine Objektivität und sein Ethos als eine symbolische Sicht auf Welt und Menschheit zu begreifen. Kurzum: Das religiöse Bewußtsein hat sein besonderes Autonomiestreben zu einem allgemeinen inklusiven Freiheitsbewußtsein zu erheben. 2) Cassirers Gedanke der Individualität und Freiheit durch Bewußtheit schließt die Momente des Wissens und Gewissens ein. Beide Aspekte bestimmen auch das methodische Vorgehen der >Philosophie der symbolischen FormenSicherstellung< der >Fundamente< des Kulturlebens. Sie bewegt sich vielmehr deshalb in der Spannung von historischer und transzendentaler Sichtweise, weil sie auch das Gewissen der Kultur zu sein erstrebt. Sie ist historisch orientiert, aber um der transzendentalen, normativen >Wesensbestimmung< willen. In dieser Spannung reflektiert sich Cassirers Wissen darum, daß »zufällige Geschichtswahrheiten ... der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden«S95 können, gleichwohl aber normative Vernunftwahrheiten, die keine historische Verifikation zulassen, als leere Ideale anzusehen sind. Sein Ideal der Freiheit wird deshalb einerseits der geschichtlichen Entwicklung von der Renaissance bis zur Aufklärung entnommen, aber gleichzeitig der Kulturgeschichte und ihren geistigen Grundkräften insgesamt als >transzendentaler< Maßstab zugrundegelegt. Cassirer versucht diesen Zirkel von Narrnativität und Geschichte nicht zu umgehen, vielmehr ließe sich davon sprechen, daß er ihn in der Fülle des kulturgeschichtlichen Materials >auskostetRealisierung der Freiheit< lediglich ein >Vernunftpostulat< oder ein >Ideal< zu sehen, dann gewinnt dieser Umgang mit der Aporetik des Historismusproblems einen tieferen Sinn: Denn der normative Anspruch des Freiheitsgedankens wird bei Cassirer von vornherein im Bewußtsein seiner konkreten Aufweisbarkeit vor Ort des indi-

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viduellen Handeins eingeführt. Die konkreten, >zufälligen Geschichtswahrheiten< werden nicht als eine bloße Gesamtheit von Tatsachen oder als anonymer, geistesgeschichtlicher Prozeß verstanden, sondern an allen entscheidenden Wendepunkten wiederum als Erfolg individuellen Handeins angesehen. Das Historismusproblem wird auf diese Weise nicht >gelöstvitiösHistorismus< bedeutet für den einzelnen Menschen insofern eine Möglichkeit immer wieder auch anders denken und anderes tun zu können. Bei Cassirer mag dieser Individualismus noch Züge der Verehrung >großer Persönlichkeiten< tragen. Nimmt man ihn aber im Sinne Max Webers - der freilich von der genannten Einschränkung auch nicht grundsätzlich freizusprechen ist - als Frage nach dem >MenschentumTypen< von Individualität, dann ist der Selbstverständigung des Einzelnen über seine geschichtliche Herkunft und seine normativen Präferenzen eine ganz andere Handhabe gereicht. Die Selbstverständigung zielt nicht mehr von vornherein auf die >Totale< der abendländischen Geschichte. Im Blickpunkt stehen vielmehr konfessionelle Milieus oder andere lokalbiographische Sozialisationsfaktoren. Die Emanzipation im, aber auch vom überkommenen Selbstverständnis verliert so an heroischem Gestus und gewinnt an individueller Relevanz. Die Frage nach der >Realisierung der Freiheit durch Religion< kann dann das problematische Verhältnis von Normativität und Konkretion bewußt halten und produktiv wenden. Sie gibt ihm eine positive Wendung, die sich in ihrer Beziehung zum Wahrheitsproblem ausspricht. 3) Die >Wahrheit wird euch frei machen< Qoh 8,23). In der >Religion nach der Aufklärung< hat dieser Vers eine neue Konnotation bekommen. Die Freiheit, die als Prüfstein der Wahrheit gilt, ist keine, die allein das Got595

Lessing,Über den Beweis des Geistes und der Kraft, S.12.

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tesverhältnis oder die religiösen Vollzüge betrifft. Sie wird zu einer Größe, die den soziokulturellen Selbst- und Weltumgang der Individuen als ganzen normiert, von dem die Religion jedoch nur einen Teilaspekt ausmacht. Freiheit, auch die religiöse, will praktiziert sein, sonst existiert sie nicht. Deshalb war in der Aufklärung die »Religion, die ihren Ort und ihre wahre Bedeutung im Leben und in der Lebensführung des einzelnen Menschen gewonnen hatte[ ... ] wesendich religiöse Praxis.«596 Das ist sie auch geblieben. Die Wahrheit der Religion wird deshalb heute daran abzulesen sein, ob ihre >Objektivität< und ihr Ethos dem Ziel einer freien Lebenspraxis entsprechen und seine Verwirklichung unterstützen können. Sie ist am Handeln der Individuen im sozialen Raum zu entdecken. Daß die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion in dieser Fassung komplex ist, hat sich herausgestellt. Dabei geht sie nicht auf in der Frage nach der gesellschaftlichen Genese und Funktion der Religion. Sie geht auch nicht auf in der Frage nach der seelischen Genese und Funktion religiöser Vorstellungen. Schließlich ist sie nicht auf die Frage nach dem System der geistig-sprachlichen Ausdrucks- und Denkformen der Religion zu reduzieren. Weder die Referenz auf soziale noch die auf psychische oder geistige Systeme erschöpft ihr Anliegen. Denn in all diesen Fällen geht es um letzdich anonyme Prozesse gesellschaftlicher, geistiger oder psychischer Funktionskreise, die an sich für die Frage nach ihrer >Bedeutung< taub bleiben. Ohne auf diese Mechanismen zu referieren, läßt sich freilich nur dogmatisch über die Religion reden. Aber mit dem Thema der >Kulturbedeutung< wird noch auf einen anderen, wichtigeren Aspekt abgehoben. Es ist mit ihm nicht einfach ein integraler Ausdruck für die Beurteilung der angeführten Phänomenbereiche gefunden. Der Begriff der >Kultur< umfaßt sie alle, aber er richtet sie vor allem auf eine gemeinsame Mitte aus: Denn jetzt ist im >Gesamdeben< der einzelne Mensch gemeint, für den allein soziale, geistige und psychische Phänomene Bedeutung - im strikten Sinne des Wortes- haben können. Wer in dieser Weise von >Kulturbedeutung< spricht, hat sich mit Cassirer zum Anwalt der Individuen gemacht, die in keinen Funktionszusammenhängen vollständig aufgehen.

596 Rössler, Grundriß, S.30.

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Literatur

Timm, Hermann, VoM AN-SINNEN DES URSPRUNGS- Was ist Gutes an der >Neuen Mythologie