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German Pages 532 [533]
Collegium Metaphysicum Herausgeber / Editors
Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (Tübingen) Beirat / Advisory Board
Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen (Heidelberg) Johannes Hübner (Halle) · Anton Friedrich Koch (Heidelberg) Michael Moxter (Hamburg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)
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Martin Wendte
Die Gabe und das Gestell Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen Zeitalter
Mohr Siebeck
Martin Wendte, geboren 1974; Studium der Ev. Theologie in Heildelberg, Berlin, London (MA) und Göttingen; 2004–10 Assistent und Akademischer Rat a. Z. am Institut für Hermeneutik und Dialog der Kulturen an der Universität Tübingen; 2010–13 Vikariat in Württemberg; seit 2012 Privatdozent an der Eberhard Karls Universität Tübingen; seit 2013 Arbeit am Pfarrseminar der Württembergischen Landeskirche.
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) e-ISBN PDF 978-3-16-152401-1 ISBN 978-3-16-152400-4 ISSN 2191-6683 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen aus der Stempel Garamond gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden.
Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung eines Textes, der von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen unter dem Titel „Leibliche Gabe. Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen Zeitalter“ als Habilitationsschrift angenommen wurde. Bei seiner Entstehung haben mir eine Vielzahl von Menschen geholfen, denen ich gerne sehr herzlich danken möchte. An erster Stelle ist Prof. Dr. Christoph Schwöbel zu nennen. Er gab den ersten Anstoß zu diesem Buch, indem er mir eines Tages einen Zettel reichte, auf dem die Angaben zur Studie von Erwin Metzge, Sakrament und Metaphysik, vermerkt waren nebst der Frage, ob ich nicht für meine Habilitationsschrift in dieser Richtung weiterdenken wolle. Er räumte mir danach alle Freiheiten ein, die ich brauchte, um dem Buch diejenige eigene Gestalt und diejenigen eigenen Gedanken zu geben, die es nun hat, und er ließ mir als seinem Assistenten auch immer genügend Zeit für meine eigene Forschung. Zugleich war er dann, wenn ich das wünschte, trotz außergewöhnlicher eigener Arbeitsbelastung stets zu denjenigen hilfreichen, von beeindruckender Einsicht und Kenntnis charakterisierten Gesprächen bereit, die ihn als Begleiter von Qualifikationsarbeiten und als Lutherkenner auszeichnen. Ganz am Schluss schenkte er mir noch den Obertitel des Buches. Von größter Wichtigkeit war für mich ferner, dass ich meine Ideen bei einer ganzen Reihe von Vorträgen und Diskussionen vor verschiedenen Foren testen und weiterentwickeln konnte. Ohne die ermutigenden und kritischen Rückmeldungen, die ich dabei erhielt, hätte ich dem Buch als Ganzem nicht seine charakteristische Gestalt geben können, und ich hätte eine Vielzahl inhaltlicher Entscheidungen anders oder gar nicht getroffen. So danke ich allen Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums von Herrn Prof. Dr. Schwöbel, bei dem ich mehrfach vortragen durfte. Ich danke der Arbeitsgruppe von befreundeten Mit-Assistenten in der Tübinger Zeit und namentlich Prof. Dr. Christoph Seibert, Prof. Dr. Henrik Simojoki und Dr. Martin Bauspieß, mit denen ich in der Gruppe
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oder privat bei abendlichem Wein zentrale Thesen des Buches diskutieren konnte. Und ich danke dem Zusammenschluss von Assistenten mit dem schönen Namen FST (Forum Systematische Theologie) und vor allem Herrn PD Dr. Matthias Wuethrich, mit dem ich mehrfach wichtige Aspekte Luthers und Heideggers durchsprach. Es half dem Buch sehr, dass mein theologischer und mein persönlicher Horizont durch eine Reihe von Vorträgen im Ausland über verschiedene Aspekte meiner Forschung zu den Themen der Habilitationsschrift erweitert wurde. Sie wurden finanziert durch den Gewinn des John Templeton Award for Theological Promise 2009, der mit einem großzügigen Reisestipendium verbunden war. Stellvertretend für alle anregenden Diskutanten vor Ort kann ich hier nur denjenigen danken, die mich einluden, bewirteten und oftmals bis in die Gegenwart hinein in freundschaftliche Debatten verwickeln: Dr. Brian Brock von der Universität Aberdeen, Schottland, der mir zudem durch viele Gespräche half, ein tieferes Verständnis der Technik zu entwickeln; Dr. Marius Mjaaland von der Universität Oslo, Norwegen; Prof. Dr. Bo Karen Lee vom Princeton Theological Seminary, USA; Prof. Dr. Michael Hogue von der Universität Chicago, USA; Prof. Dr. Ola Sigurdson von der Universität Göteborg, Schweden, und Prof. Dr. Joris Geldhof von der Katholischen Universität Leuven, Belgien. Schließlich haben Dr. Carmen Nols, Dr. Christian Polke, Andreas Oelze und Christiane Wille dankenswerterweise nicht nur immer wieder Teile des Buches mit mir diskutiert, sondern auch in verschiedenen Stadien der Entstehung teils sehr lange Textpassagen gelesen und gründlich und kenntnisreich mit mir durchgesprochen. Als noch ganz unklar war, ob und in welcher Form die Überlegungen zu den Gottesbeweisen bei Kant, Hegel und Schelling Teil dieses Buches sein sollten, wurde ich gefragt, ob ich sie nicht veröffentlichen wolle. So erklärt sich, dass eine leicht divergierende Variante des hier abgedruckten Textes zu diesem Thema im Jahrbuch für Religionsphilosophie 10 (2012) bereits publiziert wurde, und ich danke Herrn Prof. Dr. Markus Enders für die freundliche Erlaubnis zur Wiederveröffentlichung. Als der Text fertig war, hat Frau Prof. Dr. Elisabeth Gräb-Schmidt ausgesprochen freundlicherweise das Zweitgutachten angefertigt, wofür ich ihr sehr danke. Schließlich danke ich auch Herrn Prof. Dr. Friedrich Hermanni, Herrn Prof. Dr. Thomas Buchheim und Herrn Prof. Dr. Axel Hutter, die neben Herrn Prof. Dr. Schwöbel als die Reihenherausgeber der Reihe „Collegium Metaphysicum“ agieren und nicht nur mein
Vorwort
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Buch in ihre Reihe aufnahmen, sondern dabei auch eine Reihe scharfsinniger, erhellender und weiterführender Kommentare zum Buch verfassten. Einige wichtige Impulse habe ich in die Druckversion aufgenommen. Auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bin ich zu aufrichtigem Dank verpflichtet, da sie mit ihrer Publikationsbeihilfe die Veröffentlichung ermöglichte. In den Jahren des Schreibens dieses Buches wäre alles Nichts gewesen ohne meine Familie. Meine drei Kinder Fabian, Franziska und Anna Katharina sind die größten Gaben, die ich im Leben empfing. Und meiner Frau Petra bin ich seit vielen Jahren von Herzen dafür dankbar, dass sie mich auch dann trägt und erträgt, wenn ich forsche. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Tübingen, im März 2013
Martin Wendte
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Luthers Metaphysik des Abendmahls . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Kochs Wahrheitstheorie, Schellings Gotteserweis und Luthers Realidealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 3. Heideggers Technikphilosophie in der liquid modernity: Das Abendmahl als focal practice . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Erstes Kapitel: Die Spätmoderne des Westens als technisches Zeitalter. Ein Blick auf die Gegenwart . . . . . . . . . . . . . 21 1. Heidegger als Philosoph der Technik . . . . . . . . . . . . . . 22 1.1. Heidegger: Technik als eine Weise des Entbergens. Grundlegende Strukturmomente . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.2. Heideggers Rekonstruktion der Geschichte des Abendlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.2.1. Platon: Der Wandel des Wesens der Wahrheit . . . . . . 28 1.2.2. Nietzsche: Der Tod Gottes und die Auferstehung des Übermenschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.2.3. Heidegger: Der Nihilismus des technischen Zeitalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1.3. Heideggers Verwindung der Metaphysik I: Sein als Unverborgenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1.4. Heideggers Verwindung der Metaphysik II: Das Kunstwerk und die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . 48
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1.5. Revolution oder Reflexion? Zur Anschlussfähigkeit Heideggers . . . . . . . . . . . . . 52 2. Heidegger 2.0: Liquid Modernity . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.1. Von fest zu flüssig: Die gesamtgesellschaftliche Realisierung von Heideggers Analyse . . . . . . . . . . . . 59 2.2. Vom Abendmahl über das Kapital zum Internet: Spätmoderne Verflüssigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.2.1. Gumbrecht und die Verschiebung von einer Präsenz- zu einer Sinnkultur . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.2.2. Das Internet und die spätmoderne Implosion der Raumzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2.2.3. From things to thinking: Verschiebungen in der ökonomischen Sphäre . . . . . . 70 2.2.4. Der flexible Mensch: Nomadisches Leben in der Spätmoderne . . . . . . . . 72 2.2.5. Abwesende Körper und der Körper als Seele: Platonismus und Hedonismus . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.2.6. Übergänge: Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.3. Verdichtungen und die focal practice des Abendmahls . . . 87 2.3.1. Gegenbewegungen gegen die Totalisierungen der liquid modernity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.3.2. Das Abendmahl als focal practice . . . . . . . . . . . . . 90
Zweites Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1. Verortungen: Warum eine Erstphilosophie? Warum Koch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Die Rekonstruktion Kochs: Realidealismus aus analytischer Perspektive . . . . . . . . . . 103 2.1. Kochs Verortung in der philosophischen Tradition und ein Blick auf die Methode . . . . . . . . . . . . . . . . 103 2.1.1. Ist Kochs Erstphilosophie selbst Ausdruck technischen Denkens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.2. Wahrheit, Leib und Sprache: Kochs erstphilosophische Reflexionen . . . . . . . . . . . . 111
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2.2.1. Die Wahrheit im Urteil: Grundlegende Aspekte des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2.2.1.1. Objektivität, Phänomenalität und Irrtumsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 2.2.1.2. Epistemischer und semantischer Realismus . . . . . 114 2.2.1.3. Wie ist Irrtum denkbar? Die Asymmetrie zwischen Designation und Prädikation . . . . . . . . 117 2.2.1.4. Gegen den Mythos des Gegebenen: über Ursachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2.2.2. Leib, Subjekt und Ding: Designation und Orientierungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2.2.2.1. Empirische Voraussetzungen der Bezugnahme und das Problem der Kennzeichnungen . . . . . . . 124 2.2.2.2. Die Raumzeit als vorbegriffliches Prinzip der Mannigfaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2.2.2.3. Eine Theorie a priori der Bezugnahme (TVA) . . . . 128 2.2.2.4. Leiblichkeit als Bedingung der Möglichkeit der Bezugnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 2.2.2.5. Der virtuelle Ursachverhalt der Raumzeit: Eine Ganzheitsdimension . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.2.2.6. Die Subjektivitätsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.2.2.7. Die relationale Ontologie der Wechselverhältnisse . 143 2.2.2.8. Anomaler Monismus als Antinaturalismus und Antidualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2.2.2.9. Ein einordnender Rückblick: Kochs Überlegungen zur Designation im Bezug auf Heidegger und Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2.2.3. Wahrheit, Raum und Sprache: Prädikation und Begründungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2.2.3.1. Die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit . . . . . . 153 2.2.3.2. Wahrheit und Diskurs: Aspekte eines Wechselverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2.2.3.2.1. Begriff und Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2.2.3.2.2. Die Diskursivität der Dinge spricht sich im menschlichen Diskurs aus . . . . . . . . . . . . . 165 2.2.3.2.3. Der Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2.2.3.2.3.1. Normativität und die Pluralität von Personen 170 2.2.3.2.3.2. Inferentialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
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2.2.3.3. Subjekt und Person: Aspekte des Ersten Wahrheitsaspekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2.2.3.3.1. Die gedankliche Trennung von Schein und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2.2.3.3.2. Die Vermittlung von transzendentaler und personaler Subjektivität . . . . . . . 181 2.2.3.3.3. Zur Wahrheitsfähigkeit des athetischen Bewusstseins und zum Selbstbewusstsein . . . . 186 2.2.3.3.4. Paradigmatische Anwendungsfälle der Wahrheit und ein antiskeptisches Argument . . . . . . 189 2.2.3.4. Die Antinomie des Diskurses: Aspekte des dritten Wahrheitsaspekts . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2.2.4. Übergänge: Koch, Heidegger und Luther . . . . . . . . 199 3. Das Subjekt und das Absolute: Realidealismus aus idealistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 3.1. Das Subjekt als höchster Punkt der Ordnung, und seine Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 3.1.1. Das Subjekt: innerhalb und außerhalb der Ordnung . . 205 3.1.2. Die Kontingenz des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . 207 3.2. Das Kontingente und das Absolute . . . . . . . . . . . . . . 209 3.2.1. Die Verortung des Subjekts in einer umgreifenden Ordnungsrelation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 3.3. Existenz und Verfasstheit des Absoluten: Gottesbeweise bei Kant, Hegel und Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3.3.1. Kants urteilstheoretische Destruktion der klassischen Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.3.1.1. Die Idee der omnitudo realitatis ist unaufgebbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 3.3.1.2. Der Gottesbegriff als regulative Idee . . . . . . . . . 222 3.3.2. Hegels postkritische Restitution der Gottesbeweise . . 225 3.3.2.1. Die spekulative Fassung des ontologischen Gottesbeweises in der Absoluten Idee . . . . . . . . 228 3.3.2.2. Die spekulative Fassung des kosmologischen Gottesbeweises in der Realphilosophie . . . . . . . . 234 3.3.2.3. Die Vermittlung von Inhalt und Form im spekulativen Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3.3.2.4. Der spekulative Schluss als Gottesbeweis: Hegels postkritische Restitution der metaphysischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . 241
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3.3.3. Schellings posthegelianische Destruktion der Gottesbeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3.3.3.1. Kritik an Hegel: Die unvordenkliche Freiheit des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 3.3.3.2. Gottes absolute Freiheit: Die Neubestimmung des ens perfectissimum und die Differenz von negativer und positiver Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 3.3.3.3. Die Unaufhebbarkeit der Religion und des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 3.3.3.4. Schellings Metakritik Hegels: Gottesbeweise als Gotteserweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 4. Anschlüsse und Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 4.1. Anschlüsse und Übergänge I: Inhaltliche Nähen und methodische Differenzen zwischen Koch, Schelling und Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 4.2. Anschlüsse und Übergänge II: Fünf Aspekte der Zuordnung von Dogmatik und Erstphilosophie . . . . . . 267 4.2.1. Erster Aspekt: Der gemeinsame Gegenstandsbereich von Dogmatik und Erstphilosophie . . . . . . . 267 4.2.2. Zweiter Aspekt: Die relative Voraussetzungslosigkeit der Erstphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 4.2.3. Dritter Aspekt: Die Instabilität der Erstphilosophie . . 276 4.2.4. Vierter Aspekt: Erstphilosophie, Dogmatik, Meditation und das Absolute . . . . . . . . . . . . . . . 278 4.2.5. Fünfter Aspekt: Der Gewinn der Dogmatik: Begründungen und Übersetzungsmanuale . . . . . . . 279
Drittes Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls . . . 285 1. Ein Blick in die Forschungsgeschichte in systematischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1.1. Der frühe Luther als der wahre: Im Umkreis der Lutherrenaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 1.1.1. Adolf von Harnack: Der „wahre Luther“ und das falsche Sakramentsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . 286 1.1.2. Karl Holl: Gewissensreligion ohne Gewissheit . . . . . 295
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1.1.3. Emanuel Hirsch: Die subjektivitätstheoretische Gewissensreligion des wahren Luthers als systematische Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . 304 1.1.4. Fazit: Aufnahme von Impulsen der Lutherrenaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 1.2. Luther als Wegbereiter des neuzeitlichen Anthropozentrismus: Karl Barths reformierte Perspektive . . . . . . . . 313 1.3. Der mittlere Luther als der reformatorische: Ernst Bizers Luther als Theologe des Wortes . . . . . . . . 322 1.4. Der späte Luther als der gegenwärtig relevante: Luther als Theologe der Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 1.4.1. Saarinen und die Strukturmomente von Luthers Gabetheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 1.4.2. Marion zur Gegebenheit und zum Überschuss aller Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 1.4.3. Reine Gabe oder gereinigter Gabentausch? Derrida und Marion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 1.4.4. Marions Philosophie der Gabe und Luthers Abendmahlstheologie: Anschlussmöglichkeiten . . . . 344 2. Luthers Metaphysik des Abendmahls: Leibliche Gabe . . . . 348 2.1. Einleitung: Hinführungen zu Luthers Abendmahlstheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 2.1.1. Zum Ansatz, zur Textauswahl und zur hermeneutische Verortung . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 2.1.2. Erste Hinführung: Drei Grundstrukturen von Luthers Metaphysik der Gabe . . . . . . . . . . . . 353 2.1.2.1. Die erste Grundstruktur: Die Verschränkung der geber- und der empfängerorientierten Perspektive auf die Wirklichkeit als Gabegeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 2.1.2.2. Die zweite Grundstruktur: Zur Verschränkung von Metaphysik und Rechtfertigungslehre . . . . . . 362 2.1.2.3. Die dritte Grundstruktur: Zur Vermittlung von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung, und zur Dialektik Luthers . . . . . . . . . . . . . . . 364 2.1.3. Zweite Hinführung: Luthers Verständnis der Heilsordnung im Streit mit seinen Gegnern . . . . . . . 367 2.1.3.1. Vernunft, Schrift und Glaube . . . . . . . . . . . . . 372
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2.1.3.1.1. Die spekulativ operierende Vernunft: Ein Richter über Gott . . . . . . . . . . . . . . . . 375 2.1.3.1.2. Die instrumentell operierende Vernunft: Grammatik, Rhetorik, Logik . . . . . 380 2.1.3.1.3. Die phänomenologisch operierende Vernunft und der real-idealistische Hintergrund: Ein Körnlein auf dem Felde als das größte Wunder . . . . . . . . . . . . 389 2.2. Durchführung: Luthers Metaphysik des Abendmahls . . . 393 2.2.1. Die immanente Trinität: Gottes Gespräch für den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 2.2.2. Schöpfung und Erhaltung: Die Welt als Gabeordnung . 397 2.2.2.1. Die Welt als worthafte Schöpfung Gottes . . . . . . 397 2.2.2.2. Anthropologie: Der Mensch als Durchgangspunkt der Gabeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 407 2.2.2.2.1. Der Mensch als Beziehungswesen in der Gabefülle Gottes . . . . . . . . . . . . . . . 407 2.2.2.2.2. Herz, Wille, Vernunft, Handlung: Die Vermögenstheorie des Menschen . . . . . . . 412 2.2.2.3. Gott ist gegenwärtig: Die Allgegenwart des allmächtigen Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 2.2.3. Die Sünde: Die Wirklichkeit als Gabegeschehen verdunkelt sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 2.2.4. Jesus Christus: Die Wiedergewinnung der Wirklichkeit als Gabegeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . 434 2.2.4.1. Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 2.2.4.2. Zur Allgegenwart des menschlichen Sohnes . . . . . 439 2.2.5. Geistgewirkte Realpräsenz. Vom Wesen und Nutzen des Abendmahls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 2.2.5.1. Heilsame Realpräsenz: Die christologische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 2.2.5.2. Gewissheit und Weitergabe: Die pneumatologische Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 2.2.5.3. Die bleibende Angefochtenheit des Glaubens . . . . 455 2.5.4. Leibhaftige Nähe und bleibende Vorgegebenheit: Der Gewinn des Abendmahls gegenüber der Predigt . . 458 2.2.6. Zusammenfassung und Übergang . . . . . . . . . . . . 461 2.2.6.1. Grundzüge unserer Lutherinterpretation . . . . . . 461
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2.2.6.2. Luthers Metaphysik des Abendmahls: Leibliche, worthafte Gabe, und einige Grundzüge des realidealistischen Verständnisses von Gott, Welt und Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
Viertes Kapitel: Making it explicit. Verbindungslinien zwischen den drei Teilen des Buches . . . . . . . . . . . . . . 471 1. Luther als Theologe des Wortes und der Gabe, der gegen die Lutherrenaissance und gegen Barth steht: Aspekte der Verbindung von Luthers Metaphysik des Abendmahls mit der Forschungsgeschichte zu Luther (zur Verbindung vom Dritten Kapitel. 2. mit dem Dritten Kapitel.1.) . . . . . . . . . . . . . 472 2. Luthers Metaphysik des Abendmahls in erstphilosophischer Betrachtung I: Überlegungen zur Methode (zur Verbindung von dem Dritten Kapitel. 2. mit dem Zweiten Kapitel.4.) . . . 476 3. Luthers Metaphysik des Abendmahls in erstphilosophischer Betrachtung II: Überlegungen zur Gotteslehre (zur Verbindung von dem Dritten Kapitel. 2. mit dem Zweiten Kapitel.3.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 4. Luthers Metaphysik des Abendmahls in erstphilosophischer Betrachtung III: Von Menschen und Dingen. Realidealismus und die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit (zur Verbindung von dem Dritten Kapitel. 2. mit dem Zweiten Kapitel. 3., dem Zweiten Kapitel. 2. und dem Zweiten Kapitel. 1.) . . . . 481 5. Luthers Metaphysik des Abendmahls in der technischen Spätmoderne: Die Wirklichkeit als Bestand, die Wahrheit als Wert und das Abendmahl als focal practice (zur Verbindung von dem Dritten Kapitel. 2. mit dem Ersten Kapitel) . . . . . 484 6. Making it explicit: Verbindungslinien zwischen den drei Kapiteln des Buches. Eine Zusammenfassung . . . . . . . . . 487
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Einleitung
Luthers Metaphysik des Abendmahls im technischen Zeitalter In diesem Buch kreuzen sich drei Diskurse: ein systematisch-theologischer, ein erstphilosophischer und ein gegenwartshermeneutischer. Der systematisch-theologische Diskurs bezieht sich auf Luthers späte Abendmahlstheologie. Der erstphilosophische Diskurs bezieht sich auf die Erstphilosophie von Anton Friedrich Koch sowie auf die Debatte um die Gottesbeweise bei Kant, Hegel und Schelling. Der gegenwartshermeneutische Diskurs bezieht sich auf Heideggers späte Technikphilosophie und auf die gesamtgesellschaftliche Realisierung der von ihm namhaft gemachten Grundstrukturen in der Spätmoderne. Das Buch präsentiert einen in sich differenzierten, aber zusammenhängenden Argumentationsgang, der die drei Diskurse aufgrund folgender These miteinander verbindet: Luthers Abendmahlstheologie macht Dimensionen am Abendmahl und an der Wirklichkeit als Ganzer sichtbar, die zum einen durch erstphilosophische Reflexionen analysiert und argumentativ gestützt werden können und die zum anderen gerade in unserem technischen Zeitalter relevant sind, da sie ein Gegenbild zu dessen Wirklichkeitsverständnis präsentieren. Im ersten Kapitel des Buches werden Heideggers Technikphilosophie (Erstes Kapitel, 1.) und die gegenwärtige Realisierung einiger der von Heidegger namhaft gemachten Aspekte in der liquid modernity (Erstes Kapitel, 2.) rekonstruiert. Heidegger wirft der Moderne als dem technischen Zeitalter vor, von einem Verständnis der Wirklichkeit bestimmt zu sein, laut dem alle Wirklichkeit unbegrenzt der Gestaltungsmacht des Menschen unterworfen ist. In Heideggers Terminologie gesprochen wird die Wirklichkeit in der Moderne als bloßer Bestand und als Gestell betrachtet. Dies liegt darin begründet, dass das technische Zeitalter von dem Verständnis der Wahrheit als Wert geleitet ist, welcher allein vom Menschen bestimmt wird. Zudem wird der Mensch in eigener Weise als dualistisch verfasst angesehen, da der Körper des Menschen als Verfügungsmasse in den Blick gerät, die vom Menschen als herrschendem
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Einleitung
Geist geformt wird. Darüber hinaus bringt die technische Spätmoderne bestimmte Formen der Vereinzelung der Menschen mit sich. Im dritten Kapitel des Buches wird sichtbar, dass Luther in seinen späten Abendmahlsschriften 1525–1529 ein Verständnis der Wirklichkeit entwickelt, das von dem der technischen Spätmoderne unserer Gegenwart divergiert. Damit präsentiert er auch eine anders charakterisierte Metaphysik (Drittes Kapitel, 2.). Luther denkt die Wirklichkeit nicht als Verfügungsmasse, sondern als Gabe, die durch die Überfülle des Elementaren geprägt ist. Die Gabe hat eine bestimmte Form: Die Wirklichkeit selbst inklusive der Menschen in ihr wie auch der Bezug der Menschen auf sie ist in der Form einer engen Verbindung von Geist, Sprache und Materie gegeben. Diese Form ist Teil des Inhalts, da die Gabe gerade als material und leiblich vermittelte die gute Gabe für den Menschen ist, der selbst als leibseelische Einheit und als Mensch in Gemeinschaft existiert. Mit dem Gabe-Charakter der Wirklichkeit und dem der Überfülle betont Luther Dimensionen, die das technische Zeitalter unserer Gegenwart zu seinem eigenen Schaden verdrängt. Mit der engen Ver bindung von Geist, Sprache, Materie und Gemeinschaft betont Luther Aspekte, die das technische Zeitalter unserer Gegenwart zu seinem eigenen Schaden auseinander fallen lässt. Luthers Abendmahlstheologie soll somit nicht abstrakt gegen das Wirklichkeitsverständnis der Spätmoderne oder gegen die moderne Technik als solche gestellt werden. Vielmehr wird sie als eine solche Theologie gelesen, die hilft, Verdrängungen und Einseitigkeiten des technischen Zeitalters zu dessen eigenem Nutzen zu entdecken und das technische Zeitalter zu einem weniger defizitären Verständnis seiner selbst weiterzuentwickeln. Die von Luther und Heidegger angestellten Überlegungen zur Zuordnung von Geist, Sprache, Materie und Gemeinschaft, aber auch Heideggers Überlegungen zur Wahrheit und Luthers Reflexionen über Gott und die Gabe sind genuine Themen der Philosophie. Daher werden diese Themen im zweiten Kapitel des Buches in erstphilosophischen Reflexionsgängen auf ihre kategorialen Gehalte hin bedacht. Dafür wird vor allem auf die Erstphilosophie Anton Friedrich Kochs zurückgegriffen (Zweites Kapitel, 1. und Zweites Kapitel, 2.). Koch entwickelt eine Wahrheitstheorie, die den kategorialen Kern seiner eigenen Überlegungen und des vorliegenden Buches als Ganzes darstellt. Im Rahmen seiner wahrheitstheoretischen Reflexionen bedenkt Koch auch die angedeuteten Themen von der Verfasstheit des Menschen und der Dinge, von Geist, Sprache und Materie sowie von der Präsenz als Bestand und Gabe
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mit. Koch bedenkt jedoch nicht die Kontingenz des Menschen und die Existenz und Verfasstheit des Absoluten. Da diese Themen für Luthers Theologie von großer Bedeutung sind, sollen sie dergestalt in den Blick genommen werden, dass die Überlegungen von Kant, Hegel und Schelling zu den Gottesbeweisen rekonstruiert werden (Zweites Kapitel, 3.). Es wird sich zeigen, dass bei allen methodischen Differenzen in Bezug auf zentrale materiale Fragen nicht nur die Positionen Kochs und Schellings vergleichbar sind, sondern auch die von Koch, Schelling und Luther. Alle drei stellen Varianten einer Position dar, die wir als Realidealismus benennen wollen (Zweites Kapitel, 4.). Das Buch nähert sich also einem historischen Gegenstand – Luthers späten Schriften zum Abendmahl – mit einem dreifachen Interesse. Zum ersten will es die systematische Gestalt dieses Gegenstandes und somit Luthers Metaphysik des Abendmahls in den Blick nehmen. Zum zweiten will es deren Relevanz für die Gegenwart erforschen und legt dafür eine von Heidegger inspirierte Gegenwartsanalyse vor. Um zu erkunden, ob und in welchem Sinne Luthers Abendmahlstheologie nicht nur relevant, sondern auch wahr ist, erfolgt zum dritten eine Auseinandersetzung mit den erstphilosophischen Entwürfen von Anton Friedrich Koch sowie denen von Kant, Hegel und Schelling. – Im weiteren Verlauf der Einleitung sollen der systematisch-theologische, der erstphilosophische und der gegenwartshermeneutische Stützpfeiler der Arbeit sowie die Verbindung zwischen ihnen etwas ausführlicher erläutert werden.
1. Luthers Metaphysik des Abendmahls Das Zentrum dieses Buches und der Ausgangspunkt für seine Themen und Fragestellungen stellt Luthers späte Theologie des Abendmahls dar, die in seinen Schriften zum Thema aus den Jahren von 1525 bis 1529 zu finden ist. Es handelt sich um Schriften wie Wider die himmlischen Propheten und Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis, aber auch um den Großen Katechismus. Von diesen Texten aus wird die Gegenwartsanalyse Heideggers und die Erstphilosophie Kochs und Schellings perspektiviert.1 Diese Perspektivierung schließt selbstredend mit ein, dass von Heidegger und Koch aus Anfragen an Luther gestellt werden und Luther von daher auf eine eigene Weise in den Blick genommen wird. 1
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Einleitung
Um Luthers Abendmahlstheologie auf angemessene Weise zu begreifen, ist zu verdeutlichen, dass Luther im Rahmen seiner Überlegungen zum Abendmahl eine gleichermaßen umfassende wie tiefgründige Theologie entwickelt. Wenn man die gegenwärtigen theologischen Bemühungen zum Abendmahl überblickt oder den Stellenwert bedenkt, den das Abendmahl in der Frömmigkeit vieler lutherischer Christen spielt, so scheint es kaum mehr verständlich zu sein, dass ein protestantischer Theologe seine gesamte Theologie im Rahmen einer Abendmahlstheologie entwickelt. Denn das Abendmahl spielt in der Frömmigkeit von vielen lutherischen Gläubigen der heutigen Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Das spiegelt sich auch in der weit verbreiteten gottesdienstlichen Praxis vieler lutherischer Gemeinden gerade in Deutschland, das Abendmahl bei weitem nicht in jedem Gottesdienst zu feiern. Ein Blick auf die zeitgenössische Diskurslandschaft der deutschsprachigen systematischen protestantischen Theologie verrät, dass das Abendmahl auch in der theologischen Debatte seit Jahrzehnten am Rande des Interesses steht. Diese Randständigkeit mag auf den ersten Blick darin begründet sein, dass sich Luthers Abendmahlstheologie über weite Strecken in die Form einer polemischen Kampftheologie gegen Zwingli und gegen andere Autoren der sich entwickelnden reformierten Theologie und Kirche kleidet. Mit der Leuenberger Konkordie von 1973 und der damit erreichten Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zwischen Reformierten und Lutheranern sind diese Auseinandersetzungen in einen umgreifenden Konsens eingehegt worden. Daher scheint es naheliegend zu sein, die alten Debatten und mit ihnen Luthers Abendmahlslehre als Ganze der Kirchengeschichte zu übergeben. Entsprechend verwundert es nicht, dass in den letzten Jahren keine systematisch-theologischen Debatte von Rang um Luthers späte Abendmahlslehre geführt wurde.2 Noch ein anderer Grund kann für die relative Marginalisierung von Luthers Abendmahlstheologie in Anschlag gebracht werden. In dieser Marginalisierung spiegelt die gegenwärtige Theologie und Frömmigkeit Verschiebungen im Selbstverständnis und in der Organisation der westlichen Kultur als Ganzer wider, die aus kulturphilosophischer und medientheoretischer Perspektive genauer in den Blick genommen wer Selbstredend gibt es sachgemäße und anregende Beiträge neueren Datums zu Luthers Abendmahlslehre, siehe nur Dietrich Korsch (Hg.), Die Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl, Leipzig 2005. Vielleicht auch deshalb, weil die Beiträge keine monographische Form haben, haben sie keine umfassende systematisch-theologische Debatte um Luthers Abendmahlslehre heraufzuführen vermocht. 2
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den können. In gröbster Vereinfachung kann im Anschluss an Jochen Hörischs Studie Brot und Wein3 festgehalten werden, dass die Menschen in der abendländischen Kultur solche Großfragen in ihrem Leben aus agieren und in ihren Reflexionen eigens bedenken, die in theoretisch kontrollierter Form als die Fragen der Metaphysik reformuliert werden können. Es sind dies Fragen wie die nach der Bestimmtheit von Grund und Verfasstheit der Wirklichkeit, Fragen nach dem rechten Verständnis der Wahrheit sowie Fragen nach der Zuordnung von Geist und Materie oder der von Sinn und Sein. Dabei variieren Menschen in verschiedenen Zeiten nicht nur die genauere Fassung dieser Fragen und die darauf zu gebenden Antworten, sondern sie variieren auch die Medien, anhand derer sie diese Fragen verhandeln. Jede Zeit hat ihr „ontosemiologisches Leitmedium“,4 ihr zentrales Medium also, anhand dessen sie die metaphysischen Fragen und besonders die Frage nach der Zuordnung von Sinn und Sein bedenkt. Leitmedien sind diese deshalb, da sie nur um den Preis der Stigmatisierung vermieden werden können. Wer an ihnen nicht teilnimmt, schließt sich selbst aus der Öffentlichkeit aus bzw. wird von der Gesellschaft exkommuniziert.5 Während die Leitmedien der Gegenwart für die westlichen Gesellschaften das Fernsehen und das Internet sind, gilt mindestens für die frühe Neuzeit – also für den Zeitraum von 1400 bis 1600 –, dass ihr Leitmedium das Abendmahl war. Ein Blick auf die kirchengeschichtliche Situation, in der Luthers Abendmahlslehre entstand, mag diese Einsicht bestätigen. 6 Denn die Auseinandersetzung Luthers mit Karlstadt, Zwingli und den anderen, die von 1525 an mit großer Intensität geführt wurde, fand einen ihrer Höhepunkte in den Marburger Gesprächen von 1529. Die Marburger Gespräche waren mit dem Ziel angesetzt worden, Einigkeit zwischen den verschiedenen Vertretern der reformatorischen Bewegung herzustellen. Luther, Zwingli und Bucer einigten sich in vierzehn Streitfragen. Nur in der fünfzehnten, welche die Abendmahlstheologie betraf, konnte kein Konsens erzielt werden. Der Streitpunkt betraf die Frage, wie die Einsetzungsworte zu verstehen sind, die Jesus Christus beim letzten Abendmahl sprach: „Dies ist mein Leib.“ Zwingli verstand das Wört3 Jochen Hörisch, Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M. 1992. 4 Hörisch, Brot und Wein, 13. 5 Siehe Hörisch, Brot und Wein, 13 f. 6 Siehe zum Folgenden Martin Brecht, Martin Luther. Band 2 : Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, 286–328.
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chen „ist“ in diesem Satz als „bedeutet“ (lateinisch: als significat): „Dies bedeutet mein Leib.“ Luther hingegen bestand auf der wörtlichen Lesart: „Dies ist mein Leib“ (lateinisch: est), so dass damit die Realpräsenz Christi im Abendmahl ausgesagt wurde. Luther und Zwingli gaben lieber das Ziel auf, die Einheit des Protestantismus zu erreichen, als an diesem Punkte nachzugeben. Das ist umso bemerkenswerter, als die theologische Einigung die Voraussetzung für die politische Einheit des Protestantismus war, die politische Einheit aber angesichts der Bedrohung durch die altgläubigen Territorien für das politisch-militärische Über leben des Protestantismus von großer Bedeutung war. Luther riskierte somit lieber das eigene Leben und das seiner Frau und Kinder sowie das Überleben der protestantischen Bewegung als Ganzer, als an diesem Punkte nachzugeben. Sein Verhalten ist nur verständlich, wenn mit dem Gegensatz zwischen est und significat nicht nur eine marginale Übersetzungsdifferenz verhandelt wird, sondern eine Differenz, die die gesamte Theologie und damit das gesamte Verständnis der Wirklichkeit betrifft. Zur Zeit der Reformation und besonders bei Luther wurden zentrale Fragen der jeweiligen Theologie und damit zentrale Aspekte des Wirklichkeitsverständnisses anhand des Leitmediums des Abendmahls verhandelt. Auch ein näherer Blick auf die Verfasstheit von Luthers später Abendmahlstheologie bestätigt diese Einschätzung. Luther entwickelt in seiner späten Abendmahlstheologie in Auseinandersetzung mit dem anders gearteten Ansatz Zwinglis eine Antwort auf die Frage, wie dem angefochtenen Gläubigen in der Feier des Abendmahls Heilsgewissheit zukommt. Laut Luther kann der Mensch Heilsgewissheit erlangen, weil Jesus Christus in Brot und Wein real präsent ist: est. Um diese die Heilsgewissheit vermittelnde Realpräsenz Jesu Christi zu explizieren, bedenkt Luther in seiner späten Abendmahlstheologie jedoch nicht nur das Thema des Abendmahles im engeren Sinne und dazu noch das der Christologie. Vielmehr bedenkt er dafür alle wichtigen Themen der Theologie. Neben der Frage nach den media salutis und der Christologie werden besonders auch die Gotteslehre und die Schöpfungslehre in den Blick genommen.7 Etwas genauer: Luther entwickelt seine umfassende Abendmahlstheologie, indem er alle wichtigen theologischen Themen unter Zuhilfenahme einer spezialisierten Fachterminologie bedenkt. Die Positionen, die er dabei erreicht, sind oftmals ausgesprochen radikal und Und auch die Ekklesiologie, Eschatologie, Lehre von der Schrift.
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daher ebenso interessant wie umstritten (siehe ausführlich Drittes Kapitel, 2.2). So denkt Luther den dreieinigen Gott dergestalt, dass Gott sich in dreifacher Weise den Menschen gibt und sich dabei mit der Materia lität der Welt verbindet. Luther denkt die Schöpfung so, dass er sie als gute Gabe ansieht, die zugleich in eigener Weise worthaft ist, da sie vom Wort Jesus Christus geschaffen ist. Daher redet sie den Menschen an und ist zugleich Medium der Anrede Gottes an den Menschen. Um das denkbar werden zu lassen, dissoziiert Luther Kosmologie und Theologie, so dass der theologische Himmel nicht mehr ein festgesetzter Ort im Raum ist, sondern sich überall dort ereignet, wo die Rechte Gottes ihre Macht gnädig ausübt und den Menschen freundlich anredet. Luther denkt den Willen des Menschen als unfrei und somit als abhängig davon, ob er von Gott oder vom Teufel bestimmt wird. Um Jesus Christus als denjenigen in den Blick zu bekommen, der den Menschen von der Macht des Teufels befreit, denkt Luther Jesus Christus so, dass die Einheit der Person gerade in der Kommunikation der Eigenschaften der göttlichen und der menschlichen Naturen besteht. Er denkt Jesus Christus des Weiteren so, dass eine der kommunizierten Eigenschaften die Allgegenwart ist, so dass aufgrund der Einheit der Person auch die menschliche Natur als allgegenwärtig angenommen wird. Um das denken zu können, greift Luther auf scholastische Überlegungen bezüglich verschiedener Weisen, im Raum zu sein, zurück und charakterisiert den Geist als denjenigen, der hilft, den überall gegenwärtigen Christus auch für den jeweiligen Glaubenden heilvoll präsent sein zu lassen. Indem der Mensch so die dreifache Selbstgabe Gottes empfängt, wird seine eigene Aktivität begründet und begrenzt. Zum einen dienen diese Erörterungen zentraler theologischer Themen dem Ziel, die heilbringende Realpräsenz Jesu Christi in Brot und Wein aussagbar zu machen. Nur weil Gott sich ganz gibt, nur weil der Himmel kein abgeschlossener Ort im Raum ist, nur weil Jesus Christus als Einheit der Person allgegenwärtig ist und nur weil der Geist Jesus Christus konkret präsent werden lässt, kann der heilbringende Jesus Christus im Abendmahl gegenwärtig sein, und nur auf diese Weise kann dem angefochtenen Gewissen Heilsgewissheit vermittelt werden. Zum anderen jedoch verhandelt Luther in diesen theologischen Debatten zugleich die Grundzüge seines Wirklichkeitsverständnisses. Das Wirklichkeitsverständnis ist einerseits dadurch charakterisiert, dass es Gott als SichGebenden und die weltliche Wirklichkeit auch in ihrer materialen Dimension als gute Gabe begreift. Andererseits ist es dadurch charakteri-
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siert, dass sich dieses umfassende Gabe-Geschehen in der Form einer engen Verbindung von Geist, Sprache und Materie vollzieht. Luther ist Denker der Wirklichkeit als sprachlich vermittelter, leiblicher Gabe. Die enge Verbindung von Geist, Sprache und Materie prägt die Reflexion über alle verhandelten theologischen Themen. So gibt sich der dreieinige Gott in der Schöpfung, in der Inkarnation und im Abendmahl in seinem Wort aufs engste in die Materie hinein. Er ist „leibliches Wort“, 8 das im Abendmahl real präsent ist. Der Mensch wird entsprechend als leibseelische Einheit gefasst. Er bezieht sich auf die Wirklichkeit Gottes wie auf die weltliche Wirklichkeit in material vermittelter Form und durch Worte, die die Dinge, von denen sie reden, auf angemessene Weise bezeichnen, da die Dinge selbst in eigener Weise Worte sind. Dabei entspricht die Form des Handelns Gottes – das Handeln im Medium des leibhaften Wortes – dem Inhalt des Handelns Gottes als Handeln für den Menschen. Denn Gott kommt aufgrund dieser Form dem Menschen persönlich nahe, ohne dass das extra nos aufgegeben werden würde. Die Form erweist sich als Moment des Inhalts. Der Tatsache entsprechend – und diese damit zugleich verstärkend –, dass das Abendmahl Leitmedium seiner Zeit ist, entwickelt Luther in seiner Abendmahlstheologie somit eine umfassende Theologie. Sie bedenkt zugleich den Grund und die Verfasstheit der Wirklichkeit und verfolgt beide Bestimmungen in die zentralen theologischen Themen hinein. Im Gefolge der etwas älteren, aber bleibend wichtigen Untersuchung von Erwin Metzke, Sakrament und Metaphysik,9 sei somit fest gehalten, dass Luther in seinen späten Abendmahlsschriften eine umfassende Metaphysik (oder, als Wechselterm, eine Ontologie) entwickelt,10 wenn man den Ausdruck recht definiert. Unter Metaphysik sei nicht der Oswald Bayer, Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. 9 Erwin Metzke, Sakrament und Metaphysik. Eine Lutherstudie über das Verhältnis des christlichen Denkens zum Leiblich-Materiellen, in: Erwin Metzke, Coincidentia oppositorum, Witten 1961, 158–204. 10 Dass Luther selbst in seiner Abendmahlstheologie eine umfassende Metaphysik entwickelte, motivierte die lutherischen Vertreter einer „Wiederkehr der Metaphysik“ zu Beginn des 17. Jahrhunderts dazu, die Metaphysik als eigene Disziplin zu betreiben, obwohl Melanchthon sie aus dem Fächerkanon der universitären Theologie verbannte, siehe Walter Sparn, Ontologische Metaphysik versus metaphysische Religion. Inwiefern erfordert die theologische Analyse von Religion metaphysisches Denken?, in: Hermann Deuser, (Hg.), Metaphysik und Religion. Die Wiederentdeckung eines Zusammenhanges (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Band 30), Gütersloh 2007, 9–59, 26. 8
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gegenwartsflüchtende mentale Aufbau einer „Hinterwelt“ zu verstehen, so dass mit Nietzsche Metaphysiker als „Hinterweltler“11 bezeichnet werden müssten. Vielmehr sei Metaphysik so definiert, dass sie die begriffliche Erfassung grundlegender Strukturen und Bestimmungen des Seienden und des Seins selbst ist.12 Damit baut sie keine Hinterwelt auf, sondern ist Reflexion der Erfahrung des Glaubens. Denn sie bedenkt genau diejenigen grundlegenden Strukturen, die notwendig sind, um zu bestimmen, was Menschen wahrnehmen, erfahren und denken. Sie kann somit auch als „transzendentaltheoretische Erfahrungswissenschaft“13 definiert werden. Kurz gefasst, bestehen ihre Themen in Grund, Verfasstheit, Erkennbarkeit und Ziel der Wirklichkeit. Etwas differenzierter gesprochen zählen zu ihren Themen in langer Tradition Größen wie Wirklichkeit und Möglichkeit, Einheit und Vielheit, Sein und Sinn sowie die Zuordnung von Geist zu Materie, aber auch das ehemals in der metaphysica specialis verhandelte klassische Ternar von Gott, Welt und Mensch.14 Indem Luther in seiner späten Abendmahlstheologie Gott, Welt und Mensch unter der Perspektive der Zuordnung von Geist, Sprache und Materie bedenkt, bedenkt er somit klassische Themenstellungen der Metaphysik. Bei aller Konstanz metaphysischer Großthemen bringt es das hier vertretene Verständnis der Metaphysik als einer transzendentaltheoretischen Erfahrungswissenschaft zugleich mit sich, dass bestimmte Aspekte des Wirklichkeitsverständnisses in manchen Zeiten in den Hintergrund rücken, während andere Aspekte erneut oder erstmals wichtig werden.15 Der Begriff der Gabe ist ein solcher, der bei Luther schon einmal im Vordergrund stand und sich gegenwärtig wieder besonderer Aufmerksamkeit erfreut. – Die Betonung der metaphysischen Perspektive 11 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (KSA 4), München 1999, 35. 12 Siehe dazu Wilfried Härle, Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, Göttingen 1980, 45. 13 Sparn, Ontologische Metaphysik, 43. Der Aufsatz von Sparn bietet zudem einen guten Überblick über die verschiedenen Positionen der gegenwärtigen deutschsprachigen Philosophie zum Thema der Metaphysik. 14 Zu einer umfassenderen Aufstellung siehe etwa Christoph Schwöbel, Die Unverzichtbarkeit der Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens in der Dogmatik, in: Hermann Deuser, Dietrich Korsch (Hg.), Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, Gütersloh 2003, 102–118, 111. 15 Siehe dazu auch Sparn, Ontologische Metaphysik, 50.
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lässt zudem nicht vergessen, dass bei Luther Metaphysik und Praxis eng miteinander verbunden sind. Denn zum ersten präsentieren die metaphysischen Themen die Bedingungen menschlicher Handlungen. Zum zweiten legt die Metaphysik dasjenige Wirklichkeitsverständnis dar, an dem sich die Handlungen orientieren, und zum dritten kann in den Handlungen das jeweilige orientierende Wirklichkeitsverständnis sichtbar werden. So erklärt sich, dass die Rekonstruktion von Luthers Metaphysik der Gabe mit Hinweisen auf diejenigen Aufgaben des Menschen endet, die aus dem Empfangen der guten Gabe folgen (siehe Drittes Kapitel, 2.2.5.2.). Die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit wird genauer entwickeln, wie Gabe und Aufgabe miteinander verbunden sind (siehe auch Einleitung. 2.). Der dritte Teil des Buches präsentiert somit eine umfassende Rekonstruktion von Luthers Metaphysik des Abendmahls, die die Wirklichkeit als relational-kommunikatives, leiblich vermitteltes Gabegeschehen vor Augen führt. Die Rekonstruktion ist nach dem von Luther selbst verwendeten heilsgeschichtlichen Schema organisiert und präsentiert somit zuerst Überlegungen zur immanenten Trinität und sodann solche zur Schöpfung, zum Sündenfall, zur Christologie und zur Pneumatologie. Einerseits dienen alle Überlegungen dazu, die heilbringende Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl denkbar werden zu lassen. Andererseits wird vom Abendmahl her in all diesen Überlegungen ein umfassendes Verständnis der Wirklichkeit deutlich: Luthers Metaphysik des Abendmahls. Dieser Schwerpunkt meiner Rekonstruktion erklärt in formaler Hinsicht, warum in dem vorliegenden Buch nicht nur auf Luthers Schriften zum großen Abendmahlsstreit, sondern auch auf seine Große Genesisvorlesung zurückgegriffen wird.16 Denn die in diesem Buch interessierenden metaphysischen Fragen nach dem Grund der Wirklichkeit und nach der Verfasstheit der Dinge und des Menschen werden von Luther in der Genesisvorlesung ausführlich bedacht. In materialer Hinsicht wird dabei deutlich werden, dass Luther als Theologe der Gabe und als der des Wortes zu fassen ist. Es wird sich jedoch zeigen, dass seine Worttheo logie nicht zum Abschied von gleichsam klassischeren metaphysischen Positionen wie der Spielart einer realistischen Semantik oder der Annahme der Einheit der Wirklichkeit führt. Gegenüber manchen neuen Untersuchungen zu Luther, die Luther aufgrund seiner Worttheologie in Martin Luther, Große Genesisvorlesung, Kap. 1–7, WA 42.
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sachlicher Nähe zum späten Wittgenstein stehen sehen,17 vertrete ich die Ansicht, dass der Luther der großen Abendmahlsschriften und der Genesisvorlesung vielmehr in sachlicher Nähe zum Realidealismus steht (siehe Einleitung. 2. und Zweites Kapitel, 4.). Ehe diese Verbindung genauer erläutert wird, sei erwähnt, dass die Rekonstruktion von Luthers Abendmahlstheologie (Drittes Kapitel, 2.) durch einen Blick in die Forschungsgeschichte zu Luther eingeleitet wird (Drittes Kapitel, 1.). Dieser Blick konzentriert sich auf vier Diskussionszusammenhänge aus der Lutherforschung des 20. Jahrhunderts. Diese vier sind für das vorliegende Buch deshalb von systematischem Interesse, weil sie entweder Grundzüge von Luthers Metaphysik erforschen oder aber Auslegungen vertreten, die der von uns entwickelten gerade entgegenstehen. Da Luther in seiner späten Abendmahlstheologie als Theologe des Wortes sichtbar wird, rekonstruiert die Forschungsgeschichte die Position von Ernst Bizer, der vor allem mit seinem Buch Fides ex auditu Luther als Worttheologen zu sehen lehrte (Drittes Kapitel, 1.3.).18 Da Luther in seiner späten Abendmahlstheologie zudem als Theologe der Gabe sichtbar wird, werden einige Stimmen aus der gegenwärtigen internationalen und interdisziplinären Debatte um die Gabe zu Gehör gebracht (Drittes Kapitel, 1.4.). Um nicht aus dem Blick zu verlieren, dass Luthers Abendmahlstheologie auch für das Gespräch zwischen Reformierten und Lutheranern von Bedeutung ist, wird an Karl Barths Anfragen an Luther aus reformierter Perspektive erinnert (Drittes Kapitel, 1.2.). Vor allem aber bietet die Forschungsgeschichte eine erweiterte Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack, Karl Holl und Emanuel Hirsch als den Vertretern der sog. Lutherrenaissance. Bei aller grund legenden Differenz, die in inhaltlicher Hinsicht zwischen meiner Aus legung Luthers und der der Lutherrenaissance besteht, übernehme ich deren methodische Beobachtung und die sich daraus ergebende Forderung, die besonders bei Emanuel Hirsch sichtbar wird. Hirsch betont, dass die jeweilige Rekonstruktion Luthers nicht allein aus sorgfältiger historischer Arbeit an den Quellen erfolgt, sondern sich zudem aus normativen Annahmen speist. Diese entstehen zum einen in Auseinandersetzung mit derjenigen Philosophie, die für wahr gehalten wird, und Siehe etwa Hannes Illge, Gewißheit durch das Wort. Eine sprachphilosophische Untersuchung von Luthers fundamentaltheologischer Einsicht, Frankfurt a. M. 2009. 18 Ernst Bizer, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther. 3., erw. Aufl., Neukirchen 1966. 17
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zum anderen aufgrund desjenigen Bildes der Neuzeit, das leitend ist. Entsprechend gebietet es dann die intellektuelle Redlichkeit, die eigene Lutherrekonstruktion vor dem gegenwärtigen Wahrheitsbewusstsein und vor einer Gegenwartsanalyse zu explizieren. Die beiden ersten Teile des Buches versuchen, diese Forderungen zu erfüllen. Noch ein anderer Aspekt der Verbindung von Luthers Metaphysik des Abendmahls mit der Erstphilosophie sei erwähnt: Wenn Luther in seiner Abendmahlstheologie tatsächlich eine umfassende Metaphysik vertritt, dann muss diese in ihren Gehalten aufgeklärt und gerechtfertigt werden, da nur so dem mit der Metaphysik mitgegebene Anspruch auf Wahrheit entsprochen wird.19 Diese Aufklärung und Rechtfertigung soll nicht nur durch die Darlegung der internen Kohärenz des Denkens Luthers erfolgen, sondern auch durch Bezug auf solche kategorialen Klärungen, die die Reflexionen verschiedener Philosophen liefern. Diese Reflexionen werden Argumente dafür ins Feld führen, Luthers Metaphysik als eine Variante des Realidealismus zu verstehen und diesen als wahr zu vertreten. Das sei genauer dargelegt.
2. Kochs Wahrheitstheorie, Schellings Gotteserweis und Luthers Realidealismus Die wichtigste Quelle für die erstphilosophischen Überlegungen im zweiten Teil des Buches stellt das 2006 erschienene Werk des Philosophen Anton Friedrich Koch dar, das den Titel trägt: Versuch über Wahrheit und Zeit.20 Koch entwickelt seine Überlegungen unter stän19 Oder, mit Walter Sparn, Ontologische Metaphysik, 44, gesprochen: „Was sie [die Theologie, M. W.] als für Christen geltend artikuliert, kann sie, wenn überhaupt verstanden, in der Tat nur als allgemein gültig artikulieren; denn der christliche Glaube ist eine bestimmte Perspektive auf die gesamte erfahrene Wirklichkeit und ihre Möglichkeiten. Nichtsdestoweniger ist dieser Anspruch ein partikularer, weil er unter eschatologischem Vorbehalt steht und daher, wo nicht mit Gewalt universal gemacht, einem ‚Pluralismus aus Prinzip‘ verpflichtet ist. Kraft seiner sprachlichen Mitteilbarkeit und Nachvollziehbarkeit ist das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens gehalten, sich an ontologischen Diskursen zu beteiligen nicht nur als konkurrierende Weltanschauung, die sie auch ist und die als solche nur im ganzen angenommen oder abgelehnt werden kann, sondern zugleich als konjekturale Reflexion von Erfahrungen, deren Ontologie auch extra fidem aus guten Gründen relevant sein kann; so tritt es als ein partikulares, von anderen Voten belehrbares Votum auf.“ 20 Anton Friedrich Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006.
2. Kochs Wahrheitstheorie, Schellings Gotteserweis und Luthers Realidealismus 13
digem Rückgriff auf zentrale Ergebnisse der gesamten Philosophiegeschichte, präsentiert sie aber primär unter Zuhilfenahme von sprachanalytischen Terminologien und Methoden. So entwickelt er seine Argumente im Rahmen einer Analyse der Implikationen der alltäglichen Urteilspraxis und des in dieser Urteilspraxis implizierten Verständnisses von Wahrheit. Laut Koch ist die Wahrheit zum einen dasjenige Thema, das die Erstphilosophie allererst definiert. Zum anderen bringt ein jeweiliges Wahrheitsverständnis umfassende ontologische, epistemologische, semantische und logische Implikationen mit sich. Daher werden im Rahmen von Kochs Wahrheitstheorie zugleich die uns interessierenden Fragen nach der Zuordnung von Geist, Sprache und Materie verhandelt werden. Koch präsentiert seine Wahrheitstheorie als die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit. Die Drei-Aspekten-Theorie besagt, dass Menschen dann berechtigt sind, in ihren Urteilen Wahrheitsansprüche zu erheben, wenn im Verständnis der Wahrheit drei Aspekte in Anschlag gebracht werden, die wesentlich aufeinander bezogen sind, ohne aufeinander reduziert werden zu können. Diese drei Aspekte sind zum ersten das anschaulich-präsentationale Begriffsmoment, das auf das Sich-Zeigen und das Sich-Geben der Dinge verweist und auf das Angewiesensein aller menschlichen Urteilstätigkeit auf dieses Sich-Zeigen. Es gelangt in phänomenologischen Wahrheitstheorien zu besonderer Prominenz. Zum zweiten ist das realistisch-repräsentationale Begriffsmoment anzusetzen, das festlegt, dass die Wahrheit einer von zwei Wahrheitswerten ist. Es weist somit auf die Objektivität der Dinge hin und damit zugleich darauf, dass dem Menschen eine Wirklichkeit gegeben ist, die er selbst nicht im Moment seiner Rede schafft. Das realistisch-repräsentationale Begriffsmoment ist in den verschiedenen Korrespondenztheorien der Wahrheit führend. Als drittes ist das praktisch-normative Begriffs moment der Wahrheit aufzunehmen, das die Wahrheit als berechtigte Behauptbarkeit fasst. Es bedenkt die Verwobenheit menschlicher Wahrheitsansprüche in Sprache und Gemeinschaft und konturiert somit diejenigen menschlichen Aktivitäten, die in dem Sich-Zeigen der Dinge gegründet sind. Es ist in den Konsens- und – in eigener Art – auch in den Kohärenztheorien der Wahrheit von besonderer Wichtigkeit. Die Einsicht Kochs besteht darin, alle drei Wahrheitsaspekte als irreduzibel und als unlöslich miteinander verbunden zu explizieren. Damit öffnet die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit ein Verständnis der Grundzüge der Wirklichkeit, das für Luthers Metaphysik des Abend-
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mahls grundlegend ist. Das gilt gleichermaßen für das Abendmahls geschehen selbst wie für die Wirklichkeit als Ganze. Denn das Abendmahlsgeschehen ist dadurch gekennzeichnet, dass Jesus Christus sich mithilfe des Geistes gibt und zeigt (erster Aspekt), somit real präsent ist (zweiter Aspekt) und auf diese Weise menschliche Aktivität heilvoll begründet und begrenzt (dritter Aspekt). Entsprechend gilt in umfassendem Sinn, dass alles menschliche Denken, Sprechen und Tun davon abhängt, dass sich Gott und die Dinge in ihrer Fülle zeigen (erster Aspekt), dass sie zugleich nicht in ihrem Sich-Zeigen aufgehen, sondern material vermittelt und objektiv gegenwärtig sind (zweiter Aspekt) und gerade so menschliche Aktivität ermöglichen und begrenzen (dritter Aspekt). Die Grenze von Kochs Buch besteht darin, dass er nicht über Gott oder das Absolute reflektiert. Da die Gotteslehre für Luthers Abendmahlstheologie von großer Bedeutung ist und sie entsprechend auch aus erstphilosophischer Perspektive weiter bedacht werden soll, wird im zweiten Hauptabschnitt des zweiten Teils (Zweites Kapitel, 3.) eine der prominentesten philosophischen Debatten der Moderne um die Existenz und Verfasstheit des Absoluten rekonstruiert. Es werden die Positionen von Kant, Hegel und Schelling zu den Gottesbeweisen vor Augen geführt. Dazu wird zuerst Kants urteilstheoretische Destruktion der klassischen Varianten der Gottesbeweise in den Blick genommen, sodann Hegels postkritische Restitution der Gottesbeweise und schließlich Schellings posthegelianische Position. Als Ergebnis stellt sich im Anschluss an Schelling zweierlei heraus. Erstens gibt es gewichtige Argumente, die gegen die Führbarkeit der Gottesbeweise sprechen. Wenn aber überhaupt etwas ist, so ist das Absolute im Rahmen eines Gotteserweises als intern differenziertes – theologisch gesprochen: dann ist Gott als trinitarischer – zu denken, das der Welt zugleich transzendent und immanent sein kann. Diese Figur des trinitarischen Gottes, der der Welt transzendent und immanent ist, findet sich auch bei Luther. Zweitens: Vor allem Hegel und Schelling denken das Absolute in seiner Vermittlung mit dem Kontingenten, so dass sie im Rahmen ihrer Überlegungen zu den Gottesbeweisen auch Überlegungen zur Verfasstheit der Welt präsentieren. Die von Schelling im Rahmen des Idealismus erreichten Einsichten zur Verfasstheit der Dinge und der Menschen ähneln dabei den von Koch im Rahmen von analytischen Überlegungen erreichten Bestimmungen, und beide ähneln denen von Luthers Metaphysik des Abendmahls. Die Einsichten sollen unter dem Schlagwort des Realidea-
3. Heideggers Technikphilosophie in der liquid modernity
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lismus zusammengefasst werden. Der Realidealismus ist dadurch definiert, dass er mit dem Idealismus meint, dass „das, was objektiv der Fall ist oder existiert, ceteris partibus unter Verwendung des Wahrheitsprädikates vollständiger beschrieben werden kann als ohne Verwendung des Wahrheitsprädikats.“21 Zugleich meint er gegen den absoluten Idealismus etwa Hegelscher Prägung, dass die Ordnung des Denkens und die des Seins nicht vollständig ineinander überführbar sind. Diese materiale Nähe zwischen der Position Luthers, Kochs und Schellings stellt eines der zentralen Ergebnisse des vorliegenden Buches dar. Dies gilt umso mehr, als auch Heidegger in eigener Weise als Vertreter der Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit und als Realidealist namhaft gemacht werden soll (siehe dazu Einleitung. 3. und Viertes Kapitel). Es sei aber nicht verschwiegen, dass das vorliegende Buch für das Erreichen dieser Ergebnisse eine Methode in Anschlag bringt, die Luther selbst entschieden ablehnte. Denn die Position Kochs zur Verfasstheit der Menschen und der Dinge ebenso wie die Position Schellings zur Existenz und Verfasstheit des Absoluten werden auf dem Wege erstphilosophischer und damit auf dem Wege apriorischer transzendentalphilosophischer und absolutheitstheoretischer Überlegungen gewonnen. Luther vertritt die Ansicht, dass die erstphilosophisch operierende Vernunft allein aufgrund der von ihr verwendeten Methode als sündig anzusehen ist. Denn ganz unabhängig von ihren materialen Ergebnissen erhebt sie sich dabei in methodischer Hinsicht über Gott und sucht so den Richter der Welt zu richten. Gegen Luther meine ich, dass das Interesse der Theologie an der Wahrheit ihrer Aussagen dazu führen sollte, die Erstphilosophie nicht von vorneherein als sündiges Unternehmen zu brandmarken, sondern dass die Theologie vielmehr von ihrer eigenen Sache her dazu motiviert ist, sich vertieft auf die Erstphilosophie einzulassen (siehe zu diesem Punkt auch Zweites Kapitel, 4.).
3. Heideggers Technikphilosophie in der liquid modernity: Das Abendmahl als focal practice In diesem Buch soll Luthers Metaphysik des Abendmahls nicht nur unter Bezug auf erstphilosophische Diskussionen genauer analysiert und gerechtfertigt werden. Vielmehr soll sie auch unter Bezug auf technik Koch, Versuch, 186.
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Einleitung
philosophische Debatten in ihrer besonderen Relevanz gerade für die Spätmoderne westlicher Gesellschaften erwiesen werden. Ihre Relevanz liegt darin begründet, dass sie ein Verständnis der Wirklichkeit präsentiert, das die Einseitigkeiten des Wirklichkeitsverständnisses der Spätmoderne zu korrigieren hilft. Die Spätmoderne ist in umfassendem Maße durch Beschleunigungen und Verflüssigungen geprägt, die die Verortung des Menschen in Raum und Zeit ebenso betreffen wie die Verfasstheit des Arbeits- und Soziallebens sowie das Verhältnis zum eigenen Körper (Erstes Kapitel, 2.). Um diese Verschiebung durch den Verweis auf Hörischs Idee der ontosemiologischen Leitmedien zu plausibilisieren: Anders als im 16. Jahrhundert ist nicht mehr das Abendmahl das Leitmedium der Gegenwart, anders als im 19. oder frühen 20. Jahrhundert ist aber auch nicht mehr das Kapital das Leitmedium unserer Zeit. Vielmehr sind das Fernsehen und das Internet als die Leitmedien der Spätmoderne namhaft zu machen, und das weißt darauf hin, dass wir seit dreißig oder vierzig Jahren in der liquid modernity 22 leben. Um die tieferen Gründe für diese Verschiebungen zu analysieren, wird auf die Technikphilosophie des späten Heideggers zurückgegriffen. Denn ich begreife die spätmodernen Verflüssigungen als die gesamtgesellschaftliche Realisierung von Verschiebungen, die von Heidegger vorgedacht wurden (Erstes Kapitel, 1.). Heidegger sieht, dass menschliche Handlungen von einem jeweiligen Verständnis der Metaphysik geprägt werden und dass die Metaphysik selbst wiederum von einem bestimmten Verständnis von Wahrheit geprägt ist. Dieses aber ist geschichtlichen Wandlungen unterworfen. Heidegger meint, dass die Geschichte des Abendlands durch drei Grundverständnisse der Wahrheit geprägt wurde; für das vorliegende Buch ist es von Wichtigkeit, dass diese drei Grundverständnisse den drei Aspekten der Wahrheit bei Koch entsprechen. Zur Zeit der Vorsokratiker wurde Wahrheit als Unverborgenheit verstanden, als aletheia. Dieses Wahrheitsverständnis entspricht dem ersten Aspekt der Wahrheit Kochs, der Wahrheit als Sich-Zeigen. Beginnend mit Platon wurde die Wahrheit als Richtigkeit angesehen. Dadurch rückte der Mensch in den Mittelpunkt des Interesses. Dieses Wahrheitsverständnis entspricht dem zweiten Wahrheitsaspekt Kochs, der die Korrespondenz betont. Nietzsche macht explizit, was sich in der Neuzeit zu realisieren beginnt: dass die Wahrheit allein als Wert zu verstehen 22 Dies ist der englische Titel von Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003.
3. Heideggers Technikphilosophie in der liquid modernity
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ist. Wahrheit als Wert baut sich durch Aktivitäten des Menschen auf und ermöglicht es dem Menschen, dass er unbegrenzt über alle Wirklichkeit verfügen kann. Dieses Wahrheitsverständnis entspricht dem dritten Wahrheitsaspekt Kochs, der das pragmatische Moment der Urteilspraxis betont. Das Rasende der Technik und die Beschleunigungen moderner Gesellschaften sind laut Heidegger letztlich Folgen der Verabsolutierung des Verständnisses der Wahrheit als Wert. Laut Heidegger kann die Verabsolutierung der Technik nur durch das Andenken eines anderen Verständnisses von Wahrheit eingehegt werden. Dieses andere Verständnis der Wahrheit muss das Sich-Zeigen der Dinge und damit das seit Platon verdrängte Verständnis der Wahrheit als Unverborgenheit und der damit mitgegebenen Fülle wieder aufnehmen und mit dem Verständnis der Wahrheit als Richtigkeit und als Wert vermitteln. Dadurch kommen die Dinge in ihrer eigenen Würde – als Gaben – und nicht nur als Bestand in den Blick, und der Mensch wird als leibliches, sterbliches Wesen sichtbar, das wesentlich in Sprache und Gemeinschaft verstrickt ist. Im Gefolge von Einsichten von Albert Borgmann 23 meine ich, dass sich dieses andere Wirklichkeitsverständnis in ausgezeichneter Weise in focal practices einüben und ausagieren lässt. Die focal practices sind Handlungen, die den Leib involvieren und meist in Gemeinschaft vollzogen werden. Sie sind durch ein Verständnis der Wirklichkeit motiviert, welches auf die commanding presence of reality - auf das Sich-Zeigen der Fülle des Elementaren – Acht gibt. So zielen sie darauf ab, die Totalisierung menschlicher Aktivitäten zu brechen, indem sie helfen, die Wirklichkeit nicht nur als verfügbaren Bestand für menschliches Handeln wahrzunehmen. Der Vollzug des Abendmahls kann als ausgezeichnete focal practice verstanden werden, in der die commanding presence of reality als Gabe der Überfülle wahrgenommen und in einer feiernden Gemeinschaft empfangen wird. Auf diese Weise wird die menschliche Aktivität in der Spätmoderne auf heilvolle Weise begründet und begrenzt. Die Überlegungen in der Einleitung haben die zentrale Rolle angedeutet, die die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit für das Buch als Ganzes spielt. Die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit stellt nicht nur den kategoriale Kern von Kochs Erstphilosophie dar, sondern auch den von Siehe Albert Borgmann, Technology and the Character of Contemporary Life. A Philosophical Inquiry, Chicago 1984, sowie Albert Borgmann, Crossing the Postmodern Divide, Chicago 1992. 23
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Einleitung
Heideggers Überlegungen. Zugleich bietet sie eine Perspektive, die wesentliche Inhalte von Luthers Metaphysik des Abendmahls in den Blick zu nehmen erlaubt. In gewisser Hinsicht prägt die Drei-Aspekten Theorie jedoch nicht nur die wichtigsten Überlegungen in jedem der drei Teile des Buches, sondern auch die Grundstruktur des Buches als Ganzes. Den drei Aspekten der Wahrheit und ihrem Sich-Kreuzen entsprechen die drei Diskurse und ihr Sich-Kreuzen in dem vorliegenden Buch. Denn der systematisch-theologische Teil (Drittes Kapitel) ist in besonderer Weise dem Sich-Zeigen Gottes und der Dinge gewidmet (erster Aspekt), der erstphilosophische (Zweites Kapitel) klärt, ob dasjenige, was sich zeigt, der Fall ist oder nicht (zweiter Aspekt), und der gegenwartshermeneutische (Erstes Kapitel) nimmt in den Blick, welche Handlungen sich in Entsprechung dazu jeweils vollziehen (dritter Aspekt). Der letzte Satz lässt erkennen, dass das vorliegende Buch einen anderen Aufbau hätte erhalten können. Mindestens zweierlei spricht dafür, zuerst Luthers Abendmahlstheologie zu entwickeln, dann erstphilosophische Überlegungen zu präsentieren und abschließend eine Gegenwartsanalyse vorzulegen (und somit das jetzige Dritte Kapitel als Erstes Kapitel zu platzieren und das jetzige Erste Kapitel als Drittes Kapitel). Zum einen hätte somit evtl. Luthers Metaphysik des Abendmahls noch mehr Gewicht bekommen. Zum anderen wäre so in Übereinstimmung mit der kategorialen Grundstruktur des Buches zuerst dasjenige präsentiert worden, was sich zeigt (erster Aspekt, das Abendmahl), ehe dem nachgedacht worden wäre (zweiter Aspekt, erstphilosophische Überlegungen) und dann dessen gesellschaftliche Relevanz erörtert worden wäre (dritter Aspekt, die technische Spätmoderne). Dass entgegen dieser durchaus plausiblen Möglichkeit die nun hier vorliegende gewählt wurde, hat wiederum zwei Hauptgründe. Zum einen folge ich so einer lutherischen Grundstruktur, zuerst lebensweltliche Einbettungen als Gesetzeserfahrungen zu explizieren (Erstes Kapitel), denen nachzudenken ist (Zweites Kapitel), ehe die Offenbarung des Evangeliums eine nochmals neue Sicht der Dinge – und eine neue Wirklichkeit – mit sich bringt (Drittes Kapitel). Zum anderen hoffe ich, dass sich im Verlauf des Buches ein Netzwerk von Bedeutungen und Bezügen aufbaut, die die Leistungskraft und Tiefe von Luthers Abendmahlstheologie umso deutlicher hervortreten lassen. Das Buch ist aber so verfasst, dass ein geneigter Leser auch sogleich mit dem Dritten Kapitel beginnen mag. Das abschließende, das Ganze zusammenfassende Vierte Kapitel versucht dann nicht nur, die wesentlichen Verbindungslinien dieses umfangreichen Buches expli-
3. Heideggers Technikphilosophie in der liquid modernity
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zit zu machen, sondern geht selbst so vor, dass er von Luthers Abendmahlstheologie aus den Weg in das Zweite Kapitel und dann in das Erste Kapitel nachverfolgt. Eilige Leser mögen damit beginnen oder aber gleich mit dem Vierten Kapitel, 6., das eine Kurzusammenfassung des gesamten Buches bietet.
Erstes Kapitel
Die Spätmoderne des Westens als technisches Zeitalter. Ein Blick auf die Gegenwart Eine wichtige Intention dieses Buches ist es, Dimensionen der gegenwärtigen Relevanz von Luthers Lehre vom Abendmahl zu erforschen. Dafür sei im Folgenden diejenige Großperspektive auf die Gegenwart skizziert, mit der Luthers Abendmahlslehre ins Gespräch gebracht werden soll. Es handelt sich um eine Perspektive, die unsere spätmoderne Gegenwart besonders in der westlichen Hemisphäre als technisches Zeitalter begreift. Das technische Zeitalter ist dadurch geprägt, dass alles Seiende als Bestand angesehen wird, der dem Menschen verfügbar ist. Um zu begreifen, was Technik ist, wenden wir uns zuerst dem späten Martin Heidegger als dem Heidegger nach der „Kehre“1 zu (Erstes Kapitel, 1.). Für den späten Heidegger wird die Technik in expliziterem Maße als zuvor Im Rahmen dieser Einleitung soll nicht auf den gegenwärtig ausgetragenen Streit eingegangen werden, ob es am angemessensten ist, von einer, von zwei oder von gar keiner Kehre im Denken Heideggers auszugehen; siehe als Überblick über diesen Streit Dieter Thomä, Stichwort: Kehre. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe? in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 134–141. Vielmehr wird der Begriff in pragmatischer Absicht verwendet und dazu in zweifacher Hinsicht näher bestimmt. In chronologischer Hinsicht soll er anzeigen, dass die im Folgenden bedachten Texte nach 1927 entstanden. In inhaltlicher Hinsicht wird nicht nur etwa mit Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1988, 183, festgehalten, dass sich die Kehre dadurch auszeichnet, dass das Seinsereignis selbst „mit dem Attribut des Wahrheitsgeschehens ausgestattet“ wird, siehe dazu auch schon Ernst Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967, 382. Im Anschluss an Andreas Luckner, Heidegger und das Denken der Technik, Bielefeld 2008, 108–115, lässt sich vielmehr festhalten, dass die Kehre zudem auch in direkterem Sinne unter technikphilosophischen Aspekten gefasst werden kann, und zwar durch eine Neubestimmung des Verständnisses des Dings. Während der Heidegger vor der Kehre in Martin Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927, §§ 14–18, allein zwischen Zu- und Vorhandenem unterschied und das Zuhandene als Zeug, das Vorhandene aber als Ding benannte, sah der Heidegger nach der Kehre, dass Zeug und Ding in diesem Sinne letztlich beide in totaler Weise der Verfügungsgewalt des Menschen unterstehen und damit – in der Terminologie des späten Heideggers – nur als „Bestand“ genommen werden. Demgegenüber bestimmt der späte Heidegger das Ding neu: Nun ist es das1
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Erstes Kapitel: Die Spätmoderne des Westens als technisches Zeitalter
zu einem beherrschenden Thema seines Philosophierens.2 Dieser späte Heidegger gilt aus zwei Gründen als der wohl einflussreichste Technikphilosoph des 20. Jahrhunderts.3 Zum einen analysiert er die Veränderungen der westlichen Moderne dergestalt, dass er nicht nur die sichtbaren Verschiebungen notiert, sondern auch Tiefenstrukturen namhaft macht, die für die sichtbaren Verschiebungen verantwortlich sind. Entsprechend bindet er seine Analyse der Technik an umfangreiche und tiefgreifende metaphysische Überlegungen zurück, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Zum anderen scheint mir, dass sich die von Heidegger analysierten Veränderungen in den Tiefenstrukturen allererst in den letzten dreißig oder vierzig Jahren in umfassender Weise gesamtgesellschaftlich realisieren. Somit liefert Heideggers über fünfzig Jahre alte Technikphilosophie Analyseinstrumente an die Hand, die gerade für unsere spätmoderne Gegenwart – für unsere liquid modernity - hilfreich sind. Die gesamtgesellschaftliche Realisierung der von Heidegger in ihren Tiefenstrukturen namhaft gemachten Veränderungen wird unter Rückgriff auf verschiedene Soziologen und Kulturphilosophen wie Antony Giddens, Ulrich Beck, Richard Sennett, Hans Ulrich Gumbrecht, Albert Borgmann und andere rekonstruiert (Erstes Kapitel, 2.). Der erste Teil endet mit einem Hinweis auf focal practices als solche Tätigkeiten, die der Verabsolutierung der Beschleunigung zu wehren helfen. Luthers Abendmahlslehre kann als eine ausgezeichnete focal practice verstanden werden (Erstes Kapitel, 2.3.).
1. Heidegger als Philosoph der Technik Bevor Heidegger als Philosoph der Technik analysiert wird, seien zwei Vorbemerkungen vorausgeschickt. Die eine legt dar, auf welchen Textbestand zurückgegriffen wird, die andere deutet die zentrale Perspektive an, unter der Heidegger gelesen wird. Zur Rekonstruktion Heideggers jenige, was eine eigene Form von Selbst- und Widerständigkeit gegenüber aller technischen Verfügbarkeit aufweist, siehe dazu unten Erstes Kapitel, 2.1.5. 2 Luckner verweist zu Recht darauf, dass bereits der frühe Heidegger technikphilosophische Überlegungen anstellte, die in Kontinuität – und Diskontinuität, siehe oben Anm. 2 – zum späten Heidegger stehen; siehe als Überblick Luckner, Heidegger, 17–21. 3 Siehe dazu auch Herbert Hravochec, Technik: Erfolgsgeschichte, Schreckbild, Spielraum, in: PhR 51 (2004), 27–52.
1. Heidegger als Philosoph der Technik
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wird auf diejenigen seiner Texte zurückgegriffen, die er selbst zum Thema veröffentlichte. Die im Rahmen der Gesamtausgabe erscheinenden Nachlassbände bieten eine Vielzahl von Differenzierungen, die etwa entwicklungsgeschichtliche Forschungsperspektiven auf Heidegger eröffnen. Sie scheinen aber zu keiner Verschiebung derjenigen Grundzüge seiner Technikphilosophie zu führen, die aus den zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften erhebbar sind, und allein um die Rekonstruktion dieser Grundzüge geht es im Rahmen des vorliegenden Buches. Heidegger wird im Folgenden als Technikphilosoph präsentiert, der Einsichten in die Tiefenstrukturen der modernen, von der Technik geprägten Gesellschaften des Westens erlangt.4 Um die Gegenwart angemessen in den Blick zu bekommen, entwirft Heidegger eine umfassende Geschichte des Abendlandes, die in der technischen Moderne ihren Tiefund Wendepunkt erfährt. Die Leitperspektive der folgenden Interpretation bringt es mit sich, dass Heideggers Bild der Geschichte des Abendlandes zwar analysiert wird, aber nicht als solche im Zentrum der folgenden Überlegungen steht. Heideggers Bild der Geschichte des Abendlandes wird nur insofern analysiert und kritisch diskutiert, wie es zur Rekonstruktion des Technikphilosophen Heideggers vonnöten ist. Das impliziert zum einen, dass Heideggers Technikphilosophie nicht primär in seinsgeschichtlicher Perspektive gelesen wird (auch wenn sich beide Dimensionen nicht voneinander trennen lassen). Zum anderen stehen die bekanntlich hoch umstrittenen Auslegungen, die Heidegger von der Geschichte des Abendlandes und von ihren Denkern vorlegt, nicht als solche zur Debatte.5 Die vorliegende Auslegung ist an den systematischen Einsichten Heideggers interessiert, und diese stehen (relativ) unabhängig davon in Geltung, ob die Geschichte des Abendlandes mit Heidegger in drei Phasen verläuft oder aber in Wahrheit in fünf, oder ob sie in Teilen zyklisch verläuft, und sie stehen auch unabhängig davon in Gel4 Heidegger sieht etwa auf Martin Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, 67–95, 73, dass die technische Moderne ihre „planetarische Herrschaft“ antritt; dennoch seien die vielfachen Transformationen, die die technische Moderne in den außereuropäischen Ländern erfährt, hier ganz außer Acht gelassen und sich „nur“ auf die Spätmoderne des Westens konzentriert. 5 Die Errungenschaften und Verzeichnungen der Auslegungen Heideggers sind mittlerweile recht umfassend aufgearbeitet. Als Einstieg in die Literatur dazu empfehlen sich die entsprechenden Abschnitte in Thomä, Handbuch; zu Nietzsche siehe etwa Werner Stegmaier, Auseinandersetzung mit Nietzsche II, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 202–210, 208 f.
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Erstes Kapitel: Die Spätmoderne des Westens als technisches Zeitalter
tung, ob Heidegger Platon und Nietzsche angemessen auslegt oder nicht. Heideggers Großtheorie abendländischer Seinsgeschichte wird also nicht als Geschichte des Seins während des gesamten Abendlandes, sondern als Hilfestellung für das Verständnis der Verfasstheit der westlichen Spätmoderne analysiert. Dazu werden im folgenden Abschnitt (Erstes Kapitel, 1.1.) die wichtigsten Strukturmomente seiner Technikphilosophie benannt, ehe Heideggers Perspektive auf die Geschichte des Abendlandes rekonstruiert wird (Erstes Kapitel, 1.2.). Danach wird Heideggers Gegenbild zur technischen Moderne vor Augen gestellt (Erstes Kapitel, 1.3. und Erstes Kapitel, 1.4.) und auf seine Anschlussmöglichkeiten für das vorliegende Buch hin befragt (Erstes Kapitel, 1.5.).
1.1. Heidegger: Technik als eine Weise des Entbergens. Grundlegende Strukturmomente Heideggers Bestimmung der Technik setzt sich dergestalt von zwei gängigen alternativen Bestimmungen ab, dass er diese Bestimmungen in sein Verständnis von Technik integriert und zugleich weit überschreitet. 6 Technik, so eine geläufige Definition, ist im Rahmen einer Mittel-Zweck-Relation zu verstehen. Da der Mensch ein Mängelwesen ist, schafft er sich technische Geräte, um sein Dasein zu erleichtern. Als solche betrachtet sind die technischen Geräte neutral, und der angemessene Umgang mit ihnen besteht darin, sie zum Guten zu nutzen, nicht zum Bösen. Die friedliche Nutzung der Kernenergie wäre demnach ein angemessener Umgang mit der Technik, der kriegerische hingegen nicht.7 Eng verbunden mit der ersten ist die zweite gängige Bestimmung, die die Technik vor allem als Tun des Menschen ansieht, bei dem Erfinden, Herstellen und Ausführen Hand in Hand gehen. Heidegger hält beide Bestimmungen für defizitär, integriert sie aber in seine eigene, umfassende Bestimmung der Technik. Seine eigene Bestimmung besagt, dass Technik „eine Weise des Entbergens“8 ist, eine Weise also, in der sich Wirklichkeit als Ganze darstellt. Damit geht mit der Technik ein 6 Zu dieser Auseinandersetzung siehe Martin Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Martin Heidegger, Aufsätze und Vorträge, Stuttgart 1954, 9–40, 9 f. und Günter Seubold, Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, Freiburg 1986, 19– 33. 7 Heidegger äußert sich selbst zu diesem Beispiel auf Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Stuttgart 1957, 199. 8 Heidegger, Die Frage nach der Technik, 16.
1. Heidegger als Philosoph der Technik
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bestimmtes Verständnis des Seins und der Wahrheit, des Menschen, der Welt, des Verhaltens des Menschen in der Welt inklusive der Art des Denkens (also einer Seinsweise) sowie ein Verständnis des Grundzugs der Wirklichkeit einher. Diese verschiedenen Dimensionen sind einander wie folgt zugeordnet: 9 Alle Zeiten und Gesellschaften sind durch bestimmte Gesamtverständnisse der Wirklichkeit – dessen, was das Seiende und die Wahrheit ist – geprägt. Das Gesamtverständnis äußert sich in einer Seinsweise (in einer Form des Lebens) und bestimmt diejenigen Möglichkeitsräume, innerhalb derer gehandelt werden kann. Die Seinsweisen haben insofern einen intellektualistischen Zug, als sie jeweils von einer Art des Denkens bestimmt werden.10 Entsprechend dieser Art des Denkens werden Mensch, Welt und die menschlichen Handlungsräume in der Welt gefasst.11 Die Art des Denkens wird zwar nicht ohne Einbeziehung des Menschen, aber letztlich nicht allein durch ihn bestimmt. Vielmehr ist sie durch eine überindividuelle Instanz, das Sein, informiert, das auf engste mit der Wahrheit verbunden ist: Wahrheit ist ein „Grundzug“ des Seienden und somit „ein Name für esse“.12 So wie das Sein und die Wahrheit sich zeigen oder verbergen, so ist die Art des Denkens verfasst. Der Mensch und seine Vernunft können sich nur innerhalb desjenigen Rahmens bewegen, den das Sein ihnen eröffnet. Das Sein eröffnet „den Spielraum der Erfahrung und der Beurteilung, die allen Dingen und Verhältnissen allein das Maß und ihrer Zu- und Einrichtung allein die Regel geben.“13 Somit sind drei Ebenen voneinander zu unterscheiden und einander zuzuordnen: Das Sein selbst (erste Ebene) eröffnet einen Möglichkeits Heidegger selbst liefert so etwas wie eine Zusammenfassung wesentlicher Strukturmomente seines Wirklichkeitsverständnisses in Martin Heidegger, Die Kehre, in: Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Stuttgart 1962, 37–47, v. a. 37–41. 10 Habermas, Der philosophische Diskurs, 158 f. bemerkt daher: „Heidegger setzt die Philosophie wieder in die Herrschaftsposition ein, aus der sie durch die Kritik der Junghegelinaer vertreiben worden war.“ Er operiert mit einer „idealistischen Optik“. 11 Entsprechend sagt Heidegger, Die Kehre, 40: „Denken ist das eigentliche Handeln.“ Siehe dazu auch Luckner, Heidegger, 131 f. 12 Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976, 203–238, 237 FN. Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976, 177–201, 201, sagt dementsprechend: „Wahrheit bedeutet lichtendes Bergen als Grundzug des Seyns.“ 13 Heidegger, Platons Lehre, 214. 9
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Erstes Kapitel: Die Spätmoderne des Westens als technisches Zeitalter
raum, der sich als eine von einer bestimmten Denkungsart geprägten Seinsweise darstellt. Das Sein bestimmt das Verständnis von Mensch und Welt (zweite Ebene). Innerhalb dieses Möglichkeitsraumes kann dann gehandelt werden (dritte Ebene). Die eingangs des Absatzes erwähnten zwei gängigen Verständnisse der Technik als Mittel zum Zweck und als menschliche Handlung sind somit erst auf der dritten Ebene zu verorten und finden dort ihr relatives Recht. Die erste Ebene – die des Seins und der Wahrheit – stellt den die zweite und die dritte Ebene prägenden Ursprung dar. Zugleich darf die erste Ebene nicht in gleichsam hypostasierter Form als abgelöst oder als ablösbar von der zweiten und dritten Ebene – der Seinsweise und ihren Handlungsspielräumen – vorgestellt werden: „‚Sein‘ löst sich in die Zuwendung auf. [. . .] ‚Sein‘ ist, das Menschenwesen brauchend, darauf angewiesen, den Anschein des Für-sich preiszugeben, weshalb es auch anderen Wesens ist, als die Vorstellung eines Inbegriffs wahrhaben möchte, der die Subjekt-Objekt-Beziehung umgreift.“14 Entsprechend besteht das Wesen der Wahrheit darin, sich inmitten des Seienden zu ereignen, und das „Wesen“ des Wesens der Wahrheit will verbal gedacht werden.15 Eine Trennung des Seins und der Wahrheit von seiner Weise der Entbergung wäre Ausdruck desjenigen metaphysischen Denkens einer SubjektObjekt-Trennung, das Heidegger letztlich über- bzw. verwinden will. Zugleich bleibt festzuhalten, dass die erste Ebene der Ursprung der zweiten und dritten ist, und zwar in zeitlicher wie in sachlicher Hinsicht. In der Geschichte des Abendlandes zeigt sich dem interpretierenden Philosophen Heidegger bereits bei Platon (als dem zeitlichen Ursprung abendländischen Denkens) der sachliche Ursprung derjenigen Art des Denkens, die das Abendland prägt.16 Dieser sachliche Ursprung besteht in einer Selbstverbergung des Seins und führt eine Denkungsart herauf, die an ihr selbst gefasst als Metaphysik explizit wird. Die Metaphysik wird als „Wahrheit des Seienden als solches im Ganzen“17 gedacht und dabei als onto-theologische verstanden. Denn mit dem Seienden als sol14 Martin Heidegger, Zur Seinsfrage, in: Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976, 385–426, 410 f. 15 Siehe dazu Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 201, und Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, 1–74, 21.49. 16 Entsprechend bezeichnet Habermas, Der philosophische Diskurs, 158, Heideggers Philosophie als Ganze als „temporalisierte Ursprungsphilosophie.“ 17 Martin Heidegger, Die onto-theologische Verfassung der Metaphysik, in: Martin Heidegger, Identität und Differenz, Stuttgart 1957, 31–67, 45.
1. Heidegger als Philosoph der Technik
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chen in seiner Allgemeinheit ist das Thema der Ontologie, mit dem Seienden im Ganzen aber das Thema der Theologie berührt.18 Die Metaphysik bestimmt nicht nur die Handlungsspielräume der antiken Gesellschaft, sondern letztlich auch die Handlungsspielräume der von der neuzeitlichen Technik geprägten Gegenwart. Denn Heidegger präsentiert die Geschichte des Abendlandes als eine einheitliche, in sich geschlossene, die zudem eine Geschichte des Verfalls ist: „Die Metaphysik ist in allen ihren Gestalten und geschichtlichen Stufen ein einziges, aber vielleicht auch das notwendige Verhängnis des Abendlandes und die Vorrausetzung seiner planetarischen Herrschaft.“19 Genauer gesagt, präsentiert sich die Geschichte des Abendlandes als Drama in drei Akten: 20 Sie kennt eine je schon vergangene und daher eigentlich noch nie eingetretene Vorgeschichte, deren Spuren bei den Vorsokratikern und dann bei Dichtern wie Hölderlin zu fassen ist (1. Akt). Sodann kennt sie die Geschichte selbst, die als Verfallsgeschichte der Metaphysik verstanden wird (2. Akt). Sie erfährt in der Gegenwart ihren in die Selbstauflösung treibenden Tiefpunkt, welcher zugleich die Möglichkeit der Umkehr eröffnet (3. Akt). Die Umkehr soll hin zu einer Situation erfolgen, die ähnlich bestimmt ist wie die nie eingetretene Vorgeschichte, sie erfolgt also hin zu einem anderen Anfang (der 3. Akt strebt nach dem nie aufgeführten 1. Akt, oder Zukunft ist Herkunft). Heidegger unterläuft mit den eben dargelegten Bestimmungen zwei Einteilungen, die sich besonders in einer in kantischer Tradition stehenden Philosophie großer Beliebtheit erfreuen: die zwischen theoretischer und praktischer Philosophie sowie die zwischen vorneuzeitlichem und neuzeitlichem Denken.21 Indem Heidegger feststellt, dass Denken und Handlungen von dem jeweils vorherrschenden, umfassenden Verständnis der Wirklichkeit geprägt sind, bindet er in güterethischer Manier die praktische Philosophie an die theoretische und beide gemeinsam an ein ursprünglicheres Wirklichkeitsverständnis zurück. So ist der Umgang mit der neuzeitlichen Technik von der Metaphysik des Abendlandes informiert, welche selbst in einer Weise der Seinsentbergung ruht. Zudem markiert Heidegger einerseits einen Bruch zwischen Vorneuzeit und Siehe Heidegger, Die onto-theologische Verfassung, 49 f. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 73. 20 Siehe dazu auch Emil Angehrn, Kritik der Metaphysik und der Technik. Heideggers Auseinadersetzung mit der abendländischen Tradition, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 268–279, 275. 21 Siehe dazu Angehrn, Kritik der Metaphysik, 268. 18 19
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Erstes Kapitel: Die Spätmoderne des Westens als technisches Zeitalter
Neuzeit, da letztlich erst die Moderne (und damit erst der 3. Akt) überhaupt so etwas wie Technik im qualifizierten Sinn kennt. Andererseits aber ist die moderne Technik nur von der das Abendland in seiner gesamten Geschichte dominierenden Metaphysik her zu verstehen. Um dieser Grundeinsicht Heideggers gerecht zu werden, sollen im Folgenden die Heideggerschen Darstellungen derjenigen drei Stationen abendländischen Denkens rekonstruiert werden, die laut Heidegger für das Verständnis abendländischer Metaphysik und damit für das Verständnis unserer durch Technik geprägten Gegenwart von größter Bedeutung sind: Es handelt sich dabei um Platon (der den Übergang vom 1. zum 2. Akt des Dramas repräsentiert), um Nietzsche (der die Vollendung des 2. Aktes und damit einen Teilaspekt des 3. bereithält) und um Heidegger selbst (bei dem der 3. Akt zu seiner bisher vollsten Entfaltung gelangt).
1.2. Heideggers Rekonstruktion der Geschichte des Abendlandes 1.2.1. Platon: Der Wandel des Wesens der Wahrheit Heidegger begreift Platon als den ersten Metaphysiker und damit als den Beginn abendländischen Denkens. Dazu macht er an Platon dasjenige deutlich, was von Platon selbst ungesagt blieb, was sich aber in Wahrheit bei ihm ausspricht: 22 In Platons Auslegung des Höhlengleichnisses scheint eine „Wendung in der Bestimmung des Wesens der Wahrheit“23 durch und damit eine Änderung der gesamten Art, wie sich Wirklichkeit aufbaut. Das Höhlengleichnis selbst unterteilt sich in vier Stufen. Zuerst wird von gefesselten Menschen erzählt, die in einer Höhle (als dem Ort des vorphilosophischen Wahrheitsverständnisses) sitzen und dort nur die Schatten derjenigen Dinge sehen, die hinter ihrem Rücken an einem Feuer vorbei getragen werden. Sodann werden die Gefangenen von ihren Fesseln gelöst und zu derjenigen Ebene innerhalb der Höhle geführt, auf der das Feuer brennt. Schließlich kommen sie von dort aus der Höhle ins Offene. Nach einer Zeit schmerzhafter Gewöhnung an die Helle im Offenen sehen sie die Gegenstände (die selbstredend für die Ideen ste Heidegger, Platons Lehre, 203: „Die ‚Lehre‘ eines Denkers ist das in seinem Sagen Ungesagte, dem der Mensch ausgesetzt wird, auf dass er sich dafür verschwende. Damit wir das Ungesagte eines Denkers, welcher Art es auch sei, erfahren und inskünftig wissen können, müssen wir sein Gesagtes bedenken.“ 23 Heidegger, Platons Lehre, 203. 22
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hen) und die sie bescheinende Sonne (als die Idee des Guten). Schließlich kehren sie in die Höhle zurück, um den dort Verbliebenen von den wahren Dingen im Offenen zu erzählen. Dies hat zur Folge, dass sie – wie bei Sokrates geschehen – oftmals von den in der Höhle Verbliebenen angegriffen und getötet werden. Das Höhlengleichnis wird bei Platon unter zwei Perspektiven präsentiert, wobei die erste bereits fast ganz verdeckt ist. In ihr klingt das gerade überwundene, ursprüngliche, noch nicht metaphysische Wesen der Wahrheit nach, während die zweite die bei Platon dominierende ist und durch das gewandelte Wesen der Wahrheit hervorgerufen wurde. Für die erste Perspektive ist auf der Gleichnisebene die Differenz zwischen Höhle und Oberwelt sowie die Rückkehr von der Oberwelt in die Höhle und das dortige Geschehen des Kampfes von entscheidender Bedeutung. Dadurch nämlich wird klar, dass Wahrheit im Anschluss an das griechische Wort aletheia als Unverborgenheit zu fassen ist. Die Höhle selbst steht für die Verborgenheit, die Oberwelt für die Unverborgenheit, und es ist von größter Wichtigkeit, dass Unverborgenheit „stets eine Verborgenheit des Verborgenen überwindet. Das Unverborgene muß einer Verborgenheit entrissen, dieser im gewissen Sinne geraubt werden. Weil für die Griechen anfänglich die Verborgenheit als ein Sichverbergen das Wesen des Seins durchwaltet und somit auch das Seiende in seiner Anwesenheit und Zugänglichkeit (‚Wahrheit‘) bestimmt, deshalb ist das Wort der Griechen für das, was die Römer ‚veritas‘ und wir ‚Wahrheit‘ nennen, durch das a privativum (a-letheia) ausgezeichnet. Wahrheit bedeutet anfänglich das einer Verborgenheit abgerungene,“24 das der Mensch als Vernehmender dann hört. Die in Platons Auslegung dominierende zweite Perspektive aber ist bereits vom gewandelten Wesen der Wahrheit bestimmt, nach welchem Wahrheit als Richtigkeit (orthotes) des menschlichen Blickes und der menschlichen Aussage gefasst wird. Die Wandlung ereignet sich, indem das Höhlengleichnis nicht mehr von der Differenz zwischen Verborgenheit und Unverborgenheit und dem Kampf zwischen beiden her gedacht wird, sondern von der Sonne als der Idee des Guten und damit allein von der Helle des Scheins her, die Scheinen und Erscheinen ermöglicht. Entsprechend wird auch das Wesen des Seins neu gefasst, nämlich als „Anwesung.“25 Dazu aber muss die Idee des Guten das Wesen der Wahrheit Heidegger, Platons Lehre, 223. Heidegger, Platons Lehre, 225
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als Un-verborgenheit unterdrücken: „Die aletheia kommt unter das Joch der idea“.26 Indem die Idee des Guten in die herrschende Position einrückt und als das Sein des Seienden gedacht wird, wird sie als das gefasst, was das „Erscheinen alles Anwesenden in seiner Sichtsamkeit“27 ermöglicht. Sie gewährt, dass alles Anwesende erscheinen kann und so seinen „Bestand“28 hat. Damit ist bereits das veränderte Verständnis alles Seienden ausgesprochen: Alles Seiende wird nicht von seiner ihm eigenen Substanz und „Würde“29, sondern von seiner Sicht- und Verfügbarkeit her gedacht, als anwesender Bestand. So ist es zugleich auf den Menschen bezogen, der ebenso grundsätzlich neu bestimmt wird. Denn mit dem Wandel des Wesens der Wahrheit als Richtigkeit menschlichen Verhaltens wandelt sich auch die Verortung der Wahrheit von den Dingen hin zum Menschen. Der Mensch wird somit zur Mitte alles Seienden. Alles Seiende ist auf ihn bezogen, da es in seiner Richtigkeit nur ist, insofern es vom Menschen erkannt wird; zudem dient es ihm zur Entfaltung seiner Möglichkeiten.30 Es ist gerade die Idee des Guten, die durch ihr Scheinenlassen dem Seienden die Sichtbarkeit und dem Menschen das Sehen gibt, sie also zwingt beide zusammen.31 Damit geht einher, dass der Mensch nicht mehr vom Hören, sondern vom Sehen bestimmt wird und ein dementsprechendes Verständnis des Denkens entwickelt: Wurde Vernunft ursprünglich als Vernehmen gedacht, so richtet sie sich nun auf die Ideen aus32 und will in Bezug darauf Gründe austauschen, um Richtiges zu sagen.33 Damit der Mensch dieser vom Wandel des Wesens der Wahrheit hervorgerufenen Umwandlung des Verständnisses von allem Seienden und seiner selbst entsprechen kann, muss er entsprechend gebildet werden. Er muss als Ganzer umgewendet werden hin zu einem neuen Sehen. Er muss eingebildet werden in die „Stetigkeit der Zuwendung zu dem, was in seinem Aussehen erscheint.“34 Dadurch erlangt er eine eigene Form des Sich-Auskennens, der sophia, die, sobald sie sich auf die Ideen richtet, Heidegger, Platons Lehre, 230. Heidegger, Platons Lehre, 228. 28 Heidegger, Platons Lehre, 229. 29 Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, 209–267, 258. 30 Heidegger, Platons Lehre, 236. 31 Heidegger, Platons Lehre, 226. 32 Heidegger, Platons Lehre, 226. 33 Siehe dazu auch Seubold, Heideggers Analyse, 168–171. 34 Heidegger, Platons Lehre, 222. 26 27
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als philosophia, als Philosophie in der Form der Metaphysik, auftritt.35 Dieser auf die Metaphysik abzielende Bildungsvorgang, der den Menschen in dem im Abendland vertrauten Sinne schafft, ist laut Heidegger das eigentliche Zentrum der bei Platon dominierenden Perspektive der Auslegung des Höhlengleichnisses. Denn Platon betont weniger die Stufen des Gleichnisses als vielmehr die Übergänge zwischen den Stufen, den mühevollen Weg hin zu immer richtigerem Sehen der Idee des Guten. Begründet aber ist diese Bildung des abendländischen Menschen im gewandelten Wesen der Wahrheit: Als Richtigkeit verstanden, fordert sie die stetige Anwesenheit alles Seienden und die stets zu bildende, stetige Zuwendung des menschlichen Blickes zu ihr, welches beides durch die Sonne der Idee des Guten ermöglicht wird. Die Prägekraft Platons für das gesamte Abendland und damit seine Gegenwärtigkeit bis in die Neuzeit hinein wird deutlich, wenn vor allem zwei Strukturmomente des sich bei ihm aussprechenden Seinsverständnisses als Konstanten verstanden werden, die nur mit je variierenden Inhalten gefüllt werden: Der Mensch rückt in den Mittelpunkt, und er orientiert sich dabei an einer leitenden Idee. So rückt mit Platon der Mensch in die Mitte des Seienden ein, und alles Seiende dient zur Entfaltung der menschlichen Möglichkeiten. Dies vollzieht sich im Abendland – material variierend – „als Prägung der ‚sittlichen‘ Haltung, als Erlösung der unsterblichen Seele, als Entfaltung der schöpferischen Kräfte, als Ausbildung der Vernunft, als Pflege der Persönlichkeit, als Weckung des Gemeinsinns, als Züchtigung des Leibes oder als geeignete Verkopplung einiger oder all dieser ‚Humanismen‘.“36 Zugleich orientiert sich der Mensch dabei jeweils an einer ihn prägenden Idee, welche sich material wandelt und auftritt als „Gott, das Sittengesetz, die Vernunftautorität, der Fortschritt, das Glück der Meisten, die Kultur, die Zivilisation“37 etc. In Descartes spricht sich gerade das erste Strukturmoment in einer für die Neuzeit prägenden Weise dadurch aus, dass das Subjekt als subiectum, als Zugrundeliegendes, angesehen wird. Damit nimmt es die Rolle des hypokeimenon ein, welche in der vor-platonischen Antike der Substanz zugeschrieben wurde: Die Substanz ist Sub-jekt geworden, „die ousia (Seiendheit) des subiectums wird zur Subjektität des Selbstbewusstseins.“38 Alles andere Seiende ist nur, insofern es als Objekt auf das Siehe Heidegger, Platons Lehre, 234 f. Heidegger, Platons Lehre, 236. 37 Heidegger, Nietzsches Wort, 221. 38 Heidegger, Nietzsches Wort, 236. 35
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Subjekt zugeordnet ist.39 Ihre Vollendung und damit zugleich ihren Höhepunkt wie den Punkt ihres Sturzes erfährt die Metaphysik durch Nietzsche, indem sie sich in Nietzsches Wort, dass Gott tot ist, in ihrer letzten Wahrheit ausspricht.
1.2.2. Nietzsche: Der Tod Gottes und die Auferstehung des Übermenschen Nietzsche inszeniert sich selbst als Aufklärer der Aufklärung. Denn er schickt den tollen Menschen am hellen Vormittag, der Zeit des Enlightenments, mit einer Laterne zur weiteren Erhellung auf den Marktplatz, die agora.40 Die Aufklärung der Aufklärung besteht in der Einsicht, dass „Gott tot ist.“41 Damit ist nicht nur gesagt, dass der christliche Gott für das Selbstverständnis des neuzeitlichen Menschen an Bedeutung verliert und es etwa einen sich ausbreitenden, theoretisch gestützten oder nur gelebten Atheismus gibt, der sich an anderen Ideen wie der Idee des Glücks der Meisten orientiert. Vielmehr besagt der Satz vom Tode Gottes, dass das seit Platon dominierende Strukturmoment einer Welt der Ideen, die das Leben der Menschen bestimmt, als Ganzes an Prägekraft verliert (und eigentlich immer schon verloren hat): Die „Götter verwesen“,42 sie verlieren ihr Wesen. Die Wirklichkeit baut sich nicht mehr unter Bezug auf die „Sonne“ in ihren variierenden materialen Fassungen auf. Entsprechend ist die im Bild erfolgende Explikation Nietzsches von seinem Wort, dass Gott tot sei, auf Platon zu beziehen,43 wenn Nietzsche fragt: „Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne loskettete? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?“44 Wir irren wie durch ein unendliches Nichts, da die Loskettung von der Sonne – das Nachlassen der Prägekraft der Ideen oder die Entwertung aller höheren Ideale – 39 Entsprechend schreibt Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, 75–96, 93: „Je objektiver das Objekt erscheint, desto subjektiver [. . .] erhebt sich das Subiectum.“ 40 Siehe Heidegger, Nietzsches Wort, 214 f. 41 Heidegger, Nietzsches Wort, 215. 42 Heidegger, Nietzsches Wort, 215. 43 Siehe Heidegger, Nietzsches Wort, 261. 44 Zitiert nach Heidegger, Nietzsches Wort, 215.
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gerade den Nihilismus definiert.45 Wir leben im Zeitalter des Nihilismus als der Zeit, die nicht mehr von Idealen geprägt wird. Der Nihilismus selbst ist wiederum nicht bloß als Vorstellungen von Denkern noch überhaupt als etwas von neuzeitlichen Individuen oder Gruppen Gemachtes zu begreifen. Vielmehr bezeichnet er laut Heidegger ein vom Sein gesendetes und daher umfassend prägendes Geschick46 , das den Grundvorgang des Abendlandes als Ganzes bezeichnet, angefangen bei Platon.47 Denn in Wahrheit beginnt sich die Wirklichkeit bereits seit Platon wesentlich vom Menschen her aufzubauen. Wenn die Wahrheit erst einmal als Richtigkeit verstanden wird, so ist das erste von Platons Strukturmomenten – der Mensch als Mittelpunkt des Seienden – stets schon dabei, das zweite – den Aufbau der Wirklichkeit durch die Prägekraft der Ideen – zu usurpieren.48 Im Bild gesprochen: Der Mensch trinkt das Meer (als das Ganze der Wirklichkeit) aus und etabliert damit sich selbst als letztes Aufbaumoment von Wirklichkeit.49 Dabei gehört es zu den Eigenheiten des Geschicks des Nihilismus, dass es sich selbst zu verschleiern sucht. Entsprechend wollen die Menschen diesen Verlust der Prägekraft nicht wahrhaben und setzen stattdessen immer neue Ideen wie die des Fortschritts, von denen sie sich dann prägen lassen.50 Gleichzeitig durchschauen sie diesen Setzungsvorgang nicht und meinen daher fälschlicherweise, dass sie sich weiterhin den ihnen objektiv vorgegebenen Ideen hingeben können. Erst Nietzsche benennt die Wahrheit der abendländischen Geschichte, indem er das Abendland als nihilistisch begreift. Seine Größe liegt somit darin, die Selbsttäuschung des Abendlandes zu durchbrechen: Nietzsche ist der Aufklärer der Aufklärung. Nietzsches Antwort auf die nihilistischen Situation und damit seine Überwindung des Nihilismus besteht gerade darin, die unerkannte Wahrheit des Nihilismus zu bejahen. Der Nihilismus ist durch die Entwertung der Ideen definiert und seine unerkannte Wahrheit dadurch, dass sich alle Wirklichkeit vom Menschen her und deshalb ausschließlich Siehe Heidegger, Nietzsches Wort, 222. Siehe Heidegger, Nietzsches Wort, 265. 47 Mit Heidegger, Nietzsches Wort, 213, spricht sich in Nietzsches Wort „das Geschick von zwei Jahrtausenden abendländischer Geschichte“ aus. 48 Siehe Heidegger, Platons Lehre, 237. Entsprechend schreibt Heidegger a.a.O: „Platons Denken folgt dem Wandel des Wesens der Wahrheit, welcher Wandel zur Geschichte der Metaphysik wird, die in Nietzsches Denken ihre unbedingte Vollendung begonnen hat.“ 49 Siehe Heidegger, Nietzsches Wort, 215. 50 Siehe Heidegger, Nietzsches Wort, 225. 45
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auf ihn hin aufbaut. Laut Nietzsche vollzieht sich die Überwindung des Nihilismus dadurch, dass dieser Aufbau aller Wirklichkeit vom Menschen her bejaht und vorangetrieben wird, denn so wird die Entwertung der Ideen durch den Aufbau einer neuen Wirklichkeit überwunden. Derjenige Mensch, der diesen Aufbau willentlich vollzieht, ist der „Übermensch“.51 Damit ist eine neue Stufe des Wirklichkeitsverständnisses erreicht, die die Metaphysik vollendet und darin zugleich auflöst: Platon dachte zwar alles Seiende als auf den Menschen hingeordnet. Seinem Verständnis von Wahrheit als Richtigkeit und damit als Übereinstimmung mit einem Relat entsprechend schrieb er aber dem Relatsein des Seienden noch einen Rest von Selbständigkeit zu. Nietzsche hingegen sieht alles Seiende als allein dem Menschen hingeordnet und den Menschen als Akteur des Sich-Bemächtigen von allem Seienden. Er entwirft eine von Macht durchherrschte Metaphysik absolut dynamischer Relationalität, die jede Eigenheit des Seienden, jede Festigkeit der Relatstelle – sei es am Ort des Menschen oder am Ort der Gegenstände – auflöst. Begründet liegt dies darin, dass sich der Wille zur Macht als „Grundzug alles Wirklichen“52 zeigt. Der Wille zur Macht stellt sich als das „Wesen“53 der Subjektität heraus und ist durch ein doppeltes Charakteristikum gekennzeichnet. So ruht er nie in seinem Relatsein, sondern geht immer über sich hinaus, weil er stets auf Steigerung aus ist – zugleich aber will er dabei stets nur sich selbst. Er will sich der Unbedingtheit seines Wesens bemächtigen und erweist sich damit als Wille zum Willen.54 Entsprechend vollzieht er sich als Ewige Wiederkehr des Gleichen.55 Vom Willen zur Macht aus und allein zum Zweck seiner Steigerung wird die gesamte Wirklichkeit aufgebaut und daher als Wert gefasst. Der Wertbegriff bezeichnet etwas, das gerade nicht zuvor in seinem Relatsein ansich besteht. Vielmehr ist es etwas, das allein von jemandem her und daher für jemanden besteht, für das es Wert ist. Seine Relation zum Willen zur Macht (welcher selbst Relat ist als Relation) ist sein Siehe Heidegger, Nietzsches Wort, 251. Heidegger, Nietzsches Wort, 236. 53 Heidegger, Nietzsches Wort, 236. 54 Heidegger, Nietzsches Wort, 235. 55 Heidegger, Nietzsches Wort, 238, schreibt: „Die beiden Grundworte der Metaphysik Nietzsches, ‚Wille zur Macht‘ und ewige Wiederkehr des Gleichen’, bestimmen das Seiende in seinem Sein nach den Hinsichten, die von altersher für die Metaphysik leitend bleiben, das ens qua ens im Sinne von essentia und existentia.“ 51
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Relat-Sein, oder, wie Nietzsche selbst sagt: Es ist nichts als dessen „Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen“.56 Entsprechend wird alles Seiende „vorgestellt“, also vom Übermenschen her- und auf ihn hin gestellt. Zur Steigerung seiner Macht schafft sich der Wille zur Macht eine Umgebung von solchem, auf das er, der selbst allein verfügender Zugriff ist, unmittelbar verfügend zugreifen kann, und das entsprechend ständig als auf ihn zugestellter Bestand da ist.57 „Dadurch kommt das Seiende als Gegenstand zum Stehen und empfängt [gerade erst vom Übermenschen her, M. W.] das Siegel des Seins.“58 Alles, was ist, ist dadurch konstituiert, dass es „Bestand“59 für den Übermenschen ist. Der Aufbau aller Wirklichkeit als Bestand für den Übermenschen wird vom Willen zur Macht dadurch vorangetrieben, dass er sich einer bestimmten Art des Denkens bedient. Diese Denkungsart herrscht als „oberste[r] Grundsatz der Vernunft“60 bereits seit den Anfängen der Metaphysik, spricht sich aber nach zweieinhalbtausendjähriger Inkubationszeit erst in Leibniz aus. Leibniz hielt als Satz vom Grund fest, dass nichts ohne Grund ist. Die grundlegende Funktion des Satzes wird deutlich, wenn gefragt wird, wofür der Grund Grund ist, und wohin er gegeben werden muss. Der Grund ist dafür Grund, dass ein Urteil als wahr angesehen werden kann. Denn er erlaubt die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat zu demjenigen prädikativen Urteil, das allein den Anspruch auf Wahrheit erheben kann. Somit ist er der Grundsatz diskursiver Rationalität. Dazu aber muss der Grund dem Menschen gegeben werden. „Richtig, d. h. wahr sind Urteile und Aussagen nur dann, wenn der Grund der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat dem vorstellenden Ich zugestellt, auf dieses zurückgegeben wird.“61 Erst dadurch wird dasjenige, auf das der Satz vom Grund bezogen ist, zum Objekt für Zitiert nach Heidegger, Nietzsches Wort, 228. Siehe Heidegger, Nietzsches Wort, 239. 58 Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 92. 59 Damit ist der Bestand vom Gegenstand unterschieden. Dies liegt in Heideggers Ausführungen zu Platon noch nicht in dieser Trennschärfe vor; positiv gelesen: indem Heidegger auch dort die Gegenstände bereits als Bestand bezeichnet, weist er darauf hin, dass sie es verborgen – im Kern – bereits sind. Bei seinen Ausführungen zur Technik arbeitet Heidegger dann explizit mit dieser Unterscheidung, siehe Heidegger, Die Frage nach der Technik, 20: „Das Wort ‚Bestand‘ rückt in den Rang eines Titels. Er kennzeichnet nichts Geringeres als die Weise, wie alles anwest, was vom herausfordernden Entbergen betroffen wird. Was im Sinne des Bestandes steht, steht uns nicht mehr als Gegenstand gegenüber.“ 60 Heidegger, Der Satz vom Grund, 176. 61 Heidegger, Der Satz vom Grund, 174 f. 56 57
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den denkenden Übermenschen, und nur als dieses ist es überhaupt. Damit wird deutlich, dass der Satz vom Grund letztlich der Grundbewegung des Willens zur Macht dient: Etwas wird nur insofern überhaupt als seiend angesehen, als es begründet ist, und es ist nur insofern begründet, als es beständig auf den Menschen bezogen ist. 62 Nietzsches Überwindung des Nihilismus fasst sich schließlich in einem entsprechenden Wahrheitsbegriff zusammen: Gemeinsam mit allem Seienden wird auch die Wahrheit als Wert gefasst und dient dem alleinigen Zweck der Sicherung der Herrschaft des Übermenschen. 63 Somit präsentiert sich dem Nietzsche-Interpreten Heidegger die Geschichte des Abendlandes als Drama in drei Akten, wobei der Gang vom ersten zum zweiten der in die Metaphysik ist und der vom zweiten zum dritten der zu ihrer Vollendung. 64 In Bezug auf den Wahrheitsbegriff stellt sich der Dreischritt wie folgt dar: War der immer schon vergangene Wahrheitsbegriff vor Platon der der Unverborgenheit (aletheia), so wandelt er sich in Platon zur Richtigkeit (orthotes), der seine Wahrheit in Nietzsche als Wert ausspricht. Das Denken wandelt sich dadurch vom Vernehmen zur Vernunft, die letztlich alles als vom Übermenschen begründet denkt. Entsprechend wandelt sich auch das Zugrundeliegende (hypokeimenon) von der Substanz über die Subjektität zum Willen zur Macht; und das Seiende wird erst in seiner sich von sich her zeigenden Substantialität und Würde wahrgenommen, erscheint dann als dem Subjekt entgegenstehender Gegenstand und wird schließlich zum bloßen Wert, zum Bestand, das nur von Gnaden des Willens zur Macht ist. Dabei ist zweierlei deutlich: Zum einen spiegelt der angedeutete Dreischritt, den Heidegger hier als chronologischen Ablauf präsentiert, systematische Optionen, die näher ins Verhältnis gesetzt werden wollen. 62 Damit erklärt Heidegger, warum der Satz laut Leibniz als principium reddendae rationis sufficientis zu verstehen ist. Der Satz präsentiert deshalb das Prinzip des zurückzugebenden (reddendae) Grundes, weil er je auf das vorstellende Ich zurückzugeben ist; und er präsentiert darin zureichende (sufficientis) Gründe, dass er einen Gegenstand jederzeit für jedermann so sichert, dass dieser damit rechnen kann; so aber wird er allererst konstituiert. 63 Heidegger, Nietzsches Wort, 240. Seubold, Heideggers, Analyse, 143–146, weist zu Recht darauf hin, dass Heidegger auch für diese Stufe öfters Wahrheit als „Richtigkeit“ bezeichnet, dass das dann aber nicht im Sinne von orthotes, Übereinstimmung, zu verstehen ist, sondern als „richtend“: Der Wille zur Macht richtet darüber, was allererst als existierend – da als Wert für ihn – begriffen werden kann. 64 Siehe zur Vollendung der Metaphysik in Nietzsche auch Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 79.
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Nur als diese systematischen Optionen interessieren sie in diesem Buch; als diese systematischen Optionen allerdings sind sie von größtem Interesse, da sie gleichsam den kategorialen Kern des Buches berühren. Wie im zweiten Teil des Buches deutlich werden wird, ist es die Stärke des Ansatzes von Anton Friedrich Koch, gute Gründe dafür zu entwickeln, die drei Optionen als einander wechselseitig ergänzend und nicht als einander ausschließend zuzuordnen (siehe v. a. Zweites Kapitel, 2.3.1.). In ihrer wechselseitigen Ergänzung stehen sie zugleich in großer sachlicher Nähe zum Kern von Luthers Metaphysik des Abendmahls (siehe etwa Drittes Kapitel, 2.2.6.2.). Um zu Heideggers Auslegung zurückzukehren, so ist aus dem Gesagten zum anderen ersichtlich, warum die Vollendung der Metaphysik sich selbst an den Rand ihrer Selbstauflösung und so an ihr Ende bringt, 65 und warum es darin eine eigene Dialektik von Identität und Differenz zwischen vorneuzeitlicher und neuzeitlicher Metaphysik gibt. Denn die Metaphysik, die durch ihre Geschichte hindurch das Seiende denkt, denkt in der Neuzeit alles Seiende in ausgezeichneter Weise als verfügbaren Bestand für den Menschen und damit als anwesend oder präsent, und zwar als präsent für ihn und damit als repräsentier- oder vorstellbar. Sie ist Präsenzmetaphysik. 66 Die Vollendung des Aufbaus der Wirklichkeit als verfügbarer Präsenz aber besteht darin, dass das Verfügbare als es selbst – als irgendwie Präsentes – zu verschwinden beginnt. Der Aufbau aller Relate als bloßer Relate-für und damit allein als Relation vollendet das Relatsein als Bestand und löst zugleich jede angebbare Bedeutung von Relatsein auf. Die Metaphysik, die das Seiende denkt, denkt das Seiende in seiner Vollendung so, dass es endet, Seiendes zu sein: So hat sie „den Umkreis der vorgezeichneten Möglichkeiten abgeschritten.“67 Hier wird also erstmals deutlich, was uns später noch beschäftigen wird: Die Vollendung der Präsenzmetaphysik fällt gerade ineins mit dem Verlust der Präsenz, indem alle Wirklichkeit Bestand für den Menschen wird.
Siehe dazu auch Seubold, Heideggers Analyse, 180–183. Siehe zur „Praesenz“ auch Heidegger, Zur Seinsfrage, 397–400, und Martin Heidegger, Was heißt Denken? in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, 123–137, 135 f. 67 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 79. 65
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1.2.3. Heidegger: Der Nihilismus des technischen Zeitalters So sehr Heidegger Nietzsches Gegenwartsdiagnose darin zustimmt, dass der Grundvorgang des Abendlandes als Nihilismus zu fassen ist, der schließlich dazu führt, dass der Übermensch Werte setzt, so sehr widerspricht er Nietzsches Position, dass der Übermensch bereits die Überwindung des Nihilismus darstellt. Vielmehr sieht Heidegger den Nihilismus in Nietzsche erst zu seiner vollen Entfaltung kommen. Denn der Nihilismus ist in Wahrheit nicht nur – wie von Nietzsche gesehen – als Verlust der Prägekraft der höchsten Ideale, sondern als Verlust der Prägekraft des Seins selbst zu verstehen. 68 Wenn das aber die angemessene Definition des Nihilismus ist, dann ist das Verständnis alles Seienden als Wert Ausdruck der „Vollendung des Nihilismus. Denn jetzt denkt die Metaphysik nicht nur nicht das Sein selbst, sondern dieses Nicht-Denken des Seins hüllt sich in den Anschein, es denke doch, indem es das Sein als Wert schätze, das Sein in der würdigsten Weise, so dass alles Fragen nach dem Sein überflüssig werde und bleibe.“69 Es ereignet sich somit zweierlei: Zum ersten wird das Sein selbst nicht mehr gedacht, da alles Seiende als Wert genommen wird. Hier, so Heidegger, wird vollends deutlich, was Nietzsches Wort zwar selbst bereits andeutet, was Nietzsche aber nicht eigens denkt: Dass Gott tot ist, meint nicht im Gefolge eines Atheismus der Aufklärung, dass es Gott jetzt nicht mehr oder deshalb recht eigentlich noch nie gab.70 Es meint vielmehr, dass er getötet wurde, und zwar durch das Denken in Werten, das alles Ansich- und Fürsichsein verunmöglicht. Dies erst und nicht ein aufgeklärter Atheismus ist der „härteste Schlag“71 gegen Gott. Indem die Neuzeit in Werten denkt, gilt somit, was Nietzsche andeutete, ohne es zu begreifen: „Wir alle sind seine Mörder“. Zugleich – zum zweiten und nun explizit gegen Nietzsches Position – wird verhüllt, dass das Denken in Werten das Töten Gottes ist, da es so scheint, als würde das Sein in würdigster Weise gedacht werden. Somit verbirgt sich das Sein nicht nur, sondern es verbirgt sich diese Seinsverbergung auch selbst noch einmal: Dies aber sieht Nietzsche nicht, sondern erst Heidegger. Er sieht zudem, dass diese die Seinsverbergung verbergende Seinsverbergung des Seins nicht in Irrtümern des Menschen, sondern im Sein selbst seinen Ur Siehe dazu auch Stegmaier, Auseinandersetzung, 204 f. Heidegger, Nietzsches Wort, 259. 70 Siehe Heidegger, Nietzsches Wort, 259–262. 71 Heidegger, Nietzsches Wort, 260. 68 69
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sprung hat; und zwar beginnt dieser sachliche Ursprung bereits mit dem zeitlichen: „Die Geschichte des Seins beginnt und zwar notwendig mit der Vergessenheit des Seins.“72 Entsprechend grundsätzlich ist Heideggers Definition des Nihilismus zu verstehen: „Das Wesen des Nihilismus besteht darin, dass es mit dem Sein selbst nichts ist.“73 Dieser vollendete Nihilismus erst stellt diejenige Gesamtverfasstheit der Wirklichkeit dar, von der her die moderne Wissenschaft und Technik verständlich wird. Denn sie ist diejenige Weise des Entbergens, die der modernen Wissenschaft und Technik zugrunde liegt. Die bei Nietzsche namhaft gemachten Strukturmomente treten somit hier erneut auf, nun aber unter teils veränderter Bezeichnungen. Heidegger benennt diese Weise des Entbergens im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Technik als „Gestell“74 und führt im Zusammenhang seiner Überlegungen zur Wissenschaft aus, dass dadurch das „Weltbild“ aufgebaut wird. Das Gestell bezeichnet jenes Wesen der Technik, das als Weise des Entbergens selbst nichts Technisches ist, das aber – vom Geschick der Selbstverbergung des Seins gesendet – in der modernen Technik waltet. Auch wenn das Wesen der Technik erst spät eigens als Gestell namhaft gemacht wird, so durchherrscht es doch bereits die Anfänge moderner Wissenschaften.75 Es ist dadurch gekennzeichnet, dass es „den Menschen stellt, d. h. herausfordert, das Wirkliche in der Weise des Bestellens als Bestand zu entbergen.“ So baut sich das Weltbild auf. Mit dem Weltbild ist nicht ein bestimmtes Bild der Welt bezeichnet, sondern das Ereignis, dass sich in der Moderne die Welt als Bild aufbaut, und d. h.: „Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, dass es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist.“76 Heidegger, Nietzsches Wort, 263. Heidegger, Nietzsches Wort, 266. 74 Siehe etwa Heidegger, Die Frage nach der Technik, 24. 75 Heidegger, Die Frage nach der Technik, 26, schreibt entsprechend: „Alles Wesende, nicht nur das der modernen Technik, hält sich überall am längsten verborgen. Gleichwohl bleibt es im Hinblick auf sein Walten solches, was allem voraufgeht: das Früheste. Davon wussten schon die griechischen Denker, wenn sie sagten: Jenes, was hinsichtlich des waltenden Aufgehens früher ist, wird uns Menschen erst später offenkundig. Dem Menschen zeigt sich die anfängliche Frühe erst zuletzt. Darum ist im Bereich des Denkens eine Bemühung das anfänglich Gedachte noch anfänglicher zu durchdenken, nicht der widersinnige Wille, Vergangenes zu erneuern, sondern die nüchterne Bereitschaft, vor dem Kommenden der Frühe zu erstaunen.“ 76 Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 89. 72
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Daraus ergibt sich zum einen, dass erst die Moderne und nicht bereits die Antike oder die Neuzeit in diesem qualifizierten Sinne ein Weltbild besitzt, weil erst sie die Welt als Bild besitzt. Es ergibt sich zum anderen, dass erst dadurch, dass das Geschick das Gestell schickt und die Welt somit als Bild von Gnaden des Menschen aufgebaut wird, sich derjenige Möglichkeitsraum eröffnet, in dem sich moderne Wissenschaften und dann auch die moderne Technik entwickeln kann. Entsprechend unterscheiden sich die moderne Wissenschaft und Technik nicht nur in quantitativer, sondern vielmehr in qualitativer Art von ihren antiken und mittelalterlichen Vorgängern. Die moderne Wissenschaft und die Technik sind nicht nur die effizienteren Varianten der mittelalterlichen, sondern ruhen auf einem anderen Wirklichkeitsverständnis auf.77 Dies wird umso deutlicher, wenn man sich die drei zentralen Charakteristika moderner Wissenschaft als Forschung vor Augen führt: den Entwurf, das Verfahren und den Betrieb.78 Die moderne Wissenschaft beginnt mit einem Entwurf; d. h., sie nähert sich der Wirklichkeit mit einer bestimmten Perspektive und grenzt einen Bezirk ab, innerhalb dessen sie dann fragt. Diese Abgrenzung hat eine eminent konstruktive Funktion und wird daher von Heidegger als „Öffnen“79 eines Bezirks bezeichnet. Denn sie definiert nicht nur bereits bestehende Gegenstände, sondern konstituiert diese Gegenstände als Gegenstände für die Forschung allererst. Sie legt fest, was für die Erkenntnis der Natur überhaupt als Natur gelten kann: „Die Wissenschaft stellt das Wirkliche. [. . .] Das Wirkliche wird in seiner Gegenständigkeit sichergestellt“80 und definiert so den Möglichkeitsraum, innerhalb dessen gefragt werden kann. Das entscheidende Kriterium für die Sicherstellung einer Gegenständigkeit ist seine Messbarkeit. Daher ist die Mathematisierung durch die moderne Wissenschaft nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Wirklichkeit zutiefst eingeschrieben. Die Wirklichkeit kommt der Wissenschaft nur als ein „System von Informationen“81 und damit allein als solches in den Blick, was der Technik als Bestand dienen kann. 82 Auch Siehe Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 82. Siehe zum Folgenden Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 77–86, sowie Martin Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, 41–66, 51–57. 79 Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 77. 80 Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, 52. Siehe auch Martin Heidegger, Das Ding, in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 1954, 157–180, 162. 81 Heidegger, Die Frage nach der Technik, 26. 82 Siehe dazu auch Luckner, Heidegger, 102–106. 77 78
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die Sprache wird allein als Informationsträger verstanden und fungiert damit als Herrschaftsmittel, das alle Wirklichkeit auf Nutzbarkeit hin formiert.83 Die Art des Fragens der Wissenschaften nun wird von Heidegger „das Verfahren“84 genannt. Es ruht auf dem Entwurf auf und hilft, dessen Gegenstände zur Begegnung zu bringen. Dazu wird im Experiment Unbekanntes aus bereits zum Stehen Gebrachten, also aus Bekanntem, erklärt. Seine Durchschlagskraft gewinnen Entwurf und Verfahren, indem sie im Betrieb der Forschung und somit in Institutionen, die miteinander vernetzt sind, betrieben werden. 85 Die – selbst vom Geschick der Seinsverborgenheit gesendete und im Gestell als dem Wesen der Technik gründende – moderne Wissenschaft ermöglicht die moderne Technik und damit eine umfassende Weise des Verständnisses von allem Seienden. Die moderne Technik wird durch ein Denken bestimmt, das von demjenigen Satz vom Grund geprägt ist, der bereits bei Nietzsches Versuch der Überwindung des Nihilismus namhaft gemacht wurde. Denn die moderne Technik strebt nach Perfektion, die Perfektion aber beruht auf der Berechenbarkeit alles Seienden, und diese wiederum gründet in der Herrschaft des Satzes vom Grund. 86 So ist die Technik ineins höchste Rationalität (auf alles Seiende hin) und vollständige Besinnungslosigkeit (auf das Sein hin). 87 Das berechnende Denken führt dazu, dass alle Wirklichkeit als Bestand genommen wird. Eines von Heideggers berühmten Beispielen dafür bedenkt die Weise, wie sich der Rhein verändert, wenn ein Wasserkraftwerk in es hineingestellt wird. Das Kraftwerk stellt alle Wirklichkeit als Energielieferant und Kraftquelle auf sich zu. Entsprechend gilt, dass „das Wasserkraftwerk nicht in den Rheinstrom gebaut ist wie die alte Holzbrücke, die seit Jahrhunderten Ufer mit Ufer verbindet. Vielmehr ist der Strom in das Kraftwerk verbaut. Er ist, was er jetzt als Strom ist, nämlich Wasserdrucklieferant, aus dem Wesen des Kraftwerks.“88 Die moderne Technik prägt auch den Menschen, und zwar auf zweierlei Weise. 89 Zum einen Siehe dazu Heidegger, Der Satz vom Grund, 202 f. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 79. 85 So schreibt Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, 84: „Was geht in der Ausbreitung und Verfestigung des Institutscharakters der Wissenschaften vor sich? Nichts Geringeres als die Sicherstellung des Vorrangs des Verfahrens vor dem Seienden (Natur und Geschichte), das jeweils in der Forschung gegenständlich wird.“ 86 Siehe Heidegger, Der Satz vom Grund, 198. 87 Siehe dazu Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 83. 88 Heidegger, Die Frage nach der Technik, 19. 89 Siehe Heidegger, Die Frage nach der Technik, 30 f. 83
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wird der Mensch zum Techniker, der als solcher „Herr der Erde“90 ist. Denn alles, was ist, ist nur, da es von ihm her und auf ihn hin gestellt und also Bestand ist. Der Mensch wird in „das Rasende des Bestellens“91 geführt. Dadurch verändern sich die grundlegenden Koordinaten des Weltbezuges: „Alle Entfernungen in der Zeit und im Raum schrumpfen ein [. . .] [Der Mensch, M. W.] bringt die größten Entfernungen hinter sich und bringt so alles auf die kleinste Entfernung vor sich.“92 So aber kommt alles in eine eigentümliche Abstandslosigkeit, die weder wahre Nähe noch wahre Ferne kennt. Zum anderen macht des Menschen Zum-Bestand-Machen aller Wirklichkeit auch vor der Wirklichkeit des Menschen selbst nicht halt, so dass er sein eigener Bestand wird. Dies wird schließlich auch die „künstliche Zeugung von Menschenmaterial“93 mit umfassen. Somit begegnet der Mensch in aller Wirklichkeit nur sich selbst: sich als Herr, der in aller Wirklichkeit nur Steigerungsbedingungen seines eigenen Willens zur Macht und damit nur diesen selbst findet, und sich als Bestand, der in allen Beständen nur seinesgleichen findet, da er selbst Bestand wird. Dieses Sich-Begegnen ist gerade aufgrund seiner Leere darauf angewiesen, sich beständig in seiner Dynamik zu steigern. Angetrieben also wird die Dynamik durch eine Ökonomie des Mangels: Aus Mangel94 kommt es zur „Totalen Mobilmachung“.95 Die Mobilmachung ist der gemeinsame Grundzug verschiedener Nationen und auch der der antagonistischen Systeme von Amerikanismus und Kommunismus, der die Differenzen zwischen beiden marginalisiert. Sie ist sogar von solcher Wucht, dass sie den Unterschied zwischen Frieden und Krieg einebnet, da der Krieg eine „Abart der Vernutzung des Seienden“96 ist, die im Frieden umstandslos fortgesetzt wird: „Die Irrnis kennt keine Wahrheit des Seins.“97 Damit sind diejenigen Aspekte von Heideggers Analyse des gegenwärtigen Zeitalters als technischen präsentiert, die für den heutigen Heidegger, Die Frage nach der Technik, 30. Heidegger, Die Frage nach der Technik, 37. 92 Heidegger, Das Ding, 157. 93 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 91. 94 Dass die moderne Technik letztlich einer (seinsgeschichtlich begründeten) Ökonomie des Mangels entspringt, wird entwickelt von Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 91. 95 Heidegger, Zur Seinsfrage, 392. 96 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 89. 97 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 89. 90 91
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Diskurs (siehe Erstes Kapitel, 2.) sowie für den Rest des Buches von Bedeutung sind. Rückgebunden an die im ersten Abschnitt zu Heidegger (Erstes Kapitel, 1.1.) namhaft gemachten Strukturmomente lässt sich der Zusammenhang von Metaphysik und unserem technischen Zeitalter zusammenfassend wie folgt darstellen. Wir leben gegenwärtig im Zeitalter der nihilistischen Vollendung der abendländischen Metaphysik als Ganzer, die den Möglichkeitsraum totalisierter Technik öffnet. In ihm schickt das Sein und die Wahrheit (erste Ebene), indem es sich so verbirgt, dass es auch seine Verbergung verbirgt und damit Wahrheit als Wert erscheinen lässt, als Geschick das Gestell (zweite Ebene), das die gesamte Wirklichkeit auf technische Weise zustellt. Bestimmend ist dabei ein Denken, das rechnend vom Satz vom Grund beherrscht ist und das den Menschen als Herrn der Erde einrichtet. Er fasst alles Seiende – einschließlich seiner selbst – in absoluter Relationalität als Bestand, welcher in sich gänzlich arm und daher nur von des Menschen Gnaden und zu seiner Verfügbarkeit ist. Alles dient somit der Steigerung des Willens zur Macht (als dem Grundzug des technischen Zeitalters) und wird getrieben von einer Ökonomie des Mangels. Innerhalb dieser Seinsweise handelt der Mensch dann mithilfe der modernen Wissenschaft und der Technik (dritte Ebene). Dabei werden bereits wichtige derjenigen Phänomene sichtbar, die für die heutige Situation der liquid modernity (siehe Erstes Kapitel, 2.) in gesteigertem Maße von Bedeutung sind: Die Technik kolonialisiert alle Seinsweisen, so dass nationen- und systemübergreifend die Totale Mobilmachung das Leben beherrscht und die Wirklichkeit und die Sprache sich umfassend als ein System von Informationen darstellen. Mit Albert Borgmann geredet führt das zu einer neuen Qualität von Zerstreuung der Wirklichkeit, die nach neuen focal practices ruft. Zugleich schrumpfen Entfernungen auch vermittels der Medien zu einer neuen Abstandslosigkeit und es kommt zu umfassenden Beschleunigungen, die von Zygmunt Baumann in die Diagnose der „Flüssigen Moderne“ gefasst werden. Zudem macht der Mensch als Herr sich selbst zum Material, so dass hier bereits aufscheint, was uns im Anschluss an Elisabeth List und andere weiter beschäftigen wird: die vom Menschen selbst aufgespannte Differenz zwischen sich als herrschendem Geist und sich als beherrschtem Körper, die als gelebte Spielart des Geist-Körper-Dualismus oder als neue Variante des Platonismus anzusehen ist. – Doch bevor die Aufnahme und Weiterführung von Heideggers Analysen für die gegenwärtige Technikphilosophie dargestellt wird, sollen Heideggers Bewertung der
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Situation und sein Versuch ihrer Über- bzw. Verwindung skizziert und kritisch bedacht werden.
1.3. Heideggers Verwindung der Metaphysik I: Sein als Unverborgenheit Wie bereits eingangs (Erstes Kapitel, 1.1.) angedeutet, beschreibt Heidegger die Geschichte der Metaphysik und der Technik als eine Verfallsgeschichte in drei Akten. Nach ihrem je bereits vergangenen, guten Anfang (1. Akt) in der Unverborgenheit und zunehmendem Verfall durch das Abendland hindurch (2. Akt) erfährt sie in der Gegenwart ihren in die Selbstauflösung treibenden Tiefpunkt. Der Tiefpunkt eröffnet zugleich die Möglichkeit der Umkehr hin zu dem nie dagewesenen Anfang (3. Akt).98 Der Tiefpunkt in seinsgeschichtlicher Perspektive besteht darin, dass nicht nur das Sein selbst vergessen wird, sondern dass das Sein die Seinsvergessenheit selbst vergessen macht. In technischer Perspektive spiegelt sich das in der „Gefahr“, die in zweifacher Hinsicht die Totalisierung des Gestells bezeichnet: Zum einen „vertreibt [das Gestell, M. W.] jede andere Möglichkeit der Entbergung“.99 Die Wirklichkeit wird somit als Ganze nur noch als technische aufgebaut, jede andere Seinsweise wird kolonialisiert.100 Zum anderen wird damit zugleich vergessen gemacht, dass das Gestell selbst überhaupt eine Weise der Entbergung ist. Indem der Mensch als Herr der Erde eingesetzt wird, wird verdrängt, dass er sich nicht selbst dazu einsetzte, sondern durch ein Entbergen dazu wurde.101 Das Gestell totalisiert sich nicht nur dadurch, dass es imperialistisch ist, und nicht nur dadurch, dass es seine eigenen Voraussetzungen nicht bedenkt, sondern vor allem dadurch, dass es Siehe dazu auch Angehrn, Kritik der Metaphysik, 275. Heidegger, Die Frage nach der Technik, 31. 100 Luckner, Heidegger, 12, bemerkt daher zu Recht: „Durch Techniken werden Handlungsoptionen eröffnet und sichergestellt, indem zugleich bestimmte Weisen, wie man sein kann (‚Seinsweisen‘) reduziert werden. Man könnte vielleicht in Bezug auf die Technikentwicklung die Formel ausgeben: Handlungsoptionserweiterung durch Seinsweisenfokussierung.“ 101 Heidegger, Die Frage nach der Technik, 31, schreibt: „Wo das Gestell waltet, prägen Steuerung und Sicherung den Bestand alles Entbergens. Sie lassen sogar ihren eigenen Grundzug, nämlich dieses Entbergen als ein solches nicht mehr zum Vorschein kommen. So verbirgt denn das herausfordernde Ge-stell nicht nur eine vormalige Weise des Entbergens, des Her-vor-bringen, sondern es verbirgt das Entbergen als solches und mit ihm Jenes, worin sich Unverborgenheit, d. h. Wahrheit, ereignet. Das Gestell verstellt das Scheinen und Walten der Wahrheit.“ 98
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nicht bedenkt, dass es seine Voraussetzungen nicht bedenkt.102 So verstellt das Gestell dasjenige, woher Wahrheit sich ereignet. Die Selbstabschließung wird total. Heidegger geht nun darauf aus, die ungedachten Voraussetzungen der Metaphysik und des Gestells zu bedenken, um ihre totalisierende Macht zu unterlaufen. Würde dieses Unterlaufen als eine in einem schlichteren Sinne technische, also aufgrund menschlicher Aktivität mach- oder herstellbaren Weise verstanden werden, so würde es sich selbst widersprechen. Denn es wäre selbst ein Vollzug derjenigen technischen Seinsweise, die es doch gerade unterlaufen will. Daher ist auch dieses Unterlaufen selbst daran rückgebunden, dass das Sein in einer „Kehre“103 die dafür nötigen Spielräume eröffnet. Dies geschieht auf zweierlei Weisen, welche jeweils in sich selbst und in ihrem Bezug aufeinander von Heidegger nur angedeutet und wohl nicht einer vollständigen Klärung zugeführt werden.104 Im Anschluss an das Hölderlin-Wort, dass „wo aber Gefahr ist, das Rettende auch wächst“,105 wird zum einen die Gefahr als die Verbergung der Verbergung selbst bereits als das Rettende gesehen. Die doppelte Negation ist in sich bereits Position, aus zwei Gründen: Erstens muss sich der Unterschied zwischen der technischen Seinsweise und ihrem Anderen voll entfalten, um als Unterschied sichtbar werden zu können.106 Erst so kann die Gefahr als Gefahr deutlich werden. Zweitens ist auch die Verbergung nicht abstrakte Abwesenheit, sondern eben Selbstentzug des Seins und damit selbst ein Ereignis, das den Menschen auch dann anzieht, wenn seine materiale Bestimmung als Entzug das gerade zu verunmöglichen scheint.107 Somit ist paradoxer Weise die die Seinsvergessenheit selbst nochmals vergessen machende Seinsverbergung der Weg, die Seinsvergessenheit zu überwinden. Gerade das totale technische Zeitalter ruft dazu auf, das Wesen der Technik zu bedenken und damit – da dies nichts Technisches ist – das technische Denken selbst zu öffnen.108 Zugleich aber und zum anderen muss sich die Kehre als eigenes Siehe dazu auch Heidegger, Die Kehre, 44. Siehe Heidegger, Die Kehre, 40. 104 Siehe dazu auch Angehrn, Kritik der Metaphysik, 276. 105 Heidegger zitiert das Wort mehrfach, etwa Heidegger, Die Frage nach der Technik, 32, und Heidegger, Die Kehre, 41. 106 Siehe dazu Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 74 und Heidegger, Die Kehre, 42. 107 Siehe dazu Heidegger, Was heißt Denken?, 128 f. 108 Siehe dazu auch Seubold, Heideggers Analyse, 323–326. 102 103
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Ereignis „jäh“109 vollziehen. Das Neue des Positiven in der doppelten Negation ist tatsächlich Neues, das sowenig herstell- wie antizipierbar ist. Entsprechend kann der Mensch diese Kehre nur an-denken, sich anfangen, sich für sie bereit zu machen und ihr zu entsprechen, soweit sie sich bereits ereignete. Heidegger denkt dadurch das Sein an, dass er die Metaphysik selbst für schlechte Philosophie erklärt, da sie das Sein aufgrund der Selbstverbergung des Seins stets nur als das Sein des Seienden bedenkt, nie aber als das Sein selbst. Nie wird das „Wunder aller Wunder [bedacht, M. W.]: dass Seiendes ist.“110 Um dem auf die Spur zu kommen, wird der die ganze technische Seinsweise beherrschende Satz vom Grund als der Punkt stärkster Negation bedacht. Heidegger will ihn selbst als sein Anderes sichtbar machen, und zwar dadurch, dass an ihm selbst seine ungedachten Vor aussetzungen hervorgehoben werden. Diese werden bei einer neuen Lesart des Satzes sichtbar, die betont: „Nichts ist ohne Grund.“111 Kein Seiendes ist ohne das Sein, so dass das Sein der Grund des Seienden ist. So kommt dasjenige Sein in den Blick, das im Satz vom Grund im Worte „ist“ mitgeführt, zugleich aber als es selbst vergessen wird. Wird es selbst betrachtet, so ist entscheidend, dass es zwar Grund des Seiendes ist, dass es selbst aber nicht nochmals gegründet ist. Es ist vielmehr als „Abgrund“112 das „Ereignis“,113 an dem jede Frage nach einem Warum abprallt, das aber als Zuspruch jedes Warum begründet.114 Damit wird diejenige ontologische Differenz deutlich, die Sein und Seiendes trennt und aufeinander bezieht und die zugleich als Differenz von der Metaphysik seit Platon nicht gedacht wurde, obwohl sie ihr als ihr Grund wesentlich ist. Indem die Differenz in den Blick kommt, wird die Totalität dieses metaphysisch-technischen Seienden gebrochen. Das Sein steht somit für die Öffnung einer totalisierten Seinsweise hin zu anderen möglichen Seinsweisen ein, weil es für den Möglichkeitsbereich verschiedener Seinsweisen steht.115 Wenn das Sein unter der Perspektive dieser Diffe Heidegger, Die Kehre, 43. Martin Heidegger, Nachwort zu „Was ist Metaphysik?“, in: Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976, 303–312, 307. 111 Heidegger, Der Satz vom Grund, 204. 112 Martin Heidegger, Der Satz der Identität, in: Martin Heidegger, Identität und Differenz, Stuttgart 1957, 9–30, 20. 113 Heidegger, Der Satz der Identität, 24. 114 Siehe dazu Heidegger, Der Satz vom Grund, 204–207. 115 So auch Luckner, Heidegger, 110. 109 110
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renz in den Blick kommt, so trägt es Züge des bei Platon gerade verdrängten Wahrheitsverständnisses der Unverborgenheit (aletheia). Heidegger versucht somit, die Metaphysik dergestalt zu verwinden, dass er das Seins- und Wahrheitsverständnis der Vorsokratiker gegenüber dem Seins- und Wahrheitsverständnis der nihilistischen, technischen Moderne erneut zu Gehör zu bringen. Dieses Wahrheitsverständnis der Vorsokratiker ist in doppelter Hinsicht näher zu bestimmen. Es ist Offenbarkeit, Lichtung, Entbergung, die zugleich wesentlich und unaufhebbar mit Verborgenheit und Verbergung zusammen zu denken ist.116 Das gilt in zwei Hinsichten: 117 So kommt die Offenbarkeit aus der Verborgenheit und ist somit gerade dieses lichtende Ereignis der Entbergung des Verborgenen. Anders als die Metaphysik, die abstrakte Offenbarkeit oder Präsenz zu denken sucht, überwindet die Offenbarkeit die Verbergung aber nie, sondern hat diese bleibend als Grundzug an sich. Dies gilt für ihr ungegründetes Dass-Sein. Sobald sich dieses ereignet, gilt es dann auch dafür, dass Offenbarkeit je Verstellung, Irrtum mit sich bringt, denn aus dem Sich-Zeigen heraus entsteht allererst die Möglichkeit von zweiwertigen Urteilen, die wahr oder falsch sein können. In beiderlei Hinsichten ist Offenbarkeit Un-Verborgenheit, aletheia. Wie bereits gesehen (Erstes Kapitel, 1.1.) darf dieses neue Verständnis des Seins nicht in objektivierender Form hypostasiert werden, sondern muss als Zuwendung zum Seienden gedacht werden. Wahrheit ist, indem sie sich inmitten des Seienden ereignet. Es gilt daher, das ungedachte Andere sichtbar zu machen, das inmitten der technischen Wirklichkeit ist, mehr noch: das diese technische Wirklichkeit in gewisser Hinsicht selbst ist, weil es ihre eigene Voraussetzung ist – und das zugleich jeweils im Streit mit der technischen Wirklichkeit liegt, weil es zeigt, dass sie von etwas abhängig ist, das sie selbst nicht beherrschen kann. In Bezug auf die für die Moderne so wichtigen Wissenschaften nennt Heidegger diese ungedachten Voraussetzungen das „unzugänglich“ „Unumgängliche“.118 Die Voraussetzungen sind in doppeltem Sinne unumgänglich, 116 Siehe zum Folgenden auch Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, 192–202, und Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff, 387–393. Heidegger, Die onto-theologische Verfassung, 57, fasst die Differenz von Sein und Seiendem sowie die Doppelstruktur am Sein wie folgt zusammen: „Die Differenz von Sein und Seienden ist als der UnterSchied von Überkommnis und Ankunft der bergend-entbergende Austrag beider. Im Austrag waltet Lichtung des sich verhüllend Verschließenden, welches Walten das Aus- und Zueinander von Überkommnis und Ankunft vergibt.“ 117 Siehe dazu Heidegger, Der Ursprung, 40. 118 Siehe dazu Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, 57–64.
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da sie zum einen deshalb zu den Wissenschaften gehören, weil sich die Wissenschaften jeweils schon in ihrem Raum befinden und sie daher für die Wissenschaften notwendig sind. Zum anderen aber können sie von den Wissenschaften nicht eingekreist (umgangen) werden und sind ihnen somit jeweils unzugänglich. Dieses Unzugänglich-Unumgängliche ist die Natur, die Geschichte, der Mensch und vor allem: die Sprache. 119
1.4. Heideggers Verwindung der Metaphysik II: Das Kunstwerk und die Sprache Der ausgezeichnete Ort, an dem die ungedachten Voraussetzungen der Metaphysik sichtbar werden und an dem die Wahrheit entsprechend nicht mehr nur als Wert auftaucht, sondern an dem die Wahrheit als der Streit von Offenbarkeit und Verbergung sich ereignet, ist laut Heidegger das Kunstwerk. Hier vollzieht sich eine zur Technik alternative Weise des Entbergens. Zum Ereignis der Wahrheit im Werk gehört nicht nur, dass sich dieser Streit in ihm vollzieht, sondern auch, dass er eigens sichtbar wird; sichtbar wird zugleich der Streit im menschlichen Verstehen als solches. Heidegger beschreibt diesen Streit im Kunstwerk als den zwischen „Welt“ und „Erde“. Die Welt steht für die Totalität der Bezüge, innerhalb deren überhaupt erst Seiendes vor Augen treten kann120 und die Erde, mit Kern, für „das Phänomen des bedeutungshaft Seienden selbst“,121 das sich zeigt. Heidegger verweist dadurch darauf, dass er es das „Massige und Schwere des Steins, (. . .) das Leuchten und Dunkeln der Farbe, die Nennkraft des Wortes“122 nennt. Welt und Erde sind „wesenhaft voneinander verschieden und doch niemals getrennt.“123 Im Werk werden Welt und Erde so aufeinander bezogen, dass das Werk eine Welt eröffnet und diese „zugleich zurück auf die Erde stellt, die dergestalt selbst erst als der 119 Siehe dazu Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, 62: „Das in den Wissenschaften jeweils Unumgängliche: die Natur, der Mensch, die Geschichte, die Sprache, ist als dieses Unumgängliche für die Wissenschaften und durch sie unzugänglich.“ 120 Siehe dazu Heidegger, Ursprung, 30 f. 121 So zu Recht Andrea Kern, „Der Ursprung des Kunstwerks“. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger Handbuch. Leben-Werk-Bedeutung, Stuttgart 2003, 162–174, 169. 122 Heidegger, Ursprung, 32. 123 Heidegger, Ursprung, 35.
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heimatliche Grund herauskommt.“124 Die Erde ist heimatlicher Grund der Welt, da die Welt je davon abhängt, dass ihr dasjenige bedeutungshaft Seiende gegeben ist, dass sie sich nicht selbst geben kann. Die Erde wiederum verschließt sich, wenn man sich ihrer als ihr selbst – etwa durch Definitionen oder durch Messen – bemächtigen will, denn das Phänomen des bedeutungshaft Seienden selbst ist nicht an ihm selbst fassbar.125 Nur das Werk schafft es, es als solches hervorkommen zu lassen und auf dieses zu verweisen, indem das Werk die Erde zugleich als „wesentlich Unerschließbare“126 wahrt: Der Maler verbraucht die Farbe nicht, sondern bringt sie in ihrer eigenen Rätselhaftigkeit zum Leuchten.127 Zugleich ist die Erde nicht nur die Sich-Verschließende, nicht nur die Verbergung, sondern dasjenige, was als Sichverschließendes aufgeht oder sich zeigt; 128 sie ist je in Bezug auf die Welt. Nur in Bezug darauf erscheint die Erde als das, was nicht voll ins Verstehen einholbar ist. Damit ist bereits angedeutet, dass im Werk ein solcher Streit zwischen Welt und Erde ausgetragen wird, der dem Streit zwischen Offenbarkeit und Verbergung im Wahrheitsbegriff entspricht. Mit Kern gesprochen: „Wir können das Seiende nur dann verstehen, wenn wir einen Grund für unser Verstehen haben, der auf das Seiende selbst bezogen ist, dessen Gegebensein von uns jedoch nicht seinerseits zum Gegenstand eines Verstehens gemacht werden kann, sondern das unbewältigte, ‚erdhafte‘ Element in jedem Verstehen von Seiendem bleibt.“129 Indem die Erde „ins Werk ragt“,130 wird am Werk das „Dinghafte“131 aller Dinge deutlich. Die Dinge kommen dabei als etwas Anderes denn als bloßer immer schon verfügbarer Bestand in den Blick. Sie treten in ihrer Selbst- und Wider Heidegger, Ursprung, 28. Heidegger, Ursprung, 33, beschreibt das sehr anschaulich: „Der Stein lastet und bekundet seine Schwere. Aber während dies uns entgegenlastet, versagt sie sich zugleich jedem Eindringen in sie. Versuchen wir solches, indem wir den Fels zerschlagen, dann zeigt er in seinen Stücken doch nie ein Inneres und Geöffnetes. Sogleich hat sich der Stein wieder in das selbe Dumpfe des Lastens und des Massigen seiner Stücke zurückgezogen. Versuchen wir, dieses auf anderem Wege zu fassen, indem wir den Stein auf die Waage legen, dann bringen wir die Schwere nur in die Berechnung eines Gewichtes. Diese vielleicht sehr genaue Bestimmung des Steins bleibt eine Zahl, aber das Lasten hat sich uns entzogen.“ 126 Heidegger, Ursprung, 33. 127 Siehe zu diesem Beispiel Heidegger, Ursprung, 34. 128 Siehe Heidegger, Ursprung, 42. 129 Kern, Ursprung, 171. 130 Heidegger, Ursprung, 57. 131 Heidegger, Ursprung, 57. 124
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ständigkeit auf, die sich von sich her zeigen, ohne dabei verfügbar zu werden (so dass sie dadurch auch entzogen sind).132 Später in seinem Denken meint Heidegger, dass am Ding nicht nur seine Dinghaftigkeit deutlich werden kann, sondern dass das Ding – und besonders das Ding des Kunstwerks – eine umfassend neue Seinsweise in sich versammelt: 133 Der Mensch entspricht dem Ereignis der Wahrheit als Un-verborgenheit durch ein Denken, das auf das Sein hört und dieses andenkt.134 Dadurch wird der Mensch aus seiner Position als Übermensch entlassen und wird zum Sterblichen, der den Tod akzeptiert. Er reduziert das Seiende nicht mehr auf die ihm verfügbaren Werte und Vorstellungen. Vielmehr sieht er sie als Dinge, in denen sich das Geviert von Himmel und Erde, Göttern und Sterblichen auf eine Weise sammelt, dass nicht mehr der Wille zum Willen, sondern das gelassene Spielen Grundzug des Seienden ist. Diese am Kunstwerk sich ereignende Neubestimmung der gesamten Wirklichkeit gegenüber dem Gestell der Technik – dieses Einrücken in eine umfassende neue Seinsweise – ist erst dann angemessen verstanden, wenn die wesentliche Verbindung aller angesprochenen Dimensionen mit der Sprache zur Sprache gebracht wird. So ist festzuhalten, dass das Sein selbst durch Sprache sich ereignet: „Das Sein kommt, sich lichtend, zur Sprache. Es ist unterwegs zu ihr.“135 Es sei daran erinnert, dass das Sein und die Wahrheit (die erste Ebene) nicht als quasi-gegenständliche Entitäten zu denken sind, die somit etwa eigenständig der Sprache als ihrem Instrument gegenüberstehen. Vielmehr ist das Sein gerade ein solches, das, sich lichtend, zur Sprache kommt, so dass – mit dem berühmten Zitat gesprochen – „die Sprache das Haus des Seins“136 ist. Ebenso wird auch der Mensch (als die zweite Ebene) grundsätzlich verfehlt und allein aus der Perspektive der Technik her in den Blick genommen, wenn er als von der Sprache unabhängiger verstanden wird und die Sprache bloß als eines seiner Instrumente (auf der dritten Ebene). Vielmehr gilt umgekehrt, dass die Sprache die „Behausung“137 des Wesens des Menschen ist, Siehe dazu auch Luckner, 115. Siehe dazu Heidegger, Das Ding, und Hubert Dreyfus, Heidegger on the connection between nihilism, art, technology and politics, in: Charles Guignon, The Cambridge Companion to Martin Heidegger, Cambridge 1993, 289–316, 302. 134 Siehe dazu Heidegger, Was heißt Denken? 135 Martin Heidegger, Brief über den Humanismus, in: Martin Heidegger, Wegmarken, Frankfurt a. M. 1976, 313–364, 361. 136 Heidegger, Brief, 313. 137 Heidegger, Brief, 313, 333, 361. 132 133
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in der er immer schon wohnt, da sie ihm immer schon vorgegeben ist. Die je zur Sprache kommende Wahrheit als Unverborgenheit und der Mensch als Sprachwesen sind im wahren Denken und im wahren Dichten aufs engste miteinander verbunden. Diese Verbindung zeigt sich im wahren Denken dadurch, dass einerseits das Sein, das je unterwegs zur Sprache ist, im Sagen des menschlichen Denkens zur Sprache gebracht wird. Andererseits und zugleich „wird diese [Sprache, M. W.] so selbst in die Lichtung des Seins gehoben.“138 Im Sagen des Denkens wird somit das Sein zur Sprache und die Sprache zum Sein gebracht, und indem so die lautlose Sage des Seins in das Verlauten des Wortes überführt wird, ereignet sich lichtende Verbergung, also Wahrheit.139 Das vollzieht sich, indem und da das Sagen „erscheinen-, sehen- und hören-lassen“140 der Dinge ist. Die Dinge – die Seienden – werden somit auf eine Art benannt, durch die ihr Eigenstes zur Sprache gelangt und sie selbst ins Offene kommen. 141 Durch dieses nicht-verfügende Nennen eröffnet sich allererst der Raum, in dem das Urteil mit seiner Unterscheidung von wahr und falsch auftreten kann. Gegenüber dem instrumentellen, technischen Verständnis der Sprache betont Heidegger somit stark das Sagen als zur-Sprache-bringen des zur Sprache kommenden Seins im Sehenlassen des Seienden; er betont somit stark den aletheia-Aspekt der Sprache. Aber er reduziert Sprache nicht auf diesen erdhaften Aspekt, sondern verbindet ihn auch mit dem welthaften, da die Sprache auch als „Verhältnis der Verhältnisse“ angesehen wird, die im Geviert den Spielraum von Beziehungen und genauere Bestimmungen ermöglicht und zu etablieren hilft.142 Das wahre Denken ist dem Dichten als dem paradigmatischen Kunstwerk eng verwandt, so wie Heidegger Hölderlin eng verwandt ist, da Heidegger, Brief, 361. Martin Heidegger, Der Weg zur Sprache, in: Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 1959, 239–268, 260 140 Heidegger, Der Weg zur Sprache, 252. 141 Siehe dazu auch Heidegger, Ursprung, 61. 142 Siehe zu diesen verschiedenen Dimensionen der Sprache auch Christoph Schwöbel, „Seit ein Gespräch wir sind . . .“. Der Mensch als Sprachgeschöpf, in: Michaela Bauks (Hg.), Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst? Aspekte einer theologischen Anthropologie. Festschrift für Bernd Janowski, Neukirchen 2008, 473–485. Dieter Thomä, Die späten Texte über Sprache, Dichtung und Kunst. Im „Haus des Seins“: eine Ortsbesichtigung, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2003, 306–325, 316 f., betont, dass streng genommen nur die erd- und nicht die welthafte Seite der Sprache bei Heidegger in Heideggers Grundbestimmung des Sagens als zur-Sprache-bringen des Seins grundgelegt ist. 138 139
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Denker wie Dichter in ihrem Sagen die Offenbarkeit des Seins zur Sprache bringen.143 In dieser Nähe unterscheiden sich beide laut Heideggers eigener Bestimmung dadurch, dass dem Dichten „singendes Sagen“144 zukommt, dem Denken hingegen nicht. Man kann allerdings den Eindruck erlangen, dass Heidegger im Vollzug seiner Philosophie die Nähe zur Dichtung gegenüber ihrer Unterscheidung privilegiert. Denn Heidegger lässt die Form seiner Philosophie von ihrem Inhalt prägen: „Was Heidegger von der Sprache hält, wird nicht einfach mitgeteilt, sondern zeigt sich in seiner philosophischen Sprache selbst.“145 Heideggers späte Texte reden daher nicht allein von dem Zur-Sprache-Kommen des Seins, sondern inszenieren sich als Orte, in denen sich diese Öffnung selbst ereignen kann. Seine späten Texte stellen somit Versuche der Selbstaufhebung der Philosophie in den Kult dar.
1.5. Revolution oder Reflexion? Zur Anschlussfähigkeit Heideggers Von großem systematischen Interesse ist die Frage, wie sich die angedachte neue Seinsweise mitsamt des sie regierenden Wahrheitsverständnisses zu der Seinsweise der Technik und ihrem Wahrheitsverständnis verhält. Stellt die neue, im Kunstwerk sichtbar werdende Seinsweise eine umfassend andere Seinsweise dar, die nur erreicht werden kann, indem die alte, technische, verdammt und als Ganze verlassen wird, so dass Heidegger den totalen Bruch mit der technischen Welt propagiert? Soll das Verständnis der Wahrheit als Unverborgenheit das der Wahrheit als Richtigkeit und als Wert ersetzen? Oder zielt die neue Seinsweise darauf ab, die Totalität der technischen Seinsweise zu brechen, indem auf deren eigene ungedachte Voraussetzungen aufmerksam gemacht wird, ohne aber das relative Recht der Technik zu leugnen? Soll das Verständnis der Wahrheit als Unverborgenheit also mit dem Verständnis der Wahrheit als Richtigkeit und Wert vermittelt werden? Zusammengefasst: Stellt die neue Seinsweise die Revolution der alten dar oder aber ihre reflexive Variante?146 Siehe Heidegger, Brief, 313. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 194. 145 Thomä, Die späte Texte, 308. 146 Siehe zu dieser Terminologie Kern, Ursprung, 171–174. Kern entwickelt diese Terminologie in Auseinandersetzung mit zwei Lesarten des Kunstwerk-Aufsatzes: Während Richard Rorty meint, dass das Kunstwerk eine neue Welt etabliert, meint 143
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Zur Beantwortung dieser Frage sei eine exegetische Antwort, die sich auf die Schriften Heideggers bezieht, von einer systematischen Antwort unterschieden, die unsere Position in diesem Buch darstellt. In exegetischer Hinsicht scheint es bei Heidegger Spuren hin zu beiden Varianten zu geben, so dass wir in der bisherigen Darstellung auch schon beide Spuren darlegten. Entsprechend werden auch in der Sekundärliteratur zu Heidegger beide Lesarten vertreten.147 Einerseits also kann Heidegger im Gefolge der revolutionären Lesart die Geschichte des Abendlandes mit der Seinsverbergung beginnen und diese sich zur Seinsverbergung der Seinsverbergung steigern lassen. Die Metaphysik des Abendlandes ist dann als Ganze zu verwerfen: „Die Metaphysik ist in allen ihren Gestalten und geschichtlichen Stufen ein einziges, aber vielleicht auch das notwendige Verhängnis des Abendlandes.“148 Ebenso kann er das andenkende Denken scharf gegen jede uns vertraute Form des Denkens setzen: „Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, dass die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist.“149 Daher ist auch das technische Zeitalter in Gänze abzulehnen: „Die Irrnis kennt keine Wahrheit des Seins“150 , und der Mensch ist dieser Verhängnisganzheit hilf- und wehrlos ausgeliefert. Andererseits aber sieht Heidegger im Gefolge der reflexiven Variante, dass auch die Seinsverbergung eine Form des Seinsereignisses ist,151 so dass es immer schon die Möglichkeiten gibt, sich neuen Seinsweisen zuzuwenden. Daher sind dem Menschen Spielräume des Handelns eröffnet. So will Heidegger auch die Metaphysik nicht abstrakt über-, sondern gerade verwinden: nicht nur, weil die Metaphysik zu machtvoll ist, um einfach beiseite gestellt werden zu können, sondern auch, weil sich „die Verwindung dem Wesen der Metaphysik zuwendet. (. . .) [I]n der Verwindung kehrt die bleibende Wahrheit der anscheinend verstoßenen Metaphysik als deren nunmehr angeeignetes Wesen erst eigens zu-
Jacques Derrida, dass es auf das Abgründige an dieser Welt verweisen will; offensichtlich sind wir dieser Interpretation gefolgt. M. E. lässt sich diese Interpretationsdifferenz nicht nur in Bezug auf den Kunstwerk-Aufsatz, sondern in Bezug auf das Gesamtbild der Philosophie Heideggers nach der Kehre namhaft machen. 147 Exemplarisch Habermas, Der philosophische Diskurs, v. a. 180–190, gegen Seubold, Heideggers Analyse, 283–328. 148 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 73. 149 Heidegger, Nietzsches Wort, 267. 150 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, 89. 151 Siehe dazu auch Heidegger, Zur Seinsfrage, 415 f.
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rück.“152 Entsprechend denkt Heidegger auch am Satz vom Grund dessen eigene Voraussetzungen an, und die Erde ist sie selbst je nur als zu dieser Welt gehörig, so wie Sprache zwar wesentlich Sage als Sehenlassen ist, aber eben auch Verhältnis der Verhältnisse. Ebenso betont Heidegger in klarer, nüchterner Diktion, dass es „kurzsichtig wäre, die technische Welt als Teufelszeug verdammen zu wollen. (. . .) Wir können die technischen Gegenstände im Gebrauch so nehmen, wie sie genommen werden müssen. (. . .) Wir können ‚ja‘ sagen zur unumgänglichen Benützung der technischen Gegenstände, und wir können zugleich ‚nein‘ sagen, insofern wir ihnen verwehren, dass sie uns ausschließlich beanspruchen.“153 Auch wenn Heideggers Schriften selbst somit sowohl Anlass zur revolutionären wie zur reflexiven Lesart geben, so scheint doch die revolu tionäre im Vordergrund zu stehen. Dies gilt in je stärkerem Maße, je späteren Datums die Texte von Heidegger sind, auch wenn sich die unterschiedlichen Lesarten nicht einlinig chronologisch auflösen lassen. Gerade in Bezug auf die entscheidenden Aspekte von Wahrheit und Denken scheint Heidegger die revolutionäre Lesart stark zu machen, indem er die Wahrheit als Unverborgenheit zunehmend den menschlichen Urteilen abspricht und allein dem (wenn auch in menschlichem Sagen sich ereignende) Entbergungsgeschehen selbst zuschreibt.154 Entsprechend setzt er das wahre Denken als das nennende An-denken zunehmend gegen alle Formen der Logik, der Dialektik und des Aussagesatzes.155 Aus systematischer Hinsicht jedoch lehne ich die revolutionäre Variante strikt ab und optiere allein für die reflexive. Nur in dieser Variante stellt Heidegger einen für das vorliegende Buch anschlussfähigen Denker dar. Denn die von Heidegger selbst wohl bevorzugte revolutionäre Variante ist mit gravierenden denkerischen Problemen behaftet. In Bezug auf Heidegger, Zur Seinsfrage, 416. Martin Heidegger, Gelassenheit, in: Martin Heidegger, Gelassenheit, Stuttgart 1959, 7–26, 22. 154 Siehe dazu den entwicklungsgeschichtlichen und systematischen Überblick bei Dorothea Frede, Stichwort: Wahrheit. Vom aufdeckenden Erschließen zur Offenheit der Lichtung, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger Handbuch. Leben-WerkWirkung, Stuttgart 2003, 127–134. 155 Siehe dazu im Überblick Franz Joseph Wetz, „Was heißt Denken?“, „Grundsätze des Denkens“ und kleinere Schriften aus dem Umkreis. Denken zwischen Forschen und Hören, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger Handbuch. Leben-WerkWirkung, Stuttgart 2003, 279–287, sowie Franz Joseph Wetz, „Der Satz vom Grund“. Abgründiges Denken, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger Handbuch. Leben-WerkWirkung, Stuttgart 2003, 287–290. 152 153
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die Wahrheitsfrage ist festzuhalten, dass Heidegger mit der Verabsolutierung des Verständnisses von Wahrheit als Unverborgenheit jeden sinnvollen Begriff von Wahrheit verabschiedet. Dadurch aber untergräbt er den Anspruch seiner Position auf öffentliches Gehör. Denn damit ein sinnvolles Wahrheitsverständnis etabliert werden kann, muss die Wahrheit nicht nur als das Ereignis der Entbergung aus Verborgenheit gefasst werden. Vielmehr muss dieses dann Offenbare zugleich geprüft werden können gegen das, was es an ihm selbst ist und was damit im speziellen Sinne verborgen ist. In der revolutionären Lesart aber identifiziert Heidegger das Maß für die Wahrheit des offenbaren Seins mit dessen Offenbarkeit und der ihr zukommenden Verborgenheit als Ganzer. Damit gibt es keine Möglichkeit mehr, das sich ereignende Sein als wahr oder als unwahr zu qualifizieren – ereignet es sich, so ist es unmittelbar wahr. Wenn aber Faktizität und Geltung unmittelbar zusammenfallen und wenn jedes Kriterium ausgeschlossen wird, beide voneinander zu unterscheiden, so wird jedes sinnvolle Verständnis von Wahrheit negiert.156 Diese Gefahr gilt auch für ein Denken, das jenseits jeder Dialektik auf eine neue Unmittelbarkeit des bloßen Vernehmens aus ist. So sehr Dialektik gerade darin Dialektik ist, dass sie in Unmittelbarkeit gründet, die sie selbst nicht einzuholen vermag, die ihr aber immer präsent ist,157 so sehr bedeutet es das Ende jedes sinnvollen Begriffs von Denken, sich auf diese Unmittelbarkeit selbst zu kaprizieren. Oder, in Bezug auf die Sprache gesagt: Die einseitige Privilegierung des Nennens und damit des Wortes (vor allem des Wortes des Dichters) vor dem Urteil und dem Schluss führt Sprache nicht in ein „anderes Sagen“158 , sondern in Verendung jeder Rede. Um bereits kurz auf den zweiten Teil dieser Arbeit zu verweisen, so wird Koch in einer von ihm sogenannten „Theorie der Ursachverhalte“ eine Widerlegung jeder Variante der Propagierung von Unmittelbarkeit und damit jede Variante der Propagierung des Mythos des Gegebenen vornehmen (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.1.4.) und entsprechend in seinen wahrheitstheoretischen Überlegungen die Verabsolutierung dieses Wahrheitsaspektes kritisieren. Doch nicht nur in Bezug auf die Wahrheit, das Denken und die Sprache, sondern auch in Bezug auf die Metaphysik und die Gegenwartsdeu Siehe dazu die oft aufgenommene Kritik von Tugendhat, Wahrheitsbegriff, 393–405. 157 Siehe dazu auch Martin Wendte, Gottmenschliche Einheit bei Hegel. Eine logische und theologische Untersuchung, Berlin 2007, 308–320. 158 Heidegger, Zur Seinsfrage, 410. 156
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tung ist in systematischer Hinsicht strikt gegen die revolutionäre Variante zu optieren. Denn es kann mit Heidegger gegen Heidegger eingewendet werden, dass die revolutionäre Lesart im Heideggerschen Sinne selbst einen metaphysischen Umgang mit der Metaphysik darstellt, da sie aufgrund ihrer Pauschalisierungen vereinheitlichend, totalisierend und verfügend ist.159 Damit aber schwächt Heidegger die eigene Analysekraft ganz erheblich. Zudem ist solchen Kritikern wie Habermas Recht zu geben, die darauf insistieren, dass das Abzielen auf Unmittelbarkeit und die damit einhergehende Abwehr von Differenzierungen vom Gestus her faschistoid ist und evtl. nur von der eigenen Verstrickung in den Faschismus ablenken soll.160 Es ist geradezu faschistoid, wenn in unserem technischen Zeitalter jeder Unterschied zwischen Krieg und Frieden nivelliert und jeder in der Moderne erzielte Gewinn an Grundrechten, Sicherheit, Freiheit und Wohlstand für breiteste Bevölkerungsschichten in der westlichen Spätmoderne als Irrnis denunziert wird. So entschieden wir somit gegen die revolutionäre Variante optieren, die abstrakt das neue Seinsverständnis gegen das der alten, nihilistischen Metaphysik stellt, so entschieden meinen wir, dass die reflexive Variante der Zuordnung beider für das Verständnis der Tiefenstrukturen der technischen Moderne von großem Gewinn ist. Wenn bei Heidegger mit Heidegger gegen Heidegger die totalisierende Seite des Denkens abgedämpft wird, so erweist sich Heideggers Durchdenken des Wesens der technischen Spätmoderne als ausgesprochen hilfreiches Unterfangen, aus zwei Gründen. Zum einen sind Heideggers Analysen der technischen Moderne auch für unsere Gegenwart hilfreich. Denn er begreift die Technik nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern als Folge bestimmter Antworten auf metaphysische Grundfragen, die unser Denken und Handeln bestimmen. Dadurch bekommt Heidegger die Wucht ihrer Weltprägung in den Blick und sieht, dass das Verständnis vom Menschen, von seinem Denken und Handeln und von allem Seienden sowie dessen Grund umfassend durch die Technik geprägt sind. Zudem sieht er bereits eine Vielzahl von Phänomenen, die uns im nächsten Abschnitt beschäftigen werden, weil sie heute – verstärkt und verschoben – die Gegenwart unserer liquid modernity bestimmen (Erstes Kapitel, 2.). Zum anderen bringt auch Heideggers Gegenbild zur technischen Moderne in ihrer reflexiven Lesart Einsichten mit sich, die für dieses Buch von groß Siehe dazu auch Angehrn, Kritik, 278. Siehe dazu Habermas, Der philosophische Diskurs, 180–190.
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er Wichtigkeit sind. Mit Heidegger ist auf die Analyse der Technik als Weise des Entbergens, die aus der Seinsverbergung und einer entsprechenden Ökonomie des Mangels heraus alles zum Bestand macht, mit einem ebenso grundlegenden Gegenentwurf zu antworten, der Wirklichkeit von der von Gott gegebenen Fülle der Gaben her denkt, welche die Technik begründet und begrenzt. Es soll somit ein Gegenentwurf entwickelt werden, der als Variante der reflexiven Lesart Heideggers verstanden werden kann. Dies geschieht, indem im zweiten Kapitel des Buches aus erstphilosophischer Perspektive bisher namhaft gemachte, zentrale kategoriale Fragen einer eigenen Reflexion zugeführt werden: Wie verhalten sich Wahrheit als aletheia oder als Sich-Zeigen, als Richtigkeit und als Wert zueinander? Koch wird in seiner Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit alle drei Verständnisse der Wahrheit miteinander vermitteln. Damit bedenkt er gleichsam den kategorialen Kern Heideggers wie den des Buches als ganzes und bietet Argumente für die reflexive Lesart Heideggers. Die Überlegungen zur Wahrheitstheorie liefern zugleich Überlegungen zu weiteren Fragen: Wie sind dem entsprechend die Dinge und die Stellung des Menschen zu ihnen zu fassen – ist der Mensch ein solcher, der als Sterblicher in eine Vielzahl von Beziehungen eingelassen ist, oder ist der Subjekt höchster Punkt der Ordnung? Damit zugleich auch: Wie verhält sich eine Vernunft, die vernimmt, zur Rationalität des Abendlandes? Und wie können diese Entitäten so gefasst werden, dass die dem Menschen und der menschlichen Rationalität wesentliche Sprachlichkeit dabei mitbedacht wird? Nicht zuletzt: Ist der Mensch dabei als leiblich vermittelter anzusetzen? Indem Koch starke Gründe dafür liefert, die drei Aspekte der Wahrheit miteinander zu vermitteln, sieht er sie zudem immer schon in Sprachlichkeit eingebettet und bekommt den Menschen als leibliches Wesen in den Blick, der in gewisser Hinsicht Subjekt und in gewisser Hinsicht Sterblicher – also: Person – ist. Die Dinge werden als solche bestimmt, die sich von sich her zeigen, ohne dem Menschen dadurch ganz verfügbar zu werden. Mit Heidegger gesprochen: Sie sind nicht reiner Bestand, sondern als unverborgene erst im Zusammenspiel von Welt und Erde angemessen zu begreifen. Diese Position wird im Zweiten Kapitel als eine Variante des Realidealismus benannt werden. Der Realidealismus kann als philosophische Fassung wesentlicher kategorialer Züge begriffen werden, die für Luthers Metaphysik des Abendmahls prägend sind. Der dritte Teil des Buches präsentiert Luthers Abendmahlslehre, welche ein reflexives Gegenbild zum Wirklichkeits-
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verständnis der technischen Moderne bereit hält. In dieser Hinsicht besteht eine beachtliche Nähe zwischen den Überlegungen Luthers und denen Heideggers (sowie denen Kochs). Zugleich ist auf zwei Differenzen hinzuweisen, die sich in aller Nähe ergeben. Zum ersten stimmen Luther und Heidegger zwar darin überein, dass das Handeln des Menschen (dritte Ebene) von einem umfassenden Verständnis der Wirklichkeit geprägt ist, das als Metaphysik explizit gemacht werden kann (zweite Ebene), ohne dass der Mensch in seinem Handeln (erste Ebene) selbst vollständig über es verfügen kann. Vielmehr kommt dem jeweils herrschenden Wahrheitsverständnis ein Moment von Unverfügbarkeit zu. Allerdings meinen wir mit Luther gegen Heidegger, dass diese erste Ebene nicht die eines nur im Raunen zu benennenden, opaken Seinsgeschehens ist. Vielmehr ist sie als die des Handeln Gottes zu bestimmen, der meist auf präzise begreifbare (und manchmal auf unverständliche) Weise handelt. Auch wenn Heidegger sich wohl gegen diese Umbesetzung gewehrt hätte, ist sie vom Zielpunkt unserer Arbeit aus – von Luthers Abendmahlslehre her – geradezu alternativlos. Zum zweiten meinen wir mit Heidegger, dass es bestimmte focal practices gibt, an denen die neue Seinsweise in besonders intensiver Form sichtbar wird. Gegen Heidegger meinen wir aber, dass nicht die Philosophie, sondern der Kult der Ort ist, von dem aus ein umfassendes Verständnis der Wirklichkeit sichtbar wird. Nicht so sehr im Kunstwerk oder in der Philosophie, sondern in ausgezeichneter Weise im Abendmahl wird erfahrbar, dass die Wirklichkeit nicht als Bestand, sondern als Gabe zu fassen ist. Oder, wenn Heidegger seiner Philosophie quasi-kultische Form gibt, betonen wir, dass sich die primären kultischen Handlungen im Gottesdienst vollziehen und nicht im Denken des Philosophen (oder im dichten Dichten des Dichters). Doch bevor in den zweiten und den dritten Teil fortgeschritten wird, sei genauer expliziert, was bisher nur angekündigt wurde: dass Heidegger deshalb für unsere spätmoderne Gegenwart von Interesse ist, weil die von ihm analysierten Veränderungen in der Tiefenstruktur unseres Wirklichkeitsverständnisses sich in den letzten dreißig oder vierzig Jahren in umfassendem Maße realisieren.
2. Heidegger 2.0: Liquid Modernity
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2. Heidegger 2.0: Liquid Modernity 2.1. Von fest zu flüssig: Die gesamtgesellschaftliche Realisierung von Heideggers Analyse Die Relevanz von Heideggers bereits über sechzig Jahre alten Analyse des Westens im technischen Zeitalter soll im Folgenden weiter verdeutlicht werden. Dafür wird Heideggers Analyse mit zwei gegenwärtigen Diskursen über die Verfasstheit westlicher Gesellschaften in Verbindung gebracht, welche sich explizit oder der Sache nach an Heidegger anschließen. An die Einsichten von Hans Ulrich Gumbrecht als den einen Diskurs soll nur kurz erinnert werden. Gumbrecht präsentiert eine an Heidegger geschulte Reformulierung der Veränderung derjenigen Weisen, in der Menschen in der Welt zu stehen kommen. Diese Veränderungen ereigneten sich in den letzten fünfhundert Jahren und stellen zugleich grundlegende Optionen von Seinsweisen dar. Etwas ausführlicher soll ein zweiter Diskurs aufgerufen werden, der die Veränderungen im Westen in den letzten dreißig oder vierzig Jahren in den Blick nimmt. Soziologen wie Anthony Giddens, Richard Sennett, Zygmunt Bauman oder Ulrich Beck, Philosophen wie Albert Borgmann, feministische Kulturtheoretikerinnen wie Elisabeth List, Sozialgeographen wie Benno Werlen, Journalisten wie Thomas Friedmann161 und viele andere kommen in der Beobachtung überein, dass sich in den letzten Jahrzehnten eine Verschiebung von einer strukturierten, in vielem recht stabilen Moderne zu einer dynamischen, weichen, entgrenzten Spät-, Postoder Hypermoderne ereignet. Anders noch als 1960 leben wir gegenwärtig in der „liquid modernity“.162 Diese Verschiebung ist für das vorliegende Buch deshalb von Interesse, da ich sie als die gesamtgesellschaftliche Realisierung des Übergangs einer Gesellschaft lese, die – in der Terminologie Heideggers – von dem Verständnis der Wahrheit als Richtigkeit dominiert ist, hin zu einer Gesellschaft, die von dem Verständnis der Wahrheit als Wert geprägt ist. Mit diesem Übergang vollzieht sich diejenige Intensivierung der Herrschaft des Menschen über seine Umwelt, seine Mitmenschen und sich selbst, die Heidegger für Gesellschaften mit dem Verständnis der Wahr161 Die Bücher dieser Autoren, auf die wir uns im Folgenden beziehen, werden an denjenigen Orten präziser bestimmt, an denen sie genauer referiert werden. 162 So der englische Titel des Buches, das im Deutschen als Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003, erschien.
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heit als Wert konstatiert. Mir scheint somit, dass Heideggers Analyse der westlichen Moderne anhand seines unterschiedlichen Verständnisses von Wahrheit nicht nur in kategorialer Hinsicht von Bedeutung ist, welches im Zweiten Kapitel näher geklärt werden soll. Vielmehr scheint mir, dass gerade Heideggers Nietzsche-Lektüre ein zeitdiagnostisches Potential für unsere unmittelbare Gegenwart bereithält. Denn sie macht etwas sichtbar, was eventuell seit Beginn des Abendlandes in dessen Tiefenstrukturen angelegt war und was von einigen hellsichtigen Zeitgenossen wie Nietzsche als grundlegende Verfasstheit der Moderne angesprochen und von Heidegger näher analysiert wurde. Dieses, was dort sichtbar gemacht wurde – diese Beschleunigung und Verflüssigung, die mit einer Verdichtung von Herrschaft einhergeht und damit „das Rasende des Bestellens“163 ist – hat sich in den letzten dreißig oder vierzig Jahren in nochmals intensivierter Form realisiert. Die Verflüssigung ist in so umfassendem Maße Wirklichkeit geworden, dass sie die Gesellschaft auf den verschiedensten Ebenen prägt. Die Verflüssigung lässt sich in derjenigen Art wiederfinden, in der westliche Gesellschaften ihren Raum und ihre Zeit organisieren, ihre Ökonomie, ihr Arbeitsund Familienleben und ihr Verhältnis zu ihrem Leib. Zwar betreffen die Verschiebungen auf den verschiedenen Ebenen nicht alle Menschen gleichermaßen. Aber alle Veränderungen wirken sich nicht mehr nur auf wenige Funktionseliten aus. Zudem werden diese Veränderungen durch Normen und Werte gesteuert, mit der sich die übergroße Mehrzahl der Menschen identifizieren und die damit auch für diejenigen gelten, die nicht vollumfänglich von den realen Veränderungen betroffen sind.164 Mit anderen Worten: Die Veränderungen sind auf der makrosoziologischen Ebene deutlich konstatierbar, auch wenn sich auf mikrosoziologischer Ebene selbstredend ein ausgesprochen differenziertes Bild dieser Veränderungen ergibt. Heidegger hat somit vorgedacht, was sich in den letzten vierzig Jahren und verstärkt seit dem Zusammenbruch der Diktaturen in Osteuropa als gesellschaftliche Veränderung und als Verschiebung im Wertegefüge so umfassend realisiert, dass es mittlerweile recht präzise beschrieben werden kann: unter Rückgriff auf empirische Erhebungen und einmal ganz ohne Verweis auf ein neues Kapitel der Geschichte des Seins. Der fol Heidegger, Die Frage nach der Technik, 37. Siehe dazu auch Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2007, 14 f. 163
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gende, längste Abschnitt dieses Teils deutet die Verschiebung von fest zu flüssig in den genannten Kategorien des Raumes, der Ökonomie etc. an (Erstes Kapitel, 2.2.), ehe abschließend auf einige Bewegungen und Stimmen verwiesen wird, die den negativen Seiten dieser Entwicklung entgegenzuwirken versuchen (Erstes Kapitel, 2.3.). Eine Form der Gegenbewegung wird von dem amerikanischen Technikphilosophen Albert Borgmann vertreten. Borgmann verweist auf focal practices, die sich um focal things herum entwickeln und das Sich-Zeigen der Wirklichkeit sichtbar werden lassen und feiern. Damit nimmt Borgmann Einsichten Heideggers auf, die dieser in Bezug auf das Kunstwerk oder den Tempel darlegte (siehe dazu oben, Erstes Kapitel, 1.4.). Das Abendmahl gerade in seiner Lesart durch Luther kann als focal practice par excellence verstanden werden, das daher gerade für die flüssige Spätmoderne von besonderer Relevanz ist.
2.2. Vom Abendmahl über das Kapital zum Internet: Spätmoderne Verflüssigungen 2.2.1. Gumbrecht und die Verschiebung von einer Präsenzzu einer Sinnkultur Die Analysen der Verschiebung der Verfasstheit westlicher Gesellschaften beginnen mit Einsichten, die der an Heidegger geschulte Kulturtheoretiker und Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht präsentiert. Sie können als zusammenfassende Aufnahme zentraler Beobachtungen Heideggers gelesen werden und deuten zugleich die umfassende Veränderung an, die im Folgenden in differenzierterer Weise beschrieben wird. Gumbrecht unterscheidet zwei grundlegende Weisen, in der Welt zu stehen zu kommen. Diese befinden sich einerseits seit dem Beginn des Abendlandes im Daueragon und können andererseits in ausgezeichneter Weise bestimmten Epochen zugerechnet werden.165 Die eine dominierte das Mittelalter und wird von Gumbrecht „Präsenzkultur“ genannt. Es erhellt, dass Präsenz hier nicht im Sinne der Heideggerschen Präsenzmetaphysik eine für den Menschen verfügbare Präsenz bezeichnet, sondern gerade die in ihrer Materialität reiche und widerständige Präsenz von Dingen, die sich von sich her zeigen. Die andere Kultur kommt in der Moderne zur Herrschaft, ähnelt sachlich Heideggers 165 Siehe zum Folgenden Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M. 2004, 98–110.
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Präsenzmetaphysik und wird von Gumbrecht als „Sinnkultur“166 oder als Kultur der Repräsentation bezeichnet. Beide Kulturen sollen im Folgenden dergestalt kurz charakterisiert und damit voneinander unterscheidbar gemacht werden, dass zuerst vor allem die Verfasstheit des Wissens in der jeweiligen Kultur und dann die des Handelns in den Blick genommen wird. In den Präsenzkulturen ist der Leib der dominante Gegenstand des Selbstbezuges, in den Sinnkulturen hingegen ist es der Geist oder das Bewusstsein. Entsprechend meinen die Mitglieder einer Sinnkultur, dass sie der Welt gegenüberstehen und diese von sich als Subjekten her aufbauen, während die Mitglieder einer Präsenzkultur ihren Leib und damit sich selbst in eine umfassende Kosmologie eingeordnet wissen. Die präsenzkulturelle Kosmologie ist so verfasst, dass den Dingen ein ihnen inhärenter Sinn eingeschrieben ist, der nicht erst selbst produziert werden muss. Das Wissen, das den Mitgliedern einer Präsenzkultur zukommt, muss daher auch nicht wie das einer Sinnkultur vom Subjekt produziert werden, indem unter der Oberfläche die geistige Wahrheit der Dinge namhaft gemacht oder diese gar selbst konstruiert wird. Vielmehr wird das Wissen entweder von einem Gott offenbart oder dadurch erlangt, dass die Dinge sich entbergen. Entsprechend ist dieses Wissen nicht notwendigerweise begrifflicher oder überhaupt sprachlich vermittelter Art und divergiert auch in dieser Hinsicht von sinnkulturellem Wissen mit seiner Fixierung auf begriffliche Definitionen. Neben der Generierung und Kommunikation von Wissen ist auch das Verständnis des Handelns in beiden Kulturen denkbar verschieden. In Präsenzkulturen suchen die Leiber so zu handeln, dass sie dem Rhythmus der Welt entsprechen. Sinnkulturen hingegen verändern oder ignorieren diese Rhythmen und handeln damit auf eine Art, die den Präsenzkulturen gerade als sündig gilt. Damit wird auch deutlich, dass für Präsenzkulturen der Raum zwischen den Leibern und zwischen Leib und Welt die zentrale Dimension ist, in der Wirklichkeit gestaltet wird, während Sinnkulturen vor allem in der und durch die Zeit handeln, die sie messen, beschleunigen, neutralisieren etc. Als im Raum handelnde Leiber sind die Leiber der Präsenzkultur solche, die sich auch immer wieder in die Quere kommen und auf diese Weise Gewalt ausüben. In den Sinnkulturen wird Gewalt unsichtbar zu machen versucht und die 166 Siehe zu der Terminologie der Präsenz- und der Sinnkultur Gumbrecht, Diesseits, 99 f.
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wahre Macht liegt im Wissen. Die Differenz zwischen beiden Kulturen kann zusammenfassend an ihren prototypischen Ritualen verdeutlicht werden: Während Sinnkulturen in einer Parlamentsdebatte ganz bei sich sind, sind es Präsenzkulturen bei der Feier des Abendmahls. Die Benennung des prototypischen Rituals lässt in ausgezeichnetem Maße sowohl die Relevanz wie die Begrenztheit des Ansatzes von Gumbrecht für das vorliegende Buch sichtbar werden. Relevant ist er dadurch, dass er zu verstehen hilft, welch bemerkenswerte Position Luther einnimmt. Luther verbindet das Beste einer Präsenzkultur mit dem Besten einer Sinnkultur miteinander zu einer Position, die man als reflexive Präsenzkultur bezeichnen mag. Mit einer Präsenzkultur ist sich Luther der Leiblichkeit des Menschen ebenso bewusst wie dessen Verortung in einer umgreifenden geschöpflichen Wirklichkeit. Die Schöpfung charakterisiert Luther als in sich sinnvoll, als sich selbst offenbarend und als Medium der Offenbarung Gottes. Mit den Sinnkulturen löst Luther die Theologie und die Kosmologie jedoch dergestalt voneinander ab, dass er nicht in einem mittelalterlichen Weltbild verhaftet bleibt, das den Himmel als einen Ort im Raum verortet. Vor allem weiß er um den Menschen als einen solchen, den das Angeredetwerden durch Gott und die Einbettung in einen sich entbergenden Kosmos zu sprachlich vermitteltem Glauben, Denken und Handeln vor Gott und in der Welt ermächtigt. Luther verbindet somit zentrale Elemente der Präsenzkultur mit wichtigen Aspekten einer Sinnkultur zu einer neuen, insbesondere für die Gegenwart attraktiven Verbindung (siehe dazu näheres im Dritten Kapitel, 2. und im Vierten Kapitel). Zugleich ist der von Gumbrecht angeführte Dual von begrenzter Erklärungskraft. Denn er vermag nicht, die neueren Verschiebungen der letzten dreißig oder vierzig Jahre als die Verschiebungen innerhalb einer Sinnkultur von einer härteren Moderne hin zur liquid modernity in ausreichender Schärfe in den Blick zu nehmen. Diese Begrenztheit zeigt sich darin, dass Gumbrecht als das prototypische Ritual der Gegenwart das Parlament benennt. Demgegenüber spricht viel dafür, das Fernsehen oder das Surfen im Internet und nicht eine Parlamentsdebatte als das prototypische Ritual unserer Gegenwart anzusehen. Um diese Verschiebungen sichtbar zu machen, sind weitere Differenzierungen vonnöten.
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2.2.2. Das Internet und die spätmoderne Implosion der Raumzeit Im Folgenden werden Verschiebungen innerhalb der westlichen Kulturen in den letzten dreißig oder vierzig Jahren beschrieben. Diese Verschiebungen wurden durch die Soziologie, die Wirtschaftswissenschaften, die Sozialgeographie etc. so detailliert erforscht und analysiert, dass ihre Existenz mit guten Gründen vertreten werden kann.167 Diejenigen Denker wie Giddens, Sennett, Bauman, Beck und Borgmann, die diese empirischen Erhebungen in übergreifende und miteinander kompatible makrosoziologische Gegenwartsanalysen zusammenfassen und dadurch als Gewährsmänner der folgenden Überlegungen fungieren, entwickeln ihre Deutungen somit auf einem belastbaren Fundament. Zugleich sind die angesprochenen Sachverhalte gleichermaßen umfassend wie komplex. Daher würde die Darstellung jeder einzelnen Dimension der Verschiebung – die Verschiebung der Verortung im Raum, die innerhalb der Ökonomie etc. – eine eigene Monographie verdienen. Um den Rahmen nicht zu sprengen, werden im Folgenden jedoch nur jeweils einige wenige Stichworte zu jeder Dimension aufgerufen und dafür diejenigen Aspekte ausgewählt, die für die leitende Fragestellung dieses Buches von Interesse sind. Alle Stichworte könnten durch ausführlichere Rekonstruktionen der angegebenen Sekundärliteratur differenzierter dargestellt und durch die der Sekundärliteratur zugrunde liegenden empirischen Untersuchungen im Einzelnen belegt werden. Die Verschiebungen innerhalb der Sinnkultur können paradigmatisch in den Blick genommen werden, wenn man Gumbrechts Dual der prototypischen Rituale von Abendmahl und Parlament durch den Dreischritt der „ontosemiologischen Leitmedien unserer Kulturtradition“168 ersetzt, den Hörisch anbietet: Es ist der Dreischritt vom Abendmahl über das Geld hin zum Fernsehen bzw. dem Internet, der die Leitmedien von Vormoderne, Moderne und Spätmoderne präsentiert. Leitmedien sind diese deshalb, da sie nur um den Preis der Stigmatisierung vermieden werden können.169 Wer im Mittelalter das Abendmahl vermeidet oder gegenwärtig das Fernsehen und das Internet, exkommuniziert sich selbst aus zentralen Dimensionen des öffentlichen Lebens. Denn anhand dieser 167 Zudem dürften die folgenden Beobachtungen auch jedem wachen Zeitgenossen und interessierten Zeitungsleser plausibel erscheinen und bereits auf diese Weise ihre Bestätigung erfahren. 168 Hörisch, Brot und Wein, 13. Siehe zum Folgenden Hörisch, Brot und Wein, 7–28. 169 Siehe Hörisch, Brot und Wein, 13.
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Leitmedien werden die zentralen Identitätsfragen einer Gesellschaft verhandelt – wer bin ich als Einzelner, wer sind wir als Gesellschaft, und wie komme ich zu stehen im Verhältnis zu den anderen Menschen und zu Gott? Anhand dieser Leitmedien wird auch das Weltverhältnis verhandelt und damit zugleich diejenige Zuordnung, die für jede Kommunikation ebenso unwahrscheinlich wie grundlegend ist: „daß Sein sinnvoll und daß Sinn vorhanden ist.“170 Allerdings verschiebt sich die Zuordnung von Sinn und Sein in den drei Leitmedien in radikaler Weise. So stellt das Abendmahl als das Ereignis der Realpräsenz des Herrn der Welt in Brot und Wein eine reale Schnittstelle von Sinn und Sein dar. Das Geld hingegen ist eine funktionale Schnittstelle von Sinn und Sein, und das Nullmedium Fernsehen ebenso wie das Internet eine simulierte. Das lässt sich auf zweifache Weise beschreiben. Zum einen fallen beim Fernsehen und im Internet Sinn und Sein auseinander. Denn ein einheitlicher Sinn wird in viele Programme hinein zerstreut und verflüssigt: Es gibt immer noch eine andere Meinung, die das Gegenteil meiner Meinung oder etwas mit ihr inkommensurables behauptet. Zum anderen fallen Sinn und Sein auf eigene Weise zusammen. Denn die Information dient nicht mehr allein dazu, ein ihr externes Material zu beschreiben oder zu verändern, sondern stellt immer öfters selbst das Material dar, das beschrieben und verändert wird.171 Damit lässt sich in einer Heideggerschen Perspektive explizieren, warum die neuen Medien und vor allem das Internet als Leitmedium der Spätmoderne fungieren. Mit Dreyfus gesprochen, bringt das Internet die „essence of technology“172 zum Ausdruck. Denn „if the essence of technology is to make everything accessible and optimizable, then the internet is the perfect technological device. It is the culmination of the same tendency to make everything as flexible as possible that has led us to digitalize and interconnect as much of reality as we can.“173 Wie im Folgenden verdeutlicht werden soll, wird mit der Digitalisierung und der durch sie erreichten Flexibilisierung die Wirklichkeit in radikalem Maße zum Bestand gemacht und damit in verabsolutierter Form der Herrschaft des Menschen unterworfen. Durch die Digitalisierung wird die Hörisch, Brot und Wein, 14. Siehe dazu auch Borgmann, Crossing, 71 f. Neudeutsch gesprochen: Das medium ist die message und damit auch der content. 172 Hubert L. Dreyfus, On the Internet, London, 2., überarb. Auflage 2009, 1. 173 Dreyfus, On the Internet, 1 f. 170 171
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ganze Wirklichkeit dem Menschen präsent und damit in neuer Weise verfügbar. Das Internet steht für die Vollendung eines präsenzmetaphysischen Wirklichkeitszugriffs. Die Verschiebungen der Leitmedien vom Abendmahl über das Kapital zum Internet bündeln in paradigmatischer Weise Veränderungen, die die westlichen Gesellschaften in umfassendem Maße und auf verschiedenen Ebenen betreffen. Am deutlichsten werden diese gesamtgesellschaftlich konstatierbaren Verschiebungen in dem, was Werlen unter Aufnahme von Einsichten von Giddens174 als die Verschiebungen der „gesellschaftlichen Raumverhältnisse“175 bezeichnet, die auch je das Verhältnis zur Zeit mit umfassen. Zur Debatte stehen somit nicht Raum und Zeit unter der Perspektive der Physik oder der Erstphilosophie, sondern die Weisen, in denen Gesellschaften Raum und Zeit als Dimensionen ihres Handelns gestalten. Das vormoderne Raumverhältnis ist das einer zeitlich, sozial und räumlich verankerten Gesellschaft, die als Gemeinschaft geordnet ist. Zeit und Raum sind somit aufs engste aufeinander verwiesen: Zeit ist dasjenige, was man braucht, um von einem Ort zum nächsten zu wandern, und der Raum ist dasjenige, was man innerhalb eines Tagesmarsches zurücklegt.176 Die Zeitfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird durch Traditionen gestaltet. Da Traditionen von Ritualen und Wiederholungen leben, gibt es viele Kontinuitäten zwischen Vergangenheit und Zukunft.177 Entsprechend sind in sozialer Hinsicht gesellschaftliche Positionen durch Verwandtschaft oder Standeszugehörigkeit geregelt. Beides liegt auch daran, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaften in räumlicher Hinsicht wenig mobil sind. Sie halten sich meist in dem Umkreis eines Tagesmarsches auf, arbeiten, wo sie wohnen, und begegnen wiederholt den anderen Menschen in diesem Umkreis, mit denen sie in körperlich gebundener Weise von Angesicht zu Angesicht kommunizieren. 174 Siehe vor allem Anthony Giddens, The Consequences of Modernity, Cambridge 1991. 175 Siehe zum Folgenden Benno Werlen, Körper, Raum und mediale Repräsentation, in: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, 365–392, v. a. 372–378. 176 Siehe Bauman, Flüchtige Moderne, 131 f. 177 Siehe dazu auch Anthony Giddens, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, Frankfurt a. M. 2001, 51–57, der betont, dass Traditionen immer „invented traditions“ waren und sind. Sie werden beständig umgebaut, weisen aber dennoch starke Kontinuitätsmomente auf und sind durch Ritual und Wiederholung gekennzeichnet.
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Die moderne Konstellation zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass diese enge Verwiesenheit von Zeit und Raum aufgelöst wird und dabei eine eigene Form der Dialektik von Abbau und Aufbau von Ordnung auf den Plan tritt. Die Industrialisierung und Bürokratisierung der Gesellschaft sowie der damit einhergehende Aufbau neuer Transportmöglichkeiten erlauben es, dass sich die Menschen aus den räumlichen und zeitlichen Verankerungen vormoderner Gemeinschaften lösen.178 Breite Schichten der Gesellschaft können sich gerade aufgrund der einsetzenden Landflucht in ihrem Leben und Arbeiten von den zeitlichen Rhythmen der Natur emanzipieren. Durch die angesprochenen Entwicklungen verlieren auch die jeweiligen Räume die ihnen eigenen Widerständigkeiten. Entsprechend kann die Moderne einerseits dadurch definiert werden, dass die Zeit selbst geschichtlich wird179 und die Menschen sich in neuer Form der Diskontinuität ihrer Zeit gegenüber der Vergangenheit bewusst werden. Andererseits kommt die Zeit als ein Werkzeug in Gebrauch, das dazu dient, sich den Raum verfügbar zu machen, so dass die Moderne „als ein Unternehmen der Eroberung des Raums“180 verstanden werden kann. Die Eroberung des Raumes reicht von der Entdeckung der ganzen Welt durch den Westen über die Kolonialisierung Afrikas und Lateinamerikas im 19. Jahrhundert bis hin zum Wettlauf zum Nord- und Südpol und dem Flug zum Mond im 20. Jahrhundert.181 Doch es werden nicht nur Ordnungen abgebaut und Räume erobert, sondern zugleich auch neue Ordnungen aufgebaut und Räume gesichert: „Die nationalstaatlichen Institutionen binden den Prozess der Entankerung über die Wiederverankerung des gesellschaftlichen Lebens in neu gewonnene Dimensionen mittels territorialer (Neu)ordnung. Die räumliche Entankerung, die in der Moderne angelegt ist, wird über nationale Währungen, die Formierung von Nationalökonomien, das Erheben von Zöllen entlang der Staatsgrenzen etc. an das Territorium rückgebunden.“182 Zudem wird durch die Etablierung nationaler Hochsprachen, nationaler Zeitungen und Radios die Kommunikation auf den Bereich der Nation hin ausgerichtet. „Damit wird eine moderne, rationale Form der Verräumlichung bzw. Territorialisierung gesellschaftlicher Wirk Siehe dazu auch Bauman, Flüchtige Moderne, 132 f. Siehe Bauman, Flüchtige Moderne, 132. 180 Bauman, Flüchtige Moderne, 16. 181 Siehe dazu auch Bauman, Flüchtige Moderne, 136 f. 182 Werlen, Körper, 376. 178
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lichkeit durchgesetzt.“183 Politische, aber auch ökonomische Macht äußert sich somit darin, dass zuerst ein möglichst großes Territorium erobert wird, sodann seine Grenzen gut gesichert und streng bewacht werden und innerhalb des Territoriums eine funktionierende, hierarchisch organisierte Ordnung zur Herrschaft über den Raum, seine Rohstoffe und Bewohner errichtet wird.184 Dem entspricht auf der Ebene der Zeit, dass die geschichtlich gewordene Zeit durch große Erzählungen organisiert wird, die vom Anfang, vom Aufstieg und vom Höhepunkt (sowie evtl. vom Fall) eines Unternehmens, einer Nation oder der gesamten Menschheit künden. Um den Aufstieg eines Unternehmens oder einer Nation zu ermöglichen, wird die Zeit dann metrisch: Sie wird in beherrschbare Einheiten eingeteilt, innerhalb derer nach der Stechuhr gehandelt wird.185 Auch die Zeit wird somit auf einen umfassenden Bereich ausgedehnt und dieser dann so strukturiert, dass sich innerhalb seiner eine Ordnung ergibt und Verortungen möglich werden.186 Die spätmoderne Konstellation der letzten dreißig Jahre löst gleichermaßen die vormoderne wie die moderne Variante von zeitlicher und räumlicher Verankerung auf: „An die Stelle zeitlicher Stabilität tritt eine permanente und zunehmend beschleunigte soziale Transformation.“187 Ebenso „treten an die Stelle räumlicher Kammerung globale Lebenszusammenhänge.“188 Räumliche Kammerungen werden durch sich immer stärker beschleunigende Mobilisierungen überwunden oder zumindest in ihrer Bedeutung relativiert. Das bringt die Folge mit sich, dass nicht mehr nur die Funktionseliten, sondern breite Bevölkerungsschichten beim Fernsten sein können in einer dreitätigen Geschäftsreise nach Chicago oder einem Kurzurlaub auf den Malediven. Daher ist auch „der Metazweck heutiger Politik die Beseitigung von Hindernissen und Kontrollpunkten, die Sicherung freier Fahrt.“189 Zugleich wird der Fernste der Nächste, der als Gastwissenschaftler aus Japan im Haus nebenan
Werlen, Körper, 376. Siehe Bauman, Flüchtige Moderne, 131–136. 185 Siehe auch Bauman, Flüchtige Moderne, 138 f. 186 Siehe dazu auch Sennett, Die Kultur, 30–34. 187 Werlen, Körper, 376. 188 Werlen, Körper, 376. 189 Bauman, Flüchtige Moderne, 21. 183
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wohnt oder als Pakistani in der Küche des türkischen Schnellimbisses um die Ecke arbeitet.190 Die Verflüssigung bringt zudem die Folge mit sich, dass die ökonomische Macht zunehmend exterritorial wird und die politische Macht von Nationalstaaten dadurch gleichsam ausgehöhlt wird (siehe dazu auch unten, Erstes Kapitel, 2.2.3).191 Zudem wird die soziale Interaktion weniger durch Traditionen geprägt als durch Verhaltensweisen, die diskursiv ausgehandelt wurden oder die aus Traditionen stammen, die offen für diskursive Anfragen sind.192 Entsprechend sind gesellschaftliche Positionen in viel geringerem Maße an Stände, Alter oder Geschlecht gebunden als an fachliche Leistungen, so dass geschiedene Frauen aus Mitteldeutschland Parteivorsitzende einer konservativen Partei und Kanzler – genauer: Kanzlerin – der Bundesrepublik Deutschland werden können. In all dem verschiebt sich die Kommunikation von der face-to-face Kommunikation, aber auch von den nationalen Zeitungen oder Radios hin in die neuen Medien. Gemeinsam mit den ökonomischen Veränderungen bringen die neuen Medien „eine Art raumzeitlicher Implosion“ oder eine „time-space-compression“193 mit sich. „Man kann die Einführung des Handys als den symbolischen ‚K.-o.-Schlag‘ gegen die Raumgebundenheit interpretieren.“194 Das Internet enthebt den Menschen dann noch der Zeitgebundenheit. Denn es ermöglicht, gleichzeitig die life-Bilder einer Überwachungskamera aus Tokio anzuschauen, mit Freunden in Chicago zu skypen und Aktien an der Börse in Hong Kong zu verkaufen. Diese Form der Gleichzeitigkeit ist in Wahrheit eine Form der Abwesenheit von Zeit – eine Form ihrer Irrelevanz –, und sie ist zugleich eine Entwertung des Raumes.195 Beides führt dazu, dass dasjenige, was sich innerhalb von Raum und Zeit befindet, in umfassenderem Maße für ökonomische oder politische Zwecke mobilisiert und beherrscht werden kann, als das in der Moderne oder der Vormoderne der Fall war. In Heideggers Terminologie: Die Vollendung der Präsenzmetaphysik 190 Dem entspricht, dass auch weltweit gesehen seit einigen Jahren mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land wohnen und damit in einer „menschlichen Ansiedlung, in der die Wahrscheinlichkeit besteht, daß Fremde sich begegnen“, so Richard Sennett, The Fall of Public Man. On the Social Psychology of Capitalism, New York 1978, 39, zitiert nach Bauman, Flüchtige Moderne, 114. 191 Siehe Bauman, Flüchtige Moderne, 18. 192 Siehe dazu auch Giddens, Entfesselte Welt, 51–67. 193 Beide Zitate auf Werlen, Körper, 377. 194 Bauman, Flüchtige Moderne, 18. 195 Siehe Bauman, Flüchtige Moderne, 140.
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fällt ineins mit dem Verlust der Präsenz, indem alle Wirklichkeit Bestand für den Menschen wird (siehe Erstes Kapitel, 1.2.2.). Die Implikationen der raumzeitlichen Implosion werden uns noch weiter beschäftigen, wenn wir auf die Veränderungen der Arbeits- und Familienbeziehungen zu sprechen kommen und auf das Verhältnis der Menschen zu ihren Leibern. Vorher aber seien einige Stichworte zu den Veränderungen im ökonomischen Sektor aufgerufen und dabei vor allem Veränderungen im Weltverhältnis, den Produktarten und den Organisationsformen der Unternehmen präsentiert, innerhalb derer gearbeitet wird. Denn die Veränderungen im ökonomischen Sektor bilden die in den gesellschaftlichen Raumordnungen nicht nur in ausgezeichneter Weise ab, sondern rufen sie in vielerlei Hinsicht mit hervor.196
2.2.3. From things to thinking: Verschiebungen in der ökonomischen Sphäre Die Veränderungen in der ökonomischen Sphäre lassen sich mit dem Schlagwort einer Veränderung von einer vormodernen Agrar- über eine moderne Industrie- hin zu einer spätmodernen Dienstleistungs- oder Informationsgesellschaft kennzeichnen und damit auch mit der Abfolge „from land by way of capital to expertise“197. Die vormoderne Ökonomie war eine Agrargesellschaft, die sich entsprechend vor allem auf Land bezog. Das Land wurde bearbeitet, ohne es in demselben Maße zu zerstören, wie es in der Moderne der Fall war. Die Moderne ist durch einen „aggressive realism“198 charakterisiert und besitzt eine entsprechende Haltung gegenüber demjenigen Land, das sie erobert und umgrenzt. Sie zielt darauf, dem Land mithilfe des Einsatzes von Kapital und der dadurch finanzierten Maschinen möglichst viele Rohstoffe zu entreißen und diese dann zu verarbeiten. Die Spätmoderne ist nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass der Einsatz von Informationstechnologien ein 196 Siehe dazu auch Giddens, Entfesselte Welt, 25. Giddens weist auch darauf hin, dass der Zusammenbruch des Ostblocks durch die sich beschleunigende Moderne in ihrem Übergang in ein Informationszeitalter mit hervorgerufen wurde. Denn die neuen Medien dynamisieren Märkte und Gesellschaften auf eine solche Weise, dass diese nicht mehr durch eine Planwirtschaft steuerbar sind; verweigert sich eine Gesellschaft hingegen den neuen Medien, so gerät sie in ökonomischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht gegenüber denjenigen Gesellschaften, die den neuen Medien Raum geben, in Rückstand. 197 Borgmann, Crossing, 61. 198 Borgmann, Crossing, 27, siehe zum Folgenden ebd., 27–34.66–72.
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wichtiges Mittel zum Zweck der Bearbeitung von Materialien oder sogar zur Bearbeitung des Landes selbst ist, so dass jeder zeitgemäße Landwirt die Fütterung seiner Tiere und seinen Saatauswurf von einem Computer berechnen lässt. Vielmehr ist in wichtigen Bereichen die Information selbst das Material geworden, das hergestellt, mit dem etwas hergestellt oder mit dem gehandelt wird. Damit aber wird die ganze Wirklichkeit in neuer Weise gestalt- und verfügbar. Diese Verschiebung lässt sich mit dem Wechsel des jeweils dominierenden Firmennamens in den USA exemplifizieren: Während es im frühen 20. Jahrhundert US Steel war und in der Mitte des 20. Jahrhunderts General Motors, steht für das Ende des 20. und den Beginn des 21. Jahrhunderts der Name IBM199 (oder sollte man sagen: Lehmann Brothers?), oder, auf deutsch: von Krupp über Daimler zu SAP (respektive Hypo Real Estate). Die Bewegung geht „from things to thinking“.200 Diese Verschiebungen stehen zugleich für Veränderungen der Produkte, die hergestellt werden, und für die Veränderungen in den Organisationsformen der Unternehmen, die sie herstellen. So war die Moderne in ihrem Fordianismus darauf ausgerichtet, aus den dem Land entnommenen Rohstoffen entweder möglichst große Produkte herzustellen oder große Stückzahlen eines Produktes.201 Erfolg hatte im Frieden wie im Krieg, wer seine Materialschlachten am effizientesten organisierte. Um das zu ermöglichen, wurden große Unternehmen gebraucht, die im nationalen Rahmen operierten, hierarchisch organisiert waren und eine klare Arbeitsteilung aufwiesen. Um ihren instabilen Anfängen Mitte des 19. Jahrhunderts mit den extrem häufigen Insolvenzen zu entgehen, entwickelten sich Unternehmen immer mehr wie Bürokratien oder wie Armeen, indem sie sich in stabilen Strukturen und präzise definierten Aufgabenteilungen in der Form einer Pyramide organisierten.202 Nach zweihundert Jahren der Produktion von Massengütern ist nicht nur die Umwelt stark geschädigt, sondern auch zumindest die westliche Siehe dazu auch Borgmann, Crossing, 61. Borgmann, Crossing, 71. 201 Siehe dazu auch Borgmann, Crossing, 72. 202 Siehe Sennett, Die Kultur, 22 f.28–31. Entsprechend schreibt Bauman, Flüchtige Moderne, 71: „Die fordistische Fabrik war gekennzeichnet durch eine peinlich genaue Trennung zwischen gestaltenden und ausführenden Tätigkeiten, zwischen Initiative und Befehlsgehorsam, Freiheit und Unterwerfung, Erfindung und Determinismus und durch eng verwobene Gegensätze innerhalb jedes dieser binären Paare und eine reibungslose Übertragung von Anordnungen zwischen dem ersten und dem zweiten Element.“ 199
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Welt mit diesen Produkten in überreichem Maß geflutet. Daher erobern in der Spätmoderne zum einen von den alten Produktarten spezialisierte Varianten in kleinerer Stückzahl die Märkte.203 Zum anderen sind neue Produkte aus dem Dienstleistungssektor erfolgreich, die auch jeweils spezialisiert sind. Diese neuen Produktformen und Produktarten können oftmals von kleineren, flexibleren Unternehmen besser hergestellt werden als von großen, oder von großen, die sich in viele, flexible Einheiten aufteilen.204 Im Folgenden soll verdeutlicht werden, welche Auswirkungen diese Beschleunigungen, Verflüssigungen und Intensivierungen von Herrschaft auf die Arbeits- und Sozialverhältnisse sowie auf das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper hat.
2.2.4. Der flexible Mensch: Nomadisches Leben in der Spätmoderne Die Beschreibung der Veränderung der Produktarten und der Organisationsformen von Unternehmen im Übergang von der Moderne zur Spätmoderne lassen erahnen, dass der Übergang von hart und stabil zu weich und flüssig auch für das Arbeits- und Privatleben breiter Teile der Bevölkerung einschlägig ist. Zumindest für die Bereiche der Moderne, die nicht von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts durcheinander gewirbelt wurden, war eine Vielzahl von harten, aber auch stabilen Ordnungen gegeben. So verlief die erste Differenzierung zwischen Männern und Siehe dazu auch Borgmann, Crossing, 72 f. und Sennett, Mensch, 64. Genauer gesagt vollzieht sich eine zweifache Entwicklung: Kleine Unternehmen folgen großen darin, immer stärker im globalem Rahmen zu operieren. Die ökonomische Macht wird exterritorial und die ganze Welt wird flach, siehe dazu Thomas L. Friedman, Die Welt ist flach. Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2006. Das gilt nicht nur für Daimler oder GM, sondern auch für amerikanische Wirtschaftsanwaltskanzleien, die ihre Abrechnungen über Nacht in Bangalore in Indien machen lassen. Andererseits folgen große Unternehmen kleinen darin, dass sie ihre Hierarchisierung und damit auch die enge Anbindung aller Bereiche auf ein Zentrum hin aufgeben. Stattdessen outsourcen sie viele Arbeiten oder vergeben diese an Subunternehmer mit Zeitarbeitern und schaffen auf diesen und anderen Wegen intern kleinere, spezialisierte, flexible Einheiten. Sie sind oftmals auch dazu angehalten, gegen andere kleine, relativ autonome Einheiten aus derselben Firma in einen Wettbewerb einzutreten mit dem Ziel, kurzfristige hohe Gewinne zu erzielen, siehe dazu Sennett, Die Kultur, 34–38.40–44. Wenn sie darin nicht erfolgreich genug sind, so zieht das exterritorial gewordene Kapital an einen anderen Ort, um dort günstiger oder schneller unter für es vorteilhafteren politischen Rahmenbedingungen zu produzieren, siehe dazu auch Bauman, Flüchtige Moderne, 176–178. 203
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Frauen: Der Großteil der Männer arbeitete in räumlicher Trennung von ihrer Wohnsituation, während drinnen die züchtige Hausfrau waltete. Produktion und Reproduktion waren in räumlicher Hinsicht und in der Hinsicht der Zuordnung von Mann und Frau voneinander getrennt.205 Für den durchschnittlichen Arbeiter und Angestellten der Moderne war es üblich, dass er nach der Maßgabe einer Vollerwerbsbiographie arbeitete und sich dafür oftmals über vierzig Jahre bei demselben Arbeitgeber verdingte. Im Gegenzug übernahm dieser über einen langen Zeitraum in relativ verlässlicher Form die Bereitstellung von Arbeit und Einkommen.206 So arbeitete der Mann durchgehend in einem einzigen, eng definierten Tätigkeitsbereich, für den er durch eine Ausbildung zu Beginn seines Berufslebens hinreichend qualifiziert war.207 In der Spätmoderne haben sich alle diese Aspekte radikal verändert. Neben den Männern gehen mehr und mehr Frauen einer Erwerbsarbeit nach.208 Zudem ist das spätmoderne Leitbild nicht mehr der Sesshafte, der sein Leben lang an einem Ort wohnt und in einer Firma arbeitet, sondern der Nomade, der Wohn- und Urlaubsorte ebenso oft wechselt wie seine Arbeitsplätze: 209 Der Mensch von heute ist „der flexible Mensch“.210 Die Erwerbsarbeit selbst hat eine dem entsprechende Form gefunden. So erwarten Soziologen, dass gut ausgebildete Amerikaner der jungen Generation in ihrem Arbeitsleben im Durchschnitt elf Mal den Job und dafür mehrere Male auch die Stadt oder das Land wechseln werden.211 Daher werden immer öfter nur befristete Verträge vergeben oder es wird in Teilzeit gearbeitet.212 Dadurch zerfließen oftmals die Grenzen von Arbeitszeit und Freizeit. Auch arbeiten sehr viele Menschen sehr viel mehr als noch vor 30 Jahren: Per Handy und per Internet ist jeder überall 205 Siehe Giddens, Entfesselte Welt, 75 und Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheimer, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a. M. 1990, 38–43. 206 Bauman, Flüchtige Moderne, 170 f., sagt dazu: „Arbeit und Kapital sollten zu einer Einheit verschmelzen, die – wie eine vor Gott geschlossene Ehe – kein Mensch mehr aufzulösen imstande ist.“ 207 Siehe auch Sennett, Die Kultur, 28–30. 208 Siehe Beck, Beck-Gernsheimer, Das ganz normale Chaos, 42 f. 209 Siehe dazu Bauman, Flüchtige Moderne, 20 f. 210 Siehe Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. 211 Siehe Bauman, Flüchtige Moderne, 174. 212 Siehe dazu Sennett, Mensch, 72–75. Daher verwundert es nicht, dass der Sektor der Zeitarbeit in allen westlichen Industrienationen derjenige ist, der mit Abstand am schnellsten wächst. In den USA befinden sich im Jahr 2005 bereits über 20 Prozent der Beschäftigten in diesen Arbeitsformen, so Sennett, Die Kultur, 42 f.
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jederzeit für alle erreichbar, so dass die ökonomische Sphäre mit neuer Macht die Lebenswelt zu kolonialisieren versucht. Die angesprochenen Veränderungen führen dazu, dass sich auch die Beziehungen der Menschen zu sich selbst und zu anderen auf grundlegende Weise ändern. Die Arbeit in einem großen Unternehmen in der Moderne prägte diese Beziehungen auf doppelte Weise. Zum einen wurde denjenigen, die nicht an der Spitze der Pyramide standen, eine Vielzahl individueller Gestaltungsmöglichkeit genommen. In der Gestaltung ihrer Zeit wie in der ihrer jeweiligen Tätigkeiten waren sie in recht intensivem Maße fremdbestimmt. Zum anderen ist diese Situation aber nicht nur als Entfremdung zu beschreiben, sondern auch als die des Gewinns von Identität und von verlässlichen sozialen Beziehungen. Das stahlharte Gehäuse der Moderne ist als stahlhartes zwar unflexibel, aber als Gehäuse auch eine Form der Behausung. Indem man über vierzig Jahre bei einem Unternehmen arbeitete, wurde der Rahmen dafür gesetzt, eine eigene, in sich geschlossene Lebensgeschichte zu entwerfen und entsprechend leben zu können.213 Die durch die metrische Zeit mitgegebene Erwartungssicherheit ermöglichte es, sich und die ganze Familie als den zu definieren, der „beim Daimler schafft“ und der deshalb eine eigene Wohnung kaufen und eine Frau und zwei Kinder ernähren konnte. Zudem konnten langfristig erprobte Beziehungen innerhalb des Unternehmens entstehen oder auch an dem Ort, an dem man vierzig Jahre wohnte. Davon profitierten nicht nur die Unternehmen selbst,214 sondern auch die zivilgesellschaftlichen Assoziationen wie Gewerkschaften, Parteien oder Kirchen. Denn die langfristigen Bindungen und recht klar definierten Identitäten erwiesen sich als Voraussetzungen für solidarisches Handeln in diesen großinstitutionellen Formen, welches diese Identitäten dann weiter stärkte.215 Die flexibleren Arbeitsformen der Spätmoderne bringen zum einen große Gewinne an Freiheit mit sich: Sie eröffnen neue Möglichkeiten, das Leben zu gestalten und die eigenen Fähigkeiten in die Arbeitswelt Siehe Sennett, Die Kultur, 33.143 und auch Bauman, Flüchtige Moderne, 166–
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214 Sennett, Die Kultur, 52–59, weist darauf hin, dass die Unternehmen deshalb von dieser Organisationsform profitieren, da die Mitarbeiter oftmals loyal waren, ein hohes Maß an informellem Vertrauen zueinander und zu ihren Vorgesetzten fassten und über das nötige institutionelle Wissen verfügen, das effektives Arbeiten in Großinstitutionen allererst ermöglicht. 215 Siehe dazu auch Bauman, Flüchtige Moderne, 174–197.
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einzubringen. Zum anderen geht das mit einem erheblichen Verlust an Erwartungssicherheit einher und bringt Ungewissheit gegenüber dem, was die Zukunft für den Einzelnen, die Familie und die Gesellschaft als Ganze bringen mag.216 Die Unsicherheit in der Risikogesellschaft 217 verstärkt sich noch dadurch, dass sich die Grenze zwischen Herrschern und Beherrschten nicht auflöst, sondern anhand neuer Kriterien organisiert und dabei in vielen Hinsichten gerade verschärft: „Heute herrschen diejenigen, die schneller handeln und sich schneller bewegen, die der Momenthaftigkeit der Bewegung am nächsten kommen. Beherrscht hingegen werden jene, die sich nicht mit der gleichen Geschwindigkeit bewegen können, und noch deutlicher trifft es jene, die ihren Platz nicht verlassen wollen oder können. Herrschaft besteht in der eigenen Fähigkeit, zu verschwinden, sich zu entziehen [. . .] und das Recht zu haben, über die Geschwindigkeit zu entscheiden, mit der all das passiert.“218 Das exterritorial gewordene Kapital und die Klasse der Manager haben damit gegenüber der Arbeit einen strukturellen Vorteil erworben, da sie ihre Beziehung zur Arbeit kurzfristig einseitig aufkündigen können.219 Zugleich ist jeder in zunehmendem Maße für sich selbst verantwortlich, da der Fortschritt dereguliert und individualisiert wird. So versuchen die Menschen, sich geistig und körperlich zu trainieren und durch den Erwerb je neuer Qualifikationen ihre Fitness auszuweisen.220 Der Mensch wird damit zugleich Herr und Knecht der Beschleunigung, die von ihm verlangt wird und die er selbst mit will. Um die leicht pathetischen Bilder Baumans aufzugreifen: Das Leben wird zum Labyrinth und die Menschen zu Nomaden, die immer neu ihren Weg darin zu finden versuchen.221 Innerhalb dieses Labyrinths verändern sich auch die Beziehungen zu den anderen Menschen in der Arbeitswelt und der Zivilgesellschaft. Zwar ist es kaum mehr möglich, überhaupt irgendwo in der Form des „rugged individualism“222 ohne soft skills und sich je ausweitender Kommunikation zu arbeiten. Jedoch sind die Beziehungen oft solche ohne tiefere Bindung und ohne die Übernahme größerer Verantwortung für Siehe Sennett, Die Kultur, 144 f. und Bauman, Flüchtige Moderne, 190. Siehe neben Beck auch Giddens, Entfesselte Welt, 33–50. 218 Bauman, Flüchtige Moderne, 143. 219 Siehe Bauman, Flüchtige Moderne, 178 f. 220 Siehe Bauman, Flüchtige Moderne, 93–97, und Sennett, Die Kultur, 39. 221 Bauman, Flüchtige Moderne, 163. 222 Borgmann, Crossing, 39.76 f. 216
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andere. Denn der Kollege kann beim nächsten Projekt der Konkurrent sein, und nach dem Wegzug in drei Jahren steht zu erwarten, dass man ihn ganz aus den Augen verliert.223 Aus demselben Grund und auch deshalb, da viele Menschen in vielerlei Hinsicht ihr eigener Chef geworden sind, überzeugen auch die althergebrachten Formen solidarischen Handelns immer weniger, die von den Gewerkschaften, den Parteien und auch von den Kirchen angeboten werden.224 Die angedeuteten Veränderungen in der ökonomischen Sphäre führen somit zu gravierenden Neubestimmungen der Beziehungen des Menschen gegenüber seinem Arbeitgeber und den Großinstitutionen überhaupt, den Arbeitskollegen und nicht zuletzt zu einer Neubestimmung des Selbstverständnisses des jeweiligen Menschen innerhalb der Arbeitswelt. Mit letzterem ist die Identitätsfrage angesprochen, die sich den Menschen aufgrund der beschriebenen Beschleunigungsprozesse samt des damit mitgegebenen Traditionsabbruchs in neuer, dringlicher Frage stellt. Die Identitätsfrage wird erneut bei der Beschreibung der Veränderungen im Privatleben und in der Körperpolitik begegnen. Hier wie dort werden zwei Tendenzen deutlich. Die erste Tendenz besagt, dass Menschen die Arbeit (resp. die Familie oder den eigenen Körper) von der Identitätsfrage entweder ganz fernhalten, so dass die Arbeit nur ein Job ist, den man eben macht, um etwas Geld zu verdienen, und den man wechselt, wenn sich ein lukrativerer Job anbietet. Oder es wird die Arbeit in intensivem Maße zur Stabilisierung der eigenen Identität herangezogen. Dann definiert man sich zwar nicht mehr als derjenige, der ein Leben lang beim Daimler schafft, wohl aber als derjenige, der bei wechselnden Arbeitgebern ein gewinnmaximierender Banker ist. Die Divinisierung endlicher Entitäten zwecks Identitätssicherung als die erste Tendenz weist bereits auf die „hyperactivity“225 als die zweite Tendenz hin. Nicht nur deshalb, weil die Arbeitswelt durch die ihr eigenen Beschleunigungen und ihren imperialistischen Ausgriff auf die Privatsphäre ge Siehe Sennett, Die Kultur, 45, und Bauman, Flüchtige Moderne, 144. Solidarisches Handeln in Großinstitutionen und die damit verbundenen Dimensionen wie Selbstzurücknahme und Verlässlichkeit werden somit durch eine Kultur der Belohnung für kurzfristig erzielte Erfolge geschwächt. Die Formulierung selbst trägt das Paradoxon der Situation in sich: Kulturen sind eigentlich dadurch definiert, dass sie Kurzfristiges in Langfristiges überführen – dass sie Umwege darstellen –, während die Spätmoderne langfristiges Denken und Handeln auf kurzfristiges umstellt, siehe dazu Bauman, Flüchtige Moderne, 150–153.174 f.184–189. Siehe auch Sennett, Die Kultur, 36 f. 225 Siehe zum Folgenden Borgmann, Crossing, 97–102. 223 224
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kennzeichnet ist, sondern auch deshalb, weil die Verflüssigungen in der ökonomischen wie in den anderen Sphären in neuer Dringlichkeit Identitätsfragen aufwerfen, fühlen sich Menschen in spätmodernen Umgebungen zu beständiger Aktivität angehalten. Nur so meinen sie, den Anforderungen einer beschleunigten Arbeitswelt ebenso wie den Anforderungen einer individuell zu entwerfenden Identität genügen zu können. Angesichts des massiven Einflusses ökonomischer Faktoren auf alle Bereiche des Lebens verwundert es nicht, dass sich ähnliche strukturelle Veränderungen wie die beschriebenen Beschleunigungen in der ökonomischen Sphäre im Bereich der Familie wieder finden lassen. Auch hier werden aus Normalbiographien Wahlbiographien.226 In allen westlichen Gesellschaften besteht die deutliche Entwicklung weg von der heterosexuellen Ehe als der einzigen normativ zulässigen Lebensform. Stattdessen leben immer mehr Menschen allein, so dass sich diese Lebensform nicht mehr auf sehr alte Menschen beschränkt.227 Zudem leben immer mehr Menschen ohne Trauschein und bisweilen mit wechselnden Partnern und deren Kinder zusammen. Außerdem steigt die Scheidungsrate weiterhin an. Die Lebensformen pluralisieren sich somit und die Bindungszeiten verkürzen sich.228 Diese Verschiebungen bringen zwei weitere grundlegende Veränderungen mit sich. Die erste besteht in einer neuen Zuordnung von Freiheit und Verantwortung. So ergeben sich zum einen neue Freiheiten und die Möglichkeit, verschiedene Aspekte der eigenen Persönlichkeit zu entdecken und zu verwirklichen. Damit einher geht auch die Chance, gewaltförmigen oder auf andere Weise extrem asymmetrischen Beziehungen zu entkommen.229 Zum anderen zeigen Untersuchungen, dass die Bereitschaft zurückgeht, in stabilen Formen langfristig Verantwortung für Siehe Beck, Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos, 13. Siehe zu diesem Absatz Giddens, Entfesselte Welt, 70–85. 228 Diese Verschiebungen sind nicht zuletzt darin begründet, dass nicht mehr so sehr harte Faktoren wie die Absegnung durch eine Institution oder ökonomische Zwänge den Zusammenhalt von Beziehungen, Ehe und Familie garantieren, sondern die weichere Form der „Demokratie der Gefühle“ (Giddens, Entfesselte Welt, 82), also kommunikativ vermittelte Arten von Intimität. 229 Es ist mir somit nicht darum zu tun, die genannten Veränderungen allein als hedonistisch motivierte Selbstverwirklichungstrips zu denunzieren. Sie stellen vielmehr auch eine Geschichte der Emanzipation dar, die kaum hoch genug zu schätzen ist. Wie Giddens, Entfesselte Moderne, 84 f., zu Recht schreibt: „Wenn ich versucht bin zu glauben, die traditionelle Familie sei alles in allem doch das beste Modell, denke ich an das, was mir meine Großtante einmal gesagt hat. Sie muß eine der längsten Ehen überhaupt geführt haben, denn sie lebte mehr als 60 Jahre mit ihrem Mann 226 227
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andere Menschen zu übernehmen.230 Im Vormarsch sind somit kurzfristigere Formen der Verbindung und Gruppenbildungen, die sich über gemeinsame Interessen organisieren.231 Zugleich kann eine zweite Veränderung namhaft gemacht werden, die in einer eigentümlichen, dialektischen Spannung gegenüber der ersten steht. Mit Beck gesprochen: „Zerfall und Vergötzung von Familie und Ehe fallen zusammen.“232 In Zeiten unsicherer und flexiblerer Arbeitsverhältnisse und allgemeiner Verflüssigungen von Lebensformen werden Ehe und Familie zu neuen Refugien einer Patchworkidentität. Sie mutieren zu demjenigen Ein und Alles, an das man sein Herz hängt und von dem man eine stabile Identität erwartet. Irdische Liebe wird zur „Nachreligion“233 , für deren Gelingen viel zu tun ist und beinahe alles getan wird. Als letzte Dimension der spätmodernen Verflüssigung sei im folgenden Abschnitt die Verschiebung in der Körperpolitik namhaft gemacht. Gleichsam als Aufnahme der Einsicht, dass der Körper als Mikrokosmos Spiegel der Welt als Makrokosmos ist, können auf diese Weise die verschiedenen Entwicklungen wie in einem Brennglas fokussiert zusammengefasst werden.234 Zugleich wird mit dem Körper eine Dimension vor Augen geführt, die für die Gegenbewegungen gegen die Verabsolutierung der spätmodernen Verflüssigung von einiger Bedeutung sein wird und auch in Luthers Verständnis des Abendmahls eine prominente Rolle spielt.
zusammen. Und sie gestand mir einmal, dass sie die ganze Zeit über zutiefst unglücklich war. Damals gab es für sie kein Entkommen.“ 230 Siehe auch Bauman, Flüchtige Moderne, 192. 231 Siehe auch Bauman, Flüchtige Moderne, 207–213, und Sennett, Mensch, 23. 232 Beck, Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos, 227; siehe zum Folgenden das ganze Kapitel ebd., 222–266, das den Titel trägt: „Die irdische Religion der Liebe“. 233 Beck, Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos, 231. 234 Siehe dazu auch Bryan S. Turner, The body in Western society: social theory and its perspectives, in: Sarah Coakley (Hg.), Religion and the body, Cambridge 1997, 15–41, 22: „We can regard this attempt to regulate the body as a version of an aspect of the more general ethic of world mastery; furthermore, I shall treat ethical world mastery as the essential project of modernity, that is, the imposition of instrumental reason over nature and social relation.“
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2.2.5. Abwesende Körper und der Körper als Seele: Platonismus und Hedonismus Um die Verschiebungen in der Körperpolitik namhaft machen zu können, seien drei irreduzible, wenn auch untrennbar miteinander verbundene Perspektiven auf den Körper unterschieden: der Körper als Leib, der Körper als Objekt im Raum, und der Körper als Spiegel und Konstruktion sozialer Diskurse.235 Die erste Perspektive betont, dass Menschen keinen Körper haben, sondern ihr Leib sind. In erster Annäherung differiert der Leib dadurch vom Körper, dass er nur als lebendiger ein Leib ist, nicht auch als toter.236 Zudem ist er jeweils nicht irgendein Leib, sondern mein Leib und somit eine „subjektive Tatsache“237, die von innen her wahrgenommen wird. Des Weiteren ist er ohne räumliche Orientierung identifizierbar – er stellt den Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren dar238 –, und er ist unteilbar. Entgegen aller Geist-Körper-Dualismen von Platon über Descartes bis zu Theoretikern des Cyberspace ist im Anschluss an die Leibphänomenologie zu betonen, was bereits angedeutet wurde: Menschen sind ihre Leiber, der Mensch ist ein „leibliches Selbst“.239 Entsprechend ist dem Leib zuzuschreiben, was in der Konstruktion eines Geist-Körper-Dualismus allein dem Geist zugeschrieben wird: Der Leib bringt seine eigene Form der Erkenntnis mit sich, und jede Erkenntnis ist letztlich leiblich fundiert. Zudem sind alle Handlungen im Leib und seinem Leibwissen gegründet.240 Der Leib ist das Kommunikationsmedium des Menschen mit seiner Welt, in die der Leib je eingebettet und auf die er jeweils hin offen ist. 235 Siehe dazu Elisabeth List, Einleitung, in: Elisabeth List, Erwin Fiala (Hg.), Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne, Wien 1997, 9–16, 14, und Turner, The body, 15 f. 236 Siehe zu diesen Merkmalen Robert Gugutzer, Soziologie des Körpers, Bielefeld 2004, 152–154. 237 Gugutzer, Soziologie, 152, der damit eine Einsicht und eine Formulierung von Schmitz aufnimmt. 238 Siehe dazu unten, Zweites Kapitel, 2.2.2.3. und Zweites Kapitel, 2.2.4. 239 Siehe zum Folgenden auch Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a. M. 2000. 240 So vor allem Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1976; siehe dazu auch Eveline Mörth, Der Leib als Subjekt der Wahrnehmung. Zur Philosophie der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty, in: Elisabeth List, Erwin Fiala (Hg.), Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne, Wien 1997, 75–87.
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In einer zweiten Perspektive ist zu betonen, dass der Mensch nicht nur Leib ist, sondern auch einen Körper hat und damit ein Objekt im Raum darstellt. Anders als der Leib ist der Körper Ding unter Dingen und damit zugleich instrumentell verfügbares Objekt für Disziplinierungen durch den Geist oder die Gesellschaft.241 Zudem eröffnet die Perspektive auf den Körper als Körper allererst die Möglichkeit dazu, den Geist als vom Körper getrennten zu inszenieren. Die dritte Perspektive verweist auf den Körper als eine „symbolische Konstruktion“.242 Der Körper ist auch der Spiegel, das Ergebnis und das Objekt von je historisch wechselnden Identitätsdiskursen. Die nun folgende kurze Skizze der Geschichte des Körpers verdeutlicht, dass einerseits alle drei Perspektiven auf den Körper zu allen Zeiten präsent waren, da sie in untrennbarer Weise zum Körper gehören. Andererseits aber ist eine deutliche Verschiebung in der Gewichtung der jeweiligen Perspektive auf den Körper festzustellen. Während die Vormoderne den Körper vornehmlich unter der ersten Perspektive betrachtete und damit dem Körper als Leib seinen Raum ließ, betont die Moderne die zweite Perspektive auf den Körper als einer zu disziplinierenden Maschine. Die Spätmoderne ist durch eine eigene Dialektik gekennzeichnet.243 Zum einen entwickelt sie die Disziplinierung des Körpers bis hin zu seiner technischen Reproduzierbarkeit fort bzw. lässt den Körper in den Weiten der virtuellen Realität geradezu verschwinden, um dem Geist mithilfe der neuen Medien zu ubiquitärer Herrschaft zu verhelfen. Zum anderen setzt sie den Körper unter der dritten Perspektive in Szene. Denn sie stellt den Körper nicht nur in den Mittelpunkt einer hedonistischen Konsumkultur, sondern stilisiert ihn sogar zum Fokus ihrer Identitätsdiskurse, so dass er die neue Seele wird. Bevor diese Verschiebungen etwas genauer skizziert werden, sei in Aufnahme der Einsicht vom Körper als Mikrokosmos des Makrokosmos der Welt im Rückgriff auf die Überlegungen Heideggers erwähnt, dass die drei Perspektiven auf den Körper mit den drei Verständnissen 241 Um das obige etwas genauer aufzunehmen: Anders als der Leib kann der Körper auch tot sein, ohne aufzuhören, Körper zu sein. Zudem er kann von außen beschrieben werden und ist daher nur mithilfe räumlicher Orientierungen identifizierbar. Außerdem ist er teilbar: Ein Arm kann in zwei Teile zerlegt werden, ohne aufhören, Teil des Körpers zu sein. Siehe zu diesen Charakterisierungen auch Gugutzer, Soziologie, 152–154. 242 List, Einleitung, 14. 243 Siehe dazu auch Turner, The body, 38 f.
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von Wahrheit bei Heidegger parallelisiert werden können. Der Leib entspricht der Wahrheit als Unverborgenheit, der Körper als Objekt der Wahrheit als Richtigkeit und der Körper als Spiegel von Identitätsdiskursen der Wahrheit als Wert. Im Vorgriff auf dasjenige, was in den erstphilosophischen Überlegungen weiter ausgeführt wird, kann dies zugleich mit der Drei-Aspekten-Theorie von Koch in Verbindung gebracht werden, der Heideggers drei Verständnisse von Wahrheit miteinander verbindet (Zweites Kapitel, 2.3.1.1.). Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die Drei-Aspekten-Theorie den kategorialen Kern des ganzen Buches darstellt (siehe dazu auch Viertes Kapitel, 4.). Unabhängig davon, welche leibfeindlichen Diskurse und Dispositive hellenistischen und christlichen Ursprungs in der Vormoderne namhaft gemacht werden können,244 ist der Lebensvollzug der meisten Menschen in der Vormoderne durch eine Lebenswelt geprägt, die den Körper als Leib zur Entfaltung kommen lässt. Die Moderne hingegen marginalisiert die Perspektive auf den Körper als Leib und bringt den Leib gleichsam zum Verstummen.245 Stattdessen kommt der Körper in neuer Einseitigkeit in der zweiten Perspektive als Objekt oder Maschine in den Blick. In philosophischer Hinsicht wird diese Sicht durch die einflussreiche Konzeption von Descartes und vom Cartesianismus propagiert. Descartes konzipiert in einer Variante des Geist-Körper-Dualismus Geist und Körper als zwei voneinander getrennte Substanzen. Er ordnet dem Geist das wahre Selbst des Menschen zu und fasst den Körper als ausgedehntes Ding und damit nach Art einer Maschine.246 Diese philosophischen Überlegungen stützen und wurden gestützt von den Entwicklungen im Staat und in der Ökonomie, die für den Aufbau der sich entwickelnden Nationalstaaten ebenso wie für die Arbeit in der Industrie die funktionierenden Körper der Untertanen brauchen. Wie Foucault erkannte, zielen die sich entwickelnden Institutionen von der Schule über das Rechtssystem, die Gesundheitsfürsorge, das Gefängnis und die Fabriken auf die panoptische Überwachung der Bevölkerung mit dem Ziel, deren Körper zu disziplinieren, damit diese dann produktiv arbei Siehe dazu Turner, The body, 20 f. Ola Sigurdson, How to Speak of the Body? Embodiment between phenomenology and theology, in: Studia Theologica 62 (2008), 25–43, 28. 246 Siehe dazu Helmut Bast, Der Körper als Maschine. Das Verhältnis von Descartes’ Methode zu seinem Begriff des Körpers, in: Elisabeth List, Erwin Fiala (Hg.), Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne, Wien 1997, 31–47, sowie Sigurdson, How to speak, 26–28. 244 245
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ten.247 Anders als die vormoderne Macht erweist sich die moderne Macht der Überwachung somit nicht als zerstörerisch, sondern als produktiv: Sie ermöglicht allererst, dass die fordistische Fabrik dasjenige gelehrige Menschenmaterial zur Verfügung hat, das es für seine Materialschlachten braucht. Zum anderen arbeiten die Institutionen auf den Ausschluss von denjenigen hin, die sich nicht disziplinieren lassen. Sie bewirken somit den Ausschluss der Wahnsinnigen, der geistig Behinderten und auch der Frauen aus dem öffentlichen Leben. Die Spätmoderne gleicht der Moderne darin, dass sie weiterhin den Leib verstummen lässt. Zugleich ist sie durch eine eigene Dialektik gekennzeichnet, die einerseits die Macht der Moderne zur Disziplinierung weiterentwickelt und andererseits den Körper in seiner dritten Perspektive mit neuer Verve auf die Bühne treten lässt. Die Disziplinierung des Körpers vollzieht sich nicht nur durch dasjenige Streben nach Fitness, das nötig ist, um den beschleunigten Anforderungen einer spätmodernen Arbeitswelt zu genügen.248 Vielmehr vollzieht es sich in neuen Formen, die durch neue Entwicklungen in den Naturwissenschaften und den Biotechnologien ermöglicht werden. Anders als in der Moderne sind diese nicht mehr allein darauf ausgerichtet, die Natur darzustellen, sondern zielen darauf, die Natur herzustellen.249 Die Natur wird ein Produkt kultureller Tätigkeiten. Das gilt zunehmend auch für den optimierten Körper, der bereits im embryonalen Status auf seine Fitness hin überprüft und gegebenenfalls aussortiert wird, im Erwachsenenalter durch Botox seine Form behält und noch im hohen Alter künstliche Hüften und Herzschrittmacher eingesetzt bekommt, um weiter in Bewegung sein zu können. Es vollzieht sich die umfassende „Cyborgisierung des Normalbürgers.“250 Oder, in der Sprache Heideggers: Mit der gesamten Wirklichkeit wird auch der eigene Körper zum Bestand, der vom eigenen Willen zur Macht vor- und hergestellt wird. Auch als 247 Siehe Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977, und dazu Gugutzer, Soziologie, 59–66 und Turner, The body, 28 f. 248 Siehe dazu noch mal Bauman, Flüchtige Moderne, 93–97. 249 Siehe dazu kurz Elisabeth List, Vom Enigma des Leibes zum Simulakrum der Maschine. Das Verschwinden des Lebendigen aus der telemachischen Kultur, in: Elisabeth List, Erwin Fiala (Hg.), Leib Maschine Bild. Körperdiskurse der Moderne und Postmoderne, Wien 1997, 121–137, sowie umfassend Elisabeth List, Vom Darstellen zum Herstellen. Eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, Weilerswist 2007. 250 List, Vom Herstellen, 223.
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Körper ist der Mensch Herr und Knecht seiner eigenen Tätigkeit. Er wird in zunehmendem Maße selbst Teil seines eigenen Projekts der Beherrschung und Optimierung der Wirklichkeit. Der Ausgriff des Menschen auf umfassende Herrschaft vollzieht sich noch in einer zweiten Form, die nicht von den Biotechnologien, sondern von den „Technologien des Geistes“251 und damit von den neuen Medien vorangetrieben werden. Da der Körper ein bloßes Hindernis für die Beschleunigungen der neuen Medien darstellt und auch durch noch so tiefgreifende Cyborgisierungen den durch das Handy erreichten k.o.-Schlag gegen die Raumgebundenheit ebenso wenig mitgehen kann wie den k.-o.-Schlag des Internets gegen die Zeitgebundenheit, wird er gleichsam ruhig- oder abgestellt.252 In der Arbeitswelt der „sitzenden Gesellschaft“253 ebenso wie in vielen Freizeitaktivitäten verharrt er regungslos vor dem Bildschirm. Die Natur wird durch die kulturelle Aktivität des Menschen stillgestellt. Gerade dadurch eröffnet sich ein neues Reich des Geistes, das dem Menschen – genauer: seinem wahren Selbst, dem entleiblichten, körperlosen, männlichen Geist – die vorher ungeahnten Freiheiten der Ubiquität ermöglicht. Die ganze Welt ebenso wie neue, selbstgeschaffene Wirklichkeiten stehen dem herrschenden Geist beständig zur Verfügung.254 Der Geist etabliert sich eine widerstandslose, brillante, vollständig verfügbare „hyperreality“, 255 in der er sich mittels des Fernsehens, von Computern, Videospielen, dem Cyberspace etc. bewegt. Damit wird hier diejenige Dialektik von Inhalt und Form in ausgezeichneter Weise sichtbar, die bereits die gesamte Verflüssigung der Spätmoderne antrieb und kennzeichnete: Der Inhalt des technischen Verständnisses von Wirklichkeit, welches darauf abzielt, alle Wirklichkeit als Bestand für den herrschenden Geist zu konzeptionalisieren, gewinnt an Durchschlagskraft aufgrund der dualistisch geprägten Form, in der dies erreicht wird. Das dualistisch informierte Gestell ist die formvollendete Voraussetzung für des Geistes Willen zur Macht.
List, Vom Enigma des Leibes, 123. Siehe auch List, Vom Enigma, 130 f., die dabei Überlegungen von Paul Virilio aufnimmt. 253 Guguther, Soziologie, 34. 254 Siehe dazu auch Detlef Staude, Leib und Raum, in: Detlef Staude, Emil Angehrn, Bernhard Baertschi (Hg.), Der Körper in der Philosophie, Bern 2003, 245– 254, 253. 255 Siehe dazu Borgmann, Crossing, 78–97. 251
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Manche meinen, dass in den neuen Medien der cartesianische Dualismus zu seinen platonischen Wurzeln zurückgefunden hat, so dass auch das „Internet nur eine Fußnote zu Platon“256 ist. Demgegenüber weisen andere darauf hin, dass den ebenso leib- wie körperlosen Geistern eine Vielzahl von Möglichkeiten an Beziehungen zu den anderen leib- und körperlosen Geistern in den Weiten der virtuellen Wirklichkeit zugespielt wird. Jedoch sind diese Beziehungen durch ähnliche Strukturen gekennzeichnet wie die sonstigen Beziehungen in der Arbeits- oder Privatwelt, mit denen sie sich kreuzen, die sie ersetzen oder die sie selbst repräsentieren: Sie sind zwar vielfältig und auf vielfältige Form gestaltbar, aber flüchtig und oftmals nicht durch die Übernahme langfristiger Verantwortung gekennzeichnet. Die Begegnung in einem Blog oder via Facebook zwingt den Menschen nicht, aufgrund der „commanding presence“ der leiblichen Gegenwart eines anderen Menschen Verantwortung für diesen zu übernehmen.257 Doch die verschiedenen Formen der Ausgestaltung der zweiten Perspektive auf den Körper in der Form seiner Disziplinierung, Cyborgisierung oder Stillstellung stellen nur die eine Seite der spätmodernen Dialektik des Umgangs mit dem Körper dar. Die andere Seite besteht in einer neuen Körperkultur, die die dritte Perspektive auf den Körper ins Spiel bringt und selbst wiederum zwei Seiten aufweist. Auf der einen Seite betritt der Körper die Bühne der privaten und öffentlichen Aufmerksamkeit in der Rolle des Hauptakteurs in einem hedonistischen Spiel.258 In diesem Hedonismus spiegeln sich zentrale Entwicklungen spätmoderner Kultur. Es ist kein Zufall, dass sich die Entwicklungen der Spätmoderne gerade anhand des Mediums des Körpers ausleben können. Denn die Pluralisierung und Verflüssigung kann in ausgezeichnetem Maße in wechselnden Moden von Kleidern, Frisuren und Tattoos aufgenommen werden. Auch das wiederum vollzieht sich in Formen, die die Grenze von Natur und Kultur verschwimmen lassen, wie etwa die Schönheitsoperationen versinnbildlichen. Diese können zugleich den Übergang zu der anderen Seite des Hedonismus plausibel machen. Denn an ihnen wird deutlich, dass aus dem Spiel des Hedonismus leicht der Ernst der Identitätsfrage wird. Aus der Körperkultur wird ein Kult um den Körper. Der Körper wird die neue 256 Detlef Staude, Leib, 254; siehe zum Platonismus-Vorwurf auch List, Vom Enigma, 125–128. 257 Siehe dazu Borgmann, Crossing, 105. 258 Siehe dazu auch Gugutzer, Soziologie, 37, und Turner, The body, 34–38.
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Seele, und das gute Leben ist durch Gesundheit definiert.259 Identitätsfragen werden in zunehmendem Maße nicht nur anhand der Arbeit oder der Familie, sondern auch anhand des Körpers verhandelt. Dafür sind zwei Gründe namhaft zu machen. Zum einen ist der Mensch in Bezug auf seinen Körper in stärkerem Maße Schöpfer als jemals zuvor. Damit stellen sich eine Reihe von Fragen neu, die in früheren Zeiten nicht virulent waren.260 Zum anderen ist der Glaube an eine unsterbliche Seele oder an ein Leben nach dem Tod zumindest im Vergleich zur Vormoderne zurückgegangen. Entsprechend repräsentiert der Körper diejenige Entität, die verblieben ist, wenn Identitätsfragen verhandelt werden sollen.261 Und wiederum sind die Identitätsfragen solche, die vom Menschen selbst aktiv ausgehandelt werden müssen und die in verschiedenen Situationen jeweils neue Antworten erfordern.
2.2.6. Übergänge: Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Religion Der Übergang von fest zu flüssig und damit auch der von ontologisch fundierten oder funktional eingerichteten Formen der Widerständigkeit zu neuen Durchgriffsmöglichkeiten ökonomischer oder politischer Macht, der die Entwicklung von der Moderne in die Spätmoderne kennzeichnet, könnte nun in weitere Subsysteme der Gesellschaft hinein verfolgt werden. Die angedeuteten Verflüssigungen ließen sich etwa im Bildungsbereich namhaft machen.262 Oder sie könnten dadurch weiter expliziert werden, dass am Ende der Überlegungen zu ihrem Anfang zurückgekehrt wird und ausführlichere Überlegungen zum Internet als dem Leitmedium der Spätmoderne angestellt werden. Solche Überlegungen würden an dieser Stelle jedoch zu weit führen. Bevor in einem Siehe dazu Turner, The body, 37, unter Rückgriff auf Überlegungen von Jean Baudrillard. 260 Siehe dazu auch Gugutzer, Soziologie, 39. 261 Wie Sarah Coakley, Introduction, in: Sarah Coakley (Hg.), Religion and the body, Cambridge 1997, 1–12, 3 f. schreibt: „Devoid now of religious meaning or of the capacity for any fluidity into the divine, shorn of any expectation of new life beyond the grave, life has shrunk to the limit of individual fleshliness; hence our only hope seems to reside in keeping it alive, youthful, consuming, sexually active, and jogging on (literally), for as long as possible.“ Siehe dazu auch Bauman, Flüchtige Moderne, 215. 262 Siehe dazu nur Mark Edmundson, Dwelling in Possibilities, in: The Chronicle of Higher Education, 21. März 2008. 259
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abschließenden Abschnitt angedeutet wird, wie das Abendmahl in der Lesart Luthers in diesem Diskurs über die Beschleunigung seinen Ort findet, sei nur noch ein letzter Hinweis erlaubt: Heideggers Überlegungen zum technischen Zeitalter und die angedeuteten Prozesse der Beschleunigung in der Spätmoderne stehen quer zu dem Dual von Säkularisierung versus Wiederkehr der Religionen. Die Überlegungen zum technischen Zeitalter erweisen sich damit nicht nur dann als zutreffend, wenn die Säkularisierungsthese Recht hat und die Religionen oder die Religiosität in der westlichen Hemisphäre tatsächlich abnimmt. Weder beruht die Verflüssigung allein auf Säkularisierungstendenzen, noch bringt sie diese notwendigerweise hervor. Ebenso wird die Verflüssigung weder automatisch durch die Religionen befördert noch gleichsam wie von selbst durch die mögliche oder tatsächliche Wiederkehr der Religionen oder der Religiosität gebremst. Vielmehr ist in Bezug auf die Religionen zweierlei festzuhalten. Zum einen ist das technische Zeitalter eine derart machtvolle Seinsweise oder Weise der Seinsentbergung, dass es nicht nur gesellschaftliche Raumund Zeitordnungen, die Ökonomie, die Beziehungen am Arbeitsplatz und im Privaten sowie das Verhältnis zum Körper umbaut, sondern auch diejenigen Formen, in denen sich Religion vollzieht. In der Spätmoderne mutieren gelebte Religionen oftmals zur drive-in-religion, und Gott ist derjenige, der unter Einsatz von vielen neuen Medien kurzfristig den Erlebnishunger – oder das Ruhebedürfnis – von beschleunigten Bewohnern des technischen Zeitalters zu stillen hat.263 Die Anfänge dieser Entwicklung wurde bereits von Heidegger erkannt und kritisch kommentiert. So schreibt er: „Nicht daß Gott für unerkennbar gehalten, nicht daß Gottes Existenz als unbeweisbar erweisen wird, ist der härteste Schlag gegen Gott, sondern daß der für wirklich gehaltene Gott zum obersten Wert erhoben wird.“264 Zum anderen jedoch halten die Religionen und das Christentum im Besonderen auch dann, wenn sie nicht außerhalb der technischen Spätmoderne stehen, Potentiale bereit, um negative Aspekte der Beschleunigung zu benennen und zu bearbeiten.
263 Siehe dazu Vincent J. Miller, Consuming Religion. Christian Faith and Practice in a Consumer Culture, London 2008. Vielleicht noch deutlicher als in Europa ließe sich die oben erwähnte Tendenz anhand der USA aufzeigen, die in ausgezeichnetem Maße eine Gesellschaft im technischen Zeitalter voller Beschleunigungen darstellt und zugleich in stärkerem Maße religiös ist, als dies in Europa der Fall ist. 264 Heidegger, Nietzsches Wort, 239 f.
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Sie stellen Quellen dar, um in allen Beschleunigungen gegen die Verabsolutierung der Beschleunigung zu gehen.
2.3. Verdichtungen und die focal practice des Abendmahls 2.3.1. Gegenbewegungen gegen die Totalisierungen der liquid modernity Die kurze Skizze einiger Verschiebungen von der Vormoderne hin zur Moderne und dann vor allem von der festen Moderne hin zur flüssigen Spätmoderne sollte keinesfalls als einlinige Verfallsgeschichte gelesen werden. Der Gewinn an demokratischen Grundrechten, an materialem Wohlstand, an Gesundheit und an Sicherheit, der für breite Bevölkerungsschichten der westlichen Hemisphäre in der Moderne gegenüber der Vormoderne erzielt wurde, wird von mir keineswegs gering geschätzt. Noch weniger liegt es in meinem Interesse, den Gewinn der Spätmoderne gegenüber der Moderne zu denunzieren. Der Gewinn an Mobilität ist ebenso als ein hohes Gut anzusehen wie das Eröffnen neuer Spielräume, eigene Ideen und Dimensionen der eigenen Persönlichkeit in vielfältigen Beziehungen am Arbeitsplatz oder im Privatleben zu verwirklichen. Auch sind die neuen Möglichkeiten, gewaltförmigen oder auf andere Form extrem asymmetrischen Beziehungen zu entkommen, kaum hoch genug einzuschätzen.265 Dennoch gibt es eine Vielzahl von Problemen, die sich aus den Tendenzen zur Verabsolutierung der Verflüssigung der Spätmoderne ergeben. Einige dieser Probleme sollen im Folgenden namhaft gemacht werden, und es sollen Stimmen, Bewegungen und Ideen benannt werden, die Gegenbewegungen gegen die Verabsolutierung der Verflüssigung in der Spätmoderne darstellen. Diese Gegenbewegungen stellen dann Inspirationsquellen für das vorliegende Buch dar, wenn sie die positiven Aspekte der spätmodernen Verflüssigung nicht übergehen. Um es in der Terminologie der Auseinandersetzung um Heidegger zu formulieren (siehe dazu oben, Erstes Kapitel, 1.5.): Wenn im Folgenden an kritische Gegenbewegungen gegenüber der spätmodernen Verflüssigung erinnert werden soll, so geschieht das Allein deshalb bin ich keineswegs in einliniger Weise kritisch gegenüber der beschleunigten Spätmoderne eingestellt, da ich ohne eine Reihe von Vorträgen in Großbritannien, Belgien und den USA und durch die vielen dadurch empfangenen neuen Einsichten und Bestärkungen dieses Buch nicht in dieser Form hätte realisieren können. 265
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nicht mit dem Ziel einer revolutionären Verabschiedung der Spätmoderne durch eine religiös grundierte Gegenwelt, sondern mit dem Ziel ihrer reflexiven Aneignung. Nicht nur die industrielle und instrumentelle Moderne, sondern auch die Spätmoderne mit ihren Verflüssigungen wird seit ihrem Beginn von Stimmen begleitet, die die Verabsolutierung der Verflüssigung kritisieren und die eine Vielzahl von Handlungen hervorbringen, die diese Verabsolutierung zu brechen suchen. Einige dieser Stimmen und Handlungen seien anhand der im Abschnitt Ersts Kapitel, 2.2. entwickelten Dimensionen kurz konkretisiert. Dazu werden in Bezug auf die jeweilige Sphäre Stichworte aufgerufen, die gerade im bundesrepublikanischen Kontext der letzten Jahre prominent waren. Zudem wird an Bewegungen oder Methoden erinnert, die diese Kritiken innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften aufnehmen, spiegeln und verstärken und die dadurch wichtige Impulse für das vorliegende Buch darstellen. Dem Verständnis der Wirklichkeit als Bestand stehen Bemühungen entgegen, den Primat leiblich vermittelter Relationen zu den Dingen und zu anderen Menschen zu stärken. Sie nehmen ihren Ausgang vom Sich-Zeigen der Dinge und der anderen Menschen und wecken damit Aufmerksamkeit für die Fülle des Elementaren. In den Kultur- und Geisteswissenschaften entsprecht dem eine Renaissance von Ansätzen wie etwa der der Phänomenologie, die sich gegen die Dominanz der Hermeneutik richten,266 und eine Hochkonjunktur für Themen wie das der Gabe, das von Phänomenologen an prominenter Stelle verhandelt wird (siehe dazu auch Drittes Kapitel, 1.4.). Die Implosion der Raumzeit bringt eine eigene Form der Flüchtigkeit sowie der Ort- und der Zeitlosigkeit mit sich, die neue Durchgriffsmöglichkeiten gerade für die ökonomische Macht auf Menschen und Dinge in Raum und Zeit eröffnen. Dem stehen Bemühungen entgegen, Raum und Zeit als leibhaft erlebbare Dimensionen zurückzuerobern. Im Bereich des Politischen stellt sich das in der Renaissance der Region und glokaler Aktionen ebenso dar wie in dem Bemühen, bestimmte Zeitordnungen wie etwa den Sonntag gegenüber Zugriffsversuchen der Ökonomie zu schützen. Im Privaten lässt sich dieses Bemühen im Trend zum Urlaub oder Kurzurlaub in der Region oder im Heimatland ebenso wiederfinden wie in der Tendenz, klei Siehe zur Zusammenstellung verschiedener Denker und Denkansätze, die die Dominanz der Kategorie des Sinns zu entkommen suchen, Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, 70–97. 266
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nere oder größere Auszeiten von der vollständigen Verfügbarkeit zu organisieren. Dem entspricht in den Kultur- und Geisteswissenschaften der spatial turn, der die Kategorie des Raumes im Moment des radikalen Umbaus der gesellschaftlichen Raumverhältnisse bedenkt.267 Gegenüber den Imperialismen der ökonomischen Sphäre, gegenüber der Vernutzung der Umwelt und gegenüber der Hyperaktivität innerhalb der Arbeitswelt mit seinen entsolidarisierenden Tendenzen ist auf die Versuche der Politik zu verweisen, den Primat des Politischen gegenüber den Sachzwängen der ökonomischen Sphäre zurückzuerobern, um eine Politik der Nachhaltigkeit zu etablieren. Viele Konsumenten versuchen, diese Tendenz durch den Kauf nachhaltig produzierter Güter zu verstärken. Zudem gibt es zwar eine Erosion der Mitglieder von Großinsitutionen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, aber einen steten Anstieg von ehrenamtlichem Engagement. Ebenso wächst das Bewusstsein, dass flexible und formbare Beziehungen nur auf der Grundlage von einigen verlässlichen und solidarischen Beziehungen ein Gewinn und nicht eine neue Form von Einsamkeit sind. Dem entspricht in den Kultur- und Geisteswissenschaften, dass die Versuche der kategorialen Durchklärung einer relationalen Ontologie Hochkonjunktur haben. Gegenüber der Disziplinierung, Stillstellung oder Hedonisierung des Körpers gibt es eine breite Bewegung, sich des Körpers als Leib bewusst zu werden und in Beruf und Privatleben einen Umgang mit sich zu pflegen, der der eigenen Leiblichkeit eingedenk ist. Entsprechend findet sich innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften der body- oder somatic-turn, der dem Körper und der Leiblichkeit eine Schlüsselrolle für die Kritik an den negativen Folgen der verflüssigten Spätmoderne zuschreibt.268 Und die aufgrund der Verflüssigungen mit neuer Intensität aufbrechenden Identitätsfragen führen nicht nur zur Divinisierung endlicher Entitäten wie der Arbeit, der Familie und des eigenen Körper und damit letztlich zur Divinisierung der eigenen Aktivität. Vielmehr ist auch eine neue Offenheit gegenüber verschiedenen, häufig institutionell nicht gebundenen Formen religiöser Praxis zu beobachten und eine neue Sensibilität gegenüber der religiösen Grundeinsicht, dass gelingendes Leben und die eigene Identität geschenkt wird, ehe sie eigene Aktivität freisetzt. So wird ein religious turn konstatiert, der sich auch darin spie Siehe dazu auch Markus Schroer, Räume, Orte Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt 2006. 268 Siehe dazu auch List, Vom Enigma, 122. 267
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gelt, dass sich die Theologien und Religionswissenschaften im Haus der Wissenschaften bisweilen neuer Wertschätzung erfreuen.
2.3.2. Das Abendmahl als focal practice Genaueres Hinsehen auf mikrosoziologischer Ebene erhellt, dass sich die Verflüssigung der Spätmoderne ebenso wie jede dieser Gegenbewegungen gegen die Totalisierungstendenzen der verflüssigten Spätmoderne aus einer Vielzahl von Motivationen speist. Zudem realisieren sich die Verflüssigung der Spätmoderne und jede dieser Gegenbewegungen in einer Vielzahl von differenzierten und komplexen Handlungen ganz unterschiedlicher Akteure oder Gruppen von Akteuren. Bei aller Anerkennung dieser faktischen Pluralität folgt das vorliegende Buch Einsichten Heideggers. Es verteidigt somit in Aufnahme von Einsichten auf makrosoziologischer Ebene die gleichsam essentialistische Annahme, dass es nicht sinnlos ist, die Spätmoderne und ihre Gegenbewegungen in struktureller wie in materialer Hinsicht auf bestimmte Grundtendenzen hin zu durchleuchten und diese als prägend namhaft zu machen (siehe dazu Erstes Kapitel, 1.1.). In struktureller Hinsicht besteht die Annahme darin, dass menschliche Handlungen (dritte Ebene) von einem umfassenden Wirklichkeitsverständnis geprägt sind (zweite Ebene), das selbst nicht vollumfänglich individuell reproduzierbar ist (erste Ebene). In materialer Hinsicht besteht die Annahme darin, dass die spätmodernen Verflüssigungen die gesamtgesellschaftlichen Realisierungen eines Verständnisses von Sein und Wahrheit sind, die die Wahrheit als Wert fasst. Damit wird die Wirklichkeit zum einen als Bestand verstanden, der entsprechend vom Menschen gleichsam beliebig vor- und hergestellt werden kann. Zum anderen wird die Wirklichkeit in sich als ein Mangelphänomen angesehen, der gegenüber der Mensch in hyperactivity verfallen muss, um sie zu gestalten. Mit Heidegger meine ich, dass Gegenbewegungen dann besonders überzeugend sind, wenn sie von dem Verständnis der Wahrheit als Unverborgenheit getragen sind und damit ein Bewusstsein davon besitzen, dass die Dinge und die Menschen sich zuerst in der Fülle ihrer Eigenbewandtnis zeigen, ehe sie Objekt menschlicher Verfügung werden. Die Unverborgenheit begründet und begrenzt somit menschliche Aktivität auf heilsame Weise. Die materiale Grundannahme soll dadurch weiter an Plausibilität gewinnen, dass sie als der Hintergrund von zwei resp. drei Themenkreisen angesetzt wird, welche in gegenwärtigen Diskursen des Öfteren gleich-
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sam als Zusammenfassungen oder als Schwerpunkte der in sich komplexen und differenzierten Gegenbewegungen namhaft gemacht werden. Zum einen insistieren einige der von Heidegger beeinflussten Denker in der Spätmoderne wie Gumbrecht oder Borgmann gegenüber den Beschleunigungen und Zerstreuungen auf etwas, was mit Schlagworten wie Verdichtung, Fokussierung, Entschleunigung und intensivierter Präsenz sowie neuer Solidarität beschrieben wird. Zum anderen wird gegenüber der Betonung der Möglichkeit und der Notwendigkeit menschlicher Aktivität im Beruf, im Privaten und in Bezug auf die eigene Identität auf etwas insistiert, was in gegenwärtigen Diskursen mit Schlagworten wie dem Sich-Zeigen und der Gabe, der Passivität oder der Gelassenheit bezeichnet wird. Beide Aspekte werden zusammengeführt durch das Achtgeben auf den Leib und die Materialität als die Formen, in der sich die Beziehung zur Welt, zu anderen Menschen und zum Selbst vollzieht, da das Achtgeben auf Leiblichkeit fokussiert und zugleich daran erinnert, dass Aktivitäten aus Passivitäten entspringen. Das Achtgeben auf diese Formen entspricht somit dem Inhalt, auf den abgezielt wird. Borgmann führt die genannten Aspekte der Fokussierung und der Gabe in leiblicher Form samt der dahinter stehenden Grundeinsicht von der Wahrheit als Unverborgenheit in dem zusammen, was er eine „focal practice“269 nennt. Die focal practice entspricht in vielerlei Hinsichten dem, was bei Heidegger das Kunstwerk oder seine eigene Philosophie leisten. Denn in einer focal practice kommen Menschen in Kontakt mit der „commanding presence of reality“, 270 die – so ist über Borgmann hinausgehend hinzuzufügen – gerade deshalb commanding sein kann, da sich die Dinge geben und zeigen. Diese commanding presence of reality droht, von den Hyperrealitäten der spätmodernen Beschleunigungen verdeckt und von der Hyperaktivität der spätmodernen Nomaden überrannt zu werden. Eine focal practice bezieht sich auf ein „focal thing“, in dem sich die commanding presence of reality in ausgezeichneter Weise zeigt mit der Folge, dass diese Dinge „of themselves have engaged mind and body and centered our lives.“271 Diese focal things ähneln dem, was Jean-Luc Marion ein saturiertes Phänomen nennt (siehe dazu unten, Drittes Kapitel, 1.3.2.). Als Beispiel eines focal thing kann die Wildnis Borgmann, Crossing, 121. Borgmann, Crossing, 118. 271 Borgmann, Crossing, 119. 269
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gelten, die in der focal practice des Langlaufens oder des Wanderns ihre commanding presence auf den Menschen ausübt, aber auch ein gerade gezähmtes Pferd, das geritten wird. Um keinen Individualismen und keinen Romantizismen Vorschub zu leisten, sei mit Borgmann und Gumbrecht daran erinnert, dass die Macht der Präsenz nicht nur in natürlichen Phänomenen gleichsam am Rande der Zivilisation sichtbar werden kann, sondern auch in kulturellen Phänomenen. Sie kann bei einem klassischen Konzert erscheinen oder bei „communal celebrations“272 beim Sport, wenn sich die Schönheit des Mannschaftssports273 als berührendes Ereignis und wie ein unerwartetes Geschenk zeigt. Nicht zuletzt kann eine geordnete Essenskultur als focal practice gelten.274 Das sorgfältig präparierte Essen als das focal thing verdeckt seine Ingredienzen nicht, sondern lässt diese sich zeigen und bringt die Menschen damit auf den Geschmack für die Fülle des Elementaren. Der leibliche Aspekt des Essens erinnert daran, dass Menschen endliche Wesen sind. Sie hängen davon ab, dass ihnen ihre Lebens-Mittel gegeben werden, ehe sie selbst aktiv werden können. Der Akt des Essens vollzieht sich zudem in festlicher Gemeinschaft, die in diesem Essen je neu mitkonstituiert wird. „For Christians, however, it is but a short step [. . .] from the culture of the table to the Breaking of the Bread.“275 Auch das Abendmahl kann als focal practice verstanden werden.276 In formaler Hinsicht gleicht das Abendmahl gerade in Luthers Lesart den anderen focal practices darin, dass die metaphysische und die pragmatische Dimension wechselseitig miteinander vermittelt sind. Entsprechend der gleich näher zu skizzierenden Vermittlung der metaphysischen und der pragmatischen Dimension betont auch die vorliegende Auslegung zwar Luthers Metaphysik des Abendmahls, weist aber ebenso darauf hin, dass dem stets eine Handlungsdimension entspricht (siehe unten, Drittes Kapitel, 2.2.5.2.). Die Vermittlung beider Dimensionen liegt zum einen darin begründet, dass die Handlungen von einem bestimmten Erleben von Wirklichkeit und von einem daraus resultierenden Wirklichkeitsverständnis getragen werden. Focal practices bilden sich um Wirklichkeit herum, die sich an Borgmann, Crossing, 126. Siehe dazu Hans Ulrich Gumbrecht, Lob des Sports, Frankfurt a. M. 2005. 274 Siehe dazu auch Albert Borgmann, Technology and the Character of Contemporary Life. A Philosophical Inquiry, Chicago 1984, 204 f. 275 Borgmann, Power Failure, 125. 276 Siehe dazu auch Brent Waters, From Human to Posthuman. Christian Theology and Technology in a Postmodern World, Aldershot 2006, 146–150. 272
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2. Heidegger 2.0: Liquid Modernity
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einem Ding in ausgezeichneter Weise zeigt und ein entsprechendes Verständnis ihrer commanding presence sowie ein entsprechendes Handeln mit sich bringt. Zum anderen lassen die focal practices ein bestimmtes Verständnis der Wirklichkeit sichtbar werden. In Luthers Abendmahlstheologie gilt das in umfassendem Sinne: Laut Luther wird im Abendmahl nicht nur die Wahrheit als Unverborgenheit sichtbar, sondern es tritt ein differenziertes Verständnis von Gott, Welt und Mensch als den Aspekten eines umfassenden Gabegeschehens zutage. Damit übernimmt das Abendmahl in diesem Buch diejenige Rolle, die Heidegger dem Kunstwerk und seiner eigenen Philosophie zuschreibt. In materialer Hinsicht ist das Abendmahl in Luthers Lesart in ähnlicher Weise wie die anderen focal practices deshalb von großer Relevanz für die beschleunigte Spätmoderne, da es ein umfassendes, aber reflexives Gegenbild des Verständnisses der Wirklichkeit zu dem der flüssigen Spätmoderne bietet. Denn beim Abendmahl kommen Menschen zu einer festgelegten Zeit – am Sonntag – an einem festen Ort in einer festlichen Gemeinschaft in leiblicher Gegenwart auf den Geschmack der commanding presence of reality als grundlegender Dimension der Wirklichkeit. Vier Aspekte von Luthers Lesart des Abendmahls, die über die eben genannten, an Borgmann angelehnten Charakteristika hinausgehen, seien hier bereits erwähnt. Alle Aspekte und besonders die ersten drei qualifizieren das Abendmahl in Luthers Lesart in besonderem Maße dafür, ein Gegenbild zum Wirklichkeitsverständnis der Spätmoderne zu liefern. Stärker als Borgmann betont Luther erstens, dass der Wirklichkeit deshalb ihre commanding presence zukommt und sie damit nicht bloßer Bestand oder bloße hyperreality zur Vernutzung für die hyperactivity des Menschen ist, da sie in sich selbst ein übervolles Gabegeschehen ist. Als übervolles Gabegeschehen ermöglicht und begrenzt sie menschliche Aktivität. Zudem sieht Luther, zweitens, dass das übervolle Gabegeschehen mit einer bestimmten Form verbunden ist. Diese Form ist die materieller und leiblicher Vermittlung. Sie stellt gleichsam einen Widerhaken gegen die umfassende Verflüssigung in der Spätmoderne und ihren teils platonisierenden Hintergrund dar. Beide Aspekte zusammengenommen machen deutlich, dass laut Luther im Abendmahl die Schöpfung als leibliche Gabe sichtbar wird. Beide Aspekte und damit Form und Inhalt entsprechen einander, da die Leiblichkeit der Gabe zum einen die persönliche Verbindung zum Empfänger und damit ein Moment intensivierter Präsenz herausstellt und zum anderen den Charakter des extra nos dieser Gabe und der Wirklichkeit als Ganzer. Letzteres
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Erstes Kapitel: Die Spätmoderne des Westens als technisches Zeitalter
wird von Luther, drittens, noch dadurch betont, dass er die geschaffene Wirklichkeit als Schöpfung denkt, die in der Gegenwart bleibend von ihrem Schöpfer abhängt. Gott der Schöpfer schafft und erhält auch den Menschen in der ihm eigenen Existenz und Identität. Damit stellt Luther heraus, dass Existenz und Identität nicht in eigener Aktivität wie dem Ausagieren eines Berufes oder einem gelungenen Familienleben gründen, sondern passiv empfangen werden, ehe sie ausagiert und damit weiter geformt werden können. Viertens betont Luther, dass die menschliche Teilhabe an der göttlichen Gabengabe nach dem Fall stets nur im Modus des Kampfes um diese Teilhabe zu haben ist. Es ist der gefallene Mensch, der das Abendmahl empfängt, und der Glaube des Menschen bleibt auch nach dem Empfang des Abendmahls angefochten. Doch ehe Luthers Abendmahlslehre im Dritten Kapitel rekonstruiert und im Vierten ausführlicher mit den Beobachtungen zur Spätmoderne in Beziehung gesetzt wird, seien im nun folgenden, zweiten Kapitel in erstphilosophischer Perspektive einer Reihe von kategorialen Fragen nachgegangen, die im Laufe der bisherigen Überlegungen implizit oder explizit von Bedeutung waren.
Zweites Kapitel
Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie 1. Verortungen: Warum eine Erstphilosophie? Warum Koch? Aus der vorgelegten Gegenwartshermeneutik ergibt sich mindestens in Bezug auf drei Themen Klärungsbedarf in kategorialer Hinsicht: So ist zu klären, wie das Verständnis der Wahrheit als Unverborgenheit dem Verständnis der Wahrheit als Wert zugeordnet werden kann. Zudem ist zu klären, wie das Verständnis der Wirklichkeit als Bestand mit dem Verständnis der Wirklichkeit als Gabe zu vermittelt ist, und schließlich ist zu klären, ob der Mensch primär als leibseelische Einheit in Gemeinschaft oder als Geistwesen zu fassen ist. Etwas genauer: Heideggers Technikphilosophie (Erstes Kapitel, 1.) hat die Frage aufgeworfen, wie sich das von Heidegger selbst eingeführte Verständnis von Wahrheit als Unverborgenheit zum Verständnis von Wahrheit als Wert verhält, das die in der Moderne in der Technik zur absoluten Vorherrschaft gelangte menschliche Aktivität begründet. Es wurde darauf verwiesen, dass die Primärliteratur von Heidegger ebenso wie die Sekundärliteratur zu ihm zwischen einer revolutionären Lesart einerseits und einer reflexiven Lesart andererseits schwankt, wobei die revolutionäre die Unvereinbarkeit beider Entitäten postuliert und die reflexive ihre Vereinbarkeit (Erstes Kapitel, 1.5.). In beiden Fällen ist auch die Rolle der Sprache näher zu bedenken. Unabhängig von Fragen der Heidegger-Exegese soll im Folgenden eine kategoriale Klärung dieses Sachverhalts im Rahmen von Kochs Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit erfolgen. Zweitens wurde festgehalten, dass in unserem technischen Zeitalter alle weltliche Wirklichkeit als Bestand für menschliche Aktivitäten verstanden wird. Unter Rekurs auf das Thema des vorliegenden Buches ist damit gesagt, dass auf diese Weise der Gabe-Aspekt der Wirklichkeit verdrängt wird. Daher wird im Folgenden die Zuord-
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2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie
nung von Bestand und Gabe bedacht werden. Drittens führte die Analyse der liquid modernity die Beobachtungen zum Bestand dergestalt weiter, dass sie auch als Fragen nach der Zuordnung von Leib und Geist sichtbar wurden (Erstes Kapitel, 2.2.2.5.). Dabei wurde konstatiert, dass es gegenwärtig Tendenzen zur Unterdrückung der eigenen Leiblichkeit gibt. Ebenso wurden Tendenzen zur Individualisierung namhaft gemacht, die problematische Aspekte mit sich bringen. – Alle drei namhaft gemachten Themen sind auch für Luthers Abendmahlstheologie von zentraler Bedeutung. Wenn sie im Folgenden ausführlich bedacht werden, so werden damit nicht nur grundlegende Fragestellungen des ersten Kapitels, sondern auch solche des dritten Kapitels genauer untersucht. Die Themen werden im Folgenden dergestalt verhandelt, dass einige Reflexionsgänge einer philosophischen Metaphysik (oder, wie Koch zu sagen pflegt: einer Erstphilosophie) rekonstruiert werden. Der Rekurs auf erstphilosophische Reflexionsgänge verfolgt zwei Ziele: Erstens soll ein differenzierteres Bild der zur Verhandlung stehenden Entitäten und der mit ihnen verbundenen Problemstellungen erreicht werden. Dazu werden teils recht kleinschrittige kategoriale Klärungen vorgenommen, die helfen, die verhandelten Fragestellungen präzise in den Blick zu bekommen. Diese Kleinschrittigkeit kann in formaler Hinsicht als derjenige Vorteil verstanden werden, den eine Monographie gegenüber Aufsätzen bietet. Während in Aufsätzen vergleichsweise undifferenziert vorgegangen werden muss, kann in Monographien präziser analysiert werden. Dies bringt, zweitens, den Gewinn mit sich, dass auch in differenzierterer Weise Argumente dafür vorgebracht werden können, die Entitäten als so oder so bestimmte zu rechtfertigen. Im Folgenden sollen die verhandelten Themen somit detailliert analysiert werden, und es soll zugleich für ein bestimmtes Verständnis der verhandelten Themen argumentiert werden. Beide Ziele werden in einem einheitlichen Rekonstruktionsgang des Buches Versuch über Wahrheit und Zeit des Philosophen Anton Friedrich Koch zu erreichen versucht.1 Ehe mit der Rekonstruktion Kochs begonnen wird, soll eine einleitende Bemerkung zu der Frage erfolgen, warum und in welcher Art gerade auf die erstphilosophischen Überlegungen Kochs zurückgegriffen wird, obwohl diese recht unbekannt sind. Kochs Erstphilosophie soll als ein Instrument benutzt werden, das hilft, bestimmte, für dieses Buch wichtige Fragen zu reflektieren. Entsprechend wird nicht die gesamte Erst Anton Friedrich Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, Paderborn 2006.
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1. Verortungen: Warum eine Erstphilosophie? Warum Koch?
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philosophie Kochs rekonstruiert. Vielmehr soll ein in vier Hinsichten differenzierter Umgang mit Kochs Erstphilosophie erfolgen. Kochs Erstphilosophie wird erstens auf dieselbe Weise benutzt, auf die er sein Unternehmen selbst charakterisiert. Koch betont in methodischer Hinsicht, dass die Philosophie die einmal erreichten Einsichten nur in der Form von Texten besitzt, die in jeder Generation neu und lebendig angeeignet werden müssen, um ihrem Gegenstand angemessen zu sein.2 Entsprechend hat die Erstphilosophie Zugriff auf ihre Themen jeweils nur im Modus kontroverser, anhaltender Debatten über ihre Themen. So erscheint es nur konsequent, wenn auch Kochs erstphilosophische Reflexionen selbst als ein Beitrag unter anderen zu einer weitergehenden und bleibend kontroversen Debatte angesehen werden – ohne dass durch diese Bemerkungen die Validität der Argumente Kochs eingeschränkt werden soll. Zweitens versteht Koch sein eigenes Unternehmen (mit einigem understatement) keineswegs als revolutionären Neueinsatz, sondern als „konservativ[es]“ Unternehmen, als „de[n] Versuch einer Darstellung des acquis philosophique – einer selektiven Darstellung, versteht sich, die zudem in der Verteilung von Zustimmung und Kritik keineswegs neutral bleibt.“3 Koch wird unter den vielen möglichen Erstphilosophien auch deshalb herangezogen, weil er viele für das vorliegende Buch wichtige Einsichten der Tradition aufnimmt und dabei oftmals auf originelle Weise und mit großer argumentativer Dichte neu begründet und vermittelt; 4 das wichtigste Beispiel dafür ist die Durchführung der DreiAspekten-Theorie der Wahrheit. Zugleich soll mit Koch so verfahren werden, wie er sich der Tradition als Ganzer gegenüber verhält: selektiv, da nur diejenigen Ausschnitte rekonstruiert werden, die für das vorliegende Buch von Interesse sind.
Siehe dazu Anton Friedrich Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie, Paderborn 2006, 7: „Die Philosophie ist eine alte Wissenschaft, doch ihre Lehren sind immer wieder neu. Allerdings sind sie im Unterschied zu mathematischen Sätzen nicht in Lehrbüchern fixierbar. Ihr Sinn verflüchtigt sich, wenn man sich nicht unablässig um ihren Gegenstand bemüht und sie statt dessen nur dem Wortlaut nach tradiert. Ist aber eine philosophische Lehre erst einmal aus ihren Formulierungen gewichen, so muß sie von Grund auf neu erarbeitet werden, als gäbe es auch den Wortlaut der Überlieferung nicht mehr.“ 3 Koch, Versuch, 15. 4 Entsprechend schreibt Markus Gabriel, Anton Friedrich Koch, in: ZphF 4 (2008), 598–602, 602 vielleicht nicht ganz zu Unrecht, dass Kochs Buch das „herausragende Werk der Gegenwartsphilosophie“ ist. 2
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2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie
Drittens: Um die Verbindungen von Kochs Reflexionen zu dem Buch als Ganzen zu verdeutlichen, werden zum einen die Überlegungen Kochs auch immer wieder in anderen Reihenfolgen und mit anderen Schwerpunktsetzungen rekonstruiert, als sie bei Koch vorliegen. Die Integration der Überlegungen Kochs in das Ganze des vorliegenden Buches erfolgt zum anderen so, dass des Öfteren an den entsprechenden Stellen Rückbezüge auf die Überlegungen Heideggers und Vorverweise auf die Theologie Luthers erfolgen; um den Lesefluss nicht zu stören, finden sich die Bezüge aber in den Fußnoten und nur am Ende der wichtigen Abschnitte im Fließtext. Zudem sei, viertens, darauf verwiesen, dass Kochs Erstphilosophie mindestens ein uns interessierendes Thema nur ganz unzureichend zu bedenken. Denn Koch erwähnt zwar, dass die Dinge und das Subjekt kontingent sind, er thematisiert aber die sich daran anschließende Frage nach dem Absoluten nicht ausführlich. Entsprechend ist nach der Rekonstruktion der uns interessierenden Reflektionsgänge Kochs über ihn hinauszugehen, indem Überlegungen zum Absoluten vorgetragen werden (Zweites Kapitel, 3.). Kochs Erstphilosophie soll unter Beachtung der vier eben genannten Hinsichten als ein Instrument zur Reflexion auf die erwähnten Fragen herangezogen werden. Sicherlich wäre es denkbar, die angezielten Reflexionsgänge auch durch Rückgriff auf einen oder auf viele andere Autoren zu vollziehen. Dennoch scheinen diejenigen Reflexionsgänge Kochs, die im Folgenden rekonstruiert werden, ein besonders geeignetes Medium zu sein, um die erwünschten kategorialen Klärungen zu erzielen. Denn in inhaltlicher und methodischer Hinsicht sind diese oftmals gerade auch dort, wo sie Einsichten der Tradition konstruktiv und kritisch aufnehmen, für das vorliegende Buch ebenso relevant, wie sie mir sachangemessen zu sein scheinen. In inhaltlicher Hinsicht gilt, dass Kochs Erstphilosophie Heideggers ebenso eingedenk ist wie der Kritik an Heidegger. Sie kann unter Aufnahme der Kritik an Heidegger gleichsam als die systematische Durchführung der reflexiven Lesart Heideggers begriffen werden. Denn einer der hier besonders interessierenden Reflexionsgänge Kochs besteht darin, die sogenannte Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit zu entwickeln. Sie besagt, dass wir als Subjekte dann berechtigt sind, in unseren Urteilen Wahrheitsansprüche zu erheben, wenn im Verständnis der Wahrheit irreduzibel drei Aspekte in Anschlag gebracht werden, die wesentlich aufeinander bezogen sind. Diese drei Aspekte sind das anschaulich-präsentationale Begriffsmoment, das mit Heidegger gesprochen die Wahrheit
1. Verortungen: Warum eine Erstphilosophie? Warum Koch?
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als Unverborgenheit bezeichnet; das realistisch-repräsentationale Begriffsmoment, das festlegt, dass die Wahrheit einer von zwei Wahrheitswerten ist und das somit auf die Objektivität der Dinge hinweist, mit Heidegger gesprochen: Wahrheit als Richtigkeit; und schließlich das praktisch-normative Begriffsmoment, das die Wahrheit als berechtigte Behauptbarkeit fasst und die Verwobenheit unserer Wahrheitsansprüche in Sprache und Gemeinschaft bedenkt, mit Heidegger gesprochen: Wahrheit als Wert.5 In der Tradition wurde meist eines der drei Aspekte einseitig hervorgehoben, so das anschaulich-präsentationale in einer revolutionären Lesart Heideggers oder von Heidegger selbst, 6 das realistisch-repräsentationale in den verschiedenen Korrespondenztheorien der Wahrheit und das praktisch-normative in der Konsens- und, auf eigene Weise, auch in der Kohärenztheorie der Wahrheit. Koch liefert gute Gründe dafür, dass alle drei Aspekte miteinander zu vermitteln sind. Damit entwickelt Koch eine differenzierte, überzeugende Theorie des kategorialen Kerns der Überlegungen Heideggers und des vorliegenden Buches insgesamt. Im Rahmen dessen präsentiert er zugleich ontologische Bestimmungen zu Geist, Sprache und Materie bzw. Leib und der Frage nach der Gabe. So wird die Rekonstruktion der erstphilosophischen Reflexionsgänge nach einleitenden Bemerkungen zu Koch und grundsätzlichen Überlegungen zum Urteil und der Möglichkeit des Irrtums (Zweites Kapitel, 2.2.1.) zeigen, dass die Urteilspraxis ein Subjekt voraussetzt, das leiblich verortet ist. Koch entwickelt somit eine Position jenseits der Alternative des Körper-Geist Dualismus einerseits und des Naturalismus andererseits (Zweites Kapitel, 2.2.8.). Zudem wird deutlich werden, dass das leibliche Subjekt ebenso wie die Wahrheit selbst wesentlich mit seiner Sprachlichkeit verbunden ist (Zweites Kapitel, 2.2.3). Auch die Interpersonalität und die wesentliche Bezogenheit der Dinge auf das Subjekt und des Subjekts auf die Dinge wird deutlich, so dass eine umfassende relationale Ontologie in den Blick kommt (siehe v. a. Zweites Kapitel, 2.2.2.7.) und nicht zuletzt die Abhängigkeit des Subjekts von der Gabe des allgemeinen Sich-Zeigens der Dinge und der anderer Personen, ohne dadurch die Leistungen des Subjekts zu negieren. Mit all dem kommentiert Koch faktisch und an einigen Punkten auch explizit die Ent Siehe zusammenfassend Koch, Versuch, 158 f. Koch hat insgesamt eine etwas freundlichere Lesart Heideggers als ich und sieht ihn als denjenigen Vertreter, der alle drei Aspekte der Wahrheit präsent hält. Zugleich gibt Koch, Versuch, 159, auch zu, dass Heidegger „freilich das realistisch-repräsentationale Moment dann eher theoretisch brachliegen ließ.“ 5 6
100 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie wicklungen der Präsenzmetaphysik in unserer technischen Wirklichkeit (siehe dazu auch Zweites Kapitel, 2.2.4.) und präsentiert zugleich eine gut begründete Gegenposition zum Denken in Beständen. Ebenso wichtig wie diese inhaltlichen Aspekte ist ein methodischer: Koch vollzieht erstphilosophische, also apriorische und selbstbezügliche Überlegungen meist in transzendentaltheoretischem Zuschnitt und unter Zuhilfenahme der Instrumentarien analytischer Philosophie und gewinnt damit die mit diesen Instrumentarien einhergehende Begründungsstärke. Zugleich erreicht er damit viele materiale Einsichten der Tradition wie etwa die Heideggers, die wir für richtig und wichtig halten. Wie Koch in Bezug auf Heidegger feststellt: „Wer mit sicherem phänomenologischen Blick auf Anhieb mehr sieht als andere, ist ihnen gegenüber im Vorteil. Die anderen müssen auf Treu und Glauben akzeptieren, was er (oder sie) berichtet, sofern ihnen nicht die Sehhilfe des Arguments gereicht wird. Da es Heidegger an dieser Darreichung mitunter mangeln lässt, bleibt es uns anderen nicht erspart, auf eigene Initiative und Rechnung Abhilfe zu schaffen, die jedoch, wie es der Natur philosophischer Argumentation entspricht, in vielen kleinen Schritten erfolgen wird.“7 Die Methode dieser vielen kleinen Schritte bringt zugleich den großen Vorteil mit sich, dass mystifizierende Gesamtdiagnosen Heideggers wie die, dass das Abendland als Ganzes durch die sich selbst verbergende Verbergung des Seins bestimmt ist, auf solche Gehalte hin durchleuchtet werden, die in systematischer Perspektive und in kleiner Münze rational rekonstruierbar und damit aufzunehmen sind. Anders gesagt, Koch entkleidet Heideggers Philosophie ihres quasi-kultischen Charakters und hilft dadurch, sie vertretbar zu machen. Vertretbar sind dann Gehalte wie derjenige, dass der Wahrheit ein Aspekt des Koch, Versuch, 345. Vorher aber sei nochmals zusammenfassend festgehalten, dass es nicht das Ziel dieses Abschnitts ist, Koch als Ganzes zu rekonstruieren und zu verteidigen. Vielmehr wurde Kochs Erstphilosophie als eine unter mehreren denkbaren Bezugspunkten ausgesucht mit dem Ziel, einige seiner Reflexionen als Medium zu benutzen, um Klärungen in Bezug auf für dieses Buch wichtige Fragen vorzunehmen. Denn einige von Kochs Reflexionen bedenken in differenzierter Form uns interessierende Fragestellungen; die Reflexionsgänge Kochs sind aufgrund der erstphilosophischen Methode begründungsstark; sie integrieren aufgrund ihrer Sachorientierung die Einsichten verschiedener Schulen und Epochen und verteidigen in materialer Hinsicht und kritischer Weiterentwicklung wichtige Einsichten des Idealismus und des 20. Jahrhunderts und somit oftmals die von Heidegger. Diese Kombination machen sie zu einem attraktiven Gesprächspartner für Luthers Abendmahlstheologie, und sie ist ein wesentliches Argument dafür, gerade ihn in diesem Buch zu rekonstruieren. 7
1. Verortungen: Warum eine Erstphilosophie? Warum Koch?
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Sich-Zeigens zukommt, der in der Tat in vielen Theoriebildungen und zu deren Schaden ausgefallen ist. In methodischer wie in materialer Hinsicht sind Kochs Überlegungen jedoch nicht nur in Hinblick auf die Überlegungen zu Heidegger von großem Interesse, sondern auch für Luthers Abendmahlstheologie. Denn in methodischer Hinsicht stellt auch Luthers Abendmahlstheologie implizit und auch explizit eine Form der Metaphysik dar. Daher ist sie von sich aus auf Kommunikation mit einer Erstphilosophie hin geöffnet. Diese Kommunikation in materialer Hinsicht einmal durchzuführen ist umso dringlicher, da sie m.W. in ausführlicherer Form in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht vollzogen wurde; der Anstoß Metzkes dazu wurde nicht ausführlich aufgenommen. 8 Es wird sich zeigen, dass in vielen materialen Aspekten – in Bezug auf den Gabe-Charakter der Wirklichkeit, in Bezug auf Leib, Sprache und Intersubjektivität – eine erfreuliche Nähe zwischen den hier vorgeführten erstphilosophischen Reflexionen und der Abendmahlstheologie Luthers besteht. Beide stellen Varianten derjenigen Position dar, die im Anschluss an erstphilosophische Terminologien als Realidealismus gefasst werden kann. Zugleich stellt die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit als der kategoriale Kern Kochs eine Konstellation dar, die auch für Luther in grundlegender Hinsicht prägend ist (zu weiteren Aspekten der Zuordnung von Koch und Luther sowie von Erstphilosophie und Dogmatik siehe unten Zweites Kapitel, 4. und Viertes Kapitel). Im Folgenden soll die Verortung Kochs dergestalt weitergeführt werden, dass zuerst die von Koch selbst vorgenommene Verortung seines Projektes in der philosophischen Tradition präsentiert und ein kurzer Blick auf seine Methode geworfen sowie ein Einwand ihr gegenüber bedacht wird (Zweites Kapitel, 2.1.). Sodann erfolgt eine längere und in Abschnitten detaillierte Rekonstruktion der hier interessierenden Grundzüge seiner Erstphilosophie (Zweites Kapitel, 2.). Dazu beziehe ich mich auf Kochs 2006 erschienenes Hauptwerk Versuch über Wahrheit und Zeit und analysiere dessen ersten Teil Wahrheit, Schein und Widerspruch, ohne aber seine Kapiteleinteilungen als eigene Gliederung zu übernehmen. Aus dem zweiten Teil des Buches, Zeitlichkeit und Raum und Freiheit, werden nur diejenigen Kapitel herangezogen, die in engerer Verbindung mit den zentralen Themen des vorliegenden Buches stehen, so dass auf die Kapitel II.1. und II.4. des Versuches über Wahrheit und Siehe dazu Metzke, Sakrament und Metaphysik.
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102 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Zeit Bezug genommen wird. Die anderen im zweiten Teil des Buches verhandelten Fragestellungen stehen zwar in enger sachlicher Verbindung zu den anderen Themen, aber nicht direkt im Fokus unseres Buchs und werden daher nicht weiter analysiert.9 Nach der Rekonstruktion Kochs wird im letzten Abschnitt dieses Teils zum einen dergestalt über Koch hinausgegangen, dass ein Problem weiter erforscht wird, welches bei Koch nicht hinreichend Beachtung findet, welches aber für das vorliegende Buch von Wichtigkeit ist: das Problem der Kontingenz des Subjekts, das als Kontingentes über sich hinaus auf das Absolute verweist. Um Überlegungen zur Existenz und Verfasstheit des Absoluten in den Blick zu bekommen, wird Kants, Hegels und Schellings Lesart der Gottesbeweise rekonstruiert (Zweites 9 Koch macht sein Buch einer breiteren Öffentlichkeit in einer Kurzversion zugänglich: In dem Büchlein Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit, legt er auf 180 Seiten wichtige Aspekte seines Hauptwerkes dar. Auch auf dieses Buch wird immer wieder zurückgegriffen. – Die Rekonstruktion der für dieses Buch wichtigen Reflexionen Kochs erfolgt dergestalt, dass vor allem die Position Kochs selbst nachgezeichnet wird. Die von Koch teils recht ausführlich betriebene Auseinandersetzung mit alternativen Positionen wird nur auf die Art nachvollzogen, dass die von Koch vorgenommene Rekonstruktion anderer Positionen ganz kurz und unter Bezug auf das wesentliche Argument rekonstruiert wird, das es dann zu widerlegen gilt. Ebenso wird nicht namhaft gemacht, wo Koch in besonderem Maße von der Tradition oder einzelnen Denkern geprägt wird. Wir konzentrieren uns hier also nicht auf philosophiegeschichtliche Ableitungen, sondern auf die jeweiligen Argumente. Um nur drei Denker zu nennen, die auf verschiedene Weise Nähen zu Koch aufweisen: Kochs Ansatz, auch mit dem Instrumentarium analytischer Philosophie erstphilosophische Reflexionen anzustellen und dabei in inhaltlicher Hinsicht bei einem (in allgemeinster Charakteristik) auf Hegel hin geöffneten Kant zu enden, erinnert selbstredend an Kochs Doktorvater Dieter Henrich. An Henrich gemahnen auch viele einzelne inhaltliche Überlegungen wie etwa Kochs Position, in Bezug auf das Ich die Dimension der Person und die des Subjektes nicht als einander ausschließende Gegensätze, sondern als einander notwendiger Weise ergänzende Bestimmungen zu lesen. Des Weiteren sind bei manchen Gedankengängen wie etwa bei den Überlegungen zur Designation die Bezugnahmen auf Peter Strawson geradezu mit Händen zu greifen. Neben der näheren Explikation dieser offensichtlichen Abhängigkeiten Kochs von anderen Denkern könnte zudem eine reizvolle Aufgabe darin bestehen, die Nähe Kochs zu Peirce zu bedenken, die in inhaltlicher Hinsicht gegeben ist. Koch erwähnt Peirce nur zweimal ganz en passant, obwohl in systematischer Perspektive eine kaum zu übersehende Nähe zwischen der Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit und Peirce’ Lehre von der Erstheit, Zweitheit und Drittheit besteht. Die von der Sache her gegebene, intrinsische Anschlussfähigkeit Kochs zu theologischen Überlegungen ließe sich zudem etwa durch die religionsphilosophischen Aufnahmen von Peirce bei Hermann Deuser, Religionsphilosophie, aufzeigen. Ich lese diese systematische Nähe zwischen Koch und Peirce, aber auch Deuser als Hinweis auf die Wahrheit der hier vorgestellten Theorie.
2. Die Rekonstruktion Kochs
103
Kapitel, 3.). Zum anderen werden Anschlüsse von Koch, Schelling und Luther explizit gemacht (Zweites Kapitel, 4.1.) und fünf Aspekte der Zuordnung von Theologie und Erstphilosophie bedacht (Zweites Kapitel, 4.2.).
2. Die Rekonstruktion Kochs: Realidealismus aus analytischer Perspektive 2.1. Kochs Verortung in der philosophischen Tradition und ein Blick auf die Methode Koch definiert den Gegenstand einer Ersten Philosophie wie folgt: „In all unseren Theorien erheben wir Wahrheitsansprüche, die Erste Philosophie aber ist diejenige Theorie, in der wir auf dieses Faktum reflektieren. [. . .] Die Erste Philosophie allein macht, was sie auch für ihre Lehren beansprucht: Wahrheit, zu ihrem sie definierenden Thema, und die Philosophie insgesamt, in der ganzen Vielfalt ihrer Disziplinen, reicht gerade so weit wie der begriffliche Einfluß des Wahrheitsprädikats.“10 Das Faktum der Wahrheit stellt somit den die Erste Philosophie definierenden Gegenstand dar. Indem die Erstphilosophie dem Faktum der Wahrheit nachdenkt, es als gerechtfertigt begründet und damit auch Wahrheit für ihre eigenen Lehren beansprucht, sichert sie zugleich ihre eigene Existenz: Denn ließe sich zeigen, dass das Faktum der Wahrheit nicht vertretbar wäre, so wäre damit auch die Erste Philosophie abgeschafft. Entsprechend besteht eines der Ziele der Erstphilosophie Kochs darin, den Naturalismus, den Skeptizismus und den Antirealismus als drei besonders prominente Positionen, die das Faktum der Wahrheit attackieren, zu widerlegen und für einen erkenntnistheoretischen und semantischen Realismus zu argumentieren.11 Diese Widerlegungen können hier allerdings nur angedeutet werden (zur Widerlegung des Naturalismus siehe Zweites Kapitel, 2.2.8.; zur flüchtigen Widerlegung des Skeptizismus siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.3.4., und zur nur kurz skizzierten Widerlegung des Antirealismus siehe Zweites Kapitel, 2.2.1.2.). Indem Koch seine Erste Philosophie dadurch definiert sieht, dass sie auf das Faktum der Wahrheit reflektiert, kann sie Einsichten der drei großen Paradigmen der Philosophiegeschichte aufnehmen und aufeinan Koch, Versuch, 19. Siehe Koch, Versuch, 29–35.
10 11
104 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie der beziehen, also die Metaphysik der antiken Philosophie, die Philosophie der Neuzeit, die die Erkenntnistheorie und Bewusstseinsphilosophie in den Mittelpunkt stellt, und die im 20. Jahrhundert weit verbreitete analytische Philosophie, aber auch Heidegger.12 Denn die antike Philosophie fragt nach dem Sein des Seienden und nach dem Grund des Seins und präsentiert sich damit als philosophische Theologie. Wenn Wahrheitsansprüche erhoben werden, wird nun jeweils beansprucht, dass etwas der Fall ist. Das Sein dessen, was der Fall ist, kann als „veritatives Sein“13 gefasst werden, da sich in ihm das Wahrsein einer Aussage spiegelt. In diesem veritativen Sein kreuzt sich Koch Erstphilosophie mit der klassischen Metaphysik. Ab Descartes und Locke fasst sich die Erste Philosophie vor allem als Erkenntnistheorie. Unsere Erkenntnis aber erhebt Wahrheitsansprüche und operiert somit mit der „Geltungsdifferenz“14 als der Differenz zwischen dem, was objektiv der Fall ist und dem, was im Bewusstsein als der Fall seiend vorgestellt wird. Am Punkt der Geltungsdifferenz kreuzen sich neuzeitliche Erkenntnistheorie und die Kochsche Erstphilosophie. Die analytische Philosophie schließlich analysiert sprachliche Äußerungen, und zwar gerade als potentielle Wahrheitsträger. Sie stellt sich somit die Frage nach der Bedeutung und stellt in der Form der realistischen Semantik die These auf, dass Satzbedeutungen als Wahrheitsbedingungen zu fassen sind. Damit entwickelt sie eine philosophische Semantik, die sich darin von der Linguistik unterscheidet, dass sie sich mit dem Faktum der Wahrheit auseinandersetzt. Bei Heidegger selbst schließlich wurde bereits gezeigt, dass der Wahrheitsbegriff im Mittelpunkt seiner philosophischen Bemühungen steht. Aus dem bisher Gesagten lässt sich zudem bereits erahnen, dass sich Kochs Erstphilosophie nicht auf die klassischen Themen der metaphysica generalis und der metaphysica specialis beschränkt, sondern Dimen sionen der Ontologie, Epistemologie, Logik und Semantik in ihrer sachlich wesentlichen Verwiesenheit aufeinander bedenkt (siehe Zweites Kapitel, 2.2.1.1.).15 Damit wird zugleich eine Theorie vorgelegt, die Wahrheit, Leib, Sprache und Gemeinschaft als Themen, die für das vorliegende Buch von eminenter Bedeutung sind, in ihrer wesentlichen Beziehung aufeinander erforscht und auch in Bezug auf die wahrzunehmenden Dinge deren eigene Sprachlichkeit und ihren Gabe-Charakter bedenkt. Siehe Koch, Versuch, 19–21. Koch, Versuch, 20. 14 Koch, Versuch, 21. 15 Siehe Koch, Versuch, 53. 12 13
2. Die Rekonstruktion Kochs
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In methodischer Hinsicht macht bereits Kochs eben angeführte Definition der Erstphilosophie deutlich, dass seine Erstphilosophie durch Apriorismus und Selbstbezüglichkeit geprägt ist: 16 Sie ist apriorisch, da sie die logische Analyse von Begriffen wie „Wahrheit“ oder „Sein“ vornimmt und dabei nicht auf andere Wissenschaften oder Teilgebiete der Philosophie zurückgreifen kann, da sie sonst nicht in diesem Sinne Erste Philosophie sein könnte. Und sie ist selbstbezüglich, da sie die Wahrheitsansprüche, die sie selbst erhebt, eigens in kritischer Absicht thematisiert. Koch vollzieht diese Thematisierung so, dass er von dem schlichten und in philosophischer Hinsicht voraussetzungslosen Faktum ausgeht, dass wir urteilen. In philosophischer Hinsicht vorrausetzungslos heißt, dass Koch sich eingangs auf kein Ergebnis einer speziellen philosophischen oder außerphilosophischen Theorie (wie den Realismus oder den Solipsismus) festlegt.17 Vielmehr beobachtet er, dass wir immer in umfassenden Praxiszusammenhängen stehen, dass Denken ein Teil dieser Praxis ist und unsere Urteilspraxis Teil des Denkens; und dass wir in vielen Urteilen objektive Wahrheitsansprüche erheben. Diese Urteile sind die grundlegenden.18 So äußern wir im Alltag Sätze wie „Das Buch ist rot“, und wir erheben im Alltag den Anspruch, dass diese Aussagen wahr sind. Koch widmet sich unserer alltäglichen Urteilspraxis nun dergestalt, dass er stets zwei Aufgaben miteinander verbindet: Zum einen möchte er die grundlegenden ontologischen, logischen, semantischen und epistemologischen Unterstellungen explizit machen, die wir in unseren Urteilen immer schon implizit mitlaufen lassen: making it explicit. Zum anderen möchte er die grundlegenden Unterstellungen kritisch prüfen und – gegebenenfalls – rechtfertigen. Im ersten Aspekt ähnelt sein Unternehmen dem der Entwicklung einer deskriptiven Metaphysik. Im zweiten geht er über viele deskriptive Metaphysiken wie etwa über die von Strawson hinaus. Zugleich unterscheidet er sich aber von einer revisionären Metaphysik dadurch, dass er keine theoretischen Entitäten eigenen Rechts wie Gott, Universalien oder Welten postulieren will, die über die implizit-lebensweltliche Ontologie hinausgehen; 19 dies gilt auch für Heideggers Begriff des Seins. Dessen wahrheitstheoretische Dimension wird allerdings in eigener Form in seinem ersten Wahrheitsaspekt aufgenom Siehe Koch, Versuch, 11, 55 u. ö. Siehe Koch, Versuch, 54 f. 18 Siehe Koch, Versuch, 51 f. 19 Siehe Koch, Versuch, 63–65. 16
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106 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie men. Jedenfalls ist es Kochs Ziel, „so heimisch wie möglich zu werden in unserem Begriffsystem und zugleich, da durch dieses, sofern es denn gerechtfertigt ist, im Sinne Davidsons gekürzt werden kann, in der Realität selbst.“20 Die Rechtfertigung gegenüber den kritischen Anfragen an die impliziten Unterstellungen unserer alltäglichen Urteilspraxis, die etwa vom Naturalismus und Skeptizismus vorgetragen werden, erfolgt meist durch eine transzendentale Argumentation.21 Diese gewinnt ihre Kraft oftmals dadurch, dass sie zeigt, dass die Gegenposition implizit Annahmen macht, die ihrer expliziten Aussage gerade widerspricht. So lässt sich zeigen, dass jedes Urteil auf nichtnaturalisierbare Aspekte des sprechenden Subjekts angewiesen ist, um überhaupt sinnvoller Weise ein Urteil genannt zu werden. Entsprechend widerspricht sich eine naturalistische Position in dem Moment selbst, in dem sie sich als Urteil artikuliert. Die wesentlich apriorische und durchgehend selbstbezügliche Arbeit der Ersten Philosophie, die Implikationen unserer Urteilstheorie explizit macht und rechtfertigt, benutzt aber nicht nur die eben angedeutete sprachanalytische Methode, die teils der der Transzendentalphilosophie ähnelt, sondern ist auch durch eine metaphysische und eine phänomenologische Seite gekennzeichnet.22 Denn wenn für die Rechtfertigung dieser Wahrheitsansprüche argumentiert und sie etwa in Thesenform zusammengefasst wird, so verdient dieses Vorgehen, metaphysisch genannt zu werden. Zudem ist Kochs Vorgehen in gewisser Hinsicht auch phänomenologisch, da er die gewonnenen Resultate dabei nochmals dergestalt an die Wirklichkeit zurückbindet, dass z. B. gewonnene Prinzipien in der Realität aufgewiesen werden. Die Phänomene, auf die dabei abgezielt wird, sind allerdings oft Phänomene zweiter Stufe, die sich an den gewöhnlichen Phänomenen unthematisch mitzeigen. So wird sich herausstellen, dass unsere Urteilspraxis ein Prinzip vorbegrifflicher Mannigfaltigkeit voraussetzt, und es wird darauf verwiesen, dass der Raum dieses Prinzip ist; der Raum aber ist ein Phänomen, das sich an allem Räumlichen mitzeigt, ohne selbst als solcher in den Blick gelangen zu können. – Mit diesen drei Seiten ihrer Methode entspricht Kochs Erste Philosophie in ausgezeichneter Weise ihrem zentralen Gegenstand, der Wahrheit in ihren drei Aspekten: denn die phänomenologische Seite Koch, Versuch, 64. Siehe Koch, Versuch, 31 f. 22 Siehe Koch, Versuch, 31–35, und Koch, Wahrheit, 166 f. 20 21
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der Methode kann auf den phänomenalen Aspekt der Wahrheit bezogen werden, die metaphysische auf den realistischen und die sprachanalytische auf den pragmatischen. An einem für das vorliegende Buch interessanten Punkt erwähnt Koch noch eine weitere methodische Dimension seiner Reflexion, die die Erstphilosophie selbst sowie die Geschichte der Erstphilosophie unter einer ganz anderen Perspektive in den Blick bekommt. Es ist dies eine Perspektive, die nicht apriorisch und selbstbezüglich ist und damit nicht streng erstphilosophisch im Sinne Kochs. In Analogie zur Tiefenpsychologie, die sich den verdrängten Aspekten einer Psyche widmet, indem sie sie ins Bewusstsein holt und so bearbeitbar macht, verweist Koch auf eine philosophische Arbeit, die er „Tiefenphilosophie“23 nennt. Sie widmet sich den verdrängten Aspekten der Erstphilosophie, holt diese ins Bewusstsein und macht sie so bearbeitbar. Wichtige Tiefenphilosophen sind Heidegger und Derrida, die sich dem widmen, was das Abendland allzu lange verdrängte: den ersten Aspekt der Wahrheit, also die Unverborgenheit der Dinge. Koch folgt Heidegger darin, dass die Verdrängung dieses Aspekts zur Präsenzmetaphysik im schlechten Sinne führte. Der Verweis auf die tiefenphilosophische Arbeit der Erstphilosophie führt zu zwei Anschlussüberlegungen. Luthers Lehre vom Abendmahl, so ließe sich vorausweisend sagen, kann auch als eine Theologie gelesen werden, die verdrängte Dimensionen der Erstphilosophie ins Bewusstsein zu holen erlaubt. Zugleich aber stellt sich die Frage, wie die Notwendigkeit zu tiefenphilosophischer Reflexion mit dem Anspruch auf Apriorizität mitsamt des damit mitgegebenen, starken Begründungsanspruches und des Anspruchs auf philosophische Voraussetzungslosigkeit einhergeht. Die Zuordnung von Erstphilosophie und Theologie soll daher auch eine eigene Reflexion erfahren (siehe Zweites Kapitel, 4.2.).
2.1.1. Ist Kochs Erstphilosophie selbst Ausdruck technischen Denkens? Bevor eine detailliertere Rekonstruktion derjenigen Reflexionsgänge von Kochs Erstphilosophie vorgelegt wird, die für das vorliegende Buch von Interesse sind, sei zum Abschluss der einleitenden Bemerkungen nochmals auf die Größe und Grenze dieser Erstphilosophie zu sprechen gekommen. Schnell zeigen sich drei Grenzen der Erstphilosophie Kochs. Koch, Versuch, 301.
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108 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Erstens expliziert Koch zwar die Unterstellungen der Urteilspraxis und rechtfertigt sie auch dadurch, dass er einige ihrer wichtigsten Alternativen wie etwa den Naturalismus zu widerlegen versucht. Aber er versucht nicht systematisch abzuleiten, welche Alternativmöglichkeiten zu seiner Position überhaupt denkbar sind. Entsprechend versucht er auch nicht zu zeigen, dass er alle Alternativmöglichkeiten widerlegt hat; und entsprechend unternimmt er nicht den Versuch, seine Erstphilosophie in einem starken Sinne als die einzig denkbare zu etablieren. Auch wir unternehmen hier keinen derartigen Versuch, sondern wollen allein aufzeigen, dass sie eine sehr gut begründete Erstphilosophie ist.24 Zweitens ist Kochs Erstphilosophie auch in einem philosophischen Sinne voraussetzungsvoll, und zwar deshalb, weil er die klassische zweiwertige Logik als in Geltung stehend ansetzt. Zwar wird es sich bisweilen als notwendig herausstellen, kleine Abweichungen von ihr vorzunehmen, etwa, wenn die Bivalenz des Urteils und damit der diese stützende Satz vom ausgeschlossenen Dritten nur als regulative, nicht als konstitutive Idee bestimmt werden. Ansonsten aber wird die klassische zweiwertige Logik unbenommen übernommen. Da das Projekt einer Logikbegründung ein Projekt vom Umfang und Schwierigkeitsgrad des Neuverfassens von Hegels Wissenschaft der Logik ist, folgen wir Koch auch in dieser Grundentscheidung ohne weitere Begründung.25 Drittens wurde im letzten Abschnitt namhaft gemacht, dass Koch keine Entitäten postuliert, die über die implizit-lebensweltliche Ontologie hinausgehen. Das bedeutet für ihn faktisch auch, dass er darauf verzichtet, die Wirklichkeit als Ganze zu rechtfertigen zu versuchen. Anders gesagt: Das Subjekt und die anderen Subjekt und Dinge, mit denen es verbunden ist, werden zwar als kontingent erkannt, es wird aber nicht eigens darauf reflektiert, wie dasjenige Andere zu denken ist, von dem her das Kontingente ist. Auch wenn man inhaltlich damit übereinstimmen wird, dass diese Frage erstphilosophisch nicht vollständig beantwortet werden kann, stellt der Verzicht auf die explizite Reflexion auf diese Fragen m. E. eine Verkürzung der zu bedenkenden Sachverhalte dar. Daher wird in einem zweiten erstphilosophischen Gang diese Frage im Anschluss an die Überlegungen
Siehe dazu auch Koch, Versuch, 258. Siehe dazu jetzt aber Mike Stange, Antinomie und Freiheit. Zum Projekt einer Begründung der Logik im Anschluß an Fichtes „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, Paderborn 2010, der einige wesentliche der dabei zu schulternden Begründungslasten abträgt. 24
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Kants, Hegels und Schellings zum Thema der Gottesbeweise eigens reflektiert (Zweites Kapitel, 3.). Wenn nun trotz der Grenzen der Erstphilosophie Kochs diese als Referenztheorie herangezogen wird, so sieht sich das Unternehmen einem schwerwiegenden Einwand ausgeliefert: Prolongiert ein solches Unternehmen nicht methodisch dasjenige technische Denken der Moderne, das es in materialer Hinsicht zu überwinden helfen will? Etwas genauer: Erstphilosophien wie die von Koch, die apriorisch und selbstbezüglich verfahren und sich transzendentalphilosophischen Überlegungen widmen, sind in den von ihnen erreichten Positionen zwar begründungsstark. Sie stehen aber oftmals in dem Ruf, ein quasi-solipsistisches Menschenbild zu vertreten: ein Bild des Menschen also, das den Menschen als isoliertes Geistwesen präsentiert, das von seiner Leiblichkeit, Sprachlichkeit und Interpersonalität ebenso abstrahiert wie von den Handlungsvollzügen und dem sie prägenden Orientierungswissen, in die es jeweils eingebunden ist. Damit stehen transzendentalphilosophische Erstphilosophien leicht in dem Ruf, mit Fehlabstraktionen zu arbeiten und somit überholt zu sein, da gerade die Phänomenologie, der Neopragmatismus und die viele Vertreter reformatorischer und gegenwärtiger Theologie wichtige Einsichten in die Leiblichkeit, Sprachlichkeit und Interpersonalität des Menschen gewonnen haben. Sie bekommen den Menschen dabei als ein Handlungswesen in den Blick, das jeweils in kommunikative Vollzüge praktischer Weltorientierung eingebunden ist. Der Verdacht der Fehlabstraktion liegt dann umso näher, wenn die zur Debatte stehende Erstphilosophie (wie etwa die von Koch) ein prädikatives Urteil als Ausgangspunkt philosophischer Reflexion wählt. Ist eine solche Erstphilosophie somit letztlich ideologisch, da sie Ausdruck und Verstärker desjenigen technischen Denkens ist, das sich in seinen verheerenden Folgen als unmenschlich erweist? Anders gefragt: Warum wurde als philosophische Referenztheorie nicht die nahe liegende Option gewählt, die gegenwärtige phänomenologische Debatte etwa um Marion oder Waldenfels aufzuarbeiten? Gegenüber dieser Anfrage ist festzuhalten, dass es mindestens aus drei Gründen nicht sachangemessen ist, mit einem abstrakten Dualismus zwischen erstphilosophischen Reflexionen im Stile Kochs einerseits und einer Philosophie, die der praktischen Weltorientierung des Subjekts eingedenk ist andererseits, zu operieren. Denn erstens gilt in methodischer Hinsicht, dass auch unsere praktische Weltorientierung prädikativer Urteile bedarf, da die Dinge nur in Urteilen als bestimmte für uns
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2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie
sind. Mit Hindrichs gesprochen „gilt das auch dann, wenn die Bestimmung der Dinge im Gedanken – dessen deskriptive Funktion – im Rahmen unserer praktischen Weltorientierung – seiner präskriptiven Funktion – stattfindet. Denn mag die Präskription die Deskription auch in ihren Dienst nehmen, so benötigt sie sie eben doch zumindest als Magd.“26 Zweitens gilt in materialer Hinsicht, dass sich Kochs Erstphilosophie als Analyse und Rechtfertigung der ontologischen, logischen, semantischen und epistemologischen Implikationen unserer Urteilspraxis vollzieht. Wie erwähnt, geschieht das in methodischer Hinsicht in sehr viel differenzierterer und kontrollierterer Form als bei Heidegger, aber auch als bei Marion oder Waldenfels. In materialer Hinsicht wird sich dabei herausstellen, dass eine Bedingung der Möglichkeit unserer Urteilspraxis gerade darin besteht, dass wir als leiblich verortete Personen je in Handlungszusammenhängen und in Beziehungen mit anderen Personen stehen. Der dritte Wahrheitsaspekt – der normativ-pragmatische – schreibt die Einsicht in die interpersonale und handlungsorientierte Dimension unseres Personseins in den Wahrheitsbegriff selbst ein. Drittens werden über Koch hinausgehende Überlegungen am Ende dieses Teils andeuten, dass die Erstphilosophie selbst ihre eigene Grenze einsehen kann, die darin besteht, dass sie in ihrer Reflexion von der Faktizität ihres Vollzuges abhängt. Diese aber kann sie selbst nicht erstphilosophisch begründen, sondern muss sie immer schon voraussetzen. Sowohl aus der Perspektive erstphilosophischer Reflexion wie aus der einer Philosophie, die in besonderem Maße der praktischen Weltorientierung des Menschen eingedenk ist, gibt es somit Argumente, sich von sich aus mit seinem Anderen zu vermitteln, und die hier im Folgenden zu rekonstruierende Erstphilosophie hat sich diese Vermittlung auch material selbst eingeschrieben. Die erstphilosophischen Reflexionen werden sich somit nicht als das abstrakt Andere einer solchen Philosophie herausstellen, die der praktischen Weltorientierung des Menschen eingedenk ist, sondern als ein Mittel, das es erlaubt, mit differenziertem Blick und guten Gründen in ihr heimisch zu werden, auch wenn an manchen Stellen ein kritischer Umbau des vorphilosophischen Weltverständnisses vonnöten ist. – Die aus der Perspektive der Theologie vorzubringenden Gründe dafür, sich mit einer Erstphilosophie wie der von Koch ausei-
26 Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt am Main 2008, 167.
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nander zu setzen, werden vor dem Übergang zur Auslegung Luthers eigens benannt (Zweites Kapitel, 4.2.). Gehen wir nun zur detaillierteren Rekonstruktion Kochs über. Für das vorliegende Buch sind Kochs Reflexionen zur Verfasstheit der Dinge und zur Leiblichkeit des Subjekts einerseits (siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.) und seine Überlegungen zu Sprache und Wahrheit andererseits (siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.) von besonderer Wichtigkeit, wobei von den letzten Überlegungen her auch die ersten näher bestimmt werden. Die ersten ergeben sich als Implikationen von Überlegungen zur Designation, die zweiten als Implikationen von Überlegungen zur Prädikation. Zum angemessenen Verständnis dieser Dimensionen aber sind einige vorbereitende Überlegungen vonnöten (Zweites Kapitel, 2.2.1.), mit denen nun begonnen sei.
2.2. Wahrheit, Leib und Sprache: Kochs erstphilosophische Reflexionen 2.2.1. Die Wahrheit im Urteil: Grundlegende Aspekte des Urteils 2.2.1.1. Objektivität, Phänomenalität und Irrtumsmöglichkeit Zuerst sei dargelegt, welche Annahmen wir implizit machen, wenn wir im Alltag ein Urteil äußern, ehe wir dann sukzessive Begründungen für diese Unterstellungen entwickeln. Vier eng miteinander verbundene Annahmen sind zuerst explizit zu machen.27 Erstens beanspruchen wir für unser Urteil objektive Wahrheit. Wir unterstellen also, dass die Sache, über die wir urteilen, unabhängig davon der Fall ist, ob wir über sie urteilen oder nicht. Wenn ich sage, dass der Schnee weiß ist, so gehe ich davon aus, dass der Schnee nicht dadurch weiß wird, dass ich über ihn rede. Vielmehr unterstelle ich, dass der Schnee weiß ist, und dass ich deshalb sage, dass dem so ist. Wir machen also eine realistische Unterstellung, durch die wir dem Genüge tun, was Koch den realistischen oder zweiten Aspekt der Wahrheit nennt. Zweitens unterstellen wir, dass mir die Sache, über die ich urteile, generell epistemisch zugänglich ist, dass ich sie also normaler Weise erkennen kann. Wäre die Sache prinzipiell nicht erkennbar, so wäre ich nicht berechtigt, sie zu behaupten. Ich gehe somit von der prinzipiellen Erkennbarkeit der Sache aus, von der ich gerade urteile. Damit tue ich dem epistemischen Aspekt der Wahrheit Siehe Koch, Versuch, 51–58, und 66–72.
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genüge (dieser wird sich später noch in den präsentationalen und den normativ-pragmatischen als den ersten und den dritten Wahrheitsaspekt ausdifferenzieren, siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.3.1.). Drittens unterstelle ich aber auch, dass ich mich in meinem speziellen Urteil möglicherweise irre. Dabei sind die erste und die zweite Unterstellung Voraussetzungen der dritten: Gerade weil der jeweilige Sachverhalt, über den ich urteile, unabhängig davon, ob ich über ihn urteile oder nicht, der Fall ist, und gerade weil er generell für erkennbar gehalten wird, ist es möglich, dass ich mit diesem speziellen Urteil den Sachverhalt verfehle. Viertens: Indem ich von der Irrtumsmöglichkeit ausgehe, unterstelle ich, dass mein Urteil zweiwertig ist, also entweder wahr oder falsch (auch wenn ich selbstredend unterstelle, dass jedes einzelne Urteil nur einen der beiden Wahrheitswerte besitzt). Schon dieser erste Blick auf einige allgemeine Unterstellungen unserer alltäglichen Urteilspraxis verdeutlicht, was unter Zweites Kapitel, 1. angedeutet wurde: Wird dem Faktum der Wahrheit dadurch nachgedacht, dass die Wahrheitsunterstellungen unserer Urteilspraxis explizit gemacht werden, so sind die ontologische, die epistemologische, die logische und die semantische Dimension untrennbar miteinander verbunden. Die ontologische Dimension ist mit der Objektivitätsunterstellung berührt und die epistemologische mit der Möglichkeit genereller Erkennbarkeit und der speziellen Möglichkeit des Irrtums – damit also, dass wir mit unseren Wahrheitsansprüchen Wissensansprüche erheben. Die logische Dimension ist mit der damit angenommenen Zweiwertigkeit des Urteils berührt, und die semantische, da das Urteil in einem Aussagesatz geäußert wird. Mit allen vier eben bedachten Unterstellungen, vor allem aber mit den ersten drei, wurden zugleich schon eine Reihe von Unterstellungen in Bezug auf den Gegenstand getroffen, über den geurteilt wurde. Die erste Unterstellung – die Objektivitätsunterstellung – besagt über den Gegenstand, dass er unabhängig davon existiert, ob ich ihn in diesem speziellen Fall wahrnehme oder nicht. Zugleich aber unterstelle ich mit der zweiten Unterstellung des Urteils, die die epistemische Seite ins Spiel bringt, dass der Gegenstand generell wahrnehmbar ist. Er ist somit wesentlich so verfasst, dass er erkennbar ist. Noch genauer, und nun unter Einbeziehung der dritten Unterstellung, meiner jeweiligen Irrtumsmöglichkeit: Er ist zum einen von einzelnen Meinungen über es unabhängig und gerade darin sowohl objektiv als auch Ermöglichungsgrund von jeweiligem Irrtum. Zugleich aber ist er zum anderen auf Subjektivität überhaupt
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bezogen und deshalb generell erkennbar. Mit anderen Worten: Die Dinge sind solche Dinge, die „real und erkennbar sind, deren An-Sich-Sein und Für-uns-Sein folglich unentwirrbar verflochten sind. Objekte dieses Typs jedoch sind Erscheinungen im Kantischen Sinn: Objekte, die wesentlich Phänomene sind, Dinge, die sich zeigen, d. h. die in ihrer Objektivität zugleich epistemisch zugänglich sind.“28 Damit sind wir bereits nach diesen kurzen Überlegungen bei Bestimmungen angelangt, die für das vorliegende Buch als Ganzes von großer Wichtigkeit sind. Sie seien durch eine dreifache Näherbestimmung der Bedeutung des Ausdrucks des „Dings an sich“ näher bedacht.29 Zum ersten stellt der Ausdruck des „Dings an sich“ einen Reflexionsbegriff dar und zielt darauf ab, wie das Ding an ihm selbst ist, sozusagen so, wie es tatsächlich ist. Zum zweiten stellt er einen Sachbegriff dar und bedeutet, dass ein einzelnes Ding eben nicht wesentlich auf Subjekte bezogen ist. Drittens meint er einen umfassenden Grenzbegriff, indem er nicht ein einzelnes Ding bezeichnet, sondern ein Singularetantum, das das Gegenprinzip zum logischen Raum darstellt. Dieses Singularetantum ist so etwas wie das Prinzip der Realität des Realen, das an sich selbst genommen weder bestimmt noch wirklich ist, aber die Objektivität der Dinge allererst ermöglicht; Aristoteles fasste es als den ersten Stoff.30 In unserer Urteilspraxis tätigen wir darüber Unterstellungen, wie ein Ding an ihm selbst (als Reflexionsbegriff) beschaffen ist: nämlich so, dass es gerade kein Ding an sich (als Sachbegriff) ist, sondern Erscheinung. Als Erscheinung zeichnet es sich dadurch aus, dass es wesentlich auf Subjektivität bezogen ist, ohne allerdings von mir hier jetzt erst geschaffen zu werden. Vielmehr kommt der Erscheinung Objektivität zu, da sie am Ding an sich (als Singularetantum) teilhat. Als Erscheinungen sind die Dinge somit wesentlich und generell auf mich bezogen, aber sie sind unabhängig von ihrem Wahrgenommenwerden durch mich jetzt. Sie gehen in ihrem Sich-Zeigen für mich jetzt hier nicht auf, so dass in ihrem Sich-Zeigen immer auch ein Verbergen mitgegeben ist. Dabei lässt sich an den Erscheinungen nicht dasjenige, was sich verbirgt, von dem isolieren, was sich zeigt. Das Sich-Verbergende stellt keine isolierbare Entität oder Dimension eigenen Rechts dar. Vielmehr gilt, was Koch in einer These so zusammenfasst: „Die Transparenz der Koch, Versuch, 69. Siehe Koch, Versuch, 199–205. 30 Siehe Koch, Versuch, 203.
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Dinge für den Diskurs ist prinzipiell getrübt; die Dinge zeigen sich (uns in unserer sinnlichen Rezeptivität) und verbergen sich in ein und derselben Hinsicht. Ihr Sich-Zeigen ist ihr Sich-Verbergen.“31
2.2.1.2. Epistemischer und semantischer Realismus Damit legt sich unsere alltägliche Urteilspraxis auf einen epistemischen und semantischen Realismus fest. Mit dem epistemischen Realismus werden eine bestimmte Spielart des Idealismus einerseits und der metaphysische Realismus andererseits abgewehrt. Die Spielart des Idealismus sei hier so definiert, dass sie das Sein der Dinge in ihrem Wahrgenommensein durch mich jetzt bestehen lässt, oder dass er annimmt, dass die Dinge bloßes Sein-für-Uns wären.32 Der metaphysische Realismus hingegen fasst die Dinge rein an sich, er meint somit, dass sie nicht wesentlich auf uns bezogen sind. Er verabsolutiert also denjenigen der eben aufgeführten Aspekte, der besagt, dass die Dinge unabhängig von unserer jeweiligen Meinung über sie sie selbst sind und behauptet, dass „Wahrheit radikal nichtkognitiv ist; sie hat keinen epistemischen Aspekt.“33 Koch, Versuch, 202. Auch wenn die erreichten Aussagen über die Dinge noch nicht gerechtfertigt wurden, sondern allein als die Implikate unserer alltäglichen Urteilspraxis vor Augen gestellt wurden, dürfte dennoch bereits deutlich sein, dass diese Implikationen für das vorliegende Buch von einiger Bedeutung sind. Denn rückblickend auf die Gegenwartsanalyse lässt sich festhalten, was auch Koch selbst anmerkt (siehe Koch, Versuch, 232): dass diese Bestimmungen der Präsenzmetaphysik widersprechen, die alle Dinge abstrakt als Bestand ansieht, da diese doch von der ungetrübten Anwesenheit aller Dinge ausgeht. Vorausblickend auf den Luther-Teil stellt sich die Lage dann nochmals differenzierter dar, wenn die eigene Art der Sprachlichkeit der Dinge in den Blick gekommen wird (siehe dazu unten, Zweits Kapitel, 2.2.3.). Bereits jetzt aber lässt sich sagen, dass mit den bisher erreichten Beobachtungen ein Vorbegriff des Gabe-Charakters der Dinge erreicht ist. Dieser besteht in der folgenden dreifachen Bestimmung. Es ist von Wichtigkeit, dass sich die Dinge uns als Erscheinungen zeigen oder dass sie sich uns offenbaren. Dieses Moment an ihnen ist für ihre theologische Re-identifikation von besonderer Bedeutung, die die Dinge in ontologischer Hinsicht als Gabe fasst, an denen sich in epistemologischer Hinsicht allgemeine Offenbarung ereignet. Zugleich ist es auch von Wichtigkeit, dass sie, zweitens, dadurch nicht einfach abstrakt menschliche Verfügungsmasse oder Bestand werden, sondern ihre eigene Form des Sich-Verbergens oder der Objektivität mit sich bringen, welche, drittens, zugleich offen dafür ist, in menschlicher Rede näherbestimmt zu werden. 32 Siehe Koch, Versuch, 69. 33 Koch, Versuch, 56. 31
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Damit aber handelt sich der metaphysische Realismus ein gravierendes Problem ein, welches uns erlaubt, erstmals eine Alternativposition zu der Position der alltäglichen Urteilspraxis mit Gründen auszuschließen. Denn wenn die Dinge nicht nur unabhängig von unserer jeweiligen Meinung von ihr sind, sondern wenn sie vielmehr als überhaupt nicht wesentlich auf unsere Meinungen bezogen gedacht werden, dann können alle unsere Meinungen auch generell falsch sein. Es gibt von Seiten der Dinge her keinen Grund mehr anzunehmen, dass unsere Urteile aus stärkeren Gründen als dem puren Zufall wahr sind. Gegen seine eigene Intention führt der metaphysische Realismus also gerade zu einer generellen Skepsis bezüglich der jeweiligen Urteile. Klassischer Weise versucht der metaphysische Realismus diesem Problem dadurch zu entkommen, dass er eine Korrespondenztheorie der Wahrheit vertritt und also meint, dass die Realität einen Ausschnitt enthält, der eine „Tatsache“ genannt wird, mit der unsere Meinung korrespondiert. Wenn unsere Meinung mit der Tatsache korrespondiert, so ist sie wahr. Das in Bezug auf den metaphysischen Realismus namhaft gemachte Problem ist damit aber keineswegs gelöst, sondern nur verschoben und eigentlich sogar verschärft. Denn es ist immer noch nicht durch irgendetwas gesichert, dass meine Meinung mit der jeweiligen Tatsache übereinstimmt. Auch wenn das Problem der Skepsis erst später angegangen werden kann (siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.3.4.), ist doch bereits ein Argument dafür vorgebracht, nicht für den metaphysischen Realismus zu optieren. Dieser droht aufgrund der Verabsolutierung des realistischen und der Ignorierung des epistemischen Aspekts der Wahrheit stets, in skeptische Positionen überzugehen. Somit gibt es einen guten Grund, für den epistemischen Realismus zu optieren, der neben der Objektivität der Dinge zugleich ihre wesentliche Bezogenheit auf uns und damit ihre generelle Erkennbarkeit annimmt. Zugleich kann die eben entwickelte Position als semantischer Realismus gefasst werden. Wie gleich deutlich werden wird, wird damit die vierte Unterstellung unserer Urteil – die Unterstellung, dass unsere Aussagen zweiwertig, also entweder wahr oder falsch sind – näher bestimmt, und es wird eine Position eingenommen, die sich gegen den globalen Antirealismus wendet.34 Zuerst aber zur Definition: Der semantische Realismus besagt, dass die Bedeutungen der Sätze ihre Wahrheitsbedingungen sind. Der globale Antirealismus etwa im Sinne von Michael Siehe Koch, Versuch, 65–72.
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Dummett meint hingegen, dass die Bedeutungen der Sätze „schwächer“ zu fassen sind, nämlich als „Bedingungen gerechtfertigter Behauptbarkeit“35 : Die Bedeutung eines Satzes besteht also in der Gesamtheit der Bedingungen, unter denen die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft die Behauptung akzeptieren. Das führt zwei Probleme mit sich. Wenn nur das gesagt wird, so ist der Wahrheitsbegriff eliminiert, und die Philosophie hat sich in Linguistik überführt.36 Demgegenüber könnte der Antirealist sagen, dass er den Wahrheitsbegriff gar nicht abschaffen möchte, sondern dass er ihn vielmehr neu füllen möchte, nämlich in pragmatischem Sinn: Wahr ist, was gerechtfertigter Weise behauptet werden kann. Hier stellt sich allerdings ein neues Problem. Es muss mit Wahrheitswertlücken gerechnet werden, also mit Fällen, in denen ein Urteil weder wahr noch falsch ist, sondern schlicht nicht entscheidbar. Denn es gibt viele Fälle, in denen wir weder berechtigt sind, einen Satz zu behaupten, noch aber, seine Negation zu behaupten; man denke nur an das Beispiel, dass heute in fünfzig Jahren eine Seeschlacht stattfinden wird.37 Wahrheitswertlücken aber verstoßen gegen unsere Annahme, dass unsere Urteile zweiwertig, also entweder wahr oder falsch sind. Da die Zweiwertigkeit die Verbindung des Urteils zur Logik darstellt, verstoßen die Wahrheitswertlücken damit gegen die klassische Logik und ihre Lehre vom Satz vom ausgeschlossenen Dritten: entweder p oder nicht p. Um das Problem noch genauer in den Blick zu bekommen und einer Lösung zuzuführen, sei zwischen Bivalenz und Bipolarität unterschieden. Bipolar ist ein Ausdruck, wenn sich für ihn die Frage stellt, ob er wahr oder falsch ist (unabhängig von der Antwort: Diese kann auch darin bestehen, dass keines der beiden der Fall ist, da eine Wahrheitswertlücke besteht). Damit ist jedes Urteil bipolar. Bivalent hingegen ist eine stärkere Unterstellung; sie besagt, dass eine Aussage entweder wahr oder falsch ist. Bipolarität legt uns somit im strengen Sinne auf Zweiwertigkeit fest und entspricht der klassischen Logik. Der Antirealismus legt sich nur auf die Bipolarität fest und weist die Bivalenz ab. Um nicht die damit einhergehende Konsequenz auf sich nehmen zu müssen und gegen die klassische Logik zu verstoßen, empfiehlt es sich, für die Bivalenz zu optieren, allerdings in leicht modifizierter Form. Denn die reine Bivalenz würde wiederum dem metaphysischen Realismus entsprechen, da Koch, Versuch, 65. Siehe Koch, Wahrheit, 20 f. 37 Siehe Koch, Wahrheit, 20. 35
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dieser ja seine Urteile ganz ablöst von der Frage nach ihrer berechtigten Behauptbarkeit. Daher soll – unter Aufnahme Kantischer Terminologie – die Bipolarität als konstitutives Prinzip anerkannt werden und die Bivalenz als regulatives. D.h., dass zugestanden wird, dass es wahrheitsrelevante Bestimmtheitslücken gibt, dass diese aber nicht dauerhaft fixierbar sind; vielmehr ist es uns je aufgegeben, weiter zu forschen, um bei einem bestimmten Fall die sich evtl. andeutende Wahrheitswertlücke zu schließen. Koch fasst den semantischen und den epistemischen Realismus in folgender These zusammen: „In unseren Urteilen setzen wir voraus, dass die Dinge, über die wir urteilen, Erscheinungen sind, d. h., dass sie veritative Bestimmtheitslücken aufweisen, die sich der Fixierung entziehen. Dies ist unser informeller vereinigter Realismus, durch den wir sowohl dem realistischen als auch dem epistemischen Aspekt der Wahrheit Rechnung tragen.“38 Bisher wurden bereits einige wichtige Aspekte aus der Unterstellung abgeleitet, dass wir davon ausgehen, dass wir im Urteil irren können. Der nächste argumentative Gang denkt der Annahme, dass wir irren können, noch weiter nach, und folgert aus ihr die radikale Asymmetrie des Urteils: die Asymmetrie zwischen logischem Subjekt und logischem Prädikat bzw. zwischen Designator und Prädikator (siehe Zweites Kapitel, 2.2.1.3.). Anhand dieser Asymmetrie wird sich die weitere Rekonstruktion Kochs organisieren, indem zuerst Überlegungen zur Designation präsentiert werden (siehe Zweits Kapitel, 2.2.2.) und dann solche zur Prädikation (siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.). Die Überlegungen zur Designation werden in ausgezeichneter Weise das Thema des Leibes und weitere Überlegungen zur Verfasstheit der Dinge, die zur Prädikation vor allem die der Sprache, Intersubjektivität und Wahrheit mit bedenken.
2.2.1.3. Wie ist Irrtum denkbar? Die Asymmetrie zwischen Designation und Prädikation Urteile sind in konstitutivem Sinne bipolar, in regulativem Sinne bivalent und in dieser differenzierten Hinsicht zweiwertig, also wahr oder falsch. Was aber ist damit gesagt, dass ein Urteil falsch ist? Hier stellen sich mindestens zwei Fragen: Ist dasjenige, was nicht ist? Und: Wie ist es möglich, dass wir dasjenige verstehen, was nicht ist? Etwas anders formuliert: Wir hielten unter Zweites Kapitel, 2.1. fest, dass eine Erstphilo Koch, Versuch, 70.
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sophie, die dem Faktum der Wahrheit nachdenkt, dadurch mit der Ontologie verbunden ist, dass die jeweils erhobenen Wahrheitsansprüche beanspruchen, der Fall zu sein; das Sein dessen, was der Fall ist, wird als veritatives Sein gefasst. Wenn der Satz geäußert wird, dass „Theaitetos fliegt“, so besteht das veritative Sein darin, dass Theaitetos fliegt. Da Theaitetos ein junger Mann ist, der gerade sitzt, aber kein Vogel, der fliegt, ist der geäußerte Satz falsch. Inwiefern ist nun das veritative Sein des fliegenden Theaitetos, und inwiefern ist es möglich, dass wir diesen Satz verstehen, wo er doch falsch ist? Diese Fragen können gelöst werden, wenn erstens zwischen veritativem, existentialem und prädikativem Sein unterschieden wird und wenn zweitens damit die Funktionsdifferenz zwischen Designation und Prädikation bedacht wird.39 Es gibt in syntaktischer Hinsicht eine Differenz zwischen „Theaitetos“ und „fliegt“, besetzt Theaitetos doch die Stelle des logischen Subjekts und das Sitzen die des logischen Prädikates. In semantischer Hinsicht besteht diese Differenz als die Differenz zwischen der referentiellen oder designativen Funktion von „Theaitetos“ einerseits (verweist das Wort doch auf etwas: nämlich auf den jungen Mann Theaitetos), und der charakterisierenden oder prädikativen Funktion des „Sitzens“ andererseits (durch die dem Theaitetos etwas zugeschrieben wird, nämlich, dass er fliegt).40 Designation und Prädikation sind nun auf rechte Weise voneinander zu unterscheiden und einander zuzuordnen. Wenn die Unterscheidung von Designation und Prädikation beachtet wird, so gliedert sich das veritative Sein durch die Aussage, dass Theaitetos fliegt, in existentiales und in prädikatives Sein auf. Das veritative Sein wird dann gedanklich in gewisser Hinsicht dem existentialen Sein zugeschlagen; dieses besagt, dass „da draußen“ tatsächlich etwas ist. Dabei kommt das existentiale Sein asymmetrisch nur dem Desig nator zu, also Theaitetos, nicht aber dem Prädikator, also dem Fliegen. Dem Fliegen ist vielmehr prädikatives Sein zuzuschreiben; d. h., es bestimmt das existentiale Sein näher. Diese Bestimmung kann durch das Siehe Koch, Versuch, 82–84. Wegen der bereits mehrfach angesprochenen engen Verbindung von Ontologie, Erkenntnistheorie und Logik mit der Semantik verwundert es nicht, dass diese Unterscheidung auch in der Ontologie auftaucht, nun als die zwischen Einzelnem und Allgemeinen, so dass Theaitetos ein Einzelner ist, das Fliegen aber etwas Allgemeines. In der Erkenntnistheorie tritt die Unterscheidung auf als die Unterscheidung zwischen Anschauung und Begriff, und in der (Prädikaten)Logik als die zwischen singulären und generellen Termen (siehe dazu auch Koch, Wahrheit, 42). 39
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propositionale als ausgedrückt werden, so dass Theaitetos als fliegend bestimmt wird. So wichtig es einerseits ist, diese Unterscheidung zwischen Designation und Prädikation vor Augen zu haben, so wichtig ist es andererseits, beide einander recht zuzuordnen. Denn zum einen ist bei beiden gleichermaßen von Seiendem die Rede. Zum anderen sind beide wesentlich aufeinander verwiesen, da sie beide für sich genommen unvollständig (ungesättigt), da nicht wahrheitsfähig sind. Designator und Prädikator stellen „zwei unvertauschbare subpropositionale semantische Funktionen“ dar, „die in der propositionalen Verbindung ausgeübt werden und sie asymmetrisch bestimmen.“41 Erst wenn ein existentiales Sein und ein prädikatives Sein zusammen kommen, ergibt sich veritatives Sein: Diese Feststellung kann als „Komplexionsthese“42 gefasst werden. Mit diesen Differenzierungen sind die eingangs gestellten Fragen lösbar: Wir verstehen den Satz, dass Theaitetos fliegt, da sowohl Theaitetos als auch Fliegen Seiendes sind. Indem wir die einzelnen Bestandteile des Satzes verstehen (und ihre Verbindung), verstehen wir auch den Satz. Das gilt auch dann, wenn der Satz falsch ist. Zugleich wird nun auch erklärbar, in welcher Hinsicht das veritative Sein des Satzes, dass Theaitetos fliegt, ist, inwiefern also Nichtseiendes ist. Sein im Sinne von existentialem Sein kommt nur dem Theaitetos zu; das Fliegen hingegen ist allein prädikatives Sein, nicht aber existentiales. Indem Theaitetos das Fliegen prädiziert wird, wird also einem existentialen Sein ein solches prädikatives Sein prädiziert, das in Bezug auf es nicht der Fall ist. In dieser Form ist Nichtseiendes.
2.2.1.4. Gegen den Mythos des Gegebenen: über Ursachverhalte Die Komplexionsthese verteidigt die unaufhebbare Asymmetrie von Designation und Prädikation, welche für die uns interessierenden Fragestellungen von großer Wichtigkeit ist. Daher sollen zur näheren Charakterisierung und Begründung der Komplexionsthese kurz ihre wichtigste Alternative vorgestellt und deren Probleme aufgezeigt werden. Dabei werden zugleich wichtige ontologische Einsichten erlangt. Die Alternative attackiert die beiden grundlegenden Strukturmerkmale der Komplexionsthese, also die wesentliche Unterschiedenheit von Designation und Prädikation einerseits sowie ihre wesentliche Bezogen Koch, Versuch, 87. Koch, Versuch, 83.
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120 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie heit aufgrund ihrer Asymmetrie aufeinander andererseits. Denn sie vertritt den Mythos des Gegebenen und behauptet einen logischen und ontologischen Atomismus. Dieser besagt, dass Designator und Prädikator einer einzigen ontologischen Grundkategorie angehören. Beides sind Entitäten, bei denen veritatives und existentiales Sein zusammenfallen. Diese ontologischen Atome kann man „Ursachverhalte“ nennen. Es dürfte deutlich sein, dass die Theorie der Ursachverhalte in analytischer Sprache die ontologische Variante von Heideggers Verabsolutierung der Wahrheit als Unverborgenheit und damit die ontologische Variante der revolutionären Lesart Heideggers darstellt.43 Genauer: 44 In der Geschichte der Philosophie tauchen Ursachverhalte einerseits als sensorische Ursachverhalte bei den Empiristen und Atomisten auf: als „Sinneseindrücke“ bei Hume, als die „Sinnesdaten“ Russells,45 die wir durch Bekanntschaft kennen, oder als die „Gegenstände“ des frühen Wittgensteins, die wir mit Namen bezeichnen.46 Andererseits begegnen sie uns als intelligible Ursachverhalte etwa in der 43 Koch setzt sich noch ausführlich mit einer zweiten Alternative zur Komplexionsthese auseinander, dem vornehmlich von David Lewis vertretenen Sachverhaltsrealismus. Da der Sachverhaltsrealismus für den weiteren Gang des Buches nur ganz am Rande relevant ist (siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.2.1.), sei er hier nur kurz erwähnt. Er besagt, dass nicht nur dem Designator, sondern dem ganzen Sachverhalt (der ganzen Proposition) existentiales Sein zukommt. Er geht somit davon aus, dass ganze Sachverhalte und damit auch Möglichkeiten real sind; letztere sind nur eben nicht. Damit unterläuft der Sachverhaltsrealismus auch die Asymmetrie zwischen Designation und Prädikation und damit das komplexe an der Komplexionsthese. Dass ganze Sachverhalte existieren ist näherhin so vorzustellen, dass der einen Hälfte von ihnen veritatives Sein zukommt, der anderen Hälfte von ihnen – die, zu der Sätze wie „Theaitetos fliegt“ gehört –, veritatives Nichtsein. Irrtum kommt dadurch zustande, dass wir einen existierenden Sachverhalt als veritativ seiend ansehen, dem in Wahrheit veritatives Nichtsein zukommt. Letztlich scheitert der Sachverhaltsrealismus daran, dass Sachverhalte von uns faktisch so flexibel gehandhabt werden, dass es irgendeiner Variante des Komplexionsmodells bedarf, um dieser Flexibilität gerecht zu werden. Genau besehen nimmt übrigens auch der Sachverhaltsrealismus eine Komplexionsthese in Anspruch, die er allerdings nicht explizit macht (siehe dazu Koch, Versuch, 85 f.). Denn er erklärt den Irrtum so, dass er einen existierenden Sachverhalt als veritativ seiend ansieht, auch wenn ihr in Wahrheit veritatives Nichtsein zukommt; und in diesem propositionalen als taucht die Komplexion wieder auf. Die propositionale Struktur des Sachverhaltes macht damit in ausgezeichneter Weise deutlich, dass dem Sachverhalt nicht als Ganzem reale Existenz zukommt, sondern dass er so etwas wie die Projektion der Struktur der Aussage auf die Realität ist (siehe dazu auch Wahrheit, 37). 44 Siehe Koch, Versuch, 105–115. 45 Siehe Koch, Versuch, 91–99. 46 Koch, Versuch, 86–90.
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Form der Ideen Platons und evtl. auch in der absoluten Idee Hegels. Die grundlegende Bestimmung eines Ursachverhalts liegt darin, dass er ein vollständiger Gehalt des Wahrnehmens und somit in sich verständlich ist. Zugleich ist er wie ein Einzelding nicht propositional gegliedert: „Ursachverhalte sind vorpropositionale vollständige Gehalte des Wahrnehmens.“47 Die Möglichkeit des Irrtums ist nur dann denkbar, wenn ein Sachverhalt propositional gegliedert ist, wenn also etwas als etwas behauptet wird, etwa Theaitetos als fliegend. Ursachverhalte sind in ihrer Unmittelbarkeit nicht propositional gegliedert. Damit aber entfällt bezüglich ihrer auch die Möglichkeit des Irrtums. Genau das macht sie für viele Theoretiker so attraktiv: Sie sollen als dasjenige irrtumsimmun gewusste Fundament dienen, auf dem eine gut begründete Theorie aufgebaut werden kann. Indem bezüglich ihrer die Möglichkeit des Irrtums entfällt, sind sie aber auch in einem eigenen Sinne wahr. Indem bei Ursachverhalten die Möglichkeit des Irrtums nicht gegeben ist, ist auch die Möglichkeit der Falschheit nicht gegeben. Entsprechend sind Ursachverhalte (und nur diese) in einem nicht-kontrastiven und damit in einem einwertigen Sinne wahr. Daher kann die Gewissheit, die man gegenüber Ursachverhalten hat, als logische Gewissheit gefasst werden und nicht bloß als diejenige faktische Gewissheit, die wir gegenüber solchen Sachverhalten haben, bei denen ein Irrtum zumindest denkbar ist. Somit gilt: „Wenn ein Ursachverhalt erfaßt wird [. . .], so wird er mit logischer Gewißheit gewusst.“48 Da die logische Gewissheit aus genannten Gründen nur bei Ursachverhalten auftreten kann, gilt zugleich auch, dass „ein Sachverhalt ein Ursachverhalt ist, wenn er mit logischer Gewißheit gewußt wird.“49 Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen, so sind Ursachverhalte in ontologischer Hinsicht durch ihre Einfachheit und damit durch den Zusammenfall von veritativem und existentialem Sein gekennzeichnet, in logischer Hinsicht durch ihre einwertige Wahrheit und in epistemologischer dadurch, dass sie mit logischer Gewissheit gewusst werden. Indem die Möglichkeit des Irrtums entfällt und wir um die Ursachverhalte mit logischer Gewissheit wissen, gilt, dass ein Ursachverhalt besteht, wenn er erfasst wird. Es gilt sogar auch die Umkehrung des Satzes: Wenn Ursachverhalte bestehen, dann werden sie erfasst, sie sind also Koch, Versuch, 106. Koch, Versuch, 109. 49 Koch, Versuch, 109. 47
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122 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie selbstbekundend: „Ihr veritativ-existentiales Sein (esse) ist ihr Wahrgenommenwerden (percipi).“50 Diese Umkehrung wurde nicht nur von den Theoretikern der Ursachverhalte in der Geschichte der Philosophie behauptet, sondern sie ist auch aus systematischen Gründen zu verteidigen. Denn wäre das nicht der Fall – würde es also nicht zu ihrem Wesen gehören, erfasst zu werden –, so würde es wieder dem Zufall anheim gegeben werden, ob sie in ihrem Wesen erfasst werden, wenn sie erfasst werden. Damit aber wäre die Möglichkeit des Irrtums wieder eingeführt, die doch bei ihnen gerade ausgeschlossen ist. Mit der Möglichkeit des Irrtums in Bezug auf sie verlieren die Ursachverhalte somit auch ihre Objektivität. Das aber heißt, dass so, wie schon ihr Begriff der Wahrheit auf eigene Art gefasst werden musste, auch ihr Begriff der Selbständigkeit auf eigene Art gefasst werden muss. Anders als Sachverhalte, die ja ihre Existenz nicht an ihnen selbst, sondern an den Gegenständen haben, die die Stelle des logischen Subjekts im Urteil einnehmen, haben Ursachverhalte ihr Bestehen gleichsam an ihnen selbst. Sie bestehen in demjenigen logischen Raum der Ursachverhalte, der als Ganzer jeweils erkannt wird. Wie Koch als These zusammenfasst: „Das Sein – ungeschiedenes Bestehen und Existieren – eines Ursachverhaltes ist seine Anwesenheit im logischen Raum der Ursachverhalte. Im logischen Raum der Ursachverhalte gibt es kein verborgenes Sein“,51 kein Sein also, das nicht wahrgenommen wird. Zugleich sagten wir, dass bei den Ursachverhalten mit der Möglichkeit des Irrtums auch die uns von Sachverhalten geläufige Form der Objektivität und Selbständigkeit wegfällt. Entsprechend kann nur derjenige von ihnen wissen, der sie gerade wahrnimmt, anders formuliert: sie sind logisch privat. Bei genauerem Hinsehen erweist sich die eben angedeutete Theorie der Ursachverhalte aber als intern inkonsistent. Denn da es im logischen Raum der Ursachverhalte kein verborgenes Sein gibt und sie daher sozusagen den logischen Raum jeweils ganz ausfüllen, geht das Subjekt jeweils ganz im Wahrnehmen eines Ursachverhaltes auf. Damit aber kann das Subjekt den Ursachverhalt nicht mehr in einem qualifizierten Sinne erkennen, anders gesagt: Er kann keine Theorie über es aufbauen. Denn dafür müsste das Subjekt von mehreren Ursachverhalten wissen, und genau das ist aus folgendem Grund selbstwidersprüchlich. Um von mehreren Ursachverhalten zu wissen, muss sich das Subjekt von jedem einzel Koch, Versuch, 110. Koch, Versuch, 112.
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nen unterscheiden können und den einen Ursachverhalt weiterhin als fortbestehend denken, während er den nächsten wahrnimmt. Wird die Vielheit der Ursachverhalte dabei als sukzessive Reihe gedacht, so muss man annehmen, dass man einen Ursachverhalt auch dann noch erfassen und in die Theorie integrieren kann, wenn er nicht mehr besteht. Das aber widerspricht der oben erreichten Einsicht, dass ein Ursachverhalt besteht, wenn er erfasst wird. Wird die Vielheit der Ursachverhalte hingegen als synchron bestehende Vielheit gedacht, so muss man annehmen, dass ein Ursachverhalt auch dann weiter besteht, wenn bereits der nächste (und damit nicht mehr der Ursachverhalt, von dem gerade die Rede war) erfasst und in die Theorie integriert werden kann. Das aber widerspricht der oben erreichten Einsicht, dass ein Ursachverhalt erfasst wird, sobald er besteht. Unsere Theorie der Ursachverhalte kann somit nicht erklären, wie eine Theorie der Ursachverhalte überhaupt denkbar ist. Sie ist intern inkonsistent, und zwar genau aufgrund ihres Gegenstandes, des Ursachverhalts. Es gibt keine Ursachverhalte.52 Aufgrund des Scheiterns der Theorie der Ursachverhalte kann die Komplexionsthese als bestätigt gelten. Koch fasst das in einer These so zusammen: „Aus dem realistischen Aspekt der Wahrheit bzw. aus unserer Fehlbarkeit im Urteilen folgt, dass die Funktionsdifferenz von Designation und Prädikation unhintergehbar ist.“53 Der nun folgende Teil wird sich der Designation widmen (Zweites Kapitel, 2.2.2.), der darauf folgende der Prädikation (Zweites Kapitel, 2.2.3.). Es wird schnell deutlich werden, dass die Designation nur durch genaueres Nachdenken über den Leib aufzuhellen ist und die Prädikation nur durch genaueres Nachdenken über die Sprache. Von der Funktionsdifferenz von Designation und Prädikation aus kommen somit in ausgezeichneter Weise zwei der Großthemen des vorliegenden Buches in den Blick; zudem wird damit auch die Drei-Aspekten-Theorie der Wahr52 Es sei allerdings im Vorausblick angemerkt, dass so etwas wie ein virtueller Ursachverhalt sehr wohl anzusetzen ist. Wir begegnen diesem virtuellen Ursachverhalt in der Raumzeit als Ganzer (siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.2.), und sie wird als dasjenige „Mir Scheinen“ auftreten, das alle meine geistigen Akte begleitet. In Bezug auf dieses „Mir Scheinen“ bin ich zudem irrtumsimmun, so dass mit ihm so etwas wie logische Gewissheit einhergeht, die gegen die noch ungelöste Frage der Skepsis angeführt werden wird und entsprechend für das Faktum der Wahrheit von großer Bedeutung ist (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.3.3.4.). Auf diese Weise wird es auch möglich sein, Heideggers Einsicht in die Wahrheit als Unverborgenheit in ein umfassenderes Verständnis der Wahrheit zu integrieren. 53 Koch, Versuch, 90.
124 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie heit vollumfänglich thematisierbar, und die Dinge können weiter qualifiziert werden. Denken wir aber zuerst der Designation genauer nach.
2.2.2. Leib, Subjekt und Ding: Designation und Orientierungsfragen 2.2.2.1. Empirische Voraussetzungen der Bezugnahme und das Problem der Kennzeichnungen Der Differenz, die auf der semantischen Ebene als die Funktionsdifferenz zwischen Designation und Prädikation sichtbar wurde, entspricht auf der ontologischen Ebene die Differenz zwischen Einzelnem und Allgemeinem. „Theaitetos“ ist ein Einzelnes, das „Sitzen“ hingegen ist ein Allgemeines.54 Nun gibt es eine wichtige Differenz zwischen der Art, wie ein Einzelnes als Aussagethema in ein Urteil eingeführt wird, und der Art, wie ein Allgemeines in ein Urteil eingeführt wird. Um ein Allgemeines in ein Urteil einzuführen, muss ich nur den jeweiligen Begriff kennen, von dem hier die Rede ist: Ich muss also allgemein wissen, was unter „Sitzen“ zu verstehen ist. Bei der Einführung des Einzelnen hingegen sind empirische Voraussetzungen zu machen, zumindest bei denjenigen „mustergültigen Einzelnen“,55 die Einzelne in Raum und Zeit sind.56 Um das mustergültige Einzelne in ein Urteil einzuführen, sind empirische Voraussetzungen vonnöten: Ich muss irgendwelche empirischen Tatsachen vom Einzelnen kennen, welche ihn individuieren; ich muss also so etwas sagen können wie: „Theaitetos – das ist der Gesprächspartner des eleatischen Gastes da drüben in der Ecke.“57 Siehe zum Folgenden Koch, Versuch, 91. Koch, Wahrheit, 51. 56 Mit der Einführung von mustergültigen Einzelnen ist auf das Problem reagiert, dass wir Einzelnen geradezu überall begegnen, wenn wir über etwas sprechen: Zahlen und Mengen können ebenso Einzelnes sein wie Eigenschaften und Sachverhalte. Damit aber scheint es unmöglich zu sein, gehaltvolle Aussagen über Einzelnes zu treffen. Um diese doch zu erreichen, seien einige Einzelne als mustergültige Einzelne bestimmt, die das Muster für die anderen Einzelnen abgeben, und als diese bieten sich die Einzelnen in Raum und Zeit an. Letztlich liegt das daran, dass mustergültige Einzelne ein Prinzip der vorbegrifflichen Mannigfaltigkeit brauchen, als welches wir das Raum-Zeit-System vorfinden werden (siehe dazu Zweits Kapitel, 2.2.2.2. und Koch, Versuch, 336.). Nach dem Muster raumzeitlicher Dinge können dann weitere Kategorien von Einzelnen eingeführt werden. 57 Siehe Koch, Versuch, 91. 54 55
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Wie aber beziehe ich mich auf dasjenige Einzelne, das empirisch gekannt werden muss, damit ihm etwas prädiziert werden kann, so dass ein wahres Urteil gelingen kann? Sprachliche Ausdrücke, die sich auf etwas beziehen, also Designatoren, werden als Termini oder als Terme bezeichnet. Singuläre Termini beziehen sich auf einen Gegenstand, auf Einzelnes, und kommen somit meist dem grammatischen Subjekt eines Satzes zu; generelle Termini beziehen sich auf mehrere Gegenstände und kommen so meist dem grammatischen Prädikat eines Satzes zu. Einzelnes wird also durch singuläre Termini gekennzeichnet, von denen drei Arten unterschieden werden: Eigennamen (wie „Theaitetos“), Kennzeichnungen, also Beschreibungen (wie „der Gesprächspartner des eleatischen Gastes“), und Indikatoren (wie „da drüben“, „heute“, „ich“). Im Folgenden soll kurz gezeigt werden, dass Eigennamen parasitär gegenüber Kennzeichnungen sind, und dass Kennzeichnungen wesentlich mit Indikatoren verbunden sind. Eigennamen sind parasitär gegenüber Kennzeichnungen, denn eine Bezugnahme qua Eigennamen ist ganz unmittelbar. Wäre sie dabei grundständig, so würden wir uns wieder in der Welt der Ursachverhalte bewegen. Da diese Welt der Ursachverhalte nicht existiert, ist die Bezugnahme qua Eigennahme abhängig von anderen Formen der Bezugnahme. Dies müssen Formen sein, die die Bezugnahme auch angesichts des „Abstands“ zwischen dem Bezugsobjekt und dem Bezugnehmenden und der damit mitgegebenen Irrtumsmöglichkeiten öffentlich nachvollziehbar bewerkstelligen. Damit ist bereits angedeutet, dass die Kennzeichnung der ausgezeichnete Kandidat für eine erfolgreiche Bezugnahme darstellt. Nur wenn ich mich durch Kennzeichnungen auf ein Einzelnes beziehen kann, kann ich ihn dann auch auf einen Eigennamen „taufen“. Allerdings stellt sich hier ein Problem: Kennzeichnungen sind als Beschreibungen zu fassen, dienen aber zugleich dem Ziel, eindeutige Bezugnahmen zu ermöglichen. Dazu aber können Kennzeichnungen nicht nur reine Beschreibungen sein, da Beschreibungen sich immer auf mehrere Objekte beziehen können. Beschreibe ich mein Bezugsobjekt also nur anhand der Beschreibung, dass es „der Gesprächspartner des eleatischen Gastes“ ist, so ist das Objekt noch nicht eindeutig identifiziert, da der eleatische Gast ja möglicherweise mehrere Gesprächspartner hat. Füge ich dieser Beschreibung eine weitere Beschreibung hinzu („na, der Gesprächspartner mit dem Pferdegebiss“), so ist das Problem immer noch nicht gelöst, da auch dies eine Quelle weiterer Nachfrage sein kann („also, die Griechen haben doch alle merkwürdige Zähne“). Gelöst wird die Uneindeutigkeit
126 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie der Beschreibung erst durch die Zuhilfenahme von Indikatoren wie „jetzt“ und „da“. Indikatoren stoppen den Regress der Beschreibungen („Na, es ist derjenige Gast, der jetzt gerade da vorne sitzt“. – „Ach so, ja, jetzt weiß ich, wen Du meinst. Richtig, der hat tatsächlich merkwürdige Zähne.“ – „So ist es. Und diesen wollen wir Theaitetos nennen.“).58 Zweierlei sei festgehalten: Die erfolgreiche Bezugnahme auf Einzelnes setzt erstens voraus, dass es dieses Einzelne empirisch gibt, und das heißt auch, dass es nicht erst durch meiner Bezugnahme auf es konstituiert wird. Zweitens setzt die erfolgreiche Bezugnahme auf Einzelnes voraus, dass die Kennzeichnung, die ich dafür verwende, wesentlich mit Indikatoren verbunden ist. Damit aber sind zwei Anlässe dafür benannt, die bisher namhaft gemachten empirischen Voraussetzungen der Bezugnahme um apriorische Voraussetzungen der Bezugnahme zu erweitern: Denn dass es Einzelnes nicht erst durch meine Bezugnahme gibt, heißt, dass es ein apriorisches Prinzip der Generierung von Mannigfaltigkeit geben muss (als das sich die Raumzeit, vor allem aber der Raum herausstellen wird, siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.2.); und dass ich Indikatoren verwenden kann, setzt voraus, dass ich diese immer schon verwenden kann (siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.3.). Beide Dimensionen seien kurz entwickelt.
2.2.2.2. Die Raumzeit als vorbegriffliches Prinzip der Mannigfaltigkeit Die unhintergehbare Funktionsdifferenz von Designation und Prädikation hatte sich auf ontologischer Ebene als die von Einzelnem und Allgemeinem dargestellt. Dabei unterstellt jede Prädikation (die ja je etwas als etwas bestimmt) zweierlei: erstens, dass die Einzelnen, die als etwas bestimmt werden, nicht erst im Akt des Bestimmens konstituiert werden, und zweitens, dass es möglicherweise mehrere Einzelne gibt, die in einer genauer zu klärenden Weise identisch sind, so dass sie in der Prädikation unter den jeweiligen Allgemeinbegriff fallen können. Nur so kann man
Genaueres Nachdenken ergibt, dass Indikatoren von Begriffswörtern nicht vollständig zu trennen sind, da in einigen Indikatoren je Beschreibungen mit anklingen: so ist der Indikator „heute“ ohne den Begriff des Tages nicht aussagekräftig. Der Einfachheit halber aber sei es bei dieser Anmerkung belassen, siehe dazu Koch, Versuch, 126. 58
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sinnvoller Weise sagen: „Dies Haus hier und das Haus da drüben sind beides Hochhäuser.“59 Unsere Urteilspraxis unterstellt auch, dass es potentiell viele Einzelne gibt, die unter einen Allgemeinbegriff fallen können. Damit das möglich ist, muss zwischen numerischer und qualitativer Identität unterschieden werden können. Qualitativ identisch sind zwei Entitäten, die unter denselben Allgemeinbegriff fallen („dieses Haus“ und „jenes Haus“ sind qualitativ identisch, da ja „beides Hochhäuser“ sind). Als qualitativ identische sind zwei Entitäten aber gerade numerisch verschieden, sind es doch zwei Entitäten (nämlich „dieses Haus“ und „jenes Haus“). So wird deutlich, dass nur solche Entitäten unter denselben Allgemeinbegriff fallen können, die qualitativ identisch, aber numerisch verschieden sind. Damit aber zwischen numerischer und qualitativer Identität unterschieden werden kann, braucht es ein Prinzip, das die Unterscheidung beider erlaubt. Da die durch diese Unterscheidung erreichte Mannigfaltigkeit von unserer Urteilspraxis je schon in Anspruch genommen wird, muss die Mannigfaltigkeit vorbegrifflich gegeben sein, so dass das gesuchte Prinzip somit das einer vorbegrifflichen Mannigfaltigkeit ist. Offensichtlich stellen Raum und Zeit das gesuchte Prinzip vorbegrifflicher Mannigfaltigkeit dar. Raum und Zeit erlauben, zwischen qualitativ identischen Entitäten numerisch zu unterscheiden (die beiden Häuser sind zwar jeweils Hochhäuser, also qualitativ identisch, aber weil das eine hier steht und das andere da, beide also im Raum verteilt sind, ist es möglich, sie trotz ihrer qualitativen Identität numerisch zu unterscheiden (siehe zu den sich hierbei weiter stellenden Problemen unten Zweites Kapitel, 2.2.2.6.)). Somit generieren Raum und Zeit diejenige vorbegriffliche Mannigfaltigkeit qualitativ identischer und numerisch verschiedener Einzelner, die unser Begriffsgebrauch je schon voraussetzt, wenn Siehe zum Folgenden Koch, Versuch, 116–118 und 321. Würden die Einzelnen erst im Akt des Bestimmens konstituiert werden, so wären sie keine Objekte, sondern bloß unsere subjektiven Setzungen. In Bezug auf solche Setzungen aber könnten wir uns wiederum nicht irren; damit aber könnte unsere Rede in Bezug auf sie nicht mehr den Anspruch erheben, wahr (oder möglicherweise falsch) zu sein. Zugleich gilt selbstredend, dass die Individuation Einzelner zwar als relativ unabhängig von den Konstitutionsleistungen des bestimmenden Subjekts festzuhalten ist, nicht aber als ganz unabhängig davon. Vielmehr sind in allen Wahrnehmungszuständen jeweils schon diskursive Fähigkeiten aktiviert, da nur dadurch deutlich wird, wo ein Einzelnes aufhört und ein anderes anfängt. Es sind somit in allen Wahrnehmungszuständen generelle Termini der individuativen Art aktiviert, also Termini wie „Mensch“ oder „Haus“. 59
128 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie er mehrere Einzelne unter einen Allgemeinbegriff fallen lässt. So wie der Begriff das Prinzip der Einheit seiner Einzelfälle ist, ist die Raumzeit das Prinzip derjenigen vorbegrifflichen Mannigfaltigkeit, die der Begriff dabei je in Anspruch nimmt. Die Raumzeit ist aber nicht die einzige Voraussetzung, die wir in unserem Begriffsgebrauch je schon, also a priori, voraussetzen. Dazu gehört auch unsere Fähigkeit, uns auf das Einzelne zu beziehen. Da wir sahen, dass die Bezugnahme auf Einzelnes auch durch Indikatoren geschieht, ist genauer zu klären, was Indikatoren leisten. Von dort aus ist zu bedenken, was alles in Anspruch genommen wird, damit wir Indikatoren benutzen können. Nach diesen transzendentalphilosophischen Fragen wenden wir uns in gleichsam phänomenologischer Perspektive der Frage zu, ob und wie dasjenige denn auch gegeben ist, das das Subjekt dazu befähigt, dasjenige in Anspruch zu nehmen, was es braucht, um die Indikatoren zu benutzen. Die ersten beiden Fragen werden im Rahmen der Weiterentwicklung einer Theorie der Voraussetzung a priori der Bezugnahme (TVA) geklärt (Zweites Kapitel, 2.2.2.3.), während die zweite Frage das Subjekt als leibliches Wesen in den Blick nimmt (Zweites Kapitel, 2.2.2.4.).
2.2.2.3. Eine Theorie a priori der Bezugnahme (TVA) Dass wir Indikatoren brauchen, um uns auf Einzelnes zu beziehen, wissen wir bereits; allerdings haben wir es bisher unterlassen, eine wichtige Differenz in der Funktion von Indikatoren namhaft zu machen. Zum einen begegnen uns die einzelnen Indikatoren fast nie bloß als einzelne, sondern als Momente eines umfassenden Verweisungs- oder Koordinatensystems von Indikatoren: Die Leute in dem Haus da drüben, das rechts von dem großen Baum steht, der sich vor dem Fenster befindet, hatten gestern bereits die Heizung an etc. Damit dieses Koordinatensystem funktioniert – damit durch es tatsächlich Einzelnes individuiert werden kann – muss das Koordinatensystem der Indikatoren jedoch zum anderen noch in einem objektiv-physikalischen Bezugsrahmen verankert werden. Dazu aber muss ein physikalischer Punkt ursprünglich gekennzeichnet werden, der dann als Anker- oder als Nullpunkt des Koordinatensystems fungieren kann. Von diesem physikalisch fixierbaren Nullpunkt aus kann dann das umfassende Koordinatensystem der Indikatoren aufgebaut werden; von ihm aus also werden die Achsen des Koordinatensystems aufgebaut. Wie aber wird ein solcher Nullpunkt
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gekennzeichnet? Hier kommt die zweite Funktion einiger Indikatoren in den Blick: Die Bezugnahme auf den Nullpunkt des Koordinaten systems aller Indikatoren wird selbst wiederum durch bestimmte Indikatoren geleistet, und zwar durch die Indikatoren „ich“, „jetzt“ und „hier“. Einige Indikatoren kommen somit in doppelter Funktion in den Blick: als referentielle Ausdrücke innerhalb des Koordinatensystems von Indikatoren und als Ausdruck der Bezugnahme auf den Nullpunkt dieses Koordinatensystems, der das Koordinatensystem in dem objektiv-physikalischen Bezugsrahmen verortet und von dem aus die Achsen des Koordinatensystems ausgehen. Diese Indikatoren sind dem Koordinatensystem somit immanent als Indikatoren unter Indikatoren und transzendent als Ankerindikatoren des Koordinatensystems. 60 Damit ist gesagt, dass der Nullpunkt des Koordinatensystems das jeweilige Subjekt ist und somit nicht in anderen Entitäten besteht, welche auf den ersten Blick vielleicht näher liegende Kandidaten wären. Es wären dies zudem Entitäten, die es erlauben würden, das Koordinatensystem nicht durch Indikatoren, sondern rein deskriptiv, durch Beschreibungen, im Bezugsrahmen zu verorten. Die alternativen Kandidaten für den Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren sind zum einen die reine Struktur der Raumzeit, zum anderen Dinge in der Raumzeit. 61 Die reine Struktur der Raumzeit kann jedoch nicht den geforderten Nullpunkt liefern, da sie ohne Füllung flach und leer ist und jeder Punkt ununterscheidbarer Doppelgänger von jedem anderen Punkt ist. Doch auch einzelne Dinge als die Füllungen der Raumzeit sind keine geeigneten Kandidaten für die Verankerung des Koordinatensystems. Zwar könnte man etwa einen Baum als Nullpunkt wählen und durch Beschreibung ein Koordinatensystem aufbauen: Das, was auf der einen Seite des Baumes ist, das Haus, sei rechts von ihm etc. Allerdings lassen sich leicht Duplikationsszenarien denken, die die Grenzen dieses Ansatzes deutlich machen. Angenommen, unser Universum kontrahiert und expandiert alle 12 Milliarden Jahre in genau symmetrischer Weise, so dass die Geschichte des Universums die Geschichte der ewigen Wiederkehr des Gleichen wäre: Dann könnte man nicht rein deskriptiv einen Baum im Universum von seinem Doppelgänger 12 Milliarden Jahre später unterscheiden. Nullpunkte aber sollen in allen möglichen Welten funktioniert. Daher kann weder die reine Struktur der Raumzeit noch ein Ding in ihr Siehe Koch, Versuch, 120 f.127. Siehe Koch, Versuch, 123 f.
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130 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie als Nullpunkt fungieren. Vielmehr fungiert das jeweilige Subjekt als dieser Nullpunkt (siehe dazu in ontologischer Perspektive Zweites Kapitel, 2.2.2.6.). Um nicht erneut in die bekannten Regresse der Beschreibungen zu gelangen, verankert das Subjekt das Koordinatensystem der Indikatoren bei sich nicht durch Beschreibungen, sondern wiederum mithilfe von Indikatoren. Das sei genauer bedacht. Indem das Koordinatensystem in dem jeweiligen Subjekt als Nullpunkt verankert wird, wird es unter den Ekstasen der Zeit gerade in der Gegenwart verankert; es ist insofern nunkzentrisch. Als zeitlicher Ankerindikator fungiert entsprechend der Indikator „jetzt“. Das ist insofern trivial, als die Gegenwart die einzige Ekstase der Zeit ist, die perzeptuell wahrnehmbar ist. Zugleich wird das Koordinatensystem im jeweiligen Subjekt verankert; es ist insofern egozentrisch. Als räumlicher Ankerindikator dient somit der Indikator „ich“ (der den Indikator „hier“ spezifiziert). 62 Das ist insofern nicht trivial, als dem Subjekt andere Entitäten kopräsent sind, die als Alternativkandidaten in Frage kämen. Bedenkt man das Gesagte weiter, indem man sich auf das Subjekt konzentriert, so nähert man sich einigen für das vorliegende Buch wichtigen Einsichten, kommt doch das Subjekt als Einheit von Geist und Körper und damit als Leib in den Blick. Denn ich kann nur dann der Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren sein – derjenige Punkt also, an dem das Koordinatensystem raumzeitlich verankert wird –, wenn ich selbst raumzeitlich existiere. Wäre ich reine res cogitans, nicht wesentlich res extensa, so könnte das Koordinatensystem der Indikatoren nicht verankert werden. Dann aber wäre Bezugnahme auf das mustergültige Einzelnes nicht eindeutig leistbar und somit nicht gewährleistet, dass ich überhaupt gehaltvolle Aussagen treffen könnte. Unsere Urteilspraxis unterstellt somit unabdingbarer Weise uns als körperliche Wesen. 63 Zugleich muss ich je davon wissen, dass ich derjenige Körper bin, der der Nullpunkt des Koordinatensystems ist. Denn im Raum sind ja jeweils mehrere Körper kopräsent; um also meinen Körper als Nullpunkt ansetzen zu können, muss ich mich als Körper unter Körpern wissen und ich muss zugleich davon wissen, dass gerade ich es als dieses körperliche Wesen bin, der mit dem Indikator „ich“ gemeint ist. Wie ist mir dieses Wissen gegeben? Es ist ein Wissen, das mich mir gerade als Nullpunkt Siehe dazu Koch, Versuch, 125–133. Siehe Koch, Versuch, 129.
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des Koordinatensystems der Indikatoren bewusst machen soll und das mich damit für mich selbst in ursprünglicher Weise aus einer Reihe von Einzelnen herausheben soll. Daher kann es nicht durch Beschreibungen oder Indikatoren gewonnen werden, da diese doch je innerhalb eines erst zu verankernden Koordinatensystems auftreten. Wäre es auf indexikalische oder deskriptive Weise gegeben, so müssten die in Anspruch genommenen Indikatoren und Beschreibungen in einem weiteren Nullpunkt verankert werden usw., so dass es zu einem Regress käme. Das Wissen muss damit präindexikalisch und prädeskriptiv und damit a priori gegeben sein. Bei genauerem Zusehen erhellt, dass dasjenige apriorische Wissen, das vonnöten ist, damit das Subjekt Ankerpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren sein kann, zwei eng miteinander verbundene Leistungen zu bringen hat. Zum ersten ist der Nullpunkt des Koordinatensystems ein Körper unter Körpern, und das Subjekt muss a priori davon wissen, dass es selbst genau dieser Körper ist, den es mit dem Ankerindex „ich“ bezeichnet. Um Nullpunkt des Koordinatensystems sein zu können, muss das Subjekt somit einen doppelten epistemischen Zugang zu sich haben: Es muss (gleichsam von außen) sich wahrnehmen können als Körper unter Körpern, und es muss (gleichsam von innen) von diesem Körper als je seinem Körper wissen können. Zum zweiten lokalisiert sich das Subjekt selbst in Raum und Zeit unter Zuhilfenahme von Indikatoren und damit in der Weise des „ich bin jetzt hier“. Mit der Selbstlokalisation setzt es zugleich den Nullpunkt des ego- und nunkzentrischen Koordinatensystems der Indikatoren. Damit ist zugleich gegeben, dass auch die Selbstlokalisation a priori erfolgen muss, da sonst die im vorigen Absatz benannten Regressprobleme wieder auftauchen. Der Körper des Subjekts kann somit nur deshalb Nullpunkt des Koordinatensystems und Ausgangspunkt für dessen Achsen sein, weil das Subjekt ein a priori gegebenes Wissen um sich als diesen Körper hat und weil es sich selbst a priori lokalisieren und orientieren kann. Koch fasst das in seinen beiden Thesen zur Theorie der Voraussetzungen a priori der Bezugnahme (TVA) wie folgt zusammen: „(TVA-1) Ein Subjekt, das sich denkend und sprechend auf Einzelnes bezieht (um etwas von ihm zu prädizieren), weiß a priori (prädeskriptiv und präindexikalisch), dass es selbst ein räumliches Wesen im Zentrum eines egozentrisch vorgestellten dreidimensionalen Raumes und zu einer gegenwärtigen Zeit ist, die eine Stelle in einer linearen Zeit markiert. Das Subjekt lokalisiert sich a priori im Raum (‚Ich bin hier‘) und in der zeitlichen Gegenwart (primär nichtkon-
132 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie trastiv mittels des Tempus Präsens, in der Folge auch kontrastiv mittels zeitlicher Indikatoren wie ‚jetzt‘) und orientiert sich a priori in Raum und Zeit [. . .]. (TVA-2) Die Leistungen der Selbstlokalisation a priori und der Orientierung a priori kommen nicht für sich, als kognitive Leistungen eigenen Rechts, sondern nur als unselbständige Aspekte der deskriptiv und indexikalisch vermittelten Bezugnahme auf konkrete Einzeldinge vor, die ihrerseits ein unselbständiger Aspekt des Diskurses bzw. zuletzt der gesamten menschlichen Praxis ist.“64 Das Wissen um sich als diesen Körper sowie die Selbstlokalisation und die Orientierung sind die Aspekte desjenigen Wissens a priori, das anzusetzen ist, damit sich Bezugnahme auf Einzelnes und damit ein wahrheitsfähiges Urteil überhaupt vollziehen kann. Um das zu konkretisieren, sei im nächsten Schritt die bisher angewandte Methode erweitert: Neben transzendentalphilosophischen kommen auch phänomenologische Überlegungen zum Zug. „Die Methode der Ersten Philosophie als einer theoretischen Reflexion auf das Faktum der Wahrheit besteht im Zusammenspiel von transzendentaler Argumentation und argumentierender Phänomenologie. In jener werden Bedingungen der Möglichkeit des Faktums namhaft gemacht; in dieser wird möglichst unabhängig gezeigt, dass und wie sie erfüllt sind.“65 Wie wir sehen werden, ist in dem engen Zusammenspiel von Wahrnehmung und Gefühl derjenige doppelte epistemische Zugang zu meinem Körper gegeben, der ihn als meinen Leib unter all den Körpern zu erkennen erlaubt.
2.2.2.4. Leiblichkeit als Bedingung der Möglichkeit der Bezugnahme In transzendentalphilosophischer Argumentation wurde geklärt, dass Urteile Bezugnahme auf Einzelnes unterstellen, Bezugnahme auf Einzelnes nicht ohne Indikatoren denkbar ist und die Indikatoren einen Ankerpunkt brauchen, der in dem Körper des urteilenden Subjekts besteht. Um als Ankerpunkt fungieren zu können, muss das Subjekt a priori seinen Körper unter vielen möglichen Körpern als seinen erkennen können. Es ist somit in transzendentalphilosophischer Hinsicht ein doppelter epistemischer Zugang zum Körper gefordert, da das Subjekt erstens seinen Körper als Körper unter Körpern erkennen können und Koch, Versuch, 139. Koch, Versuch, 599 f.
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zweitens von diesem Körper als von seinem wissen muss. Dieser doppelte epistemische Zugang ist noch etwas genauer zu qualifizieren. 66 So muss der doppelte epistemische Zugang tatsächlich der Zugang zu dem Selben sein. Er kann also nicht zwei Zugänge zu zwei verschiedenen Gattungen von Qualitäten des Körpers sein, da sonst die Selbstlokalisation im Raum mitsamt der dafür notwendigen Selbstbegrenzung (als Begrenzung des Selben: dieses Körpers) nicht vollzogen werden könnte. Zugleich dürfen die beiden Zugangsweisen des doppelten epistemischen Zugangs nicht miteinander konkurrieren, da dann die Wahrheit nur in einem von beiden zu finden und der doppelte auf einen einfachen Zugang reduzierbar wäre. Die beiden Zugangsweisen dürfen einander aber auch nicht einfach ergänzen, da sonst wiederum zwei verschiedene Zugänge zu verschiedenen Bereichen vorlägen. Daher muss es möglich sein, die beiden Zugänge bereits in philosophischer Begrifflichkeit, in Beziehung auf zwei Sinne von „epistemisch“, zu unterscheiden. Das sind die Forderungen, die aus der apriorischen Selbstlokalisation für diejenigen empirischen Anwendungsbedingungen erhoben werden können, welche ihren konkreten Vollzug ermöglichen. Diese aus transzendentalphilosophischen Überlegungen gewonnenen Forderungen nach dem genauer qualifizierten doppelten epistemischen Zugang zum Körper als meinem Leib sehen wir im engen Zusammenspiel von Wahrnehmung (oder, wie Koch auch sagen wird, von Empfindung) und Gefühl erfüllt. Koch sieht dieses Zusammenspiel bereits von Aristoteles und dann auch von Kant entdeckt und fasst es in folgender These zusammen: „Aristoteles-These über die Einheit von Wahrnehmung und Begehren: (a) Notwendigerweise ist jede Empfindung, d. h. jeder phänomenale qualitative Inhalt, der als Empfindung derjenige Aspekt der Wahrnehmung ist, der auf ein Objekt als dessen Qualität bezogen wird, etwa ein wahrgenommenes phänomenales Grün auf einer Wiese, verbunden mit einem mehr oder weniger intensiven Gefühl der Lust oder Unlust, und (b) notwendigerweise hat das Gefühl der Lust oder Unlust Einfluß auf den Willen.“67 Wir konzentrieren uns auf den ersten Teil der These, die besagt, dass es gerade nicht erlaubt ist, die Empfindungen der theoretischen Dimension unserer Sinnlichkeit zuzuschlagen, das Gefühl aber einer davon strikt getrennten praktischen Dimension. Dagegen spricht in phänome Siehe Koch, Versuch, 582. Koch, Versuch, 584.
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134 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie nologischer Perspektive, dass eine solche Trennung etwa dem Phänomen des Geruchs eines guten Weines nicht Rechnung trägt, da die Empfindung dieses Geruchs rein als solche angenehm ist. 68 Bisher wurde der enge Zusammenhang von Empfindung und Gefühl betont. Die in transzendentalphilosophischer Hinsicht darüber hinaus auch geforderte Differenzierung im Begriff des Epistemischen wird erlangt, wenn man sich vor Augen führt, dass die Umkehrung der Aristoteles-These nicht funktioniert. 69 Zwar ist es so, dass jede Empfindung ein Gefühl als seine subjektive Innenseite mit sich bringt. Die Umkehrung dessen aber kann nicht vertreten werden: Es ist nicht so, dass jedes Gefühl repräsentationale Wahrnehmungsinhalte als seine objektive Außenseite vorzuweisen hat. So kann beispielsweise der Schmerz zwar auf einen repräsentationalen Wahrnehmungsinhalt bezogen werden, etwa auf meine blutende Hand. Zugleich aber ist der Schmerz ein Seiendes sui generis, das nicht selbst so objektivierbar ist wie das Grün der Wiese. Damit zeigt sich, dass das Körpergefühl eine eigene Bezugsweise mit sich bringt, die nicht epistemisch im engen Sinne genannt werden kann, da sie sich nicht auf externe Objekte bezieht. Wohl aber ist sie epistemisch im weiteren Sinn, und für sie sei der Begriff des „kognitiven“ gebraucht. Damit ist das in transzendentalphilosophischer Perspektive geforderte apriorische Wissen phänomenologisch gegeben: Gesucht war ein doppelter epistemischer Zugang zum Selben, zu diesem Körper als meinem Leib, der so gegeben sein muss, dass beide Zugänge nicht miteinander konkurrieren oder sich in genannter Weise ergänzen würden. Da in der Empfindung jeweils ein Gefühl mitgegeben ist, das Gefühl aber in eigener Weise – als kognitives – epistemisch ist, liegen in Empfindung und Gefühl genau der geforderte doppelte epistemische Zugang zum 68 Siehe Koch, Versuch, 584. Zudem ist – nun wiederum in transzendentalphilosophischer Perspektive – darauf zu verweisen, dass sonst Wahrnehmung gar nicht denkbar wäre. Denn das Sich-Zeigen der Dinge wird von einem leiblichen Subjekt wahrgenommen. Damit die Wahrnehmung aber dem leiblichen Subjekt zugeschrieben werden kann, muss der Inhalt der Wahrnehmung schon von sich aus auf das leibliche Subjekt bezogen sein. Dieser Bezug realisiert sich als Gefühl der Lust oder Unlust, mit dem das Subjekt zugleich je seinen eigenen Leib fühlt (siehe Koch, Versuch, 586). Die hier bereits anklingende wesentliche Bezogenheit der Dinge auf das Subjekt, die nicht nur auf epistemologischer, sondern sogar auf ontologischer Ebene einschlägig ist und die uns bereits in der Einsicht begegnete, dass die Dinge an sich selbst Erscheinungen sind, wird im Rahmen der sogenannten „Subjektivitätsthese“ weiter expliziert werden (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.2.6.). 69 Siehe Koch, Versuch, 589 f.
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Leib vor. Zugleich ist deutlich, wie der doppelte epistemische Zugang es ermöglicht, dass ich unter all den Körpern um diesen als meinen Leib weiß. Mein Leib, den ich wie alle anderen Körper empfinden kann, ist unter all diesen Körpern genau derjenige, in dem ich Lust oder Unlust fühle, und er reicht soweit, wie der äußeren Wahrnehmung des Körpers ein inneres Körpergefühl entspricht.70 Die erreichten Einsichten implizieren selbstredend auch Bestimmungen, die die Zuordnung von Theorie und Praxis betreffen bzw. die Frage bedenken, in welchem Maße eine Transzendentalphilosophie von der praktischen Philosophie zu trennen oder mit dieser immer schon verbunden ist.71 Indem im Rahmen der TVA deutlich wird, dass es einen doppelten epistemischen Zugang geben muss und dass sich dieser doppelte Zugang so realisiert, dass jedes Empfinden von einem Gefühl der Lust oder Unlust begleitet wird, bestätigt Koch die enge Verbindung von Transzendentalphilosophie und praktischer Philosophie. Mit Heidegger und den Pragmatisten wird deutlich, dass es kein ganz un-engagiertes Anschauen von Dingen geben kann. Und indem das Gefühl als kognitiver Akt eigenen Rechts installiert wurde, ist in dem Vorherigen nicht nur gesagt, dass jede theoretische Anschauung auch praktische Elemente mit sich führt, sondern zudem, dass auch die Praxis selbst ihre eigene Form des Erkennens mit sich bringt. „Theorie und Praxis sind beide unmittelbar kognitiv, beide demnach auch unmittelbar auf Wahrheit bezogen.“72 Somit dürfte deutlich geworden sein, in welch starkem Maße transzendentalphilosophische Überlegungen zum Faktum der Wahrheit auf das Thema des Leibes hinführen. Wahrheit, Leib und Raum sind wesentlich miteinander verbunden. Um an einige wesentliche Argumentationsschritte dieses Teils der Arbeit zu erinnern: Wir sind je in die Praxis verwickelt, und zu unserer Praxis gehört die Urteilspraxis. In unserer Urteilspraxis erheben wir Wahrheitsansprüche, welche die Möglichkeit des Irrtums implizieren. Die Irrtumsmöglichkeit wird ist nur denkbar aufgrund der radikalen Asymmetrie zwischen logischem Subjekt und logischem Prädikat im Urteil. Die Asymmetrie bringt es mit sich, dass wir uns für unsere Urteilspraxis treffsicher auf das logische Subjekt beziehen können müssen. Die Bezugnahme auf das logische Subjekt als Siehe dazu Koch, Versuch, 599, und Koch, Wahrheit, 49. Siehe Koch, Versuch, 569–571.587.590 f. 72 Koch, Versuch, 591. 70 71
136 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie das, was in mustergültiger Form ontologisch als empirisches Einzelnes auftritt, hat empirische Voraussetzungen, aber auch Voraussetzungen a priori. Eine wesentliche Voraussetzung a priori liegt in der Raumzeit als dem Prinzip derjenigen Mannigfaltigkeit, die wir für unsere Urteilspraxis je schon in Anspruch nehmen. Eine andere Voraussetzung kommt in den Blick, wenn daran erinnert wird, dass wir für unsere Bezugnahme auf Einzelnes nicht nur auf Kennzeichnungen, sondern auch auf Indikatoren zurückgreifen müssen. Der kompetente Umgang mit Indikatoren als Voraussetzung der Urteilspraxis aber impliziert selbst apriorisches Wissen. So müssen die Indikatoren, die gemeinsam ein informelles Koordinatensystem bilden, in einem Nullpunkt in der realen Raumzeit verortet werden, und als dieser Nullpunkt steht alternativlos der Körper des Subjekts zur Verfügung. Zu diesem Körper muss es einen doppelten epistemischen Zugang geben, um den Körper als meinen Leib identifizieren zu können, welcher dann der Nullpunkt des Koordinatensystems ist. Der doppelte epistemische Zugang konnte phänomenologisch als Empfindung und Gefühl identifiziert werden. Somit zeigt sich, dass unsere Urteilspraxis nicht nur von einer Reihe von apriorischen Voraussetzungen abhängt, darunter apriorische Formen des Wissens, sondern dass sie auch nur möglich ist, weil wir leibliche Wesen in Raum und Zeit sind, leibliche Wesen, die mit Empfinden und Gefühl ausgestattet ist. Eine konsequente Erste Philosophie erkennt, dass dem Faktum der Wahrheit nur nachgedacht werden kann, wenn das Subjekt als leibliches Wesen in den Blick kommt; kommt aber der Leib in den Blick, so wird deutlich, dass Theorie und Praxis sich auf vielfältige Weise kreuzen.73 Diese Verbindung werden wir in der Drei-AspektenTheorie der Wahrheit, die im dritten Aspekt die normativ-pragmatische Dimension mit bedenkt, ebenso wieder finden (siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.2.3.1.) wie in dem Dreistufengebrauch des Ichs, der das transzendentale Ich, das personale, das die Innenwahrnehmung vollzieht, und das Ich als Körper unter Körpern wesentlich miteinander verbindet (siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.3.).
73 Das bedeutet nicht, dass die in transzendentalphilosophischer Perspektive namhaft gemachten Leistungen des Subjekts vollständig in Beschreibungen aus der Perspektive praktischer Philosophie oder in rein leibphänomenologische Beschreibungen überführbar wären. Entsprechend wurde für das vorliegende Buch auch Koch und nicht ein leibphänomenologischer Autor als philosophischer Referenzautor gewählt.
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Bisher wurde erforscht, in welch starkem Maße unserer Selbstlokalisation und Orientierung in der Raumzeit mit unserer Leiblichkeit verbunden ist. Nun kommt in den Blick, dass wir uns mit unserem Leib dabei jeweils in einer Ganzheitsdimension bewegen.
2.2.2.5. Der virtuelle Ursachverhalt der Raumzeit: Eine Ganzheitsdimension Unsere Überlegungen zu den apriorischen Voraussetzungen der Bezugnahme auf Einzelnes ergaben, dass die Raumzeit als Prinzip vorbegrifflicher Mannigfaltigkeit eine der apriorischen Bedingungen der Möglichkeiten des Begriffsgebrauchs ist. Nun müssen wir die Raumzeit aber nicht nur als Prinzip ansetzen, sondern wir müssen auch über eine Erkenntnis der Raumzeit verfügen: Denn um unsere Selbstlokalisation und Orientierung im Raum vollziehen zu können, müssen wir eine Erkenntnis dessen haben, worin wir uns lokalisieren. Diese Erkenntnis muss auch wiederum apriorisch sein, da sie ja unsere Urteilspraxis allererst ermöglicht.74 Im Folgenden sei zuerst geklärt, was unter der Raumzeit zu verstehen ist, dann, welche Form der Erkenntnis wir von ihr haben, und schließlich, was damit des Weiteren für unsere Urteilspraxis gewonnen ist. Die allgemeine Relativitätstheorie lehrt uns, dass die Raumzeit durch die Dinge in ihr gekrümmt wird und dass die Raumzeit somit als nichteuklidische Raumzeit real ist. Die Raumzeit als Prinzip vorbegrifflicher Mannigfaltigkeit und als dasjenige, wovon wir in unserer apriorischen Selbstlokalisation je wissen, ist aber gerade nicht gefüllt mit bestimmten Dingen. Sie ist somit die euklidische Raumzeit. Als solche kann sie nie wirklich werden, da jede reale Raumzeit mit Dingen angefüllt und damit nichteuklidisch ist. Sie ist aber die neutrale oder virtuelle Grundstellung der realen Raumzeit, die somit den idealen Grenzfall der realen Raumzeit darstellt.75 Dennoch ist sie nicht nichts: Vielmehr stellt sie so etwas wie einen virtuellen Ursachverhalt dar. Ursachverhalte, so sahen wir, sind selbstwidersprüchlich (siehe Zweites Kapitel, 2.2.1.4.), und auch von der Grundstellung der Raumzeit wurde soeben gesagt, dass sie keine mögliche Welt ist. Als virtueller Ursachverhalt aber hält er eine unabdingbare Ganzheitsdimension präsent und ist Fluchtpunkt des Siehe zum Folgenden Koch, Versuch, 352–364, und Koch, Wahrheit, 73–78. Siehe Koch, Versuch, 355.
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138 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie epistemischen Verschmelzens von Subjekt und Objekt. Bevor wir das genauer ansehen, sei erwähnt, dass uns der virtuelle Ursachverhalt der euklidischen Raumzeit durch Imagination, oder – mit Kant geredet – in reiner Anschauung zugänglich ist. Die Imagination stellt keine Sonderleistung des Subjekts dar, auf die das Subjekt nur in Ausnahmefällen zurückgreift; vielmehr ist sie bei jedem Erkenntnisakt aktiviert. So ist die Imagination auch bereits in jede empirische Anschauung hinein verwoben, da wir andernfalls einen Ball nicht als eine runde Entität, sondern nur als einen flachen Kreis sähen. Erst durch die Imagination sehen wir die Dinge, wie wir sie sehen, und durch die Imagination ist in jeder Anschauung immer schon menschliche Aktivität hineingekommen. Zugleich gibt es aber auch Imagination, die nicht an empirische Anschauung gebunden ist, etwa die Imagination des virtuellen Ursacheverhalts der euklidischen Raumzeit. Diesen können wir dann in unserer Imagination mit vorgestellten Objekten füllen (die als vorgestellte ja keine Krümmungen verursachen) und so z. B. die Rechenoperationen der euklidischen Geometrie vollziehen.76 Doch der virtuelle Ursachverhalt der euklidischen Raumzeit ist nicht nur in reiner Anschauung als solcher zugänglich. Vielmehr begleitet die reine Anschauung der ganzen Raumzeit auch jeweils unsere empirische Anschauung, so dass diese jeweils in einen Ganzheitshorizont eingebettet ist.77 Hier sei zuerst aber darauf verwiesen, dass die Einbettung des Einzelnen in den Ganzheitshorizont eine weitere wichtige Funktion erfüllt, werden doch so allererst generelle Sätze verständlich. Die Imagination der Grundstellung der Raumzeit ist für die Semantik genereller Sätze unentbehrlich.78 Denn um einen Satz zu verstehen, braucht es eine Anschauung dessen, wovon die Rede ist. Unsere bisherigen Überlegungen gingen von singulären Sätzen mit partikularen Einzelnen aus, weil angenommen wurde, dass nur partikulare Einzelne diejenigen Einzelnen sind, die als mustergültige gelten können. Die zum Verständnis singu76 Zur Funktion der nichteuklidischen Raumzeit für die Mathematik siehe Koch, Versuch, 357–360. 77 Indem im vorigen Abschnitt auf die mit dem virtuellen Ursachverhalt gegebene enge Verbindung des Subjekts mit der ganzen Raumzeit und hier auf die enge Verbindung des Einzelnen mit der ganzen Raumzeit hingewiesen wurde, deutet sich bereits hier an, was im übernächsten Absatz als umfassendes Wechselverhältnis namhaft gemacht werden wird. 78 Siehe Koch, Versuch, 361–364.
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lärer Sätze notwendige Anschauung liegt in der empirischen Anschauung vor. Nun gibt es für generelle Sätze selbstredend nicht so etwas wie eine „generelle Anschauung“ all der Dinge, von denen eine Aussage getroffen wird, da eine Anschauung immer ein Einzelnes zum Gegenstand hat. Aber generelle Aussagen über unsere mustergültigen Einzelnen können als singuläre Aussagen über das ganze Raumzeitsystem gefasst werden, da sich das Universum des Diskurses für unsere mustergültigen Einzelnen so weit erstreckt wie die ganze Raumzeit. So gilt: „Wer sagt: ‚Alles ist F‘, der sagt: ‚Das Raum-Zeit-System enthält nur Objekte, die F sind.“79 Von diesem ganzen Raumzeitsystem haben wir ja eine reine Anschauung, und entsprechend wissen wir aufgrund dieser auch, wovon wir in generellen Sätzen über unsere mustergültigen Einzelnen reden. Daher ist die uns a priori gegebene reine Anschauung der Raumzeit für das Verständnis genereller Sätze unentbehrlich.
2.2.2.6. Die Subjektivitätsthese Die bisherigen erstphilosophischen Überlegungen zur Subjektivität gerade auch in transzendentalphilosophischer Perspektive haben gezeigt, dass die Urteilspraxis des Subjekts leiblich verortet ist und zugleich von einer Ganzheitsdimension begleitet wird, die uns in der reinen Anschauung der Raumzeit als solche zugänglich ist. In gewisser Hinsicht explizieren die nun folgenden Überlegungen diese Ganzheitsdimension, indem sie die wesentliche Verbindung der Dinge mit dem Subjekt und des Subjekts mit den Dingen und zugleich die wesentliche Verbindung der Subjekte untereinander erforschen. Die Verbindung der Dinge mit dem Subjekt kennen wir bereits von der Überlegung her, dass Dinge Erscheinungen sind (siehe Zweites Kapitel, 2.2.1.1.), und die Verbindung der Subjekte untereinander wird durch die wesentliche Sprachlichkeit unserer Vernunfttätigkeit weiter expliziert. Beide Dimensionen kommen nun aber auch durch eine eigenständige Überlegung in den Blick. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist wiederum die Raumzeit, die uns vor ein unabweisbares Problem stellt, das wir bisher einfach ignorierten. 80 Die Raumzeit, so sahen wir (siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.2.), ist für unsere Urteilspraxis notwendig, da sie als das Prinzip derjenigen vorbegrifflichen Mannigfaltigkeit fungiert, die wir für unseren Begriffsge Koch, Wahrheit, 77. Siehe zum Folgenden Koch, Versuch, 313–337, und Koch, Wahrheit, 118–123.
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140 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie brauch je schon in Anspruch nehmen müssen. Als Prinzip vorbegrifflicher Mannigfaltigkeit aber fungiert sie, indem sie zwischen numerischer und qualitativer Identität zu unterscheiden erlaubt: zwei Häuser können qualitativ gleich sein, da sie etwa beide Hochhäuser sind, und dennoch ist es uns möglich, zwischen ihnen zu unterscheiden, da sich das eine hier im Raum befindet und das andere dort drüben. Bei genauerem Zusehen aber liegt hier ein Problem vor, da damit Problemwelten möglich werden. Unter einer „Problemwelt“ sei eine Welt verstanden, die in der Zeit unendliche Wiederholungen nach zwei Seiten oder im Raum universale Symmetrien und somit Duplikationsszenarien aufweisen. 81 Somit wäre ein Universum, in dem es nichts als eine unendliche Reihe von qualitativ identischen Metallkugeln in gleichem Abstand gäbe, eine Problemwelt, oder ein Universum, in dem unsere Geschichte sich unendlich oft auf genau dieselbe Weise wiederholen würde (wir trafen auf dieses Problem bereits in Zweites Kapitel, 2.2.2.1.). Das Problem an einer Problemwelt ist, dass es so scheint, als ob keine Gründe dafür angebbar seien, die Dinge in ihnen voneinander zu unterscheiden: In einem Universum, in dem sich unsere Geschichte unendlich oft auf genau dieselbe Weise wiederholt, gibt es keine Möglichkeit, durch Deskription den einen Baum von dem anderen Baum 12 Milliarden Jahre später zu unterscheiden. Damit aber ist gegen das „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“82 verstoßen. Es ist ein allgemeingültiger Satz der Logik zweiter Stufe83 und besagt, dass es grundlose Verschiedenheit nicht geben kann. Anders ausgedrückt: Numerisch verschiedene Entitäten müssen sich in irgendeiner qualitativen Hinsicht voneinander unterscheiden, um als verschiedene Entitäten gelten zu können. Wäre das nicht der Fall, so würden die Begriffe der Identität, der Verschiedenheit und der Zahl bedeutungslos werden und damit unser gesamter Begriffsgebrauch zusammenbrechen. Denn gäbe es numerisch verschiedene, die ohne angebbare qualitative Bestimmung – gleichsam nur, weil sie numerisch verschieden sind – voneinander divergieren würden, so wüsste ich nie, ob nicht die Entität, mit der ich es gerade zu tun habe, in Wahrheit 12 oder 245 Entitäten sind: evtl. sitze ich gerade nicht auf einem, sondern auf 16 Stühlen und schreibe auf 86 Tastaturen (mit wie vielen Fingern?). Die Begriffe der Identität, der Verschiedenheit und der Zahl würden bedeutungslos Siehe Koch, Versuch, 313, und Koch, Wahrheit, 119. Koch, Versuch, 314, und siehe Koch, Wahrheit, 120. 83 Siehe Koch, Versuch, 314. 81
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werden und mit ihnen unser ganzes Begriffssystem (oder: unsere 34 Begriffssysteme). Nimmt man die Einsichten der letzten beiden Absätze zusammen, so scheint sich allerdings ein gravierendes Problem zu ergeben, da die letzten beiden Absätze zusammengenommen zu einer Antinomie zu führen scheinen, also zu einer Konjunktion zweier kontradiktorisch entgegengesetzter Sätze, die dennoch beide unabdingbar sind. So ist es einerseits unabdingbar, dass numerisch verschiedene Entitäten sich auch qualitativ unterscheiden, um nicht unseren Begriffsgebrauch zusammenbrechen zu lassen. Andererseits setzt unser Begriffsgebrauch unabdingbar voraus, dass Problemwelten möglich sind. Denn er setzt das durch die Raumzeit generierte vorbegriffliche Mannigfaltige voraus, welches qualitativ identisch und dennoch numerisch verschieden ist und erst auf diese Weise unter dieselben Allgemeinbegriffe fallen kann. Mit den Problemwelten scheint eine solch geartete Unterscheidung von numerischer und qualitativer Identität einherzugehen, die gegen das Prinzip der Identität der Ununterscheidbaren verstößt. Es scheint somit, dass dasjenige, was unser Begriffsgebrauch voraussetzt – die Unterscheidung von numerischer und qualitativer Identität in der vorbegrifflichen Mannigfaltigkeit – zugleich dasjenige ist, was unseren Begriffsgebrauch aufgrund des Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren verunmöglicht. Eine auf den ersten Blick nahe liegende Option, der Antinomie zu entkommen, besteht darin, den jeweiligen Entitäten singuläre Eigenschaften oder haecceitas zuzuschreiben: Das eine vorbegriffliche Mannigfaltige unterscheidet sich dann von dem anderen dadurch, dass es eben dieses Mannigfaltige ist. Es dürfte aber deutlich sein, dass dann, wenn das Eine sich nur dadurch von dem Anderen unterscheidet, dass es eben es selbst ist, wiederum gegen das Prinzip der Identität der Ununterscheidbaren verstoßen wird.84 Die überzeugende Auflösung der Antinomie besteht in der Subjektivitätsthese. Sie besagt, dass unser Begriffsgebrauch in der Tat voraussetzt, dass das Prinzip der Identität der Ununterscheidbaren ebenso gewahrt wird wie die Annahme von Problemwelten. Sie entkommt der drohenden Antinomie dadurch, dass sie Problemwelten so weiter entwickelt, dass diese nicht gegen das Prinzip der Identität der Ununterscheidbaren verstoßen. Bereits bei der TVA wurde dem Problem der Problemwelten 84 Siehe Koch, Versuch, 323 f.; weitere unzulängliche Optionen werden dargestellt auf Koch, Versuch, 323–330.
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dadurch begegnet, dass die numerischen Entitäten einer Problemwelt sich durch ihren indexikalischen Bezug auf das betrachtende Subjekt voneinander unterscheiden lassen: Ich kann mich auf eine einzelne schwarze Metallkugel aus einer unendlichen Reihe von Metallkugeln beziehen, weil sie diejenige ist, die jetzt vor mir liegt. Damit wurde in epistemologischer Hinsicht die Unverzichtbarkeit der Indikatoren betont. Die Subjektivitätsthese schreibt die Unverzichtbarkeit der Indikatoren nun in ontologischer Hinsicht fest. Das bedeutet für die Dinge, dass ihnen ihre Indexikalität, also ihr Bezug auf uns, wesentlich – ontologisch – eingeschrieben ist.85 Und es bedeutet für die Subjekte, dass es notwendig ist, dass es eines von ihm oder seinesgleichen in der Raumzeit geben muss. „Subjektivitätsthese: Ein materielles Raum-Zeit-System ist nur möglich, wenn irgendwo und irgendwann in ihm mindestens ein raumzeitliches Subjekt (‚je ich‘) existiert, das sich denkend und wahrnehmend auf Einzeldinge bezieht.“86 Die Subjektivitätsthese ist ebenso naheliegend wie kühn. Sie ist zum einen naheliegend, da sie dasjenige, was man nur ignorieren kann, wenn man einen pragmatischen Widerspruch begehen will – die Existenz einer Subjektivität in Zeit und Raum – für den Theoriegebrauch ernst nimmt und als notwendig festschreibt. 87 Sie ist zum anderen naheliegend, da sie nur dasjenige in ontologischer Hinsicht festschreibt, was in epistemologischer bereits geklärt ist, nämlich die Unverzichtbarkeit der Indikatoren. Zugleich ist sie kühn, da sie die Subjektivität in Zeit und Raum, die selbstredend je als einzelne kontingent ist, zu einem notwendigen Faktor erklärt, und das ist zumindest dann, wenn die Kontingenz der Subjekte nicht einer weiteren Reflexion zugeführt wird, eine problematische Annahme, die eigens zu diskutieren ist (siehe Zweites Kapitel, 3.1.2.). 88 Deutlich ist jedenfalls bereits, dass mit der Subjektivitätsthese an dem Mit der Terminologie, die wir in Zweites Kapitel, 2.2.1.1. entwickelten: Es zeigt sich erneut, dass die Dinge Erscheinungen sind (unter Zweites Kapitel, 2.2.3.1. wird deutlich, dass das dem Sich-Zeigen der Dinge und damit dem ersten Wahrheitsaspekt der Drei-Aspekten-Theorie zugeordnet werden kann). 86 Koch, Versuch, 330. 87 Siehe Koch, Versuch, 331.337. 88 In ihrer Kühnheit ist sie auch in theologischer Perspektive einerseits als problematisch und andererseits als hoch anschlussfähig einzuschätzen: Sie ist problematisch, da sich fragen ließe, ob damit nicht der Mensch zum Schöpfer der Welt eingesetzt wird. Zugleich ist sie anschlussfähig, da wir auch bei Luther die Betonung finden werden, dass die Welt auf den Menschen hin angelegt ist (siehe dazu unten, Drittes Kapitel, 2.2.2.). 85
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Prinzip der Identität der Ununterscheidbaren festgehalten werden kann und dennoch Problemwelten zugelassen werden können. Denn die numerisch verschiedenen Entitäten in einer Problemwelt unterscheiden sich auch dann, wenn sie unter dieselben Allgemeinbegriffe fallen, qualitativ voneinander, nämlich durch die ihnen ontologisch zukommenden Indikatoren: Die Metallkugel hier und die Metallkugel da drüben unterscheiden sich eben dadurch, dass die eine von mir aus gesehen hier ist und die andere da drüben.
2.2.2.7. Die relationale Ontologie der Wechselverhältnisse Die Subjektivitätsthese kann durch vier Thesen weiter entfaltet werden, die unmittelbar mit ihr einhergehen: „Korollar (1a), Personalitätsthese in epistemologischer Akzentuierung: Subjektivität weiß sich jeweils selbst a priori als körperliches und zeitliches Wesen, d. h. als Person. Korollar (1b), Personalitätsthese in ontologischer Akzentuierung: Notwendigerweise ist Subjektivität verkörpert als Person unter potentiell vielen Personen. Korollar (2a), Perspektivitätsthese in epistemologischer Akzentuierung: Die Dinge sind in letzter Analyse nur je perspektivisch erkennbar, und die verschiedenen Perspektiven lassen sich nicht restlos ineinander transformieren und nicht in einer neutralen Gesamtsicht zusammenfassen oder überbieten. Eine vollständige Beschreibung des Realen ist daher unmöglich, nicht nur, weil sie unendlich, sondern weil sie inkonsistent wäre. Korollar (2b), Perspektivitätsthese in ontologischer Akzentuierung: Die Dinge sind an ihnen selber Erscheinungen in folgendem Sinn des Wortes: Sie sind essentiell auf raumzeitlich verkörperte Subjektivität bezogen, ohne auf subjektive Zustände reduzierbar zu sein. (Ihr Subjektbezug gehört ihrem objektiven Ansichsein an.)“89 Die beiden Personalitätsthesen leuchten unmittelbar ein: Wenn die Indikatoren ontologischen Rang erhalten, so muss es ein Subjekt geben, auf das sie verweisen. Um aber als Ankerpunkt der Indikatoren dienen zu können, muss die Subjektivität raumzeitlich verortet und damit ein leibliches Wesen sein, also verkörpert als Person unter potentiell vielen Personen. Zudem muss sie, um mit den Indikatoren kompetent agieren zu können, von sich als leiblicher Person wissen. Die Personalitätsthesen kennen wir zudem bereits aus der TVA (Zweites Kapitel, 2.2.2.3.) und erweisen die TVA als Teilbereich der Subjektivitätsthese. Koch, Versuch, 331 f.
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144 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Die Perspektivitätsthese wendet sich den Dingen zu und besagt in ontologischer Akzentuierung, dass die Dinge Erscheinungen sind in dem Verständnis von Erscheinung, dass wir bereits eingangs der Überlegungen zu den Implikationen unserer Urteilspraxis näher bestimmten: dass es wesentlich auf Subjektivität bezogen ist, ohne allerdings von mir hier jetzt erst geschaffen zu werden (siehe Zweites Kapitel, 2.2.1.1.).90 Die Subjektivitätsthese und ihre Korollarthesen präsentieren damit grundlegende ontologische Festlegungen, die für das vorliegende Buch von großer Wichtigkeit sind. Denn sie machen deutlich, dass die Wirklichkeit nur in einer relationalen Ontologie angemessen erfasst werden kann. Eine relationale Ontologie kann durch die Explikation von insgesamt fünf Wechselverhältnissen genauer charakterisiert werden.91 Ein Wechselverhältnis kann definiert werden als „wechselseitige wesentliche Abhängigkeit zwischen verschiedenen Gliedern.“92 Damit können Entitäten, die in einem Wechselverhältnis stehen, durch Aspekte bestimmt werden, die sonst Akzidenzien und Substanzen getrennt voneinander zukommen. Mit Akzidenzien teilen die Entitäten, die in einem Wechselverhältnis stehen, dass sie sie selbst sind nur in Beziehung auf ein Anderes und dass sie diesem Anderen somit inhärent sind. Mit Substanzen teilen sie, dass sie dennoch (relativ) selbständig existieren, dass sie also subsistieren. „Ein Wechselverhältnis nun kann man sich, paradox gesprochen, vorstellen als die wechselseitige Inhärenz Subsistierender.“93 Die Entitäten sind somit solche Relate, denen die Relationen zu anderen 90 Diese Zuordnung von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen könnte in zwei Richtungen hin genauer bestimmt werden. Zum einen legt die Subjektivitätsthese fest, dass nicht nur einige Dinge Erscheinungen sind und andere nicht. Sie widerspricht der These, dass es neben den Phainomena auch noch Noumena geben würde, Dinge also, die nicht wesentlich auf Subjektivität bezogen wäre, also Dinge an sich (als Sachbegriff). Vielmehr sind alle Dinge Erscheinungen, so dass es sich erneut als sinnvoll erweist, alle Dinge als raumzeitliche Dinge oder nach deren Muster zu konzipieren. Zum anderen ist zu betonen, was bereits einmal betont wurde (siehe Zweites Kapitel, 2.2.1.1.) und was auch die Perspektivitätsthese in epistemologischer Akzentuierung betont: An den Erscheinungen lässt sich nicht dasjenige, was sich verbirgt, von dem isolieren, was sich zeigt. Das bedeutet, dass eine solche Beschreibung, die a-perspektivisch ansetzt und damit versucht, eine vollständige Beschreibung der Dinge vorzulegen – eine solche Beschreibung also, die an den Dingen nichts mehr verborgen sein lassen will – prinzipiell nicht möglich ist. Im folgenden Abschnitt werden wir dieses Thema mit der These der Unabschließbarkeit der Physik genauer bedenken (siehe Zweites Kapitel, 2.2.8.). 91 Siehe Koch, Versuch, 367–372. 92 Koch, Versuch, 367. 93 Koch, Versuch, 367.
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Relaten wesentlich sind, ohne dass ihr Relatsein in ihre Relation hinein aufgelöst wird. Dabei ist derjenige Aspekt, kraft dessen sie wesentlich aufeinander bezogen sind, nicht von demjenigen Aspekt, kraft dessen sie dennoch relativ selbständig sind, zu trennen. Weder das Relat noch die Relation können getrennt voneinander einer eindeutigen Beschreibung zugeführt werden. Das bedeutet einerseits, dass, „obwohl die Glieder in ihrem Wechselverhältnis nicht aufgehen und weder eines auf das andere noch auf das Verhältnis als ein Drittes reduzierbar sind, das, was sie jeweils darüber hinaus für sich besitzen, nicht als ein gegebenes Unmittelbares isolierbar [ist, M. W.].“94 Das bedeutet andererseits auch, dass die Glieder des Wechselverhältnisses in einer verborgenen, nicht in einer phänomenalen Identität zueinander stehen, wenn phänomenale Identitäten dadurch definiert sind, dass sie sich aufweisen und ausbuchstabieren lassen, und verborgene Identitäten dadurch, dass das nicht möglich ist.95 Zugleich wird damit auf umfassender ontologischer Ebene eine Ganzheitsdimension sichtbar, welche in epistemologischer Hinsicht bereits in Bezug auf die Raumzeit sichtbar wurde. Denn die verborgene Identität der Glieder eines Wechselverhältnisses bedeutet auch, dass sich die Glieder immer schon zu einem Ganzen zusammengefügt haben, aus dem heraus sie erst sind.96 Die Subjektivitätsthese und ihre Korrolarthesen erlaubt es nun, fünf Wechselverhältnisse namhaft zu machen. Die Dinge sind Erscheinungen und somit jeweils nur so, dass sie wesentlich auf Subjektivität bezogen ist. Zugleich ist auch die Subjektivität keine von ihrer Verkörperung ablösbare res cogitans, sondern steht in einem Verhältnis wesentlicher wechselseitiger Abhängigkeit zu den Dingen, also zum Raum-ZeitSystem. „Es besteht ein Wechselverhältnis zwischen der Subjektivität und dem materiellen Raum-Zeit-System: das subjektiv-objektive oder kognitive Wechselverhältnis.“97 Wie deutlich geworden sein dürfte, ist die Ausbuchstabierung dieses Wechselverhältnisses vor allem Aufgabe einer Ersten Philosophie. Das dabei in Anspruch genommene RaumZeit-System ist so verfasst, dass auch Raum und Zeit selbst in einem Wechselverhältnis stehen, in dem raumzeitlichen Wechselverhältnis. Die Notwendigkeit der Zuordnung von Raum und Zeit könnte erstphilosophisch genauer bestimmt werden, ohne dass das hier geschehen soll, da Koch, Versuch, 367. Siehe dazu Koch, Wahrheit, 84–86. 96 Siehe dazu auch Koch, Wahrheit, 84. 97 Koch, Versuch, 371. 94 95
146 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie das Thema der Zeit nicht im Zentrum dieses Buches steht. Es sei nur erwähnt, dass das raumzeitliche Wechselverhältnis in der speziellen Relativitätstheorie genauer erforscht wird. Die einzelnen Stellen der Raumzeit sind nur unterscheidbar, wenn darin Dinge und unter ihnen Personen verkörpert sind; zugleich sind Dinge und Personen eben jeweils das: verkörpert. Damit „besteht ein Wechselverhältnis zwischen dem Raum-Zeit-System und den realen Einzelnen: das materielle Wechselverhältnis“,98 welches die allgemeine Relativitätstheorie genauer bedenkt. Vermittelt durch die Raumzeit und durch die bezugnehmende Subjektivität stehen sogar alle Einzelnen untereinander in einem Wechselverhältnis, in dem allseitigen Wechselverhältnis, welche auf der Ebene der Teilchen in der Quantentheorie näher betrachtet wird. Aus der Subjektivitätsthese folgt zumindest die Möglichkeit anderer Personen, da ich je eine verkörperte Person bin und damit andere Körper prinzipiell Personen sein können. Der normativ-pragmatische Aspekt der Wahrheit wird sogar die Annahme der Notwendigkeit anderer Personen deutlich machen (siehe dazu unten Zweites Kapitel, 2.3.2.3.1.). Aus der Subjektivitätsthese folgt zudem, dass diese Personen, wenn es sie gibt, auch wiederum in einem Wechselverhältnis stehen müssen, in dem intersubjektiven, das in der praktischen Philosophie und den Sozialwissenschaften genauer bedacht wird. Koch entwickelt somit aus den Implikationen der Urteilspraxis die grundlegenden Kategorien einer umfassenden relationalen Ontologie.
2.2.2.8. Anomaler Monismus als Antinaturalismus und Antidualismus Die von der Subjektivitätsthese und den Überlegungen zu den Wechselverhältnissen erreichten Einsichten implizieren entscheidende Bestimmungen für das Großthema der Zuordnung von Geist und Materie. Denn wie sich gleich weiter zeigen wird, ist zum einen die Reduktion des Geistes auf die Materie und damit die Position des Naturalismus abgewehrt und zum anderen die Trennung von Geist und Materie in einem Dualismus. So liefert die Subjektivitätsthese durchschlagende Argumente gegen den Naturalismus. Der Naturalismus wurde oben mit dem Antirealismus und dem Skeptizismus zusammen als eine der drei großen Gegner einer Erstphilosophie als Wahrheitstheorie identifiziert (siehe Koch, Versuch, 371.
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Zweits Kapitel, 2.1.). In seiner Variante als Materialismus in der Philosophie des Geistes besagt er, dass sich Subjektivität vollständig auf objektive, empirische Sachverhalte reduzieren lässt,99 der Geist also letztlich nichts anderes ist als eine Vielfalt von Synapsen des Gehirns. In umfassender Perspektive meint er, dass die Naturwissenschaften die vollständige Erkenntnis des Realen leisten können.100 Bereits im Namen der „Theorie der Voraussetzung a priori der Bezugnahme“ (TVA) ist festgehalten, was diese Theorie für die Widerlegung des Naturalismus leistet: Indem sie die für jede Bezugnahme und damit die für jedes Urteil unabweisbar notwendigen apriorischen Elemente einer Theorie der Bezugnahme benennt, benennt sie diejenigen Dimensionen der Subjektivität, die sich nicht auf objektive, empirische Sachverhalte reduzieren lassen. Sie benennt damit zugleich diejenigen Elemente der Erkenntnis des Realen, die von den aposteriorisch arbeitenden Naturwissenschaften nicht in den Blick genommen werden können. Ein Urteil etwa des Inhalts, dass die Naturwissenschaften die vollständige Erkenntnis des Realen leisten kann, stellt somit einen pragmatischen Selbstwiderspruch dar, da es auf seiner Inhaltsebene dasjenige leugnet, was es in Anspruch nehmen muss, um überhaupt ein Urteil sein zu können. Die Subjektivitätsthese in ihrer voll entwickelten Form stellt nun aber einen noch stärkeren Angriff auf den Naturalismus dar: Denn sie besagt, dass wir nicht nur für unsere Erkenntnis der Dinge nicht-naturalisierbare Dimensionen in Anspruch nehmen müssen, sondern dass vielmehr die Dinge selbst mit nicht-naturalisierbaren Dimensionen – den Indikatoren und über diese schließlich mit dem Faktum der Wahrheit – ausgestattet sind. Das liegt daran, dass die Subjektivitätsthese die These vertritt, „dass die Bedingungen der Möglichkeit der Bezugnahme auf Einzelnes, wie TVA sie offen legt, zugleich Bedingungen der Möglichkeit dieser Einzelnen sind.“101 Somit impliziert die Subjektivitätsthese, dass man die Dinge selbst verfehlt, wenn man meint, sie mithilfe der Naturwissenschaften vollständig erkennen zu können, da die Naturwissenschaften das Faktum der Wahrheit ja nicht eigens thematisieren. Insofern wird hier die Position des klassischen Idealismus vertreten: „These des klassischen Idealismus: Was objektiv der Fall ist oder existiert, kann ceteris partibus unter Verwendung des Wahrheitsprädikates vollstän Siehe Koch, Wahrheit, 118. Siehe Koch, Versuch, 25 f., und Koch, Wahrheit, 86. 101 Koch, Versuch, 372. 99
100
148 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie diger beschrieben werden als ohne Verwendung des Wahrheitsprädikates.“102 Allerdings gilt es hier wiederum, einer anderen Gefahr zu begegnen und an eine Einsicht in die Wechselverhältnisse zu erinnern: Der aus der Subjektivitätsthese folgende Antinaturalismus bringt keineswegs einen solchen Dualismus von Geist und Materie mit sich, der meint, dass sich diejenige Dimension, die sich dem naturalistischen Zugriff entzieht, in einem Reich eigenen Rechts als Entität eigenen Rechts reifizieren ließe. Der Geist des Menschen stellt keine eigens isolierbare res cogitans dar, sondern das Subjekt ist wesentlich res extensa.103 In Bezug auf die Dinge selbst wurde ausreichend dargelegt, dass die Dinge an ihnen selbst Erscheinungen sind, so dass dasjenige, was sich an ihnen verbirgt, wesentlich verbunden ist mit demjenigen, was sich an ihnen zeigt. Dasjenige, was sich an ihnen verbirgt, ist somit nicht als eigene Entität – als eigenes Ding an sich (als Sachbegriff) – isolierbar; sonst wäre auch gegen das subjektiv-objektive Wechselverhältnis verstoßen. Auf die Physik bezogen bedeuten diese Überlegungen folgendes: Die Physik versteht sich als die Grundlagenwissenschaft der Naturwissenschaften, da sie den Anspruch hat, das Reale von Grund auf und umfassend darzustellen.104 Ihre Darstellung ist dadurch gekennzeichnet, dass sie die Wirklichkeit restlos zu objektivieren oder umfassend a-perspektivische zu beschreiben sucht.105 Die anti-dualistische Position, die hier vertreten wird, besagt, dass dem Reich der Physik kein Reich des Geistes zur Seite gestellt wird, welches einen Bereich des Realen bezeichnet, der das Reich der Physik von sich ausschließt. Die Annahme eines zweiten Reiches des Geistes (oder eines Reiches der Wunder oder eines der Kraft) zur Rechten des Reiches der Physik würde zudem grundlegenden physikalischen Gesetzen widersprechen, „denn weder die nomologische Geschlossenheit der Physik noch die physikalischen Erhaltungssätze hätten Bestand, wenn in der Wahrnehmung und im absichtlichen Handeln ein Energieaustausch zwischen einer subjektiv-geistigen und einer objek Koch, Versuch, 185. In Bezug auf die Subjektivität selbst werden wir später im Rahmen des Dreistufengebrauchs des Ichs (siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.3.2.) noch eine weitere Begründung für genau dieses erlangen, was wir aufgrund der bereits entwickelten wesentlichen Bezogenheit unserer apriorischen Fähigkeiten auf unseren Leib (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.2.4.) und des daraus folgenden subjektiv-objektiven Wechselverhältnisses ja bereits wissen. 104 Siehe Koch, Versuch, 338 f. 105 Siehe zu dieser Definition Koch, Versuch, 255. 102 103
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tiv-physikalischen Realität stattfände.“106 Der Physik sind somit alle Bereiche prinzipiell zugänglich, und ihr ist die unbegrenzte theoretische Objektivierung des Realen aufgegeben. Allerdings schlussfolgern wir aus der Subjektivitätsthese und gerade aus ihrem Korollar der Perspektivitätsthese in epistemologischer Akzentuierung, die doch besagt, dass „die Dinge in letzter Analyse je nur perspektivisch erkennbar sind“, dass die Physik die ihr aufgegebene Aufgabe einer vollständigen a-perspektivischen Beschreibung nie vollständig erfüllen wird. Das liegt nicht an der Fehlbarkeit des Menschen, sondern am Realen selbst, das so verfasst ist, dass es sich einer vollständigen Objektivierung oder einer vollständigen a-perspektivischen Beschreibung entzieht. Jede einzelne physikalische Theorie ist somit unvollständig, da das Reale nicht vollständig a-perspektivisch beschreibbar ist. Zugleich folgt ihr je eine weitere physikalische Theorie, die die je auftretende Anomalie integrieren kann, ehe bei ihr eine weitere Anomalie auftritt. Die Physik ist somit unabschließbar: „These der Unabschließbarkeit der Physik: Die Physik ist, und zwar aufgrund der Verfassung des Realen selber, eine unabschließbare Folge (ein potentiell unendlicher Progreß) von Nachfolgertheorien. Sie ist wesentlich physica militans, nie physica triumphans.“107 Anders gesagt: „Die restlose Objektivierung ist ein regulatives, kein konstitutives Prinzip der Physik.“108 Der angedeutete Antinaturalismus kommt mit dem angedeuteten Antidualismus (oder milden Physikalismus) in einer Position zusammen, die als „starker anomaler Monismus“ bezeichnet werden kann.109 Er ist durch folgende vier Festsetzungen definiert, die abschließend kurz kommentiert werden sollen: „Starker anomaler Monismus: (1) Mentale Vorgänge sind real (Realismus bezüglich des Mentalen). (2) Es gibt keine strengen psychologischen und psychophysischen Gesetze (Anoma Koch, Versuch, 253. Koch, Versuch, 255. 108 Koch, Versuch, 255. Nochmals anders gesagt, und nun in Nähe zur Position des frühen Heideggers: Die Physik kann den Reichtum der Lebenswelt, von der sie je dependiert, nie ganz ausschöpfen, ohne dass die Lebenswelt wiederum als eigenes, der Physik prinzipiell nicht zugängliches Reich isolierbar wäre (siehe dazu Koch, Wahrheit, 100). Oder, in Nähe zur Terminologie des späten Heideggers: Dass die Dinge Bestand sind, dependiert davon, dass sie grundlegend und in unausschöpflichem Reichtum unverborgen sind, auch wenn kein eigener Bereich der Unverborgenheit an den Dingen eigens isoliert werden kann, der nicht auch als Bestand gefasst werden kann. 109 Siehe Koch, Versuch, 337–342. 106 107
150 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie liethese). (3) Jeder Aspekt der Realität ist prinzipiell der physikalischen Theoriebildung zugänglich (Physikalismus bzw. Monismus). (4) Kein mentaler Vorgang ist mit einem physikalisch beschriebenen Vorgang identisch (Nichtidentitätsthese).“110 Der starke anomale Monismus folgt aus der Subjektivitätsthese, ihren verschiedenen Korollarthesen und aus einigen aus ihr folgenden Überlegungen: Auf den Physikalismus bzw. Monismus (also auf die These (3)) sind wir durch die Personalitätsthese gerade in ihrer ontologischen Akzentuierung verpflichtet, die uns wesentlich als verkörpertes Subjekt unter anderen verkörperten Dingen und Subjekten fasst. Zudem sahen wir, dass ansonsten grundlegende physikalische Gesetze wie die nomologische Geschlossenheit der Natur und der Energieerhaltungssatz außer Kraft gesetzt werden würden. Auf den Realismus bezüglich des Mentalen (als auf die These (1)) sind wir durch die Subjektivitätsthese festgelegt, die die Subjektivität gerade als unhintergehbar bestimmt. Zugleich fasst die Subjektivitätsthese die Subjektivität als etwas, das aufgrund seines apriorischen Wissens und Gebrauchs von Indikatoren nicht von derjenigen a-perspektivischen Beschreibungsweise der Physik eingeholt werden kann, welche allein strenge Gesetze erfasst. Damit ist die Anomaliethese (These 2) begründet. Die Anomalie ist ernst zu nehmen und gemeinsam mit der aus ihr folgenden Unabschließbarkeit der Physik zu bedenken. Dann erhellt, dass es keine abgeschlossene Grundlage der Physik gibt und geben kann, die allererst eine Einzelfallzuordnung eines jeweiligen mentalen Aktes mit einem jeweiligen physikalisch beschriebenen Vorgang vorzunehmen erlauben würde; vielmehr ist von einer Nichtidentitätsthese auszugehen (als These 4).
2.2.2.9. Ein einordnender Rückblick: Kochs Überlegungen zur Designation im Bezug auf Heidegger und Luther Damit ist der erste umfassende Gang der erstphilosophischen Überlegungen – derjenige zu Leib, Subjekt und Ding – an sein Ende gelangt. Ehe wir uns dem zweiten umfassenden Gang der erstphilosophischen Überlegungen zuwenden – demjenigen zu Wahrheit, Raum und Sprache –, sei zur besseren Orientierung die bisher erreiche Position mit einigen Schlagwörtern aus der Geschichte der Philosophie charakterisiert und damit zugleich mit den anderen Teilen des Buches verknüpft. In gene Koch, Versuch, 342.
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rellster Zuordnung kann die angedeutete Ontologie als eine relationale gefasst werden. Die Erstphilosophie mit transzendentalphilosophischer Prägung, die leicht im Verdacht steht, allein ein quasi-solipsistisches Geistwesen bedenken zu können, hat somit eine Ontologie entwickelt, die durch ein umfassendes System von Wechselverhältnissen geprägt ist. Diese Position einer relationalen Ontologie stimmt in ihren Grundzügen ganz mit den Grundzügen der Metaphysik überein, die Luther in seinen Abendmahlsschriften entwirft (siehe Drittes Kapitel, 2.). Etwas genauer: Indem die Subjektivitätsthese die Dinge als Erscheinungen charakterisiert, die wesentlich auf ein Subjekt bezogen sind, kann sie als transzendentaler Idealismus gefasst werden. Indem die Erscheinungen aber tatsächlich Objekte sind (und nicht durch meine Aktivität hier jetzt geschaffen werden), impliziert die Subjektivitätsthese auch einen empirischen Realismus, der gerade in den Personalitätsthesen zum Ausdruck kommt.111 Damit ist zugleich der metaphysische Realismus abgewehrt und ein starker erkenntnistheoretischer Realismus vertreten, der wie folgt gefasst werden kann: „Starker erkenntnistheoretischer Realismus: Alles im logischen Raum ist epistemisch zugänglich, aber nicht alles auf einmal; und nichts im logischen Raum geht auf in seiner epistemischen Zugänglichkeit.“112 Diese Position Kochs soll im Folgenden als Realidealismus benannt werden. In eigener Spielart begegnet uns dieser Realidealismus bereits bei Heidegger. Denn die Subjektivitätsthese betont, dass das Faktum der Wahrheit nur auftreten kann, wenn die Dinge sich zeigen, und sie betont, dass sie sich dabei zugleich auch verbergen. Damit liegt mit transzendentalphilosophischer Begründung eine Variante der Kritik des späten Heideggers an der Präsenzmetaphysik des technischen Zeitalters vor, die die Dinge als abstrakt verfügbaren Bestand ansieht. Kochs Realidealismus begegnet uns zudem bei Schelling wieder (siehe Zweites Kapitel, 3.3.3.). Er kann aber auch als Formulierung der Position Luthers verstanden werden. Denn Luther sieht die Dinge als Gaben an, und die Dinge als Gaben sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie im Sinne der Subjektivitätsthese auf den Menschen hin geschaffen sind, ohne von ihm selbst jetzt hier erschaffen zu werden (siehe Drittes Kapitel, 2.2.2.1.). Doch nicht nur die Verfasstheit der Dinge, auch die des Subjektes ist für das Buch als Ganzes in hohem Maße anschlussfähig. Denn zum Siehe Koch, Versuch, 333 f. Koch, Versuch, 336.
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152 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie einen wurde betont, dass der Mensch in jedem Urteil apriorisches Wissen aktiviert hat, so dass es gute Gründe dafür gibt, den Menschen nicht als vollständig naturalisierbares Wesen anzusehen. Zum anderen wurde betont, dass der Mensch nur dann Urteile äußern kann, wenn er selbst körperlich verortet und damit Leib ist. Mit der Betonung der Leiblichkeit des Menschen finden sich bei Koch nicht nur zentrale Motive gegenwärtiger Anthropologien gerade in ihrer Relevanz für die beschleunigte Spätmoderne wieder, sondern auch fundamentale Einsichten der Anthropologie und Christologie Luthers (siehe Drittes Kapitel, 2.2.2.2. und Drittes Kapitel, 2.2.4.). Um die Beobachtungen zu der Verfasstheit der Dinge und zu denen des Subjektes zusammenzunehmen, sei daran erinnert, dass Koch eine Position erreicht, die sowohl antinaturalistisch als auch antidualistisch ist. Der Geist und die Wahrheit können somit weder auf den Körper und das Materielle reduziert werden, noch können sie davon in einem Reich eigenen Rechts abgesondert werden. Diese Position entspricht nicht nur der reflexiven Lesart Heideggers sowie der von vielen gegenwärtigen Gegenbewegungen gegen die liquid modernity, welche den platonisierenden Grundzug der Spätmoderne zu widerstehen suchen (siehe Erstes Kapitel, 2.3.1.) Vielmehr entspricht sie auch demjenigen Verständnis grundlegender Züge der Metaphysik und der Heilsordnung, das Luther entwickelt und gegen seine innerreformatorischen Gegner (und besonders gegen Zwingli) verteidigt, die ebenfalls Geist und Körper voneinander getrennt wissen wollen (siehe Drittes Kapitel, 2.1.3.). Somit zeigt sich in methodischer Hinsicht, was in der Einleitung angedeutet wurde (siehe Zweites Kapitel, 1.): Koch entwickelt in entschiedener Orientierung an den sich stellenden Sachproblemen eine Position, die die Wahrheitsmomente verschiedener philosophischer Epochen und Schulen aufnimmt. Er zeigt von der verhandelten Sache her die innere Nähe dieser Positionen auf. Dabei nimmt er das Beste beider Welten auf: Er vollzieht transzendentalphilosophische Überlegungen und gewinnt damit die mit diesen einhergehende Begründungsstärke; zugleich erreicht er viele materiale Einsichten Heideggers (u. a.), die zugleich für die kategoriale Aufhellung der Theologie Luthers von Gewinn sind. Letzteres gilt in besonderem Maße für die nun folgenden Überlegungen. Denn indem sie nicht mehr die Designation, sondern die Prädikation in den Mittelpunkt stellen, präsentieren sie Überlegungen zum Wechselverhältnis von Theorie und Sprache. Die zentrale Bedeutung der Sprache für Theorie und Praxis wurde bereits als Einsicht Heideggers
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namhaft gemacht (siehe Erstes Kapitel, 1.4.) und wird sich zugleich in noch stärkerem Maße als Charakteristikum der Position Luthers herausstellen. Durch die Überlegungen zu diesem Wechselverhältnis werden die bisher erreichten Bestimmungen des Subjektes und der Dinge daher auf solche Weise näher qualifiziert, die die Nähe zu Überlegungen Luthers noch deutlicher machen; zudem kann dadurch auch der Gabe-Charakter der Wirklichkeit präziser vor Augen gestellt werden. Indem dabei zugleich die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit entwickelt wird, wird der kategoriale Kern des ganzen vorliegenden Buches vor Augen geführt.
2.2.3. Wahrheit, Raum und Sprache: Prädikation und Begründungsfragen 2.2.3.1. Die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit Im vorherigen Abschnitt (Zweites Kapitel, 2.2.2) wurde die Designation genauer bedacht und damit erforscht, in welch starkem Maße die Leiblichkeit des urteilenden Subjekts in die Urteilspraxis verwickelt ist und in welchem Maße die Dinge für das urteilende Subjekt geöffnet sind. Dabei wurde das subjektiv-objektive Wechselverhältnis als Ergebnis festgehalten und damit zugleich eine Position, die zwischen dem Geist-Körper-Dualismus auf der einen und dem Naturalismus auf der anderen Seite liegt. Im Folgenden wird die Prädikation genauer erforscht und damit ein weiteres Wechselverhältnis: das zwischen Theorie und Sprache. Anders gesagt: Bisher wurde zwar über Indikatoren reflektiert, ansonsten aber davon abstrahiert, dass wir und die Dinge selbst auf vielfältige Weise immer schon in Sprache verwickelt sind, wenn wir uns als leibliche Wesen auf die uns erscheinenden Dinge beziehen. Das nun genauer zu betrachtende Wechselverhältnis von Theorie und Sprache erforscht gerade diesen Aspekt. Dazu wird dieses Wechselverhältnis in Bezug auf die Kochs Wahrheitstheorie entwickelt. Sie liegt in der Form der Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit vor, die anschließend mit dem Begriff, dem Urteil und dem Schluss als den drei Momenten des Diskurses verbunden wird.113 113 Die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit ist deshalb für das vorliegende Buch von großer Bedeutung, weil mit ihr zentrale Fragestellungen des ersten und des drittens Teils des Buches zur Sprache kommen. So verweist sie zum einen zurück auf den ersten Teil des Buches und entwickelt eine Lösungsmöglichkeit für das dort entwi-
154 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Koch hält folgende These fest, die erst aufgeführt, dann kurz begründet und daraufhin näher expliziert werden soll. „Der Begriff der Wahrheit vereinigt drei begriffliche Momente: das anschaulich-präsentationale und das normativ-praktische Moment, die zusammen den kognitiven Aspekt der Wahrheit bilden, sowie das realistisch-repräsentationale Moment bzw. den realistischen Aspekt der Wahrheit.“114 Die drei Aspekte können wir mit demjenigen in Verbindung bringen und damit zu rechtfertigen beginnen, was im vorherigen Abschnitt über die Verfasstheit der Dinge entwickelt und begründet wurde (siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.). Im Erheben von Wahrheitsansprüchen gehen wir gerechtfertigter Weise davon aus, dass die Dinge Erscheinungen sind, die somit in dreifacher Hinsicht näher bestimmt sind. So sind die Dinge erstens keine Dinge an sich (als Sachbegriff), sondern solche, die sich uns zeigen. Zugleich aber werden die Dinge zweitens nicht durch unsere Wahrnehmung jetzt hier geschaffen, sondern es kommt ihnen Objektivität zu, da sie am Ding an sich (als Singularetantum) teilhaben. Zugleich können wir uns drittens daher in Bezug auf die Wahrnehmung dieses jeweiligen Dinges jetzt hier je auch irren. Dass die Dinge mir generell erscheinen und dass ich mich in Bezug auf sie gleichwohl jeweils irren kann, bezeichnet beides Dimensionen, die auf unterschiedliche Weise den Subjekt-Bezug der Wahrheit betonen. Entsprechend fasst Koch sie unter dem „kognitiven“ Aspekt der Wahrheit zusammen. Das Erscheinen der Dinge wird auf Seiten des Subjekts durch die Anschauung aufgenommen, so dass dieser Aspekt der Wahrheit der „anschaulich-präsentationale“ genannt wird; dieser Aspekt stellt den ersten Wahrheitsaspekt dar. Bei der Möglichkeit des Irrtums wiederum ist unsere Diskursivität in viel stärkerem Maße aktiv, und dieser „normativ-pragmatische“ Aspekt stellt den dritten Wahrheitsaspekt dar. Dass die Dinge gleichwohl nicht durch meine Aktivität hier jetzt geschaffen werden, sondern dass ihnen ckelte Problem der Zuordnung von Wahrheit und Vernunft, da sie als erstphilosophische Durchführung des argumentativen Kerns der reflexiven Lesart Heideggers verstanden werden kann. Zum anderen entwickelt sie die bisher vorgelegten Überlegungen zur Verfasstheit der Dinge und unseres Bezuges auf sie weiter, indem sie diese Bestimmungen mit der Sprache zusammen denkt. Die dabei erreichten Einsichten wie etwa die, dass die Dinge in prädikatlosem Dingdialekt zu uns sprechen, weisen voraus auf zentrale Einsichten Luthers und damit auf den dritten Teil des Buches. So wird sich zeigen, dass die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit nicht nur den harten kategorialen Kern von Kochs Überlegungen, sondern letztlich den des ganzen Buches darstellt. 114 Koch, Versuch, 156.
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Objektivität zukommt, bezeichnet die Dimension, die den ObjektBezug der Wahrheit betont. Entsprechend nennt Koch sie auch den „realistischen“ Aspekt der Wahrheit, und er stellt den zweiten Wahrheitsaspekt dar. Um den ersten Wahrheitsaspekt als den anschaulich-präsentationalen genauer zu erforschen, wenden wir uns Beobachtungssätzen zu. Beobachtungssätze sind Sätze wie dieser: „Das Buch hier ist glühend rot.“ Sie haben einen wesentlichen Doppelsinn, können bei ihnen doch der semantische und der epistemische Sinn die Führung übernehmen. In ihrem semantischen Sinn erklären sie etwas, etwa indem sie auf die Frage: „Was ist das: rot?“ antworten: „Das Buch da ist rot“. Dabei wird einfach unterstellt, dass da ein Buch liegt – es wird also unterstellt, dass die Wahrheitsbedingungen des Satzes erfüllt sind –, und es geht allein darum, die Röte zu erklären. Es kann demgegenüber der Einwand erhoben werden: „Aber das Buch ist gar nicht rot, sondern weiß, und es sieht wegen dieser merkwürdigen Lampen hier so rot aus.“ Mit diesem Einwand rückt der epistemische Sinn des Beobachtungssatzes in den Vordergrund, welcher sich ausdrücklich darauf festlegt, dass der Sachverhalt als Tatsache existiert. Zugleich ist davon die semantische Seite des Beobachtungssatzes nicht außer Kraft gesetzt, da geantwortet werden kann: „Aufgrund der Lampe oder aufgrund des Buches selbst, jedenfalls scheint das da rot zu sein.“ Beobachtungssätze in ihrem semantischen Sinn abstrahieren also relativ von ihrem epistemischen Sinn. Im Anschluss an Quine betont Koch, dass diese Abstraktion von der Fehlbarkeit insofern von besonderer Bedeutung ist, da Beobachtungssätze in semantischem Sinn als „Eingangsbresche“115 in die Sprache selbst fungieren. Kinder und Erforscher fremder Sprachen finden Einlass in die Sprache über Beobachtungssätze im semantischen Sinn, etwa wenn das Kind sagt: „Dada“ und auf das Buch zeigt, und der Erziehungsberechtigte sagt: „Ja, das Buch da, das ist wunderbar rot, nicht wahr?“ Würde hier nicht zu Recht davon abstrahiert werden dürfen, ob die Wahrheitsbedingungen erfüllt sind oder nicht – würde somit nicht zu Recht angenommen werden dürfen, dass sie unter Standardbedingungen erfüllt sind –, so würde ein Regress drohen, der die „Eingangsbresche“ in die Sprache hinein verstellen würde. Wir brauchen deshalb Beobachtungssätze in semantischem Sinn, da sich Begriffe allein durch Merkmalsbe-
Koch, Versuch, 145.
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156 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie schreibungen nicht erklären lassen. Denn eine Beschreibung führt jeweils zu einer weiteren, die wiederum eine folgende nach sich zieht etc.116 Unter einer anderen Fragestellung begegneten wir diesem Problem bereits im vorherigen Abschnitt unter Zweits Kapitel, 2.2.2.1., als deutlich wurde, dass sich Beschreibungen je auf mehrere Objekte beziehen und daher eindeutige Beschreibungen nur durch die Zuhilfenahme von Indikatoren erreicht werden können, welche ein Einzelnes auszusondern erlauben. Wurde das Problem in dem Abschnitt Zweites Kapitel, 2.2.2.1. unter der Perspektive der Designation bedacht, so wird es nun unter der Perspektive der Prädikation bedacht. Der drohende infinite Regress der Merkmalsbeschreibungen kann nur dadurch gestoppt werden, dass wir die Merkmale anhand von Musterfällen explizieren, die damit zugleich die Eingangsbresche in die Sprache darstellen. Diese Musterfälle liefern uns Beschreibungssätze in semantischem Sinn („Rot? Das Buch hier ist rot“). Sie funktionieren aber nur, wenn wir annehmen dürfen, dass sie in ihrer Mehrzahl wahr sind.117 Zugleich können diese Beobachtungen zu den Beobachtungssätzen in semantischem Sinn veranschaulichen, was mit dem anschaulich-präsentationalen Aspekt der Wahrheit gemeint ist. „Unter der Führung des anschaulich-präsentationalen Aspektes der Wahrheit manifestiert sich der logos als apophansis, die Aussage als betontes, selektives Sehenlassen dessen, was sich, noch ohne Akzent und eingebettet in das Wahrnehmungsfeld als seinen unthematischen Horizont, schon von sich her zeigt. Deswegen geht der epistemische Rechtfertigungsdruck in geeigneten Wahrnehmungssituationen gen Null.“118 Die vorherigen Abschnitte stellten den Beginn der näheren Explikation der drei Aspekte des Wahrheitsbegriffs dar, indem in ihnen zu verdeutlichen gesucht wurde, was mit dem ersten Aspekt gemeint ist: dasjenige, was bei Beobachtungssätzen in semantischem Sinn sichtbar wird, die Aussage als Sehenlassen. Neben dieser hinweisenden Beobachtung soll der erste wie auch die folgenden beiden Wahrheitsaspekte durch dreierlei gekennzeichnet werden: durch dasjenige, wovon sie abgeleitet Siehe dazu Koch, Versuch, 145. Andernfalls würde die „Eingangsbresche“ in die Sprache hinein nicht funktionieren. Dann wäre nicht zu erklären, wie Sprache überhaupt erworben werden kann. Sprache aber wurde erworben, und dieses unabweisbare Faktum liefert eine erste (und nicht die letzte, wohl aber auch nicht die schlechteste) Begründung dafür, dass wir berechtigt sind anzunehmen, dass Beobachtungssätze in der Regel wahr sind; siehe auch Koch, Versuch, 179. 118 Koch, Versuch, 156. 116
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werden, durch dasjenige, wogegen sie sich richten, und durch dasjenige, was folgt, wenn sie verabsolutiert werden. Abgeleitet wurde der erste Aspekt aus der Einsicht, dass die Dinge Erscheinungen sind. Somit ist er wie diese Einsicht auch in der Subjektivitätsthese begründet. Er richtet sich damit gegen die Annahme des metaphysischen Realismus, der die Dinge als Dinge an sich (als Sachbegriff) ansieht. Die Position des metaphysischen Realismus führt letztlich dazu, dass unsere Meinungen aus reinem Zufall wahr oder falsch sind, so dass sie ungewollt dasjenige heraufführt, was sie doch eigentlich zu vermeiden sucht, die Skepsis. So sehr es somit einerseits gute Gründe dafür gibt, die Dinge als Erscheinungen zu fassen, so sehr gibt es andererseits gute Gründe dafür, den ersten Aspekt der Wahrheit nicht zu verabsolutieren. Denn diese Position – die laut Heidegger bei den Vorsokratikern auftrat und die laut der revolutionären Lesart auch Heidegger selbst zuzuschreiben ist119 – fasst die Dinge faktisch als Ursachverhalt. Bei Ursachverhalten aber fallen Existenz und Wahrgenommenwerden so zusammen, dass Subjekt und Objekt unterschiedslos verschmelzen und deshalb gerade keine Wahrheitsansprüche mehr erhoben werden können (siehe dazu oben, Zweites Kapitel, 2.2.1.4.). In methodischer Hinsicht wird damit am ersten Wahrheitsaspekt eine Bestimmung sichtbar, die auch für die anderen beiden Wahrheitsaspekte gilt: Die drei Aspekte sind nicht auf einander reduzierbar, jedoch untrennbar aufeinander bezogen. Der Wahrheitsbegriff ist somit „wesentlich dreideutig“,120 so dass jeder Aspekt nur deshalb er selbst ist, weil es zugleich auch die anderen beiden gibt. Phänomenalität, Objektivität und Normativität sind wesentlich miteinander verflochten. Koch fasst den ersten Aspekt in folgender Bestimmung zusammen: „Nach ihrem anschaulich-präsentationalen Begriffsmoment ist die Wahrheit veridischer Schein: das Sich-Zeigen bzw. die Unverborgenheit der Dinge, und zwar ein Sich-Zeigen in zeitlicher Gegenwart und räumlich zentriert um eine Person als Nullpunkt in einem egozentrischen personalen Wahrnehmungsfeld.“121 Der zweite Wahrheitsaspekt, der realistisch-repräsentationale, findet seinen Anhalt in der Bestimmung, dass die Dinge zwar generell auf uns 119 Wie bereits erwähnt, liest Koch Heidegger freundlicher und ordnet ihn ganz in das ein, was wir die reflexive Lesart nannten. Entsprechend nennt Koch Heidegger an erster Stelle, wenn es zu klären gilt, welcher Philosoph alle drei Aspekte der Wahrheit bewahrt, siehe Koch, Versuch, 159. 120 Koch, Versuch, 162. 121 Koch, Versuch, 158 f.
158 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie bezogen sind, nicht jedoch durch unsere Meinung jetzt hier über sie geschaffen werden. Entgegen der Annahme eines so gefassten Idealismus und im Anschluss an den epistemischen Realismus kommt ihnen somit Objektivität zu. Wie wir bereits sahen, wird die anzunehmende Objektivität von Koch in einem schwachen Sinn vertreten und somit nicht so, dass ganzen Sachverhalten existentiales Sein zugeschrieben wird (siehe unten Zweites Kapitel, 2.2.1.4.). Vielmehr ist Objektivität so verstanden, dass allein dem Gegenstand, der an der Stelle des logischen Subjekts zu stehen kommt, existentiales Sein zukommt. Dessen Objektivität besteht darin, dass es nicht durch unsere jeweilige Erkenntnis geschaffen und somit unabhängig von uns ist. Um das auszudrücken, reicht es, „das schlichte Schema der Zitattilgung (ohne weitere Interpretation) mit dem Bivalenzprinzip zu kombinieren.“122 Das Schema der Zitattilgung schließt sich an Einsichten Tarskis an und besagt in dem bekannten Beispiel, dass alles, was zur Wahrheit zu sagen ist, in einer Aussage wie der folgenden gesagt wird: „Die Aussage ‚Der Schnee ist weiß‘ ist dann und nur dann wahr, wenn der Schnee weiß ist“ (so dass der links erwähnte Satz („der Schnee ist weiß“) rechts wieder auftaucht, nun allerdings nicht mehr als Zitat). Das Bivalenzprinzip hatten wir als regulatives Prinzip kennen gelernt, welches besagt, dass unsere Aussagen wahr oder falsch sind (siehe dazu unten Zweites Kapitel, 2.2.1.2.). Das Schema der Zitattilgung in Kombination mit dem Bivalenzprinzip trägt nun der Objektivität als derjenigen Bestimmung Rechnung, dass die Gegenstände nicht durch unsere jeweilige Erkenntnis geschaffen werden. Denn das Bivalenzprinzip kann nur deshalb die Möglichkeit falscher Aussagen vertreten, weil es mit der Möglichkeit nicht von uns wahrgenommener Gegenstände oder Aspekte eines Gegenstandes rechnet, welche somit in der genannten Hinsicht objektiv sind (sonst wären wir wiederum zu den irrtumsimmunen Ursachverhalten zurückgekehrt). Diese abwesenden Gegenstände können in unserer Sprache repräsentiert werden, so dass dieser Wahrheitsaspekt nicht nur der realistische, sondern zugleich der repräsentationale genannt wird. So sehr es somit gute Gründe gibt, dem Wahrheitsbegriff den realistisch-repräsentationalen Aspekt zuzuschreiben, so sehr gibt es andererseits gute Gründe dafür, diesen Aspekt nicht zu verabsolutieren. Denn diejenigen Theorien, die das tun – etwa, indem sie die Wahrheit allein durch eine Korrespondenztheorien zu definieren suchen –, vertreten Koch, Versuch, 157.
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faktisch wiederum die Position des metaphysischen Realismus und enden in der Skepsis. Koch fasst den zweiten Wahrheitsaspekt wie folgt zusammen: „Nach ihrem realistisch-repräsentationalen Begriffsmoment ist die Wahrheit einer von zwei Wahrheitswerten, von denen gemäß dem Bivalenzprinzip jeder Aussage oder Meinung mindestens einer (und nach dem Prinzip des Nichtwiderspruchs höchstens einer) zukommt; und zwar ist sie derjenige Wahrheitswert, den das Schema der Zitattilgung extensional fixiert und der traditionell als Sprache-Welt-Übereinstimmung ausgelegt und zu vielerlei Korrespondenztheorien der Wahrheit Anlaß gegeben hat.“123 Der dritte Wahrheitsaspekt hat seinen Anlass an der Einsicht, dass wir uns gerade aufgrund der Objektivität der Dinge irren können und widerspricht damit jeder Theorie der Ursachverhalte. Eine genauere Betrachtung dieses Aspekts macht deutlich, was bereits bei der Explikation der leiblichen Verortung des Diskurses deutlich wurde: die enge Verbindung von Denken und Praxis (siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.4.), so dass dieser Aspekt der „praktisch-normative“ genannt wird. Denn wir können uns nur dann als fehlbar verstehen, wenn wir zugleich unter einer Norm stehen, und das wiederum ist nur dann eine sinnvolle Annahme, wenn wir freie Handlungsakteure sind. „Wir kämen gar nicht in die Verlegenheit, etwas unwillkürlich für wahr (oder für falsch) zu halten, wenn wir nicht auch Wünsche und Absichten und die Freiheit hätten – im Prinzip jedenfalls –, sie handelnd zu verwirklichen.“124 Entsprechend ist unser Wahrnehmungsfeld zugleich ein Tätigkeitsfeld, das Koch unter Bezug auf den frühen Heidegger als „Bewandtnisganzheit“125 fasst. Denken, auch erstphilosophisches Denken, ist selbst eine Praxis und Teil der Praxis unseres gesamten Lebens. So sehr es gute Gründe gibt, dem Wahrheitsbegriff den praktischnormativen Aspekt zuzuschreiben, so sehr gibt es andererseits gute Gründe dafür, diesen Aspekt nicht zu verabsolutieren. Denn diejenigen Theorien, die das tun – etwa, indem sie die Wahrheit allein als berechtigte Behauptbarkeit fassen oder in einer Konsenstheorie als Ergebnis eines herrschaftsfreien Diskurses oder als Kohärentismus zu definieren suchen –, vertreten den Antirealismus, welcher gegen das Bivalenzprinzip und damit gegen die klassische Logik mit ihrem Satz vom ausge Koch, Versuch, 159. Koch, Versuch, 158. 125 Koch, Versuch, 162.
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160 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie schlossenen Dritten verstößt (siehe dazu unten Zweites Kapitel, 2.2.1.2.). Oder sie fallen in einen Kulturrelativismus, welcher faktisch mit dem Kulturimperialismus zusammenfällt. Koch fasst den dritten Wahrheitsaspekt wie folgt zusammen: „Nach ihrem praktisch-normativen Begriffsmoment ist die Wahrheit berechtigte Behauptbarkeit, d. h. die Richtigkeit einer Aussage oder Meinung gemäß den epistemischen Normen und Werten einer herrschaftsfreien oder sonstwie idealen Sprach- oder Kommunikationsgemeinschaft.“126
126 Koch, Versuch, 159. Um die drei Aspekte zusammenzufassen und kurz in ein Verhältnis zueinander und zum Buch als Ganzen zu setzen: Der erste Wahrheitsaspekt betont, dass die Dinge sich zeigen, dass sie unverborgen sind oder sich offenbaren. Dass sie sich zeigen und dabei zugleich auch verbergen, wird von uns in theologischem Sinne als wichtiges Moment des Gabe-Aspekts der Dinge bezeichnet werden (auch wenn die folgenden beiden Aspekte ebenso zum hier erreichten Vorbegriff der Gabe dazugehören). Das Sich-Zeigen der Dinge ist eines derjenigen Momente, die besonders im Abendmahl sichtbar wird. Es bezeichnet in seiner Vermitteltheit mit seiner Verbergung zugleich jenes Moment, das die Präsenzmetaphysik der technologischen Moderne vergisst, mehr noch: von dem sie sogar vergisst, dass sie ihn vergisst. Dadurch sieht die Präsenzmetaphysik die Dinge als abstrakten Bestand an und verpasst zugleich die ihren eigenen Wahrheitsansprüchen je zugrunde liegende Bedingung der Möglichkeit. Obgleich sie selbst in der aufgeklärten Moderne zu sich kommt, ist sie damit in einem präzisen Sinne unaufgeklärt: Sie tappt darüber im Dunkeln, dass die Dinge von sich aus scheinen müssen und sich dabei zugleich verbergen, damit überhaupt Wahrheitsansprüche erhoben werden können. Koch ist deshalb für unser Buch so interessant, weil er wie der Heidegger in der reflexiven Lesart diese Phänomenalität als grundlegend ansetzt, ohne sie zu verabsolutieren. Denn es ist bereits deutlich, dass Wahrheitsansprüche überhaupt nur erhoben werden können, weil die Dinge sich zeigen, und es wird noch deutlicher werden, dass diese Phänomenalität zugleich der paradigmatische Anwendungsfall der Wahrheit darstellen wird (siehe dazu unten, Zweites Kapitel, 2.2.3.3.4). Allerdings „wäre Wahrheit rein im Sinn von Unverborgenheit, veridischem Anschein das indifferente Zusammenfallen eines Subjektes mit einem Ursachverhalt, also gar kein Fall von Kognitivität mehr. Erst das realistisch-repräsentationale Moment verbürgt diejenige Differenz von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Sachverhalt, die eine notwendige Bedingung der Kognitivität ist; und erst durch das praktisch-normative Moment wird in der Differenz an jener Indifferenz Maß genommen und diese als ein unaufhebbares (faktisch nie ganz erreichbares) Sollen bzw. als ein Wert gesetzt, der wesentlich Grenzwert ist.“ (Koch, Versuch, 151)
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2.2.3.2. Wahrheit und Diskurs: Aspekte eines Wechselverhältnisses 2.2.3.2.1. Begriff und Urteil Die drei Aspekte der Wahrheit werden im Folgenden mit den drei Dimensionen des Diskurses verbunden, und diese wiederum mit den Dimensionen des Raumes: Dem präsentational-anschaulichen Aspekt der Wahrheit wird der Begriff als Dimension des Diskurses und die Fallhöhe als Dimension des Raumes zugeordnet, dem repräsentational-realistischen Aspekt das Urteil und die Breite des Raumes, dem praktisch-normativen der Schluss und die Ferntiefe des Raumes. Die Verbindung von Diskurs und Raum wurde bereits im vorherigen Abschnitt erstmals deutlich, als gezeigt wurde, dass jeder Begriffsgebrauch die Raumzeit als das Prinzip derjenigen Mannigfaltigkeit in Anspruch nimmt, die der Begriff immer schon voraussetzt (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.2.2.); sie wird bei der gleich folgenden Exploration der Dimensionen des Diskurses weiter erläutert werden. Die Verbindung der Wahrheitstheorie mit den Dimensionen des Diskurses liegt darin begründet, dass zwischen beiden und damit zwischen Theorie und Sprache ein Wechselverhältnis besteht.127 Auch wenn die nähere Begründung dieses Wechselverhältnisses in der gesamten Durchführung der Zuordnung zu finden ist, kann eine kurze Reflexion auf die auszuschließende Extrempositionen der Zuordnung von Theorie und Sprache erste Gründe für das Wechselverhältnis liefern. Deutlich ist zum einen, dass eine einfache Gleichsetzung von Theorie und Sprache und damit eine Position, die in einem strengen Sinne dem Slogan folgen will, dass Vernunft Sprache sei, das Ende der Irrtumsmöglichkeit und damit zugleich eines sinnvollen Begriffs der Wahrheit darstellen. Denn würden Theorie und Sprache in strengem Sinne zusammenfallen, so würde jeder Wandel der Theorie ein Wandel der Sprache sein und umgekehrt, so dass ich dann, wenn ich einer anderen Meinung widerspreche und das irgendwie artikuliere, nicht mehr dieser anderen Meinung widerspreche, da diese sich ja mit der Sprache verändert hat. Deutlich ist zum anderen, dass Theorie und Sprache auch nicht als vollkommen unabhängig voneinander angesehen werden können. Dann wäre wiederum die Position des metaphysischen Realismus mit den bekannten Problemen erreicht. Vielmehr sorgt der präsentationale Wahrheitsaspekt dafür, dass die meisten unserer Aussagen und gerade solche, die wir in Beobachtungssätzen als den Siehe Koch, Versuch, 163–165.
127
162 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Eingangsbrechern in die Sprache äußern, wahr sind. So deutet sich an, was sogleich weiter erforscht und damit begründet werden soll: „Die Sprache als das System der symbolischen Repräsentation und die Theorie als das System der Überzeugungen bilden zwei Seiten eines ganzen, des Diskurses oder Sprachspiels, und stehen als dies Seiten in einem Verhältnis wesentlicher wechselseitiger Abhängigkeit (Wechselverhältnis).“128 Angesichts des angedeuteten Wechselverhältnisses von Theorie und Sprache und angesichts der wesentlichen Dreisinnigkeit der drei Aspekte der Wahrheit wird es kaum verwundern, dass auch Begriff, Urteil und Schluss wesentlich aufeinander bezogen sind. Das beginnt bereits deutlich zu werden, wenn der Begriff genauer bedacht wird.129 Begriffe werden letztlich nicht durch Merkmalsdefinitionen erklärt und gelernt, da wir bereits sahen, dass das zu einem infiniten Definitionsregress führen würde. Vielmehr werden sie durch Muster- oder Anwendungsfälle gelernt, so dass diese Anwendungsfälle für den Gehalt des Begriffs konstitutiv sind, kantianisierend gesprochen: Begriffe ohne Anwendung (welche wiederum nicht ohne Anschauung zustande kommt) sind leer. Die paradigmatischen Anwendungsfälle aber tauchen in denjenigen Sätzen auf, die wir bereits kurz im letzten Abschnitt bedachten, in den Beobachtungssätzen in semantischem Sinn. Diese sind ihrer grammatischen Form nach Urteile, so dass Begriffe, um überhaupt gehaltvoll sein zu können, in Urteilsform auftreten. Allerdings gilt es, das Urteil genauer zu bestimmen: Es tritt hier nicht als Synthese zweier Terme auf, sondern als Verdeutlichung eines allgemeinen Begriffs in einem Einzelnen. Wenn der Satz „Das Buch hier ist rot“ als Beobachtungssatz in semantischem Sinn verstanden wird, so will durch ihn in einem Einzelnen ein Allgemeines gezeigt werden: in diesem Buch die Röte.130 Damit ist deutlich, dass der Begriff mit dem präsentationalen Wahrheitsaspekt verbunden ist, da dieser doch genau dadurch bestimmt war, dass die Aussage ein Sehenlassen ist, die etwa die Röte dieses Buches vor Augen führt (eine weitere Begründung für diese Zuordnung erfolgt weiter unten). So ist es nur konsequent, dass dieser Aspekt der Sprache – das Zur-SpracheKommen der Dinge als ein Sehenlassen – von Heidegger besonders betont wurde (siehe Erstes Kapitel, 1.4.). Ebenso ist damit deutlich, dass Koch, Versuch, 165. Siehe zum Folgenden Koch, Versuch, 165–168. 130 Siehe Koch, Versuch, 167. 128 129
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der Begriff die räumliche Dimension der Fallhöhe zugeordnet wird, da die Begriffsanwendung doch genau darin besteht, dass ein Einzelnes unter ein Allgemeines fällt. Unter Standardbedingungen sind wir berechtigt anzunehmen, dass die Beobachtungssätze in semantischem Sinn wahr sind, und entsprechend abstrahieren wir bei ihrem Gebrauch von unserer Irrtumsfähigkeit. Zugleich aber ist der Irrtum in jedem einzelnen Fall möglich. Daher ist es auch je legitim zu fragen: „Du sagst, dass das Buch da rot ist? Es ist nicht rot, sondern weiß, und nur die Beleuchtung im Raum lässt es so aussehen.“ Dadurch wird derselbe Beobachtungssatz „Das Buch hier ist rot“ in epistemischem Sinn gelesen, als ausdrückliche Festlegung auf die Tatsächlichkeit der mit ihr gemachten Behauptung. Dabei übernimmt dann der realistisch-repräsentationale Wahrheitsaspekt die Führung, da wir uns ja gerade fragen, ob wir den entsprechenden Gegenstand in unserer Aussage so repräsentieren, wie er tatsächlich ist. Zugleich wird am Beobachtungssatz damit nicht die Begriffsanwendung betont, er wird also nicht als unmittelbarer Fall eines Einzelnen unter ein Allgemeines angesehen. Vielmehr wird er als die Synthese verschiedener Terme, also als Verbindung verschiedener Inhalte zu einer Aussage und damit als Urteil bedacht: Es werden das Buch und die Röte in einem Urteil miteinander verbunden, indem das Buch als rot ausgesagt wird. Das Buch wird somit durch dasjenige propositionale als näher bestimmt, das wir bereits aus dem Zweiten Kapitel, 2.2.1.3. kennen. Dies geschieht aus nachvollziehbaren Gründen,131 denn die Objektivität, auf die hier abgezielt wird, impliziert unsere Fehlbarkeit, die Fehlbarkeit aber die Zweiwertigkeit des Urteils, welche doch gerade besagt, dass das Urteil wahr oder falsch sein kann. Die Zweiwertigkeit impliziert wiederum die Zweigliedrigkeit des Urteils, seine radikalen Asymmetrie zwischen Designation und Prädikation, die sich in Form des propositionalen als zeigt. Mit der Zweigliedrigkeit des Urteils ist auch deutlich, welche räumliche Dimension dem Urteil zuzuordnen ist: die synthetischen Breite oder Horizontale. In all dem – und besonders darin, dass Begriff und Urteil den zwei Sinnen des Beobachtungssatzes zugeordnet werden – wird deutlich, dass „sich Begriff und Urteil zueinander eben nicht (jedenfalls nicht nur) verhalten wie Baustein und Ganzes, sondern wie zwei Erscheinungsformen
Siehe Koch, Wahrheit, 60.
131
164 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie ein und derselben Realität, des Diskurses.“132 Diese zweifache Erscheinungsform einer Realität lässt sich auch erklären, wenn man die Beobachtungssätze als Prädikationen versteht. Eine Prädikation kann zum einen im Anschluss an die Funktionsschreibweise der Prädikatenlogik (F(a)) so verstanden werden, dass ein ideelles Allgemeines (a) mit einem realen Einzelnen (F) verbunden ist. Die Verbindung ist dabei so eng oder so basal, dass die beiden keine ergänzungsbedürftigen abstrakten Entitäten sind, sondern eine „sehr konkrete intentionale Beziehung allgemeiner Gedanken auf je einzelne Dinge.“133 Eine Prädikation ist damit nicht in dem Sinn des propositionalen als zu verstehen, sondern als dasjenige, was der frühe Heidegger das hermeneutische als nennt und was der späte Heidegger als Erscheinen-, Sehen- und Hören-lassen namhaft machte. Dieses sagt den Dingen bloß zu, was sie sind, etwa ihre Röte, oder ihr Hammersein.134 Wenn diese Prädikation in Urteilsform gefasst wird („das Buch ist rot“), so wird sichtbar, dass sie eben auch eine Termverbindung ist, die im Sinne des propositionalen als aufgefasst werden kann. Diese Dimension der Prädikation wird weniger in der prädikatenlogische Formulierung (F(a)) deutlich als vielmehr in der der Syllogistik der traditionellen formalen Logik (A ist F). Die Prädikation als hermeneutisches als ist gleichsam so nah an der prädizierten Sache dran, dass sie von der Möglichkeit des Irrtums abstrahiert, während die Prädikation als propositionales als Ausdruck der behaupteten Objektivität des Gegenstandes und damit der je eingeräumten Möglichkeit unserer Fehlbarkeit ist. Diese Andeutungen seien in folgender These zusammengefasst: „Die Prädikation ist (a) in der diskursiven Horizontale eine irrtumsanfällige Termverbindung und zugleich (b) in der diskursiven Vertikale eine Anwendung eines ideellen Allgemeinen auf ein reales Einzelnes unter Abstraktion von der Irrtumsmöglichkeit.“135 So wird an Koch, Versuch, 168. Koch selbst sagt, dass seine Lehre von Begriff, Urteil und Schluss damit der von Hegel näher steht als der von Kant, siehe Koch, Versuch, 165, Anm. 87; von Hegel unterscheidet er sich allerdings in derjenigen für das vorliegende Buch zentralen Einsicht, dass der Begriff nicht vollständig in den Schluss aufgehoben werden kann; anders formuliert: dass Inhalte nicht allein inferentialistisch, sondern eben auch durch Beobachtungssätze in semantischen Sinn generiert werden, oder, in Bezug auf die Dinge selbst, dass diese Anteil am Ding als sich (als Singularetantum, als unaufhebbares Prinzip des Realen) haben und ihr Zeigen sich entsprechend zugleich ihr Verbergen ist; siehe dazu auch Zweites Kapitel, 3.3.3.3. 133 Koch, Versuch, 168. 134 Siehe Koch, Versuch, 177 f. 135 Koch, Versuch, 180. 132
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der Prädikation wiederum deutlich, dass das Urteil eine doppelte Struktur hat, in der sich die Fallhöhe des Begriffs und die eigene synthetische Breite wechselseitig überlagern.
2.2.3.2.2. Die Diskursivität der Dinge spricht sich im menschlichen Diskurs aus Bevor nach Begriff und Urteil der Schluss bedacht wird, seien die bisher gemachten Beobachtungen auf die Debatte zwischen Nominalismus und Universalienrealismus bezogen. Dadurch werden wir zu Beobachtungen aus dem vorherigen Teil (Zweites Kapitel, 2.2.1.1.) zurückgeführt, da die Dinge wiederum als Erscheinungen für uns sichtbar werden, nun aber – hinausgehend über die bisherigen Beobachtungen hin zu einer Dimension, die für das Buch als Ganzes von großer Wichtigkeit ist – als solche, die dabei in ihrer Sprachlichkeit bedacht werden. Die Prädikation in der diskursiven Vertikale wurde so bestimmt, dass sie die Anwendung eines ideellen Allgemeine auf ein reales Einzelnes ist. In dieser Betrachtung scheint es sich nahe zu legen, mit den Nominalisten nur das Einzelne als real aufzufassen und das ideelle Allgemeine allein als sprachseitig, nicht auch als weltseitig. Zugleich aber ist die Prädikation in der diskursiven Horizontalen als Termverbindung bestimmt. In dieser Betrachtung scheint es sich nahe zu legen, mit den Universalienrealisten das ideelle Allgemeine selbst als weltseitig anzusiedeln, und zwar als realen Gegenstand eigenen Typs, welche dann mit dem Einzelnen in dem Sachverhalt als einem weiteren realen Gegenstand verbunden wird. Beide Positionen haben ein gravierendes Problem. Der Universalienrealist endet nicht nur mit dem Einzelnen, dem Universalen und dem Sachverhalt und damit eigentlich mit drei Dingen, sondern damit zugleich mit einem Sachverhaltsrealismus. Der Sachverhaltsrealist aber lässt veritatives und existentiales Sein zusammenfallen und unterläuft damit das propositionale als. Damit aber unterläuft er zugleich die Irrtumsmöglichkeit und so auch den Objektivitätsanspruch, den er doch eigentlich gerade retten will. Daher wurde er im vorherigen Teil abgelehnt (siehe Zweites Kapitel, 2.1.3.). Der Nominalist hingegen verliert die Bestimmtheit des Gegenstandes und damit eigentlich das Ding selbst. Die Probleme des Nominalisten und des Universalienrealisten können vermieden werden, wenn mit dem Nominalisten tatsächlich nur ein Ding als weltseitig angesetzt wird, nicht drei, nämlich das Einzelne. Nur ihm wird existentiales Sein zugeschrieben. Zugleich aber „ist dem einen
166 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie und identischen Ding des Nominalisten auch die ideelle synthetische Struktur des Diskurses immanent, die der Universalienrealist reifiziert, weil er glaubt, sie andernfalls preisgeben zu müssen.“136 Das Allgemeine ist somit etwas objektiv Ideelles im Einzelnen. Damit ist hier wiederum die Position erreicht, die im vorherigen Teil in einer unabhängigen Argumentation bereits erreicht wurde, die des klassischen Idealismus (siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.7.). In Bezug auf die Dinge ließ sich die Position in der These zusammenfassen, dass das, „was objektiv der Fall ist oder existiert, ceteris partibus unter Verwendung des Wahrheitsprädikates vollständiger beschrieben werden als ohne Verwendung des Wahrheitsprädikates.“137 Beziehen wir diese Beobachtung auf den jetzigen Zusammenhang, das Bedenken der Diskursivität, so lässt sich das objektiv Ideelle der Dinge – das Allgemeine in ihnen, oder ihre jeweilige Verbundenheit mit der Wahrheit – als die ihnen eigene Diskursivität fassen. Daraus folgen zwei Beobachtungen. Die erste besagt, dass das unmittelbare Fallen des Einzelnen unter ein Allgemeines sich keineswegs nur in der Begriffsanwendung und damit in unserer Sprache vollzieht, sondern vielmehr zuerst in der Sache selbst. Auf diese Bestimmung der Dinge legen wir uns in unseren Wahrheitsansprüchen implizit fest, so dass hier ein Essentialismus in Bezug auf die Verfasstheit der Dinge vertreten wird.138 Von daher werden auch der präsentationale Wahrheitsaspekt und seine Zuordnung zur Begriffsanwendung noch weiter aufgehellt. Der präsentationale Wahrheitsaspekt versteht eine Aussage als ein Sehenlassen, und nun wird deutlich, was da sehen gelassen wird: Dasjenige Fallen des Einzelnen unter ein Allgemeines auf der Weltseite oder dasjenige Allgemeine im einzelnen Ding, welches die Begriffsanwendung in dem ihr eigenen Fallen des Allgemeine unter ein Einzelnes dann ausspricht. Die Aussage „Das Buch ist so wunderbar rot“ macht genau das: Sie lässt in ihrer Aussage die Röte als das dem Buch unmittelbar zukommende Allgemeine sehen. Die zweite Beobachtung bestimmt einen Aspekte näher, der während der ersten Beobachtung bereits mitlief: Die Diskursivität der Dinge besagt zumindest auch, dass sie wesentlich auf die menschlichen Diskurse bezogen sind. Das kann kurz damit begründet werden, dass „für die Koch, Versuch, 190. Koch, Versuch, 185. 138 Siehe Koch, Versuch, 189. 136 137
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Beschreibung der Dinge der Wahrheitsbegriff unverzichtbar ist; zum Inhalt dieses Begriffs aber paradigmatische Anwendungsfälle gehören; und diese sich, als solche, nur im sprachlich vollzogenen Diskurs finden.“139 Wir treffen somit auf die die Diskursivität der Wahrheit mitbedenkende Variante der im vorherigen Teil auf anderen Wegen ausführlicher begründeten Subjektivitätsthese (siehe unten Zweites Kapitel, 2.2.2.6.). Sie besagt, dass es Einzelnes nur gibt, weil es sich auf ein Subjekt und weil sich ein Subjekt auf es bezieht. Indem wir nun aber die wesentliche Verbindung von Wahrheit und Diskurs bedenken und damit eine Dimension im Blick haben, die bei der Entwicklung der Subjektivitätsthese noch nicht zur Sprache kam, können wir die Beziehung zwischen dem Einzelnen und dem Subjekt genauer bestimmen, als das im vorherigen Teil der Fall war. Den Dingen kommt darin Wahrheit unter der Führung des ersten Wahrheitsaspekts zu, dass sie unverborgen sind oder dass sie sich zeigen, und sie zeigen sich, da sie Einzelnes sind, das unmittelbar unter das ideelle Allgemeine fällt. Dies Allgemeine als das objektiv Ideelle in ihnen ist ihre eigene Form der Diskursivität. Allerdings unterscheidet sich die Diskursivität der Dinge von dem, was menschliche Diskursivität ist, an einem wesentlichen Punkt: Die Diskursivität der Dinge besteht nur darin, dass ein Einzelnes unmittelbar unter ein Allgemeines fällt, ohne dass dies eigens in einem Prädikat explizit gemacht werden kann. Die Diskursivität der Dinge besitzt somit einerseits gegenüber dem menschlichen Diskurs einen wesentlichen strukturellen Nachteil, da sie nur so etwas wie ein „prädikatfreier Dingdialekt“140 ist. Zugleich ist sie andererseits durch eine große Nähe zum menschlichen Diskurs ausgezeichnet und wird zu Recht als Dialekt bezeichnet, da unsere Sprache in prädikativer Rede ausspricht, was sie in prädikatfreiem Dingdialekt „sagt“: „In unserem Reden von den Dingen versuchen wir, in Worte zu fassen, was sie wortlos schon selber sagen, versuchen wir also, ihrer wortlosen Rede mit unseren Worten zu entsprechen.“141 Koch, Versuch, 189. Koch, Wahrheit, 66. 141 Koch, Wahrheit, 66. Es ist offensichtlich, dass die hier sichtbar werdenden Bestimmungen auch für das Buch als Ganzes von einiger Bedeutung sind. Das gilt zum einen rückblickend auf den ersten Teil, in dem das grundlegende Verhängnis der die technische Moderne heraufführenden Präsenzmetaphysik gerade darin gesehen wurde, dass die Dinge als abstrakt bestimmbarer Bestand angesehen werden und somit nicht als solche, die von sich aus in ihrer Unverborgenheit reden. Das gilt aber auch vorausblickend für den dritten Teil, die Erforschung der Abendmahlstheologie 139 140
168 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Die Diskursivität der Dinge spricht sich in menschlicher Sprache aus und sie ist gerade nur deshalb, weil sie im Menschen zur Sprache kommt: Das ist die Subjektivitätsthese in diskursiv weiterentwickeltem Gewande. Die so gefasste Diskursivität der Dinge erlaubt es nun, fünf Dimensionen der menschlichen sprachlichen Praxis weiter aufzuklären, die wir teils bereits andachten. Erstens ist zu betonen, dass nicht nur die Diskursivität der Dinge nicht wäre ohne unsere Diskurse, sondern dass zugleich auch unsere Diskurse nicht wären ohne die Diskursivität der Dinge, so dass das subjektiv-objektive Wechselverhältnis gerade auch in Bezug auf die Diskursivität der Dinge und unserer selbst gilt: „Kognitivität und Praxis werden selbst erst möglich, weil meine Umgebung diskursartig ist und in der Folge veridisch anscheinen kann und weil meinesgleichen und ich ihrer objektiven Diskursartigkeit mit unserem eigens vollzogenen intersubjektiven Diskurs entsprechen können. Hier, wenn irgendwo, hat die realistische Intuition, Wahrheit sei Korrespondenz, ihr sachliches Fundament: Der dinglich gebundene Diskurs tritt inmitten seiner selbst in Menschengestalt noch einmal besonders hervor, repräsentiert sich in sich; und es ist dann möglich, dass eine Prädikation einem Ding im Prinzip so entspricht wie eine Übersetzung ihrem fremdsprachlichen Original.“142 Indem betont wird, dass die Dinge diskursartig sind und dass wir dem in unsere Sprache entsprechen, wird zweitens auch verstehbar, wie die Dinge gleichsam in die Sprache hinein gelangen können. Weil die Dinge selbst prädikatlose Dingdialekte sind, spricht unsere Sprache nur aus, was die Dinge sind. Ihnen wird in unserem Sprechen gerade nur entsprochen. Etwas differenzierter: 143 Die Diskursivität der Dinge besteht in ihrer objektiven Fallhöhe, in der ein reales Einzelnes unter ein ideelles Allgemeines fällt. Darin ist das Ding zugleich unverborgen oder sich zeigend, also in seinem Wesen verbunden mit der Wahrheit unter der Führung des ersten Aspekts. Das Buch selbst ist von einer Röte, die sich zeigt, da die Qualia (als die Empfindungsqualitäten) den Dingen selbst des späten Luthers. Mit den hier erreichten Bestimmungen, die besagen, dass Dinge an ihnen selbst diskursartig sind, und dass unser Sprechen dieses Diskursartige ausspricht und somit an die Dinge zurückgebunden ist, ist eine Position erreicht, die der Luthers sehr nahe sind (siehe schon Drittes Kapitel, 2.2.2.1.). Denn Luthers Schöpfungslehre sieht die Dinge als Worte in eigener Weise, die den Menschen ansprechen. Diese Einsicht kann dergestalt verallgemeinert werden, dass Luther alles Materiale als kommunikativ denkt und alle Kommunikation als material vermittelt, und dass diese Zuordnung im Sakrament eigens ins Licht tritt. 142 Koch, Versuch, 192. 143 Siehe Koch, Versuch, 177.
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angehören.144 Der so gefassten Diskursivität der Dinge wird in unserem Diskurs entsprochen und die Diskursivität der Dinge kommt in unserem Diskurs gleichsam ganz zu sich, indem in der Begriffsanwendung in der diskursiven Vertikalen mittels der Prädikation ein Einzelnes unter ein Allgemeines fällt („Rot!“, oder auch „schau, das Buch ist rot“). Die Prädikation aber ist wesentlich doppelsinnig und daher auch in der diskursiven Horizontale als Termverbindung und damit als Urteil mit dem ihm eigenen Objektivitätsanspruch zu lesen („Das Buch ist rot“). So ist die dem Ding zukommende Quale in die Sprache gekommen. Doch es wird hier nicht nur deutlicher, wie die Dinge in die Sprache hinein gelangen, sondern drittens auch, warum die Begriffsanwendung oder der Beobachtungssatz in semantischem Sinn Regressstopper gegen die infiniten Definitionsregresse von Merkmalsdefinitionen ist (siehe dazu bereits Drittes Kapitel, 2.2.3.2.1). Die Begriffsanwendung ist Regressstopper, da sie doch selbst das unmittelbare Fallen des Einzelnen unter ein Allgemeines ist und dabei gleichsam bloß in die Sprache aufnimmt, was die Dinge selbst sind, nämlich genau dieses unmittelbare Fallen des Einzelnen unter ein Allgemeines, ihre Diskursivität. Indem sie unter der Führung des präsentationalen Wahrheitsaspekts mit ihrem hermeneutischen als an dem Ding gerade diejenige Diskursivität sehen lässt, die das Ding selbst ist und als das es sich daher auch von sich her in unserer Sprache ausspricht, ist sie gleichsam bloßes Sprachrohr des Sprechens des Dinges. Sie ist damit so nah an dem Sprechen des Dinges dran, dass kein Raum für weitere Nachfragen bleibt („Rot sagst Du?“ – Ja, so rot wie dieses Buch hier“ – „Ach so, jetzt ist mir klar, was du meinst“). Viertens ist die hier erreichte Nähe und Klarheit zugleich der Grund dafür, dass die Begriffsanwendung die Eingangsschleuse des Sprachbenutzers in die Sprache ist. Denn die gesuchte Bedeutung eines Wortes erhält dadurch, dass die Begriffsanwendung bloß die eigene Diskursivität des in Frage stehenden Dinges zur Sprache kommen lässt, eine erste, dafür aber recht unmissverständliche Klärung. Fünftens darf die in den vorherigen vier Punkten erforschte enge Beziehung zwischen Ding und Sprache allerdings nicht den Eindruck erwecken, als könnte unsere Sprache die Dinge erschöpfend aussprechen.145 Vielmehr präsentiert sich unserem Wahrnehmungsfeld ein Reichtum an Inhalten,146 den wir in un Siehe auch Koch, Wahrheit, 99. Siehe dazu Koch, Versuch, 206.216 f. 146 Marion würde sagen, dass hier ein Exzess, eine Saturiertheit der Phänomene vorliegt, siehe dazu auch unten, Drittes Kapitel, 1.4.2. 144 145
170 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie seren Wahrnehmungsurteilen radikal beschneiden, indem wir uns auf einen seiner Aspekte konzentrieren. Die wortlose Rede der Dinge sagt mehr, als wir in unserer Rede zur Sprache kommen lassen können. Zudem ist zu betonen, dass die bisherigen Überlegungen noch wesentlich ergänzungsbedürftig sind: Es bedarf des Schlusses, um sie weiter zu vervollständigen. Begriff und Urteil sind ohne Schluss unvollständig, genauso wie der Schluss letztlich zu Urteil, Begriff und den Dingen selbst zurückführt.
2.2.3.2.3. Der Schluss 2.2.3.2.3.1. Normativität und die Pluralität von Personen Die Notwendigkeit, vom Urteil zum Schluss fortzuschreiten, liegt darin begründet, dass Urteile aufgrund des ihnen zukommenden realistischen Wahrheitsaspekts und des damit einhergehenden Objektivitätsanspruchs zwar den Anspruch erheben, wahr zu sein, zugleich aber auch falsch sein können.147 Der jeweilige Anspruch muss daher gerechtfertigt werden gemäß diskursiver Normen; nur so ist er berechtigter Weise behauptbar. In der berechtigten Behauptbarkeit liegt der normative Wahrheitsaspekt, und wie sogleich noch deutlicher werden wird, wird ihm durch das Schließen von Schlüssen entsprochen. Denn in Urteilen wird ein faktischer Geltungsanspruch erhoben, der sich gleichsam im Wörtchen „ist“ bzw. „sind“ verbirgt: „Alle Platoniker sind wahrheitsliebend.“ Da wir mit dieser Aussage einen Wahrheitsanspruch erheben, ist sogleich mit der Nachfrage zu rechnen: „Ja, und warum ist das so?“ Gegenüber dieser berechtigten Nachfrage ist der Wahrheitsanspruch zu rechtfertigen. Dies geschieht, indem das jeweilige Urteil durch andere Urteile begründet wird. Dazu wird ein Schluss aus zwei Prämissen aufgebaut, die das zu begründende Urteil als Konklusion haben. So seien die beiden Urteile „Alle Philosophen sind wahrheitsliebend“ und „Alle Platoniker sind Philosophen“ als Prämissen angesetzt, aus denen als Konklusion das Urteil folgt, dass alle Platoniker wahrheitsliebend sind. Aus diesen Überlegungen können vier Folgerungen gezogen werden: Indem man beim Schließen eines Schlusses von einem Urteil zum nächsten voranschreitet, wird erstens deutlich, warum dem Schluss die Tiefe des logischen Raumes als die ihr zukommende Dimension des Raumes zugeordnet wird. Zweitens ist von daher einsichtig, dass die angedeutete Siehe zum Folgenden Koch, Versuch, 193–195.
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Operation gleichsam einen Drang zur Ausweitung hat, der auf einen umfassenden Kohärentismus abzielt. So stellt sich bei unserem Beispiel sogleich die Anschlussfrage: „Und warum sind Philosophen wahrheitsliebend?“, oder: „Inwiefern sind Platoniker Philosophen?“, und von dort aus je so weiter. „In der Tendenz zu solchem Weiterfragen nach dem Grund macht sich als ein regulatives Diskursprinzip dasjenige der möglichst vollständigen begrifflichen Vermittlung, Erklärung, Aufklärung geltend, das uns anhält, die wahrnehmbare Faktizität über jeden jeweils gegebenen Zwischenstand hinaus diskursiv nachzuzeichnen und aufzuschlüsseln.“148 In dieser Praxis des umfassenden Gebens von Gründen werden drittens die jeweiligen Entitäten nicht nur weiter erklärt, sondern zugleich auch weiter gerechtfertigt. Der Diskurs hat somit auch eine agonale Seite, die von Brandom als das Spiel des Gebens und Forderns von Gründen gekennzeichnet wird. Dabei sind Verstehen und Rechtfertigen im Spiel des Gebens und Forderns von Gründen untrennbar miteinander verbunden, da doch „ein Grund im Sinne einer Erklärung eines Sachverhaltes im allgemeinen zugleich als Grund im Sinne der Rechtfertigung der Meinung, der Sachverhalt bestehe, in Anspruch genommen werden kann.“149 Die auf die Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen abzielende Erstphilosophie hat somit ebenso eine hermeneutische Seite, die auf Verstehen und Erklären aus ist, wie die Hermeneutik nicht einfach von Begründungspflichten befreit werden kann, wenn sie denn ihre eigene sprachliche Praxis recht versteht. Der vierte Punkt ist für das vorliegende Buch als Ganzes von einiger Wichtigkeit, da er einen weiteren Aspekt für einen gehaltvollen Begriff der Person liefert. So leitet dieses Diskursprinzip der möglichst vollständigen begrifflichen Vermittlung die Praxis des Erhebens von Wahrheitsansprüchen dazu an, sich je in Auseinandersetzung mit Anderen zu vollziehen. Der umfassende Vermittlungszusammenhang wird in beständigem Dialog mit anderen und wieder anderen Meinungen aufgebaut. Unser jeweiliges Sprechen ist immer schon mit dem Sprechen der Ande148 Koch, Versuch, 194. Oder, um aufzugreifen, was im ersten Teil des Buches von Heidegger namhaft gemacht wurde (siehe I. 1.2.2.): In der technischen Moderne zeigt sich, was von jeher gilt, dass das Denken unter der Herrschaft des Satzes vom Grund steht. Dass nichts ohne Grund sei, herrscht als oberster Grundsatz der Vernunft. Er führt dazu, je von einem Urteil zum nächsten voranzuschreiten und so einen je umfassenderen Vermittlungszusammenhang aufzubauen. 149 Koch, Versuch, 195.
172 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie ren verwoben. Der normativ-pragmatische Wahrheitsaspekt führt also dazu, dass die wesentliche Verbindung unserer mit allen anderen der Sprache mächtigen Wesen deutlich wird. Im normativ-pragmatischen Wahrheitsaspekt ist das „intersubjektive Wechselverhältnis“150 begründet. Indem wir mit unseren Urteilen Wahrheitsansprüche erheben, unterstellen wir gerechtfertigter Weise, dass wir keine einsamen Monaden mit voneinander abgrenzbaren Privatsprachen sind (welches eine Variante der selbstwidersprüchlichen Theorie der Ursachverhalte darstellt), sondern relationale Wesen, die in eine gemeinsame Urteilspraxis verwoben sind. Die verschiedenen Dimensionen des „Ich“ – das Ich als leibgeistige Einheit und als Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren, wie es im Teil Zweites Kapitel, 2.2.2. begegnete, und nun das Ich als Person unter Personen – werden im Abschnitt zum „Dreistufengebrauch des Ich“ (siehe unten, Zweites Kapitel, 2.2.3.3.), zusammengeführt. Vorher aber sei dem Schluss weiter nachgedacht.
2.2.3.2.3.2. Inferentialismus Bisher wurde beschrieben, wie sich das einzelne Urteil aufgrund der Herrschaft des Satzes vom Grund mit tendenziell allen anderen Urteilen zu einem großen Netz an Begründungen verbindet; Urteilen kommt gleichsam der Drang zu Holismus oder Kohärentismus zu. Damit ist zugleich jeder Begriff mit allen anderen verbunden. Nun ist zu betonen, dass das angedeutete Begründungsnetz dem Inhalt des jeweiligen Begriffs keineswegs äußerlich ist. Vielmehr schreibt es sich in den Inhalt des jeweiligen Begriffs ein und bestimmt diesen dadurch mit. Der Inhalt des Begriffs ist in starkem Maße geprägt durch das Netz an Erklärungen und Begründungen, in dem er steht. Man kann diese Einsicht im Anschluss an Robert Brandom die des Inferentialismus nennen und muss zu ihrer Erklärung und Rechtfertigung erneut einen kurzen Blick auf den Begriff werfen. Bisher kamen Begriffe nur in der Zuordnung von Allgemeinem und Einzelnen in den Blick: etwa, indem bemerkt wurde, dass in der Begriffsanwendung ein Einzelnes unter ein Allgemeines fällt. Begriffe sind aber auch durch die Dualität von Allgemeinem und Besonderem geprägt. Dies wurde implizit schon sichtbar, als wir vom Begriff zum Urteil voranschritten und dabei gleichsam unbesehen eine neue Perspektive auf den Begriff auftauchte, die nun im Schluss fruchtbar ge Koch, Versuch, 370.
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macht wird. Denn im Gang vom Begriff zum Urteil wurde die Einheit des Allgemeinen und des Einzelnen auseinandergelegt „in das Verhältnis des Einzelnen zum Subjektterminus und in das Verhältnis des Subjekts zum Prädikatterminus. Zwischen das Einzelne und das Allgemeine schiebt sich vermittelnd so schon ein Besonderes, auch wenn es im singulären Urteil noch nicht als separater Terminus hervortritt [. . .]. Denn als Terminus spielt dieser eine begrifflich besondernde und als Designator zugleich eine rein referentielle Rolle und erlaubt es auf diese Weise, ein Einzelnes zugleich als ein so und so Besonderes zu fassen, bevor es an der Prädikatstelle ausdrücklich unter einen Allgemeinbegriff subsumiert wird.“151 Indem Begriffe auch durch die Dualität von Allgemeinem und Besonderem geprägt sind, sind sie einander über- oder untergeordnet und schließen einander ein oder aus: 152 Platoniker und Aristoteliker schließen einander als Begriffe von Arten einer Gattung aus, den Begriff des Philosophen als den ihnen übergeordneten Gattungsbegriff aber ein, etc. Die Begriffe stehen somit in logischen Beziehungen zueinander, die nicht als formale, sondern als inhaltliche logische Beziehungen zu fassen sind. Sie erlauben es, inhaltliche Schlussfolgerungen etwa folgender Art zu ziehen: „Dieser Philosoph ist ein Platoniker, also kein Aristoteliker“ etc. Durch diese inhaltlichen Schlussfolgerungen werden die Inhalte der Begriffe somit näher bestimmt, und das ist möglich, da die Begriffe selbst unter der Dualität von Allgemeinem und Besonderem stehen und durch die entsprechenden Ein- und Ausschlussbeziehungen geprägt sind. Doch kehren wir zuerst zum Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen zurück und erwähnen, dass in ihm keine beliebigen inhaltlichen Schlussfolgerungen gezogen werden, sondern nur solche, die der jeweils verhandelten Sache entsprechen. Dieser sogleich näher explizierte Punkt ist insofern von einiger Wichtigkeit, als damit die bisherige Richtung der Explikation gleichsam umgekehrt wird: Wurde bisher von der Begriffsanwendung und der ihr vorausliegenden objektiven Fallhöhe im Ding über das Urteil zum Schluss weiter geschritten, so wird nun vom Schluss aus nicht nur der Begriff, sondern gerade auch das Ding in den Blick genommen. Damit schließt sich nicht nur der Kreis der Argumentation, sondern es wird auch noch klarer, was der Ausspruch besagt, dass
Koch, Versuch, 181. Siehe dazu Koch, Wahrheit, 63.
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wir in unserm Diskurs die prädikatlose Diskursivität der Dinge aussprechen. Die Einschränkung der inhaltlichen Schlussfolgerung rührt daher, dass die Begriffe, die jeweils bestimmt werden, im Gefolge der These des klassischen Idealismus gerade objektiv sind, also den Dingen zukommen. Die Dinge aber sind nicht beliebig durch unsere Diskurse formbar, da den Dingen Objektivität zukommt. Dies wurde damit erklärt, dass sie eben nicht nur an der Wahrheit, sondern auch an dem Ding an sich (als Singularetantum) teilhaben. Sie sind nicht nur eingebettet in das Reich der Gründe, sondern auch geprägt von dem Prinzip der Realität des Realen (siehe dazu schon Zweites Kapitel, 2.2.1.1.).153 Nur so ist gewährleistet, dass sie nicht durch unseren jeweilige Meinung über sie hier jetzt geschaffen werden, und nur das wiederum gewährleistet, dass wir uns in Bezug auf sie jeweils auch irren können; ohne Irrtumsmöglichkeit aber sind keine Wahrheitsansprüche erhebbar. Das Ding an sich (als Singularetantum) bezeichnet mit dem Prinzip der Realität des Realen etwas, das nicht als eigenes Ding oder als eigenes Teil am Ding reifiziert werden kann, da das wiederum zum metaphysischen Realismus mit seinen Problemen zurückführen würde. Es markiert somit keinen eigenen Bereich außerhalb des Reichs der Gründe und ist an sich entsprechend weder bestimmt noch wirklich. Es ist daher nicht ontisch anzusetzen, sondern epistemisch, öffnet aber den Raum der Gründe gleichsam von innen für sein nicht eigens reifizierbares Außerhalb. Damit führt es dazu, dass das Sich-Zeigen der Dinge zugleich ihr Sich-Verbergen ist, ohne dass das eine vom anderen isolierbar ist.154 Diese Einsicht führt uns zu dem Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurück und ermöglicht uns zu verstehen, warum keine beliebigen Schlüsse über die Inhalte der Dinge gezogen werden können: Denn der Zusammenfall von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen besagt zugleich, dass wir unseren Umgang mit der Wirklichkeit nicht in eine apriorische Metaphysik der Natur aufheben können, sondern dass wir jeweils auch aposteriorisch zu verfahren haben. „Die Existenz also trübt das Wesen, vom Standpunkt des Diskurses aus gesprochen, und bringt in es ein Moment Siehe Koch, Versuch, 199–205. Gegen alle Annahmen einer Präsenzmetaphysik gleichen die hier erreichten Bestimmungen somit Heideggers Verständnis der Wahrheit als Unverborgenheit, die sich je aus Verborgenheit entringt, anders gesagt: Die wesentliche Vermittlung von Begrifflichkeit und Objektivität ähnelt der von Welt und Erde bei Heidegger (siehe Erstes Kapitel, 1.3. und Erstes Kapitel, 1.4.). 153
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der diskursiven Nichtableitbarkeit und Aposteriorität.“155 Da die Dinge objektiv sind, können unsere Diskurse sie nicht beliebig bestimmen. Vielmehr sprechen unsere Diskurse gerade das aus, was die Dinge sind bzw. in ihrer prädikatlosen Dingsprache sagen; sagen unsere Diskurse etwas anderes, so sind sie nicht gerechtfertigt. Der Inferentialismus wird somit durch die Verfasstheit der Dinge eingeschränkt. Näheres Zusehen lässt deutlich werden, dass er zugleich auch von ihr begründet wird. Denn da die Dinge eben nicht nur objektiv sind, sondern im genannten Sinne auch Begriffe, und Begriffe in logischen inhaltlichen Beziehungen zueinander stehen, welche inhaltliche Schlüsse legitimieren, können dafür dann die inhaltlichen Schlussregeln aufgestellt werden, die als Inferentialismus namhaft gemacht werden. Dass wir in unseren Diskursen die prädikatlose Dingsprache aussprechen, weist somit letztlich auf eine dreifach bestimmte Beziehung zwischen den Dingen und unserer Urteilspraxis hin: Weil die Dinge auch Allgemeines sind (weil sie prädikatlose Dingdialekt sind), sind sie erstens derart in die Zuordnung von Allgemeinem und Einzelnen eingespannt, dass sie das objektive Fallen eines Einzelnen unter ein Allgemeines sind, so dass sie sich uns zeigen und über die Begriffsanwendung in unsere Sprache hineingelangen. Weil die Dinge auch Allgemeines sind, sind sie zweitens derart in die Zuordnung von Allgemeinem und Besonderen eingespannt, dass ihnen gleichsam an ihnen selber Ein- und Ausschlussbeziehungen zukommen, so dass wir in unserer diskursiven Begriffsnetz genau diese den Dingen selbst zukommende Beziehungsnetz zur Sprache bringen. Unser Netz an Bestimmungen bestimmt den Inhalt der Sache, da diese an ihr selbst in ein Bestimmungsnetz eingebunden ist. Weil die Dinge aber auch objektiv sind (weil sie auch an dem Prinzip der Realität des Realen teilhaben), sind diese Ein- und Ausschlussbeziehungen ganz bestimmte, die wir in unserer Sprache nicht einfach festlegen können, sondern der wir in diesem präzisen Sinne aposteriorisch zu entsprechen haben. Diese Festlegungen sind in zwei Hinsichten interessant: Erstens ist deutlich, dass die eben angedeuteten Bestimmungen Dinge gerade in ihrer Verwobenheit in die Sprache hinein mit der Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit korrespondieren: Dass bei den Dingen jeweils ein Einzelnes unter ein Allgemeines fällt, korrespondiert dem ersten Wahrheitsaspekt; dass die Dinge in die Zuordnung von Allgemeinem und Beson Koch, Versuch, 200.
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derem eingespannt sind und sie somit an ihnen selbst offen für Näherbestimmungen sind, korrespondiert mit dem dritten Wahrheitsaspekt; und dass sie objektiv sind, korrespondiert mit dem zweiten. Am Beginn der Reflexionen zur Designation wurde die Drei-Aspekten-Theorie dadurch plausibilisiert, dass die Drei-Aspekten-Theorie mit den drei Bestimmungen der Dinge in Beziehung gebracht wurden, die wir aus den ersten Reflexionen und aus den Reflexionen zur Prädikation kannten; nun sehen wir, wie sich diese Bestimmungen präzisieren, indem sie in ihrer Sprachlichkeit reflektiert werden.156 Doch kommen wir, zweitens, zum Inferentialismus zurück: Der Inferentialismus findet in der Verfasstheit der Dinge seinen Grund und seine Grenze.157 Zugleich ist die Objektivität der Begrifflichkeiten nicht die einzige Einschränkung des Inferentialismus. Vielmehr macht er nicht überflüssig, sondern lebt gerade davon, dass das Wesen der Dinge immer auch in paradigmatischen Anwendungsfällen zur Sprache kommt, da nur diese vor dem Regress der Merkmalsbeschreibungen retten. Damit ist diejenige Position erreicht, die Koch (und wir mit ihm) vertreten wollen. Er nennt sie den schwachen Inferentialismus und fasst ihn in folgender These zusammen: „Schwacher Inferentialismus: Die Bedeutungen der generellen Termini, d. h. ihre Beiträge zu den Wahrheitsbedingungen von Sätzen, bzw. die Inhalte der Begriffe werden durch inhaltliche Schlussregeln und durch paradigmatische Fälle bestimmt.“158 Diese These fasst auch deshalb die erreichten Einsichten zusammen, da 156 Zudem werden sich alle diese drei Aspekte als notwendige Aspekte herausstellen, um den Gabecharakter der Dinge zu erweisen. Denn anders als der Bestand, der Dinge als abstrakt präsent ansieht, ist die Gabe dadurch gekennzeichnet, dass die Dinge sich von sich aus uns zeigen, da bei ihnen ein Einzelnes unter ein Allgemeines fällt (erster Aspekt), und dieser Aspekt ist von ausgezeichneter Wichtigkeit dafür, den Gabecharakter der Dinge zu betonen. Dazu gehört aber auch, dass die Dinge uns dann auch aktivieren und offen für unsere Näherbestimmungen sind, in denen wir uns irren können (dritter Aspekt), ohne dabei allerdings ihr Sich-verbergen und ihre Eigenbestimmtheit aufzugeben (zweiter Aspekt). Koch erreicht somit durch seine erstphilosophischen Reflexionen einen gut begründeten, recht differenzierten Vorbegriff dessen, was theologisch als Gabe qualifiziert wird. 157 „Daß die Begrifflichkeit objektiv ist, schränkt den Inferentialismus ein; dass jenes Objektive aber Begrifflichkeit ist, begründet ihn; denn das begrifflich Allgemeine unterscheidet sich von quasidinglichen Universalien durch die internen Einund Ausschlußbeziehungen, die es gliedern. Diese aber legitimieren inhaltliche Schlüsse. Und für diese wiederum lassen sich inhaltliche Schlussregeln aufstellen – jedoch nicht nach Belieben“ (Koch, Versuch, 196 f.), sondern jeweils nur so, dass damit das Wesen der Dinge zur Sprache kommt. 158 Koch, Versuch, 196.
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die wesentliche wechselseitige Verwiesenheit der drei Wahrheitsaspekte in sie eingezeichnet ist: Der präsentationale Wahrheitsaspekt ist in dem Verweis auf die paradigmatischen Fälle in diese These über das Zustandekommen der Inhalte eines Begriffs eingezeichnet, der realistische in dem Verweis auf die Wahrheitsbedingungen, und der normative eben in dem Verweis auf die inhaltlichen Schlussregeln.159 Nach der Exploration der differenzierten wechselseitigen Verwiesenheit der drei Wahrheitsaspekte und der wechselseitigen Verwiesenheit von Wahrheit und Sprache sollen im Folgenden zuerst Dimensionen des ersten Wahrheitsaspekts (Zweites Kapitel, 2.2.3.3.) und dann solche des dritten weiter erforscht werden (Zweites Kapitel, 2.2.3.4.). Beim Bedenken des ersten Wahrheitsaspekts wird die transzendentale Epoché in den Blick rücken und damit auch der „Dreistufengebrauch des Ich“, der eine elegante Verbindung des Ichs als Person und als Subjekt präsentiert. Zugleich kommen mit dem ersten Wahrheitsaspekt diejenigen paradigmatischen Fälle von Wahrheit in den Blick, die zum einen erklären, warum wir zu Recht annehmen, dass unsere Meinungen mehrheitlich wahr sind, und die zum anderen dadurch allererst die Wahrheit selbst verständlich werden lassen. Beim Bedenken des dritten Wahrheitsaspektes wird demgegenüber die grundlegende und unaufhebbare Antinomie bedacht, die in jeden Diskurs eingeschrieben ist und ihn bedroht, ohne ihn gänzlich außer Kraft setzen zu können.
2.2.3.3. Subjekt und Person: Aspekte des Ersten Wahrheitsaspekts 2.2.3.3.1. Die gedankliche Trennung von Schein und Sein Das Großthema der Überlegungen von Zweites Kapitel, 2.2.3.3. kann wie folgt ausgedrückt werden: Die grundlegende Einsicht des ersten Wahrheitsaspekts besagt, dass die Dinge sich zeigen oder dass sie scheinen. Zugleich kann sich dieses Scheinen auf sich selbst beziehen und tritt dann als Subjektivität auf, denn die Subjektivität zeichnet sich gerade 159 Oder, in Bezug auf den ersten Teil des Buches formuliert: Während die technische Moderne zum Generieren von Bedeutungen genereller Termini den Satz vom Grund und damit den normativen Wahrheitsaspekt verabsolutiert und die revolutionäre Lesart Heideggers das Sich-Zeigen der Dinge in paradigmatischen Anwendungsfällen, sieht Koch mit der reflexiven Lesart Heideggers, dass alle drei Wahrheitsaspekte einander wechselseitig fordern, ohne ineinander aufgehoben werden zu können.
178 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie dadurch aus, dass ihr scheint, dass ihr etwas scheint. Anders gesagt: Sie zeichnet sich durch Selbstbewusstsein aus.160 Zur näheren Reflexion auf den Zusammenhang des Sich-Zeigens der Dinge und der menschlichen Subjektivität sei jedoch nicht nur auf die grundlegende Einsicht des ersten Wahrheitsaspektes verwiesen, dass die Dinge sich zeigen, sondern auch auf einen zentralen Punkt des zweiten, realistischen Wahrheitsaspekts: auf die basale Einsicht, dass die Annahme unserer Fehlbarkeit und unsere Objektivitätsansprüche in unseren Urteilen wechselseitig aufeinander verweisen (siehe Zweites Kapitel, 2.2.1.1.). Wir können nur dann einen Anspruch auf die Objektivität unserer Aussagen erheben, wenn wir unsere eigene Fehlbarkeit unterstellen. Zugleich impliziert die Annahme unserer Fehlbarkeit, dass wir Objektivitätsansprüche erheben. Diese wechselseitige Verwiesenheit von Objektivität und Fehlbarkeit ist grundlegend für unsere Urteilspraxis und findet wie folgt in unseren sprachlichen Vollzügen ihren Niederschlag. Wir erheben einen Objektivitätsanspruch, indem wir sagen: „Das Buch ist rot“. Nun aber zeigt es sich, dass das Buch weiß ist und nur die Beleuchtung des Raumes es rot aussehen ließ. Wir reagieren auf unsere Fehlzuschreibung mit einem Satz wie dem Folgenden: „Es schien mir aber, dass das Buch rot ist (auch wenn ich jetzt sehe, dass es tatsächlich nicht rot ist)“ Dieser Satz ist der sprachliche Ausdruck dafür, dass wir die „transzendentale Epoché“ vollziehen. Dabei klammern wir den objektiven Wahrheitsanspruch des Urteils ein und konzentrieren uns allein auf dasjenige, was der Anschein war, der für unser Urteil sprach. Wir begegnen somit einem Phänomen, das an dasjenige erinnert, das wir in Bezug auf die Beobachtungssätze in semantischer Hinsicht bedachten (siehe oben, Zweites Kapitel, 2.2.3.2.1.): Unabhängig davon, ob das Buch tatsächlich rot oder weiß ist, unabhängig davon also, was der Fall ist, schien es mir jedenfalls so zu sein, dass das Buch rot ist. Der Anschein bleibt unabhängig davon bestehen, ob die Wand tatsächlich rot oder weiß ist. Den Vollzug der Epoché kennen wir aus der antiken Skepsis und von Husserl her; hier aber interessiert er weder als Form der Lebensführung wie in der Skepsis noch als Moment der phänomenologischen Methode wie bei Husserl, sondern als Freilegung des inneren Kerns eines Urteils – desjenigen Kerns, der den Anschein namhaft macht, der jedem Urteil zugrunde liegt. Durch den Vollzug der transzendentalen 160 Siehe Koch, Versuch, 245 und Koch, Wahrheit, 98; zum ganzen Teil Zweites Kapitel, 2.2.3.3. siehe Koch, Versuch, 206–257.
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Epoché trenne ich gedanklich zwischen dem Anschein, dass p, und dem Der-Fall-Sein, dass p, und rekurriere allein auf den Anschein, dass p. Anders ausgedrückt: Im Vollzug der Epoché werden Sein und Schein der Dinge gedanklich voneinander getrennt, und es wird nicht auf das Sein der Dinge rekurriert, sondern allein auf ihren Schein. So lässt die Epoché das Scheinen der Dinge als solches hervortreten und damit dasjenige, was mit dem ersten Wahrheitsaspekt bezeichnet wird.161 Die Möglichkeit zur Trennung von Schein und Sein ist wichtig, da die eigene Fehlbarkeit nur dann erklärt werden kann, wenn die Möglichkeit des Vollzugs dieser Trennung und damit die Möglichkeit der transzendentalen Epoché angesetzt wird. Würden wie bei einem Ursachverhalt der Anschein und das Der-Fall-Sein untrennbar zusammenfallen, so wäre keine Fehlbarkeit denkbar. Zugleich ist die Annahme der eigenen Fehlbarkeit eine notwendige Voraussetzung unserer Urteilspraxis, so dass auch die Möglichkeit des Vollzugs der Epoché (als eine der notwenigen Voraussetzungen der Fehlbarkeit) eine der notwendigen Voraussetzungen unserer Urteilspraxis ist. Wie Koch in einer These festhält: „Wer nicht über die begrifflichen Mittel zum Vollzug der transzendentalen Epoché verfügt, nimmt nicht an der Urteilspraxis teil.“162 Diese Einsicht bringt drei weitere mit sich. Erstens ist dabei impliziert, dass die Möglichkeit zum Vollzug der Epoché jeden einzelnen und damit alle Urteilsansprüche begleitet. Sie ist somit nicht nur als lokale Epoché für diesen oder jenen Urteilsanspruch anzusetzen, sondern in ihrer Reichweite zur globalen oder transzendentalen Epoché zu erweitern, die alle Urteilsansprüche auf den Kern ihres Anscheins reduzieren kann. Wird sie als globale Epoché vollzogen, so bezieht sie sich somit nicht mehr auf dieses oder jenes Objekt, sondern auf Objektivität überhaupt, und zwar so, dass diese allein im Modus des Scheinens gilt. Das Scheinen, das der globalen Epoché entspricht, kann somit als das „absolute Scheinen“163 bezeichnet werden. Diese führt zu unserem zweiten Punkt, der wesentlichen Differenz der Verfasstheit der Inhalte der Urteile mit und ohne Vollzug der transzendentalen Epoché. In einem Urteil wie dem, dass das Buch rot ist, erhebe ich einen objektiven Wahrheitsanspruch, welcher wahr oder falsch ist. Ich formuliere somit eine thetische Aussage mit einem zweiwertigen Wahrheitsanspruch. Vollziehe ich nun Siehe Koch, Versuch, 224 f. Koch, Versuch, 211. 163 Koch, Versuch, 213. 161
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180 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie die Epoche und äußere ein Urteil wie das, dass mir jedenfalls schien, dass das Buch rot war, so äußere ich zwar eine Aussage, die deskriptiv ist (anders als das bei einer Bitte oder einem Wunsch der Fall ist, die nicht deskriptiv sind). Zugleich vollziehe ich aber nur noch der sprachlichen Form nach ein Urteil der gewohnten Art. Indem ich den objektiven Wahrheitsanspruch sistiere und allein den ihn grundlegenden Anschein freilege, präsentiere ich ein athetisches Urteil, das in einem einwertigen Sinne wahr ist: wahr ohne die Möglichkeit, dass es falsch ist. Darin, dass es mir schien, dass das Buch rot ist, bin ich unfehlbar. Die Unfehlbarkeit wird uns später noch weiter beschäftigen, hier aber sei drittens kurz der sich aufdrängenden Frage nachgegangen, ob wir mit der Kombination vom Scheinen der Dinge und der Unfehlbarkeit unseres Wissens nicht vielleicht doch gleichsam durch die Hintertür einen Ursachverhalt einführen? Da eine Theorie, die Ursachverhalte entwickelt, selbstwidersprüchlich ist (siehe dazu unten, Zweites Kapitel, 2.2.1.4.), muss die Einführung von Ursachverhalten unbedingt vermieden werden. Dies geschieht, indem festgehalten wird, dass die athetischen Urteile als nachträgliche Abstraktionen von unseren thetischen Urteilen entstehen. Entsprechend zielen sie auch nicht auf eine eigene Klasse von Gegenständen ab – auf die Ursachverhalte – oder auf eine eigens objektivierbare Qualität eines Gegenstandes. Das Scheinen der Dinge ist nicht selbst ein Ding und auch keine objektive Eigenschaft eines Dings; das Rotaussehen ist weder ein Ursachverhalt noch eine phänomenale Qualität von der Art des Rotseins, sondern eine wichtige, aber nicht eigens reifizierbare Dimension an denjenigen Dingen, die wir in unseren thetischen Urteilen zur Sprache kommen lassen.164 Dasjenige Bewusstsein, das den athetischen Urteilen entspricht, kann athetisches Bewusstsein genannt werden und dasjenige, das den thetischen Urteilen entspricht, thetisches. In Bezug auf diese Bewusstseinsformen hält Koch entsprechend als These fest: „Das athetische Bewusstsein der Epoché ist insofern nachträglich und unselbständig, als es durch die Abstraktion von unseren Objektivitätsansprüchen gewonnen wird aus dem vorausgesetzten, gewöhnlichen Wahrnehmungsbewußtsein, in dem wir uns auf objektive, öffentliche Dinge und Ereignisse beziehen.“165 Zugleich darf seine Unselbständigkeit nicht vergessen machen, dass das athetische Bewusstsein als Ausdruck vollzogener Epoché für die Ur Siehe dazu auch Koch, Wahrheit, 102. Koch, Versuch, 228.
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teilspraxis wesentlich ist. Das erwies sich bereits darin, dass seine Möglichkeit eine der notwendigen Voraussetzungen der Fehlbarkeit war, und es erweist sich auch dann, wenn daran erinnert wird, dass der „kognitive“ Aspekt der Wahrheit unaufhebbar zweigeteilt ist, in den ersten und den dritten (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.3.1.). Dementsprechend sind dem kognitiven Aspekt der Wahrheit – kantianisierend gesprochen – je eigene Erkenntnisstämme zuzuordnen, dem dritten der Begriff und dem ersten die Anschauung.166 In der Anschauung nehmen wir das Scheinen der Dinge auf. Allerdings ist mit dem athetischen Bewusstsein auch die Anschauung je auf den Diskurs bezogen, so dass sie jeweils diskursiv geprägt ist. Sie ist somit weder vollständig auf den Diskurs zurückzuführen, da dies eine Verabsolutierung des dritten Wahrheitsaspekts mit sich führen würde, noch ganz von ihm zu isolieren, da dies eine Verabsolutierung des ersten Wahrheitsaspekts mit sich führen würde. Mit Kochs These gesprochen: „Das athetische Wahrnehmungsbewußtsein enthält eine genuin kognitive sinnliche Anschauung. Weder ist es reduzierbar auf den Diskurs, noch ist es ein Bewusstsein sensorischer Ursachverhalte. Vielmehr ist es wesentlich auf den Diskurs bezogen, da in ihm immer schon diskursive Fähigkeiten aktualisiert sind.“167
2.2.3.3.2. Die Vermittlung von transzendentaler und personaler Subjektivität Die transzendentale Epoché trennt gedanklich den Anschein vom DerFall-Sein und lässt dabei das Scheinen der Dinge ebenso hervortreten, wie es auf die Anschauung als Erkenntnisstamm aufmerksam werden lässt. Dabei präsentiert sie sich in der sprachlichen Form des „Mir scheint, dass p“, dem das unselbständige, aber wesentliche athetische Bewusstsein entspricht, dem p scheint. Genaueres Nachdenken zeigt, dass dieses Mir-Scheinen einen wesentlichen Doppelsinn hat, dem genauer nachgedacht werden soll. Der Doppelsinn liegt darin begründet, dass ich mich in meinem Mir-Scheinen in Bezug auf die jeweiligen Inhalte vollständig irren kann, ich kann sogar halluzinieren. Das Mir-Scheinen kann sich somit von jedem speziellen Der-Fall-Sein lösen und sich als globale Epoché vollziehen. Dennoch hat die Theorie der Bezugnahme der Voraussetzung a pri Siehe Koch, Versuch, 228. Koch, Versuch, 229.
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182 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie ori (TVA) (siehe dazu oben, Zweites Kapitel, 2.2.2.3.) folgendes gezeigt: „Auf jeden Fall aber bin ich – und weiß ich mich a priori – bezogen auf Einzelheiten einer objektiven Umgebung, in deren Zentrum ich mich a priori lokalisiere.“168 Ansonsten wäre die Möglichkeit der Bezugnahme auf Einzelnes überhaupt preisgegeben. Mit dieser Einsicht liegt die Begründung für eine Doppelbestimmung des „Mir Scheinens“ vor, die nun genauer zu explizieren ist. Das „Mir-Scheinen“ hat einerseits eine solche Dimension, die man die „Operatorfunktion“ nennen kann. Das Mir-Scheinen ist der Operator dafür, Wissensansprüche zu deobjektivieren: Unabhängig davon, was der Fall ist, scheint es mir jedenfalls, dass p. Indem ich das „Mir scheint, dass“ vor einen Satz setze, enthalte ich mich damit der Frage, ob p der Fall ist, eines Urteils, und konzentriere mich allein auf das Scheinen der Dinge. Dabei übe ich nicht nur Enthaltung in Bezug auf die Frage, ob das Objekt, das scheint, der Fall ist oder nicht, sondern ich sehe auch ganz von mir selbst ab und konzentriere mich allein auf das Scheinen. Von mir bleibt nur eine allgemeine Meinigkeit, die dem mir erscheinenden Scheinen anhaftet. Man könnte den Operatorgebrauch wie folgt betonen: mir scheint dass p. Andererseits aber hat das Mir-Scheinen eine solche Dimension, die man die der „Selbstzuschreibung“ nennen kann. Mit dem „Mir scheint“ schreibe ich ja mir zu, dass mir etwas scheint. Gegenüber dem Operatorgebrauch des Mir-Scheinens re-objektiviere ich einerseits mich selbst, da ich doch in der Selbstzuschreibung gerade feststelle, dass mir (als realem Wesen) etwas scheint. Ich betone somit (wie in der TVA und durch sie ausführlich begründet), dass ich das Zentrum einer objektiven Umgebung bin. Entsprechend könnte man das Mir-Scheinen als Selbstzuschreibung wie folgt betonen: Mir scheint, dass p. Andererseits nähere ich mich auch auf der Objektseite wieder dergestalt dem Der-Fall-Sein an, dass ich meinen Bezug auf etwas Objektives betone, ohne den das Scheinen ja auch gänzlich inhaltsleer und damit letztlich nicht einmal mehr es selbst wäre. Die Doppelbestimmung des Mir-Scheinens besteht also darin, dass mit dem Mir-Scheinen einerseits der Operator der Epoché bezeichnet wird und das Mir-Scheinen andererseits Ausdruck der Selbstzuschreibung ist. Wichtig ist, dass die Bedeutung des Mir-Scheinens unaufhebbar zwischen diesen beiden Bestimmungen oszilliert. Dieses Oszillieren lässt sich sprachlich wie folgt abbilden: Es ist nicht nur möglich, „mir scheint, dass p“ zu sagen, sondern auch „mir scheint, dass mir scheint, Koch, Versuch, 227.
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dass p“, und „mir scheint, dass mir scheint, dass mir scheint, dass p“, etc. Man kann diese Erweiterung eine „inferentielle Selbstbeziehung“169 nennen. Beim „mir scheint, dass p“ kommt das „mir scheint“ einerseits als Selbstzuschreibung in den Blick (mir scheint, dass p); andererseits kann es als Operator angesehen werden, der das „p“ de-objektiviert. Wenn ich nun vom einfachen „mir scheint, dass p“ zum „mir scheint, dass mir scheint, dass p“ fortschreite, fällt das „mir scheint“ in seinen eigenen Operationsbereich. Somit wird das zweite (das rechts stehende) „mir scheint“ durch das erste (das links stehende) „mir scheint“ de-objektiviert (mir scheint, dass mir scheint dass p). Damit wird das Oszillieren zwischen De- und Reobjektivierung auch auf sprachlicher Ebene sichtbar: Zwar kann ich das erste „mir scheint“ selbst wiederum in den Operatorbereich integrieren und damit eindeutig deobjektivieren, aber nur um den Preis, dass dafür davor erneut ein solches „mir scheint“ gesetzt wird, das auch eine reobjektivierte Selbstzuschreibung ist (Mir scheint, dass mir scheint dass mir scheint dass p), etc. Das Mir-Scheinen tritt immer innerhalb und außerhalb seines eigenen Bereichs auf. Letztlich ist dieses Oszillieren in dem begründet, was im vorletzten Absatz als Einsicht präsentiert wurde, und diese wird dadurch gestützt, dass das „mir scheint, dass p“ mit seiner Iteration „mir scheint, dass mir scheint, dass p“ logisch äquivalent ist. So bleibt festzuhalten, was Koch in einer These wie folgt ausdrückt: „Der sprachliche Ausdruck der transzendentalen Selbstzuschreibung bzw. des athetischen (Selbst)Bewusstseins (‚Mir scheint, daß p‘ [. . .]) hat einen starken Doppelsinn, der sich aus seiner inferentiellen Selbstbeziehung ergibt: Er fällt einerseits in seinen Bereich als in den eines Operators der Athese oder Deobjektivierung und bleibt andererseits außerhalb des Bereichs als ein referentieller Ausdruck stehen. Sein Sinn oszilliert zwischen innen und außen [. . .].“170 Von hier aus kommt in den Blick, dass das Wort „ich“ in dreifacher Weise gebraucht wird. Das Oszillieren des Mir-Scheinens zwischen Operatorgebrauch und Selbstzuschreibung ließ bereits zwei verschiedene Verständnisse des „Mir“ sichtbar werden. Fällt das Mir-Scheinen in seinen eigenen Operationsbereich, so wird nicht nur das Objekt, das scheint, deobjektiviert, sondern in gewisser Hinsicht zugleich auch das Subjekt, dem etwas scheint. Es kommt somit nur in der Form der allgemeinen Meinigkeit des Scheinens in den Blick. Sie erscheint als eine ganz Koch, Versuch, 233. Koch, Versuch, 233.
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184 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie allgemeine res cogitans, die von jeder spezifischen res extensa geschieden zu sein scheint und zugleich „mit dem vormals Objektiven zu einem großen, allumfassenden Ursachverhalt zu verschmelzen scheint.“171 Auf sie kann nicht referiert werden, da sie kein irgendwie bestimmter Gegenstand ist, so dass sie irreferentiell ist. Sie kann man als transzendentale Subjektivität oder als den Operatorgebrauch des Ichs bezeichnen. Andererseits steht das Mir-Scheinen auch stets außerhalb seines eigenen Operationsbereichs und tritt als Selbstzuschreibung auf. In dieser Selbstzuschreibung wird das Scheinen zu dem einer so verfassten Subjektivität, wie wir sie bereits aus der TVA kennen: der Subjektivität als dem Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren, der eine bestimmte Person ist. „Die unwegdenkbare Meinigkeit, die allem und jedem – der ganzen Welt – anhaftet, sofern es auf bestimmte oder unbestimmte Weise Gegenstand meiner Vorstellung ist (und was wäre nicht wenigstens auf unbestimmte Weise Gegenstand meiner Vorstellung, da ich doch Worte wie ‚alles‘, ‚immer‘, ‚überall‘ verstehe), hat sich immer schon vereinzelt inmitten der Welt, inmitten des Alls der Dinge, als die Person hier jetzt, die ich bin.“172 Wenn diese personale Subjektivität in den Blick genommen wird, so kann sie als der „Subjektgebrauch“ des Ichs bezeichnet werden. Von diesem Nullpunkt des Koordinatensystems aber wissen wir aus den Ausführungen zur TVA bereits, dass es nur dann dieser Nullpunkt sein kann, wenn er zugleich Körper unter Körpern ist (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.2.4.). In dieser Perspektive also sind res cogitans und res extensa wesentlich miteinander vermittelt, so dass der Mensch als Person als Leib in den Blick kommt. Wird das Subjekt unter der Perspektive des Körpers unter Körpern in den Blick genommen, so kann es als „Objektgebrauch“ des Ichs bezeichnet werden. Auf das Ich als Körper unter Körpern kann man sich so beziehen wie auf andere Gegenstände innerhalb meines Koordinatensystems auch, und man selbst sowie alle anderen können sich bei dieser Bezugnahme irren. Entsprechend ist das Ich im Objektgebrauch referentiell. Dagegen ist das Ich im Subjektgebrauch halbreferentiell. Es aktiviert gleichsam nur die subjektive Seite des Referierens. Dabei verankere ich mich nicht in einem Koordinatensystem, sondern bin mir meiner selbst als Nullpunkt meines Koordinatensystems bewusst. Etwa als Ausdruck von Schmerz kann der Subjektgebrauch auch für sich stehen (obwohl er je Koch, Wahrheit, 115. Koch, Versuch, 234.
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erweiterbar ist für den Objektgebrauch), während der Objektgebrauch jeweils den Subjektgebrauch mit einschließt. Dies kann mit Koch in einer These zusammengefasst werden: „Dreistufenthese zum Gebrauch von ‚ich‘: Der Objektgebrauch von ‚ich‘ ist vollkommen referentiell, der Subjektgebrauch ist halbreferentiell, der Gebrauch im Operator der Athese oder Deobjektivierung (der Operatorgebrauch) ist irreferentiell. Der Objektgebrauch schließt als der anspruchsvollere Gebrauch den Subjektgebrauch ein, nicht aber umgekehrt. Der Operatorgebrauch ist die instabile Evidenzbasis eines ihm je entsprechenden Subjektgebrauchs, von dem er sprachlich nicht separierbar ist.“173 Wenn dazu noch an das intersubjektive Wechselverhältnis erinnert wird, das im Gefolge des dritten Wahrheitsaspekts entwickelt wurde und das an die sich auch im Medium der Sprache vollziehende, wesentliche Verbindung aller Personen untereinander erinnert, so wird deutlich, dass es Koch gelingt, in seinen Reflexionen auf differenzierte Weise eine Vielzahl verschiedener Dimensionen des Menschen zu integrieren, die in gegenwärtigen Diskursen bisweilen einander abstrakt gegenüber gestellt werden. Denn einerseits entwickelt Koch mit guten Gründen eine Reihe von Bestimmungen, die im gegenwärtigen Diskurs um den Menschen als „Person“ hervorgehoben werden und die wir auch bei Luther wieder finden werden (siehe Erstes Kapitel, 2.3.1. und Drittes Kapitel, 2.2.2.2.). Als Implikat der TVA und der Subjektivitätsthese präsentiert Koch das „Ich“ als leibgeistige Einheit im subjektiv-objektiven Wechselverhältnis. Vor allem im Verlauf der Erörterungen zum dritten Wahrheitsaspekt wurde zudem deutlich, dass das Ich als Person je durch Sprache und Handlung mit anderen Personen im intersubjektiven Wechselverhältnis vermittelt ist. Zugleich präsentiert Koch gute Gründe dafür, dass das Ich nicht nur in den eben benannten Hinsichten Person unter Personen ist, sondern zum einen auch im Subjektgebrauch halbreferentieller Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren und damit in gewisser Hinsicht oberster Punkt der Ordnung der Dinge, da sonst Bezugnahme nicht denkbar ist. Zum anderen und vor allem ist es als transzendentale Subjektivität irreferentieller Operator des „mir scheint, dass p“, da dies ein Implikat der transzendentalen Epoché darstellt, die für die Urteilspraxis unabdingbar ist. Damit nimmt Koch Einsichten gegenwärtiger Sprachphilosophie und – gerade mit letzterem – bis in die Gegenwart hinein relevante Einsichten Koch, Versuch, 235.
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186 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie der Transzendentalphilosophie auf. Wie Koch selbst bemerkt, liegt seine Stärke darin, die verschiedenen Aspekte in der angedeuteten Weise zu integrieren: 174 Der Subjektgebrauch des Ich fasst das Ich als Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren und damit als halbreferentielles. Das impliziert aber zugleich, dass das Ich dafür leibgeistige Einheit sein muss, das entsprechend auch als Körper im Koordinatensystem der Indikatoren verortet ist, ohne allerdings auf diesen reduziert werden zu können. Als außerhalb und innerhalb des Koordinatensystems der Indikatoren stehend ist es zugleich auch in die Sprache und damit in die Beziehung zu anderen Personen hinein verwoben. Diesen Bestimmungen scheint zu widersprechen, dass das Ich zugleich als irreferentielle transzendentale Subjektivität zu fassen ist. Es zeigt sich aber, dass das irreferentielle Ich nur im Oszillieren mit dem Subjektgebrauch des Ich auftritt, das das Ich als eine leibliche Person jetzt, hier als Person unter Personen ist. Transzendentale und personale Subjektivität sind wesentlich miteinander vermittelt. Die Grenze dieses integrativen Modells von Koch besteht darin, nicht eigens nochmals auf die Grenze des Ichs zu reflektieren, also auf seine Kontingenz, die ihm nicht nur als Person unter Personen, sondern auch als Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren zukommt. Entsprechend werden wir dies über Koch hinausgehend zu bedenken haben und dabei andeuten, dass auch der Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren selbst nochmals in einer übergreifende, vom Absoluten aufgespannte Ordnungsrelation zu stehen kommt (siehe dazu Zweites Kapitel, 3.). Vorher aber sei noch bedacht, in welchem Sinne die so differenzierte Subjektivität und gerade das athetische Bewusstsein wahrheitsfähig sind, und inwiefern es möglich ist, dem athetischen Bewusstsein Selbstbewusstsein zuzuschreiben (welches für die Subjektivität von großer Wichtigkeit ist).
2.2.3.3.3. Zur Wahrheitsfähigkeit des athetischen Bewusstseins und zum Selbstbewusstsein Indem die Epoché das Scheinen der Dinge hervortreten lässt, lässt sie die Eigenheit des ersten Wahrheitsaspekts sichtbar werden und ist insofern ausdrücklich dem Faktum der Wahrheit zuzuordnen.175 Jene Positionen, Siehe auch Koch, Versuch, 231 f.429. Siehe dazu auch Koch, Versuch, 224.
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die allein den zweiten oder den dritten Wahrheitsaspekt im Blick haben, würden das gerade bestreiten: Wenn der zweite Wahrheitsaspekt verabsolutiert und somit allein der Objektivitätsanspruch unserer Aussagen in den Blick genommen wird, so scheint die Epoché nichts zu unseren Wahrheitsansprüchen beizutragen, da die Epoché ja gerade von dem Der-Fall-Sein der Dinge absieht und sich allein auf ihr Scheinen konzentriert. Wenn der dritte Wahrheitsaspekt verabsolutiert und somit allein das Geben und Nehmen von Gründen in den Blick genommen wird, so scheint die Epoché wiederum nichts zu unseren Wahrheitsansprüchen beizutragen, da das ihr zukommende athetische Bewusstsein dem Erkenntnisstamm der (wenn auch je diskursiv geprägten) Anschauung zuzuordnen ist. Da wir aber sahen, dass der zweite und der dritte Wahrheitsaspekt des ersten bedürfen, um das Faktum der Wahrheit erklären zu können (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.3.1.), ist auch die Epoché mit der Wahrheit in Beziehung zu bringen. Wie jetzt zu explizieren ist, ist das athetische Bewusstsein selbstbekundend und damit eine Form von Selbstbewusstsein, und ihm kommen nicht nur ein Mir-Scheinen, sondern auch ein Meinen und sogar ein Wissen zu. Die eigene Form des Selbstbewusstseins des athetischen Bewusstseins wird deutlich, wenn wir noch einmal zu der im letzten Abschnitt eingeführten Iteration des „Mir scheint, dass p“ zurückkehren. Aufgrund der logischen Äquivalenz von „Mir scheint, dass p“ mit dem „Mir scheint, dass mir scheint, dass p“ ist der Übergang vom Mir-Scheinen zu seiner Iteration je gegeben. Wenn mir aber nicht nur scheint, dass p, sondern mir vielmehr scheint, dass mir scheint, dass p, so heißt das, dass das Mir-Scheinen sich mir selbst bekundet. Mit meinem Bewusstsein liegt zugleich eine eigene, und zwar die ursprüngliche Form des Metabewusstseins vor. Das Selbstbewusstsein ist somit in seiner Wurzel weder referentiell – sich beziehend auf eine eigens isolierbare Entität – noch reflexiv – sich auf sich selbst wendend –, sondern vielmehr inferentiell. Als These: „Bewusstsein als solches ist zumindest bezüglich seines athetischen Momentes bereits sein eigenes Metabewußtsein, also Selbstbewusstsein, dies aber nicht kraft ausdrücklicher Bezugnahme auf sich, sondern kraft logischer Äquivalenz von ‚Mir scheint, dass p‘ und ‚Mir scheint, dass mir scheint, dass p‘. Die ursprüngliche epistemische Selbstbeziehung des Bewußtseins ist nicht reflexiv oder referentiell, sondern vorreflexiv und inferentiell.“176 Koch, Versuch, 222.
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188 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Indem das Mir-Scheinen sich mir bekundet, ist es zugleich auch doxastisch, also meinungsartig. Wenn mir scheint, dass mir scheint, dass p, so meine ich auch, dass mir scheint, dass p. Weiter gilt, dass dabei nicht nur ein Meinen, sondern sogar ein Wissen vorliegt, so dass das Mir-Scheinen nicht nur doxastisch, sondern auch epistemisch ist. Das Meinen erbt vom Scheinen dessen Irrtumslosigkeit in der Form von irrtumsimmunem Wissen. Denn jedem Meinen liegt ein Anschein zugrunde, sodass aus einem „Ich meine, dass p“ auch folgt „Mir scheint, dass p“. Zugleich folgt aufgrund der logischen Äquivalenz nicht nur aus dem „Mir scheint, dass p“ ein „Mir scheint, dass mir scheint, dass p“, sondern zugleich auch aus dem „Mir scheint, dass mir scheint, dass p“ ein „Mir scheint, dass p.“ Entsprechend folgt aus „Ich meine, dass mir scheint, dass p“ auch „Mir scheint, dass p“, und ich bin im Meinen ebenso unfehlbar wie im Mir-Scheinen selbst. „Aus ‚Ich meine‘, dass mir scheint, dass p‘ folgt ‚Ich weiß (irrtumsimmun), dass mir scheint, dass p.‘“177 Diese Beobachtungen zum athetischen Bewusstsein und dem ihm eigenen Selbstbewusstsein einerseits und dem ihm dabei je zukommenden Formen von Meinen und Wissen andererseits können wie folgt zusammengefasst werden: „Das Selbstbewusstsein, durch welches sich Subjektivität als solches auszeichnet, kommt vorreflexiv demnach vor als eine inferentielle Selbstbeziehung des (perzeptuellen, anschaulichen) Scheinens, die ein entsprechendes (diskursives) Meinen freisetzt, welches zugleich ein irrtumsimmunes Wissen ist. Das Selbstbewusstsein durchdringt also sowohl die athetische Anschauung als auch den thetischen Diskurs und verbindet das athetisch-anschauliche und das thetischdiskursive Moment als inferentielles Selbstverhältnis des Wissens, als wissende Selbstbeziehung. Indem ich nämlich weiß, daß mir scheint, daß p, weiß ich zugleich, daß ich weiß, daß mir scheint, daß p [. . .] Das Selbstbewußtsein als Signum der Subjektivität kommt vorreflexiv vor als inferentielles Selbstverhältnis des Scheinens (insbesondere in der Anschauung), des Meinens (im Diskurs) und des Wissens (in der Vereinigung von Anschauung und Diskurs.“178 Die Beobachtungen zum Mir-Scheinen und zum ersten Wahrheitsaspekt sollen dadurch abgeschlossen werden, dass das irrtumsimmune Wissen des Mir-Scheinens aufgegriffen wird und damit zwei grundlegende Probleme jeder Wahrheitstheorie bearbeitet werden, die bisher Koch, Versuch, 223. Koch, Versuch, 223.
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stets mitliefen, ohne eigens bedacht worden zu sein. Zum ersten wurde zwar die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit entwickelt, die Wahrheit selbst aber nicht definiert. Wie sich gleich zeigen wird, geschah dies aus dem Grund, dass Wahrheit undefinierbar ist und daher in seiner Bedeutung nur durch paradigmatische Anwendungsfälle expliziert werden kann. Finden sich diese im Mir-Scheinen, so dient dieses noch dazu, die zweite grundlegende Frage zu beantworten: Wie können wir der grundlegenden Skepsis entkommen, die eine der grundlegenden Anfragen an jede Wahrheitstheorie darstellt (siehe dazu oben, Zweites Kapitel, 2.1.) und die sich zugleich als ungewollte Konsequenz der Verabsolutierung des zweiten Wahrheitsaspekts einstellt?
2.2.3.3.4. Paradigmatische Anwendungsfälle der Wahrheit und ein antiskeptisches Argument Die Drei-Aspekten-Theorie benannte drei Momente des Begriffes der Wahrheit, ohne den Wahrheitsbegriff selbst zu definieren. Die Definition wurde unterlassen, da jede Definition der Wahrheit zirkulär ist: Sie muss dasjenige immer schon in Anspruch nehmen, was sie allererst definieren will. Denn mit einer Definition wird ein Wahrheitsanspruch erhoben. Um die Definition zu verstehen, muss man also Wahrheitsansprüche erheben können, und dafür muss man zumindest implizit bereits wissen, was Wahrheit ist. Diese Zirkularität kann zum einen so verstanden werden, dass damit die Artikulationsbedingungen jeder Definition erfasst sind, so dass die Definition der Wahrheit bereits aus Gründen, die für jede Definition gelten, zirkulär ist. Zugleich kann diese Zirkularität zum anderen so verstanden werden, dass sie den spezifischen Inhalt der Wahrheit selbst betrifft. Denn im Gefolge des semantischen Realismus und gegen die Position des Antirealismus werden Wahrheit und Bedeutung so aufeinander bezogen, dass die Bedeutung eines Satzes seine Wahrheitsbedingungen sind. Da eine Definition gerade die Bedeutung eines Satzes oder Begriffes festlegt, würde das Vorlegen einer Definition der Wahrheit je schon in Anspruch nehmen, dessen Wahrheitsbedingungen zu kennen. Daher hält Koch im Anschluss an Falk fest: „‚Wenn eine philosophische Theorie der Bedeutung eine Theorie der Wahrheitsbedingungen ist [. . .], kann die ‚Bedeutung‘ des Wahrheitsprädikats nicht durch eine Definition angegeben werden.‘“179 Koch, Versuch, 151.
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190 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Auch wenn eine Definition dessen, was Wahrheit ist, aus genannten Gründen unmöglich ist, so will man den Begriff dennoch gerne erklären und verstehen. Zudem will man den Begriff so erklären, dass man ihn nicht bloß durch Konvention von seinem Gegenteil, der Falschheit, unterscheidet. Vielmehr will man ihn so erklären, dass man ihn aus sich heraus als wahr fassen kann. Um beide Anforderungen zu erfüllen, braucht es paradigmatische Anwendungsfälle dessen, was Wahrheit ist, Fälle also, in denen auf paradigmatische Weise benannt und beschrieben wird, was mit dem an sich undefinierbaren Begriff der Wahrheit gemeint ist.180 Im Mir-Scheinen liegen solche Anwendungsfälle vor, da sie mit irrtumsimmunem Wissen einhergehen, also einwertig und ohne weitere Rechtfertigung wahr sind. Auch wenn Wahrheit nicht definierbar ist, so zeigt sich doch im Mir-Scheinen auf paradigmatische Weise, was Wahrheit ist. „Was ist Wahrheit?“ „Nun, erinnere Dich daran, wie wunderbar rot Dir das Buch zu sein schien. Dieses Scheinen stellt einen paradigmatischen Fall von Wahrheit dar.“ Gegenüber denjenigen Wahrheitstheorien, die den zweiten und den dritten Wahrheitsaspekt verabsolutieren, ist somit nicht nur hervorzuheben, dass auch dem Mir-Scheinen und der Epoché Wahrheit zukommt, sondern mehr noch: Es zeigt sich, dass erst vom ersten Wahrheitsaspekt her verständlich wird, was mit dem Begriff der Wahrheit überhaupt gemeint ist. Zugleich wird vom ersten Wahrheitsaspekt her allererst verständlich, warum mit guten Gründen dem allgemeinen Wahrheitsskeptizismus entgegentreten werden kann.181 Die Skepsis meint, dass evtl. all unsere Wissensansprüche auf täuschendem Schein beruhen. Wir begegneten ihr als Resultat der Verabsolutierung des zweiten Wahrheitsaspekts, im metaphysischen Realismus (siehe dazu unten, Zweites Kapitel, 2.2.1.2.). Dieser meint, dass Wahrheit radikal nicht-kognitiv ist und dass die Dinge somit nicht wesentlich auf uns bezogen sind. Er schreibt den Dingen nur das Der-Fall-Sein zu, nicht auch das Scheinen. Dann aber ist es purer Zufall, ob unsere Meinung die Dinge angemessen aussagen oder nicht, so dass jede einzelne Aussage mit der Wahrscheinlichkeit von 0,5 wahr ist. Schlimmer noch: Wenn die Dinge nicht wesentlich auf uns bezogen sind, kann prinzipiell nicht geklärt werden, ob eine Aussage wahr oder falsch ist, und es ist nicht mehr verständlich, was es heißt, einen Wahrheitsanspruch zu erheben. So endet eine solche Position, die nur das Der-Fall Siehe Koch, Versuch, 151 f. und Koch, Wahrheit, 116 f. Siehe zum Folgenden Koch, Versuch, 238–244.
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Sein der Dinge betont und ihr Scheinen ganz ignoriert, in der radikalen Skepsis und im Relativismus. Die Gegenposition zur Skepsis besagt nicht, dass jede einzelne unserer Wahrheitsansprüche tatsächlich wahr ist, wohl aber, dass unsere Wahrheitsansprüche einen Hang zur Wahrheit haben. Mit Davidson gesprochen, sind sie mehrheitlich wahr, und unser jeweiliger Irrtum ist abhängig von unserem allgemeinen In-DerWahrheit-Sein.182 Dafür, dass dem tatsächlich so ist, sei auf dreifache, eng miteinander verbundene Weise argumentiert. Meinungen, die sich allein auf das Der-Fall-Sein der Dinge konzentrieren, sind mit der Wahrscheinlichkeit von 0,5 wahr. Sie als ganze könnten dadurch einen Hang zur Wahrheit erhalten, dass sie mit anderen Meinungen verbunden werden, die unfehlbar sind und ihnen damit den Hang zur Wahrheit verleihen. Die Meinungen, die sich allein auf das Der-Fall-Sein konzentrieren, können wir B-Meinungen nennen, und diejenigen Meinungen, die ihnen einen Hang zur Wahrheit verleihen, A-Meinungen. Um ihre Funktion zu erfüllen, dürfen die A-Meinungen keinen eigenen Gegenstandsbereich haben, der von dem der B-Meinungen gänzlich isolierbar ist. Denn wenn sich B-Meinungen auf rote Bücher beziehen würden und A-Meinungen auf Kaffee-Joghurts, so könnten alle A-Meinungen wahr sein, ohne den B-Meinungen damit einen Hang zur Wahrheit zu geben. „Gesucht sind, mit anderen Worten, unfehlbare A-Meinungen ohne eigenen Gegenstandsbereich, die in begrifflichen Beziehungen zu fehlbaren B-Meinungen bezüglich gewöhnlicher, objektiver Gegenstände stehen und letzteren einen Hang zur Wahrheit geben.“183 Offensichtlich erfüllt ein Satz von der Art, dass ich meine, dass p, die Kriterien für die gesuchte A-Meinung. Denn erstens kann durch die Epoché zu jeder B-Meinung eine A-Meinung geformt werden. Jede B-Meinung p kann durch die Epoché zu einem „mir scheint, dass p“ umgeformt werden, und wie wir unter Erstes Kapitel, 3.2.3. sahen, ist jedem „mir scheint, dass p“ ein „mir scheint, dass mir scheint, das p“ und damit ein „ich meine, dass p“ inhärent. Zweitens hat die so erreichte A-Meinung keinen eigenen Gegenstandsbereich, sondern bezieht sich auf dasselbe Objekt wie die B-Meinung. Sie ist an der mit „p“ markierten Stelle mit der B-Meinung begrifflich verbunden. Drittens sieht die A-Meinung von allen Objektivitätsansprüchen ab und ist damit irrtumsimmun. Sie ist nur in ihrer sprachlichen Form für Siehe dazu Koch, Versuch, 239 f. Koch, Versuch, 240.
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192 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie sprachliche Fehler anfällig, als meine Meinung aber ist sie gegen Fehler gefeit. Warum aber verleiht die A-Meinung der B-Meinung einen Hang zur Wahrheit, wenn es doch klar ist, dass in jedem Einzelfall der von der A-Meinung betonte Schein und das von der B-Meinung betonte DerFall-Sein der Dinge auseinanderfallen kann (in jedem einzelnen Fall kann mir das Buch rot zu sein scheinen, obwohl der Schein nicht vom Buch, sondern von der Beleuchtung hervorgerufen wird)? A-Meinungen verleihen den B-Meinungen einen Hang zur Wahrheit, weil die Epoché am Ding zwar ihr Der-Fall-Sein ausschaltet, ohne jedoch den Bezug zur Objektivität als Ganzer aufzugeben (siehe dazu auch schon Zweites Kapitel, 2.2.3.3.1). Würde sie diesen Bezug ganz aufgeben, so würde sie zu einem in sich widersprüchlichen Ursachverhalt werden. Sie würde auch aus folgendem Grunde nicht erklärbar sein: „Für den Inhalt einer irrtumsimmunen Meinung ist und bleibt der Inhalt derjenigen irrtumsanfälligen Meinung konstitutiv, aus welcher letztere durch Deobjektivierung hervorging. Ich kann den Anschein, unter dem ich stehe, z. B., daß dort ein Baum steht, nicht ohne Rückgriff auf den Begriff eines Objektes, hier des Baumes, beschreiben. Das aber bedeutet, daß der täuschende Schein gegenüber dem veridischen perzeptuellen Anschein das Nachgeordnete und die Ausnahme ist. Ein Wahrnehmungsirrtum ist nur möglich vor dem Hintergrund von Wahrnehmungswissen. Es kann nur irren, wer in der Wahrheit ist [. . .] Obwohl also kein Schluß von einem besonderen perzeptuellen Scheinen auf ein objektives Sein [. . .] gilt, läßt sich allgemein doch vom Vorkommen von A-Meinungen darauf schließen, dass B-Meinungen eine Tendenz zur Wahrheit haben und Wahres einschließen.“184 Das Stichwort des Irrtums bringt uns zur zweiten, mit der ersten eng verbundenen Erklärung dafür, dass die Skepsis nicht das letzte Wort hat, weil in jedem Irrtum Wahres vorausgesetzt und mitgemeint wird. Ein Irrtum, so sahen wir unten in Zweites Kapitel, 2.2.1.3., ist nur denkbar, wenn die radikale Asymmetrie von Designation und Prädikation angesetzt wird. Der Irrtum tritt auf, wenn an der Subjektstelle des Satzes eine Bezugnahme auf Einzelnes vorliegt und dem dann mithilfe des prädikativen als ein Prädikat falsch zugeordnet wird (so dass etwa Theaitetos als fliegend beschrieben wird). Der Irrtum setzt also die gelingende Bezugnahme auf Einzelnes voraus (was freilich impliziert, dass diese Bezug Koch, Versuch, 244.
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nahme möglicherweise auch Falsches mitmeint; evtl. sitzt dort drüben der Zwillingsbruder von Theaitetos, und ich habe die beiden auf die Schnelle verwechselt). Die dritte Plausibilisierung erfolgt nicht durch eine apriorische Argumentation, sondern durch einen phänomenalen Ausweis: „Phänomenal ausweisen läßt sich das In-der-Wahrheit-Sein als Bedingung der Möglichkeit des Irrtums an der Phänomenalität selber. Die Phänomenalität der Dinge ist ihre Offenheit für uns als erkennende Subjekte, wie unsere Fähigkeit der sinnlichen Anschauung unserer Offenheit für sie als Erkenntnisobjekte ist.“185 Würden die Dinge sich uns nicht zeigen, und würden wir das Scheinen nicht als ein Mir-Scheinen aufnehmen können, so könnten wir uns bezüglich ihrer nicht einmal irren. Der erste Aspekt der Wahrheit und damit die Tatsache, dass die Dinge sich zeigen und dass wir in unserer Anschauung offen für sie sind, zeigt somit nicht nur in paradigmatischer Weise, was mit dem Begriff der Wahrheit überhaupt gemeint ist. Vielmehr finden wir im ersten Wahrheitsaspekt zugleich allererst die Begründung dafür, wie es überhaupt zum Irrtum kommen kann, und ineins damit die Begründung dafür, dass der Irrtum gegenüber der Wahrheit parasitär ist. Die Skepsis meint, dass alle unsere Wahrheitsansprüche auf täuschendem Schein beruhen; näheres Nachdenken zeigt, dass der täuschende Schein gegenüber dem mit dem ersten Wahrheitsaspekt hervorgehobenen veridischen Schein nachgeordnet ist.186 Nachdem die letzten Überlegungen zum ersten Wahrheitsaspekt gleichsam die Lichtseite unserer Wahrheitsansprüche zum Vorschein brachten, betonen die folgenden Überlegungen ihre Schattenseite. Sie wird sichtbar werden, wenn wir uns daran erinnern, dass wir das Sich-Zeigen der Dinge nie tatsächlich als Ursachverhalt haben, sondern jeweils nur als gleichsam virtuellen Ursachverhalt, der immer schon diskursiv vermittelt ist. Unser Diskurs aber ist unaufhebbarer Weise durch Koch, Versuch, 245. Um diese Beobachtungen in zwei Sätzen auf das Buch als Ganzes zu beziehen, so wird von ihnen aus nochmals besonders deutlich, welch grundlegenden Verfehlungen die Präsenzmetaphysik unterliegt, die blind ist gegenüber dem ersten Wahrheitsaspekt. Anders gesagt: Heidegger ist ganz konsequent, wenn er beschreibt, wie diejenige Metaphysik des Abendlandes, die die Unverborgenheit der Dinge vergisst, im Nihilismus endet. Zugleich wird deutlich, wie wichtig die Betonung des ersten Wahrheitsaspekts in seiner Integration in die anderen beiden ist. Gerade das liegt bei Luthers Verständnis des Gabe-Charakters der Dinge vor. 185
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194 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie eine Antinomie gekennzeichnet, welche darin begründet liegt, dass wir in unseren diskursiven Leistungen die Negation in Anspruch nehmen.
2.2.3.4. Die Antinomie des Diskurses: Aspekte des dritten Wahrheitsaspekts Die zentrale Einsicht dieses Abschnitts kann auf folgende Weise zusammengefasst werden: Der Diskurs wird durch die Negation antinomisch. Er wird somit durch dasjenige antinomisch, was als eine seiner unabdingbaren Grundannahme anzusetzen ist und was zugleich konstitutiv ist für das, was er leisten soll und leistet. Daher ist er im radikalen Sinne – von der eigenen Wurzel her – antinomisch.187 Um das genauer zu explizieren, sei daran erinnert, dass aus dem realistischen Moment unserer Urteilspraxis die Annahme unserer Fehlbarkeit folgt und aus dieser die Zweiwertigkeit unserer Aussagen, die zumindest als regulatives Prinzip festgehalten wurde: Unser Urteil ist entweder wahr oder falsch. „Daraus folgt für einen beliebigen Aussagesatz, a, die Möglichkeit einer Aussage, die dann und nur dann wahr ist, wenn a nicht wahr ist, mit anderen Worten: die Möglichkeit der Negation von a.“188 Die Verneinung stellt die wohl wesentlichste Operation des Diskurses dar. Das gilt insbesondere deshalb, weil die zur Verhandlung stehende Entität gerade erst mithilfe der Verneinung in ihrer eigenen Bestimmtheit zur Sprache kommt. Dies machten bereits die Überlegungen zum dritten Wahrheitsaspekt deutlich, die herausstellten, dass die inhaltlichen Schlussfolgerungen, welche für die Bestimmung der jeweiligen Entität unabdingbar sind, wesentlich mit der Verneinung verbunden sind (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.3.2.3.2.). Die Operation der Verneinung ist somit mit den Grundannahmen unserer Urteilspraxis mitgegeben, und sie ist konstitutiv für dasjenige, was der Diskurs leisten soll und leistet. Zugleich führt die in eine dergestalt zentrale Position eingerückte Verneinung dazu, dass der Diskurs antinomisch verfasst ist. Dafür sei die Verneinung zuerst kurz in theoretischer Hinsicht in drei Schritten betrachtet, ehe das Resultat dieser Betrachtung durch ein Beispiel veranschaulicht wird. Im ersten Schritt sei an die schlichte Bestimmung erinnert, dass die Operation der Verneinung aus a ein nicht a macht. Sie kann Siehe zum Folgenden Koch, Versuch, 258–294. Koch, Versuch, 259.
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somit so bestimmt werden, dass sie eine Aussage als Eingabe nimmt und daraus eine solche Aussage als Ausgabe liefert, deren Wahrheitswert dem der Eingabe kontradiktorisch entgegengesetzt ist. Als zweiter Schritt sei erwähnt, dass es nicht widersprüchlich ist, wenn man eine Operation vornimmt, in der Eingabe und Ausgabe identisch sind.189 Daher kann man auch die Negation in dieser Weise auf sich selbst anwenden, so dass sie als die Negation ihrer selbst oder als negierende Selbstbeziehung auftritt. Aus dem ersten und dem zweiten Schritt folgt als dritter ein fatales Resultat: „Da die Verneinung ihrer Definition zufolge einen Satz mit entgegengesetztem Wahrheitswert liefert, müßte eine Negation-ihrerselbst beide Wahrheitswerte besitzen; sie müsste entweder als Eingabe wahr und dann als Ausgabe falsch sein oder umgekehrt, und da diese Hinsichtenunterscheidung nur unsere ganz äußerliche ist, müßte sie schlich wahr und falsch zugleich sein.“190 Das berühmte Beispiel, das diese Überlegung illustriert, ist der Satz vom Lügner, der lautet: „Dieser Satz ist nicht wahr“. Nehmen wir an, dass er wahr ist, und bekräftigen wir ihn damit. Da der Satz seine eigene Negation ist, müssen wir ihn für falsch halten, wenn wir ihn für wahr halten und ihn damit bekräftigen. Wir müssen ihn also verneinen. Da der Satz aber seine eigene Negation ist, verneint er sich bereits selbst. Damit besagt er dasjenige, was wir von ihm sagen, wenn wir ihn verneinen. Daher ist er also wahr. Usw.: „Dieser Satz ist nicht wahr“ ist falsch, wenn wir annehmen, dass er wahr ist, und wahr, wenn wir annehmen, dass er falsch ist. Der Satz ist zugleich wahr und falsch. Damit stellt er eine Antinomie dar, also einen Widerspruch, der nicht auflösbar ist: Denn wie immer man ihn durchdenkt, führt er zugleich wieder in den genannten Widerspruch.191 189 Die Mengenlehre schließt diese Einermengen-ihrer-selbst zwar meist aus, aber der Grund dafür liegt nicht darin, dass die Einermengen-ihrer-selbst selbstwidersprüchlich sind. Entsprechend ist die Erstphilosophie nicht daran gehindert, diese Operation zu vollziehen. 190 Koch, Versuch, 259. 191 Anhand des Satzes vom Lügner kann übrigens verdeutlicht werden, dass es tatsächlich die Negation ist, die zur Antinomie führt. Denn die anderen beiden Operationen, die in ihm vorgenommen werden, sind als solche unproblematisch. Unproblematisch ist zum einen die Anwendung eines Satzes auf sich selbst, wie das folgende Beispiel zeigt: „Dieser Satz hat fünf Wörter.“ Unproblematisch ist auch die im Satz vom Lügner vorkommende Verwendung des Wahrheitsprädikats, da in diesem Fall mit dem Wahrheitsprädikat keineswegs eine so umfassende Wahrheitstheorie verknüpft ist wie mit der Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit. Vielmehr wird das Wahrheitsprädikat hier nur in technischem Sinne zu dem benutzt, was man mit Tarski als „semantischen Aufstieg“ bezeichnen könnte. Der semantische Aufstieg hilft,
196 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Die Antinomie stellt nicht bloß eine Möglichkeit dar, die den Diskurs begleiten könnte, sondern vielmehr eine Wirklichkeit. Sie ist bereits dadurch wirklich, dass sie eine Denkmöglichkeit darstellt, da bei Satzinhalten Denkmöglichkeit und Wirklichkeit zusammenfallen. „Was sich der Form nach als Satzinhalt (Satzbedeutung) anbietet, ist tatsächlich schon ein Satzinhalt (eine Satzbedeutung). Denn die Seinsweise eines Satzinhaltes ist sein Gedachtwerdenkönnen, die Seinsweise einer Bedeutung ihr Verstandenwerdenkönnen [. . .]. Wir haben den Inhalt [des Lügnersatzes, M. W.] spezifiziert: als seine eigene Negation. Folglich gibt es diesen Inhalt (in der Weise, in der es überhaupt Satzinhalte gibt), und es stellt sich nicht mehr die Frage seiner Existenz, sondern nur noch die Frage seiner Wahrheit.“192 Wahr aber ist er gerade so, dass er zugleich falsch ist, so dass er eine Antinomie darstellt. Mit großer Dringlichkeit stellt sich die Frage, wie mit der Antinomie umzugehen ist. Denn Widersprüche bedrohen den Diskurs, da aus Widersprüchen Beliebiges gefolgt werden kann und somit die Bestimmtheit unserer Rede in Gefahr steht. Zwei gleichermaßen radikale Optionen des Umgangs seien hier erwähnt, ohne sich ihnen anzuschließen. Parmenides, der das Problem der antinomischen Verfasstheit des Diskurses wohl als erster formulierte, reagiert darauf, indem er die Negation und somit alle Bestimmtheit, Vielheit und das Werden für nicht denkbar und nicht seiend, sondern allein für (nicht-veridischen) Schein erklärt.193 Somit bleibt ein logischer Raum, der allein vom Sein selbst in seiner Offenbarkeit gefüllt ist. Parmenides verabsolutiert also den ersten Wahrheitsaspekt und sieht den logischen Raum mit dem einen, einzigen Ursachverhalt des Seins zusammenfallen. Wie bei allen Ursachverhalten fällt auch hier dessen Sein mit dem Erkanntwerden zusammen: „Das Selbe nämlich ist sowohl Denken als auch Sein.“ Der Preis dafür ist, dass Parmenides sämtliche Phänomene – alle Bestimmtheit, damit aber auch alle Vielfalt und alles Werden – zum bloßen nicht-veridischen Schein viele oder gar unendlich viele Aussagen vorzutragen: Wenn man etwa ausdrücken will, dass man der Arithmetik zustimmt, so zählt man nicht alle arithmetischen Wahrheiten auf, sondern verwendet das Wahrheitsprädikat und sagt: „Alle Lehrsätze der Arithmetik sind wahr“. Entsprechend fasst auch das „ist wahr“ im „Dieser Satz ist nicht wahr“ bloß eine infinite Negation zusammen, so dass man auf das Wahrheitsprädikat eigentlich auch verzichten könnte, siehe auch Koch, Versuch, 265, und Koch, Wahrheit, 93 f. Somit ist deutlich, dass die Antinomie in der Negation begründet liegt. 192 Koch, Wahrheit, 92. 193 Siehe Koch, Versuch, 277–283.
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deklassiert. Auch wenn Parmenides bereit ist, diesen Preis zu zahlen, ist er uns doch zu hoch. Die entgegengesetzte Option besteht darin, die Antinomie ganz in den logischen Raum zu integrieren unter der Annahme, dass sie dort als wahr ausgegeben werden kann.194 Diese Option beruft sich öfters auf Hegel, ohne das vollumfänglich zu dürfen. Denn Hegel versucht zwar, den Widerspruch zu denken und meinte auch, dass Widersprüchliches existiert. Aber er meinte nicht, dass Widersprüche wahr sind, sondern dass sie gerade nur als sich-auflösende ihr Dasein haben. Entsprechend stellt gerade die Bewegung das realphilosophische Pendant des Widerspruchs dar. Allerdings meint Hegel wohl, dass die Widersprüche auf begriffslogische Weise letztlich ganz zu zähmen sind. Den Ansätzen, die die Antinomien als wahre Widersprüche zu etablieren versuchen, wollen wir jedoch auch nicht folgen. Das liegt nicht nur an der exegetischen Einsicht, dass sie sich dabei nur sehr indirekt auf Hegel berufen dürfen, sondern vor allem an systematischen Bedenken: Diese Unternehmen erwecken entweder leicht den Eindruck, Probleme durch Umdefinitionen lösen zu wollen, oder sie sind mit Begründungspflichten belastet, die nur schwer abgetragen werden können. Zugleich sei zugegeben, dass die sachlich nun eigentlich notwendige Debatte an dieser Stelle nicht geführt werden kann, und zwar zuletzt deshalb nicht, weil die hier vertretene Position eine Begründung der klassischen Logik selbst fordert – und das ist ein Unternehmen, das nicht einmal angedeutet werden kann. Ohne Begründung der klassischen Logik, aber in ihrem Gefolge sei festgehalten, dass Widersprüche auszuschließen (oder als sich-auflösende zu bestimmen) sind. Die Antinomie sollen somit weder aus dem logischen Raum ausgeschlossen werden, da damit letztlich die Phänomene selbst in Gänze zum nicht-veridischen Schein deklariert werden. Noch soll die Antinomie als Entität wie jede andere auch ohne Probleme in den logischen Raum integriert werden, da damit die klassische Logik in grundlegender Form angegriffen wird. Stattdessen sei die Negation und mit ihr die Antinomie in den logischen Raum zugelassen, so dass die Phänomene gerettet werden. Zugleich sei zugegeben, dass damit etwas in den logischen Raum zu gelassen wird, was diesen immer auch bedroht. Wahrheit ist nicht ohne Irrtum zu haben; dasjenige, was den Diskurs konstituiert, hat ihn hier und da immer schon zerstört und droht, ihn auch weiter zu zerstören.195 Siehe Koch, Versuch, 283–294. Oder, um die nun einmal ausgesprochen poetischen Formulierungen Kochs
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198 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Dieses Eingeständnis erfordert drei Näherbestimmungen. Erstens fungiert der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch damit nur noch als regulatives, nicht mehr als konstitutives Prinzip und erreicht so denjenigen Status, den auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten erreichte.196 Zweitens heißt das einerseits, dass zwar immer wieder damit gerechnet werden muss, dass sich die eine große Antinomie der Negation-ihrerSelbst in Form von Widersprüchen in dieser und jener Theorie zeigt. Es heißt zudem, dass keine letzte, alles widerspruchsfrei integrierende Theorie von Allem möglich ist, weder in der Physik noch in der Philosophie. Das ist insofern umso bedrückender, als sich die Antinomie in praktischer Form als Übel und Böses realisiert. Andererseits ist damit aber nicht gesagt, dass wir nun jede diskursive Tätigkeit einstellen oder ganz dem Chaos preisgeben sollen. Vielmehr empfiehlt es sich, den Widerspruch so gut wie eben möglich einzuhegen und möglichst umfassende widerspruchsfreie Zonen des Denkens zu etablieren, wobei die Mathematik den Einzelwissenschaften dafür als Mittel dient.197 In jedem einzelnen Fall also empfiehlt es sich, den Widerspruch aufzulösen zu versuchen, auch wenn die Einsicht darein erreicht wurde, dass das nicht letztgültig gelingen wird. Drittens: Es spricht somit einerseits vieles dafür einzugestehen, dass „die epistemische Zugänglichkeit (Unverborgenheit) nur in Beziehung auf epistemische Unzulänglichkeit (Verbergung), Wahrheit nur in Verflechtung mit dem Irrtum möglich ist und daß es prinzipiell unmöglich ist, das Dunkel, die Verbergung, den Irrtum mit formalen Mitteln, in etwas ausführlicher zu Wort kommen zu lassen: „Der logische Raum ist ein reichhaltiger, wandelbarer, unsicherer Aufenthalt: eine Rodung im Urwald, auf der wir uns angesiedelt und eine (logische) Polis errichtet haben, die wir an ihren Rändern notdürftig gegen das Chaos schützen, aus dem wir kamen und das nach wie vor an der Polis zehrt und sie zu überwuchern droht, sie untergründig durchdringt und je zuweilen schon in ihrer Mitte ausbricht. Die Mathematik und die exakten Wissenschaften bilden da nur einen nochmals geschützten inneren Bezirk, unsere logische Akropolis, an der wir mit festen Steinen planvoll bauen, um uns bei Gefahr in sie zurückzuziehen, dann aber jedes Mal um den Preis der Enge und eines relativen Realitätsverlustes. Und auch die Akropolis ist zerstörbar.“ (Koch, Versuch, 308) 196 Siehe auch Koch, Wahrheit, 94. 197 Wie Koch schreibt: „Wir wissen, daß wir sterben werden. Doch in der Regel bringen wir uns deswegen nicht um, sondern kurieren unsere Krankheiten und pflegen unsere Wunden, solange es geht. So sollten wir es auch im Denken halten. Zwar wissen wir, daß unser diskursives Denken in der Tiefe antinomisch und insofern zum Scheitern verurteilt ist, aber wir sollten das Scheitern deswegen nicht mutwillig herbeiführen, sondern Widersprüche meiden oder heilen, solange es geht.“ (Koch, Wahrheit, 96)
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informaler Dialektik oder sonst wie präzise zu umreißen, geschweige denn effektiv einzuhegen.“198 Das führt aber keineswegs zu einer Position wie der von Nietzsche oder Rorty, die Wahrheit nur noch als ein Zug im Spiel der Macht ansehen, im Gefolge von Nietzsches Diktum, dass „‚Wahrheit die Art von Irrtum ist, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte.‘“199 Denn es darf andererseits nicht vergessen werden, dass viel dafür spricht, dass all unser Irrtum – auch derjenige, der aufgrund der antinomischen Verfasstheit des Urteils nicht prinzipiell abzustellen ist – davon abhängt, dass die Dinge sich zeigen. Trotz dieser Überlegungen zur Antinomie bleibt der erste Wahrheitsaspekt der paradigmatische. Um die Frage von Anwesenheit des Seins und der Verborgenheit der Antinomie abschließend auf die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit zu beziehen, sei festgehalten, dass An- und Abwesenheit ein Wechselverhältnis bilden.200 Das reine Sein in reiner Offenbarkeit – die Absolutsetzung des ersten Wahrheitsaspekts – ist dabei ebenso ein irrealer Grenzfall wie die reine Abwesenheit der Antinomie. Diese wird aus dem Bezeichnen geboren und steht selbst als Zeichen dar, sogar als das Zeichen selbst, aber als ein solches, das gerade nichts sehen lässt, sondern die Absolutsetzung des zweiten Wahrheitsaspektes ohne Bezug auf den ersten und dabei selbstzerstörerisch ist. „Es gibt keine reine Präsenz, keine diskursiv ungetrübten Ursachverhalte. [. . .] Und es gibt erst recht keine reine Absenz. [. . .] Präsenz ist epistemisches Sollen, nicht epistemisches Sein: Sie kann nur eintreten durch diskursive, semiotische Vermittlung, und eben in und dank dieser Vermittlung wird sie andererseits prinzipiell unerreichbar, zu einem wesentlichen Sollen, dessen Erfüllung stets aufgeschoben – ‚différée‘, mit Derrida zu reden –, wenn auch als Ziel nie aufgehoben ist. Auf diese Weise bilden der normative, der repräsentationale (diskursiv-semiotische) und der präsentationale Aspekt der Wahrheit eine unauflösliche Einheit.“201
2.2.4. Übergänge: Koch, Heidegger und Luther Damit sind unsere Rekonstruktionen von denjenigen erstphilosophischen Reflexionsgängen Kochs, die für das vorliegende Buch zentral Koch, Versuch, 291. Koch, Versuch, 289. 200 Siehe Koch, Versuch, 296 f. 201 Koch, Versuch, 296. 198
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200 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie sind, an ein Ende gelangt. Abschließend seien einige Verbindungen zum ersten und zum dritten Teil des Buches – zur Gegenwartsanalyse im Gefolge Heideggers und zur Abendmahlstheologie Luthers – gezogen. Erfreulicherweise hilft Koch bei der ersten Aufgabe, denn auch er bezieht seine Überlegungen auf Heideggers Diagnose, dass das Abendland von der Präsenzmetaphysik beherrscht wird. Wie von Heidegger im ersten Teil des vorliegenden Buches wird auch von Koch die Präsenzmetaphysik so bestimmt, dass sie das Sich-Zeigen der Dinge vergisst und die Dinge mit falscher Selbstverständlichkeit als bloß anwesend ansieht. Die Präsenzmetaphysik sieht die Dinge weder als sich von sich her öffnend noch als auch abwesend an, sondern als vollständig verfügbar.202 Allerdings präsentiert Koch die Genese der Präsenzphilosophie im Rahmen einer auf andere Weise mystifizierenden Großerzählung als die Heideggers, die ja die Selbstverbergung des Seins als Movens ansetzte. Koch sieht die Präsenzmetaphysik als das Resultat einer Verdrängung, und diese Verdrängung kann nur mithilfe einer solchen Philosophie entdeckt werden, die in Analogie zur Tiefenpsychologie als „Tiefenphilosophie“203 bezeichnet werden könnte, weil sie Verdrängtes aufspürt und benennt. Die Verdrängung wird durch die Entdeckung von Parmenides ausgelöst, die besagt, dass die Negation selbst antinomisch ist: „Vielleicht ist es nicht übertrieben zu sagen, daß die Geschichte der westlichen Philosophie die Geschichte der Verdrängung der Parmenideischen Entdeckung der Inkonsistenz des Negativen und der Antinomie des Diskurses ist.“204 Wie im vorherigen Paragraphen angedeutet, reagiert Parmenides auf seine Entdeckung nicht mit Verdrängung, sondern mit einer radikalen Lösung: So betont er einerseits den ersten Wahrheitsaspekt und etabliert einen Monismus des sich-zeigenden Seins, während er andererseits in Bezug auf den zweiten (und dritten) Wahrheitsaspekt die Negation in ihrer antinomischen Natur benennt und zum bloß nicht-veridischen Schein herabsetzt. Die westliche Philosophie nach Parmenides hingegen erlebte diese Entdeckung als traumatisierend und reagierte darauf, indem sie die ersten beiden Wahrheitsaspekte gleichermaßen abdämpfte und in ihrer Eigenheit und Radikalität verdrängte: Die Unverborgenheit des Anwesenden fiel aus der Theoriebildung bald ganz aus und es wurde als selbstverständlich genommen, dass die Dinge abstrakt da und somit Siehe Koch, Versuch, 298 f. Koch, Versuch, 301. 204 Koch, Wahrheit, 81. 202 203
2. Die Rekonstruktion Kochs
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vorhanden sind; entsprechend wurde der Bezeichnungsprozess als in sich nicht abgründigen Prozess an fraglos Vorhandenem angesehen. Wir wollen weder für die seinsgeschichtliche Lesart der westlichen Philosophiegeschichte im Gefolge Heideggers noch für die tiefenpsychologische im Gefolge Kochs votieren, denn wir lesen beide Denker nicht als Großerzähler über die Entwicklung der westlichen Philosophie und des Abendlandes als Ganzem, sondern als solche, die Instrumente zur Gegenwartsanalyse liefern und diese selbst in einer Erstphilosophie gründen. Dabei ließ sich die Grundeinsicht Heideggers darein, dass die Unverborgenheit der Dinge vergessen und in einer sich selbst recht verstehenden Theorie der Wahrheit zu re-etablieren ist, bei Koch dergestalt wiederfinden, dass er die Unverborgenheit der Dinge zum ersten, paradigmatischen Wahrheitsaspekt erklärte. Gegenüber den Zweideutigkeiten in der Primär- und Sekundärliteratur zeigt Koch zugleich in systematischer Hinsicht in seinen Reflexionen über den kategorialen Kern seiner Überlegungen und des vorliegenden Buches als Ganzen, dass eine Absolutsetzung des ersten Wahrheitsaspektes ruinös ist und der erste Wahrheitsaspekt somit mit den anderen beiden zu vermitteln ist. Kochs gesamtes Unternehmen kann als Ausarbeitung der reflexiven Lesart Heideggers begriffen werden. Zugleich ist Koch mindestens in zwei Hinsichten in hohem Maße anschlussfähig für die theologischen Überlegungen im dritten Teil. Denn zum einen arbeitet er Aspekte heraus, die im Allgemeinen dem Bereich der Religion zugeordnet werden können, und zum anderen präsentiert er materiale Bestimmungen, die in großer Nähe zu den Überlegungen Luthers stehen. So betont Koch zum einen das Sich-Zeigen der Dinge, und er erwähnt auch nebenbei, dass das Subjekt dem passiv gegenübersteht, seine Urteilspraxis aber genau davon in Gang gesetzt wird. Mit beidem betont er genuin religiöse Dimensionen jeder erstphilosophischen Urteilstheorie, die entsprechend der Theologie besonders wichtig ist.205 Das Sich-Zeigen der Dinge kann aus theologischer Perspektive in ihrem epistemischen Aspekt als allgemeine Offenbarung benannt werden. In ontologischer Hinsicht trägt dies in Verbindung mit den weiteren Bestimmungen der Dinge wesentlich zu ihrem Gabe-Charakter bei. Siehe zum Folgenden Eilert Herms, Offenbarung, in: Eilert Herms, Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 172–220, sowie Eilert Herms, Wahrheit-Offenbarung-Vernunft, in: Eilert Herms, Phänomene des Glaubens, Tübingen 2006, 96–115; und Deuser, Religionsphilosophie, 260–340. 205
202 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Denn dieser besteht in der folgenden dreifachen Bestimmung: In ausgezeichneter Weise ist es von Wichtigkeit, dass sich die Dinge uns als Erscheinungen zeigen oder dass sie sich uns offenbaren, indem sie zu uns in prädikatlosem Dingdialekt sprechen. Zugleich ist es aber von Wichtigkeit, dass sie, zweitens, dadurch nicht einfach abstrakt menschliche Verfügungsmasse oder Bestand werden, sondern ihre eigene Form des Sich-Verbergens oder der Objektivität mit sich bringen, welche, drittens, zugleich nicht verhindert, sondern mit ermöglicht, dass sie in menschlicher Rede näherbestimmt werden. Koch erlaubt es somit, in begründeter Form wichtige Aspekte einer präzisen kategorialen Bestimmung dessen vorzulegen, was mit dem Gabe-Charakter der Dinge gemeint sein kann und legt somit einen erstphilosophisch begründeten Vorbegriff der Gabe vor. Er arbeitet gerade diejenigen epistemologischen und ontologischen Implikationen unserer Urteilspraxis heraus, die von der Theologie als für sie besonders zentrale Themen re-identifiziert werden; er macht deutlich, dass jede Urteilspraxis Aspekte in Anspruch nimmt, die religiös genannt werden können. Damit zeigen Kochs erstphilosophische Überlegungen auf eigene Weise auf, dass Vernunft in der Religion ist. Zugleich werden die Überlegungen im folgenden Abschnitt deutlich machen, dass Koch nicht alle diejenigen Aspekte einer Urteilspraxis, die für die Theologie von besonderer Bedeutung sind, thematisiert: Die Kontingenz des urteilenden Subjekts wird von ihm nicht ausreichend bedacht und damit auch nicht dasjenige Andere, von dem her das kontingente Subjekt ist. Zum anderen betont Koch Aspekte, die nicht nur jeder Theologie, sondern gerade der Luthers affin sind. Das gilt bereits für den GabeAspekt aller Dinge und der Personen, mit denen wir in Wechselverhältnissen stehen und der durch die Gabe des Abendmahls eigens deutlich wird, und auch für drei weitere Dimensionen. So betonen Koch wie Luther, dass das Sich-Zeigen der Dinge und unser Bezug zu anderen Menschen und zu uns selbst wesentlich mit Sprache verbunden ist und erst von dort richtig entschlüsselt werden kann: dass die Dinge also darin offen sind, dass sie in prädikatlosem Dingdialekt zu uns reden und wir diese Rede in unsere Sprache übersetzen. Beide betonen zudem, dass wir als Leiber in diesen Prozess verwickelt sind und vertreten damit eine Position, die einen Geist-Körper-Dualismus ebenso vermeidet wie den Naturalismus. Beide sehen darüber hinaus, dass wir uns damit wesentlich in interpersonalen Dimensionen bewegen: Menschen sind Menschen, die in einer communio leben. Damit kommt bei beiden die Wirk-
2. Die Rekonstruktion Kochs
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lichkeit als eine solche in den Blick, die erst durch umfassende Wechselverhältnisse – durch objektiv-subjektive, durch intersubjektive und durch die von Theorie und Sprache – und damit in einer durch Sprache grundierten, relationalen Ontologie der Gabe angemessen bestimmt werden kann. Koch liefert also kategoriale Klärungen und Begründungen für wesentliche Sachverhalte, die bei Heidegger und bei Luther zur Sprache kommen. Zugleich kommen auch zwei Grenzen in den Blick, die der Erstphilosophie gegenüber einer umfassenden Theologie aufgrund der ihr eigenen Methode der Apriorizität und Selbstbezüglichkeit mitgegeben ist. Diese erste Grenze kann aus theologischer Perspektive so reformuliert werden, dass die Erstphilosophie zwar die Themen des ersten Artikels bedenken kann, also die grundlegenden Strukturen der Schöpfung und auch ihre Gefährdung und Gefallenheit. Die weiteren Themen der Dogmatik – die Lehre von der Wirklichkeit betrachtet unter der Hinsichtnahme von Versöhnung und Vollendung – sind aufgrund der der Erstphilosophie eigenen Methode keine möglichen Themen einer Erstphilosophie. In Luthers Theologie werden die Themen des ersten Artikels nicht nur in ihren kategorialen Grundbeständen bedacht, sondern diese gerade in ihrer jeweiligen Realisierung und den sich damit ergebenden Differenzierungen: Er bedenkt die Wirklichkeit als solche, in der Menschen ihr Herz an Götter und Abgötter hängen, da sie in Not sind und daher darauf angewiesen, das Gute zu erhalten. Zugleich aber bedenkt er von dieser Rahmung des zweiten und des dritten Artikels aus zentrale Themen des ersten Artikels: Gerade die uns interessierende späte Abendmahlstheologie Luthers zeichnet sich dadurch aus, dass sie mehr und mehr zentrale Themen des ersten Artikels erforscht und dabei eine Metaphysik entwickelt. Sie exploriert, wie dasjenige Gute, das wir von Gott als Gabe empfangen, denn verfasst ist, in seiner Leiblichkeit, Sprachlichkeit, intersubjektiven Verfasstheit etc., und was zu denken ist, damit deutlich wird, wie wir daran Anteil erhalten. – Zweitens denkt die Theologie Gott nach und bedenkt die gesamte Wirklichkeit von Gott her. Hierzu kann auch eine Erstphilosophie einiges sagen, allerdings nur in der Form begrifflicher Angebote unter der von der Erstphilosophie nicht selbst begrifflich zu garantierenden Annahme, dass Gott existiert. Wie Koch an anderer Stelle schreibt: „Die Darreichungen der Philosophie an die Theologie haben daher konditionale Form: ‚Wenn es eine postmortale Existenz der Personen (einen unendlichen personalen Gott, eine Inkarnation Gottes usw.) gibt, so muss oder sollte oder kann dies so und so
204 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie konzipiert werden.‘“206 Im Folgenden sollen einige Schritte auf dem Weg hin zu dieser Position markiert werden.
3. Das Subjekt und das Absolute: Realidealismus aus idealistischer Perspektive Der folgende Gedankengang exploriert in einigen Hinsichten Größe und Grenze des Subjekts, indem er das Absolute in den Blick nimmt. Im Bedenken der Größe des Subjekts greift der folgende Gedankengang eine Vielzahl von Bestimmungen auf, die in den vorangehenden Überlegungen zu den Implikationen unserer Urteilspraxis expliziert wurden. Im Bedenken seiner Grenze weist er den Punkt auf, an dem das Subjekt von sich aus über sich selbst hinaus auf das Absolute weist. Damit kommt das Subjekt, das in einigen Hinsichten oberster Punkt des Urteils ist, in der umfassenderen Ordnungsrelation zu stehen, in der es mit dem Absoluten verbunden ist (Zweites Kapitel, 3.1. und Zweites Kapitel, 3.2.). Beide Aspekte des Gedankenganges werden von Koch selbst nicht ausführlich geleistet, obwohl gerade der zweite sich von der Sache her nahe legt. Um sie genauer zu explizieren, wird auch das Absolute unter erstphilosophischer Perspektive bedacht. Dafür werden die Gottesbeweise bei Kant, Hegel und Schelling rekonstruiert. Dieses Vorgehen bringt einen doppelten Gewinn mit sich. Zum einen werden mit Kant, Hegel und Schelling diejenigen drei Autoren behandelt, die auch für die gegenwärtige systematische Debatte um die Gottesbeweise und damit um die Frage nach Existenz und Verfasstheit des Absoluten von großer Bedeutung sind. Zum anderen betten Hegel und Schelling die Gottesbeweise in ein umfassendes Verständnis der Wirklichkeit und damit auch des Kontingenten ein. Dadurch ergeben sich Vergleichsmöglichkeiten zu denjenigen Positionen, die Koch in seinen Überlegungen vertrat, und es wird eine bemerkenswerte Nähe der Positionen Schellings zu denen Kochs sichtbar werden: Beide können als Vertreter des Realidealismus benannt werden (Zweites Kapitel, 3.3.).
Anton Friedrich Koch, Zeit und Ewigkeit, in: Edmund Arens (Hg.), Zeit denken. Eschatologie im interdisziplinären Diskurs. Quaestiones disputatae 234, Freiburg 2010, 91–110, 96. 206
3. Das Subjekt und das Absolute
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3.1. Das Subjekt als höchster Punkt der Ordnung, und seine Kontingenz 3.1.1. Das Subjekt: innerhalb und außerhalb der Ordnung In dreifacher Hinsicht kommt es dem Subjekt zu, konstitutive Leistungen in Bezug auf das Urteil zu vollbringen und damit gleichsam als oberster Punkt des Urteils zu fungieren. Dafür sei an folgende These Kochs erinnert: „Aus dem realistischen Aspekt der Wahrheit bzw. aus unserer Fehlbarkeit im Urteilen folgt, dass die Funktionsdifferenz von Designation und Prädikation unhintergehbar ist.“207 Das Subjekt stellte sich sowohl als obersten Punkt der Designation wie als obersten Punkt der Prädikation dar; als drittes wird sich zeigen, dass das Subjekt oberster Punkt der Einheit des Urteils ist. Um mit der Designation zu beginnen, so zeigte sich, dass der Bezug auf die mustergültigen Einzelnen in Raum und Zeit unabdingbar auch mithilfe von Indikatoren geleistet werden muss. Das Koordinatensystem der Indikatoren bedarf eines Anker- oder Nullpunkts, als den sich alternativlos das jeweilige Subjekt herausstellte. Um dieser Ankerpunkt sein zu können, wurde das namhaft, was sich dann als Objekt- und als Subjektgebrauch des Ich reformulieren ließ, oder das Subjekt erwies sich als Leib. Als Leib ist das Subjekt an der Designation konstitutiv beteiligt und stellt den obersten Punkt in Bezug auf die Designation dar (siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.4.). An der Prädikation hingegen erweist sich das Subjekt dadurch als konstitutiv beteiligt, dass es Sprache in ihrem differenzierten Bezug von Begriffsanwendung, Urteil und Schluss gebraucht. Dadurch gelingt es dem Subjekt, den prädikatlosen Dingdialekt in prädikativen Urteilen auszusprechen. So kann das Einzelne, das durch die Designation ins Urteil eingeführt wurde, durch das prädikative als einer Bestimmtheit zugeführt werden. In dieser Hinsicht ist das Subjekt auch oberster Punkt der Bestimmtheit der Dinge (siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.2.2.). Drittens ist ein Aspekt in den Blick zu nehmen, der bei den von uns rekonstruierten Reflexionsgängen Kochs nur ganz am Rande benannt wurde: So ist das Subjekt nicht nur an der Designation und der Prädikation konstitutiv beteiligt, sondern auch an dem Urteil als Einheit. Das Urteil als die Einheit von logischem Subjekt und logischem Prädikat ist nur dadurch Urteil als diese Einheit und damit überhaupt Urteil, weil das Subjekt das logische Subjekt und das logische Prädikat in einem Gedanken verbindet. Dabei kommt zu Koch, Versuch, 90.
207
206 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie gleich der dritte Gebrauch von „ich“ in den Blick, jenes „mir scheint“ oder „ich denke“, das alle Urteile begleitet (siehe Zweites Kapitel, 2.2.3.3.). Es ist als allgemeine Meinigkeit aller Inhalte zugleich der Garant für die Einheit des Gedankens, der in einem Urteil zusammengefasst ist. In Bezug auf die Designation, in Bezug auf die Prädikation und in Bezug auf die Einheit des Gedankens also wurden konstitutive Leistungen des Subjektes sichtbar, die das Subjekt als obersten Punkt der im Urteil sich vollziehenden Bezugnahme auf die Dinge, als obersten Punkt der durch das Urteil erreichten Bestimmtheit der Dinge und als obersten Punkt der Einheit des Gedankens ausweisen. Eine Formulierung Kants aufnehmend schreibt Hindrichs: „Das selber einheitliche, die Vielheit verbindende Subjekt ist der ‚höchste Punkt‘, an dem unser Denken über die Dinge hängt.“208 Genauer besehen steht das Subjekt sowohl innerhalb wie auch außerhalb der errichteten Ordnung der Bestimmtheit der Dinge.209 Einerseits steht es innerhalb der errichteten Ordnung. Denn ihm kommt der Objektgebrauch des Ich zu, da es nur als Körper unter Körpern Nullpunkt der Indikatoren sein kann und somit allererst die Ordnung aufgebaut zu werden vermag. Zugleich steht es auch dadurch innerhalb der Ordnung der Bestimmtheiten, dass es – etwa, indem es diese Zeilen liest – sich je innerhalb der Bestimmtheiten bestimmt – etwa als das Subjekt, das diesen Text liest. Dies kommt vor allem in dem Subjektgebrauch des Ich zum Ausdruck. Als dieser ist das Ich zudem jeweils Person unter Personen. Andererseits aber steht es außerhalb der Ordnung, da es diese durch seine konstitutiven Leistungen doch allererst ermöglicht. So ist es höchster Punkt der Ordnung. Dieses Außerhalb-Stehen ist bereits mit dem Subjektgebrauch des Ichs gegeben, weil dieser den Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren markiert, es wird aber in ausgezeichneter Weise in dem Operatorgebrauch des Ich deutlich. Aufgrund 208 Gunnar Hindrichs, Das Absolute und das Subjekt. Untersuchungen zum Verhältnis von Metaphysik und Nachmetaphysik, Frankfurt a. M. 2008, 228. 209 Siehe zu dieser Doppelbestimmung auch Hindrichs, Das Absolute, 237–239. Damit wird hier im Anschluss an Hindrichs eine Einsicht vorgeführt, die von Dieter Hendrich eindrücklich vor Augen geführt wurde und nicht nur von seinen akademischen Schülern und Enkeln (wie von Gunnar Hindrichs und – weniger explizit – auch von Anton Friedrich Koch) übernommen wurde, sondern auch von Theologen, die in seiner Spur denken, siehe zu Henrich und entsprechenden Aufnahmen in der Theologie etwa Klaus Müller, Streit um Gott. Politik, Poetik und Philosophie im Ringen um das wahre Gottesbild, Regensburg 2006, 213–230, zusammenfassend 229 f.
3. Das Subjekt und das Absolute
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seiner konstituierenden Aktivitäten setzt das Subjekt sich somit jeder Ordnung immer schon voraus. Indem das Subjekt die Ordnung errichtet, verortet es sich somit zugleich innerhalb wie außerhalb der Ordnung. Entsprechend wäre der Selbstausschluss aus der Ordnung ebenso wie der Selbsteinschluss nur mit dem Aufgeben des Ordnens selbst aufzugeben. Das Subjekt steht unaufhebbar innerhalb und außerhalb der Ordnung.
3.1.2. Die Kontingenz des Subjekts Erweist sich das Subjekt in den genannten Hinsichten als oberster Punkt des Urteils, so ist es damit keineswegs in die Stellung des Absoluten eingerückt. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen sind dem Ich die Dinge und die anderen Personen, mit denen es in Beziehung steht, vorgegeben, zum anderen ist das Subjekt selbst kontingent und damit nicht von sich her, sondern auch sich selbst vorgegeben. Dem Subjekt sind somit die Dinge und die anderen Personen, aber auch es selbst vorgegeben – dem Subjekt sind Dinge, Subjekte und es selbst als Gaben gegeben –, so dass das Subjekt zuerst einmal in die Situation der Passivität eingerückt ist, ehe es sich ihnen gegenüber unabweisbar aktiv verhalten muss. So ist das Ich mit seiner Urteilspraxis immer schon eingebunden in eine Welt, die es selbst nicht schuf, ohne die es aber nicht es selbst wäre. Diese Realität wurde dadurch namhaft gemacht, dass dem Subjekt zugeschrieben wurde, durch das subjektiv-objektive und das intersubjektive Wechselverhältnis gekennzeichnet zu sein. In Bezug auf das subjektiv-objektive Wechselverhältnis heißt das dann, dass es in seinen Urteilen weder die Dinge selbst schafft, über die es urteilt, noch dessen Qualia, noch deren Offenheit für uns; vielmehr ist es in seiner Urteilspraxis je darauf angewiesen, dass die Dinge existieren, dass ihnen Qualia zukommen und dass sie ihm erscheinen. Es spricht in seinem prädikativen Urteil bloß aus, was die Dinge in ihrem prädikatlosen Dingdialekt sagen. Zudem sieht es sich dabei je von einer Ganzheitsdimension umfasst, die es ihm auch allererst ermöglicht, generelle Sätze zu verstehen. Zugleich aber spannt es einen Ordnungsrahmen auf und verwendet sprachliche Mittel, in dem und durch die allererst Urteile ausgesprochen werden können. So stellt es gleichsam nicht inhaltlich, wohl aber formal den obersten Punkt des Urteils dar. Allerdings findet das Subjekt dabei keinen festen Stand, sondern weist letztlich von sich aus über sich selbst hinaus. Dafür gibt es zwei, eng miteinander verbundene Begründungen.
208 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie So ist das Subjekt wesentlich Körper unter Körpern. Der Dreifachgebrauch des Ich impliziert zwar, dass sich verschiedene Dimensionen am Ich unterscheiden lassen, meint aber zugleich auch, dass sich der Subjektund der Operatorgebrauch nicht real vom Objektgebrauch trennen lassen. Als wesentlich körperliches aber könnte das Subjekt auch nicht sein, da es kontingent ist. Weil nur notwendige Entitäten ihr Sein in sich haben, stehen Subjekte als kontingente Entitäten nicht in sich, sondern haben ihr Sein von andersher (ab alio). Bei Kant werden wir der Einsicht begegnen, dass die Erfahrung von Endlichkeit die Vernunft unabweisbar dazu hinführt, nach demjenigen zu fragen, woher es ist (siehe dazu Zweites Kapitel, 3.3.1.1.). Das Subjekt könnte sich unter momentaner Sistierung der Einsicht in die Untrennbarkeit der drei Gebräuche des Ich dadurch beruhigen, dass es ja auch höchster Punkt der Ordnung ist. Doch auch als dieser ist es kontingent, wie eine kurze Reflexion auf die beiden Aspekte zeigen, unter denen das „Mir scheint“ namhaft gemacht wurde. Zum einen wurde die Genese des Operatorgebrauchs des Ich dadurch erklärt, dass es Folge der Iteration des „Mir scheint“ ist; und diese Iteration war erlaubt, weil die iterierte Fassung logisch äquivalent mit der nicht-iterierten ist. Damit dependiert der Operatorgebrauch des Ich aber bleibend davon, dass mir etwas scheint und ist auch insofern von anders her. Zum anderen wurde das „Ich denke“ als oberster Punkt der Einheit des Gedankens des Urteils bedacht. Dabei wird das eine „Mir scheint“ oder „Ich denke“ je gefolgt von einem weiteren „Mir scheint“ oder „Ich denke“. Mit Hindrichs gesprochen: „In diesem Kreisen bezeugt es das Streben nach seiner Begründung. Denn das ‚ich denke‘ ist der Möglichkeitsgrund der Gedanken [als einheitlicher, M. W.]. Strebt es danach, von einem weiteren ‚ich denke‘ begleitet zu werden, so strebt es nach nichts anderem als seinem eigenen Möglichkeitsgrund. Das Subjekt, das sich in dem Gedanken ‚ich denke‘ ausspricht, will demnach sein eigener Grund sein – und kann es doch nicht. Denn jede Selbstbegründung durch das ‚ich denke‘ verlangt eben wieder nach einer neuen Begründung des ‚ich denke‘. [. . .] Das Subjekt zeigt, daß es so, wie es ist, ohne Grund ist und zugleich nach einem Grund strebt.“210 Die eigene Kontingenz und das damit mitgegebene Sein von Anderswoher schlägt somit auch auf das Subjekt als obersten Punkt des Ordnens durch und wird führt zu einer eigentümlichen Konstellation: „Obgleich außerhalb jeder Ordnung, ist es kontingent. Und Hindrichs, Das Absolute, 247 f.
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3. Das Subjekt und das Absolute
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hierin: als Kontingentes außerordentlich zu sein, liegt sein Widerspruch. Denn das Kontingente steht immer in einer Ordnung. [. . .] Das denkende Subjekt aber ist außer jeder Ordnung. Und doch kann es sich nicht selbst begründen. [. . .] Das Subjektsein ist daher nicht nur einsam, sondern auch ruhelos.“211
3.2. Das Kontingente und das Absolute Der Ruhelosigkeit des Subjektes wird in zwei Schritten nachgedacht. Zuerst wird unter Aufnahme der Terminologie Kochs weiterverfolgt, was es heißen könnte, das Subjekt in einer übergreifenden Ordnungsrelation und damit im Absoluten zu verorten. Sodann wird dem Absoluten selbst nachgedacht. Dafür wird die Debatte um die Gottesbeweise bei Kant, Hegel und Schelling rekonstruiert (Zweites Kapitel, 3.3.), ehe die erreichten Ergebnisse in materialer und methodischer Hinsicht mit den Positionen Kochs und Luthers verglichen werden (Zweites Kapitel, 4.).
3.2.1. Die Verortung des Subjekts in einer umgreifenden Ordnungsrelation Das Subjekt sieht sich in einem eigentümlichen Dilemma: 212 Einerseits ist es kontingent und darin ruhelos, andererseits ist es nicht nur innerhalb, sondern als höchster Punkt auch außerhalb der Ordnung. Verfolgen wir zuerst den ersten Strang. Wir sahen, dass das Subjekt als Kontingentes sein Sein von einem Anderen (ab alio) hat und ihm daher eine Spur hin zu demjenigen Anderen eingeschrieben ist, von dem her es ist. So stellt sich die Frage, wie dieses Andere näher zu bestimmen ist. Damit gelangen wir zur anderen Seite des Dilemmas: Da das Kontingente zugleich höchster Punkt der Ordnung der Bestimmtheiten der Dinge ist, ist das Andere, in dem das Kontingente ist, nicht selbst einfach nach Art der Bestimmtheit der Dinge oder als ihr höchster Punkt zu bestimmen. Wie aber ist es dann zu bestimmen? Diese Frage sei unter Rückgriff auf diejenige Bestimmung des Subjekts als oberster Punkt des Urteilens näher bedacht, die es als oberster Punkt der Designation namhaft macht, da diese für das vorliegende Buch von besonderem Interesse ist. Greifen wir dazu eine Überlegung von Hindrichs, Das Absolute, 249. Siehe dazu auch Hindrichs, Das Absolute, 287 ff.
211
212
210 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Ingolf Dalferth auf (die dann auch entscheidend zu modifizieren sein wird). Dalferth begreift das Andere – das Dalferth hier im Anschluss an die christliche Tradition „Gott“ nennt – als Indexwort. Damit ist nicht gemeint, dass das Subjekt als der Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren selbst nochmals in einem in univoker Weise zu verstehenden raumzeitlich lokalisierbaren Nullpunkt verortet wäre: Es gibt keine göttlich-objektives raumzeitliches Oben und Unten. Der Himmel ist kein Ort im Raum. Entsprechend „ist das mit ihm [Gott, M. W.] verknüpfte Orientierungssystem keine Erweiterung, Präzisierung oder Ergänzung der übrigen indexikalischen Orientierungssysteme, sondern bringt eine andere Perspektive auch auf sie ins Spiel. [. . .] Der Indikator ‚Gott‘ [. . .] markiert die nicht mehr hintergehbare wesentliche Kontingenz des Gesamtzusammenhangs, in dem etwas als etwas von jemand für jemanden identifiziert werden kann.“213 Gegen Dalferth soll im Folgenden der Gottesbegriff nicht allein als Indexwort eingeführt wird. Doch Dalferths eben eingeführte Zuordnung ist als Brücke für die folgenden Überlegungen dennoch sinnvoll, da sie sich durch den Begriff der „Ordnungsrelation“214 aufhellen und erweitern lässt. Eine Ordnungsrelation ist dann gegeben, wenn die jeweiligen Relationen transitiv und asymmetrisch sind. Das Koordinatensystem der Indikatoren ist somit ein ausgezeichnetes Beispiel für eine Ord Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 467 f. 214 Siehe dazu Markus Mühling, Gott ist Liebe. Studien zum Verständnis der Liebe als Modell des trinitarischen Redens von Gott, Marburg 2000, 302, dessen Grundeinsicht wir folgen. Allerdings weichen wir in zwei Hinsichten von Mühlings Rekonstruktion der Ordnungsrelationen ab. Zum einen versuchten wir dazulegen, dass zur Identifizierung von raumzeitlich lokalisierte Entitäten nicht nur Eigennamen und Beschreibungen heranzuziehen sind, sondern unabdingbar auch Indikatoren (Mühling, Gott, 297, erwähnt das erst nicht und führt die Indikatoren über den Begriff der Ordnungsrelation auf ebd., 302, dann doch ein). Zum anderen verhandelt Mühling nicht das Problem, dass die Ordnungsrelation der Indikatoren nur dann zur Identifikation von raumzeitlich lokalisierten Entitäten dienen kann, wenn sie selbst einen raumzeitlich verankerten Nullpunkt hat, und dass als dieser Nullpunkt alternativlos das jeweilige Subjekt anzusetzen ist. Mühling, Gott, 302, schreibt hingegen: „Die bei der Identifikation von Gegenständen (Dingen und Ereignissen) eindeutige Zuordnung von Raumzeitpunkten bzw. -abschnitten zu Gegenständen beruht also auf Ordnungsrelationen zwischen den Gegenständen selbst.“ Ordnungsrelationen zwischen den Gegenständen selbst sind eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Identifikation von Gegenständen. Aufgrund seiner Annahme verhandelt Mühling auch nicht das Problem des Subjektes als Nullpunkt. 213
3. Das Subjekt und das Absolute
211
nungsrelation. Nun ist aber die Klasse der Ordnungsrelationen nicht nur durch raumzeitliche Lokalisationssysteme wie dem Koordinatensystem der Indikatoren gefüllt, sondern beinhaltet auch rein logische oder mathematische Relationen. Man kann sogar dafür argumentieren, dass die immanente Trinität als Ordnungsrelation zu fassen ist.215 Somit bietet sich die Ordnungsrelation als ein Instrumentarium an, um ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie das Subjekt als der Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren selbst zu verorten ist. Als Nullpunkt des Koordinatensystems ist es Nullpunkt einer Ordnungsrelation, steht aber zugleich als Kontingentes in derjenigen umfassenden Ordnungsrelation, die zwischen dem Kontingenten und demjenigen Anderen, von dem es her ist, anzusetzen ist. Im Anschluss an Dalferth kann betont werden, dass diese umfassendere Ordnungsrelation nicht selbst nochmals ein indexikalisches Orientierungssystem darstellt, sondern dass das indexikalische Orientierungssystem, dessen Nullpunkt das Subjekt ist, durch die umfassendere Ordnungsrelation, in der es steht, eigens als kontingentes sichtbar gemacht wird. Auf diese Weise entspricht diese umfassendere Ordnungsrelation der kategorialen Differenz zwischen Kontingentem und Absolutem. Darüber hinaus können Aussagen in Bezug auf das Subjekt, auf das Andere und auf die Beziehung zwischen beiden getroffen werden. So bleibt das Subjekt für alle Urteile, die mustergültige, raumzeitlich lokalisierte Einzelne betreffen, der Nullpunkt des Koordinatensystems und in dieser Hinsicht oberster Punkt des Urteils. Will man das Andere des Subjektes selbst bestimmen, so stellt sich das angesprochene Problem angemessener Bestimmung: Weder ist es ein Punkt unter den anderen Punkten innerhalb des Koordinatesystems noch ist es der Nullpunkt selbst, da beides nicht dasjenige ist, von dem her das Subjekt als Nullpunkt sein kann. Vielmehr ist es außerhalb der Ordnung der Punkte und seines Nullpunktes und somit ein außerordentlicher Punkt eigener Art. Zugleich aber ist die Beziehung zwischen beiden nicht nur als räumlicher Abstand zu denken, denn das hieße, das Andere des Subjektes einseitig den Bestimmungen des Subjektes zu unterwerfen. In der Terminologie Hegels gesprochen, hätte das Unendliche seine Grenze am Endlichen und wäre damit selbst endlich. Das hieße aber, das Absolute als einen Inhalt der Vernunft nach Art des Verstandes zu denken, welcher Gegensätze als einander abstrakt entgegengesetzt denkt. Vielmehr kann das Siehe dazu Mühling, Gott, 303 f.
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212 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Absolute auch innerhalb der Ordnung auftreten. Es ist derjenige punktlose Punkt, von dem her alle Punkte und der Nullpunkt sind und der zugleich allen Punkten innerhalb des raumzeitlichen Koordinatensystems näher sein kann als diese sich selbst, ohne von einem von ihnen festgestellt werden zu können. In der Terminologie Hegels gesprochen ist es erst darin wahrhaft unendlich. Dafür aber muss das Absolute nach Art der Vernunft gedacht werden, welche mithilfe der Dialektik Gegensätze übergreifend in sich zu integrieren vermag. Ehe zu den Gottesbeweisen bei Kant, Hegel und Schelling fortgeschritten wird, sei vorgreifend erwähnt, dass Luther auf eine ähnliche Weise von Gott denkt. Damit eröffnen sich Möglichkeiten, um die Subjektivitätsthese Kochs auch aus theologischer Perspektive zu validieren. Luther bestimmt Gott so, dass er größer als alles Große und kleiner als alles Kleine ist (siehe Drittes Kapitel, 2.2.2.3.). Luther meint damit nicht, dass Gott gleichsam bloß überall und nirgends ist. Vielmehr will er damit sagen, dass Gott gerade auch an ganz bestimmten Orten real präsent sein kann – etwa beim Abendmahl in Brot und Wein: „Dies ist mein Leib.“ Gott etabliert somit nicht nur die Ordnungsrelation, in der das Kontingente steht. Vielmehr handelt er innerhalb der von ihm aufgespannten Ordnungsrelation dergestalt, dass er die sich darin befindlichen Ordnungsrelationen wie etwa das des Koordinatensystems der Indikatoren als Mittel benutzt, um mit den Menschen heilbringend zu kommunizieren und dem Menschen damit neue Möglichkeiten zuzuspielen. Dabei lässt sich Gott soweit auf die Ordnungsrelationen des Kontingenten ein, dass diese Mittel – etwa Indikatoren und ihre Anbindung an menschliche Leiblichkeit – selbst zum Teil des Inhaltes werden, um die es geht. Zum Gabe-Charakter der Wirklichkeit, zu dem Jesus Christus im Abendmahl erneut Zugang verschafft, gehört wesentlich, dass er leiblich vermittelt ist. Überlegungen wie diese erlauben es auch, denjenigen Aspekt der erstphilosophischen Reflexionsgänge Kochs theologisch zu validieren, der ansonsten problematisch erscheinen könnte: die Subjektivitätsthese. Diese besagte nicht nur wie die Theorie a priori der Voraussetzung der Bezugnahme, dass die Dinge nur erkennbar sind, wenn sie wesentlich auf Subjekte bezogen sind. Vielmehr besagt sie, dass die Dinge überhaupt nur sind, wenn sie auf Subjekte bezogen sind, da sie sonst letztlich nicht voneinander unterscheidbar und somit nicht sie selbst (und damit letztlich gar nicht) sind (siehe Zweites Kapitel, 2.2.2.6.). Damit wurde aus erstphilosophischer Perspektive zwar nicht jedes einzelne kontingente
3. Das Subjekt und das Absolute
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Subjekt für notwendig erklärt, wohl aber, dass es überhaupt einmal mindestens ein Subjekt geben würde, das die Minimalbestimmung eines Subjektes hier und jetzt erfüllt.216 Die eben getätigten Andeutungen weisen auf ein Verständnis der Subjektivitätsthese hin, das in erstphilosophischer Perspektive zu würdigen erlaubt, dass mit der Subjektivitätsthese ein gravierendes Problem einer Lösung zugeführt wird. In theologischer Perspektive ist zum einen zu betonen, dass das Subjekt dadurch nicht seines Status als auf ein Anderes verweisendes Kontingenten entkleidet wird. Vielmehr krönt das Andere das Kontingente damit und nimmt es dadurch in Dienst, dass es dieses in die benannte Position einsetzt und an ihm handelt unter aktiver Aufnahme dieser Strukturen. Diese geht soweit, dass Jesus Christus, der Schöpfungsmittler, selbst Mensch wird und damit die Rolle desjenigen einen Subjekts übernimmt, dessen es braucht, damit die Dinge sie selbst sein können.217 Zum anderen werden wir bei Luther sehen, dass die Dinge als solche angesehen werden, die auf den Menschen bezogen und um seines Willen gegenwärtig sind: Gerade so sind sie Gaben für den Menschen (siehe Drittes Kapitel, 2.2.2.1.). Die angedeuteten christologischen und schöpfungstheologischen Überlegungen erlauben es somit, die Subjektivitätsthese mit einer Theologie der Gabe zu verbinden. Kehren wir zu den erstphilosophischen Überlegungen zum Absoluten zurück. Bisher wurde dafür argumentiert, dass das Subjekt in einer vom Absoluten aufgespannten, übergreifenden Ordnungsrelation zu verorten ist. Damit stellt sich die Frage, ob das Absolute selbst in erstphilosophischer Perspektive begründet und bestimmt werden kann. In der Geschichte des abendländischen Denkens wird diese Frage in ausgezeichneter Form in den Gottesbeweisen verhandelt, so dass im Folgenden Anmerkungen zu den Gottesbeweisen bei Kant, Hegel und Schelling erfolgen sollen.
3.3. Existenz und Verfasstheit des Absoluten: Gottesbeweise bei Kant, Hegel und Schelling Drei Vorbemerkungen sind nötig, ehe zu Kants Rekonstruktion der Gottesbeweise fortgeschritten werden kann. Erstens lassen sich in struktureller Hinsicht zwei Klassen von Gottesbeweisen unterscheiden. Die Siehe dazu Koch, Versuch, 373–375. Zu ähnlichen Überlegungen siehe auch Koch, Zeit und Ewigkeit, 97 f.
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einen schließen von der Existenz oder Verfasstheit des Endlichen auf das Unendliche und werden meist mit Namen wie dem kosmologischen, dem physikoteologischen etc. Gottesbeweis bezeichnet. Die anderen schließen von der Verfasstheit Gottes – von seinem Begriff oder Wesen – auf seine Existenz und werden meist mit dem Namen des ontologischen Gottesbeweises bezeichnet. Es wird deutlich werden, dass der ontologische der wichtigere ist, da er allein in formaler wie materialer Hinsicht einen in sich stehenden Beweis darstellt. Zugleich zeigt sich bei Kant, Hegel und Schelling, dass aus verschiedenen Gründen beide Beweise eng miteinander verbunden sind, so dass auch im Folgenden beide zur Sprache kommen. Zweitens ist die Funktion der Gottesbeweise umstritten. Während die einen meinen, dass die Funktion der Gottesbeweise darin besteht, Gott zu beweisen, meinen die anderen, dass die Gottesbeweise bloß eine „kritische Regel des Gott-Denkens“218 vorlegen wollen, die angibt, wie Gott, wenn er ist, so gedacht wird, dass er auf eine ihm selbst angemessene Weise gedacht wird. Es ließe sich zeigen, dass bereits Anselm die Funktion der Gottesbeweise so verstand, dass sie Gott beweisen sollen.219 Doch unabhängig von der Debattenlage um die vorkritische Tradition wird im Folgenden überdeutlich, dass zumindest Kant, Hegel und Schelling die Aufgabe der Gottesbeweise darin sahen, Gott zu beweisen. Bei aller Differenz sind sich die drei darin einig, dass sie in erstphilosophischer Weise die Möglichkeiten von Letztbegründung erforschen. Zugleich wird anhand der Position Schellings deutlich, dass das Scheitern des Versuches, Gott zu beweisen, dazu führt, den ontologischen Gottesbeweis als kritische Denkregel aufzunehmen. Diese zweite Funktion soll somit im Folgenden gleichsam als Resultat der ersten einsichtig gemacht werden und nicht als ihre abstrakte Alternative. Drittens sei kurz erwähnt, warum im Folgenden ausgerechnet Kant, Hegel und Schelling rekonstruiert werden. Die Rekonstruktion der Geschichte der Gottesbeweise von Anselm bis zu Schelling (oder in die Analytische Tradition hinein) würde ein eigenes Buch erfordern.220 Die So Dalferth, Die Wirklichkeit, 459. Siehe Anselm, Proslogion Kap. IV, Satz 34: „Dank Dir, guter Herr, Dank Dir, weil ich das, was ich früher durch Dein Geschenk geglaubt habe, jetzt durch Deine Erleuchtung so verstehe, dass ich, wollte ich nicht glauben, dass Du bist, es nicht nicht verstehen könnte.“ Siehe dazu auch Hindrichs, Das Absolute, 38–41. 220 Siehe zur Geschichte des ontologischen Gottesbeweises Hindrichs, Das Absolute, 19–102, hier vor allem 22 und 76–90. 218 219
3. Das Subjekt und das Absolute
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folgende Rekonstruktion konzentriert sich auf die genannten drei Autoren, weil sie in systematischer Hinsicht entscheidende Positionen auch für den gegenwärtigen Diskurs darstellen. Denn alle drei sind sich zum einen der Tradition der Gottesbeweise bewusst, heben sie aber zum anderen auf eine neue Ebene. Dies geschieht, da sie nicht allein über die Bestimmungen der Tradition und damit über Gott als über einen Gegenstand neben anderen nachdenken, sondern da sie zudem über das Nachdenken über Gott selbst nachdenken. Bei allen dreien wird das Nachdenken über die Gottesbeweise reflexiv, indem sie die Bedingungen der Möglichkeit des Nachdenkens über die göttlichen Dinge ins Zentrum des Nachdenkens rücken. Damit machen sie zugleich explizit, dass das implizite Thema der Gottesbeweise bereits in der Tradition die Grundfrage der Zuordnung der Ordnung des Denkens zu der des Seins ist.221 Laut Kant zeigt diese neue Stufe der Reflexivität, dass Gottesbeweise nicht geführt werden können. Hegel hält Kant entgegen, dass Kant diese neue Stufe der Reflexivität in einer ihr nicht angemessenen Form bedenkt. Denn Gott als der dabei verhandelte Inhalt ist ein Inhalt der Vernunft, wird von Kant aber in der Form des Verstandes rekonstruiert. Wenn das Thema der Vernunft in der Dialektik als der ihr angemessenen Form verhandelt wird, zeigt sich hingegen, dass der Gottesbeweis führbar ist, so Hegel. Hegel wird somit als ein radikal postkritischer Denker sichtbar, der nicht an Kant vorbei in gleichsam vorkritischer Weise die Rückkehr zu den Gottesbeweisen vollzieht. Vielmehr stimmt Hegel Kant in der Destruktion der vorkritischen Varianten der Gottesbeweise zu, macht aber Probleme der Kantschen Position selbst namhaft und versucht, diese zu lösen. Er präsentiert eine postkritische Position als metakritisches Unternehmen, das die Anliegen der Tradition wie die Kants in seiner eigenen Position aufzuheben versucht, ohne ihre Schwächen zu übernehmen. Da die Vernunft in ihrer Dialektik auf umfassende Kohärenzen abzielt und erst das Ganze das Wahre ist, zeigt allerdings erst der Durchlauf durch Hegels Gesamtsystem die Führbarkeit des Gottesbeweises. Wir folgen somit der erstmals von Feuerbach vertretenen Einsicht, dass Hegels metakritische Rekonstruktion der Gottesbeweise nicht durch den Rückgriff auf einzelne Formulierungen oder auch auf einzelne Abschnitte aus Hegels Werk wie etwa Hegels Vorlesungen über den Beweis 221 Siehe dazu auch Wolfgang Röd, Der Gott der reinen Vernunft. Ontologischer Gottesbeweis und rationalistische Philosophie, München 2009, 16 u. ö.
216 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie vom Dasein Gottes erhebbar ist, sondern erst durch eine Rekonstruktion des Systems als Ganzen. Auch wenn im Folgenden selbstredend nicht das Gesamtsystem Hegels ausführlich exegetisiert werden kann, werden die für unsere Fragestellung zentralen Dimensionen anhand der dafür besonders einschlägigen Stellen des Systems ins Auge gefasst. Das entscheidende Ergebnis der folgenden Rekonstruktion besteht in einer eigenen Dialektik zwischen dem Ganzen des Systems und jedem seiner Momente. Denn der Durchlauf durch das Gesamtsystem wird zeigen, dass jeder einzelne spekulative Satz der Vollzug des Gottesbeweises ist: Wenn etwas Wahres gedacht wird, so ist das Denken absolut und das Absolute. In jedem spekulativen Satz fallen die Ordnung des Denkens und die des Seins vollständig zusammen. Um das zu begreifen, muss jedoch das ganze System begriffen werden – ebenso, wie gilt, dass derjenige, der das begriffen hat, das ganze System begriffen hat. Schelling stimmt mit Kant und Hegel darin überein, dass im Denken des Gottesbeweises das Denken selbst reflexiv wird, und er stimmt mit Hegel darin überein, dass letztlich das Ganze zu denken ist, um den Gottesbeweis angemessen zu denken. Gegen Hegel aber meint er, dass das Denken selbst gerade nicht absolut und das Absolute ist. Vielmehr zeigt er gegenüber Hegel, dass dem Denken das Absolute vorausgesetzt ist, das sich zwar im Denken realisiert, aber nicht in ihm aufgeht. Vielmehr kommt dem Absoluten absolute Freiheit zu, die selbst unvordenklich ist. Wenn etwas ist, so ist es auf eine dem Denken erschließbare Weise, so dass dann die Ordnung des Seins und die des Denkens miteinander vermittelt sind. Ob aber etwas ist, ist allein der Freiheit des Absoluten anheimgestellt. Damit wandelt sich laut Schelling der Gottesbeweis in einen Gotteserweis, der eine Regel des Gott-Denkens bereit hält, wenn denn Gott ist. Zugleich führt Schelling weiter, was bereits bei Hegel vorliegt: Beide betten die Gottesbeweise in ein umfassendes Verständnis der Wirklichkeit ein, da sie erkennen, dass das Absolute eingeschränkt wird, wenn es als vollständig getrennt vom Kontingenten verhandelt wird. Dadurch ergeben sich Vergleichsmöglichkeiten der Bestimmungen des Kontingenten zu denjenigen Positionen, die Koch in seinen Überlegungen vertrat. Es wird eine bemerkenswerte Nähe der Positionen Schellings zu denen Kochs sichtbar werden, da beide Varianten des Realidealismus vertreten (Zweites Kapitel, 3.3.). All das sei genauer nachgezeichnet.
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3.3.1. Kants urteilstheoretische Destruktion der klassischen Gottesbeweise Kants Argumentationsgang lässt sich in zwei Schritte unterteilen. In einem ersten Schritt nennt Kant zwei Gründe dafür, dass der Vernunft die Idee der omnitudo realitatis unaufgebbar eingeschrieben ist. Der erste Grund dafür ist urteilstheoretischer Art und besagt, dass wir in jedem Urteil die Idee der omnitudo realitatis immer schon in Anspruch nehmen. Der zweite Grund geht von der Erfahrung der Endlichkeit aus und zeigt, wie diese zum Begriff des ens necessarium führt und der Begriff des ens necessarium zu dem der omnitudo realitatis (Zweites Kapitel, 3.3.1.1.). In einem zweiten Schritt prüft Kant, ob der omnitudo realitatis der Status einer konstitutiven oder bloß der Status einer regulativen Idee zukommt. Vor allem aufgrund von urteilstheoretischen Überlegungen gelangt Kant zu dem Schluss, dass der omnitudo realitatis der Status einer regulativen Idee zukommt. Sie ist ein notwendiges Selbstgeschöpf der Vernunft, ohne dass es als ein real existierendes ens necessarium namhaft gemacht werden könnte (Zweites Kapitel, 3.3.1.2.). Somit kommt Kant aufgrund urteilstheoretischer Erwägungen zu dem Ergebnis, dass der Gottesbegriff in jedem Urteil in Anspruch genommen wird, der Gottesbeweis selbst aber prinzipiell nicht führbar ist. Das sei genauer ausgeführt.
3.3.1.1. Die Idee der omnitudo realitatis ist unaufgebbar Kant zeigt, dass die Vernunft aus zwei Gründen auf den ontologischen Gottesbeweis zu sprechen kommt.222 Der erste Grund bezieht sich auf die – laut Henrich 223 – erste Variante des ontologischen Gottesbeweises, die Gott als omnitudo realitatis fasst. Kant meint, dass der Gedanke der omnitudo realitatis unverzichtbar für jede Urteilspraxis ist. Wir nehmen ihn also in jedem einzelnen Urteil in Anspruch. Denn im Urteil steht „jedes Ding aber, seiner Möglichkeit nach, unter dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen Prädikaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muß“,224 damit es überhaupt bestimmt wird. Ein Siehe etwa zusammenfassend Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 174 f. Siehe Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 3. 224 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe herausgegeben von Jens Timmermann, Hamburg 1998 (KrV), B 599 f. 222 223
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2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie
Haus wird gerade so bestimmt, dass es groß ist und nicht klein, schwarz und nicht weiß etc. Wichtig ist, dass jedem Ding dabei nicht nur eines der real gegebenen Prädikate zukommt, sondern vielmehr „von allen möglichen Prädikaten immer eines.“225 Entsprechend verlangt der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung die Annahme des Inbegriffs aller Bestimmungen. Da Negationen von den nicht negierten Bestimmungen abhängig sind 226 , verlangt der Grundsatz der durchgängigen Bestimmung nicht die Annahme eines Inbegriffs aller positiven und negativen Bestimmungen, sondern allein die Annahme eines Inbegriffs von allen positiven einfachen Bestimmungen, mit dem das Ding verglichen werden kann. Dieser Inbegriff stellt die Totalität aller ursprünglichen Bestimmungen dar. Bestimmungen werden von Kant „Realitäten“ genannt, so dass dieser Inbegriff das All der Realitäten genannt wird, die omnitudo realitatis. Der Inbegriff aller Realität ist ein Ideal und damit weder ein Verstandesbegriff noch eine Idee. Laut Kant sind die Verstandesbegriffe konstitutiv für die Gegenstandserfahrung. Vernunftideen hingegen konstituieren nicht Erfahrungsgegenstände, sondern weisen dem Verstandesgebrauch zum einen die Richtung auf immer weitere systematische Zusammenhänge und damit auf die Einheit der Erfahrung und stellen zum anderen Totalitätsideen wie Gott dar. Gott als das Unbedingte ist nun nicht nur eine Idee, sondern ein Ideal, also eine Idee „in concreto, d. i. als einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding.“227 Die Vernunft erreicht die Totalität der Bestimmungen durch disjunktive Schlüsse, die von einem bedingten Sachverhalt ausgehen.228 Zugleich ist der Schritt vom Bedingten zum Unbedingten nur möglich, da die omnitudo realitatis als ursprünglich und „alle Möglichkeit der Dinge (der Synthesis des Mannigfaltigen ihrem Inhalte nach) als abgeleitet [. . .] angesehen wird. Denn alle Verneinungen (welche doch die einzigen Prädikate sind, wodurch sich alles andere vom realesten Wesen unterscheiden läßt) sind bloße Einschränkungen einer größeren und endlich der höchsten Realität, mithin setzen sie diese voraus, und sind dem Inhalte nach von ihr bloß abgeleitet.“229
Kant, KrV, B 601. Siehe Kant, KrV, B 603. 227 Kant, KrV, B 596. 228 Siehe dazu genauer Kant, KrV, B 379 ff. und Hindrichs, Das Absolute, 113. 229 Kant, KrV, B 606. 225 226
3. Das Subjekt und das Absolute
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Ganz in Übereinstimmung mit der antiken platonischen und der neuzeitlichen rationalen Philosophie meint Kant somit, dass dem Unbedingten der Primat vor dem Bedingten zukommt und dass das Bedingte seine Bestimmtheit nur in Bezug auf das Unbedingte erfahren kann.230 Zugleich meint Kant gegen die antike und neuzeitliche Tradition, dass die omnitudo realitatis ein „bloßes Selbstgeschöpf“231 der Vernunft ist und somit prinzipiell kein realer Gegenstand. Vielmehr ist Gott als omnitudo realitatis eine Idee als „Gegenstand einer transzendentalen Theologie“232 , so dass mit ihm nicht „das Verhältnis eines wirklichen Gegenstandes zu andern Dingen, sondern der Idee zu Begriffen“233 bedacht wird. Ehe die wesentlichen Argumente dafür skizziert werden, sei der zweite Grund benannt, warum laut Kant die Vernunft auf den ontologischen Gottesbeweis zu sprechen kommt. Der Ausgangspunkt liegt in der Erfahrung der Endlichkeit, die Menschen machen. In der Form des kosmologischen Gottesbeweises wird aus der Erfahrung, dass etwas Endliches existiert, auf ein notwendiges Wesen, ein ens necessarium geschlossen.234 Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der kosmologische Gottesbeweis allerdings als ein „ganzes Nest von dialektischen Anmaßungen“.235 Die zwei Anmaßungen, die im Folgenden namhaft gemacht werden, führen zugleich vom kosmologischen Gottesbeweis über die – laut Henrich 236 – zweite Variante des ontologischen Gottesbeweises, die Gott als ens necessarium fasst, zur ersten, die Gott als omnitudo realitatis begreift.237 Erstens steht der kosmologische Gottesbeweis nicht in sich, da sein Verlauf so organisiert ist, Siehe dazu auch Röd, Der Gott der reinen Vernunft, 149. Kant, KrV, B 612. 232 Kant, KrV, B 608. 233 Kant, KrV, B 607. 234 Kant, KrV, B 612 schreibt dazu: Die Vernunft „fängt nicht von Begriffen, sondern von der gemeinen Erfahrung an, und legt also etwas Existierendes zum Grunde. Dieser Boden aber sinkt, wenn er nicht auf dem unbeweglichen Felsen des Absolutnotwendigen ruht. [. . .] Wenn etwas, was es auch sei, existiert, muß auch eingeräumt werden, daß irgend etwas notwendigerweise existiert. Denn das Zufällig existiert nur unter der Bedingung eines anderen als seiner Ursache, und von dieser gilt der Schluß fernerhin bis zu einer Ursache, die nicht zufällig, und eben darum ohne Bedingung notwendigerweise da ist. Das ist das Argument, worauf die Vernunft ihren Fortschritt zum Urwesen gründet.“ Siehe dazu auch Kant, KrV, B 632 f. und Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 149. 235 Kant, KrV, B 637. 236 Siehe Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 3. 237 Kant meint sogar, dass der ontologische Gottesbeweis auch in seiner ersten Variante letztlich nur deshalb entwickelt wurde, da diese Erfahrung den kosmolo230 231
220 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie dass Gott als der Begründer in formaler Hinsicht abhängig vom Begründeten ist. Gott ist somit nur als relativ Notwendiger bestimmt, müsste aber als absolut Notwendiger bestimmt werden, wenn er zu Recht Gott genannt werden will.238 Die Bestimmung absoluter Notwendigkeit aber kann ihm nur im Rahmen des a priori operierenden ontologischen Gottesbeweises zugeschrieben werden, genauerhin als dessen zweite Variante. Zweitens muss jedoch auch das ens necessarium als absolut Notwendiges näher bestimmt werden, um seiner Funktion eines Ideals der reinen Vernunft zu entsprechen. Denn ein Ideal hat „weiter keine Beglaubigung seiner Realität, als die Bedürfnis der Vernunft, vermittels desselben alle synthetische Einheit zu vollenden.“239 Wenn es selbst unbestimmbar und damit ein bloßer Name ist, so wird es somit funktionslos. Das ens necessarium kann jedoch nicht aus sich selbst heraus bestimmt werden, denn – mit Henrich gesprochen – „notwendig ist ein Wesen dann, wenn die Möglichkeit der Existenz seines kontradiktorischen Gegenteils undenkbar ist. Auf Grund welcher Bedingungen will man einsichtig machen, dass die Existenz eines Wesens notwendig ist, von der ich nichts weiter weiß als dies, daß es ein notwendiges Wesen sein soll? Ist nicht mehr als der Begriff der Notwendigkeit gegeben, so kann die Frage nach der Möglichkeit einer bestimmten Vorstellung von ihm offensichtlich nicht beantwortet werden.“240 Um überhaupt verständlich zu sein, muss dem ens necessarium somit eine weitere, nicht in ihm selbst liegende Bestimmung zukommen.241 Als geeigneter Kandidat für die Näherbestimmung des Gottesbegriffs steht der der omnitudo realitatis zur Verfügung.242 Damit diese Näherbestimmung aber tatsächgischen Gottesbeweis aus sich heraussetzt und dieser dann auf die erste Variante des ontologischen hinführt, siehe Kant, KrV, B 631 f. 238 Siehe dazu Kant, KrV B 646, auch 638–640, siehe dazu auch Ulrich Barth, Religion oder Gott? Die religionstheoretische Bedeutung von Kants Destruktion der spekulativen Theologie, in: Ulrich Barth, Wilhelm Gräb (Hg.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh 1993, 11–34, 20. 239 Kant, KrV, B 642. 240 Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 175, siehe dazu Kant, KrV, B 620 f. 241 Es wäre sogar denkbar, das ens necessarium nicht durch eine weitere Bestimmung Gottes, sondern durch eine Bestimmung der Welt als Ganzer näher zu definieren, da ja nicht a priori auszuschließen ist, dass auch die Welt ein ens necessarium ist. Dieses Problem sei hier außer Acht gelassen. 242 Siehe dazu auch Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 165.169–172 u. ö., der in dieser Einsicht und der damit verbundenen Verknüpfung des ens necessarium
3. Das Subjekt und das Absolute
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lich eine Näherbestimmung Gottes ist, muss die innere Einheit beider Begriffe aufgewiesen werden, da es Gott nicht angemessen ist, ihm zwei miteinander unvermittelte Bestimmungen zuzuschreiben. Dazu muss die Vernunft bereits über einen Begriff verfügen, der inhaltlich bestimmt ist und zugleich die Notwendigkeit des Daseins enthält. Dieser Begriff liegt nur dann in dem Ideal der omnitudo realitatis vor, wenn die omnitudo realitatis notwendigerweise ihre eigene Existenz mit sich bringt, d. h., wenn der ontologische Gottesbeweis in seiner ersten Variante gültig ist. Da laut Kant anders kein bestimmter Begriff des notwendigen Wesens gebildet werden kann, dependiert der kosmologische Gottesbeweis somit von der Gültigkeit des ontologischen Gottesbeweises in seiner ersten Variante, um überhaupt ein Gottesbeweis zu sein.243 Kant zeigt somit erstens, dass der kosmologische Gottesbeweis vom ontologischen abhängt. Er zeigt zweitens (wie anders vor ihm schon Leibniz und andere244) die innere Verknüpfung der beiden Gottesbegriffe der beiden Varianten des ontologischen Beweises auf: Das ens necessarium ist wesentlich mit der omnitudo realitatis verknüpft. Drittens verweist Kant damit darauf, dass man den ontologischen Gottesbeweis gerade nicht dadurch verteidigen kann, dass man von der Idee der omnitudo realitatis Abschied nimmt und sich ganz auf die des ens necessarium kapriziert, da vielmehr das ens necessarium ohne die omnitudo realitatis nicht verstehbar ist. Wenn man die urteilstheoretische Herleitung der omnitudo realitatis und ihre kosmotheologische Entwicklung zusammennimmt, so erhellt, dass laut Kant die Möglichkeit rationaler Theologie als solche davon abhängt, wie der Status der omnitudo realitatis genauer zu bestimmen ist.245
mit der omnitudo realitatis einen der (wenn nicht: den) grundlegenden Fortschritte gegeben sieht, den Kant gegenüber der Tradition brachte. 243 Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 176, betont, dass „Kant nie bestritten hat, daß für den Fall, daß wir einen bestimmten Begriff vom notwendigen Wesen bilden können, aus ihm unmittelbar auf das Dasein dieses Wesens geschlossen werden muß. Man missversteht den Sinn der Kantischen Kritik an der Ontotheologie ganz grundsätzlich, wenn man ihr unterstellt, sie wolle allgemein und formal den Übergang vom Begriff zum Dasein als solchen kritisieren.“ Diese Einschätzung ist auch für die Rekonstruktion Hegels von Bedeutung. 244 Siehe dazu Hindrichs, Das Absolute, 76–102 und 105. 245 Siehe dazu auch Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 166.
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3.3.1.2. Der Gottesbegriff als regulative Idee Kant liefert zwei Gründe für seine Einsicht, dass der omnitudo realitatis nicht der Status einer konstitutiven, sondern nur der Status einer regulativen Idee zukommt, wobei der zweite dem ersten erst seine durchschlagende Kraft verleiht. Kant verweist zuerst auf den bereist aus der Tradition bekannten, von Henrich als „empiristisch“246 bezeichneten Einwand, der besagt, dass Dasein nicht unter die Realitäten oder Qualitäten zu zählen ist. Er argumentiert für diese Einsicht wie folgt. Das Urteil „Gott existiert“ kann nur dann im Sinne des ontologischen Gottesbeweises funktionieren, wenn es kein synthetisches, sondern ein analytisches Urteil darstellt, da sonst die Existenz ohne Widerspruch auch nicht im Begriff enthalten sein könnte.247 Wenn „Gott existiert“ aber ein analytisches Urteil ist, dann ist das Existieren ein reales Prädikat, welches den Inhalt eines Begriffs vermehrt. Das bringt die Konsequenz mit sich, dass es unmöglich ist, Begriffe auf Gegenstände anzuwenden. Denn dann würde den existierenden Gegenständen eine Bestimmung oder Realität zukommen, die den Begriffen der Gegenstände gerade nicht zukommt. Damit würden die Gegenstände etwas anderes sein als im Begriff gedacht, so dass kein Begriff angemessener Weise auf einen Gegenstand angewendet werden könnte.248 Daher gilt, dass „Sein kein reales Prädikat ist [. . .]. Es ist bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst. Im logischen Gebrauch ist es lediglich die Copula eines Urteils.“249 Um an die berühmte Illustration Kants zu erinnern: „Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das Mindeste mehr, als hundert mögliche.“250 Siehe etwa Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 133. Siehe Kant, KrV, B 626. 248 Siehe dazu Kant, KrV, B 627 sowie Röd, Der Gott, 156 und Friedrich Hermanni, Der ontologische Gottesbeweis, in: NZSTh 44 (2002), 245–267, 258. 249 Kant, KrV, B 626. 250 Kant, KrV, B 627. – Wenigstens Anmerkungsweise sei erwähnt, dass Kant damit den Kern der Quantorenanalyse der Existenz vorweggenommen hat, zugleich aber auch deren Probleme erbt (die nun dargelegten Beobachtungen folgen der Untersuchung Bernd Goebel, Nachdenken über den ontologischen Gottesbeweis. Eine Diskussion philosophischer Einwände gegen seine beiden Grundformen mit einem Blick auf die zeitgenössische Theologie, in: NZSTh 51 (2009), 105–144, v. a. 124 f.) Russell, Frege und Quine haben den Versuch unternommen, den Begriff der Existenz mithilfe der modernen Prädikatenlogik zu reformulieren. Dass Sokrates existiert, bedeutet, dass es etwas gibt, das die Eigenschaft, menschlich zu sein, instantiiert. Es gibt somit ein x (ausgedrückt durch den Existenzquantor), für das gilt: x ist Sokrates. Mit dem Existenzquantor ist dabei nicht ein Prädikat erster Ordnung bezeichnet, 246 247
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Vor allem aber gewinnt Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises dadurch an Grundsätzlichkeit, dass er den empiristischen Einwand als Resultat umfassender urteilstheoretischer Überlegungen präsentiert und nicht bloß als ein aus der Tradition herstammendes Argument wie viele andere auch, dem aufgrund dieser Form nur begrenzte Valenz zukommen kann. Kant betont, dass sich der Gottesbeweis nicht zuerst auf den Begriff Gottes oder des Absoluten konzentrieren darf. Vielmehr sind zuerst erkenntniskritische Überlegungen anzustellen, die darauf reflektieren, dass der Gottesbeweis sich als Beweis in Urteilsform vollzieht. Kant diskutiert somit nicht allein Gott als einen Gegenstand unter anderen, sondern es wird bei ihm zugleich das Denken über Gott reflexiv: Es wendet sich auf sich zurück und bedenkt sich in dem Versuch, Gott zu bedenken. Damit wird das Nachdenken über den Gottesbeweis mit dem Nachdenken über das Denken als solches verknüpft; Hegel wird diese Verknüpfung übernehmen und auf eigene Weise weiter entwickeln. Kant sieht sich vor folgende Frage gestellt: Damit sich durch das Urteil ein Beweis vollziehen kann, muss das Urteil einen Wahrheitsanspruch in Bezug auf das zu Beweisende erheben können. Dazu muss dieser Wahrheitsanspruch entscheidbar sein. Nur in diesem Fall kann das Urteil überhaupt Anspruch auf Geltung erheben und somit die einem Beweis angemessene Form darstellen. Somit sind die folgenden beiden Frage zu beantworten: Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit, die erfüllt sein müssen, damit ein Urteil einen entscheidbaren Wahrheitsanspruch erheben kann? Und: Sind diese Bedingungen erfüllt, wenn Gott als omnitudo realitatis im Urteil thematisiert wird? Kant beantwortet die erste Frage so, dass ein Urteil nur dann einen entscheidbaren Wahrheitsmit dem eine Eigenschaft von einem Gegenstand ausgesagt wird, sondern ein Prädikat zweiter Ordnung. Genauer gesagt, werden laut der Frege-Russelschen Auffassung singuläre Existenzsätze wie „Sokrates existiert“ in zwei Schritten umgewandelt. In einem ersten Schritt wird die Subjektaussage durch Kennzeichnungen ersetzt, in einem zweiten wird die Existenzaussage zu einer Aussage über das Instantiiert-Sein seiner Eigenschaften umgedeutet. Entsprechend lautet „Sokrates existiert“ dann „Die Eigenschaft, ein Philosoph zu sein und als erster gesagt zu haben, ‚ich weiß, dass ich nichts weiß‘, ist instantiiert“. Hier zeigt sich das Problem dieser Form der Bestimmung der Existenz: Denn was heißt es, wenn gesagt wird, dass Eigenschaften erster Ordnung „instantiiert“ sind? Das bedeutet doch, dass mindestens ein Gegenstand existiert, der diese Eigenschaft besitzt. Damit aber taucht der Existenzbegriff wiederum als Eigenschaft erster Ordnung auf. Damit nimmt die Quantorenanalyse in gewisser Hinsicht an, dass Dasein ein reales Prädikat ist, und sie begeht zugleich einen Zirkel bei der Erklärung des Existenzbegriffs.
224 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie anspruch und somit Anspruch auf Geltung erheben kann, wenn es auf mögliche Erfahrungen bezogen ist. Denn „Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).“251 Allein dadurch, dass dem Urteil Anschauungen gegeben werden, kann es sich auf das Nichturteil, über das es Aussagen macht, so beziehen, dass das Urteil entscheidbar ist.252 Nun fällen wir aber Urteile als die endlichen Wesen, die wir sind, und können als solche immer nur endliche Ausschnitte dessen wahrnehmen, was ist. Indem Gott als omnitudo realitatis gerade als Gesamtheit aller Bestimmungen gefasst wird, bringt die Antwort auf die erste Frage zugleich die Antwort auf die zweite Frage als die mit sich, ob das Absolute nun Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Gott als omnitudo realitatis ist kein Gegenstand möglicher Erfahrung für ein endliches Wesen wie das urteilende Subjekt.253 Da aber nur solche Urteile den Anspruch mit sich bringen, entscheidbare Wahrheitsansprüche zu erheben, die sich auf mögliche Erfahrungen beziehen, folgt, dass aus prinzipiellen transzendentalphilosophischen Erwägungen heraus Urteile über Gott nicht in der Lage sind, einen entscheidbaren Wahrheitsanspruch zu erheben. Gott wird in Urteilen bedacht – wie sonst wäre er zu bedenken? Indem aber Gott in Urteilen bedacht wird, werden die Urteile zu unentscheidbaren Urteilen. Damit kann Gott kein Gegenstand eines Beweisganges werden, da dieser voraussetzt, dass die von ihm verwendeten Urteile entscheidbar sind.254 Ob Gott als omnitudo realitatis existiert oder nicht, ist im Rahmen der theoretischen Vernunft somit nicht ent Kant, KrV, B 76 und Kant, KrV, B 350–355. Hindrichs, Das Absolute, 108. 253 Siehe dazu auch Hindrichs, Das Absolute, 111 f. 254 Die urteilstheoretische Reflexion ist auch gegenüber denjenigen gegenwärtigen Versuche der Reaktivierung des ontologischen Gottesbeweises anzuführen, die den ontologischen Gottesbeweis unter Konzentration auf den Begriff des Absoluten im Anschluss an Anselm zu re-etablieren suchen, so etwa Goebel, Nachdenken über den ontologischen Gottesbeweis. Es verwundert bei Goebels ebenso scharfsinnigem wie belesenem Aufsatz, dass er Kant zwar mit verhandelt, allerdings dessen Pointe nicht hinreichend in den Blick bekommt. Goebel liest Kants Spruch, dass Sein kein reales Prädikat ist, nicht als Folge seiner urteilstheoretischen Überlegungen, sondern als für sich stehenden Einwand. Als für sich stehenden Einwand ist er zu Recht als schwach anzugreifen, als Folge urteilstheoretischer Überlegungen hingegen ist er von großer Durchschlagskraft. 251
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3. Das Subjekt und das Absolute
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scheidbar. Damit ist laut Kant zugleich die rationale Theologie als Ganze nicht entscheidbar, da ja der Begriff des ens necessarium von dem der omnitudo realitatis abhängt und der kosmologische Gottesbeweis vom ontologischen. Zugleich verzichtet Kant auch in seinen Überlegungen zur theoretischen Vernunft nicht auf den Begriff Gottes als omnitudo realitatis. Denn der erste Grund, um auf Gott als omnitudo realitatis zu sprechen zu kommen, bleibt in Geltung: Er bleibt weiterhin unverzichtbar für jede Urteilspraxis. Allerdings wird Gott als omnitudo realitatis nicht als konstruktive, sondern allein als regulative Idee begriffen. Ihm kommt somit der Status einer solchen Idee zu, die allein zur Regulierung von Erfahrungserkenntnissen dient, ohne dass gesagt werden kann, ob sie real existiert oder nicht. Daraus folgt aber auch, dass die Bestimmung Gottes als omnitudo realitatis gerade nicht mehr mit der Bestimmung Gottes als ens necessarium verbunden ist. Denn der Begriff des ens necessarium rlaubt es nicht, dass das Urteil, dass „Gott existiert“, unentscheidbar ist.255 Kant trennt, was er selbst und die Tradition vor ihm sowie Hegel nach ihm zu verbinden suchte: Gott als omnitudo realitatis und als ens necessarium. Damit fällt der Rechtsgrund des gesamten logischen Raumes und es fällt ein letztbegründetes, umfassendes ontotheologisches System. Als regulative Idee der omnitudo realitatis aber ist Gott bleibend für jede Einzelerkenntnis notwendig.
3.3.2. Hegels postkritische Restitution der Gottesbeweise Bei aller Polemik, die Hegels Auseinandersetzung mit Kant auf der Oberfläche bestimmt, rechnet es Hegel Kant als Verdienst an, die alte Ontotheologie zerstört zu haben.256 Allerdings sieht er bei Kant selbst einen internen Widerspruch bestehen, der ihn den Versuch machen lässt, über Kant hinaus zu gehen und die Ontotheologie in neuer, spekulativer Form auferstehen zu lassen. Dieser Widerspruch lässt sich etwa so formulieren: Mit der Tradition und mit Kant meint auch Hegel, dass die Wahrheit einer Einzelerkenntnis nur dann gewährleistet ist, wenn diese in den übergreifenden Gesamtzusammenhang eingebettet ist. Nun ist Siehe auch Hindrichs, Das Absolute, 120. Zu der Beobachtung, dass Hegel mit vielen abwertenden und polemischen Äußerungen bedenkt, zugleich aber mit seinem eigenen Projekt Kants Einwände nicht einfach ignoriert, sondern sie zu überbieten sucht, siehe auch Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 194–208. 255
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226 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie die omnitudo realitatis bei Kant aber selbst bloß eine regulative Idee, deren Wahrheit nicht entscheidbar ist. Da die Wahrheit der Einzelerkenntnis von ihrer Einbettung in den übergreifenden Gesamtzusammenhang abhängt, schlägt die Unentscheidbarkeit in Bezug auf die omnitudo realitatis auf die Einzelerkenntnis zurück und lässt auch diese unentscheidbar werden. Damit ist also nicht nur die Erkenntnis Gottes, sondern sogar jede Einzelerkenntnis überhaupt gefährdet.257 Die Ordnung des Denkens und die des Seins drohen, als Ganze auseinander zu brechen. Hegel macht somit explizit, was in der Tradition stillschweigend mit angenommen und bereits bei Kants urteilstheoretischen Überlegungen deutlich wurde: Der Gottesbeweis bedenkt nicht nur einen Gegenstand unter anderen, sondern er hat vermittels dieses einen Gegenstands die Zuordnung von Begriff und Sein als Ganze zum Thema. 258 Gott selbst ist für dieses Thema insofern wichtig, als Gott der Grund – und bei Hegel letztlich auch die Methode – der Erkenntnis- wie der Seinsordnung ist. Daher wird die grundlegende und prinzipielle Frage der Zuordnung beider an ihm in ausgezeichneter Weise verhandelt. Um dieses umfassende Thema in Form einer Metakritik von Kants Kritizismus zu bedenken, sieht sich Hegel vor drei Fragebereiche gestellt, die drei Vermittlungen fordern. Erstens stellt sich die Frage, ob die Idee selbst tatsächlich bloß als regulative zu denken ist oder ob ihr nicht doch eine Form des Seins zukommt. Wenn letzteres der Fall ist, dann sind Begriff und Sein sowie das Absolute als omnitudo realitatis und als ens necessarium am Ort des Grundes und der Methode der Erkenntnis- wie der Seinsordnung miteinander vermittelt, so dass die Erkenntnis- und die Seinsordnung auch selbst miteinander verbunden sind. Dass dies der Fall ist, zeigt sich in der Wissenschaft der Logik und in ausgezeichnetem Maße in ihrem Schlusskapitel, der Absoluten Idee (Zweites Kapitel, 3.3.2.1.). Von seiner dialektischen Methode geleitet bedenkt Hegel zudem stärker als Kant die geschichtliche Situierung der Vernunft. Entsprechend rekonstruiert er nicht nur in gleichsam geschichtsenthobener Weise, wie sich die absolute Idee als das Absolute mit dem endlichen Geist des Menschen und dieser sich mit dem Absoluten vermittelt, sondern er bedenkt auch die geschichtlichen Konstellationen dieser Vermittlung. Sie begegnen in 257 Siehe dazu Hindrichs, Das Absolute, 135, und Dieter Henrich, Grund und Gang spekulativen Denkens, in: Dieter Henrich, Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik, Stuttgart 1999, 85–138, 106. 258 Siehe dazu auch Röd, Der Gott, 170.190 f., Hindrichs, Das Absolute, 146 f.
3. Das Subjekt und das Absolute
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den Religionen und in ausgezeichneter Weise im Christentum als der absoluten Religion (Zweites Kapitel, 3.3.2.2.). Drittens ist diese Vermittlung nur möglich, sofern die ihren Inhalten angemessene Form gefunden wird. Hegel wirft Kant vor, dass er Gott nach der Art des Verstandes denkt und somit in einer Gott nicht angemessenen Form. Denn der Verstand ist in seinen Urteilen auf empirisch erfahrbare Gegenstände gerichtet und trennt zudem die Urteile von ihren externen Voraussetzungen sowie die zu bedenken Gegenstände und ihre Eigenschaften in abstrakter Form, so dass bereits die Form des Urteils den Inhalt Gott verpasst.259 Die dem Inhalt der Gottesbeweise allein entsprechende Form hingegen ist das Denken der Vernunft, welche im spekulativen Schluss die Vermittlung des Urteils und seiner Voraussetzungen sowie der bedachten Entitäten vollzieht. Um das zu verdeutlichen, seien einige Anmerkungen zu Hegels Schlusslehre getätigt, in der Form und Inhalt miteinander vermittelt sind (Zweites Kapitel, 3.3.2.3.). Die eigentliche Pointe Hegels besteht darin, dass er nicht nur die drei angesprochenen Vermittlungen vornimmt, sondern dass er durch die dritte Vermittlung alle drei Themen und damit alle drei Vermittlungen selbst noch einmal miteinander vermittelt: Die absolute Idee (erstes Thema) vollzieht sich in ihrer Dynamik am Ort des endlichen Subjekts (zweites Thema) in der Form des spekulativen Schlusses (drittes Thema). Der Denkakt selbst wird damit absolut und das Absolute, so dass dann, wenn entsprechend gedacht ist, das Absolute ist (Zweites Kapitel, 3.3.2.4.). Der Durchlauf durch das Gesamtsystem zeigt somit, dass jeder einzelne Schluss das Absolute ist. Hegel hebt mit der Vermittlung der drei Vermittlungen die Positionen der vorkritischen Tradition sowie die Kants in sein eigenes, spekulatives Denken hinein auf. Die erste Frage als die nach dem Status der Idee kann als die spekulative Aufnahme der traditionellen Frage nach der Zuordnung von Gott als omnitudo realitatis und als ens necessarium sowie ihrer Neubestimmung durch Kant gedeutet werden. Die zweite Frage kann als kritische Aufnahme der grundlegenden Position Kants begriffen werden, der endliches und absolutes Denken voneinander getrennt wissen will. Zugleich stellt die erste Frage als die nach dem Status der Idee die spekulative Aufnahme des ontologischen Gottesbeweises dar Siehe zu diesem zentralen Vorwurf etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hg. v. W. Bonsiepen und H.-C. Lucas, Gesammelte Werke, Band 20, Hamburg 1992 (Enz.), § 51, sowie Röd, Der Gott, 178–180 und Jörg Dierken, Hegels Interpretation der Gottesbeweise, in: NZSTh 32 (1990), 275–318, 283–291. 259
228 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie und die zweite als die nach der Vermittlung des Endlichen mit dem Unendlichen in der Geschichte die spekulative Aufnahme des kosmologischen Gottesbeweises, so dass auch bei Hegel beide Beweise aufgenommen und miteinander verbunden werden. Es wird sich zeigen, dass bereits der ontologische Gottesbeweis eine Form der Vermittlung des ontologischen mit dem kosmologischen darstellt und der kosmologische eine Form der Vermittlung mit dem ontologischen, so dass die Vermittlung beider deshalb möglich ist, da beide an sich selbst bereits mit ihrem anderen vermittelt sind. Das ist nur deshalb möglich, da die dritte Vermittlung als die des spekulativen Schlusses den gemeinsamen Fehler der vorkritischen Tradition und Kants selbst aufhebt, welche beide das Absolute als das Thema der Vernunft par excellence primär in Urteilen und nach Art des Verstandes zu denken suchen. Das dialektische Schlussdenken hingegen vermag es, die aus der Tradition und von Kant herstammenden Grundprobleme der Gottesbeweise zu lösen und zu einer neuen Synthese zu gelangen: Wenn das Wahre auf wahre Art gedacht wird, ist das Absolute. Das Absolute als der absolute Denkakt selbst stellt zugleich die spekulative Restitution eines letztbegründeten Systems dar und damit die Restitution eines Rechtsgrundes von allem, das ist und gedacht wird.
3.3.2.1. Die spekulative Fassung des ontologischen Gottesbeweises in der Absoluten Idee Um anzudeuten, auf welche Weise Hegel für seine Position argumentiert, sei zuerst die Grundstruktur der Dialektik skizziert und dann aufgewiesen, warum diese die spekulative Wahrheit des ontologischen Beweises darstellt.260 Die Grundstruktur der (in sich sehr flexiblen) Dialek Letztlich bedürfte es einer Gesamtrekonstruktion der Wissenschaft der Logik, um die Dialektik differenziert und in ihren vielfältigen, oftmals auch expliziten Rekursen auf den ontologischen Gottesbeweis zu explizieren. Da dies ein Unterfangen darstellt, das selbst mindestens ein eigenes Buch in Anspruch nehmen würde, sei hier nur die Grundstruktur der Dialektik anhand einiger Bestimmungen der Absoluten Idee rekonstruiert. Auf diejenigen Passagen innerhalb der Wissenschaft der Logik, in denen Hegel selbst explizit auf den ontologischen Gottesbeweis zu sprechen kommt, wird im Verlauf der Auslegung der Absoluten Idee zurückgegriffen. Eine ausführliche Rekonstruktion derjenigen Passagen der Wissenschaft der Logik, in denen Hegel selbst explizit auf den ontologischen Gottesbeweis zu sprechen kommt, findet sich bei Jan Rohls, Theologie und Metaphysik. Der ontologische Gottesbeweis und seine Kritiker, Göttingen 1987, 379–390. 260
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tik wird in der Absoluten Idee als dem Schlusskapitel der Wissenschaft der Logik reflexiv. Die in der Absoluten Idee verhandelte absolute Idee erweist sich letztlich als die „Methode“261, die allem Denken und allem Sein zugrunde liegt und damit eine eigene Variante des ontologischen Gottesbeweises darstellt. Die Dialektik der Absoluten Idee entwickelt sich in vier Schritten. Um tatsächlich mit dem Anfang anzufangen, ist mit einer ganz einfachen, unmittelbaren Bestimmung anzufangen, denn jede Vermittlung setzt einen Ableitungsprozess voraus und widerspricht somit der geforderten Anfänglichkeit des Anfangs. Diese „abstrakte Allgemeinheit“262 des Anfangs kommt gerade aufgrund ihrer Unmittelbarkeit Sein zu, „denn das Sein ist eben diese abstrakte Beziehung auf sich selbst.“263 Zugleich erhellt, dass das anfängliche Unmittelbare „mit dem Triebe begabt ist, sich weiterzuführen“264 , „wodurch das anfängliche Allgemeine aus ihm selbst, als das Andere seiner sich bestimmt.“265 Es kommt zur ersten Negation als dem zweiten Schritt, da das Unmittelbare „nach seiner Wahrheit betrachtet [. . .] schon gesetzt ist als mit einer Negation behaftet.“266 Denn es ist doch gerade dadurch das Unmittelbare, dass es nicht das Mittelbare ist. Als Negation der Vermittlung aber ist es selbst eine Form der Vermittlung. So ist das Unmittelbare gerade als Unmittelbares und damit als die Negation der Vermittlung selbst Vermittlung. Oder das Allgemeine ist gerade als Negation von Besonderem Besonderes. Somit hat sich das anfängliche, unmittelbar seinshafte, scheinbar Selbständige in seiner Selbständigkeit widersprochen 267 und sich mit seinem Anderen vermittelt. Der Selbstvermittlungsprozess treibt sich nun aber erneut weiter, so dass es zur zweiten Negation als dem dritten der vier Entwicklungsschritte der absoluten Idee kommt. Denn indem das All gemeine das Besondere wurde, scheint nur noch letzteres vorhanden zu sein, so dass erneut eine relationslose, selbständige Entität vorliegt. 261 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik (1816), hg. v. Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Gesammelte Werke, Band 12, Hamburg 1981 (WL 2), 238. 262 Hegel, WL 2, 239. 263 Hegel, WL 2, 239. 264 Hegel, WL 2, 240. 265 Hegel, WL 2, 242. 266 Hegel, WL 2, 240. 267 Zur vieldiskutierten Rolle des Widerspruchs in Hegels Methode siehe Martin Wendte, Gottmenschliche Einheit bei Hegel. Eine logische und theologische Untersuchung (QuStPh 77), Berlin/New York 2007, 88–100.
230 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie „[A]ber ihrer Wahrheit nach ist sie eine Beziehung oder Verhältnis“.268 Denn das Besondere hat doch die anfängliche Entität in sich aufgehoben und ist damit mit ihr vermittelt. Wie in der ersten, so erweist sich auch in der zweiten Negation die angenommene Selbständigkeit als Schein und überführt sich in ihre Wahrheit, die in der Vermittlung mit ihrem Anderen besteht. Somit hat sich das Allgemeine mit dem Besonderen und das Besondere mit dem Allgemeinen vermittelt und ist jeweils gerade so es selbst. Vorgreifend auf die weitere Entwicklung des Systems weist Hegel bereits in der Absoluten Idee darauf hin, was diese Struktur für das Endliche und das Unendliche oder für Mensch und Gott bedeutet und damit für die Vermittlung, die wir unter Zweites Kapitel, 3.3.2.2. betrachten werden: „So sind alle fest angenommenen Gegensätze, wie z. B. Endliches und Unendliches [. . .] an und für sich selbst das Übergehen.“269 Der vierte, letzte Schritt der dialektischen Bewegung besteht darin, die sich in dieser Selbstausdifferenzierung entwickelnde Identität eigens zu setzen. Sie liegt darin begründet, dass das Allgemeine und das Besondere sich in Wahrheit mit sich vermitteln, indem sie zu ihrem Anderen werden. Denn sie sind doch in Wahrheit gerade dasjenige Andere, zu dem sie jeweils werden. Somit besteht die Wahrheit des Allgemeinen und des Besonderen in der Identität dieser Vermittlungsbewegung. Hegel nennt sie das Einzelne, und der vierte Schritt bedeutet die „Herstellung der ersten Unmittelbarkeit.“270 Sie erfolgt, indem der „Begriff, der sich durch das Anderssein realisiert und durch die Aufhebung dieser Realität mit sich zusammengegangen und seine absolute Realität, seine einfache Beziehung auf sich hergestellt hat.“271 Die so erreichte neue Einheit ist eine zutiefst dynamische. Sie ist „eben als diese Einheit die sich mit sich selbst vermittelnde Tätigkeit und Bewegung. – Wie das Anfangende das Allgemeine, so ist das Resultat das Einzelne, Konkrete, Subjekt.“272 Das Ergebnis des dialektischen Weges ist der reflexiv gewordene Weg selbst als Selbst oder die als solche gesetzte Vermittlungsbewegung, die Subjekt ist. Zugleich stellt die erreichte Unmittelbarkeit den ersten Schritt für eine weitere dialektische Bewegung dar, und so fort. Damit baut sich von den Einzelbestimmungen her die Gesamtheit der Bestimmungen auf. Mithilfe seiner dialektischen Methode nimmt Hegel somit Kants Ein Hegel, WL 2, 245. Hegel, WL 2, 244. 270 Hegel, WL 2, 247. 271 Hegel, WL 2, 248. 272 Hegel, WL 2, 248. 268 269
3. Das Subjekt und das Absolute
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sicht auf, dass die anfängliche einzelne Bestimmung in die dynamische Totalität der Bestimmungen eingeordnet werden muss, um selbst bestimmt werden zu können. Anders als bei Kant präsentiert sich die Totalität der Bestimmungen aber als in sich dynamische Vermittlungsbewegung. In den dargelegten Strukturmomenten vollzieht sich in spekulativer Form der Gehalt des ontologischen Gottesbeweises, da in ihnen die spekulativen Kerne dessen, was die Tradition ens necessarium und omnitudo realitatis nennt, ebenso miteinander verbunden werden wie die spekulativen Kerne von Begriff und Sein. Hegel fasst den spekulativen Kern des ens necessarium dadurch, dass er es als causa sui bestimmt und somit als etwas, das sich selbst hervorbringt und entsprechend das Sein kraft seines Wesens hat.273 Dieses Sich-selbst-hervorbringen hat einen doppelten Aspekt: Es bringt (erstens) etwas anderes hervor, mit dem es (zweitens) zugleich identisch ist. Genau diese Struktur aber liegt in der Dialektik der absoluten Idee vor. Es begegnete bereits in der Formulierung, dass „das anfängliche Allgemeine aus ihm selbst, als das Andere seiner sich bestimmt“274 , mit dem es zugleich identisch ist. Der spekulative Kern der omnitudo realitatis hingegen besteht darin, dass sie das Sein bezeichnet.275 Da der omnitudo realitatis in der Tradition und auch bei Kant keine Negation und damit keine Bestimmtheit zugeschrieben wird, bezeichnet sie bereits das anfängliche Sein in seiner anfänglichen Unmittelbarkeit 276 , die der dialektischen Bewegung des Begriffs bereits zu Beginn und als ihre anfängliche Bestimmung zukommt.277 Anders als bei endlichen Entitäten, bei denen Begriff und Sein durchaus getrennt sein können, wird Gott von vorneherein verfehlt, wenn ihm nicht Sein zukommt. Zugleich kommt das Sein dem Begriff am Ende der dialektischen Bewegung in qualifizierterem Sinne zu. Denn die Einheit, die der Begriff als causa sui hergestellt hat, ist zugleich (vermittelte) Unmittelbarkeit und
Siehe dazu auch Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 201. Hegel, WL 2, 242. 275 Siehe dazu Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 200. 276 Siehe etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik (1812/13), hg. v. Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Gesammelte Werke, Band 11, Hamburg 1978 (WL 1), 65 sowie 289. 277 Entsprechend kann Hegel an anderer Stelle sagen, dass es „sonderbar zugehen müßte, wenn dies Innerste des Geistes, der Begriff, oder auch wenn [. . .] Gott nicht einmal so reich wäre, um eine so arme Bestimmung, wie Sein ist, welche die allerärmste, die abstrakteste, ist, in sich zu enthalten.“ Hegel, Enz., § 51. 273 274
232 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie somit Sein und omnitudo realitatis als „absolute Realität“.278 Auf diese Weise vollzieht sich die Dialektik als die Vermittlung der spekulativen Kerne des ens necessarium und der omnitudo realitatis und ineins damit die Vermittlung der spekulativen Kerne von Begriff und Sein. Hegel durchleuchtet also die Grundbestimmungen des ontologischen Gottesbeweises auf ihre spekulativen Kerne hin und identifiziert diese mit Momenten der dialektischen Bewegung. Damit erreicht er zweierlei. Zum einen zeigt er, dass das ens necessarium und die omnitudo realitatis nicht nur bloße Namen oder unbegreiflich sind, sondern dass sie vielmehr als genau definierte Momente des Begriffs präzise begriffen werden können. Zum anderen beweist er den inneren, wesentlichen, begrifflich notwendigen Zusammenhang beider. Damit erfüllt er in spekulativem Denken die beiden Bedingungen, die die Tradition und auch Kant aufstellten, damit der ontologische Gottesbeweis als gültig angesehen werden kann.279 Zugleich stellt die sich im dritten Schritt der Dialektik vollziehende, vom Begriff getriebene Selbstvermittlung des Seins mit dem Begriff gleichsam den Aspekt des kosmologischen Gottesbeweises im ontologischen dar. Die Vermittlung von Begriff und Sein bedeutet, dass der absoluten Idee ein ideelles und ein reelles Moment zukommt, das zu unterscheiden, aber nicht zu trennen ist, da es sich selbst letztlich als absolut vermittelt erweist. Auf diese Weise ist die absolute Idee ein objektiver Gedanke. Bei ihr fallen nicht Begriff und Sein so auseinander, dass ein bloß subjektiver Gedanke (der Begriff) auf einen objektiven Sachverhalt (das Sein) „da draußen“ zutreffen würde, oder aber, dass sie „bloß“ eine (regulative) Idee sei, zu deren Realisierung etwas anderes als sie selbst nötig wäre.280 Vielmehr gilt, dass die Idee als recht bestimmte ist, auch wenn ihr selbstredend keine Existenz nach der Art endlicher Gegenstände zukommt. „Die Methode [d. i., die Dialektik, M. W.] ist der reine Begriff, der [. . .] erfülltes Sein ist“, wie Hegel in der Absoluten Idee resümiert.281 Die absolute Idee wird zwar im Schlusskapitel derjenigen Wissenschaft der Logik dargestellt, von deren Inhalt Hegel selbst in einem Vergleich 278 Diesen qualifizierteren Sinn hat Hegel m.W. allerdings nicht als omnitudo realitatis bezeichnet. 279 Hegel erfüllt die Bedingungen Kants allerdings so, dass er den Weg Kants gleichsam umdreht und die omnitudo realitatis dem ens necessarium zuordnet und nicht umgekehrt. 280 Siehe dazu auch Hindrichs, Das Absolute, 132 f., und Röd, Der Gott, 180 f. 281 Hegel, WL 2, 252.
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sagen kann, dass „man sich [so] ausdrücken kann, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.“282 In einer begrifflich schärferen und weniger verstandesförmigen Fassung ist mit diesem Ausdruck jedoch kein eigener, gegen andere Entitäten abgrenzbaren Gegenstand bezeichnet, sondern die Methode jeden wahren Denkens überhaupt. Entsprechend ist es nur folgerichtig, wenn Hegel bereits in dem Nachvollzug der absoluten Idee darlegt, dass die Vermittlung von Begriff und Sein in der Idee nicht nur für Gott zutrifft. Vielmehr entwickelt sie die Vermittlung von Denken und Sein überhaupt und damit die Entsprechung der Ordnung der Erkenntnis mit der des Seins: 283 Die absolute Idee „ist sowohl die Art und Weise des Erkennens, des subjektiv sich wissenden Begriffs, als die objektive Art und Weise oder vielmehr die Substantialität der Dinge, d. h. der Begriffe, insofern sie der Vorstellung und der Reflexion zunächst als Andere erscheinen.“284 Sie ist deswegen nicht nur die Art und Weise des subjektiv sich wissenden Begriffs, da sie zugleich die Substantialität der Dinge ist. Da die Dinge selbst Begriffe in der Form seines Andersseins sind, sind die Begriffe mehr als bloß subjektive Begriffe. Mit der vorherigen Überlegung sind drei weitere Überlegungen verbunden, die zum nächsten Abschnitt überleiten. Erstens sei betont, dass die absolute Idee als diese Vermittlung von Begriff und Sein das Absolute ist. Die absolute Idee bedeutet somit für die Realphilosophie, dass endliches Denken wie endliches Sein dann, wenn es wahrhaft denkt und ist, am Absoluten Anteil hat. Das Absolute vollzieht sich am Ort des Endlichen. Dazu allerdings muss sich auch das Endliche mit dem Absoluten vermitteln, indem es von seiner Selbständigkeit ablässt, sich zum Absoluten erhebt und darin wahrhaft es selbst wird. Ehe diese spekulative Reformulierung des kosmologischen Gottesbeweises im Folgenden skizziert wird, sei zweitens auf eine weitere Implikation des eben Ge Hegel, WL 1, 21. Röd, Der Gott, 181, schreibt dazu: „Im wahrhaften Begriff ist das Denken daher von der Wirklichkeit nicht mehr durch eine Kluft getrennt, sondern in ihm sind Denken und Sein verbunden. Dies mit Bezug auf distinkte Begriffe zu zeigen war auch die Aufgabe der rationalistischen Metaphysik, die sich zu diesem Zwecke des ontologischen Arguments bediente. Auch bei Hegel geht es darum, die wahrhaften Begriffe als objektiv zu erweisen, wobei das ontologische Argument aber nicht mehr Mittel ist, um den Anspruch der objektiven Gültigkeit zu rechtfertigen, sondern Explikation dieses Anspruchs.“ 284 Hegel, WL 2, 238. 282 283
234 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie sagten hingewiesen: Die absolute Idee als die absolute Vernunft vermittelt sich wesentlich in die Geschichte hinein, die in der Realphilosophie rekonstruiert wird. Denn die Geschichte ist ihr Anderes, bei dem sie erst sie selbst ist. Anders als bei Kant wird bei Hegel die Vernunft dergestalt geschichtlich, dass sie die Vernunft einer jeweiligen geschichtlichen Situation ist und in dieser Hinsicht kontextuell. Am Ende des Ganges der Vermittlung der Vernunft in die Geschichte hinein wird zugleich deutlich werden, dass die Selbstvermittlung der Vernunft in die Geschichte hinein zur Aufhebung der Geschichte in die Vernunft führt. Vorher aber sei, drittens, betont, dass diese Selbstvermittlung der Vernunft in die Geschichte hinein für das Absolute ein zugleich notwendiger und freier Vorgang ist. Er ist notwendig, da das Absolute nur dann, wenn es sich mit seinem Anderen vermittelt, es selbst wird. Zugleich ist das Absolute in diesem Vorgang frei, da es sich darin selbst entspricht. Wesentliches Moment dieser in dialektischer Vermittlung zugleich freien und notwendigen Vermittlung der Vernunft in die Geschichte ist die Selbstaufhebung des Endlichen in das Unendliche, welche die spekulative Fassung des kosmologischen Gottesbeweises darstellt.
3.3.2.2. Die spekulative Fassung des kosmologischen Gottesbeweises in der Realphilosophie Die Selbstaufhebung endlichen Denkens zum Denken des Absoluten vollzieht sich bei Hegel auf allen Stufen des Systems, da es die Bewegung des Denkens selbst ist.285 Zugleich ist das Hinausgehen über das Endliche zum Unendlichen genuiner Gegenstand der Religion, den die Menschen in jeder Religion vollziehen und solange vollziehen werden, wie es Religion gibt.286 Allerdings kann sich der endliche Geist nur dann mit dem „Das Erheben des Denkens über das Sinnliche, das Hinausgehen desselben über das Endliche zum Unendlichen, der Sprung, der mit Abbrechung der Reihen des Sinnlichen ins Übersinnliche gemacht werde, alles dieses ist das Denken selbst.“ (Hegel, Enz. § 50). Selbstredend werden wichtige Aspekte dieser Selbstaufhebung bereits in der Phänomenologie des Geistes entwickelt, in der sich das Bewusstsein von der sinnlichen Gewissheit zum absoluten Wissen vorarbeitet, siehe dazu etwa Röd, Der Gott, 174–176. Im Rahmen dieses Textes aber können wir uns alleine an das System selbst halten. 286 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1: Der Begriff der Religion, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1993 (VL Rel 1), 312 f. Entsprechend ist dieses Übergehen auch zentrales Thema der Behandlung der Gottesbeweise in denjenigen Vorlesungen, die Hegel ihnen eigens widmete, siehe 285
3. Das Subjekt und das Absolute
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unendlichen vermitteln, wenn sich auch der unendliche dem endlichen gegenüber öffnet, in religiöser Terminologie: wenn Gott sich offenbart.287 Die Offenbarung Gottes und damit der Selbstübergang des Begriffs ins Sein stellt gleichsam in spekulativer Fassung das Moment des ontologischen Gottesbeweises im kosmologischen dar.288 Mit beiden Strukturmomenten zusammen vollzieht sich in der Religion dasjenige, was in der Absoluten Idee so bestimmt wurde: „So sind alle fest angenommenen Gegensätze, wie z. B. Endliches und Unendliches [. . .] an und für sich selbst das Übergehen.“289 In der Religion selbst realisiert sich somit die Grundstruktur des Systems in ausgezeichneter Weise.290 Das Christentum ist unter allen geschichtlichen Religionen die absolute Religion, da sie den Begriff der Religion und damit die Grundstruktur der Dialektik selbst zu ihrem Vorstellungsinhalt hat. Das beginnt bereits mit der Vorstellung von der immanenten Trinität, die in deutlicher Parallele zu den aus der absoluten Idee bekannten Entwicklungsschritten verstanden werden kann. Der Vater als das anfängliche Allgemeine (erster Schritt) negiert sich (zweiter Schritt), indem er den Sohn erzeugt. Der Sohn wiederum negiert seine scheinbare Selbständigkeit (dritter Schritt), indem er seine „Bestimmung, das von dem allgemeinen Wesen Unterschiedene zu sein, sich ewig aufhebt.“291 Damit wird eine neue Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Beweis vom Dasein Gottes. Werke, neu edierte Ausgabe v. E. Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 17, Frankfurt a. M. 1986, 356. 287 Siehe dazu auch Hegel, Vorlesungen vom Beweise, 379. Siehe zu dem Aspekt, dass diese Vermittlung bereits in der Wissenschaft der Logik angelegt ist, auch Falk Wagner, Theo-Logik. Ein Beitrag zur theologischen Interpretation von Hegels „Wissenschaft der Logik“, in: Walter Jaeschke (Hg.), Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Der Streit um die göttlichen Dinge 1799–1812, Hamburg 1994, 195–220, und dazu Kazimir Drilo, Kritik des religiösen Bewusstseins. Falk Wagners theologische Interpretation von Hegels „Wissenschaft der Logik“, in: Christoph Asmuth, Kazimir Drilo (Hg.), Der Eine oder der Andere. „Gott“ in der klassischen deutschen Philosophie und im Denken der Gegenwart, Tübingen 2010, 141–155. 288 Wenn beide Strukturmomente zusammen genommen werden, so wird zugleich deutlich, dass Hegels Religionsphilosophie die spekulative Vermittlung einer kritischen, von einer Bewusstseinstheorie ausgehenden Theorie der Religion mit der vorkritischen natürlichen Theologie darstellt, siehe dazu auch Wendte, Gottmenschliche Einheit, 169 f. 289 Hegel, WL 2, 244. 290 Das zeigt auch die Verortung der Religion im System an, da die Religion Moment des Absoluten Geistes ist. Sie ist damit Moment der höchsten Entwicklungsstufe des Systems, in der die Vermittlungsbewegung des unendlichen Geistes mit dem endlichen, die sich in der gesamten Realphilosophie vollzieht, selbst reflexiv wird. 291 Hegel, Enz., § 567.
236 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Identität absoluter Vermittlung gesetzt (vierter Schritt), die von der Gemeinde als „Geist“ vorgestellt wird. Zugleich ist der Entwicklungsgang mit der Trinität noch nicht beendet, da das bisherige „Unterscheiden nur [. . .] ein Spiel der Liebe mit sich selbst ist, wo es nicht zur Ernsthaftigkeit des Andersseins [. . .] kommt.“292 Diese wird erst durch die Schöpfung der Welt und das Schicksal Jesu Christi erreicht. Die Inkarnation Christi wird notwendig, weil mit der Schöpfung zwar ein vielfältiges Beziehungsnetz zwischen Gott, Natur und Mensch etabliert wird, der Mensch sich aber aus diesem Beziehungsnetz isoliert, da er sich „zum Bösen verselbständigt.“293 Durch die Inkarnation wird der böse verselbständigte Mensch in den Vermittlungszusammenhang des absoluten Geistes re-integriert. Realisiert Jesus Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott in einer Person bereits in seinem Leben die aus der Absoluten Idee vertraute Vermittlung der absoluten Idee, so vollzieht sich in seinem Schicksal zugleich nochmals ein weiterer Entwicklungsgang. Denn zur Re-integration des bösen, isolierten Menschen begibt sich der Gottmensch Jesus Christus an den Punkt der äußersten Isolation des Menschen, in den Tod am Kreuz als den Tod des Gottverlassenen. Hier stirbt Gott selbst, „Gott ist gestorben, Gott selbst ist tot.“294 Genauer: Es sterben die letzten Reste der Selbständigkeit Gottes. In Entsprechung zu der aus der Absoluten Idee bekannten Struktur, dass die jeweilige Entität im Anderen gerade bei sich ist, gewinnt sich Gott in diesem Selbstverlust, und zwar als Geist. Dieser Selbstgewinn wird von der Gemeinde als Auferstehung, Himmelfahrt und dann vor allem als Pfingsten vorgestellt. Gott ist nicht mehr als die immanente Trinität zu fassen oder als Jesus Christus dann und damals, sondern er ist die absolute Vermittlung seiner mit den Gläubigen und der Gläubigen mit ihm: „Gott in seiner Gemeinde wohnend.“295 Damit ist deutlich, dass der christliche Glaube gerechtfertigt oder vernünftig ist, da Vernunft in ihr zu finden ist. Denn der Christ glaubt diejenige Vermittlungsstruktur von Gott und Mensch, die aller Religion und der Dialektik selbst zugrunde liegt, als Inhalt seines Glaubens. Nach Pfingsten vollzieht er diese Vermittlung auch an sich selbst. Der Glaube 292 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3 : Die vollendete Religion, neu hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1995 (VL Rel 3), 216. 293 Hegel, Enz., § 568. 294 Hegel, VL Rel 3, 247 Anm. 295 Hegel, VL Rel 3, 76.
3. Das Subjekt und das Absolute
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entspricht der absoluten Vernunft als der Vernunft des Absoluten und vollzieht diese selbst, so dass er absolut gerechtfertigt ist. Zugleich liegt zu Pfingsten noch ein Widerspruch zwischen Inhalt und Form vor, der den Übergang von der Religion zur Philosophie mit sich bringt. Denn dem Inhalt nach sind Gott und Mensch nach Pfingsten absolut miteinander vermittelt. Das aber glaubt der Glaubende in der der Religion eigenen Form der Vorstellung, die dadurch geprägt ist, dass sie den Inhalt der Vorstellung (Gott) und den Vorstellenden (den Menschen) jeweils voneinander trennt. Auch nach Pfingsten wird Gott zugleich im Himmel (als Ort dort droben) vorgestellt. Erst die Form des Begriffs vermag es, den Inhalt der Vorstellung und den Vorstellenden als wesentlich miteinander vermittelt zu begreifen. Da der Begriff aber die Form ist, in der sich die Philosophie vollzieht, hebt sich die Religion in die Philosophie hinein auf. In der Philosophie vollzieht sich der Inhalt der Vermittlung von Gott und Mensch somit in der Form, die diesem Inhalt gemäß ist. Er vollzieht sich in der Form des Begriffs, der dadurch gekennzeichnet ist, dass er die prozessuale Einheit seines mit seinem Anderen ist. In der Philosophie als dem Höhe- und Schlusspunkt von Hegels System vollzieht sich somit die Vermittlung des unendlichen mit dem endlichen Geist als dem Absoluten am Ort des endlichen Geistes in der ihm gemäßen Form. Laut Hegel hebt sich somit der Glaube in ein philosophisches Erkennen auf, das das Erkennen der realisierten absoluten Idee ist. Das impliziert zweierlei. Erstens bedeutet die Selbstaufhebung des endlichen Geistes in den Unendlichen und die Selbstaufhebung der Vorstellung als der Form des endlichen Geistes in die Form des Begriffs als die des unendlichen, dass in Hegels spekulativer Fassung des kosmologischen Gottesbeweises das „Schiefe“296 des kosmologischen Gottesbeweises mit aufgehoben wird. Wie bereits Kant bemerkte, besteht das Schiefe darin, dass beim kosmologischen Gottesbeweis Gott in formaler Hinsicht abhängig ist von demjenigen Endlichen, von dem der Beweis ausgeht. Indem sich in Hegels spekulativer Fassung das Endliche in seiner Endlichkeit und Selbständigkeit gegenüber dem Unendlichen im Vollzug gerade negiert, vermag Hegel eine Fassung des kosmologischen Gottesbeweises zu präsentieren, die dessen formales Grundproblem zu lösen scheint. Allerdings hebt sich damit, zweitens, auch die Geschichte in die theoria als die reine Schau des Absoluten hinein auf. In realphilosophischer Hinsicht vollzieht sich die Vermittlung von Vernunft und ihrem Hegel, VL Rel 1, 312.
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238 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Anderen somit durch folgende dialektische Bewegung. Die Vernunft als das Absolute geht in die Geschichte als ihr Anderes ein und wird auf eigene Art geschichtlich. Dies führt dazu, dass die Geschichte und alles Endliche sich aufhebt in die reine Vernunft. Letztlich hebt das Absolute die Geschichte vollständig in ihre eigene Vermittlung mit ihrem Anderen hinein auf.
3.3.2.3. Die Vermittlung von Inhalt und Form im spekulativen Schluss Die skizzierte Vermittlung von Begriff und Sein in der absoluten Idee ebenso wie die Vermittlung von endlichem und unendlichem Geist in Religion und Philosophie können sich nur dann wahrhaft vollziehen, wenn sie sich in der Form des spekulativen Schlusses als der der Vernunft allein angemessenen Form vollziehen. Laut Hegel liegen auch die inhaltlichen Defizite Kants letztlich darin begründet, dass er die beiden Vermittlungen und damit diese beiden zentralen Inhalte der Vernunft unter Rückgriff auf die Form des Urteils als der Form des Verstandes verhandelt, so dass sich Form und Inhalt widersprechen. Denn das Urteil vollzieht sich in der Form der Trennung von Subjekt und Prädikat und legt damit durch seine Form dasjenige als scheinbar Selbständiges auseinander, was dem Inhalt nach in der Perspektive der Vernunft wesentlich zusammengehört: Gott (Subjekt) und Existenz (Prädikat) oder Begriff und Sein.297 Erst der spekulative Schluss ist in der Lage, den Zusammenschluss der verhandelten Entitäten darzustellen. Entsprechend verwundert es nicht, dass Hegel die Entwicklung der absoluten Idee selbst als Schluss darstellt, getreu seiner Einsicht, dass „alles Vernünftige ein Schluss ist“: 298 Der Übergang von der ersten Unmittelbarkeit des Allgemeinen zur Besonderheit kann als die erste Prämisse des Schlusses verstanden werden, der Übergang des Besonderen zum Einzelnen als die 297 Entsprechend schreibt Hegel: „Die inadäquate Form solcher Sätze und Urteile aber fällt von selbst in die Augen. Bei dem Urteil ist gezeigt worden, daß seine Form überhaupt und am meisten die unmittelbare des positiven Urteils unfähig ist, das Spekulative und die Wahrheit in sich zu fassen. [. . .] Im Urteil hat das Erste als Subjekt den Schein eines selbständigen Bestehens, da es vielmehr in seinem Prädikat als seinem Anderen aufgehoben ist; diese Negation ist in dem Inhalt jener Sätze wohl enthalten, aber ihre positive Form widerspricht demselben; es wird somit das nicht gesetzt, was darin enthalten ist, was grade die Absicht, einen Satz zu gebrauchen wäre.“ Hegel, WL 2, 295. 298 Hegel, WL 2, 90.
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zweite,299 und die Einsicht, dass das Einzelne das Allgemeine ist, als die Konklusion. Allerdings unterscheidet sich Hegels Fassung der Schlusslehre in fünf Hinsichten gravierend von der klassischen Schlusslehre und eben auch von der Urteilslehre, die Kant zugrunde legt. Erstens sind die Urteile des Schlusses nicht als einzelne Urteilungen zu verstehen. Vielmehr sind sie voneinander unterscheidbare, aber zusammengehörende Momente einer großen Bewegung. Dafür bricht der spekulative Schluss die Urteile, in der er sich selbst ja auch vollzieht, gleichsam jeweils von innen heraus auf.300 Denn er betont, dass nicht das einzelne Urteil, sondern gerade die dialektische Bewegung selbst dasjenige ist, in dem sich die Wahrheit der Idee vollzieht.301 Diese Bewegung vollzieht sich zwar durch Urteile hindurch, ist aber nie in einem einzelnen Urteil adäquat zu fassen. Auf diese Weise ereignet sich eine eigene Dialektik der Etablierung und Aufhebung jeden einzelnen Urteils. Denn einerseits stimmt Hegel mit Kant darin überein, dass jede Erkenntnis in einem Urteil von der Totalität der Bestimmungen und damit vom Gottesbegriff abhängig ist und entsprechend dann bedroht ist, wenn der Gottesbegriff selbst nur als regulative Idee etabliert werden kann. Indem durch die Form des Schluss der Gottesbegriff als absolute Idee re-etabliert wird, wird somit zugleich der Rechtsgrund aller Urteile re-etabliert. Andererseits wird die Bedingung der Möglichkeit der Wahrheit jedes einzelnen Urteils durch eine Form etabliert, die jedes einzelne Urteil in seiner Form als einzelnes gerade zerbricht. Im und als Vollzug des Schlusses und damit im Zerbrechen der Urteilsform vollzieht sich derjenige Gottesbeweis, durch den gerade der Rechtsgrund aller Urteile etabliert wird.302 Um die Wahrheit jedes einzelnen Urteils zu retten, wird im spekulativen Schluss die Form des Urteils gleichsam zerbrochen. Der Verweis auf die Vermittlungsbewegung im spekulativen Schluss impliziert zweitens, dass im spekulativen Schluss nicht drei gleichsam selbständige Entitäten in Beziehung gebracht werden, die bereits vor dem Schluss als dessen Voraussetzungen eigenständig existieren. Vielmehr werden die Momente der Bewegung im spekulativen Schluss erst Siehe Hegel, WL 2, 246. Siehe Hindrichs, Das Absolute, 129. 301 Siehe dazu auch Joachim Ringleben, Sätze über Gott und spekulativer Satz, in: Gert Hummel (Hg.), Being versus Word in Paul Tillich’s Theology? Proceedings of the VII. International Paul Tillich Symposium, Berlin/New York, 1999, 178–193. 302 Siehe auch Hindrichs, Das Absolute, 137. 299
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240 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie selbst explizit gemacht und entwickelt. Das Besondere und das Einzelne entwickeln sich im Verlauf des Schließens aus dem Allgemeinen heraus, und der Begriff und das Sein entwickeln sich im Verlauf des Schließens in immer engerer Vermittlung. In diesem Vermittlungsprozess sind auch die in der klassischen Schlusslehre vorgenommenen, festen Zuordnungen der Funktionen der Terme selbst miteinander vermittelt. Denn es ist gerade nicht so, dass nur der Mittelbegriff zwischen den Extremen vermittelt. Vielmehr treten alle Terme unvermittelt auf, werden mit den anderen vermittelt und übernehmen auch selbst die Rolle der Vermittlung. Damit ist, drittens, gesagt, dass der spekulative Schluss die für Kants Argumentation so wichtige Unterscheidung von analytisch und synthetisch in sich aufhebt. Denn im spekulativen Schluss wird nur dasjenige explizit gemacht, was im anfänglichen Allgemeinen bereits implizit mitgegeben ist, so dass der Fortgang analytisch ist. Zugleich entwickelt sich dabei das Besondere und dann das Einzelne als das Andere des Allgemeinen, so dass der Fortgang ebenso sehr synthetisch ist. Diese „sosehr synthetische als analytische“303 Entwicklung impliziert viertens, dass mit dem spekulativen Schluss eine Form der Voraussetzungslosigkeit vorliegt, die zwei Verständnisse von Voraussetzungslosigkeit miteinander verbindet: das Verständnis von Voraussetzungslosigkeit als anfänglicher Alternativlosigkeit mit dem als Setzen von doch bestehenden Voraussetzungen. Dies sei anhand der Frage, ob dem Begriff Sein zukommt, verdeutlicht. Einerseits kommt dem Begriff bereits von Anfang an Sein zu, da Sein als anfängliche Unmittelbarkeit gefasst wird und somit bereits zu Anfang jedem vernünftigen Gedanken zukommt. Dieses Sein als anfängliche Unmittelbarkeit ist darin voraussetzungslos, dass es als Anfang alternativlos ist, wenn überhaupt mit dem Anfang angefangen werden soll. Zugleich ist es darin voraussetzungshaft, dass die erste Unmittelbarkeit bloß vorgegeben ist. Im Verlauf des Schließens wird dieses anfängliche, nur vorgegebene Sein dann vom Begriff eigens gesetzt und damit in seiner Voraussetzungshaftigkeit aufgehoben.304 Indem die Schlussbewegung während des Schließens ihre eigenen Voraussetzungen setzt, erweist sie sich somit als voraussetzungslos. Mit allen vorherigen Punkten und gerade mit dem letzten ist, fünftens, impliziert, dass He Hegel, WL 2, 242. Siehe Wendte, Gottmenschliche Einheit, 149, und Anton Friedrich Koch, Sein-Wesen-Begriff, in: Anton Friedrich Koch, Alexander Oberauer, Konrad Utz (Hg.), Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen „Subjektiven Logik“, Paderborn/München, 2003, 17–30, 17. 303
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3. Das Subjekt und das Absolute
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gels spekulativer Schluss ein ganz neues Verständnis dessen präsentiert, was unter einem Beweis zu verstehen ist. Der spekulative Schluss beweist nicht in der Form des Verstandes, indem aus zwei (oder mehr) feststehenden Prämissen eine Konklusion geschlossen wird. Vielmehr wird im und als Denkvollzug explizit, was in Wahrheit jeweils schon implizit vorhanden ist.305 Der Beweis und der Vollzug des Denkens fallen ineins. Diese Selbsteinholung aller Voraussetzungen durch die Schlussbewegung selbst vollzieht sich in der Realphilosophie dergestalt, dass die Schlussbewegung alle ihr externen Voraussetzungen in sich einholt, indem sie alles Reale auf seine begrifflichen Gehalte hin bedenkt und damit letztlich die Geschichte in die theoria hinein aufhebt. Diesem Vermittlungsvorgang der Schlussbewegung mit dem ihm Externen ist keine Grenze gesetzt, da jede Grenze bereits überschritten wird, indem sie bedacht wird.306 Die Vermittlungsbewegung integriert somit auch solche Gehalte in sich, die sich als Unbegriffliches oder Unbegreifliches präsentieren. „Sie ist darum die höchste Kraft oder vielmehr die einzige und absolute Kraft der Vernunft [. . .] durch sich selbst in allem sich selbst zu finden und zu erkennen.“307 Damit hebt Hegel die für Kants Argumentation so wichtige, aber laut Hegel allein verstandesgeleitete Unterscheidung zwischen einem Urteil und seiner ihm externen Voraussetzung auf und weist zugleich darauf hin, dass bei Kant ein interner Widerspruch vorliegt. Denn bereits in Bezug auf räumliche Gegenstände gilt, dass die Bestimmung, dass etwas ist, selbst eine Verstandesbestimmung ist; 308 und in Bezug auf Gott darf die schon im Verstandesdenken schiefe, abstrakte Trennung von Verstand und Existenz nicht auch noch auf einen Inhalt der Vernunft übertragen werden.
3.3.2.4. Der spekulative Schluss als Gottesbeweis: Hegels postkritische Restitution der metaphysischen Tradition Ein weiterer gedanklicher Schritt stellt sowohl den Abschluss der Überlegungen zu der dritten Vermittlung dar wie den Übergang zur Vermittlung aller drei Vermittlungen miteinander, welche in dieser dritten Vermittlung bereits implizit vorhanden ist. Bisher wurde der Schluss als die Form präsentiert, in der sich der Inhalt des ontologischen Gottesbewei Siehe dazu auch Röd, Der Gott, 186 f. Siehe auch Hegel, VL Rel 1, 317. 307 Hegel, WL 3, 238. 308 Siehe auch Dierken, Hegels Interpretation, 287. 305
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242 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie ses oder die Einheit von Begriff und Sein vollziehen würde. Diese Formulierung legt es nahe, dass Form und Inhalt hier noch getrennt seien. In Wahrheit aber sind beim spekulativen Schluss auch Form und Inhalt wesentlich miteinander vermittelt. Die zu sich gekommene absolute Idee (Inhalt) ist gerade die absolute Vermittlung des Schlusses (Form), da sich die absolute Idee in ihrer Vollendung als Einzelne doch als „sich mit sich selbst vermittelnde Bewegung und Tätigkeit“ der Dialektik herausstellte. Sie ist damit diejenige „Methode“309, die allen Inhalten und allen Denkformen gleichermaßen zugrunde liegt und die in der Philosophie als die Wahrheit der Realphilosophie selbst gedacht wird. Diese Vermittlung von Form und Inhalt beansprucht, dass bei ihr die thematisierte Wirklichkeit und das Thematisieren von Wirklichkeit ineinander fallen.310 Sie vollendet somit die Neudeutung des ontologischen Gottesbeweises bei Hegel, welche gerade nicht einen einzelnen, abgrenzbaren Gegenstand zum Thema hat, sondern das Denken selbst, das sich an jedem Inhalt als absolutes vollziehen kann. Mit Hindrichs gesprochen „ist der ontologische Beweis selber gar nichts anderes als der Vollzug des spekulativen Satzes.“311 Der Durchlauf durch das ganze System zeigt, dass jeder einzelne spekulative Satz der Gottesbeweis ist: Die Totalität und ihre Momente sind so miteinander vermittelt, dass jedes Moment die Totalität ist. Wenn Wahres in der ihm angemessenen Form des Schlusses vom endlichen Geist gedacht wird, so ist das Denken absolut und das Absolute. Damit stellt diese dritte Vermittlung als die Vermittlung von Inhalt und Form zugleich die Vermittlung aller drei Vermittlungen miteinander dar, in anderer Formulierung: Dass jedes Moment der Dialektik zugleich Totalität ist, wird im dritten Moment selbst eigens gesetzt. Denn diese Vermittlung von Inhalt und Form im Denkvollzug ist zugleich die absolute Vermittlung von Begriff und Sein am Ort des endlichen Geistes. Damit hat Hegel nicht nur die Anliegen der Tradition und die Kritik Kants in seine Position aufgehoben, sondern zugleich auch das geheime Thema der Gottesbeweise als Vollendung seiner eigenen Position in Szene gesetzt. Das sei abschließend noch etwas genauer dargelegt. Die von Hegel entwickelte Position hat zum einen ihre Pointe darin, dass sich in ihr drei Vermittlungen vollziehen, durch die das Anliegen Hegel, WL 3, 286. Siehe zu dieser Formulierung Malte Krüger, Göttliche Freiheit. Die Trinitätslehre in Schelling Spätphilosophie, Tübingen 2008, 168. 311 Hindrichs, Das Absolute, 130. 309 310
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der Tradition sowie die Kritik Kants aufgehoben werden. Damit erweist sich Hegels Position als Metakritik der Tradition und der Kritik Kants. Denn in dem absoluten Vollzug des Denkens kommen (erstens) Denken und Sein zusammen, da der absolute Vollzug seine Realität gerade darin hat, gedacht zu werden. In Hegels spekulativer Fassung des ontologischen Gottesbeweises werden somit diejenigen Bestimmungen des Absoluten aufgenommen, die ihm laut der Tradition und auch laut Kant zukommen. Das Absolute denkt sich (zweitens) am Ort desjenigen endlichen Geistes, der seine eigene Endlichkeit aufhebt und damit sein eigenes Denken mit dem des Absoluten verbindet, so dass es zum absoluten Denken wird. In dieser spekulativen Fassung des kosmologischen Gottesbeweises wird die von Kant vollzogene Restriktion des Denkens endlicher Wesen auf bloß subjektives aufgehoben. Bereits mit diesen ersten beiden Vermittlungen wird zudem sichtbar, dass Hegel die spekulative Fassung des ontologischen mit der spekulativen Fassung des kosmologischen Gottesbeweises vermittelt, welche bereits in sich selbst mit ihrem Anderen vermittelt sind. Dies ist auch dadurch möglich, dass der absolute Vollzug des Denkens (drittens) ebenso die Vermittlung der Terme des Schlusses wie die Vermittlung des Schlusses mit seinen externen Bedingungen ist, so dass in dieser spekulativen Vermittlung von Form und Inhalt die urteilstheoretischen Einschränkungen der Tradition und Kants aufgehoben werden. Diese drei Vermittlungen präsentieren sich gerade deshalb als postkritische Aufhebung der Tradition und Kants, da alle drei Dimensionen so intern vermittelt sind, dass sie dabei jeweils auch mit den anderen beiden absolut vermittelt sind. Das Absolute ist somit der Vollzug des endlichen Denkens während des spekulativen Schlusses, und der Vollzug des Denkens während des spekulativen Schlusses ist absolut und das Absolute. Mit dem dialektischen Denkvollzug als der Vermittlung der dreifachen Vermittlung re-etabliert Hegel unter postkritizistischen Bedingungen in spekulativer Form den ontologischen und den kosmologischen Gottesbeweis als Rechtsgrund von allem, was ist. Damit ist zugleich deutlich, dass Hegel auch darin dem Niveau Kants entspricht, dass er sieht, dass der ontologische Gottesbeweis nicht nur einen Gegenstand unter anderen bedenkt, sondern vielmehr das Denken selbst. In Kants Kritik der Gottesbeweise wendet sich das Denken von einem Gegenstand – Gott – auf sich selbst zurück und bedenkt in urteilstheoretischen Reflexionen, in welcher Hinsicht über diesen Gegen-
244 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie stand nachgedacht werden kann.312 Dabei verfällt der vorkritische Begriff des Absoluten der Kritik, und der von Kant dann selbst eingeführte Begriff des Absoluten als omnitudo realitatis ist das Erzeugnis eines Denkvollzuges, der nur den Status einer regulativen Idee hat. Hegel folgt Kant darin, dass er als das wahre Thema des Gottesbeweises nicht eine dem Menschen entgegenstehende Entität bestimmt, sondern den Denkvollzug selbst. Gegen Kant meint Hegel, dass die Vernunft begreift, dass das Absolute der Denkvollzug und der Denkvollzug absolut ist. In ihrem Vollzug realisiert die Spekulation die Letztbegründung jeden einzelnen Urteils, deren Form es zugleich negiert. Der Durchlauf durch das Gesamtsystem zeigt, dass im Gesamtsystem ebenso wie in jedem spekulativen Satz die Ordnung des Denkens und die des Seins absolut miteinander vermittelt sind, allerdings in dynamisierter Form: im und als absoluter Denkvollzug. Dieser ist Hegels Gottesbeweis.
3.3.3. Schellings posthegelianische Destruktion der Gottesbeweise Gegen Hegels Totalvermittlung von Denken und Sein erhebt sich ein folgenschwerer Einwand, aus dem gefolgt werden kann, dass die Gottesbeweise als Gottesbeweise nicht führbar sind, und der zugleich impliziert, dass die von Hegel erreichten Konstellationen neu konfiguriert werden müssen. Der Einwand wurde zuerst vom späten Schelling gegen Hegel erhoben. Er soll im Folgenden so rekonstruiert werden, dass der Einwand skizziert wird (Drittes Kapitel, 3.3.3.1.) und dann die Auswirkungen auf die bei Hegel bedachten Dimensionen dargelegt werden, also die Zuordnung von Begriff und Sein beim Absoluten (Drittes Kapitel, 3.3.3.2.), die realphilosophische Zuordnung von endlicher Vernunft zur absoluten sowie die von Inhalt und Form (Drittes Kapitel, 3.3.3.3.). In allem Folgenden kann nicht Schellings System umfassend rekonstruiert werden,313 sondern es können nur diejenigen zentralen Aspekte von Schellings System namhaft gemacht werden, in denen Schelling von Hegel differiert. Die erreichten Bestimmungen führen zugleich auf eigene Art zu denjenigen Kochs zurück.
Siehe dazu auch Hindrichs, Das Absolute, 146 f. Siehe dazu Krüger, Göttliche Freiheit.
312 313
3. Das Subjekt und das Absolute
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3.3.3.1. Kritik an Hegel: Die unvordenkliche Freiheit des Absoluten Die Kritik an Hegel kann auf drei Weisen reformuliert werden. Alle drei nehmen Einsichten auf, die zuerst von Schelling formuliert wurden. Auch um ihrer Durchschlagskraft Geltung zu verleihen, sollen zumindest die ersten beiden jedoch im Anschluss an gegenwärtige Diskurse vorgetragen werden, ehe dann Schellings Gegenentwurf zu Hegel skizziert wird. Alle drei Einwände zielen auf dieselbe Strukturveränderung gegenüber der Struktur Hegels ab, so dass zuerst in gebotener Kürze die drei Einwände präsentiert werden und sodann ihr gemeinsamer Kern namhaft gemacht wird.314 Die Einwände richten sich erstens gegen Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, zweitens gegen sein Konzept des Selbst und drittens gegen sein Verständnis des ens perfectissimum. Die ersten beiden Kritiken setzen am Ende des Systems an und damit an demjenigen Punkt, an dem die Selbstvermittlung des Absoluten in die Geschichte hinein die Aufhebung der Geschichte in die theoria vollzog. Der erste Einwand gibt zu bedenken, dass mit der Aufhebung in die theoria ein gewichtiger Einwand gegen Hegel vorliegt. Denn da Mitteilung ein praktischer Akt ist, dürfte eine Philosophie, die inhaltlich mit der reinen Theorie endet, gar nicht mitgeteilt werden. Wäre Hegel konsequent, hätte er seine Philosophie verschweigen müssen. Hegel jedoch teilt den Inhalt seiner Philosophie bücher-schreibend mit und entspricht damit auch erst einem sinnvollen Begriff von Philosophie als dem Ausweis allgemeiner Strukturen vor dem Forum der Allgemeinheit. Damit aber widerspricht er in der Form seiner Philosophie (Mitteilung) gerade dem Inhalt seiner Philosophie (theoria).315 Die von Hegel selbst propa-
314 Die Einwände können nur äußerst verknappt präsentiert werden, gehören aber zu den Klassikern philosophischer Hegel-Kritik. Sie sind erstmals von Schelling vorgetragen worden. Zu einer ausführlicheren Darlegung der obigen Kritik siehe daher die explizite Hegel-Kritik Schellings, die in den Münchner Vorlesungen zur Geschichte der neueren Philosophie zu finden und bei Michaela Boenke, Schelling (Philosophie Jetzt!), München 1995, 353–369 eigens aufgeführt ist. Eine Rekonstruktion der Auseinandersetzung Schellings mit Hegel bietet Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegel-Kritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, München, 2., stark erweiterte und überarbeitete Auflage, 1992, 151–186 und 205–254 sowie auch schon Walter Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Pfullingen 1955, 102–112. 315 Siehe zu dieser Kritik ausführlich Vittorio Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 1998, 447 f.
246 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie gierte absolute Vermittlung von Inhalt und Form scheitert, wenn beide als theoria zusammenfallen sollen. Die zweite Kritik bezweifelt, dass Hegel mit dem zum Abschluss der Philosophie entwickelten absoluten Geist als absoluter Selbstvermittlung überhaupt einen sachhaltigen Begriff von Selbst präsentiert. Denn der vollendet entwickelte Geist ist doch gerade darin absolut, dass in ihm Vollzug und Bestimmtheit zusammen fallen: Er ist dadurch bestimmt, der Vollzug seiner Selbstvermittlung zu sein. Besteht aber die Bestimmtheit allein in ihrem Vollzug, der als absoluter nichts ist als die reine Selbstvermittlung eines Selbst, das nur dieser Vollzug ist, so ist das Selbst als leer zu bestimmen.316 Um es in semiotischer Perspektive zu reformulieren, nimmt der Versuch, Semantik vollständig in Pragmatik zu überführen, der verhandelten Entität jede angebbare Bedeutung.317 Letztlich gründet die am Ende des Systems sich offenbarende inhaltliche Leere in dem Verfahren Hegels selbst. Sie gründet also in dem Versuch, ein Selbst durch das Verfahren der Selbstkonstitution durch Selbstausdifferenzierung zu gewinnen, das in absoluter Vermittlung endet. Denn um sich im Zusammenspiel des Eigenen mit seinem Anderen als derselbe identifizieren und damit einen gefüllten Selbstbegriff erreichen zu können, ist gegen Hegels Annahme doch immer bereits dasjenige Selbst vorauszusetzen, das vorgeblich erst im Verlauf konstituiert wird. Wenn das Selbst hingegen nicht dem Vollzug der Selbstausdifferenzierung vorgängig vorausgesetzt wird, sondern wenn es sich erst in diesem konstituieren soll, so kann die Differenzsteigerung so weit getrieben werden wie bei Hegel und am Ende alle Wirklichkeit umfassen: Das erstrebte Selbst wird dadurch nicht gewonnen. Während die ersten beiden Kritiken dem Standard Hegelscher Philosophie dadurch entsprechen, dass sie auf interne Inkonsistenzen Hegels aufmerksam machen,318 bietet die dritte Kritik eine Überbietung Hegels 316 Siehe zu dieser Kritik Konrad Cramer, Zur formalen Struktur einer Philosophie nach Hegel, die als Kritik soll auftreten können, in: Rüdiger Bubner, Konrad Cramer, Rainer Wiehl (Hg.), Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze II, Sprache und Logik, Theorie der Auslegung und Probleme der Einzelwissenschaften (FS Gadamer), Tübingen 1970, 147–179, bes. 163 f. 317 Siehe zu dieser Kritik auch Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 455 f. 318 Sie entsprechend somit derjenigen Kritik, die allein Hegel als Form der Kritik an seiner Philosophie akzeptierte, denn man muss laut Hegel, WL 2, 15, für eine ernstzunehmende Kritik „in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen.“ – Wenn diese beiden Kritikpunkte in dieser oder ähn-
3. Das Subjekt und das Absolute
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durch eine spekulative Überlegung in Bezug auf den Begriff des ens perfectissimus. Mit der Tradition, Kant und Hegel meint auch Schelling, dass Gott als das allervollkommenste Wesen gefasst werden muss. Allerdings meint er anders als seine Vorgänger und vor allem in Differenz zu Hegel, dass Gott nicht dann am vollkommensten gedacht wird, wenn ihm sein Sein notwendigerweise zukommt, so dass ens perfectissimum und ens necessarium zusammenfallen. Vielmehr ist Gott demgegenüber noch vollkommener, wenn ihm die Freiheit zukommt, zu sein oder nicht zu sein. Vollkommen ist Gott dann, wenn er in seinem Wesen frei davon ist zu sein, aber auch frei dazu, sich und alle Wirklichkeit ins Sein zu entlassen. Wenn die drei Kritiken auf ihre strukturelle Seite hin durchsichtig gemacht und so auf die Strukturanalyse der absoluten Idee Hegels bezogen werden, so ergibt sich aus allen dreien eine gemeinsame Forderung: Gegen Hegels Annahme ist der dialektischen Vermittlungsbewegung ein Element von unaufhebbarer Unmittelbarkeit vorauszusetzen, das diese erst ermöglicht und sich dann in ihr vollzieht. Dialektik ist gerade darin dialektisch, nicht nur Dialektik zu sein, sondern wesentlich von dem ihr vorgängigen Anderen zu dependieren, ohne das sie nicht sie selbst wäre. Diese unaufhebbare Unmittelbarkeit kann unter Rückgriff auf die erste Kritik an Hegel als Freiheit oder Lebendigkeit und damit als eine Form der Praxis bestimmt werden. Sie kommt unter Rückgriff auf die zweite Kritik an Hegel einem Wesen zu, das mit sich identisch ist und alle weitere Identität verbürgt. Unter Rückgriff auf die dritte Kritik an Hegel kann das Wesen als das Gottes namhaft gemacht werden, das gerade dadurch es selbst ist, dass es absolute Freiheit ist. Ihm kommt somit die Freiheit zu, Sein zu verwirklichen oder nicht zu verwirklichen und damit die Freiheit, etwas anzufangen oder nicht anzufangen. Daher ist es als Person zu fassen. Darüber hinaus kommen dem Wesen Möglichkeiten zu, welche Schelling die Potenzen nennt. Schelling kennt drei Potenzen, die er Subjekt, Objekt und Subjekt-Objekt nennt. Die Potenzen stellen gleichermaßen licher Form bereits von Schelling geäußert wurden, so hat Schelling eine stärkere Kritik vorgetragen als die einfache Wiederholung des logischen Einwandes gegen den ontologischen Gottesbeweis. Mir scheint mit Hindrichs, Das Absolute, 139–145 und gegen Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, 222–231, dass diese Form der Einsprüche bei Schelling aufzufinden sind. Wenn das nicht der Fall ist, so würden sie in ausgearbeiteter Form über Schelling hinaus ernstzunehmende Kritikpunkte an Hegels Unternehmung darstellen.
248 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie die Möglichkeiten von Bestimmungen des Denkens wie die Möglichkeiten von Bestimmungen des Seins dar. Sie gleichen somit in funktionaler Hinsicht den Kategorien, die Hegel in der Wissenschaft der Logik exploriert und die in der Absoluten Idee als Allgemeines, Besonderes und Einzelnes und damit als die Methode allen Denkens und Seins explizit gemacht werden. Wenn etwas ist oder gedacht wird, dann vollzieht sich das innerhalb des Möglichkeitsraumes, den die Potenzen markieren. Anders als bei Hegel aber kommen dem Wesen die Potenzen dergestalt zu, dass es frei von und frei für diese ist. Ihm kommt die Freiheit zu, die Möglichkeiten ins Sein zu überführen oder nicht zu überführen. Diese Doppelbestimmung sei genauer exploriert, indem die erreichte Einsicht Schellings auf die drei Dimensionen bezogen wird, in denen Hegel den ontologischen Gottesbeweis entwickelte: auf die Zuordnung von omnitudo realitatis und ens necessarium samt der Implikationen für die Zuordnung von endlichem Denken und realem Sein (Zweites Kapitel, 3.3.3.2.), auf die Zuordnung von Unendlichem und Endlichem in der Realphilosophie, und auf die Zuordnung von Inhalt und Form (Zweites Kapitel, 3.3.3.3.). Es wird sich zeigen, dass die angedeutete Doppelbestimmung für jede der Zuordnungen prägend ist, so dass Schellings Denken als Ganzes und in jedem seiner Momente von dieser Form negativer Dialektik geprägt ist.
3.3.3.2. Gottes absolute Freiheit: Die Neubestimmung des ens perfectissimum und die Differenz von negativer und positiver Philosophie Kant und Hegel kommen darin überein, dass erst die Verbindung der Bestimmungen von Gott als omnitudo realitatis resp. als ens perfectissimum mit der Bestimmung von Gott als ens necessarium den Gottesbeweis ins Recht setzen würde. Schelling stimmt mit dieser Ansicht überein, meint aber, dass aus diesem Grunde der Gottesbeweis scheitert. Denn Schelling argumentiert in seinen Vorlesungen über die Geschichte der neueren Philosophie dafür, dass beide nicht miteinander identisch gesetzt werden dürfen; zugleich setzt er sie auch nicht abstrakt gegeneinander. Diese Doppelbestimmung ist wie folgt näher zu fassen. Der Gottheit Gottes wird laut Schelling nur dann entsprochen, wenn Gott als allervollkommenstes Wesen bestimmt wird, als ens perfectissimum. Wenn Gott als ens perfectissimum allerdings mit der Bestimmung des ens necessarium ineins gesetzt oder unauflöslich dialektisch vermittelt wer-
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den würde, so würde Gott alle Lebendigkeit und Freiheit genommen werden. Auch die bei Hegel erreichte Dynamik der Vermittlung der Dialektik ist keine wahre lebendige Freiheit, da sie letztlich nur der Notwendigkeit der eigenen Entwicklung folgt. Das aber widerspricht nicht nur der recht begriffenen Bestimmung des ens perfectissimum, sondern würde auch unerklärlich machen, wie Gott sein eigenes und dann auch das Sein der Welt frei setzen könnte. Daher ist es nur angemessen, Gott eine über das ens necessarium hinausgehende Freiheit zuzuschreiben, die gleichermaßen die Freiheit von den und die Freiheit für diese Vollzüge umfasst.319 „[E]s muß im Begriff Gottes gedacht werden, daß er [auch, M. W.] frei ist gegen seine Existenz.“320 Zugleich wird Gott nicht vollständig von der Bestimmung des ens necessarium getrennt, da Schelling mit Hegel meint, dass sonst „unserem Denken überall der feste Ausgangspunkt fehlen“321 würde. Entsprechend gilt, dass Gott dann, wenn er ist, präzise als ens necessarium zu bestimmen ist und als nichts anderes. Wenn er ist, kommen ihm somit diejenigen Bestimmungen zu, die Gott laut dem ontologischen Gottesbeweis zukommen. Schellings Doppelbestimmung der negativen Dialektik besagt somit folgendes: Ob das freie Wesen, das als ens perfectissimum gefasst werden kann, ist, ist selbst nicht notwendig, sondern verdankt sich allein seiner Freiheit. Wenn es aber ist, dann realisiert das freie Wesen genau diejenigen Möglichkeiten, die ihm als Potenzen zukommen und die das ens perfectissimum dann zugleich als ens necessarium qualifizieren. Oder, wie Schelling selbst sagt: „Entweder existirt Gott gar nicht, oder, wenn er existirt, so existirt er [. . .] nothwendig“; ob er aber existiert oder nicht, ist allein seiner Freiheit anheim gestellt, die sein Wesen ist. Das freie Wesen ist somit das „Überseiende“322 und das Unvordenkliche, das selbst nicht mehr zum
Siehe dazu auch Orrin L. Summerell, Schellings Begriff des Überseienden als Vollendung des Anselmianischen Arguments, in: Klaus Kahnert, Burkhart Mojsisch (Hg.), Umbrüche. Historische Wendepunkte in der Philosophie von der Antike bis zur Neuzeit. Festschrift für Kurt Flasch, Amsterdam, Philhadelphia 2001, 211–243, 229–231. 320 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen, Sämmtliche Werke, hg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart/ Augsburg 1856–61. Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. v. M. Schröter, München 1927–54, ND 1962–71 (SW) X, 22. 321 Schelling, Zur Geschichte, SW X, 21. 322 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Urfassung der Philosophie der Offenbarung, hg. v. W. E. Erhardt, Hamburg 1992, 89. 319
250 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Gegenstand eines Beweises gemacht werden kann, sondern jedem Beweisen zugrunde liegt. Die auf diese Weise zusammengefasste Position Schellings zum ontologischen Gottesbeweis wird zum Abschluss unserer Überlegungen zu Schelling noch einmal aufgenommen. Vorher aber sei erwähnt, wie Schellings Doppelbestimmung sich in die weiteren Aspekte einschreibt, die bei Hegel namhaft gemacht wurden. Bereits in der Absoluten Idee wurde deutlich, dass mit der Zuordnung von ens perfectissimum (resp. omnitudo realitatis) und ens necessarium im Absoluten auch die Zuordnung von endlichem Denken und Sein mit verhandelt wird. Die Schellingsche Doppelbestimmung kann hier dergestalt namhaft gemacht werden, dass die endliche Vernunft zum einen davon abhängig ist, dass etwas ist und nicht vielmehr nichts. Dasjenige aber, was ist, ist dann, wenn es ist, ebenso durch die Potenzen geprägt wie das endliche Denken selbst. Entsprechend gilt, dass dann, wenn etwas ist, dieses vom endlichen Denken angemessen erfasst werden kann, so dass die Potenzen Möglichkeiten objektiver Gedanken darstellen.323 Das sei anhand von Schellings berühmter Unterscheidung von negativer und positiver Philosophie als „dem systematischen Ort von Schellings Hegel-Kritik“324 näher skizziert. Die Unterscheidung bedenkt die Zuordnung der Vernunft zur Wirklichkeit und damit auch die der Vernunft zu ihrer geschichtlichen Realisierung. Wie in der Darstellung der reinrationalen Philosophie dargelegt wird, reflektiert die Vernunft im Rahmen der negativen Philosophie auf ihre eigenen Möglichkeiten, um herauszufinden, was sie in Anspruch nimmt, wenn sie überhaupt etwas thematisiert.325 Da sie nur dasjenige thematisieren kann, was zu thematisieren möglich ist, werden die Momente explizit gemacht, die einer Entität zugeschrieben werden müssen, damit diese möglich oder schlechthin etwas ist. Diese Momente stellen die drei Potenzen dar.326 Ähnlich wie 323 Siehe dazu auch Henrich, Ontologische Gottesbeweis, 229 f. Schelling kann diese Einsicht auch mit dem Hinweis unterstreichen, dass dann, wenn keine Weisheit in der Welt wäre, jede Erkenntnis zum Scheitern verurteilt wäre, siehe dazu Schelling, Urfassung, 22 f. 324 Krüger, Göttliche Freiheit, 146, Anm. 91. 325 Die folgende Darstellung orientiert sich an der Rekonstruktion von Krüger, Göttliche Freiheit; siehe aber auch Markus Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie (QuStPh 71), Berlin/New York 2006. 326 Siehe Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Darstellung der reinrationalen Philosoophie, Sämmtliche Werke, hg. v. K. F. A. Schelling, Stuttgart/Augsburg 1856–61.
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Hegel meint Schelling, dass die Vernunft aufgrund der ihr zukommenden Potenzen alles, was ist, als etwas erfassen kann. In weiterer Differenzierung der Möglichkeiten und in Übereinstimmung mit Kant und Hegel gelangt die Vernunft laut Schelling zu der Einsicht, dass Gott als die Vermittlung aller Gehalte oder als omnitudo realitatis das absolute Prinzip der Vernunft darstellt. Gott als dieses Prinzip wird somit innerhalb der negativen Philosophie als Wirklichkeit gedacht und stellt damit den Abschlussgedanken der Selbstprüfung der Vernunft dar. Zugleich aber ist das Prinzip innerhalb der reinrationalen Vernunft nur als eine von der Vernunft gedachte und somit nur als eine ideelle Wirklichkeit erreichbar, nicht aber als reale.327 Denn in Differenz zu Hegels Position begreift die Vernunft laut Schelling, dass sie zwar ihre eigenen Möglichkeiten vollständig erfassen kann, nicht aber ihre Wirklichkeit. Um es in der oftmals wiederholten Terminologie Schellings zu explizieren, vermag die Vernunft in der negativen Philosophie das Was dessen einzusehen, das ist. Sie vermag es aber nicht, das Dass ihrer eigenen Wirklichkeit heraufzuführen.328 Als Begründung können die drei angeführten Perspektiven der Kritik an Hegel aus der Perspektive der reinrationalen Vernunft der negativen Philosophie noch einmal so reformuliert werden, dass die Vernunft ihre eigene Wirklichkeit in all ihren Vollzügen immer schon in Anspruch nimmt, da sie sonst nicht derjenige Vollzug sein kann, der sie ist.329 Die Wirklichkeit geht der Vernunft somit als ihr absolutes Prinzip voran. Entsprechend impliziert die Wirklichkeit die Möglichkeiten zwar, übersteigt sie aber auch. Daher kommt es in grundlegender Differenz zu Hegels System an diesem Punkt zu einem unaufhebbaren Bruch innerhalb des Systems Schellings. Denn von der Wirklichkeit des absoluten Prinzips in seinem realen Sein handelt nicht mehr die negative, sondern die positive Philosophie. Die positive Philosophie geht von dem real Existierenden aus,330 und ihre Aufgabe kann mit Buchheim so bestimmt werden, dass sie „eine begegnende Wirklichkeit in ihrer Beschaffenheit diagnostizieren“ soll.331 EntWerke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. v. M. Schröter, München 1927–54, ND 1962–71 (SW) XI, 317 f. 327 Siehe Schelling, Darstellung, SW XI, 562. 328 Siehe Schelling, Darstellung, SW XI, 563 f. 329 So auch Hindrichs, Das Absolute, 141 f. 330 Siehe Schelling, Darstellung, SW XI, 563 f. 331 Thomas Buchheim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spätphilosophie, Hamburg 1992, 17.
252 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie scheidend ist, dass sich in strikter Differenz zu Hegels Übergang von der absoluten Idee zur Realphilosophie bei Schelling die positive Philosophie als die Realphilosophie nicht in notwendig-freier Weise dergestalt aus der negativen Philosophie ergibt, dass die negative Philosophie der positiven zu ihrer Wirklichkeit verhelfen würde.332 Zwar übergibt die negative Philosophie der positiven das für sie Unerkennbare als „Aufgabe“333. Doch die positive Philosophie stellt gegenüber der negativen einen neuen Anfang dar. Denn die Wirklichkeit des absoluten Prinzips ist in seinem realen Sein für die Vernunft unableitbar und wird daher in der positiven Philosophie als erster Anfang gesetzt.334 Zugleich macht Schelling auch die andere Seite seiner Doppelbestimmung negativer Dialektik namhaft: Wenn etwas ist, so ist es innerhalb des Möglichkeitsraumes, den die negative Philosophie entwickelt, diagnostizierbar. Damit wird auch eingedenk des Bruches zwischen negativer und positiver Philosophie die Einheit der Philosophie nicht aufgegeben.335 Wenn diese Doppelbestimmung auf die Vernunft selbst angewendet wird, so sieht die Vernunft ein, dass sie sich selbst verlassen muss, wenn sie zur Wirklichkeit ihres Prinzips gelangen will. Sie muss sich in die Geschichte hineinbegeben, um ihres absoluten Prinzips ansichtig zu werden. Obwohl die Vernunft einsieht, dass sie sich verlassen muss, so ist der Vorgang des Sich-Verlassen selbst dennoch nicht theoretisch erzwingbar, sondern ein freier Akt des Willens. Der Vorgang des SichVerlassens impliziert einerseits, dass die Vernunft aus sicher heraus- und in die Wirklichkeit hineingeht, und andererseits, dass die Vernunft dabei darauf vertraut, dass Gott sich in der Wirklichkeit offenbart.336 Zugleich ist als zweiter Aspekt der Doppelbestimmung festzuhalten, dass die Vernunft mit der ihr eigenen Dialektik innerhalb der Wirklichkeit dasjenige,
Siehe auch Krüger, Göttliche Freiheit, 142. Schelling, Darstellung, SW XI, 564. 334 Siehe Schelling, Darstellung, SW XI, 565. Entsprechend kann Schelling sagen, dass die „positive Philosophie möglicherweise rein für sich anfangen könnte“ (Schelling, Darstellung, SW XI 564), ohne erst eine negative Philosophie zu entwickeln, da die negative die positive nicht heraufzuführen vermag. Allerdings hilft eine sorgfältig entwickelte negative Philosophie bei der angemessenen Diagnose der positiven. 335 Schelling kann dies so ausdrücken, dass „die positive [Philosophie, M. W.] es ist, die auch in der negativen eigentlich ist, nur noch nicht als wirkliche, sondern erst als sich suchende.“ Schelling, Darstellung, SW XI, 564 f. 336 Siehe dazu Buchheim, Eins von Allem, 17–23, sowie Krüger, Göttliche Freiheit, 143. 332 333
3. Das Subjekt und das Absolute
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was sich zeigt, als etwas zu bestimmen vermag, weil dieses selbst Realisierung der Potenzen ist.
3.3.3.3. Die Unaufhebbarkeit der Religion und des Urteils Wie Schelling in der Urfassung der Philosophie der Offenbarung darlegt, vollbringt die Vernunft innerhalb der positiven Philosophie eine Bewegung, die der von Hegel in der Realphilosophie namhaft gemachten ähnelt und an die Bewegung des kosmologischen Gottesbeweises erinnert. Ausgehend von der Begegnung mit der Wirklichkeit stellt sich die Vernunft die Frage, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts.337 Sie zielt dabei allerdings nicht auf eine Letztbegründung und den damit einhergehenden Gottesbeweis, sondern auf eine Diagnose der Wirklichkeit.338 Ausgehend vom Endlichen und damit in einer Bewegung a posteriori aus dem heraus, mit dem sie Umgang pflegt, bringt sie dabei einen Gotteserweis mit sich.339 Die Vernunft wird zuerst auf die Potenzen geführt, die das Sein ermöglichen, und schließlich auf das Absolute, von dem her die Potenzen und das Endliche sind. In die so erreichten Bestimmungen von Gott und Mensch resp. Welt schreibt sich Schellings Doppelbestimmung dann dergestalt ein, dass Unendliches und Endliches zwar ähnlich wie bei Hegel aufeinander bezogen, jedoch anders als bei Hegel nicht vollständig miteinander vermittelt sind. Denn Gott selbst kommt in aller Vermittlung ebenso ein Überschuss an Freiheit gegenüber seinen Potenzen als seiner Vermittlung mit der Welt zu, wie der Welt bleibend Momente von Endlichkeit und von Zufälligkeit zuzuschreiben sind. Das sei etwas genauer erläutert. Einerseits sind Gott in seinem Wesen die Potenzen eingeschrieben, so dass er die Totalität seiner Momente ist. Die erste Potenz ist die Zeugungskraft des Vaters, die dann zum Schöpfungssubstrat wird, zur Ersten Substanz, die zweite der Sohn und die dritte der Geist. Zugleich aber kommt Gott in seinem Wesen gegenüber seinen Potenzen noch einmal die Freiheit zu, diese zu verwirklichen oder nicht zu verwirklichen. Entsprechend wird das Wesen als das Alleinige340 bezeichnet und somit sowohl als das All-Einige wie als das alleinig-e. Es garantiert, dass Siehe Schelling, Urfassung, 23. Siehe dazu Buchheim, Eins von Allem, 106 f. 339 Siehe zum a posteriorischen Gotteserweis Schelling, Urfassung, 70, und Buchheim, Eins von Allem, 23.107. 340 Schelling, Urfassung, 87. 337
338
254 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Gottes Identität unabhängig davon gesichert ist, ob er seine Möglichkeiten realisiert oder nicht. Es garantiert damit zugleich, dass Gott mehr ist als die Funktion, die er als Grund der Welt auch erfüllt.341 Dieses Wesen, das mit der Freiheit des Anfangen-Könnens ausgezeichnet ist, wird im Anschluss an die theologische Tradition mit dem Namen 342 des Vaters bezeichnet.343 Dem Vater kommt laut Schelling somit das die Identität und Einheit Gottes garantierende Wesen Gottes zu und damit die Freiheit, die ihm zukommenden Potenzen und damit alles Seiende – also Sohn und Geist und dann auch die Welt – zu realisieren oder nicht zu realisieren.344 Gott geht somit seiner Funktion, Schöpfer zu sein, nicht ganz auf: „Gott ist, auch herausgegangen aus sich selbst, noch immer die unauflösliche Einheit.“345 Damit kommt Gott dem Vater in seiner Freiheit eine Überfülle gegenüber allen Realisierungen, aber auch gegenüber allen Benennungen der Menschen zu. Gott ist jeweils mehr als unsere Begriffe von ihm.346 – Als anderes Moment der Doppelbestimmung gilt zugleich, dass dann, wenn etwas ist, es aufgrund Gottes ist und nicht ohne Offenbarung Gottes, die auch in dem allgemeinen Sich-Zeigen der Wirklichkeit erscheint, zu begreifen ist. Wenn Schellings Doppelbestimmung auf alle endlichen Entitäten und vor allem auf den Menschen angewendet werden, so erhellt, dass der Mensch zum einen konstitutiv auf das Absolute bezogen ist und das Absolute sich in der Form der realisierten Potenzen von Sohn und Geist an seinem Ort realisiert, so wie auch das Bewusstsein des Menschen das Zusammenspiel der Potenzen darstellt. Da Gott aber in seiner Identität ein Moment von Freiheit gegenüber der Schöpfung bewahrt, kann er dieser zum anderen auch die ihr gemäße endliche Freiheit einräumen. Denn da Gott anders als im Entwurfe Hegels nicht erst durch die Welt zu sich Siehe dazu auch Krüger, Göttliche Freiheit, 280 f. Zur vokativen Identität bei Schelling siehe Buchheim, Eins von Allem, 99–107. 343 Schelling, Urfassung, 88.156. 344 Stellen wie diese führen dazu, dass wir nicht der Ansicht sind, dass Schellings in seiner Philosophie der Mythologie und Offenbarung die These vertritt, dass Gott im Verlauf der Weltgeschichte allererst er selbst wird. Vielmehr vertritt Schelling gerade eine diesem Hegelianismus entgegengesetzte Position. Entsprechend findet sich bei ihm auch keine Umkehrung des ontologischen Gottesbeweises dergestalt, dass Gott von seinem Sein her sein Wesen entwickelt; gegen Gabriel, Der Mensch im Mythos, 196–218. 345 Schelling, Urfassung, 89. 346 Dieses Moment der Überfülle wird uns in den theologischen Überlegungen sowohl bei Marion als auch bei Luther wieder begegnen (siehe Drittes Kapitel, 1.4.2. und Drittes Kapitel, 1.4.3.). 341
342
3. Das Subjekt und das Absolute
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wird, kann Gott die Schöpfung um ihrer selbst willen schaffen.347 Entsprechend gilt, dass die Freiheit Gottes nicht vollständig in seiner Vermittlung mit den Menschen aufgeht, und es gilt ebenso, dass Aspekte endlicher Freiheit nicht ganz in den Vollzug der Offenbarung Gottes am Ort des Menschen aufgehoben werden.348 Im Anschluss an Hegel vermag die Vernunft somit laut Schelling dann, wenn sie sich in die Geschichte hineinbegibt, um ihr absolutes Prinzip zu finden, sich selbst und ihr absolutes Prinzip zu finden. In unaufhebbarer Differenz zu Hegel aber heben weder das Absolute noch die endliche Vernunft die Geschichte in die absolute Vernunft hinein auf, da das Absolute und die endliche Vernunft aufgrund der ihnen jeweils zukommenden Freiheit nicht absolut miteinander vermittelt sind. Entsprechend bleibt die Geschichte ebenso wie das Absolute auch dann, wenn sie von der endlichen Vernunft in ihrem Was begriffen werden, in ihrem Dass das unaufhebbare Prä der endlichen Vernunft. Die endliche Vernunft kann in einer negativen Philosophie ihrer eigenen Möglichkeiten und der Möglichkeiten der ganzen Wirklichkeit ansichtig werden, bleibt aber eine geschichtlich und damit auch sprachlich und leiblich situierte Vernunft. Die Doppelbestimmung der negativen Dialektik Schellings verhindert auch die bei Hegel namhaft gemachte totale Vermittlung von Inhalt und Form. Das gilt gleichermaßen für die Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie wie für die von Urteil und Schluss. Anders als Hegel meint Schelling nicht, dass sich die Religion in die Philosophie hinein aufhebt. Ganz im Gegenteil führt die Abhängigkeit der Vernunft von dem Erscheinen oder Offenbaren der Wirklichkeit dazu, dass Schelling bereits den Übergang von der negativen in die positive Philosophie überhaupt als Übergang in die „Religion“349 zu benennen vermag. Das markiert nicht die Unmöglichkeit begrifflicher Überlegungen erstphilosophischen Zuschnitts in der negativen Philosophie mit der ihr eigenen Valenz für die positive. Es weist aber darauf hin, dass die jeweiligen geschichtlichen Religionen, die sich die Abhängigkeit des Menschen von der ihr auch extern bleibenden Offenbarung als wesentliches Moment einschreiben, nicht durch dieses Moment strukturell gegenüber der Philosophie so unterlegen sind, dass sie in diese aufgehoben werden müssten, um ihrem Inhalt zu entsprechen. Entsprechend kulminieren laut Schel Schelling, Urfassung, 95. Siehe dazu auch Krüger, Göttliche Freiheit, 285. 349 Schelling, Darstellung, SW XI, 568. 347
348
256 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie ling die verschiedenen geschichtlichen Religionen im Christentum, ohne dass sich aber das real existierende Christentum in die Philosophie hinein aufheben würde. Zwar durchklärt sich das Christentum dergestalt, dass es als johanneisches Christentum zu einer „vollkommen begriffenen Religion“350 wird. In dieser wird die offenbarte Wahrheit vollständig mit der Einsicht der Vernunft in die wahren Möglichkeiten von Offenbarung vermittelt, so dass der Mensch in ihr frei ist. Die allein der Freiheit Gottes verdankte Wirklichkeit der Offenbarung aber bleibt ihr uneinholbar vorausgesetzt. Das symbolisiert sich dadurch, dass der praktische Vollzug des Kultes – und damit, so mögen wir hinzufügen, auch der des Abendmahles – nicht in den reinen, theoretischen Vollzug des Begriffes und damit in die theoria aufgehoben wird, sondern eine äußere Realität darstellt, an die der Mensch bleibend verwiesen ist.351 Schelling wendet sich auch gegen die von Hegel geforderte Selbstaufhebung des Urteils in den Schluss, da diese von der absoluten Vermittlung der thematisierten Wirklichkeit mit dem Thematisieren von Wirklichkeit her motiviert ist. Diese absolute Vermittlung aber verkennt die unaufhebbare Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Wenn diese in Rechnung gestellt wird, so kommt es zugleich zur Re-etablierung der Form des Urteils gegenüber dem Schluss. Denn das Urteil in der positiven Philosophie zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es etwas vom Urteil Verschiedenes im Urteil selbst in Anspruch nimmt und zur Sprache kommen lässt. Um das zu verdeutlichen, führt Schelling die Unterscheidung zwischen „tautologischen“ und „emphatischen“352 Urteilen ein. In der negativen Philosophie sind Urteile tautologisch, d. h., sie verweisen nicht auf Außersprachliches, sondern legen die Identität einer Sache nur nach Begriffen fest.353 In der positiven Philosophie hingegen sind Urteile emphatisch, d. h., dass das Subjekt eines Urteils eine Entität in Anspruch nimmt, die unabhängig von der jeweiligen Prädikation ist, die ihr im Urteil zukommt. Sie stellt eine gegenüber ihrer jeweiligen Prädikation verwahrte Entität dar, so dass das jeweilige Prädikat zugleich nur eines von verschiedenen möglichen darstellt.354 Beide Aspekte werden deutlich, wenn Schelling das Subjekt des Urteils in einem Beispiel in auf Schelling, Urfassung, 702. Siehe Schelling, Urfassung, 709. 352 Siehe Schelling, Urfassung, 52, Anm. 353 Siehe dazu auch Buchheim, Eins von Allem, 94. 354 Siehe dazu Schelling, Urfassung, 52 f. 350 351
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schlussreicher Weise mit Aristoteles Erster Substanz in Beziehung bringt: „Indem ich sage: Das, was ich hier sehe, ist eine Rose, ist das Subjekt des Ausgesagten – Materie. Diese Materie ist etwas ohne die Pflanze; diese ist gegen die Form gleichgültig, und an sich fähig, auch nicht diese Pflanze zu sein: sie [. . .] könnte eine andere oder gar keine Pflanze sein. Nur darum kann ich cum emphasi sagen: Es ist eine Pflanze.“355 Damit ist bereits angedeutet, dass gerade die recht verstandene Kopula im Urteil ein Urteil zum emphatischen macht. Mit Krüger gesprochen „bringt die Kopula zum Ausdruck, daß etwas als etwas ausgesagt wird, weil die Aussage (‚A ist B‘) von etwas (nämlich ‚X‘) durchzogen wird, das diese Aussage sein läßt (transitives ‚ist‘). Auf diese Weise steht die Kopula dafür, daß sich die Identifikation (‚A ist B‘) einer gegenüber dieser Identifikation verwahrten Identität (nämlich der von ‚X‘) verdankt.“356 In dieser Hinsicht entspricht die Form des Urteils ihrem Inhalt und kann daher nicht in die totalvermittelte Schlussbewegung hinein aufgehoben werden: Zwar haben wir Zugriff auf die Wirklichkeit nur vermittels des Urteils, aber das recht verstandene Urteil erlaubt es gerade, innerhalb des Urteils zwischen Urteil und Wirklichkeit zu unterscheiden. – Bevor die Nähe der Einsichten Schellings zu denen Kochs und besonders die Nähe der Urteilstheorie Schellings zu der von Koch näher beleuchtet wird, seien die Überlegungen zu Schelling dadurch beendet, dass bilanziert wird, was Schellings Position für die Führbarkeit von Gottesbeweisen und für die Zuordnung von Vernunft und Sein bedeutet.
3.3.3.4. Schellings Metakritik Hegels: Gottesbeweise als Gotteserweise Drei Einsichten können als Ergebnis festgehalten werden: Erstens erreicht Schelling seine Position zu den Gottesbeweisen im Modus der Selbstprüfung der Vernunft. Die Vernunft kommt gerade im kritischen Bedenken ihrer eigenen Möglichkeiten selbst zu dem Ergebnis, dass ihr Anderes ihr vorgängig ist. Bei Schelling begegnet somit eine von der Vernunft selbst vollzogene „Selbstbescheidung“357 des Idealismus. Zweitens impliziert die Selbstbescheidung recht massive Argumente gegen die 355 Siehe Schelling, Urfassung, 52 und zu Schellings Urteilstheorie umfassend Buchheim, Eins von Allem, 90–98. 356 Krüger, Göttliche Freiheit, 170, Anm. 27. 357 Um dem Untertitel von Buchheim, Eins von Allem, zu folgen.
258 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Führbarkeit der Gottesbeweise, die kaum durch den einfachen Verweis auf eine Neubestimmung eines einzelnen Argumentes oder eines einzelnen Begriffs innerhalb einer Schlussfolge zu überwinden sind. Drittens aber fallen bei Schelling die Vernunft und ihr Anderes nicht so auseinander, dass die Vernunft zur bloß subjektiven Vernunft werden würde. Vielmehr vermag die Vernunft dann, wenn etwas ist, das, was ist, angemessen zu diagnostizieren. Der Verlust der Letztbegründung kann somit als Gewinn gelesen werden, nämlich als Ausweis des Wirklichkeitsbezuges der Vernunft. Alle drei Einsichten seien kurz erläutert. Erstens steht Schellings Projekt in formaler Hinsicht in der Tradition von Kant und Hegel. Denn er prüft die Beweiskraft der Gottesbeweise nicht allein im Rahmen des Nachdenkens über einen bestimmten Gegenstand, sondern er sie prüft im Rahmen einer kritischen Überprüfung der Leistungskraft der Vernunft selbst. Kant bedachte das Denken des ontologischen Gottesbeweises und sah den Gottesbeweis aus urteilstheoretischen Gründen scheitern. Hegel folgt ihm darin, dass als das eigentliche Thema des ontologischen Gottesbeweises die Reflexion zu gelten hat. Er unternahm es aber, die Reflexion als das Absolute zu fassen und das Absolute als Reflexion und mit der absoluten Reflexion in der Form des spekulativen Schlusses den ontologischen Gottesbeweis zu restituieren. Schelling begreift, dass die Reflexion nicht absolut ist, sondern dass das Absolute jeder Reflexion voraus liegt. Denn der Denkvollzug kann nicht alle seine Voraussetzungen in sich aufheben, da zumindest seine eigene Faktizität ihm immer schon vorausgesetzt ist.358 Auch wenn sich das Denken die Art und Weise seines Vollzuges ganz durchsichtig machen kann, sie als Dialektik und damit als sich mit sich selbst vermittelnde Bewegung zu bestimmen und auf diese Weise in sich einzuholen vermag, bleibt dem Denken sein Dass auf immer entzogen. Somit erkennt die Reflexion selbst, dass sie nicht das Absolute ist. Vielmehr ist das Absolute das unvordenkliche Sein als das Wesen, das selbst nicht beweisbar ist, aber jedem Beweisen als unbeweisbarer Ungrund zugrunde liegt. Damit attackiert Schellings Einsicht, zweitens, die zentrale Absicht des ontologischen Gottesbeweises. Mit Hindrichs gesprochen: „Die Absicht, das Sein unter die Herrschaft des Begriffs zu bringen, ist [. . .] die Kernabsicht des ontologischen Arguments. Es will ja aus dem Begriff Siehe dazu Schelling, Urfassung, 69 f., sowie Krüger, Göttliche Freiheit, 123– 146 (siehe auch FN 91 auf 146), Hindrichs, 139–145 und Wendte, Gottmenschliche Einheit, 298–316. 358
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Gottes seine Existenz herleiten. Schellings Kritik an dem ontologischen Beweis [. . .] trifft also den Grundvorgang des Beweises selbst.“359 Sie trifft jedoch nicht nur den Grundvorgang des Beweises selbst, sondern sie trifft ihn auch auf grundlegende Art und Weise. Denn sie tritt nicht nur als Kritik am Denken einer bestimmten Entität – der des Absoluten – auf, sondern vielmehr als kritische Untersuchung des Denkens selbst. Sie zeigt, dass nicht der Begriff das Sein unter seine Herrschaft zu bringen vermag, sondern dass der Begriff sich vielmehr darin recht begreift, dass er um ein ihm immer schon vorausgesetztes Sein weiß. Wenn Schellings Einwänden gegen Hegel stattzugeben ist, so impliziert dies, dass der ontologische Gottesbeweis, der auszog, Gott zu beweisen, sich in der Einsicht vollendet, dass Gott jedem Beweis voraus liegt. Indem diese Einsicht aus einer kritischen Selbstprüfung der Vernunft folgt, wird man ihr kaum allein mit dem Hinweis auf die Neubestimmung von diesem oder jenem Begriff oder Argument innerhalb eines auf den Gottesbeweis abzielenden Schlusses entkommen können. Vielmehr bedürfte es einer material anders gefüllten, aber formal ebenso umfassenden Selbstprüfung der Vernunft wie die Kants, Hegels und Schellings. Solange diese nicht vorgelegt wird, scheitert das Projekt der Letztbegründung der theoretischen Vernunft. Dieses Scheitern trägt sich in alle von Hegel behandelten Dimensionen ein: Begriff und Sein sowie ens necessarium und omnitudo realitatis bzw. ens perfectissimum sind im Absoluten ebenso wenig absolut miteinander vermittelt wie die Ordnung des Denkens und die des Seins. Der unendliche und der endliche Geist können am Ort des endlichen ebenso wenig absolut ineinander überführt werden wie der kultische Vollzug und das Nachdenken über Religion oder wie die Form des Denkens und sein Inhalt und damit das Urteil und der Schluss. Dennoch fallen, drittens, die Vernunft und ihr Anderes nicht abstrakt auseinander. Auch wenn Schellings Dialektik eine negative Dialektik mit einem unaufhebbaren Bruch ist, so ist sie als Dialektik dennoch in der Lage, die die jeweiligen Entitäten miteinander zu vermitteln. Denn zum einen erreicht die Vernunft die Einsicht in die Andersheit der Wirklichkeit im Rahmen ihrer Selbstaufklärung und nicht als das Auftauchen eines heteronomen Gesetzes. Zum anderen vermag die Vernunft dann, wenn etwas ist, sich selbst in ihrem Anderen wiederzufinden. Denn das Andere bewegt sich dann, wenn es ist, innerhalb des Möglichkeitsraumes derjenigen Potenzen, die zugleich Bestimmungen der Vernunft sind, da Hindrichs, Das Absolute, 142.
359
260 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie es selbst von den Potenzen geprägt ist. Wenn etwas ist, sind die Ordnung des Denkens und die des Seins miteinander vermittelt. Die aposteriorische Bestimmbarkeit der Wirklichkeit bezieht sich dabei sowohl auf endliches Seiendes wie auf Gott selbst. Wenn etwas ist und wenn sich die Vernunft darauf richtet, so kann die Vernunft daher alles Seiende angemessen bestimmen, einschließlich des Menschen selbst. Auch Gott kann entsprechend in der ihm eigenen Bestimmtheit als freier Grund der Schöpfung zwar nicht be-, wohl aber erwiesen. Er kann als der bestimmt werden, dem die Totalität der Potenzen zukommt und der damit intern vermittelt oder trinitarisch ist und der zugleich auch die Totalität der Potenzen übersteigt. Er kann somit bestimmt werden und es kann zugleich seiner Freiheit gegenüber allen Bestimmungen Rechnung getragen werden. Dies alles geschieht in Urteilen, die nicht vollständig in die Schlussbewegung aufgehoben werden können und sich gerade deshalb auf Wirklichkeit beziehen. Der diagnostische Charakter der Vernunft bringt somit aufgrund seines Verzichts auf Letztbegründung Gewinn mit sich. Er trägt der Freiheit Gottes ebenso Rechnung wie er Ausweis des Wirklichkeitsbezuges derjenigen Vernunft ist, die dann, wenn etwas ist und wenn sie sich auf die Wirklichkeit hin verlässt, alles auf angemessene Weise bestimmen kann.360 Oder die das Sein und das Denken prägende Dialektik hat eine letzte Grenze an derjenigen undialektischen Freiheit, die ihr vorausgeht und die sie je durchzieht, so dass die Dialektik damit in den angezeigten Hinsichten negative Dialektik ist. Zugleich ist es Ausweis einer eigenen Dialektik, dass der Verlust der Absolutheit der Dialektik ihr wahrer Gewinn ist: Gerade auf diese Weise stellt sie eine Methode dar, die der Freiheit des Absoluten und des Endlichen zu entsprechen vermag. Mit diesen Überlegungen sind die erstphilosophischen Reflexionsgänge des vorliegenden Buches an ihr Ende gekommen. Sie begannen mit Kochs Überlegungen zu den ontologischen, logischen, semantischen und epistemologischen Implikationen menschlicher Urteilspraxis, führten über die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit als dem kategorialen Kern der Reflexionen zum Bedenken der Größe und Grenze des Subjektes, welches zu einer Rekonstruktion der Debatte um die Gottesbeweise bei Kant, Hegel und Schelling führte. Der folgende Abschnitt (4.) zielt darauf ab, die erreichten Einsichten miteinander und mit den anderen Teilen des Buches in Beziehung zu setzen. Hier folge ich Krüger, Göttliche Freiheit, 311 f.
360
4. Anschlüsse und Übergänge
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4. Anschlüsse und Übergänge 4.1. Anschlüsse und Übergänge I: Inhaltliche Nähen und methodische Differenzen zwischen Koch, Schelling und Luther Die folgenden Überlegungen binden die Ausführungen zu den Gottesbeweisen in materialer und methodischer Hinsicht zurück an die erstphilosophischen Überlegungen Kochs und zeigen die bemerkenswerte Nähe auf, die zwischen beiden Positionen festgestellt werden kann. Sodann wird die in materialer Hinsicht namhaft zu machende Nähe von Schelling und Koch zu Luther angedeutet. Sie besteht darin, dass alle drei als Idealisten gefasst werden können, wenn der Idealismus mit Koch wie folgt definiert werden kann: „Was objektiv der Fall ist oder existiert, kann ceteris partibus unter Verwendung des Wahrheitsprädikates vollständiger beschrieben werden als ohne Verwendung des Wahrheitsprädikats.“361 Zuvor jedoch wird die grundlegende methodische Differenz zwischen den erstphilosophischen Überlegungen und der antispekulativen Theologie Luthers benannt und Gründe dafür ins Feld geführt, warum in vorliegendem Buch entgegen der Position Luthers erstphilosophische Spekulationen vorgelegt wurden. In methodischer Hinsicht nahmen die Überlegungen zu den Gottesbeweisen bei Kant, Hegel und Schelling von der Beobachtung ihren Ausgang, dass Kochs erstphilosophische Reflexionen sich auf beispielhafte Weise von der Analyse des Urteils her aufbauen. Zugleich finden Kochs Reflexionen darin ihre Grenze, dass sie die Kontingenz des urteilenden Subjekts zwar notieren, aber keine Reflexionen über das Absolute selbst anstellen. Diese Lücke wurde dadurch geschlossen, dass die Überlegungen von Kant, Hegel und Schelling zu den Gottesbeweisen rekonstruiert wurden, da diese drei wichtige Stimmen darstellen, wenn unter gegenwärtigen Bedingungen eine erstphilosophische Theorie des Absoluten entworfen werden soll. Da Hegel und Schelling ihre Theorien des Absoluten jeweils als ein umfassendes Verständnis der Wirklichkeit insgesamt entwickeln, behandeln ihre Systeme auch viele von denjenigen Fragestellungen, die bei Koch zur Sprache kommen. Das eröffnet die Möglichkeit, die Position Schellings mit der Kochs zu vergleichen. Dabei zeigt sich eine bemerkenswerte Nähe zwischen den Überlegungen Schellings und denen Kochs, die beide als Vertreter eines Realidealismus ausweisen. Sie vertreten einen Idealismus, der sich zugleich gegen eine Koch, Versuch, 186.
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262 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Hegelsche Totalvermittlung von Denken und Sein richtet und damit seine Form in einer eigenen Variante negativer Dialektik findet. Diese Nähe ist umso bemerkenswerter, als Schelling seine Ergebnisse mithilfe der Begrifflichkeiten und Denkstrukturen des Deutschen Idealismus entwickelt und Koch mithilfe der Begrifflichkeiten und Denkstrukturen der Analytischen Philosophie (auch wenn Koch selbstredend in höchstem Maße vertraut ist mit den idealistischen Debattenlagen). Kontinentale und analytische Instrumentarien führen zu Ergebnissen, die zumindest in ihren Grundpositionen auf bemerkenswerte Art vergleichbar sind. So meinen beide in materialer Hinsicht, dass erstphilosophische Überlegungen die Praxis der Vernunft nicht vollständig in die Vernunft selbst einholen können. Dass die Vernunft sich immer schon in einer Urteilspraxis befinden, ist der Vernunft in unaufhebbarer Weise vorgegeben. Zudem ist jedes Urteil auf das Sich-Zeigen der Wirklichkeit angewiesen, das es selbst nicht hervorbringen kann. Vernunft ist diagnostisch, nicht letztbegründend. Zugleich sind erstphilosophische Überlegungen sinnvoll und möglich. In der Form negativer Philosophie kann die Vernunft über diejenigen grundlegenden kategorialen Strukturen von allem Denken und Sein reflektieren, die sie dann in der Form der positiven Philosophie diagnostiziert.362 Die angesprochene Grundfigur negativer Dialektik spiegelt sich in den weiteren der wichtigsten materialen Bestimmungen. Bezüglich der Zuordnung der Ordnung des Denkens mit der des Seins meinen sowohl Koch als auch Schelling, dass dann, wenn etwas ist, die Ordnung des Denkens mit der des Seins vermittelt ist, ohne dass beide ineinander überführt werden können. Die Vermittlung ist möglich, da das Seiende selbst begrifflich geprägt ist und in epistemologischer und ontologischer Hinsicht auf das Subjekt hin geöffnet ist (Subjektivitätsthese), ohne seine eigene Widerständigkeit gegenüber der erkennenden Vernunft zu verlieren. Ebenso ist die endliche Vernunft offen gegenüber der Wirklichkeit und spricht aus, was die Dinge in prädikatlosem Dingdialekt sagen, bleibt aber auf das Sich-Zeigen der Dinge angewiesen. Daher muss die Vernunft eine sprachlich und leiblich situierte Vernunft sein. In urteilstheoretischer Hinsicht impliziert dies, dass Schelling und Koch meinen, Die Einsicht in die unaufhebbare Vorgängigkeit der Praxis vor der Theorie wird allerdings von Koch in seinen Überlegungen vorausgesetzt und dann nur gleichsam en passant immer wieder bestätigt, am deutlichsten in der Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit. Schelling hingegen leitet diese Einsicht in seinen Überlegungen zur Absolutheit der Vernunft eigens ausführlich ab. 362
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dass das Urteil mit dem Schluss verbunden ist, ohne dass das Urteil in den Schluss hinein aufgehoben werden kann. Denn das Urteil spricht etwas aus, was selbst nicht ins Urteil aufgehoben werden kann. Um die Gemeinsamkeiten im Anschluss an die Wahrheitstheorie Kochs zu reformulieren: Koch und Schelling meinen mit Hegel, dass die Vermittlung der im Urteil namhaft gemachten Bestimmungen untereinander für diese Bestimmungen selbst wesentlich ist, und dass damit Bestimmungen namhaft gemacht werden, die zugleich als Qualia den Dingen selbst zukommen (3. Wahrheitsaspekt). Des Weiteren meinen beide mit Hegel, dass die Wahrheit des Urteils von dem Sich-Zeigen der Wirklichkeit abhängt (1. Wahrheitsaspekt), welches das Urteil allererst in Gang setzt und es ermöglicht, das Urteil auf die Wirklichkeit zu beziehen. Beide meinen aber gegen Hegel, dass das Sich-Zeigen der Wirklichkeit nicht vollständig in die Totalvermittlung aller Bestimmungen überführt werden kann, sondern dass sich die Urteile bleibend auf eine solche Wirklichkeit bezieht, die nicht selbst von Art des Urteils ist und damit dem Urteil auch entgegensteht (2. Wahrheitsaspekt). Über Koch hinausgehend gründet Schelling diese Überlegungen in der Theorie eines dergestalt gefassten Absoluten, das selbst nicht be-, sondern alleine erwiesen werden kann. Das Absolute begründet zum einen die Existenz und Verstehbarkeit der Welt und ist entsprechend in der Welt auch präsent. Zum anderen und zugleich übersteigt es diese Funktion seiner Begründung in Freiheit nochmals und ist gerade so dasjenige Absolute, das dem kontingenten Subjekt und seiner Urteilspraxis entspricht. Wenn diese Position in vorgreifender Überleitung und in gebotener Kürze mit der Luthers in Beziehung gesetzt wird, so zeigt sich eine große Nähe in den materialen Fragen bei einer ebenso großen Differenz in methodischen. Um auf die inhaltliche Nähe zu verweisen, so kann Luthers Metaphysik dann, wenn Begriffe in anachronistischer Weise verwendet werden dürfen, auch als eine Form des Realidealismus mit vielen Anknüpfungspunkten an die Position von Schelling und Koch gekennzeichnet werden. Denn Luther meint, dass die Dinge vom Wort Gottes geschaffen wurden und damit selbst auf eigene Weise Wörter sind, die von sich aus den Menschen ansprechen und so als Gaben auf den Menschen hingeordnet sind, ohne in ihrem Sich-Zeigen aufzugehen. Der Mensch ist als leiblich und sprachlich situiertes Wesen in der Lage, dieses Sich-Aussprechen der Dinge zu begreifen, ist aber bleibend auf das Sich-Zeigen der Wirklichkeit angewiesen. Im und durch das Sich-Zeigen der Dinge hindurch zeigt sich Gott, der jedem Geschöpf näher ist als
264 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie dieses sich selbst, ohne dass Gott seine Gottheit darein entleeren würde, nur Funktion für den Menschen zu sein. Gott als Geber der Gabe ist als trinitarischer und damit dialektisch zu denken, ohne dass seine Freiheit damit aufgegeben werden würde (differenziertere Vergleiche zwischen Koch, Schelling und Luther in den hier angedeuteten Dimensionen werden nach der Auslegung Luthers präsentiert, siehe Drittes Kapitel, 2.2.6.2. sowie Viertes Kapitel, 3. und Viertes Kapitel, 4.). Zugleich wendet sich Luther in methodischer Hinsicht entschieden gegen Ansätze wie die hier vorgenommenen, die aus erstphilosophischer Perspektive Aussagen über die Welt und vor allem über Gott tätigen wollen. Denn Luther meint zum einen, dass die frei spekulierende Vernunft Gott nicht als dreieinigen zu bestimmen vermag, sondern dass sie – wenn überhaupt – nur die pure Existenz eines Gottes zu begreifen vermag. Denn die Vernunft ist in Bezug auf Gott und alle grundlegenden Bestimmungen ihres Orientierungswissens orientierungsbedürftig, nicht aus sich heraus orientierungsfähig. Zudem meint Luther zum anderen, dass der Versuch der Vernunft, Gott von sich aus zu denken, unabhängig von den jeweils erreichten Bestimmungen Gottes in sich selbst widergöttlich ist. Denn dieses Vorgehen stellt laut Luther den Versuch der Selbstüberhöhung geschöpflicher Vernunft über den Schöpfer dar und ist somit als ein Akt intellektueller Werkgerechtigkeit zu betrachten (siehe Drittes Kapitel, 2.1.3.1.1.). Gegen Luthers Position ist zum einen darauf zu verweisen, dass gegenwärtig viel dafür spricht, dass die Vernunft nicht Gott beweisen, ihn wohl aber als dreieinigen erweisen kann (siehe Zweites Kapitel, 3.3.3.4.). Die Vernunft ist davon abhängig, dass sich etwas zeigt – wenn sich etwas zeigt, ist sie aber auch in Bezug auf grundlegende kategoriale Fragen und in Bezug auf Gott in Grundzügen orientierungsfähig. Gegenüber der Annahme Luthers haben unsere Überlegungen somit eine genau entgegengesetzte Konstellation ergeben. Zudem scheint mir zum anderen, dass Luthers Strategie der hamartiologischen Indizierung spekulativen Denkens im Rahmen seiner Sündenlehre zwar konsequent sein mag, dass es aber gewichtige theologische Gründe dafür gibt, diese erstphilosophischen Überlegungen als Gewinn anzusehen. Drei Gründe seien namhaft gemacht. Erstens kann das spekulative Vorgehen als der Versuch der Vernunft begriffen werden, die Voraussetzungen und Implikationen von wahren Urteilen und die Wahrheit selbst zu bedenken. In dieser Sachorientierung entspricht die Vernunft gerade demjenigen Gott, der auch laut Luther selbst der Ort der Einheit der Wahrheit ist. Indem
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Gott der Ort der Einheit der Wahrheit ist, wird deutlich, dass die Theologie aufgrund der Bestimmung ihres Gottesbegriffs selbst ein eigenes Interesse an erstphilosophischer Spekulation hat: Wenn erstphilosophische Überlegungen geführt werden können (und mir scheint, dass sie geführt werden können), so sind sie für die Theologie von Interesse und in dieser Hinsicht als Verbündete der Theologie anzusehen. Auch der zweite Grund nimmt ein Interesse auf, das aus dem Gottesbegriff der Theologie selbst erwächst. Denn Schelling machte deutlich, dass die Vernunft wohl kaum Gott beweisen kann, dass sie aber im Rahmen der negativen Philosophie die grundlegenden Strukturen des Absoluten entwerfen kann, den sie dann in der positiven Philosophie diagnostiziert. Diese grundlegenden Strukturen stellen zugleich „Kriterien“ oder „Minimalbedingungen“363 der Rede von Gott dar. Sie erfüllen eine doppelte, eng miteinander verbundene Funktion. Sie sichern zum einen die Intelligibilität der Rede von Gott 364 und stellen zum anderen notwendige Bedingungen sachgemäßer Rede von Gott dar. Genauer: Indem sie notwendige Bedingungen (und damit Minimalbedingungen) sachgemäßer Rede von Gott darstellen, sichern sie zugleich die Intelligibilität der Rede von Gott. Sie ermöglichen somit zum einen zu verstehen, wovon die Rede ist, wenn etwa gesagt wird, dass Gott sich in Jesus Christus offenbarte, da sie allgemeine Kennzeichnungen Gottes liefern: So ein Gott, der sich in Jesus Christus offenbart hat, so kann gefragt werden, wer oder was ist das? Um auf die Bestimmung des ontologischen Gottesbeweises zurückzukommen, kann gesagt werden, dass ein Gott jedenfalls als ein solcher zu kennzeichnen ist, der das vollkommenste Wesen oder das ens perfectissimum ist. Wenn ein Gott als weniger vollkommen bestimmt wird, so wird nicht Gott bestimmt, sondern eine andere Entität. Somit wird deutlich, dass die Kriterien die Intelligibilität der Rede gerade deshalb sichern, weil sie notwendige Bedingungen sachangemessener Rede von Gott sind. Wenn gegen sie verstoßen wird, dann wird nicht gegenstandsgemäß von Gott geredet.365 Entsprechend gelten diese philosophischen Kriterien auch für eine solche theologische Rede von 363 Siehe dazu auch Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie. Band 1, Göttingen 1988 (ST I), 90.426; Wolfhart Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 18, 28–33. 364 Siehe dazu auch Pannenberg, ST I, 73–83. 365 Siehe dazu auch Pannenberg, ST I, 90; Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, 18.28.
266 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie Gott, die von der Offenbarung herkommt, wenn die Theologie ihren Anspruch aufrechterhalten will, intelligible und sachgemäße Aussagen über Gott zu erheben. Diese Kriterien können als Bestärkung oder als kritisches Korrektiv der jeweiligen theologischen Aussagen fungieren. Zugleich sind die Kriterien selbst offen für erneute Diskussion. Es ist Aufgabe der Theologie, sich an dieser Diskussion zu beteiligen, so wie sie sich faktisch seit ihren Anfängen an dieser Diskussion beteiligt hat. Sie kann somit die Kriterien gegebenenfalls revidieren, aber, wie Pannenberg zu Recht festhält, „sie muß solche Revision auf dem Boden der philosophischen Argumentation selbst ihr Recht erweisen, um jene Allgemeinheit beanspruchen zu können, in der sich die Wahrheit des einen, alleinigen Gottes bekundet.“366 Es gibt einen dritten Grund von etwas geringerer argumentativer Valenz, der deutlich werden lässt, warum die spekulative Tätigkeit der Vernunft nicht notwendiger Weise als Werkgerechtigkeit angesehen werden muss. Denn in ihrer Selbstprüfung gelangt die Vernunft in materialer Hinsicht zu dem Ergebnis, dass ihr die Wirklichkeit Gottes und die der Welt in ihrem Sich-Zeigen unaufhebbar vorausgesetzt sind. Sie sieht selbst ein, dass sie nur geschöpfliche Vernunft ist, die bleibend von ihrer Umwelt und der Freiheit des Schöpfers abhängig ist. Damit erreicht die Vernunft die Einsicht in ihre Begrenztheit in der Form der Selbsteinsicht und nicht bloß in der Form einer ihr äußeren Forderung, als Blendung und Schändung der hochmütigen Vernunft, wie Luther es an einigen Stellen propagiert.367 Die Selbsteinsicht der Vernunft in ihre Selbstbegrenzung gewährleistet, dass die jeweiligen Einsichten auch tatsächlich als die ihre angeeignet werden. – Die angesprochenen drei Gründe präsentieren wichtige Argumente dafür, dass in diesem Buch erstphilosophische Überlegungen auch über Gott präsentiert werden. Die Gründe sollen jedoch nicht vergessen lassen, dass bei aller inhaltlichen Nähe an diesem methodischen Punkt eine grundlegende Differenz zwischen dem Vorgehen in diesem Buch und dem Vorgehen Luthers besteht. Bevor Luthers Position selbst ausführlich rekonstruiert wird, sei die Zuordnung von erstphilosophischen Überlegungen und christlicher Dogmatik dergestalt etwas grundsätzlicher bedacht werden, dass in thetischer Form wesentliche Aspekte ihrer Zuordnung zueinander namhaft gemacht werden. Pannenberg, ST I, 90. Siehe nur WA 23, 255, 1–3.
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4.2. Anschlüsse und Übergänge II: Fünf Aspekte der Zuordnung von Dogmatik und Erstphilosophie Im Folgenden seien fünf Aspekte der Zuordnung der Dogmatik zur Erstphilosophie namhaft gemacht, die mir momentan richtig und wichtig zu sein scheinen. Diese Aspekte charakterisieren zugleich die Zuordnung der erstphilosophischen Überlegungen Kochs, Kants, Hegels und Schellings (Zweites Kapitel des Buches) zur Abendmahlstheologie Luthers (Drittes Kapitel des Buches). Viele dieser Aspekte wurden bereits im Zweiten Kapitel oder auch in der Einleitung zum Buch explizit eingeführt, während einige weitere Aspekte Implikationen der dort entwickelten Bestimmungen darstellen. Entsprechend bündeln die meisten der fünf Aspekte vorher getroffene Bestimmungen; an manchen Stellen werden weitergehende Überlegungen zur Begründung von bereits eingeführten Bestimmungen entwickelt. Die fünf Aspekte sollen jeweils in einem ersten Absatz zusammengefasst und dann genauer erläutert werden.
4.2.1. Erster Aspekt: Der gemeinsame Gegenstandsbereich von Dogmatik und Erstphilosophie Dogmatik und Erstphilosophie bezeichnen Tätigkeiten, die sich auf einen gemeinsamen Gegenstandsbereich beziehen: auf die grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit und damit auf letzte Fragen, die die Welt als Ganze, die Stellung des Menschen in ihr und ihren Grund betreffen.368 Damit betreiben beide Metaphysik. Da sie beide von der Liebe zur Weisheit getrieben sind und da sie beide Wahrheitsansprüche in Bezug auf ihren Gegenstand erheben, sind sie von sich aus auf die Kommunikation mit ihrem Anderen hin geöffnet. Genauer: Unter Metaphysik sei nicht (wie in manch polemischen Gebrauch des Wortes) der gegenwartsflüchtende mentale Aufbau einer „Hinterwelt“ zu verstehen, so dass dann mit Nietzsche Metaphysiker als „Hinterweltler“369 bezeichnet werden müssten. Vielmehr sei Metaphysik so definiert, dass sie die begriffliche Erfassung grundlegender Struk-
368 Siehe zu dieser Definition der Metaphysik jetzt auch Friedrich Hermanni, Metaphysik, 1. 369 Siehe Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen (KSA 4), München 1999, 35.
268 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie turen und Bestimmungen des Seienden und des Seins selbst ist.370 Diese grundlegende Erfassung geschieht in der Dogmatik ebenso wie in der Erstphilosophie. In der Dogmatik geschieht sie dergestalt, dass die Dogmatik Reflexion der Erfahrung des Glaubens ist. Dabei bedenkt sie genau diejenigen grundlegenden Strukturen, die notwendig sind, um zu bestimmen, was Menschen wahrnehmen, erfahren und denken. Sie kann somit auch als „transzendentaltheoretische Erfahrungswissenschaft“371 definiert werden. Ihre Themen bestehen in den grundlegenden Strukturen des Grundes, der Verfasstheit, der Erkennbarkeit und des Ziels der Wirklichkeit unter der Einsicht, dass diese Themen unter den Hinsichtnahmen von Schöpfung, Fall, Versöhnung und Vollendung zu bedenken sind. In dieser Weise betreibt die Dogmatik selbst Metaphysik. Selbstredend betreibt auch die Erstphilosophie Metaphysik. Da dem Menschen die Wirklichkeit in Form von Urteilen zugänglich ist und Menschen in diesen Urteilen Wahrheitsansprüche erheben, organisiert sich die Erstphilosophie Kochs als apriorische und selbstbezügliche Analyse unserer Urteilspraxis und ihrer epistemologischen, ontologischen, logischen und semantischen Implikationen. Entsprechend betreibt er mittels seiner Urteilsanalyse Metaphysik und konzentriert sich dabei auf die Verfasstheit und Erkennbarkeit der Wirklichkeit. Kant, Hegel und Schelling bedenken zudem das Absolute als den Grund der Wirklichkeit. Indem Dogmatik und Erstphilosophie den Grund, die Verfasstheit und Erkennbarkeit der Wirklichkeit bedenken, beziehen sich auf einen gemeinsamen Gegenstandsbereich. Dabei sind sie beide aus sich selbst heraus aus mindestens zwei Gründen auf Kommunikation mit dem Anderen hin angelegt.372 Zum einen sind sie aus Liebe zur Weisheit an den Siehe dazu auch Wilfried Härle, Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, Göttingen 1980, 45. 371 Walter Sparn, Ontologische Metaphysik versus metaphysische Religion. Inwiefern erfordert die theologische Analyse von Religion metaphysisches Denken?, in: Hermann Deuser (Hg.), Metaphysik und Religion. Die Wiederentdeckung eines Zusammenhanges (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Band 30), Gütersloh 2007, 9–59, 43. Der Aufsatz von Sparn bietet zudem einen guten Überblick über die verschiedenen Positionen der gegenwärtigen deutschsprachigen Philosophie zum Thema der Metaphysik. 372 Wie Sparn, Metaphysik, 44, schreibt: „Kraft seiner sprachlichen Mitteilbarkeit und Nachvollziehbarkeit ist das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens gehalten, sich an ontologischen Diskursen zu beteiligen nicht nur als konkurrierende Weltanschauung, die sie auch ist und die als solche nur im ganzen angenommen oder abgelehnt werden kann, sondern zugleich als konjekturale Reflexion von Erfah370
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Wahrnehmungen und an den kategorialen Reflexionen der anderen Seite interessiert, um mehr über die gemeinsame Sache zu lernen. Zum anderen erheben sie beide Wahrheitsansprüche in Bezug auf ihren Gegenstandbereich, so dass sie ihren eigenen Wahrheitsanspruch mit anderen Wahrheitsansprüchen abgleichen müssen. Ansonsten würden sie die Ansicht vertreten, dass es in Bezug auf denselben Gegenstand in derselben Hinsicht zur selben Zeit mehrere Wahrheiten gibt, was dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch widerspricht. Wenn aber dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch widersprochen wird, so wird jede Rede unverständlich. In den nun folgenden Aspekten der Zuordnung von Dogmatik und Erstphilosophie interessiert zunächst die Verfasstheit und Erkennbarkeit der Wirklichkeit betrachtet unter der Hinsichtnahme der Schöpfung; Gott als ihr Grund und Ziel wird dann als weiterer Aspekt näher bedacht. Die übrigen Themen der Dogmatik – die Lehre von der Wirklichkeit betrachtet unter der Hinsichtnahme von Versöhnung und Vollendung – sind aufgrund der der Erstphilosophie eigenen Methode der Apriorizität und Selbstbezüglichkeit keine möglichen Themen einer Erstphilosophie.373 Die Dogmatik kann und soll diese Themen aber in Auseinandersetzung mit Philosophien behandeln, die sich nicht apriorisch entwickeln. Zugleich betrachtet die Dogmatik meist alle drei Artikel im inneren Zusammenhang und somit auch die Themen einer Schöpfungslehre nicht ohne Bezug auf die Lehre von Versöhnung und Vollendung. Entsprechend sind auch in Luthers Theologie die Themen des ersten Artikels gerahmt und geformt von denen des zweiten und des dritten. So wird die Schöpfung in ihrem Gabecharakter deutlich und damit als geprägt durch diejenige Dimension der Wirklichkeit, die in Jesus Christus als Wahrheit offenbar und dem Menschen im Geist zugeeignet wird. Interessant ist, dass diesem von der Gabe geprägten Blick auf die Schöpfung in der erstphilosophischen Rekonstruktion Kochs wie Schellings in sachlicher Hinsicht dadurch entsprochen wird, dass beide an den Dingen und an unseren Urteilen etwas feststellten, was als Vorbegriff der Gabe benannt zu werden verdient. Denn Koch und Schelling sehen, dass die Dinge in rungen, deren Ontologie auch extra fidem aus guten Gründen relevant sein kann; so tritt es als ein partikulares, von anderen Voten belehrbares Votum auf.“ 373 Allein aus diesem Grund kann es nicht Aufgabe der Erstphilosophie sein, die Dogmatik zu ersetzen oder gar die Grundlage für eine neue Religion zu legen.
270 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie eigener Weise Wörter sind, die von sich aus auf den Menschen angelegt sind. Dass unsere Urteile von der Gabe-Dimension der Wirklichkeit abhängen, ist somit nicht bloß eine theologische Behauptung, sondern eine Feststellung, für die in erstphilosophischer Perspektive argumentiert werden kann.
4.2.2. Zweiter Aspekt: Die relative Voraussetzungslosigkeit der Erstphilosophie Jedes Denken hat Voraussetzungen. So können wir nur denken, weil wir zuvor eingebunden sind in einen reichen Lebensprozess mit großer Nähe zur natürlichen und sozialen Umwelt, die umfassendes Orientierungswissen mit sich bringt; mit Koch gesprochen: Wir können nur denken, weil wir Moment eines allseitigen Wechselverhältnisses sind. Dennoch kann sich die Erstphilosophie als relativ voraussetzungslose Position entwerfen. Denn aufgrund ihrer Methode, der apriorischen und selbstbezüglichen Reflexion auf die allgemeinen epistemologischen, ontologischen, semantischen und logischen Voraussetzungen jeder Urteilspraxis, entwickelt sie Einsichten, die relativ weltanschaulich neutral sind und zugleich die Bedingungen der Möglichkeit jeder Weltanschauung oder Dogmatik darstellen. Damit kommt ihr gegenüber der Dogmatik die argumentativ stärkere Position zu. Es kommt ihr das (relative) Vorrecht des Allgemeinen vor dem Besonderen zu, so dass sie die Position der Dogmatik auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen und ggf. auch zu kritisieren hat. An der Behauptung der relativen Voraussetzungslosigkeit der Erstphilosophie ist auch gegenüber denjenigen theologischen Einwänden festzuhalten, die diese Position für unaufgeklärt (oder für sündig) halten. Genauer: Jede Analyse der Verfasstheit der Wirklichkeit, so ein theologischer und philosophischer Einwand, muss sich bewusst sein, dass sie einen eigenen, positionellen Zugang zur Wirklichkeit und ein eigenes, so oder so weltanschaulich oder theologisch gefülltes Wirklichkeitsverständnis mit sich bringt, das uns je schon prägt, da alle Menschen ein so oder so gefülltes Verständnisse der Wirklichkeit haben. Das uns prägende Wirklichkeitsverständnis aber bestimmt wiederum unser Verständnis vom Zugang zur Wirklichkeit mit. Diese wechselseitige Bedingung von Wirklichkeitsverständnis und Zugang zur Wirklichkeit ist der Grund dafür, dass niemand eine relativ voraussetzungslose Position entwickeln kann. Jede Erstphilosophie, die anderes behauptet, so der Ein-
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wand, ist eine über sich selbst unaufgeklärte Form positioneller Dogmatik.374 Demgegenüber ist folgendes festzuhalten: Zwar ist es richtig, dass jedes Denken Voraussetzungen hat. So gilt, dass unser Denken immer schon eingewoben ist in einen reichen Lebensprozess, in ein Kontinuum, durch das wir ebenso in Kontakt mit unserer natürlichen Umwelt sind, die sich von sich her zeigt, wie mit unserer sozialen Umwelt samt ihrer Traditionen, Sitten und Gebräuche.375 Wir können nur denken und handeln, weil wir zuvor eingewoben sind in diesen Lebensprozess, in dieses allseitige Wechselverhältnis, und weil wir somit eine ursprüngliche Vertrautheit mit unserer auf uns hin offenen natürlichen und sozialen Umwelt haben, durch die wir auch immer schon ein umfassendes Orientierungswissen in weltanschaulicher Perspektivierung haben. Und wir sind bleibend angewiesen auf das Eingewobensein in die ursprüngliche Vertrautheit mit unserer natürlichen und sozialen Umwelt; es ist also nicht so, als ob diese Vertrautheit etwa nur bei Kindern vorhanden wäre, bei Erwachsenen aber nicht mehr. Doch mir scheint, dass wir uns qua Reflexion aus den jeweiligen materialen Bestimmtheiten lösen können, in die wir eingewoben sind und die wir im Lebensprozess mitkonstituieren, wenn das denkerisch gefordert ist. Wir können uns qua Reflexion aufklären über die jeweiligen materialen Gehalte und diese dadurch – so sie vernünftig sind – in ihrer Allgemeinheit bestätigen oder diese – so sie nicht vernünftig sind – weitgehend korrigieren oder abstoßen (und faktisch, so scheint es mir, vollziehen wir diesen Prozess in vorphilosophischer, methodisch meist ungeklärter Weise ununterbrochen). Wenn die jeweiligen materialen Inhalte als vernünftig erkannt und damit als Allgemeine in Geltung gesetzt werden, entwachsen sie gleichsam ihrer jeweiligen positionellen Ausgangssituation.376 Sie werden überführt vom Status der Voraussetzungshaftigkeit hin zu dem relativer Voraussetzungslosigkeit. Einerseits ist dieser Vorgang der Aufklärung über jeweilige Inhalte wohl unabschließbar. Denn wir sind erstens immer tiefer in einen ursprünglichen Lebensprozess hineinverwoben, als wir denkerisch aufhellen können; es zeigen sich uns zweitens immer mehr Aspekte 374 Siehe zu diesem Einwand etwa Christoph Schwöbel, Die Unverzichtbarkeit der Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens in der Dogmatik, in: Hermann Deuser, Dietrich Korsch (Hg.), Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, Gütersloh 2004, 102–118. 375 Siehe dazu Deuser, Religionsphilosophie, 260–340. 376 Selbstredend ist dieses Modell hegelianischen Zuschnitts.
272 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie der überreichen Wirklichkeit, und die jeweiligen Bedeutungen der Sachen sind drittens immer umfassender kohärentistisch miteinander verbunden, als wir durchklären können. Wir schlagen immer nur Lichtungen in denjenigen Urwald unseres Lebens, in dem wir wurzeln. Doch andererseits scheint es mir keine im Vorhinein gegebene Grenze in Bezug auf bestimmte materiale Inhalte zu geben, die diese Aufklärungsarbeit behindern oder einengen würde. Wir können den angedeuteten Status der Allgemeinheit nicht nur in Bezug auf unser technisches Wissen oder unser Begriffswissen erreichen, sondern auch in Bezug auf unser Orientierungswissen. Und sobald wir eine Lichtung geschlagen haben, ist diese als solche auch ernstzunehmen – bis zum Beweis des Gegenteils. Dieser Aufklärungsprozess ist in ausgezeichneter Weise in Bezug auf die Themen der Erstphilosophie möglich. Deshalb prägt das eigene, anschaulich geprägte Wirklichkeitsverständnis die erstphilosowelt phische Analyse der Urteilspraxis und die daraus erwachsende Analyse der Verfasstheit der Wirklichkeit nicht auf solche Art, dass diese erstphilosophische Analyse selbst in starkem Sinne weltanschaulich eingefärbt wäre. Denn es ist nicht nur möglich, innerhalb eines Wirklichkeitsverständnisses zwischen diesem Wirklichkeitsverständnis und der Wirklichkeit selbst zu unterscheiden – anders ausgedrückt: Es ist nicht nur möglich, innerhalb der Sprache zwischen Sprache und Wirklichkeit zu unterscheiden (was der Position des „internen Realismus“377 entspricht und zugleich eines der Implikate des hier vertretenen erkenntnistheoretischen und semantischen Realismus ist). Sondern es ist auch möglich, innerhalb des jeweiligen Wirklichkeitsverständnisses zu unterscheiden zwischen der besonderen materialen Verfasstheit dieses Wirklichkeitsverständnisses und dem damit mitgegebenen materialen Verständnis des Zugangs zur Wirklichkeit einerseits und denjenigen allgemeinen epistemologischen, ontologischen, semantischen und logischen Bedingungen der Möglichkeit, die anzusetzen sind, damit ein Wirklichkeitsverständnis überhaupt als ein Wirklichkeitsverständnis der Wirklichkeit und ein Zugang zur Wirklichkeit überhaupt als ein Zugang zur Wirklichkeit auftreten kann. Es ist möglich, auf die notwendigen strukturellen Momente epistemologischer, ontologischer, semantischer und logischer Art zu reflektieren, die für ein jeweiliges Wirklichkeitsverständnis anzusetzen sind, damit dieses überhaupt ein Wirklichkeitsverständnis sein kann. 377 Siehe dazu grundlegend Hilary Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt 1990.
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Ohne diese notwendigen Momente können in unserer Urteilspraxis keine Wahrheitsansprüche erhoben werden. Die Reflexionen auf diese notwendigen Momente heben wiederum innerhalb eines bestimmten Wirklichkeitsverständnisses und innerhalb einer bestimmten Urteilspraxis an. Sie beanspruchen aber, allgemein in Geltung zu stehen: Wenn sie als wahr erwiesen wurden, entheben sie sich damit ihrer Gebundenheit an die perspektivische Ausgangsposition. „Allgemein“ heißt in diesem Fall also, dass sie nicht nur innerhalb des bestimmten Wirklichkeitsverständnisses mit Allgemeinheitsanspruch auftreten, sondern dieses Wirklichkeitsverständnis gleichsam einzuklammern in der Lage sind, so dass sie selbst relativ weltanschaulich neutral oder voraussetzungslos sind. Ein solches Unternehmen begegnete uns in Kochs Erstphilosophie und Schellings negativer Philosophie. Die im Anschluss an Koch oder Schelling erreichten Bestimmungen mit erheblicher ontologischer Signifikanz sind entsprechend nicht weltanschaulich gefärbt oder implizit theologisch bzw. antitheologisch. Vielmehr sind sie Ausdruck einer Position, die in weltanschaulicher Hinsicht relativ voraussetzungslos ist. Damit stellen diese Bestimmungen gerade die Möglichkeitsbedingungen für die Entwicklung dieser oder jener Weltanschauung oder Dogmatik dar. Um nur exemplarisch an ein zentrales Ergebnis der Rekonstruktion Kochs zu erinnern: Damit man überhaupt Wahrheitsansprüche in Bezug auf mustergültige Einzelne erheben kann, muss man Indikatoren verwenden, da man sich sonst nicht eindeutig auf dasjenige mustergültige Einzelne beziehen kann, von dem geurteilt werden soll. Um aber Indikatoren zu verwenden, muss der Mensch als leibgeistige Einheit und nicht nach dem Modell des Geist-Körper-Dualismus begriffen werden, da er nur so Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren sein kann. Unabhängig davon, ob man Atheist oder Christ ist, muss man diese Annahmen vertreten, wenn man unsere Urteilspraxis überhaupt als sinnvolle in Anspruch nehmen will zur Entwicklung dieser oder jener Weltanschauung oder Dogmatik. Jede andere Position ist intern inkonsistent. Unabhängig davon also, ob man Christ oder Atheist ist, begeht man einen pragmatischen Selbstwiderspruch, wenn man in einem Urteil mit Wahrheitsanspruch eine dualistische Anthropologie vertritt. Denn man nimmt implizit dasjenige in Anspruch, was man explizit leugnet: die wesentliche Verbindung von Leib und Geist. Damit aber hat sich die ursprüngliche materiale Position des Vertretens der Leibseele-Einheit, die man etwa durch die eigene Tradition kannte, qua Reflexion aus ihrer ursprüng-
274 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie lichen weltanschaulichen Gebundenheit gelöst und ist allgemein (in dem eben dargelegten Sinne) geworden. Theologisch gesprochen und wiederum ins methodische gewendet lässt sich somit festhalten, dass Überlegungen wie die von Koch zeigen, dass auch die gefallene Vernunft unabhängig davon, welcher Konfession sie angehört, in Bezug auf grundlegende Strukturen der Verfasstheit der Wirklichkeit relativ erfolgreich in relativ eigenständiger Weise operieren kann. Die Überlegungen von Hegel und Schelling zeigen, dass auch die gefallene Vernunft Fragen nach dem Grund der Wirklichkeit relativ erfolgreich in relativ eigenständiger Weise zu bedenken vermag. Gegen Luther und die gegenwärtigen Vertreter seiner Position ist somit festzuhalten, dass die Vernunft sich zwar jeweils in Traditionen vorfindet, aber in Bezug auf die Grundstrukturen der Wirklichkeit (auf die Potenzen, mit Schelling gesprochen) gleichwohl orientierungsfähig ist. – Mit Luther meine ich allerdings, dass der Wille nicht aus sich heraus orientierungsfähig ist, und dass die Vernunft nicht in der Lage ist, den Willen dazu zu bewegen, sich an einer bestimmten Entität auszurichten. Es ist somit die Situation denkbar, dass die Vernunft etwas aus sich heraus als wahr einsieht, ohne dass der Mensch sein Herz daran zu hängen vermag. In einer präzise zu bestimmenden Weise bleiben allerdings auch die relativ weltanschaulich voraussetzungslosen Einsichten der erstphilosophischen Position perspektivisch. Denn Perspektivität begegnet uns auf zwei Ebenen, auf der Ebene der mustergültigen Urteile (also der Wahrnehmungsurteile) und auf der Ebene der Reflexion über die mustergültigen Urteile. So sind unsere mustergültigen Urteile in präzise zu bestimmender Weise perspektivisch in Bezug auf den Gegenstand und in Bezug auf das Erkenntnissubjekt. Perspektivität heißt in Bezug auf den Gegenstand meiner Wahrnehmung, dass wir den Gegenstand nie vollständig wahrnehmen können, da er mir jeweils nur aus einer Perspektive – eben aus meiner – zugänglich ist. Ich sehe von dem roten Buch da vorne nie zugleich die Vorder- und die Rückseite; eines von beiden ist mir immer entzogen. Die Perspektivität heißt in Bezug auf das Erkenntnissubjekt, dass das Subjekt sich in seinen Aktivitäten als oberster Punkt des Ordnens (etwa als Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren) nicht gleichsam aus seiner Bezugnahme auf die endlichen Gegenstände oder auf das Absolute „herausrechnen“ kann (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.2.2.7.). In urteils- und bestimmungslogischer Hinsicht vollbringt das Subjekt konstitutive Leistungen für die erlangten Urteile und Bestimmungen.
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Zugleich sind auch die Reflexionen über die allgemeinen Bedingungen unserer Urteile (also der second-order-discourse) perspektivisch, da sie eine bestimmte Art der Hinsichtnahme der Urteile darstellen: eben diejenige, auf die allgemeinen Bedingungen der Urteile zu reflektieren. Auch bei diesen Reflexionen ist das Subjekt mit seinen Leistungen aktiv involviert. Aber weder die Perspektivität auf der Ebene der (Wahrnehmungs)Urteile noch die auf der Ebene der Urteile der Reflexion implizieren, dass die erstphilosophischen Urteile selbst perspektivisch im Sinne von „weltanschaulich eingefärbt“ sind. Denn beide Aspekte der Perspektivität auf der Urteilsebene sind materiale Ergebnisse, die aus der Perspektive der erstphilosophischen Reflexion erhoben worden sind. Die Perspektive erstphilosophischer Reflexion aber ist aufgrund ihrer Methode, der transzendentaltheoretischen Explikation der Implikationen unserer Urteilspraxis, selbst relativ weltanschaulich neutral, da sie doch auf die allgemeinen Bedingungen aller Urteile reflektiert und die jeweilige weltanschaulichen Grundannahmen dafür gerade einklammert und sich ihrer enthebt, so sie Allgemeines konstatiert. Sie ist diejenige Perspektive, die selbst nicht perspektivisch ist (wenn perspektivisch hier heißt: weltanschaulich eingefärbt). Dennoch ist die Erstphilosophie als Reflexion auf die Implikationen unserer Urteilspraxis keineswegs voraussetzungslos: Wie eingangs erwähnt, ist sie davon abhängig, dass das urteilende Subjekt bleibend in einen ursprünglichen Lebensprozess der Verbundenheit mit der natürlichen und der sozialen Umwelt eingebettet ist, mit denen das Subjekt in Wechselwirkung steht. Sie ist somit keine Theorie, die zu erklären (oder gar zu begründen) vermag, warum etwas ist und nicht viel mehr nichts (siehe dazu auch den vierten Aspekt). Zudem setzt Kochs Erstphilosophie ebenso wie Schellings negative Philosophie die Gültigkeit der klassischen Logik voraus. Trotzdem kommt der Erstphilosophie als dem in philosophischer Hinsicht relativ voraussetzungslosen Standpunkt gegenüber der positionellen Dogmatik das relative Vorrecht des Allgemeinen vor dem Besonderen zu. Entsprechend kommt ihr auch das Recht zu, die Position der Dogmatik auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen und somit zum einen Vernunft in der Religion namhaft zu machen, zum anderen aber auch, diese ggf. zu kritisieren.378 378 Die hier anvisierte Zuordnung zielt also nicht darauf ab, allgemeine erkenntnistheoretische Überlegungen einer dann folgenden, so oder so verfassten Ontologie voranzustellen (in der Annahme, beide ließen sich in einem stärkeren Sinne voneinander trennen). Vielmehr geht es darum, einen in geltungstheoretischer Hinsicht
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4.2.3. Dritter Aspekt: Die Instabilität der Erstphilosophie Die daraus resultierende relative Asymmetrie zwischen Erstphilosophie und Dogmatik ist jedoch andererseits wieder zu relativieren. Denn aufgrund ihrer eigenen Verfasstheit und der Gefährdetheit der Vernunft erreicht die Philosophie einerseits Einsichten, die sie eigentlich erreichen müsste, über lange Zeit nicht. Andererseits vergisst bzw. verdrängt sie einmal erreichte Einsichten auch wieder. Die Philosophie sollte auf die Dogmatik in der Erwartung hören, dass die Dogmatik sie an die von ihr verdrängten Einsichten erinnert. Genauer: Die Philosophie besitzt ihre eigenen Einsichten nie in stabiler Form. Neben der im vorigen Abschnitt erläuterten Einsicht, dass wir in einen immer reicheren Lebensprozess eingebunden sind, als wir denkerisch aufhellen können, gibt es dafür mindestens drei Gründe: Erstens besitzt die Philosophie die einmal erreichten Einsichten nur in der Form von Texten, die in jeder Generation neu und lebendig angeeignet werden müssen, um ihrem Gegenstand angemessen zu sein.379 Entsprechend hat die Erstphilosophie Zugriff auf ihr Thema jeweils nur im Modus kontroverser Debatten über die rechte Aneignung ihres Themas. Zweitens ist das Wechselverhältnis von Theorie und Sprache in Erinnerung zu rufen: Zwar können beide nicht dergestalt miteinander identifiziert werden, dass jede Änderung des sprachlichen Ausdrucks eine Änderung in der Theorie mit sich bringt. Dennoch haben wir Theorien nur in sprachlicher Vermittlung, und da es keine gleichsam „reine“, eindeutige und abgrenzbare Erstphilosophensprache gibt, sind unsere sprachlichen Bemühungen um die Erstphilosophien jeweils neuer Reflexion relativ voraussetzungslosen Zusammenhang von logischen, ontologischen, epistemologischen und semantischen Grundbestimmungen als grundlegend für alle so oder so weltanschaulich gebundenen Zusammenhänge von logischen, ontologischen, epistemologischen und semantischen Grundbestimmungen namhaft zu machen. In gröbster Vereinfachung folgt dieser Ansatz somit eher dem Hegels als dem Kants. – Sollte sich aufweisen lassen, dass die Erstphilosophie in stärkerem Maße weltanschaulich gebunden ist als hier dargestellt, so würde die Asymmetrie zwischen Erstphilosophie und Dogmatik in eine Symmetrie überführt werden; auch in diesem Fall aber wäre sie ein ausgezeichneter Gesprächspartner der Dogmatik. 379 Siehe dazu Koch, Wahrheit, Zeit und Freiheit, 7: „Die Philosophie ist eine alte Wissenschaft, doch ihre Lehren sind immer wieder neu. Allerdings sind sie im Unterschied zu mathematischen Sätzen nicht in Lehrbüchern fixierbar. Ihr Sinn verflüchtigt sich, wenn man sich nicht unablässig um ihren Gegenstand bemüht und sie statt dessen nur dem Wortlaut nach tradiert. Ist aber eine philosophische Lehre erst einmal aus ihren Formulierungen gewichen, so muß sie von Grund auf neu erarbeitet werden, als gäbe es auch den Wortlaut der Überlieferung nicht mehr.“
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zuzuführen.380 Drittens ist an eine Einsicht zu erinnern, die die Erstphilosophie an die Grenze dessen führt, was für sie erkennbar ist. So erkennt die Erstphilosophie, dass die Vernunft antinomisch verfasst ist und damit je die Möglichkeit zu dem besteht, was die Dogmatik dann, wenn es wirklich wird, als Sünde namhaft machen kann. Wenn die Erstphilosophie gewahr wird, dass sie aus genannten Gründen nur in instabilen Formen Zugriff auf ihre Themen hat, so ist ihr auch gewahr, dass sie evtl. immer wieder bereits erreichte Einsichten abdrängt, vergisst oder übersieht, und neue Einsichten nicht erreicht. Angesichts dessen fordert Koch, dass der Erstphilosophie eine „Tiefenphilosophie“ zur Seite gestellt wird, die auf eine solche Weise die abgedrängten Aspekte der Erstphilosophie namhaft macht, wie die Tiefenpsychologie verdrängte Aspekte unserer Psyche namhaft macht.381 Heidegger ist ein ausgezeichneter Vertreter einer Tiefenphilosophie, da er etwa auf die Unverborgenheit der Dinge und damit auf eine Dimension abendländischer Metaphysik hinweist, die durch dessen Geschichte hindurch und im 20. Jahrhundert gerade in der Analytischen Philosophie lange Zeit mit besonderer Verstocktheit verdrängt wurden. Die Dogmatik stellt für die Erstphilosophie einen ausgezeichneten Gesprächspartner dar, der der Erstphilosophie angesichts der ihr eigenen instabilen Verfasstheit hilft, im Austausch über die gemeinsamen Themen zu sachangemessenen Einsichten zu kommen. Zudem kann und hat sie die Erstphilosophie immer wieder auf verdrängte Aspekte ihrer Theoriebildung hingewiesen. Entsprechend liegt es in dem eigenen Interesse der Philosophie, das durch die Geschichte des abendländischen Denkens hindurch bestehende Gespräch mit der Dogmatik weiter fortzuführen. Zugleich 380 Ein wichtiger Einwand gegen den Anspruch, dass die erreichten erstphilosophischen Ergebnisse relativ weltanschauungsneutral sind, würde darauf verweisen, dass die weltanschauliche Gebundenheit der obigen Überlegungen bereits mit der grammatischen Struktur der verwendeten Sprache mit gegeben ist. Ganz andere, etwa außereuropäische Sprachen würden zu ganz anderen theoretischen Grundformationen führen: Vernunft ist Grammatik. Dieser Einwand ist m. E. von eminentem Gewicht, und er ist auch nicht durch den einfachen Verweis aus der Welt geschafft, dass laut Koch Theorie und Sprache ein eigenes Wechselverhältnis darstellen, welches die Möglichkeit der Theorie zu erstphilosophischen Überlegungen nicht verstellt. Im Rahmen dieses Buches kann dem Einwand aber nicht nachgegangen werden. Ich nehme ihn dergestalt auf, dass ich mich darauf beschränke, alle gemachten Aussagen auf „das Abendland“ (als umbrella term) zu einzugrenzen: Im Rahmen der abendländischen Sprachfamilien stehen die Überlegungen zur Erstphilosophie in Geltung. 381 Siehe dazu Koch, Versuch über Wahrheit und Zeit, 301.
278 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie kann sie die dabei namhaft gemachten Aspekte erst dann in ihre eigene Theoriebildung integrieren, wenn sie sich in einem erstphilosophischen Sinne als argumentativ stichhaltig erwiesen haben.
4.2.4. Vierter Aspekt: Erstphilosophie, Dogmatik, Meditation und das Absolute Dogmatik und Philosophie haben darin einen gemeinsamen Gegenstandbereich, dass sie die grundlegenden Strukturen der Verfasstheit der Wirklichkeit bedenken. Urteilstheoretische Überlegungen und Überlegungen zum ontologischen Gottesbeweis legen es nahe, dass der Grund der Wirklichkeit (oder das Absolute) der Philosophie nur in begrenztem Maße zur Theoriebildung zugänglich ist. Zwar ist das Absolute eine der Philosophie unaufgebbar eingeschriebene Frage. Zugleich aber gibt es gute Gründe dafür, dass die Philosophie nicht das Dass Gottes wird beweisen können, sondern nur sein Was bedenken kann. Entsprechend kann sie nur einige Kriterien sachgemäßer Rede von Gott entwickeln. Eine inhaltlich reichere Antwort sowie die Beantwortung der Frage, ob Gott ist, sind allein der Dogmatik zugänglich, welche diese Antworten der Offenbarung entnimmt. Es ist aus erstphilosophischer Perspektive legitim, sich auf diese in Meditation und Liturgie einzulassen. Genauer: Das Subjekt ist unaufhebbar einerseits oberster Punkt der Ordnung, von dem sich das Urteil aufbaut – etwa als Nullpunkt des Koordinatensystems der Indikatoren – und von daher außerordentlich. Andererseits ist das Subjekt kontingent und insofern von Anderem her. Als kontingentem Wesen ist ihm die Spur hin zum Absoluten unaufgebbar eingeschrieben. Es weiß also, dass es in einer Ordnungsrelation mit dem Absoluten steht. Zugleich ist die Denkbarkeit und Beweisbarkeit des Absoluten mit besonderen Schwierigkeiten versehen. So gibt es wichtige Einwände gegen den ontologischen Gottesbeweis, so dass viel dafür spricht, dass die Philosophie nur Kriterien sachgemäßer Rede von Gott formulieren kann. Diese allerdings legen fest, dass das Absolute als intern differenziertes und somit als solches zu denken ist, das strukturell in seinen Grundzügen dem trinitarischen Gott entspricht. Weitere Gehalte des Absoluten sowie die Frage, ob es das Absolute gibt, sind jedoch allein einer jeweiligen (speziellen) Offenbarung zu entnehmen, die selbst nicht mehr erstphilosophisch ausweisbar ist, aber aus erstphilosophischer Perspektive einen legitimen Ort einnimmt. Wie eingangs erwähnt, lässt die (spezielle) Offenbarung die gesamte Wirklich-
4. Anschlüsse und Übergänge
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keit in neuem Licht erscheinen. Die Reflexionen der Erstphilosophie öffnen sich somit von sich aus spekulativen Fragestellungen und auch einer jeweiligen Offenbarung, da sie in ihrer eigenen Reflexion auf die Frage nach dem Grund der Wirklichkeit übergeht und zugleich sieht, dass sie diese Fragestellung in ihrer Spekulation nur durch das Erstellen einiger Kriterien beantworten kann und für inhaltlich reichere Bestimmungen auf Offenbarung angewiesen bleibt. Faktisch bewegen wir uns immer in so oder so geprägten Überzeugungen in Bezug auf den Grund der Wirklichkeit, und wir sind stets darauf angewiesen, uns vor und nach aller Spekulation des Grundes der Wirklichkeit zu vergewissern als das der Vernuft Vorgängige, das sie Bereichernde und das sie Übersteigende – mithilfe des Geistes in Meditation und Liturgie. 382
4.2.5. Fünfter Aspekt: Der Gewinn der Dogmatik: Begründungen und Übersetzungsmanuale Der Selbstöffnung der Erstphilosophie hin zur Dogmatik entspricht eine Selbstöffnung der Dogmatik hin zur Erstphilosophie. Diese Öff Wegen der wesentlich inferentiellen Verfasstheit unserer Inhalte sind auch diejenigen Inhalte, die die erstphilosophischen Reflexionen betreffen, deshalb, weil die Vernunft in ihrer Genese jeweils von einer Weltanschauung mitgeprägt ist, eben nur als relativ voraussetzungslos anzusetzen. Aber die inferentielle Dynamik darf nicht verabsolutiert werden. Sie darf nicht vergessen machen, dass eine Erstphilosophie oder eine negative Philosophie dennoch hinsichtlich der epistemologischen, ontologischen, semantischen und logischen Bestimmungen, die sie in Bezug auf die allgemeinen Unterstellungen unserer Urteilspraxis bezüglich der Verfasstheit der Wirklichkeit entwickelt, gerade nicht implizit theologisch, sondern vielmehr (relativ) a-theologisch ist. Die inferentielle Dynamik darf die Grenze hin zu dem klar definierbaren Bereich erstphilosophischer Reflexion nicht einfach überrennen. Entsprechend ist denjenigen Theologien, die etwa im Gefolge von Quine und Putnam den holistischen Aspekt des jeweilige Wirklichkeitsverständnisses betonen, darin solange Recht zu geben, solange sie die holistische Dimension (mit Koch gesprochen: den dritten Wahrheitsaspekt) nicht überbetonen. Dies geschieht, wenn die Wissensansprüche des Wirklichkeitsverständnisses als so eng miteinander verflochten angesehen werden, dass als einzige Möglichkeit ihrer Verifikation die „pragmatische Bewährung der Gesamtüberzeugungssysteme“ übrig bleibt (so Dirk-Martin Grube, Unbegründbarkeit Gottes? Tillichs und Barths Erkenntnistheorie im Horizont der gegenwärtigen Philosophie, Marburg 1998, 204). Damit würde sich die Theologie jeder Möglichkeit der Diskussion mit der Philosophie begeben. Wie Koch zeigt, bietet „die gegenwärtige Philosophie“ andere, semantisch (da begründungstheoretisch) härtere Bewährungsmöglichkeiten für diejenigen Teilbereiche eines Gesamtüberzeugungssystems, die sich der Verfasstheit der Wirklichkeit widmen, als Grube das meint. 382
280 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie nung geschieht nicht nur deshalb, weil die Dogmatik von sich aus motiviert ist, die differenzierten Überlegungen der Erstphilosophie wahrzunehmen, da sie bestrebt ist, sich mit anderen Wahrheitsansprüchen auseinander zu setzen und sich von diesen weitere Begründungen für die eigene Position liefern zu lassen. Sie geschieht auch nicht nur deshalb, weil die skizzierten erstphilosophischen Überlegungen der Dogmatik einen legitimen Platz zuweisen. Vielmehr kann die Dogmatik diese relativ voraussetzungslosen, aber inhaltlich nicht allzu reichen erstphilosophischen Bestimmungen selbst theologisch re-identifizieren als diejenigen allgemeinen Strukturen, durch die Gott geschöpfliche Kommunikation etabliert. Zugleich erhält die Dogmatik mit der erstphilosophischen Metaphysik ein Instrument (ein Übersetzungsmanual) für die Kommunikation mit anderen Dogmatiken und Weltanschauungen. Genauer: Angenommen, die bisherigen Aspekte (und gerade der zweite) wären sachangemessen, so hätte die Dogmatik aus verschiedenen Gründen Interesse daran, sich mit der Erstphilosophie ins Gespräch zu begeben. So denkt die Dogmatik der im Glauben zugänglichen Offenbarung Gottes, des einen Herrn über alle Wirklichkeit, nach und erhebt somit selbst öffentliche Wahrheitsansprüche in Bezug auf den Grund und die Verfasstheit der Wirklichkeit. Entsprechend muss sie sich mit alternativen Wahrheitsansprüchen auseinandersetzen. Dies gilt umso mehr, als sie darauf hoffen kann, durch den Austausch mit der langen philosophischen Tradition kategorialer Reflexion Gewinn für ihre eigene Auseinandersetzung mit dem Gegenstand zu schlagen. Dabei wird die Selbstöffnung der Dogmatik durch die materialen Bestimmungen der Erstphilosophie erleichtert. Denn es stellte sich in erstphilosophischer Hinsicht nicht nur heraus, dass das Subjekt sich von sich aus auf das Absolute hin öffnet. Vielmehr wurde auch deutlich, dass die Erstphilosophie die Frage, ob das Absolute existiert oder nicht, kaum wird beantworten können. Zudem bedarf die Erstphilosophie auch zu einer inhaltlich reicheren Bestimmung des Absoluten sowie zu seiner Bestimmung im Handeln in der Geschichte der Offenbarung, so dass der Überschritt zur Offenbarung auch in erstphilosophischer Perspektive einen legitimen Ort einnimmt. Zugleich ist aber zuzugestehen, dass die erstphilosophisch erhobenen Positionen in Bezug auf die allgemeinen Strukturen der Verfasstheit der Wirklichkeit gegenüber den materialen Bestimmungen der Dogmatik mit einem nicht geringen Geltungsanspruch auftreten. Um an eine ontologische Implikation unserer Urteilspraxis zu erinnern, sei festgehalten,
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dass ein Gott mir so oft, wie er will, offenbaren mag, dass ich mich auch unter der Annahme einer dualistischen Anthropologie auf das rote Buch da vorne beziehen kann: Sobald ich das als Urteil mit Wahrheitsanspruch äußere, begehe ich einen pragmatischen Widerspruch. Unter der Annahme, dass die Erstphilosophie in der skizzierten Weise möglich ist, kann den Geltungsansprüchen der Erstphilosophie somit nicht ausgewichen werden. Auch der Verweis auf den bekannten alternativen Ansatz einer reinen Offenbarungstheologie wirkt schal. So kann man zwar auf eine reine Offenbarungstheologie verweisen, die ohne Bezug auf eine Erstphilosophie allein von der Offenbarung Gottes her denken und sich von daher alle materialen und methodischen Bestimmtheiten geben lassen will, um dadurch der Freiheit und Gottheit Gottes den ihr angemessenen Raum einzuräumen. Gegen diese reine Offenbarungstheologie ist aber darauf zu verweisen, dass auch sie in dem Moment, in dem sie ihre Inhalte in Urteilen äußern will, selbst den allgemeinen epistemologischen, ontologischen, semantischen und logischen Voraussetzungen jeder Urteilspraxis unterliegt. Verletzt sie diese, so wird ihre Rede wie jede Rede selbstwidersprüchlich und damit unverständlich und verliert somit ihren ihr von ihrem Gegenstand her zukommenden Anspruch auf öffentliches Gehör. Um an den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch als eine logische Implikation unserer Urteilspraxis zu erinnern: Dass das rote Buch da vorne zu gleicher Zeit und in derselben Hinsicht rot und nicht rot ist, ist auch dann eine unverständliche Aussage, wenn ein Gott sie frei offenbarte.383 In ihrer Abwehr einer reinen Offenbarungstheologie 383 Positionen, die meinen, dem zu widersprechen, sind als das zu bezeichnen, was sie sind: non-sense. Dieser Vorwurf ist auch Karl Barth zu machen, wenn er mit einer recht unklaren Aussage meint, gegen den Satz vom Widerspruch verstoßen zu können. Barth schreibt in Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I/1, Zürich 1932, 7, im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbegriff von Heinrich Scholz: „Schon das Mindestpostulat der Widerspruchsfreiheit ist für die Theologie nur in ganz bestimmter, für den Wissenschaftstheoretiker schwerlich tragbarer Interpretation annehmbar: Die Theologie wird zwar keine prinzipielle Unaufhebbarkeit der von ihr geltend zu machenden ‚Widersprüche‘ behaupten. Aber die Sätze, in denen sie ihre Aufhebung behauptet, werden Sätze über das freie Handeln Gottes und also keine die Widersprüche ‚aus der Welt schaffenden‘ (a.a.O. S. 44) Sätze sein. [. . .] Ohne Verrat an der Theologie kann hier kein Iota zugegeben werden, denn jede Konzession hieße hier Preisgabe des Themas der Theologie.“ Wenn Barth mit diesen Sätzen meint, dass die Sätze über das freie Handeln Gottes – etwa um der Sicherung der Freiheit Gottes willen – auch Widersprüche beinhalten können, wenn ihr Gegenstand das erfordert, so ist diese Position als sinnlos abzulehnen. Wenn er hingegen meint, dass die von der Theologie zu machenden Widersprüche gar keine sind, sondern vielmehr nur „Widersprüche“, also etwa Paradoxien o. ä., da sie prinzipiell auf-
282 2. Kapitel: Wahrheit, Leib und Sprache. Grundzüge einer Erstphilosophie könnte die hier vertretene Position somit als eine eigentümliche Variante der Zuordnung der beiden aufeinander nicht reduzierbare, aber aufeinander hingeordneten Größen von Gesetz (Erstphilosophie) und Evangelium (Dogmatik) gefasst werden. Statt sich gegen die Erstphilosophie zu wenden, sollte die Dogmatik die erstphilosophischen Positionen unter drei Aspekten konstruktiv aufnehmen. Erstens sollten die allgemeinen Voraussetzungen aller Urteile selbst theologisch re-identifiziert werden: etwa als allgemeine Strukturen, die Gott mit der Schöpfung mitgegeben hat und die die Kommunikation unter Geschöpfen ermöglicht. Gott hat sich selbst dazu bestimmt, diese Strukturen nicht außer Kraft zu setzen, sondern sie als Medium seiner Kommunikation zu benutzen. Zweitens sollte die Dogmatik die materialen Bestimmtheiten dieser Positionen zum Anlass nehmen, um zu prüfen, ob nicht in der eigenen Tradition vergleichbare Positionen vorliegen. Wie wir sehen werden, ist etwa Luthers Gottesbegriff selbst trinitarisch verfasst und entspricht damit in Grundzügen der internen Vermittlung des Absoluten bei Schelling. Zudem sind die Dinge laut Luther in eigener Weise Wörter, die auf den Menschen hin geöffnet und gerade so Gaben sind, so dass Luther mit grundlegenden Bestimmungen Kochs und Schellings übereinstimmt und als Realidealist eigener Prägung gefasst werden. Auch das Eingebundensein in die Kommunikation mit anderen Menschen sowie die eigene Kontingenz machen genuin religiöse Dimensionen sichtbar, die zudem in einer umfassenden Dogmatik zu verankern sind. Drittens sind die Bestimmungen der Erstphilosophie als ein Instrumentarium anzusehen, das hilft, um mit anderen Dogmatiken und Weltanschauungen zu kommunizieren. Auch wenn die präsentierte allgemeine, aber recht inhaltsarme (general, but thin) Metaphysik mit umfassenden Geltungsansprüchen auftritt, kann sie auf diese Weise der Dogmatik doch gute Dienste tun. In dieser Hinsicht kann sie als eine Magd der Dogmatik angesehen werden – allerdings als eine besonders emanzipierte Magd, aber das mag in unserer spätmodernen Moderne vielleicht auch nicht zu überraschen. Damit ist das Ende der Überlegungen zu den Anschlüssen und Übergängen zwischen den erstphilosophischen und den theologischen Reflexionen und damit das Ende der Überlegungen zum Anschluss zwischen hebbar sind, so ist nichts gegen diese Position zu sagen; es wäre dann aber zu betonen, dass auch Barth bestimmte logische Voraussetzungen unserer Rede über das freie Handeln Gottes akzeptieren würde.
4. Anschlüsse und Übergänge
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dem zweiten und dem dritten Teil des vorliegenden Buches (Zweites Kapitel, 4.) erreicht. Vertiefungen der bisher genannten Verbindungen sowie weitere Konnexe werden im vierten Teil des Buches entwickelt (siehe Viertes Kapitel). Bevor sie dargelegt werden, ist jedoch der Zielpunkt der Überlegungen des Buches vorzustellen: Luthers Metaphysik des Abendmahls (Drittes Kapitel).
Drittes Kapitel
Luthers Metaphysik des Abendmahls Im ersten Teil wurde eine Gegenwartsanalyse des technischen Zeitalters vorgelegt und im zweiten Teil eine kategoriale Analyse und Begründung zentraler Entitäten, die für die Gegenwartsanalyse ebenso von Bedeutung sind wie für Luthers Abendmahlslehre. Vor diesem doppelten Hintergrund wird im jetzt folgenden dritten Teil die späte Abendmahlslehre Martin Luthers präsentiert. Der dritte Teil ist in sich nochmals zweigeteilt. Zuerst wird ein Blick in die Forschungsgeschichte in systematischer Absicht geworfen (Drittes Kapitel, 1.), sodann erfolgt eine ausführliche, exegetisch kleinteilige und systematisch umfassende Auslegung von Luthers großen Abendmahlsschriften mit dem Ziel, Luthers Metaphysik des Abendmahls herauszuarbeiten (Drittes Kapitel, 2.).
1. Ein Blick in die Forschungsgeschichte in systematischer Absicht Das Ziel dieses Blicks in die Forschungsgeschichte besteht nicht darin, die kaum zu übersehende Sekundärliteratur zu Luther aufzuarbeiten. Vielmehr besteht das Ziel darin, solche Debatten um Luther in den Blick zu nehmen, die die Kontur der folgenden Lutherauslegung herauszuarbeiten helfen und die daher für das vorliegende Buch von besonderem Interesse sind. Dafür kommen sowohl solche Aspekte zur Sprache, die unsere Auslegung stützen, als auch solche, die widerlegt werden sollen. Vier Debatten werden rekonstruiert: Zuerst wird ein Blick auf Harnack, Holl und Hirsch geworfen. Denn diese Vertreter der Lutherrenaissance entwerfen in materialer Hinsicht ein Lutherbild, das unserem geradewegs entgegensteht, während sie (und besonders Hirsch) in methodischer Hinsicht den inneren Nexus von Gegenwartsanalyse, systematisch-kategorialer Fragestellung und Lutherexegese explizit machen, der auch für das vorliegende Buch leitend ist (Drittes Kapitel, 1.1.). Sodann erfolgt ein Seitenblick auf die Lutherexegese Karl Barths, um in Erinne-
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
rung zu rufen, dass die Debatten um Luther auch eine konfessionelle Dimension haben. Zudem wird sich die Nähe seines Lutherbildes zu dem seines Kollegen und Gegners Emanuel Hirsch herausstellen (Drittes Kapitel, 1.2.). Teil der konfessionellen Differenz und der Differenz von unserer Lesart zu der der Lutherrenaissance besteht in der Einschätzung der Stellung des göttlichen Wortes. Daher sei Luthers Entdeckung des Wortes des Evangeliums als ein solches, das dasjenige Heil mit sich bringt, von dem es redet, anhand der Arbeiten von Ernst Bizer skizziert (Drittes Kapitel, 1.3.). In den späten Abendmahlstexten begegnet Luther jedoch nicht nur als ein Theologe des Wortes, sondern auch als ein Theologe der Gabe. Um das genauer zu konturieren, werden diejenigen Aspekte der gegenwärtig höchst lebendigen internationalen und interdisziplinären Diskussion um die Gabe präsentiert, die für die dann folgende Auslegung von Luthers großen Abendmahlsschriften von direkter Relevanz sind (Drittes Kapitel, 1.4.).
1.1. Der frühe Luther als der wahre: Im Umkreis der Lutherrenaissance 1.1.1. Adolf von Harnack: Der „wahre Luther“ und das falsche Sakramentsverständnis Harnack präsentiert Luther als einen Denker, bei dem gewisse Züge noch ins Mittelalter zurückverweisen, während andere bereits die Neuzeit anbahnen. Entsprechend unterscheidet Harnack zwischen dem noch dem Mittelalter verhafteten „ganzen“ Luther einerseits und dem „wahren“1 Luther andererseits, der das Evangelium neu entdeckte und der daher auch für die Gegenwart von Relevanz ist. Diese Unterscheidung übernimmt Harnack von seinem Lehrer Albrecht Ritschl, 2 und sie weist Siehe Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Dritter Band, Die Entwicklung des kirchlichen Dogmas II und III, Freiburg 1890 (DG III), 814, und zum Folgenden im Ganzen Eginhard P. Meijering, Der „ganze“ und der „wahre“ Luther. Hintergrund und Bedeutung der Lutherinterpretation A. von Harnacks, Amsterdam 1983. 2 Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf von Harnack, hg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 2005, 163 sowie Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte. Erster Band: Die Entstehung des Kirchlichen Dogmas, vierte, neu durchgearbeitetee und vermehrte Auflage 1909 (DG I), 5 f., nimmt den zentralen Satz von Albrecht Ritschl, Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Bonn 1864, 60 f. auf, der lautet: „Der Protestantis1
1. Ein Blick in die Forschungsgeschichte in systematischer Absicht
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ihn ebenso wie Ritschl als Neuprotestanten aus.3 Wenn im Folgenden Harnack und nicht Ritschl genauer untersucht wird, so deshalb, weil Harnack tut, was Ritschl nicht tut: Er wendet diese Unterscheidung explizit und ausführlich auf Luthers Lehre vom Abendmahl an. Dabei kommt er zu einem für das vorliegende Buch provozierenden Ergebnis, da er zumindest die reife Gestalt von Luthers Abendmahlslehre dem mittelalterlichen ganzen und damit nicht dem für die Gegenwart relevanten wahren Luther zuordnet.4 Das sei kurz expliziert. Luther vollzieht in methodischer Hinsicht gegenüber dem Spätmittelalter dasjenige, was Harnack selbst in seiner Dogmengeschichtsschreibung gegenüber der gesamten Kirchengeschichte tut: Er reduziert das vorhandene Material auf das Wesentliche.5 In materialer Hinsicht ist dieses Wesentliche als das Evangelium zu bestimmen, 6 das den Kern der mus ist nicht in voller Kraft und Rüstung, wie die Athene aus dem Haupte des Zeus entsprang, aus dem mittelaltrigen Schooße der abendländischen Kirche entbunden worden.“ Vielmehr gilt, was Albrecht Ritschl, Festrede am vierten Sekulartage der Geburt Martin Luthers, Göttingen 1883, 14, so formuliert: „Die reformatorischen Ideen sind also in den theologischen Büchern Luthers und Melanchthons selbst mehr verdeckt als offenbar“ – was aber dennoch nicht verunmöglicht, den Kern von Luthers Denken aus diesen verdeckten Gedankenreihen herauszuschälen, so aaO., 15. Zu dem dergestalt differenzierten Bild Luthers bei Ritschl siehe auch Frank Hofmann, Albrecht Ritschls Lutherrezeption (Die lutherische Kirche. Geschichte und Gestalten 19), Gütersloh 1998, zusammenfassend aaO., 259 f. 3 Siehe zur Lutherdeutung des Neuprotestantismus Walther von Loewenich, Luther und der Neuprotestantismus, Witten 1963, 15–143. 4 Vor Harnack hat bereits Richard Rothe Luthers Abendmahlslehre kurz als Relikt mittelalterlichen Denkens gekennzeichnet, siehe Richard Rothe, Vorlesungen über Kirchengeschichte und Geschichte des christlich-kirchlichen Lebens II (hg. v. H. Weingarten), Heidelberg 1875, 334 und dazu Loewenich, Luther, 86. 5 Dass Luthers reformatorische Tat in methodischer Hinsicht als Reduktion auf das Wesentliche zu verstehen ist, erläutert Harnack auf DG III, 824. Harnacks eigene Methode legt er dar in Wesen, 17, wo er sich zudem gleichermaßen gegen die Darstellung des „ganzen Christus“ wie gegen die des „ganzen Luthers“ wendet. Auch wenn es im Einzelnen kleinere Verschiebungen zwischen Harnacks Wesensschrift und der Dogmengeschichte etwa im Bezug auf das Jesus-Bild gibt (siehe dazu Claus-Dieter Osthövener, Adolf von Harnack als Systematiker, in: ZThK 99 (2002), 296–331, v. a. 316–318) und die Wesensschrift die systematisch konzentriertere Schrift ist, gehen beide doch im Wesentlichen parallel, so dass im Folgenden auf beide Schriften zurückgegriffen wird. 6 Siehe dazu die zusammenfassende Bemerkung auf Harnack, DG III, 902; dort heißt es: „Da erschien Luther, um die ‚Lehre‘ wieder aufzurichten, zu der Niemand mehr ein inneres Zutrauen hatte. Die Lehre aber, die er aufrichtete, war das Evangelium als eine frohe Botschaft und als eine Kraft Gottes. Dass sie das sei erhob er auch zum obersten, ja einzigen Grundsatz der Theologie. [. . .] Indem Luther diese Gedan-
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
Religion als solcher ausmacht.7 Das Evangelium ist deshalb frohe Botschaft, weil es Offenbarung der Gnade Gottes in Christus ist und betont, dass Gott allein den Glauben gibt.8 Mit dieser Reduktion des Christentums auf das Evangelium als frohe Botschaft wird das Evangelium von seiner Form als Dogma befreit und damit von derjenigen Form, in der es im Spätmittelalter präsent war. Das Dogma ist laut Harnack noch nicht bei Jesus oder in der Urgemeinde zu finden. Vielmehr ist es, um mit dem berühmten Zitat zu sprechen, „in seiner Conception und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums.“9 Es ist dadurch gekennzeichnet, dass „die begrifflichen Mittel, durch welche man sich in der antiken Zeit das Evangelium verständlich zu machen versucht hat, mit seinem Inhalt verschmolzen und zum Dogma erhoben worden sind.“10 Das bedeutet in methodischer Hinsicht, dass das Christentum zu einer Religion der Lehre wird. Es steht nicht mehr das Erleben Gottes am Anfang des religiösen Lebens, sondern der Mensch hat zuerst der jeweiligen Lehre zuzustimmen, ehe er in Beziehung zu Gott treten darf.11 In materialer Hinsicht bedeutet die Verschmelzung der begrifflichen Explikationsmittel des Evangeliums mit seinem Inhalt, dass nun Aspekte spekulativer Substanzmetaphysik wie die in Kategorien der Natur gedachten Göttlichkeit Jesu Christi und seine Präexistenz als Logos zum Kernbestand des Glaubens erklärt werken geltend machte, zerschlug er, der conservativste Mann, die alte Kirche und setzte der Dogmengeschichte ein Ziel. Sie hat ihr Ziel an der Rückkehr zum Evangelium erhalten.“ 7 Dass das Evangelium gerade wegen seiner Konzentration auf die frohe Botschaft, die von Gott dem Vater und dem unendlichen Wert der menschlichen Seele handelt, „die Religion selbst“ ist, wird erläutert auf Harnack, Wesen, 43. Harnack, DG III, 809, sieht Luther zum paulinischen Christentum zurückkehren und damit nicht zur Evangeliumspredigt Jesu selbst, aber in besagter Betonung des Evangeliums als froher Botschaft sind Jesus und Paulus vergleichbar. 8 Harnack, DG III, 823. Dieses Verständnis ist mit vier Grundsätzen verbunden, an denen Luther stets festgehalten hat: Erstens ist die Kirche nicht durch äußere Autorität, sondern durch das Wort Gottes begründet. Zweitens besteht der Kern des Wortes Gottes in der Predigt der Offenbarung Gottes, nicht in der bunten Vielfalt der Schrift. Drittens ist die Kirche ganz vom Wort Gottes geformt und alle anderen ihrer Aspekte gelten ihr als nicht wesentlich. Viertens: Da allein der Glaube entscheidend für die Gottesbeziehung ist und nicht ein eigener Frömmigkeitsstil, wird die gesamte Weltwirklichkeit mitsamt ihren Ordnungen wie Staat und Familie als Betätigungsfeld des Glaubens geöffnet, siehe dazu siehe Harnack DG III, 827–834. 9 Harnack, DG I, 20. 10 Harnack, DG I, 20. 11 Siehe dazu Harnack, Das Wesen, 119 f.
1. Ein Blick in die Forschungsgeschichte in systematischer Absicht
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den. Auch wenn die Umformung des Christentums ein im Verlauf der Geschichte jeweils notwendiger und somit auch legitimer Vorgang ist,12 so entfernt sich das Christentum durch die Verabsolutierung dieser Form der Umformung seiner Inhalte doch von demjenigen Evangelium, das Jesus selbst predigte. Im Spätmittelalter ist die Dogmatisierung des Christentums so weit fortgeschritten, dass die Differenz zum ursprünglichen Evangelium nicht mehr wahrgenommen wird. Luthers reformatorische Tat besteht darin, diese Differenz erneut zu etablieren.13 Dadurch erweist er die Illegitimität der Absolutsetzung des Dogmas und führt somit in geltungstheoretischer Perspektive die Dogmengeschichte an ihr Ende.14 Es gibt aber noch eine andere Seite an Luther, so dass nicht nur von dem „wahren“, reformatorischen, sondern auch noch von dem „ganzen“, spätmittelalterlichen Luther die Rede sein muss. Denn Luther ist nicht nur der Befreier vom Dogma, sondern zugleich selbst noch in dieses verstrickt. Aus einer Vielzahl von Gründen15 finden sich in Luthers Theologie vier Aspekte, die tief im mittelalterlichen Dogma verwurzelt sind. Für das vorliegende Buch sind der erste, der zweite und der vierte von Harnack verurteilt somit nicht die sich in der Begegnung mit dem Hellenismus vollziehende Umformung des Christentums als solche; vielmehr sieht er es als notwendig an, dass das Evangelium in den verschiedenen geschichtlichen Phasen je in neuer Form expliziert wird, siehe Harnack, DG I, 24 Anm. 1 und Harnack, Wesen, 110. Das Problem des Dogmas besteht allein darin, dass die Form seiner Explikation zum Kern seines Inhaltes gezählt wurde. 13 Dazu setzt er sich in sieben Hinsichten von der spätmittelalterlichen Theologie ab: Er wendet sich gegen den gesamten Stil einer Theologie, die eine metaphysische Gotteslehre und eine spekulative Christologie entwirft, anstatt sich auf die Vermittlung des Heils zu konzentrieren. Zudem attackiert er das christliche Ideal asketischer Vollkommenheit ebenso wie das Sakramentsverständnis, das die Gnade in substantialistischer Vorstellung als quasi-dingliches Gut ansieht. Des Weiteren wird das ganze hierarchische Kirchensystem angegriffen und mit ihm der Gottesdienst, der anderes als die Erbauung des Glaubens durch das Wort sein will. Schließlich bestreitet Luther die Legitimität aller anderen Autoritäten als der Schrift und stellt im Zuge dessen die gesamte scholastische Terminologie auf den Prüfstand, siehe Harnack, DG III, 849–860. 14 Harnack, DG III, 861, schreibt: „In der Reformation Luther’s ist das alte dogmatische Christenthum abgethan und eine neue evangelische Auffassung an die Stelle desselben gesetzt.“ 15 Luther fehlten die Bildung und das geschichtliche Bewusstsein, um die Differenz zwischen der altkirchlichen Theologie und der des Neuen Testamentes zu bemerken. Zudem besaß er nie den Impuls, seine Theologie in systematischer Geschlossenheit zu präsentieren, um auf diesem Wege eine strenge Trennung von Altem und Neuem vorzunehmen, so Harnack, DG III, 864–869. 12
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
besonderem Interesse. Erstens hat Luther in methodischer Hinsicht das Evangelium doch nicht rein von der Spekulation geschieden und dieser somit einen eigenen Wert zugeschrieben. Dies zeigt sich, zweitens, in materialer Hinsicht darin, dass er weiterhin die altkirchlichen Dogmen anerkennt und ihnen zudem eine eigene, spekulative Fassung verleiht: „Da er [Luther, M. W.] die Einheit von Gottheit und Menschheit in Christus so streng fasste, wie kein Theologe vor ihm, musste er im Rahmen der Zweinaturenlehre auf jene entsetzlichen Speculationen über die Ubiquität des Leibes Christi gerathen, die sich auf den höchsten Höhen scholastischen Widersinns bewegen. Die traurige Folge war, dass das Lutherthum – als nota ecclesia – in der Christologie zunächst die ausgeführteste scholastische Doctrin erhielt, die je eine Kirchengemeinschaft erhalten hat. Es wurde dadurch auf fast 200 Jahre ins Mittelalter zurückgestoßen.“16 Zudem hat Luther, drittens, an einem Verständnis der Schrift festgehalten, das oftmals den Buchstaben mit dem Geist gleich setzte. Viertens fiel der spätere Luther in Bezug auf die Gnadenmittel und dabei gerade im Streit mit den Schwärmern hinter seine eigene reformatorische Position zurück.17 Dies äußert sich bereits in seiner Theologie der Kindertaufe und der Buße. Ihren Tiefpunkt erreicht diese Tendenz in der Behandlung des Abendmahls. Zwar finden sich etwa im Kleinen Katechismus Aussagen, die im Sakrament allein dem Wort die Kraft zur Heilsvermittlung zuschreiben. Zugleich wird Luther aber von Karlstadt und Zwingli zu anderen Aussagen getrieben und erreicht dabei eine Position, die dem mittelalterlichen ex opere operato gleicht, da sie dem Sakrament als solchem magische Fähigkeiten zuschreibt. Somit wird der „geistige Charakter der christlichen Religion“18 nicht in seinem vollen Ernst ausgeprägt. „Durch die Fassung, die Luther der Abendmahlslehre gegeben hat, hat er es mit verschuldet, dass die spätere lutherische Kirche in ihrer Christologie, in ihrer Sacramentslehre, in ihrem Doctrinarismus und ihrem falschen Massstabe, mit dem sie abweichende Lehren mass und für Ketzereien erklärte, eine kümmerliche Doublette zur katholischen Kirche zu werden drohte.“19 Gegenüber diesen Tendenzen des Rückfalls ist es laut Harnack daher die Aufgabe des gegenwärtigen Protestantismus, die Sache der Reformation weiter zu führen und mit dem wahren und Harnack, DG III, 875. Siehe zum Folgenden Harnack, DG III, 880–896. 18 Harnack, DG III, 882. 19 Harnack, DG III, 894. 16
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1. Ein Blick in die Forschungsgeschichte in systematischer Absicht
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gegen den ganzen Luther die Reinigung der Theologie von ihren dogmatischen Resten voranzutreiben, um sie so vor der Neuzeit verantworten zu können.20 Deutlich ist, dass Harnack die reife Abendmahlstheologie des alten Luthers und damit das Thema des vorliegenden Buches nicht dem wahren, reformatorischen und in die Neuzeit weisenden, sondern dem ganzen Luther zuschreibt, der im spätmittelalterlichen Dogma gefangen ist und somit weiterer reformatorischer Reinigung bedarf. Ehe die von Harnack selbst angeführten Kriterien für die Trennung zwischen wahrem und ganzem Luther weiter untersucht werden, sei eine zentrale Interpretationshypothese eingeführt, die auch für die Rekonstruktion von Holl und Hirsch von Bedeutung sein wird. Sie lautet in formaler Hinsicht, dass Harnacks Rekonstruktion Luthers nicht allein durch die eben namhaft genannten Bestimmungen geleitet wird, sondern vielmehr noch durch andere. Diese anderen Bestimmungen werden von Harnack selbst gleichsam am Rande seiner eigenen Interpretationen mitgeführt, sie werden von ihm aber nicht eigens als wichtige Kriterien der Unterscheidung des wahren vom ganzen Luther benannt. Unsere Interpretationshypothese besagt in materialer Hinsicht, dass diese Bestimmungen als ein Dual zu fassen sind, welches Harnack aus der Theologie und dem Lutherbild seines Lehrers Ritschl übernimmt.21 Wie Ritschl operiert Harnack mit einem Dual, das sich in Hinsicht auf die betroffenen Disziplinen als Entgegensetzung von Religion einerseits und (Substanz-) Metaphysik andererseits und in Hinsicht auf die betroffenen Inhalte als Entgegensetzung von Geist einerseits und Substanz sowie Sakramentalität andererseits beschreiben lässt. Nicht nur implizit, sondern auch explizit differenziert Harnack zwischen (wahrer) Religion einerseits und ihrer Dogmatisierung andererseits. Da sich letztere als spekulative Substanzmetaphysik präsentiert, operiert Harnack mit dem Dual von Religion einerseits und Metaphysik andererseits und ordnet die Metaphysik und damit auch solche Theolo Siehe Harnack, DG III, 902 und Harnack, Wesen, 165–168. Siehe zur Prägung der Theologie Ritschls dazu Albrecht Ritschl, Theologie und Metaphysik, in: Albrecht Ritschl, Kleine Schriften. Ausgewählt, eingeleitet und mit einer Bibliographie der Sekundärliteratur zu Albrecht Ritschl neu herausgegeben von Frank Hofmann, Waltrop 1999, 66–142. Risto Saarinen, Gottes Wirken auf uns. Die transzendentale Wirkung des Gegenwart-Christi-Motivs in der Lutherforschung, Stuttgart 1998, 9–42, führt aus, wie Ritschls Lutherbild von diesem Dual geprägt ist. 20 21
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gumena wie die Ubiquitätslehre, die für Luthers Abendmahlsverständnis von zentraler Bedeutung sind, dem ganzen, mittelalterlichen Luther zu. Auch der zweite Aspekt des Duals, der von Geist und Substanz, wird von ihm an verschiedenen Stellen seines Werkes explizit gemacht. Zwar stellt Harnack einerseits dar, dass das Christentum keine asketische Religion ist, sondern das Evangelium vielmehr in der Welt wirkt und die gesamte Welt in ihren Dienst nehmen kann und soll.22 Andererseits aber sieht Harnack den Geist nicht nur im Gegensatz zu der sündigen Welt. Vielmehr setzt er ihn gegen die Materie und gegen weltliche Vermittlung als solche. Entsprechend ist das Christentum im letzten etwas „rein Geistiges“.23 Daher haben die Sakramente ihre Bedeutung allein an dem Wort, das streng gegen den Sakramentarismus gestellt wird und jedes Gnadenmittel gleichgültig werden lässt.24 Unsere Interpretationshypothese besagt also, dass das Dual von Religion und Metaphysik bzw. von Geist und Substanz bei Harnack untergründig als Kriterium für die Unterscheidung des wahren vom ganzen Luther fungiert. Wenn man die späten Abendmahlsschriften Luthers genauer liest, so ist Harnack darin Recht zu geben, dass Luther einen Paradigmenwechsel von einer Substanzontologie hin zu einer kommunikativ-relationalen Ontologie vollzieht. Allerdings ist Luthers kommunikativ-relationale Ontologie gerade nicht durch die abstrakte Entgegensetzung gegen die Metaphysik bestimmt, so dass diese auch kaum als letzter Rest mittelalterlichen Denkens zu fassen ist. Auch ist Luthers Verständnis von Geist und Person nicht durch einen einfachen Gegen22 Entsprechend stellt Harnack, DG III, 889 auch in Bezug auf das Abendmahl fest, dass „die verschiedenen sinnlichen Zeichen, unter denen das Wort gereicht wird, keineswegs gleichgiltig sind, und dass sie das Werk des geschichtlichen Christus in verschiedener Weise den Herzen nahe bringen.“ Die mit diesem Zitat entstehende Spannung zu den folgenden Aussagen im Fließtext ist als Spannung bei Harnack selbst festzuhalten. 23 Harnack, Wesen, 164. 24 Dem entspricht, dass laut Harnack das Evangelium in ursprünglicher Form allein von der unmittelbaren Beziehung zwischen Gott dem Vater und der menschlichen Seele handelt und der Sohn als Vermittlungsmoment nur im uneigentlichen Sinne dazugehört, siehe Harnack, Wesen, 43.85 mit dem berühmten Zitat: „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium“, sowie Harnack, DG I, 81. – Der auch von Harnack selbst so bezeichnete „Dualismus“ (Harnack, Wesen, 89) zwischen Geist und Materie verweist zwar auf eine ursprüngliche Einheit zurück, welche aber nicht für die theoretische Vernunft erschwinglich ist. Die Einheit wird allein in der praktischen Vernunft, im religiösen Erleben, verbunden und ist vor dem Forum der theoretischen Vernunft stets nur als Aufgabe präsent.
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satz gegen Sakramentalität und Substantialität definiert, sondern vielmehr durch die wesentliche Verbindung beider Entitäten.25 Das legt den Verdacht nahe, dass Harnack seine Unterscheidung von wahrem und ganzem Luther weniger aus seiner Arbeit als Historiker gewinnt denn durch systematische Annahmen, die ihm mehr oder weniger bewusst gewesen sein mögen. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn man die beiden Kriterien (und die um sie entspringende Debatte) bedenkt, die Harnack selbst in ausgezeichneter Weise für die Unterscheidung des wahren vom ganzen Luther namhaft macht. So ist es laut Harnack die höchste Aufgabe des Historikers, an geschichtlichen Erscheinungen zwischen Kern und Schale oder Form und Wesen zu unterscheiden 26 und auf diese Art auch zwischen dem wahren und dem ganzen Luther zu differenzieren. Diese Unterscheidung wird durch die Beobachtung ermöglicht, dass das Wesen großer Persönlichkeiten in ihrer Wirkungsgeschichte deutlich wird.27 Der wahre Luther ist mithin derjenige Kern des ganzen, der in der Geschichte gewirkt hat. Beide Kriterien wurden jedoch von Harnacks Zeitgenossen und namentlich von Ernst Troeltsch kritisiert. Troeltsch bemerkt zu dem ganzen Altprotestantismus und damit auch zu Luther: „In der Tat ist es 25 Harnacks Dual scheint somit eher von Descartes und von Kant geprägt zu sein als von Luther. In werkgenetischer Hinsicht ist der Einfluss von Kant und den Neukantianern auf Harnack im Einzelnen komplex und schwierig zu rekonstruieren, gerade weil Harnack, so Friedrich W. Graf, Der „Kant der Kirchengeschichte“ und der „Philosoph des Protestantismus“. Adolf von Harnacks Kant-Rezeption und seine Beziehungen zu den philosophischen Neukantianern, in: Kurt Nowak, Otto Oexle, Trutz Rendtorff und Kurt-Viktor Selge (Hg.), Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft, Wissenschaftliches Symposion aus Anlaß des 150. Geburtstages (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 204), Göttingen 2003, 113–142, 129, ein „Genie im Verwischen seiner Lesespuren“ war. Zudem ist festzuhalten, dass Harnack Kant zwar las und als Meisterdenker einordnete, aber nicht in die Spezialforschung zu Kant eintrat. In der hier interessierenden systematischen Hinsicht ist im Anschluss an aaO., 123 und 132 f. hervorzuheben, dass Harnack an Kant besonders die Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft hervorhob, die er – im Gefolge des weiteren Idealismus – anstrebte zu überwinden. Obige zentrale Stelle zeigt allerdings exemplarisch, dass Harnack selbst denjenigen Strategien der Überwindung der Trennung der praktischen und der theoretischen Vernunft, die etwa Hegel anwandte, selbst nicht in Anschlag brachte; mit seiner Strategie der Überwindung der Trennung in der Praxis kann Harnack selbst noch als im Gefolge Kants stehend gelesen werden. 26 Siehe Harnack, Wesen, 17. 27 Harnack, Wesen, 15, und Harnack, DG III, 810.
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das Eigentümliche seiner Ursprungsepoche, ein Doppelgesicht zu tragen, wovon das eine in die katholisch-abendländische und das andere in die moderne Ideen- und Kulturwelt hineinsieht.“28 Wichtig ist für Troeltsch, dass beide Seiten des Doppelgesichts so eng miteinander verwoben sind, dass sich die Möglichkeit einer säuberlichen Trennung des modernen Kernes von der mittelalterlichen Schale als Illusion erweist. In der vierten Auflage der Dogmengeschichte nimmt Harnack diese Kritik auf und gesteht zum einen zu, dass Luther nicht nur in der Peripherie, sondern auch „in manchen Tiefen seines Wesens eine altkatholisch-mittelalterliche Erscheinung“29 war. Zum anderen konzediert er, dass sich ab dem 17. Jahrhundert nicht mehr alle, sondern nur mehr alle „denkenden“30 Protestanten vom Dogma gelöst haben. Damit aber sind die beiden von Harnack selbst angeführten Kriterien für die Trennung zwischen dem wahren und dem ganzen Luther de facto unterlaufen. Dass Harnack die Unterscheidung gleichwohl aufrechterhält, spricht für unsere Interpretationsthese, dass Harnacks Unterscheidung in Wahrheit in starkem Maße von dem von ihm selbst nicht als Kriterium dieser Unterscheidung angesetzten Dual von Religion und Metaphysik bzw. Geist und Substanz geprägt ist und er von dieser systematischen Annahme her seine historischen Beobachtungen strukturierte.31 Ernst Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, hg. v. Volker Drehsen, in Zusammenarbeit mit Christian Albrecht, KGA 7, Berlin/New York 2004, 82. Auch wenn sich Troeltsch, Protestantismus, 505 f., anerkennend über Harnacks „schöne Skizze“ Luthers äußert und auch Harnack, DG III, 690 ff. die Kritik von Troeltsch freundlich aufnimmt und zu kaum mehr als einer Perspektivendifferenz herabzustufen versucht, so bleibt doch die von Troeltsch markierte Differenz zwischen beiden deutlich. Interessant ist, dass Troeltsch in dem Aufsatz Ernst Troeltsch, Luther und die moderne Welt, in: Ernst Troeltsch, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hg. v. T. Rendtorff in Zusammenarbeit mit S. Pautler, KGA 8, Berlin/New York 2001, 59–97, in dem er differenzierter ausführt, was an Luther selbst dem Mittelalter zuzurechnen ist und was in die Neuzeit voraus verweist, als ersten Grundgedanken betont, dass Luthers Religion „Glaubensreligion“ ist, die „im Grunde nichts anderes als der Gegensatz gegen die Sakramentsreligion“ (aaO., 70) ist. Entsprechend werden die theologischen Positionen, die Luther in der Auseinandersetzung mit Zwingli vertrat, auch als „Rückfälle in die katholische Sakramentslehre“ (aaO., 83) gefasst. Somit ist auch bei Troeltsch das erste Dual – das zwischen Geist und Substanz – wirksam. Zu weiteren Reaktionen auf Harnacks Lutherbild siehe Meijering, Der „ganze“ und der „wahre“ Luther, 22–29. 29 Harnack, DG III, 811. 30 Harnack, DG III, 820. 31 Auch Meijering, Der „ganze“ und der „wahre“ Luther, 38–42, kommt zu dem Ergebnis, dass die Aufrechterhaltung der Unterscheidung von wahrem und ganzen 28
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Festzuhalten bleibt: Auch wenn mit Harnack zuzugestehen ist, dass bereits die Arbeit des Historikers stets von normativen Annahmen durchschossen ist,32 so kann die Trennung zwischen dem wahren und dem ganzen Luther wohl nicht allein als die Beobachtung eines Historikers ausgegeben werden, sondern muss als normative Setzung eines Systematikers ausgewiesen werden. Im Gefolge Harnacks wurde auf diese Einsicht auf zweifache Weise reagiert. In expliziter Absetzung gegen Harnack und Troeltsch präsentiert Harnacks Schüler und späterer Kollege Holl das Bild eines in sich geschlossenen Luthers, der als Vorläufer der Neuzeit anzusehen ist. Der wahre Luther ist der ganze, der auch im rekonstruierenden Zugriff der historischen Perspektive als solcher neuzeitlich ist. Holls Schüler Hirsch hingegen akzeptiert in einiger Nähe zu Troeltsch, dass der mittelalterliche und der neuzeitliche Luther ineinander verwoben sind. Um den wahren Luther vom ganzen zu trennen und somit einen neuzeitlichen Luther zu rekonstruieren, ist daher der konstruktive Zugriff der systematischen Perspektive vonnöten. Beide Optionen seien in ihrer Relevanz für das vorliegende Buch kurz vorgestellt.
1.1.2. Karl Holl: Gewissensreligion ohne Gewissheit Das Verhältnis von Harnack zu Holl ist durch Diskontinuitäten, aber auch durch Kontinuitäten geprägt. So markiert das Erscheinen von Holls Lutherbuch den Beginn der Lutherrenaissance und damit der modernen Lutherforschung, da Holl Luther in methodischer Hinsicht unter Zugriff auf neue Quellen und in konsequenter Anwendung der historisch-genetischen Methode rekonstruiert. In formaler Hinsicht präsentiert er das Bild eines in sich geschlossenen Luthers, dessen Gottesbild jedoch in inhaltlicher Hinsicht durch antinomische Züge geprägt ist. Die Kontinuität in diesen Diskontinuitäten besteht zum einen darin, dass Holl von seinem Lehrer Harnack die Konzentration auf den „jungen“ Luther33 übernimmt. Zum anderen ist auch Holls Lutherbild durch das Dual von Religion und Metaphysik bzw. Geist und Natur geprägt. Luther letztlich mehr über Harnacks eigene antimetaphysische Position aussagt als über das Objekt seiner historischen Forschung. 32 Siehe zu Harnacks Methode der kritischen Reduktion, in der sich historische Beobachtungen und die (stets normativ besetzte) Bildung von Allgemeinbegriffen verbinden, Osthövener, Harnack, 297–305. 33 Was unter dem „jungen“ und dem „alten“ Luther zu verstehen ist, variiert dabei allerdings: während Holl Luthers Theologie mit der Römerbriefvorlesung 1515 im
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Genauer: Holl bestimmt Luthers Verständnis der Religion als „Gewissensreligion“,34 die aus zwei Perspektiven zu beschreiben ist: aus der des Menschen und aus der Gottes.35 Aus der Perspektive des Menschen gesprochen begegnet der Mensch Gott in der absoluten Forderung der Sittlichkeit, die vor allem in Gestalt des Ersten Gebotes vor ihn tritt.36 In diesem Sollen wird der Mensch zugleich Gottes gewahr, und zwar Gottes als Wille und Person, und seiner selbst, und zwar seiner selbst als Einzelner, der Gott Dienst schuldet. Von daher betont Luther für den Menschen eine Pflicht zur Religion und bestimmt zugleich den Vollzug der Religion ebenso wie die ihr eigene Realität unter dem Gesichtspunkt der Pflicht.37 Das Neue an Luther gegenüber seiner Zeit besteht darin, dass er diese religiöse Pflicht als absolute begreift. Über alle kasuistisch-gradualisierenden Ermäßigungen der spätmittelalterlichen Kirche hinausgehend sieht Luther den Menschen mit der unbedingten Forderung Gottes konfrontiert. Da der Mensch diese nicht erfüllt, ist er somit im Ganzen als Sünder bestimmt.38 Materialiter besteht die Sünde des Wesentlichen als abgeschlossen ansieht, sieht Harnack Luthers Theologie ihren Höhepunkt in der Zeit von 1519 bis 1523 erreichen. So schreibt Harnack, DG III, 811: „Allein, das war nur eine herrliche Episode, die zunächst ein schnelles Ende nahm. Gewiss sind jene Jahre von 1519 bis c. 1523 die schönsten der Reformation, und es ist eine wunderbare Fügung gewesen, dass alles das, was geleistet werden sollte, die ganze Aufgabe der Zukunft, von Luther selbst in einem Moment in Angriff genommen und der Verwirklichung nahe gebracht schien. Allein diesem reichen Frühling ist kein voller Sommer gefolgt.“ Siehe zur Rede vom „jungen“ und „alten“ Luther jetzt Thomas Kaufmann, Der „alte“ und der „junge“ Luther als theologisches Problem, in: Christoph Bultmann, Volker Leppin, Andreas Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2008, 187–205, der auf 191 f. auf Harnack und Holl zu sprechen kommt. 34 Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Band I : Luther, Tübingen, sechste, neu durchgesehene Auflage 1932 (Luther I), 35. 35 Siehe Holl, Luther I, 113. 36 Der dieser Forderung eigene Druck macht es dem Menschen gewiss, dass er hier dem wirklichen und nicht nur einem erdichteten Gott begegnet, siehe Holl, Luther I, 36. 37 Siehe Holl, Luther I, 53. Siehe auch aaO., 73 f., wo Holl betont, dass für Luther „das Gefühl des Sollens die Grundlage seiner ganzen Frömmigkeit bildete und daß die Pflicht gegen Gott ihm als die erste unter allen Pflichten erschien.“ Zum Vorwurf des bei Holl angeblich vorherrschenden „Ethizismus“ siehe die weiteren Kommentare dazu in den folgenden Fußnoten. 38 Dieser in systematischer Hinsicht erste Schritt, so Holl, ist bei Luther auch der in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht erste gewesen, den Luther schon vor der ersten Psalmen-Vorlesung erreichte, siehe Holl, Luther I, 182. Damit aber hat Luther bereits damals „ein anderes Gewissen als seine katholische Umgebung.“ (Holl, Luther I, 20). Der in systematischer und entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht
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Menschen in seiner Selbstliebe. In Verkehrung des der Religion eigenen Stehens unter der Pflicht, Gott zu gehorchen, äußert sich die Sünde als Streben nach persönlichem Glück. Sie ordnet Gott dementsprechend als Mittel zum Zweck menschlicher Glückserfüllung dem Menschen unter. Angesichts dieser Selbstliebe sieht der Mensch, dass Gott ihm zu Recht zürnt. Darin erfährt der Mensch sich als angefochten. Der Ausweg aus dieser ausweglosen Situation – der Rechtfertigungsvorgang – muss streng von dem Willen des alleinwirkenden Gottes und somit nicht von dem Willen oder den Möglichkeiten des Menschen her entworfen werden. Entsprechend denkt Luther laut Holl „theozentrisch“39, so dass dem Menschen der Ausweg als „ein unbegreifliches Wunder“40 erscheint. Der Ausweg wird bei genauerer Betrachtung von Inhalt und Form des Ersten Gebotes sichtbar. So besagt das Erste Gebot in inhaltlicher Hinsicht, dass Gott gerade im Gericht daran festhält, dass er Gemeinschaft mit dem Menschen will. Somit wird „‚unter und über dem Nein das tiefe und heimliche Ja‘“ Gottes deutlich. Gott erscheint am selben Gebot als zorniger Richter und als liebender Vater, wobei das erstere als fremdes Werk Gottes zu werten ist, das zweite aber sein Wesen als Liebe offenbart. Erlebbar wird dem Menschen dieses Ja Gottes dennoch nur am Nein und somit als verborgen unter dem Gegenteil. Er erlebt es als „Ahnung“41 und als „‚Nichtgefühltes‘ gegenüber dem ganz und gar klar Gefühlten“42 seiner eigenen Verdammung. So ist der Glaube ein Wagnis, das aber dennoch einzugehen ist, und zwar genau wegen des Gebotscharakters des Ersten Gebotes, also wegen seiner Form als Gebot. Es ist die Pflicht des Menschen, gegenüber allem Eigenerleben Gott darin die Ehre zu geben, dass er ihm glaubt, dass Gott es gut mit ihm meint. Wer so glaubt, erreicht die Einigung mit Gott und wird zum Mitglied der wahren, unsichtbaren Kirche. „Die Einigung, die erreicht wird, ist nur eine solche des Willens, des ‚Affektes‘, wie Luther sich ausdrückt, nicht der ‚Substanz‘,“43 die aber zu einem neuen Willen des Menschen führt, welcher allerdings erst im Eschaton vollendet ist. Der Mensch zweite Schritt – die Einsicht, dass in dem richtenden Gebot zugleich Gottes Gemeinschaftswille zum Ausdruck kommt – und damit die Rechtfertigungslehre als Kernstück seiner Theologie liegt dann bereits in der Römerbrief-Vorlesung von 1515 geschlossen vor, so Holl, Luther I, 111. 39 Holl, Luther I, 34. 40 Holl, Luther I, 33. 41 Holl, Luther I, 78. 42 Holl, Luther I, 78. 43 Holl, Luther I, 81.
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empfängt somit die Wirkungen Gottes, und das führt ihn zu neuer Tätigkeit in der Welt. Aus der Perspektive Gottes wird das Rechtfertigungsurteil deshalb ausgesprochen, weil Gott den Menschen vom Blickpunkt der Ewigkeit her sieht und ihm so alle Zeiten als gleichzeitig vor Augen stehen. Damit aber sieht Gott bereits die Vollendung derjenigen Veränderung am Menschen, die mit der Rechtfertigung anfängt und die dereinst vollendet sein wird. „Für Gott ist der Kranke schon ein Gesunder, weil er weiß, dass er ihn heilen kann.“44 Somit ist das Rechtfertigungsurteil aus der Perspektive Gottes ein analytisches Urteil. Das Bild des so skizzierten Luthers beeindruckt durch seine Geschlossenheit und Relevanz. Zwar zeichnet Holl die Entwicklungslinien bei Luther nach, aber er sieht sie an einem relativ frühen Punkt – bereits vor der Römerbriefvorlesung – in den zentralen theologischen Aspekten an ein Ende kommen.45 Dieser an einem bestimmten Datum historisch fixierbare frühe Luther ist durch eine Theologie charakterisiert, die zwar in inhaltlicher Hinsicht durch die in den Kern des Gottesbildes eingeschriebene Antinomie von Gnade und Zorn Gottes geprägt ist, die sich aber in formaler Hinsicht als sehr geschlossen präsentiert.46 Luthers Theologie, so Holl, ist darüber hinaus auch von systematischer Relevanz. Sie knüpft zum einen an zentrale Aspekte des Urchristentums an47 und ist zum anderen im Ganzen für den modernen Menschen von größter Bedeutung. Denn Luther hat das Mittelalter nicht nur prinzipiell und restlos durchbrochen, sondern ist auch der Ursprung aller wichtigen geistigen Entwicklungen der Neuzeit.48 Dasjenige, was im Luthertum als Holl, Luther I, 124 f. Siehe Holl, Luther I, 111. 46 Damit wendet sich Holl in beiden Hinsichten gegen Harnack und Ritschl selbst, die Luthers Theologie in inhaltlicher Hinsicht als geschlossene präsentieren und ganz die Liebe Gottes in den Mittelpunkt stellen, während sie in formaler Hinsicht zwischen Kern und Schale, wahrem und ganzen Luther etc. unterscheiden, siehe dazu unten, . . . Holls Luther kann somit in stärkerem Maße als Resonanzboden für die und Ergebnis der Krisenerfahrungen während und nach dem Ersten Weltkrieg gelesen werden. 47 Siehe Holl, Luther I, 35, sowie ausführlich Karl Holl, Reformation und Urchristentum, in: Karl Holl, Kleine Schriften, hg. v. Robert Stupperich, Tübingen 1966, 33–44. 48 Siehe dazu Holl, Luther I, 1 f. und die Charakterisierung von Emanuel Hirsch, Holls Lutherbuch, in: Emanuel Hirsch, Lutherstudien Band 3 (Gesammelte Werke 3), Waltrop 1999, 166–174, 168 f., der Holls Luther wie folgt nachzeichnet: „Der alles einzelne zusammenhaltende Grundgedanke aber läßt sich so ausdrücken: Luther ist der die gesamte Neuzeit beherrschende schöpferische Geist. Auf allen Gebieten des höheren menschlichen Lebens stößt man, wenn man nach dem letzten Ursprung der 44 45
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mittelalterlich und damit als abständig erscheint, ist in toto den epigonalen Nachfolgern Luthers, nie aber Luther selbst zuzuschreiben.49 Der frühe Luther der Römerbriefvorlesung bietet somit eine in sich geschlossene, fertige Theologie von großer systematischer Relevanz für die Gegenwart. Laut Holl fallen in der Perspektive des Historikers der frühe Luther, der wahre und der ganze in einem abgerundeten Bild zusammen. Allerdings zahlt Holl für diese Geschlossenheit einen hohen Preis: Zentrale Aspekte von Luthers Theologie werden fast ganz ignoriert, so auch die Abendmahlslehre.50 Das folgende Zitat richtet den Fokus auf zwei wichtige Aspekte von Holls Rekonstruktion Luthers. Es fasst zwei Tiefenstrukturen des eben Skizzierten zusammen, welche anschließend eigens namhaft gemacht werden sollen, und es verweist zugleich auf die beiden grundlegenden Hinsichten, an denen unsere Rekonstruktion des Grundzuges von Luthers Theologie von der von Holl abweicht. Darin finden sich auch lebendig wirkenden Idee fragt, zuletzt auf ihn und seine Gedanken. Nirgends hat er die Anschauungen des Mittelalters einfach übernommen, überall hat er die Sache von sich aus durchdacht, und das, was er sich so erwarb, schließt allemal eine grundsätzliche Wendung in sich.“ Dies gilt umso mehr, als Holl zentrale Aspekte des von der Rechtfertigung geprägten Verständnisses von Religion bereits vor seiner detaillierten Lutherexegese in dem Versuch gewann, die Relevanz der Rechtfertigungslehre für den Menschen des beginnenden 20. Jahrhunderts zu explizieren, wie der bereits 1907 erstmals veröffentlichte Aufsatz Karl Holl, Was hat die Rechtfertigungslehre dem modernen Menschen zu sagen, in: Karl Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Band 3 : Der Westen, Tübingen 1928 (Luther III), 558–567, belegt (siehe zur Exegese dieses Aufsatzes in subjektivitätstheoretischer Perspektive Ulrich Barth, Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin 1992, 19–40). Die Verschiebung zwischen dem frühen Holl von 1907 und dem der detaillierteren Lutherexegesen besteht vor allem darin, dass dem späteren Holl der Richtspruch über die menschliche Gesamtexistenz nicht mehr aus aufmerksamer Selbstbeobachtung erwächst, sondern aus dem als Offenbarung verstandenen Gebot Gottes. Dennoch gilt, dass Holl in seiner detaillierten Lutherexegese zentrale Züge dessen fand, was ihm auch in systematischer Hinsicht vor der Gegenwart als vertretbar erschien. 49 Siehe dazu auch Martin Ohst, Die Lutherdeutungen Karl Holls und seiner Schüler Hirsch und Vogelsang, in: Rainer Vinke (Hg.), Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick-Bilanz-Ausblick, Mainz 2004, 19–50, 47 f. 50 Holl erwähnt Luthers Abendmahlslehre im gesamten ersten Band seiner Lutherstudien nur ein einziges Mal, ganz en passant in der Fußnote auf Holl, Luther I, 72, um die (sehr zweifelhafte) Behauptung aufzustellen, dass Luthers Christologie bereits vor dem Abendmahlstreit fertig entwickelt war; auch in den weiteren Schriften Holls findet sich keine substantielle Auseinandersetzung mit Luthers Abendmahlslehre.
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Gründe dafür, dass Holl das Abendmahl bei Luther nicht eigens behandelt. „In alledem war zugleich noch ein allgemeiner Fortschritt über die Scholastik enthalten. Die Vorgänge, in denen Luther zu seiner Gottesgewißheit gelangte, waren durchweg bewusster, geistiger, persönlicher Art. Aus dem Sakrament, aus einer hinter dem Bewusstsein sich vollziehenden Einwirkung, vermochte ein Gottesglaube, wie er ihn jetzt für Pflicht hielt, niemals zu entstehen. So gut wie seine Schuld ihm klar und deutlich vor der Seele stand, konnte auch die Befreiung von ihr nur erfolgen durch etwas Deutliches und Offenkundiges, durch ein ‚Wort‘; aber nicht schon durch ein Priesterwort, sondern durch ein Gotteswort, und zwar eines, das sich selbst unmittelbar als solches bezeugte. Der Aufschwung zur persönlichen Gewissheit war zugleich der Durchbruch durch das sakramental Magische und die Erhebung zu einer geistigen Erfassung des Göttlichen.“51 Die erste Tiefenstruktur, die bei Holl wirksam ist, besteht aus dem bereits bei Harnack namhaft gemachten Dual von Religion und Metaphysik bzw. Geist und Substanz/Sakrament. So stellt Holl Luthers Verständnis von Religion gegen die Metaphysik, die als spekulative „alte Naturmetaphysik“52 gefasst wird. In dieser Gegenüberstellung sieht Holl die Religion als eigenständige Disziplin an, die nicht in die Ethik aufgehoben werden kann, die aber mit der Ethik in einem ursprünglichen Verhältnis steht und daher an zentralen Punkten mit ethischen Termini zu beschreiben ist.53 Der anthropologische Ort der Religion ist Holl, Luther I, 34 f. Holl, Luther I, 72 Anm. 53 Bekanntlich ist der Vorwurf der „Ethisierung“ von Religion schon früh gegen Holl erhoben und mit der Frage verbunden worden, ob Holl Luther in dieser Hinsicht kantianisierend liest, siehe dazu Friedrich Gogarten, Theologie und Wissenschaft. Grundsätzliche Bemerkungen zu Karl Holls „Luther“, in: Christliche Welt 38 (1924), 34–42.71–80. Dazu ist zum einen darauf zu verweisen, dass Holl die Religion nicht von der Sittlichkeit her begründet, sondern die Religion selbst als Urdatum ansieht, das ursprünglich mit der Sittlichkeit verbunden ist, siehe dazu auch zur Mühlen, Reformatorische Vernunftkritik, 191 und Saarinen, Gottes Wirken, 110 f. Zum anderen insistiert Holl darauf, dass die von Luther vertretene Ethik nicht nur der Kants, sondern überhaupt jeder philosophischen Ethik entgegensteht. Denn jede philosophische Ethik und damit auch die Kants gründet auf dem Motiv der Selbstliebe, die aus theologischer Sicht als Sünde zu qualifizieren ist. Die theologische Ethik hingegen gründet auf der aus der sittlicher Perspektive des Menschen schlechthin nicht begreifbaren Gabe Gottes, die beim Menschen zu Dankbarkeit führt, welche mit der Pflicht einhergeht, Gott zu ehren. Aus philosophischer Perspektive ist dieser Ansatz als heteronom zu bezeichnen und daher abzulehnen, siehe dazu Holl, Luther III, 244–253. 51
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das Gewissen, der Mensch wird Gottes am Sollen gewahr und steht unter der Pflicht, Gottes Gebot zu erfüllen, mit dem Ziel, zur Willenseinheit mit Gott zu gelangen. Da die Metaphysik dabei als Substanzmetaphysik gedacht wird, korrespondiert der Gegenüberstellung von Metaphysik und Religion auf inhaltlicher Ebene das hierarchisch gedachte Dual von Geist und Substanz/Sakrament. Zwar meint Holl wie vor ihm schon Harnack, dass Luther keine asketische Religion vertritt, sondern dass er die Welt als Ort des Gottesdienstes im Alltag entdeckt und sich gerade darin als derjenige erweist, der der Neuzeit die Bahn bereitet. Dennoch operiert Holl ebenso wie Harnack zugleich mit einem Bereich des Persönlichen und Geistigen. Dieser Bereich ist von dem Bereich der Substanz und des sakramental Magischen getrennt, da es über dem Bereich der Substanz steht. Allererst in dem Bereich des Persönlichen ist die wahre Religion anzusiedeln.54 Die zweite Tiefenstruktur, die bei Holl wirksam ist, wurde bei Harnack noch nicht namhaft gemacht. Sie betrifft Holls Wortverständnis. Bei Holl selbst sind interne Verschiebungen zwischen stärker worttheologischen und stärker existentialdialektischen Akzentuierungen zu verzeichnen.55 Konstant aber und hier von Interesse ist, dass Holl zum einen nicht sieht, dass laut Luther Jesus Christus und die Dinge selbst auf eigene Weise Worte sind, und dass Holl zum anderen das Wort bei Luther Wie bei Harnack gilt auch bei Holl, dass Holls Unterscheidung eher von Descartes als von Luther geprägt zu sein scheint. Damit ist eine Aussage aus systematischer, nicht aus historisch-genetischer Perspektive; es geht somit nicht um die (in diesem Rahmen nicht zu leistende) Aufhellung der intellektuellen Entwicklung Holls, sondern um seine Charakterisierung in systematischer Hinsicht. Siehe zu diesem Absatz auch Saarinen, Gottes Wirken, 91–112. Dort wird die Analyse des Duals auch auf die Christologie ausgeweitet und gezeigt, dass Holl Jesus Christus bei Luther vor allem als auf den Willen des Menschen einwirkendes Werkzeug Gottes rekonstruiert und auf diese Weise eine nicht-metaphysische Rekonstruktion der Zwei-Naturen-Lehre vorlegt. 55 Holls Rekonstruktion des Rechtfertigungsvorganges bei Luther ist 1910 stärker worttheologisch akzentuiert, da die Rechtfertigung vom Urteil Gottes aus gedacht wird. 1923 wird die Rechtfertigung zwar auch theonom gedacht, zielt aber auf die unmittelbare Gewissheit vollendeter Sittlichkeit und ist insofern stärker existentialdialektisch organisiert, siehe zu diesen Verschiebungen Heinrich Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance: Ursprünge, Aporien und Wege. Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), Göttingen 1994, 97–99. Diese Verschiebungen in Holl, so die Großthese Assels, erklären auch den doppelten Ausgang der Lutherrenaissance, der sich einerseits in der existentialdialektisch-(inter)subjektivitätstheoretischen Position Hirschs, zum anderen in der worttheologisch Alternative Rudolph Hermanns wiederfindet. 54
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nur in signifikationshermeneutischer Perspektive fasst, nicht aber auch als promissional-performatives. Es ist daher angemessen, dass er das Wort Gottes in obigem Zitat nur in Anführungszeichen, als ‚Wort‘, einführt. Auch das „sich selbst unmittelbar als solches bezeugende Gotteswort“, das von der Schuld befreit, ist nicht als das seine eigene Wirkung mit sich bringende, promissionale äußere Wort der Vergebung zu fassen, das dann durch „ein Priesterwort“ vermittelt wäre. Vielmehr ist das angesprochene Gotteswort als das Erste Gebot zu fassen, das dem Menschen im Gewissen aufgeht und in dem Schuldspruch und Verheißung – Gesetz und Evangelium – in einem Wort ineinander liegen. Dieses Wortverständnis, so ist gegen Holl vorzubringen, trifft nun nicht nur das des späteren Luthers nicht. Vielmehr geht damit auch ein systematisches Problem einher, da es die Frage nach der Heilsgewissheit nicht befriedigend beantwortet. Denn der Mensch, der das Erste Gebot als Gebot und damit als Schuldspruch über sich vernimmt, wird der Rechtfertigung nur als „Ahnung“, als „‚Nichtgefühltes‘ gegenüber allem Gefühlten“ gewahr. Die Frage aber, ob der Mensch der „Ahnung“ dieses „tiefen und heimlichen Jas unter und über dem Nein“ trauen kann, lässt sich bei einem signifikationshermeneutischen Verständnis des Wortes auch nicht durch den Hinweis auf die positive inhaltliche und formale Bestimmtheit des Ersten Gebotes so eindeutig beantworten, dass sich Heilsgewissheit einstellt. Denn diese Bestimmtheit erscheint doch eben nur unter dem Gegenteil desjenigen Schuldspruches des Ersten Gebotes, der den Menschen zu Recht verurteilt.56 Das damit erreichte Irrisieren zwischen beiden Hinsichten löst sich nur durch ein anderes Wortverständnis auf: erst dann, wenn das Evangelium als ein eigenes, eindeutiges Wort verstanden wird, das mitbringt, was es ansagt, und zwar deshalb, weil Christus selbst auf eigene Weise Wort ist. Wie unter Verweis auf die Entsprechend konstatiert Assel, Aufbruch 155 f., an diesem Punkt eine Zirkelstruktur des Gewissens, die geradewegs in die Ungewissheit in Bezug auf das Heil hineinführt: „Ein für das Gewissen (qua conscientia) Nichteinsehbares, Gottes Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit in seinem Vergeben, soll nun seinerseits durch ein Gefühl des Gewissens (qua synteresis) verbürgt werden, obgleich doch dieses Gewissen (qua conscientia) nur Gottes Zorn fühlt. Hier wird, wie implizit auch immer, als Ahnung des Gewissens (qua synteresis) stets schon vorausgesetzt, was doch erst hier und jetzt als Wille Gottes, als promissio vor dem Gewissen (qua conscientia) auftaucht. [. . .] Doch, so fragen wir nun: kann es damit in der Anfechtung wirklich zur Gewißheit [. . .] kommen? Was macht mich gewiß, daß der Zorn, den nun gerade ich erfahre, mich nicht als vernichtender Zorn der Strenge, sondern als erziehender Zorn des Erbarmens trifft?“ 56
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Einsichten Bizers deutlich werden wird, ist zumindest das Wortverständnis des Luthers unserer Texte (als dem Luther ab 1519) von diesem Wortverständnis geprägt (siehe Drittes Kapitel, 1.3.).57 Mehr noch: Laut dem späten Luther besteht eine innere Verbindung zwischen den beiden namhaft gemachten Tiefenstrukturen. Denn der Luther der späten Abendmahlstexte betont, dass Geist und Materielles und damit auch Religion und Metaphysik (erste Tiefenstruktur) gerade deshalb aufs engste miteinander verbunden sind, da das promissionale Wort, welches in ausgezeichneter Weise den Geist in die Welt bringt, ein solches ist, das durch äußere Vermittlung zum Menschen kommt (zweite Tiefenstruktur): durch den inkarnierten Gott, durch das äußere Wort der Predigt und durch die Elemente von Brot und Wein (siehe Drittes Kapitel, 2., v. a. Drittes Kapitel, 2.1.3.). Dies aber ist wiederum möglich, da alles Materielle in eigener Weise Wort ist. So ist es wohl nicht nur historischer Kontingenz geschuldet, sondern hat auch systematische Gründe, dass Holl sich in seinen Lutherstudien nie ausführlich zum Abendmahl äußert: Die Einbeziehung des reifen Verständnisses des Abendmahls hätte zu Umbauten an grundlegenden Aspekten des Lutherbildes gezwungen. Eine Variante dieses Umbaus liegt bei Emanuel Hirsch vor.
57 Holls Rekonstruktion von Luthers Wortverständnis resultiert somit auch aus seiner Konzentration auf den jungen Luther. Bekanntlich ist mit der hiermit in den Blick kommenden Sachfrage zugleich die so viel diskutierte Frage nach Inhalt und Datierung des „reformatorischen Durchbruchs“ von Luther verbunden: Ist Luther bereits mit dem neuen Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als reformatorischer Theologe zu verstehen, der uns somit bereits in der Römerbrief-Vorlesung 1515 in vollendeter Gestalt entgegen tritt, so Holl, Luther I, 111, oder ist Luther genuin reformatorische Theologie gerade an das neue Verständnis des Wortes als performativen gebunden, das erst 1518 erreicht wurde, so Ernst Bizer, Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther. 3., erw. Aufl., Neukirchen 1966, und Oswald Bayer, Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie, Göttingen 1971, 1 f. u. ö.? Gerade angesichts der sich in jüngeren Zeit mehrenden Stimmen, die die Komplexität, vielleicht sogar Unlösbarkeit der Frage nach dem „reformatorischen Durchbruch“ anmahnen und zugleich in Frage stellen, ob es so ein Ereignis überhaupt gegeben hat, sehen wir von dieser Frage ganz ab und konzentrieren uns alleine auf die uns in systematischer Hinsicht interessierenden Sachfrage.
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1.1.3. Emanuel Hirsch: Die subjektivitätstheoretische Gewissensreligion des wahren Luthers als systematische Konstruktion Hirsch übernimmt in modifizierenden Formen Einsichten seines Lehrers Holl ebenso wie die von dessen Lehrer und Antipoden Harnack und integriert sie in sein umfassendes Projekt der „Christlichen Rechenschaft“,58 die er als Theologe vor dem neuzeitlich-humanen Wahrheitsbewusstsein ablegen will. Von Holl übernimmt Hirsch die grundlegende Einschätzung, dass Luthers Verständnis des Christentums als Gewissensreligion zu fassen ist.59 Allerdings rekonstruiert er die Gewissensreligion anders als Holl nicht sowohl aus der Perspektive des Menschen wie aus der Gottes, sondern allein aus der des Menschen. Die Gewissenserfahrung macht den Menschen gerade deshalb zur Persönlichkeit, weil das Gewissen jeweils als in Beziehung zu Gott stehend gedacht wird, als das „innerliche Gehör“ Gottes. 60 Somit ist es „durch höchste Geistigkeit und höchste Unmittelbarkeit gekennzeichnet“. 61 Das Gewissen ist näherhin durch zwei Strukturmomente geprägt, die in sich jeweils durch die Dialektik zweier Momente geprägt sind. Das erste Strukturmoment besteht aus einer vorsprachlich-präreflexiven Schicht im Gewissen, die der frühe Luther als syntheresis bezeichnet, 62 und einer sprachlich-reflexiven, die Luther conscientia nennt. Die syntheresis weiß bereits in präreflexiver Form um Gott als seinen Herrn und um Gottes Güte sowie um seinen Willen in der Form der Naturgesetze, da der Geist Gottes in vorsprachlicher Form im Gewissen redet. Ebenso kommt ihr eine eigene Form des Gebetes zu, das „Gebet im Gebete“63 als oratio mentalis, mit der das unauslöschliche Verlangen aller Menschen nach Gott bezeichnet wird. Der sich dabei als schuldig wissende Mensch
58 Emanuel Hirsch, Christliche Rechenschaft in zwei Bänden. Bearbeitet von Hayo Gerdes, Neuausgabe besorgt von Hans Hirsch, Tübingen 1989. 59 Siehe Emanuel Hirsch, Lutherstudien. Band I, Gütersloh 1954, 134, Anm: „Ich wüsste nicht, was gegen Holls (Luther2.3. 1923, S. 35.60) Charakteristik der Religion Luthers als Gewissensreligion einzuwenden wäre. Holls These bewährt sich an Luthers eigenen Aussagen über das Gewissen immer aufs neue.“ 60 Hirsch, Lutherstudien I, 141. 61 Hirsch, Lutherstudien I, 141. 62 Hirsch, Lutherstudien I, 117, betont, dass Luther später zwar diese Terminologie aufgab, die Sache aber beibehält. 63 Hirsch, Lutherstudien I, 113.
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ist im Tiefsten von der Ahnung bestimmt, dass Gott sein Verlangen erhören wird. 64 Damit ist bereits hier die Dialektik von Gesetz und Evangelium als das zweite das Gewissen bestimmende Strukturmoment angedeutet. Hirsch hält es für die überhaupt grundlegende Struktur bei Luther und setzt es auch als fundamental für seine eigene Theologie an. 65 Es erfährt seine ausgeprägt Gestalt, wenn die syntheresis zum Bewusstsein erwacht und die conscientia damit den Menschen an das erinnert, was er immer schon wusste, aber jeweils vergaß. 66 Das Gesetz klagt den Menschen so unentrinnbar an, dass er verzweifelt und Gott erleidet. Das Evangelium stellt das Gewissen dann auf eine ganz neue Voraussetzung und enthüllt zugleich, dass das Gesetz als opus alienum dem Evangelium als opus proprium dient. Erscheint das Evangelium aus der Sicht des Gesetzes somit als etwas Fremdes, so erweist sich das Gesetz aus der Sicht des Evangeliums als sein Wegbereiter. Gesetz und Evangelium in ihrer „antithetischen Durchspannung“67 dienen damit beide dem zielgerichteten Willen Gottes. Dieser stellt somit den Einheitspunkt beider dar. Entsprechend Hirsch, Lutherstudien I, 115. Die Beziehung von Gesetz und Evangelium auf das Gewissen bezeichnet die „tiefste Eigenheit von Luthers Verständnis des Gewissens.“ (Hirsch, Lutherstudien I, 143) Für Hirschs eigene Theologie ist die Beziehung von Gesetz und Evangelium deshalb zentral, weil sie die für ihn zeitgemäße Reformulierung derjenigen Rechtfertigungslehre darstellt, die in ihrem Sachgehalt das Wesen des Christentums ausmacht, in ihrer Form als von Luther vertretene Lehre aber dem Altprotestantismus zuzuordnen und damit nicht zu übernehmen ist. Denn die Rechtfertigungslehre legt die Rechtfertigung mit Hilfe von Annahmen wie der Bußbedürftigkeit des Menschen und dem immer schon voraus zu setzenden Zorne Gottes und damit mit Hilfe von Explikationsmitteln desjenigen Zeitalters dar, das durch sie gerade überwunden wird, siehe dazu Hirsch, Christliche Rechenschaft I, § 38, 126–131. Gesetz und Evangelium stellen dann das Strukturprinzip von Hirschs eigenen „Rechenschaft“ dar, indem das allgemein-humane Wahrheitsbewusstsein an der Grenze zum christlichen Wahrheitsbewusstsein zu lesen ist als wahrheitstheoretische Fassung des Gesetzes mitsamt des mit ihm einhergehenden Sündenbewusstseins des Menschen als einem, der zur Wahrheit gerufen ist und sich in der Unwahrheit erfährt. Seine Explikation stellt der Teil „Dogmatik I“ der Christlichen Rechenschaft dar, siehe dazu auch Ulrich Barth, Gott – die Wahrheit? Problemgeschichtliche und systematische Anmerkungen zum Verhältnis Hirsch/Schleiermacher, in: Joachim Ringleben (Hg.), Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewusstsein. Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, Berlin/New York 1991, 98–157, 152 f. sowie Barth, Christologie, 577. Entsprechend stellt das christliche Wahrheitsbewusstsein, das in „Dogmatik II“ expliziert wird, die wahrheitstheoretische Explikation des Evangeliums dar. 66 Hirsch, Lutherstudien I, 144. 67 Hirsch, Lutherstudien I, 157. 64 65
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erfährt in ihm auch das der Doppelerfahrung von Gesetz und Evangelium ausgesetzte Gewissen seine Einheit. Nun weiß der Mensch, was er vorher nur ahnte: dass Gott gerade unter dem Gesetz wahre Liebe ist. 68 Als christologische Korrektur des theozentrischen Lutherbildes von seinem Lehrer Holl setzt Hirsch dabei das Evangelium mit Jesus Christus gleich, 69 der durch die Sündenvergebung Frieden gibt. Der Mensch vernimmt die Sündenvergebung innerlich und glaubt ihr aufgrund der Macht des Heiligen Geistes.70 So erlangt er ein gutes Gewissen, das in Gottes Güte gründet. Damit kehrt der Mensch in verwandelter Form in jene innerste Verheißung ein, die ihm bereits präreflexiv im Gewissensgrund gegeben war und die nun zu neuer Sittlichkeit Anlass gibt.71 Hirsch erweist sich auch darin als Schüler Holls, dass seine Rekonstruktion von denjenigen beiden Tiefenstrukturen geprägt ist, die auch bei Holl namhaft gemacht wurden. So greift bei ihm das Dual von Metaphysik und Religion in gegenüber Holl noch verschärfter Form schon dadurch, dass er Luthers Religionsverständnis in der Form einer existen68 Diese Dialektik einer Einheit in antithetischer Durchspannung organisiert innerhalb der Christlichen Rechenschaft entsprechend auch das Verhältnis von „Dogmatik I“ (als dem allgemein-humanen Wahrheitsbewusstsein als wahrheitstheoretischer Explikation des Gesetzes) und „Dogmatik II“ (als dem christlichen Wahrheitsbewusstsein als wahrheitstheoretischer Explikation des Evangeliums). Glaube und Nichtglaube vertreten dieselben Inhalte, so dass der Unglaube im Glauben keinem fremden Gott begegnet. Allerdings ist sich der Glaube dessen gewiss, dessen der Unglaube sich nicht gewiss ist: dass in diesen Inhalten Gott gegenwärtig ist. So kann der Glaube an den Inhalten in ihrer antinomischen Verfasstheit zu Selbstdurchsichtigkeit gelangen. Damit aber sind dieselben Inhalte im Glauben in ihre Wahrheit gekommen und damit zugleich nicht mehr dieselben Inhalte, siehe dazu Hirsch, Christliche Rechenschaft II, §§ 72–4., 2–24 sowie ausführlich Barth, Die Christologie, 619–630. 69 Diese christologische Korrektur Hirschs an Holl findet sich bereits in den frühesten Arbeiten von Hirsch zu Luther, siehe dazu Barth, Christologie, 42.44, und schlägt sich vor allem in dem frühem und wichtigen Aufsatz von 1918 Emanuel Hirsch, Initium theologiae Lutheri, in: Emanuel Hirsch, Lutherstudien II (Gesammelte Werke. Herausgegeben von Hans Martin Müller in Verbindung mit Ulrich Barth, Albrecht Beutel, Matthias Lobe, Martin Ohst, Arnulf v. Scheliha und Hans-W. Schütte, Band 2), Waltrop 1998, 9–35, nieder, siehe dazu auch Ohst, Die Lutherdeutung Karl Holls, 19–50. Hirsch ließ die Christologie Luthers dann von seinem Schüler Erich Vogelsang in monographischer Form ausarbeiten, siehe Erich Vogelsang, Die Anfänge von Luthers Christologie nach der ersten Psalmenvorlesung insbesondere in ihrem exegetischen und systematischen Zusammenhängen mit Augustin und der Scholastik dargestellt, Berlin/Leipzig 1929, sowie dazu Hirsch, Lutherstudien I, 7. 70 Siehe Hirsch, Lutherstudien I, 151–155. 71 Siehe dazu auch Assel, Aufbruch, 282–286.
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tialdialektischen Subjektivitätstheorie allein aus der Perspektive des Menschen beschreibt. Damit sieht Hirsch faktisch bereits bei Luther dasjenige vorliegen, was er in seiner eigenen systematischen Arbeit in Aufnahme der erkenntnistheoretischen Einsichten der Neuzeit selbst auch vollzieht: Alle Aussagen über Gott werden formuliert als Aussagen über Gottes Wirken am Menschen; Aussagen über Gott an sich sind menschlicher Erkenntnis nicht verfügbar.72 Zudem ist das Gewissen als „höchste Geistigkeit und höchste Innerlichkeit“ bestimmt, das als solches grundlegend gegen jede Form substantial-leiblicher Vermittlung von Gott und Gnade gestellt wird, wie sie im Mittelalter vorlag.73 Entsprechend wird der Bereich des Religiösen – wiederum in Nähe zu Holl – mit dem des Ethischen verbunden, da sich die Gotteserfahrung in der Form von Gesetz und Evangelium äußert und somit an der Erfahrung von Schuld und ihrer Vergebung ansetzt. Damit ist auch der zweite Aspekt der ersten Tiefenstruktur, das Dual von Geist und Substanz, bei Hirsch präsent.74 Ebenso prägend für Hirschs Lutherrekonstruktion und ganz in Übereinstimmung mit dem bisher Dargelegten ist, dass auch die zweite der bei Holl namhaft gemachten Tiefenstrukturen bei ihm einschlägig ist: Ebenso wie in seiner „Rechenschaft“ sieht Hirsch auch in seinen Lutherstudien nicht, dass laut Luther Gott und alle Dinge in eigener Weise Worte sind, und zudem fasst er das Wort rein signifikationshermeneutisch, nicht aber promissional-performativ. Entsprechend dient das Wort der Vermittlung Gottes mit dem Menschen nur in uneigentlicher Weise.75 Eigentlich kommuniziert Gott mithilfe des Geistes mit dem Menschen in vorsprachlicher Weise, so dass der Mensch bereits in der syn Siehe Hirsch, Rechenschaft I, § 51 A, 200. Siehe dazu auch Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 193. 74 Hirsch, Rechenschaft I, § 65, 282, vertritt zwar explizit, dass der Mensch als leib-seelische Einheit zu fassen ist. Allerdings fragt sich, ob er dieser Einsicht in der Durchführung seines Denkens konsequent entspricht. 75 In der Rechenschaft wird der sprachphilosophische Aspekt des Gottesbegriffes in genauer Entsprechung zu seiner Rekonstruktion Luthers und unter Aufnahme von Einsichten Fichtes und anderen dann folgender Maßen entwickelt: Gott als die Wahrheit ist selbst übersprachlich und kann daher prinzipiell nur in solcher menschlichen Rede gefasst werden, die antinomisch verfasst ist und damit ausweist, dass sie als menschliche Rede den übersprachlichen Gott immer nur uneigentlich fasst und damit eigentlich je verpasst. Der übersprachlichen Wahrheit Gottes selbst entspricht dann ein vorsprachliches Reden Gottes im Gewissen und ein vorsprachliches Wissen um Gott, das seine Vergewisserung nur in einer als uneigentlich zu fassenden Rede erfährt, siehe Hirsch, Rechenschaft I, §§ 50–52, 196–208. 72
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theresis alles Entscheidende über Gott und sich selbst weiß und er in der conscientia nur nochmals daran erinnert und dessen vergewissert werden muss. Auch dieser Vergewisserungsvorgang selbst macht sich nicht am äußeren Wort fest, da das Wort bei Luther laut Hirsch nicht die Macht hat, den Teufel zu fällen.76 Vielmehr ist die Macht des Wortes der Macht des Glaubens an das Evangelium geradezu entgegenzusetzen. Denn bei Luther bringt laut Hirsch nicht die Macht des Wortes die des Glaubens mit sich, sondern es setzt erst die Macht des Glaubens die des Wortes in Kraft. Entsprechend fasst die Vergewisserung nur in die Form uneigentlicher Rede, was in eigentlicher, vorsprachlicher Form bereits präsent war. Problematisch ist diese Position nicht nur als Exegese Luthers, sondern auch in Hinblick auf die eigene interne Konsistenz, da das Erwachen des Bewusstseins nicht schlüssig erklärt werden kann. Denn Hirsch sagt, dass das Gewissen im Gewissenskeim erwacht, der dort vorliegt, wo ich mich als Sünder weiß – um mich als Sünder zu wissen, muss das Gewissen aber bereits zu reflexiver Verfasstheit erwacht sein. Damit liegt in Hirschs subjektivitätstheoretischer Fassung des Gewissensbegriffes eine sündentheologisch gefüllte Variante derjenigen Aporie vor, die Dieter Henrich an der reflexionstheoretischen Rekonstruktion des Selbstbewusstseins als „Fichtes ursprüngliche Einsicht“ namhaft gemacht hat.77 In den beiden vorherigen Absätzen wurde auch deswegen auf Hirschs Integration seiner Exegese Luthers in die eigene systematische Arbeit verwiesen, um zu zeigen, dass Luthers Theologie für Hirsch in zwei Hinsichten von großer Relevanz ist. So bringt sie nicht nur das Wesen des Christentums in ausgezeichneter Weise neu ans Licht78 und markiert 76 Siehe den Aufsatz Emanuel Hirsch, Das Wörtlein, das den Teufel fällen kann, in: Emanuel Hirsch, Lutherstudien II (Gesammelte Werke. Herausgegeben von Hans Martin Müller in Verbindung mit Ulrich Barth, Albrecht Beutel, Matthias Lobe, Martin Ohst, Arnulf v. Scheliha und Hans-W. Schütte, Band 2), Waltrop 1998, 93–99, bes. 93 und 99. 77 Siehe dazu Dieter Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, Frankfurt a. M. 1967. Diese besteht in einem Wort darin, dass die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins niemals zu leisten vermag, was sie zu leisten vorgibt. Rekonstruiert die Reflexionstheorie die Konstitution des Phänomens Selbstbewusstsein dadurch, dass sie meint, dass das Ich sich selbst zum Objekt macht, so scheitert sie daran, dass das Ich, um sich als sich selbst im Objekt erkennen zu können, immer schon von sich wissen muss, so dass es zu einer unendlichen Iteration kommt. Dass Hirschs Gewissensbegriff von Henrichs Kritik an der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins getroffen wird, übernehmen wir von Assel, Aufbruch, 277. 78 Siehe dazu Emanuel Hirsch, Das Wesen des Christentums. Neu herausgegeben
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damit zugleich den Beginn der Neuzeit, sondern ist auch für Hirschs eigene systematische Arbeit unter neuzeitlichen Bedingungen von prägender Kraft.79 Entgegen der Position seines Lehrers Holl und auch entgegen seiner eigenen Position als junger Wissenschaftler80 macht der hier rekonstruierte spätere Hirsch aber explizit, dass der soweit präsentierte Luther nicht der ganze ist. Vielmehr gibt es viele andere Aspekte der Theologie Luthers, und es überrascht angesichts des bisher zu Hirsch Dargelegten nicht, dass gerade Luthers späte Lehre vom Abendmahl dem (von Hirsch so nicht genannten) ganzen, unwahren Luther zugeordnet wird. Diese Zuordnung wird von Hirsch damit begründet, dass Luthers späte Abendmahlslehre zum einen Luthers eigener Theologie nicht entspricht81 und zum anderen nicht in eine gegenwärtige Theologie übernommen werden kann.82 Es ist bemerkenswert, dass Hirsch sich mit der Unterscheidung von wahrem und ganzem Luther zwar explizit in die Reihe von Ritschl und Harnack stellt, 83 dass er sich zugleich aber bewusst ist, dass die Trennung zwischen dem wahren und dem ganzen Luther nicht in Gänze anhand von solchen Kriterien vollzogen werden kann, die auf der Ebene von Beobachtungen eines Historikers entwickelt werden, auch wenn dieser um die normativen Anteile seiner Arbeit weiß. Damit geht Hirsch über Harnack hinaus und nähert sich in dem von ihm vertretenen Lutherbild fak-
und eingeleitet von Arnulf von Scheliha (Gesammelte Werke. Herausgegeben von Hans Martin Müller in Verbindung mit Ulrich Barth, Albrecht Beutel, Matthias Lobe, Martin Ohst, Arnulf v. Scheliha und Hans-W. Schütte, Band 19), Waltrop 2004, 137. 79 Entsprechend trifft eine Kritik der Luther-Exegese Hirschs auch seine eigene systematische Position mit. 80 Der frühe Hirsch kann Holl darin zustimmen, dass Luther in Gänze als Initiator der Neuzeit gefasst werden kann, siehe dazu Hirsch, Holls Lutherbuch, 169; zu Hirschs allmählicher Abkehr von dieser Position siehe Ohst, Die Lutherdeutung Karl Holls, 48. 81 Siehe Hirsch, Lutherstudien I, 201, wo Hirsch darauf verweist, dass Luther die leibhaftige Gegenwart Christi in Blut und Wein nur deshalb verteidigte, weil er allein auf diese Weise das ihm zentrale Schriftprinzip schützen konnte, während er für die leibhaftige Gegenwart Christi selbst „nie einen religiösen Sinn an den Tag legte.“ 82 Hirsch, Rechenschaft II, § 94 Erläuterung V, 138 f., wo Hirsch betont, dass „wir Luthers Vorstellung von Realpräsenz, manducatio oralis und manducatio infidelium preisgeben müssen“, da sie auf einer Auslegung der Abendmahlsworte aufruhen, die unter den Bedingungen historisch-kritischer Exegese nicht mehr aufrecht zu erhalten ist. 83 Siehe Hirsch, Rechenschaft I, 127.
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tisch dem von ihm ungeliebten Troeltsch84 an. Das ist bis in die Formulierung hinein zu verfolgen, wenn Hirsch gleichsam als fernes Echo von Troeltschs „Doppelgesichte“ grundsätzlich konstatiert, dass „Luthers Theologie zweigesichtig ist.“85 „So ist er denn nicht bloß der Stürmer und Dränger, der eine neue Zeit einleitet, dessen Wort und Geschichte durch die Jahrhunderte in unübersehbare Fernen hinein sich auswirken. Er ist auch der Theologieprofessor, Prediger und Kirchenmann des 16. Jahrhunderts, der unter den Bedingungen seiner Lage und seiner Zeit dem Evangelium eine dem Gesetz des Daseins gemäße kirchliche Denkund Lebensform erarbeitet.“86 Beide Aspekte liegen in so starkem Maße ineinander, dass eine Scheidung aus historischer Perspektive nicht möglich ist. 87 Mit diesem Ineinander vollzieht sich in Luther zwar das „unerbittliche Gesetz der Geschichte, dass das Neue, das aus einem Umbruch hervorgeht, seine erste Gestalt sich aus den Elementen des von ihm zerbrochnen Alten erbauen muß.“88 Daran, so Hirsch, scheitert aber auch jeder Versuch, eine sachangemessene Gesamtdarstellung Luthers zu schreiben.89 84 Zur Geschichte der teils sehr kontroversen Auseinandersetzung zwischen Hirsch und Troeltsch siehe Barth, Christologie, 556–575. 85 Hirsch, Rechenschaft I, § 38, 127. 86 Hirsch, Wesen, 141. 87 Hirsch betont das Ineinander beider Aspekte bis in die sprachliche Darstellung des Sachverhaltes hinein, wenn er eine Darstellung des Verhältnisses des wahren und des ganzen Luthers wählt, die weit von der säuberlichen Trennung in Schale und Kern entfernt ist. So heißt es in Hirsch, Rechenschaft I, § 38, 127, zu Luthers Theologie: „Aber an zahllosen blitzartig aufleuchtenden [! M. W.] Gedanken, die sie zu zersprengen drohen [! M. W.] und von seinen Mitarbeitern bei der Prägung brauchbarer Schulformen ausgemerzt oder umgebogen wurden, wird klar, dass die ihn umtreibende Erkenntnis in einer Theologie, wie sie damals allein möglich war, nicht den ihr gemäßen Ausdruck finden konnte.“ Siehe zu dem Ineinander beider Aspekte auch Ohst, Die Lutherdeutung Karl Holls, 48–50. 88 Hirsch, Wesen, 141. 89 So heißt es in einem Brief von Hirsch an seinen Freund Hans Lietzmann (Emanuel Hirsch, Briefwechsel mit Hans Lietzmann, in: Kurt Aland (Hg.), Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1942), mit einer einführenden Darstellung hg. von Kurt Aland, Berlin/New York 1979, 1006 f.): „Das Schwierige ist: ein Buch über ‚Luthers Theologie‘ ist unmöglich. Luther ist eben Zweierlei. Einmal der Vorläufer und Wegbereiter eines neuen Christentums, das selbst über unsern Horizont noch z. T. hinausgeht, über den des 16. Jahrhunderts allemal. Dies kann man nur so darstellen wie Holl, in geistes- und religionsgeschichtlichen Einzel-Studien, die von Luther bis zu uns hingehen. Dann der Theolog und Kirchenmann des 16. Jahrhunderts. Wenn man dessen Gedanken systematisch entwickelt, dann kommt
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Stattdessen zielt Hirsch darauf ab, sich Luther in systematischer Perspektive und eigenverantworteter Produktivität anzueignen, denn „nichts kennzeichnet einen Theologen mehr als die Art, wie er Luther sieht und braucht. Ein Geltendmachen Luthers, welches statt an dem eine neue Gestalt christlichen Denkens und Lebens einleitenden Durchbrecher für einen eignen neuen Weg zu lernen, den Theologen des 16. Jahrhunderts uns zu repetieren empfiehlt, ist nichts als theologisch unfruchtbarer Totenkult.“90 Diese Neuaneignung muss der Umformungskrise der Neuzeit Stand halten können. Diese wird davon angetrieben, dass das human-neuzeitliche Wahrheitsbewusstsein in methodischer Hinsicht Descartes als seinen Ahnherrn ansetzt, somit jeden Zweifel zulässt und entsprechend den Ansatz und die Inhalte des christlichen Glaubens nur insoweit akzeptiert, als sie von ihm als vernünftig und einleuchtend nachvollzogen werden.91 Um dem Maßstab des neuzeitlich-humanen Wahrheitsbewusstseins zu genügen, baut Hirsch seine eigene „Rechenschaft“ als Subjektivitätstheorie92 auf, die unter der Übernahme einer an Kant und dem späten Fichte geschulten Epistemologie die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens in der Spannung von Gesetz und Evangelium präsentiert. Der eingangs dieses Abschnittes präsentierte Luther der Gewissensreligion ist genau derjenige, der in dieses Programm passt. Der wahre Luther ist somit gleichsam ein Hirsch avant la lettre.
etwa das heraus, was herauskäme, wenn ich die Lutherzitate meines Hilfsbuchs als Anmerkungen und Belege zu einer eignen Darstellung verwendete. (. . .) Das ist dann aber nicht Luther, sondern nur der sich selbst zum Pädagogen und Kirchenmann begrenzende Luther, und das Beste und Größte kommt nicht zu seinem Rechte. Ich habe niemals einen Ausweg aus diesem Dilemma gesehen. Das Erste ist nicht Luthers Theologie, und das Zweite ist nicht Luther. Darum hab ich das Buch nie schreiben können.“ 90 Hirsch, Rechenschaft I, § 38, 127. 91 Siehe Hirsch, Rechenschaft I, § 44, 156–162 und dazu Barth, Christologie, 567. 92 Bei dem Streit zwischen Eilert Herms, Emanuel Hirsch, in: Wolf D. Hauschild, Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhundert, Gütersloh 1998, 301–319, bes. 305 f., der meint, dass Hirsch Intersubjektivitätstheoretiker ist, da er das Gewissen in der Begegnung mit dem Anderen erwachen sieht, und Barth, Gott – die Wahrheit, 132, Anm. 103, der meint, dass Hirsch Subjektivitätstheoretiker ist, folgen wir der vermittelnden Position von Assel, Aufbruch, 186–190, die besagt, dass Hirsch die subjektivitätstheoretische Durchführung einer intersubjektivitätstheoretisch angelegten Theorieform vorlegt.
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1.1.4. Fazit: Aufnahme von Impulsen der Lutherrenaissance Resümierend ergeben sich aus den Überlegungen zu Harnack, Holl und Hirsch Anknüpfungspunkte und Anfragen in formaler, methodischer und inhaltlicher Hinsicht, die für die folgende Rekonstruktion Luthers zu beachten sein werden: 1. In formaler Hinsicht gilt: Der Beobachtung der Neuprotestanten, die Luther als „zweigesichtig“ kennzeichnen, ist insofern zuzustimmen, als Luther weder im Ganzen als Initiator der oder als relevant für die Neuzeit zu rekonstruieren noch im Ganzen nur als eine spätmittelalterliche Erscheinung zu verstehen ist. In dieser Hinsicht ist die Unterscheidung zwischen dem wahren und dem ganzen Luther sinnvoll. Allerdings ist es strittig, welche Aspekte an Luther welchem Luther zuzuordnen sind. Auch wenn es nicht das Ziel des vorliegenden Buches ist, den wahren Luther in Gänze zu rekonstruieren, so rekonstruiert das Buch doch gerade einen solchen Aspekt Luthers als einen Aspekt des wahren Luthers, den Harnack und Hirsch als Aspekt des ganzen und damit gerade nicht als Aspekt des wahren Luther verstanden und den Holl daher ganz ignorierte (siehe dazu auch Punkt 3. in diesem Fazit). 2. In methodischer und geltungstheoretischer Hinsicht gilt: Hirsch ist darin zuzustimmen, dass die jeweils getroffene Benennung desjenigen Aspektes an Luther, der als der wahre gefasst wird, nicht allein aus sorgfältiger historischer Arbeit an den Quellen erfolgt. Vielmehr speist es sich zudem aus normativen Annahmen, welche von demjenigen Bild der Neuzeit und demjenigen Verständnis von Philosophie geprägt sind, das jeweils leitend ist. Wiederum im Anschluss an Hirsch gebietet es dann die intellektuelle Redlichkeit auch, den wahren Luther vor dem human-neuzeitlichen Wahrheitsbewusstsein zu explizieren. Um dieser Aufgabe nachzukommen, wird die Auslegung Luthers in diesem Buch (Drittes Kapitel, 2.) mit einer Analyse des gegenwärtigen Zeitalters als eines technischen (Erstes Kapitel) und mit erstphilosophischen, kategorialen Reflexionen in Beziehung gesetzt (Zweites Kapitel).93 93 Allerdings divergiert unsere Position in derjenigen anderen Hinsicht von Hirschs Verständnis der Umformungskrise, als wir das human-neuzeitliche Wahrheitsbewusstsein nicht für eine gleichsam monolithische, in sich geschlossene und einheitliche Größe halten, die als diese eine von normativem Wert ist und auf die zu reagieren daher nur in genau einer Art intellektuell redlich wäre, siehe zu dieser Kritik an Hirsch auch Herms, Emanuel Hirsch, 309–317. Eine solche Sicht scheint Ausdruck des selben Verfügungsgestus zu sein, der im Herzen des technischen Weltzugriffs herrscht. Auch wenn wir (darin vielleicht wieder in einiger Nähe zu Hirsch)
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3. In materialer Hinsicht gilt: Der uns in dem vorliegenden Buch interessierende Grundzug des Wirklichkeitsverständnisses kann auf diejenigen beiden namhaft gemachten Tiefenstrukturen der Lutherauslegung von Harnack, Holl und Hirsch bezogen werden, welche zugleich als verdeckte Kriterien ihrer Lutherauslegung fungieren. Allerdings optiert unser Buch jeweils anders als diese. Somit vertreten wir zum einen ein Verständnis von Religion, das als metaphysisch gekennzeichnet ist und das zudem auf einen Begriff des Geistes abzielt, der selbst material vermittelt ist. Von Harnack, Holl und Hirsch ist dabei jedoch die Frage aufzunehmen, inwiefern sich dieses Verständnis von der quasi-dinglichen Substanzmagie des Spätmittelalters so unterscheidet, dass ein qualifizierter Begriff der personalen Begegnung Gottes mit dem Menschen gesichert ist, und inwiefern es sich vor dem gegenwärtigen Wahrheitsbewusstsein verantworten lässt. Die Überlegungen Kochs haben bereits eine Position der Vermittlung von Geist und Materie jenseits der Optionen eines Dualismus einerseits und eines Naturalismus andererseits vor Augen treten lassen. Zum anderen und in Entsprechung dazu wird ein Wortverständnis vertreten, das Geist, Materie und Wort aufs engste miteinander verbindet, da Gott und die Dinge in eigener Weise Worte sind und da die Worte Gottes eine performativ-promissionalen Seite haben.94 Der Luther der späten Abendmahlsschriften vertritt somit eine Metaphysik, die den Geist in ausgezeichnete Weise vermittels des äußerlichen Wortes mit der Wirklichkeit auch in ihrer Materialität verbindet und somit Geist und Natur bzw. Religion und Metaphysik mit dem Wort miteinander verbindet.
1.2. Luther als Wegbereiter des neuzeitlichen Anthropozentrismus: Karl Barths reformierte Perspektive Karl Barth ist kein Lutherforscher im engeren Sinne. Zwar hat er sich mit Luther Zeit seines Lebens auseinandergesetzt, aber er hat nur eine einzur Klärung und Begründung kategorialer Fragen auf eine Erstphilosophie mit entsprechenden Begründungansprüchen zurückgriffen, darf weder die faktische Pluralität gegenwärtiger Ansätze in Theologie und Philosophie einfach überspielt werden noch vergessen gemacht werden, dass wir erstphilosophische Einsichten stets nur im Modus der Debatte um erstphilosophische Einsichten haben. 94 Unsere Position wird durch Einsichten Kochs gestützt, die besagen, dass Theorie und Sprache ein Wechselverhältnis darstellen und dass die Dinge in prädikatlosem Dingdialekt zum Menschen reden.
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zige Veröffentlichung ausschließlich Luther gewidmet95 und ihn sonst zwar häufig, aber jeweils nur auf wenigen Seiten behandelt.96 Dennoch lohnt es sich mindestens aus zwei Gründen, einen Blick auf Barths Lutherbild zu werfen. Denn erstens erinnern uns die Beobachtungen des reformierten Theologen Barth daran, dass eine jeweilige Lutherlesart jeweils auch konfessionellen Präferenzen folgt. Zweitens ist es interessant, dass Barth einerseits einige neue Aspekte in die Debatte einführt und dabei auch der neuprotestantischen Lutherdeutung etwa in der Frage nach der Bewertung der Neuzeit widerspricht, dass er aber andererseits ein Lutherbild entwirft, das in einiger Nähe zu dem der Neuprotestanten steht. So arbeitet Barth mit der grundlegenden Unterscheidung einer negativ gewerteten Ontologie statischen, substanzhaften Seins oder des Habens, die dem neuprotestantischen Verständnis einer Substanz-Metaphysik ähnelt und vom finitum capax infiniti geprägt ist, und einer positiv bewerteten Ontologie des Ereignisses, die die Freiheit des Geistes betont und durch das finitum non capax infiniti bestimmt ist. Er wendet diese Unterscheidung auf eine Vielzahl von Aspekten an, die für sein Lutherbild (ebenso wie für seine eigene Theologie als Ganze) von großer Relevanz sind. Der Ontologie des statischen Seins wird (u. a.) die zu enge Verbindung von Geist und Natur ebenso zugeschrieben wie ein Wortverständnis, das Zeichen und Bezeichnetes zusammenfallen lässt. Beides liegt nach Barth gerade in Luthers Verständnis des Abendmahls vor. Das sei unter Konzentration auf Barths Lesart von Luthers Abendmahlslehre in systematischer Hinsicht97 genauer ausgeführt. 95 Karl Barth, Ansatz und Absicht in Luthers Abendmahlslehre, in: Karl Barth, Vorträge und Kleinere Arbeiten 1922–1925. Karl Barth Gesamtausgabe, im Auftrag der Karl-Barth-Stiftung herausgegeben von Hinrich Stoevesandt. III. Vorträge und kleinere Arbeiten, Zürich 1990, 248–306. Gerhard Ebeling, Karl Barths Ringen mit Luther, in: Gerhard Ebeling, Lutherstudien. Band III, Mohr 1985, 435–529, 445, nennt diesen Vortrag auch wegen seiner inhaltlichen Verfasstheit den „klassischen“ Text des Ringens Barths mit Luther; entsprechend nimmt unsere systematische Analyse auch von ihm her ihren Ausgang. 96 Einen chronologischen Durchgang durch das Gesamtwerk Barths im Hinblick auf die Auseinandersetzung Barths mit Luther findet sich bei Ebeling, Karl Barths Ringen, 435–529. Deutlich wird dabei, dass sich Barth Zeit seines Lebens mit Luther beschäftigte, dass er sich aber in besonderem Maße Mitte der 1920er Jahre bis zum Erscheinen von Barth, KD I/1, und dann wieder ab den 1950er Jahren (somit ab Barth, KD IV) mit Luther auseinandersetzte. 97 Wie deutlich werden wird, gibt es positive und negative Aussagen Barths zu Luther. Auch wenn gewisse Phasen auszumachen sind (siehe Ebeling, Karl Barths Ringen, 435–529), so lassen sich die verschiedenen Bewertungen Barths insgesamt nicht chronologisch sortieren, so als ob etwa der frühe Barth Luther durchgehend
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Luther, so Barth, betont, dass das Sakrament allein durch das Hinzukommen des Wortes Gottes und damit durch Gottes Gnade zum Sakrament wird. Allerdings betont Luther dabei die Kraft der Zusage so sehr, dass das Wort „aus der Sphäre des bloß Hör- und Verstehbaren auf die Schwelle der Welt des Sicht- und Greifbaren tritt“98 : „[E]s ist, ‚est‘“.99 Zugleich betont Luther, dass das Sakrament allein durch das Hinzukommen des Glaubens zum Sakrament wird. Allerdings führt er dabei aus, dass dem Glauben das Heil nicht nur zugesagt, sondern auch gegeben und schließlich sogar zugeeignet wird, da Christus selbst als realpräsent verstanden wird. „In der Hemmungslosigkeit, in der Luther (von Anfang an!) diese drei sehr verschiedenen Dinge (zugesagt, gegeben, zugeeignet) aneinanderreiht, als ob sich das von selbst verstünde, steckt m. E. die Größe und das Problem seiner Abendmahls-(und vielleicht nicht nur seiner Abendmahls-)Lehre.“100 Zeichentheoretisch gewendet, setzt Luther an die Stelle des Zeichens die Sache selbst (ohne das Zeichen aufzuheben). Somit wird „das Verheißene zum Besitz, das Gleichnis zur Gleichung“,101 das Wort Gottes gibt sich ganz in das Wort des Menschen hinein. Dabei aber besteht die Gefahr, dass göttliches und menschliches freundlicher gesinnt wäre als der späte. Vielmehr finden sich manchmal sogar gegensätzliche Einschätzungen in derselben Schrift, siehe etwa Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Karl Barth, Vorträge und Kleinere Arbeiten 1922–1925. Karl Barth Gesamtausgabe, im Auftrag der Karl-Barth-Stiftung herausgegeben von Hinrich Stoevesandt. III. Vorträge und kleinere Arbeiten, Zürich 1990, 144–175, 157 f. (wo Luther gelobt wird als jemand, der um die Differenz von Gott und Mensch weiß) und 175 (wo das lutherische „est“ ebenso entschieden kritisiert wird wie die von Luther vertretene Heilsgewissheit). Auch die in obiger Fußnote angegebene Grunddifferenz zwischen Barth und Luther, die besagt, dass Luther das Gotteswort tatsächlich im Menschenwort sich ereignen sieht, während Barth hier eine letzte Distanz wahren will, bezeichnet eine Position Barths, die dieser durchgehend beibehalten hat. Die Verschiebungen vom frühen, dialektischen, zum späten, analogischen Barth beinhalten damit zumindest keine grundsätzliche Veränderung dieser Position, so auch Oswald Bayer, Theologie (HST 1), Gütersloh 1994, 372 f. Der ganz späte Barth verstärkt diese Position sogar wieder, wenn er – im Vorausblick auf die dann nicht durchgeführte Abendmahlslehre – in Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV/4, Zürich 1967, IX, das Abendmahl in Analogie zur Taufe als „das christliche (menschliche!) Werk in seinem korrespondierenden und also eigenständigen Charakter gegenüber dem IV/1–3 umrissenen göttlichen Versöhnungswerk“ charakterisiert. 98 Barth, Ansatz, 259. 99 Barth, Ansatz, 261. Siehe zu dieser Kritik an Luthers „est“ bereits Barth, Wort Gottes, 175. 100 Barth, Ansatz, 279. 101 Barth, Ansatz, 288.
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Wort verwechselt werden. Gott wird in das Objekt eingeschlossen102 und es kommt zu einem „magischen“103 „Realismus und Objektivismus“.104 Dieser vergisst, dass Gott herrscht und beleidigt daher Gottes Ehre.105 Laut Barth beeinflusst dieser Grundzug von Luthers Abendmahlslehre seine gesamte Theologie106 und erweist sich somit als Grundzug seiner Theologie überhaupt. Entsprechend verfolgt Barth ihn in Luthers Lehre vom ersten, zweiten und dritten Artikel hinein. In ausgezeichnetem Maße ist Luthers Christologie durch diesen Grundzug geprägt. Luthers Christologie ist durch die Idiomenkommunikation charakterisiert, die auch das genus majestaticus beinhaltet. Laut dieser bekommt die menschliche Natur Jesu als solche, in ihrer „Zuständlichkeit“107 – und somit nicht nur im Ereignis der Heilsgeschichte und in Bezug auf die gesamte Person Jesus Christus – die göttlichen Prädikate zugeschrieben. Damit aber sind Rückwirkungen auf den ersten Artikel gegeben, da das nun die „Möglichkeit einer Umkehrung von oben und unten, Himmel und Erde, Gott und Mensch bedeutet“.108 Ebenso hat das Auswirkungen auf den
Siehe dazu Karl Barth, Die Lehre von den Sakramenten, in: Karl Barth, Vorträge und Kleinere Arbeiten 1925–1930. Karl Barth Gesamtausgabe, im Auftrag der Karl-Barth-Stiftung herausgegeben von Hinrich Stoevesandt. III. Vorträge und kleinere Arbeiten, Zürich 1994, 393–441, 436. 103 Barth, Die Lehre, 435. 104 Barth, Die Lehre, 436. 105 Siehe Barth, Ansatz, 302, der dort diesen Einwand explizit als den der Reformierten kenntlich macht. Entsprechend schreibt Karl Barth, Die christliche Dogmatik im Entwurf. Erster Band. Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik 1927, Karl Barth Gesamtausgabe. Im Auftrag der Karl-Barth-Stuftung herausgegeben von Hinrich Stoevesandt, II. Akademische Werke, Zürich 1982, 536 zu einem Luther-Zitat, in dem dieser für die Predigt die Identität von göttlichem und menschlichem Wort festhält: „Darauf kann man bei allem Respekt nur mit einem glatten Nein antworten. Das geht zu weit, genau so (und das alles steht unter sich in Zusammenhang), wie Luthers Lehre von der Menschheit Christi, vom Abendmahl, vom Glauben und von der Kirche.“ 106 Siehe Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV/2, Zürich 1955, 89. 107 Barth, KD IV/2, 86. 108 Karl Barth, Ludwig Feuerbach. Fragment aus einer im Sommersemester 1926 zu Münster i. W. gehaltenen Vorlesung über „Geschichte der protestantischen Theologie seit Schleiermacher“. Mit einem polemischen Nachwort, in: ZdZ 5 (1927), 11–40, 25 f. Siehe dazu auch Barth, KD IV/2, 87, wo es heißt: „Ob da nicht doch eine Kreaturvergötterung oder eine Vermenschlichung des Schöpfers oder beides zugleich stattfindet?“ Barth hat die Einsichten des Feuerbach-Aufsatzes (teils bis in ähnlich lautende Formulierungen hinein) in Barth, KD IV/2 übernommen. 102
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dritten Artikel, da dadurch „die Möglichkeit, die eschatologische Grenze“109 zu vergessen, gegeben ist. Barth bestimmt den geschichtlichen Ort dieser Position Luthers in zweifacher Hinsicht, in Bezug auf seine Stellung in der Reformation und in Bezug auf die Genese und Verfasstheit neuzeitlicher Theologie und Philosophie. So sieht Barth die Debatte der Reformationszeit durch zwei Extrempositionen geprägt: 110 Bei der einen, von Zwingli vertretenen Position wird die Gnade ganz subjektiv gefasst, da die Zeichen ihre Kraft allein durch die Kraft des Glaubens erhalten. Bei der anderen wird die Gnade ganz objektiv gefasst, da die Zeichen ihre Kraft aus einer über-physischen Veränderung erhalten, aus einer seinsmäßigen Vergottung. Diese Position wird sowohl von den Katholiken wie von Luther vertreten. Die wahre Vermittlung beider Positionen als die Position, die zugleich Barths eigene ist, liegt bei Calvin vor, der von der Majestät Gottes und somit von der „Höhe über der Mitte der Gegensätze“111 aus denkt: So ist bei Calvin das Sakrament dem gesprochenen Wort relativ untergeordnet, „absolut übergeordnet ist beiden das Wort Gottes selber, dessen Zeichen beide sind.“112 Die Wirklichkeit der Offenbarung, die sich im Sakrament zeigt, ist als symbolische zu bestimmen und damit eine Wirklichkeit eigener Art: „Sie ist immer Wahrheit und Symbol, Wahrheit im Symbol, Symbol der Wahrheit, ohne dass in dieser sakramentalen Einheit der Wahrheitscharakter des Symbols dieses als solches oder der Symbolcharakter der Wahrheit diese als solche aufheben könnte, dürfte oder müsste.“113 In Bezug auf die Verhältnisbestimmung von göttlichem und menschlichen Wort impliziert diese Position, dass jede Identifizierung beider abzuwehren ist und in dialektischer Weise zu jedem menschlichen „Ja“ noch ein „Aber“ zu sagen ist.114 Wird Luthers Position innerhalb der Reformationszeit mit der der Katholiken identifiziert, so führt sie zugleich die neuzeitliche Philosophie und Theologie in ihrer theologisch höchst bedenklichen Verfasst Barth, Feuerbach, 25 Siehe zum Folgenden Barth, Die Lehre, 429–441. 111 Barth, Die Lehre, 437. 112 Barth, Die Lehre, 410. 113 Barth, Die Lehre, 419. 114 Siehe Barth, Ansatz, 306. Mit dem Hinweis darauf, dass in menschlicher Rede von Gott zu jedem „Ja“ noch ein „Aber“ hinzu zu fügen ist, um die Gottheit Gottes nicht zu verpassen, verweist Barth zugleich auf seine eigene Position, die er in Barth, Wort Gottes, 166, als „dialektische“ Rede von Gott ausführlicher dargelegt hat. 109 110
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heit mit herbei.115 Denn indem die im Rahmen der Abendmahlslehre entwickelte Christologie Luthers durch das genus majestaticus Jesu menschliche Natur als solche den göttlichen Prädikaten zuschreibt, wird die Entwicklung angebahnt, nicht nur die menschliche Natur Jesu, sondern damit zugleich die menschliche Natur als solche als vergottungsfähig zu verstehen. Die Apotheose der menschlichen Natur überhaupt nimmt von hier ihren Ausgang. Entsprechend versteht sich der gesamte Deutsche Idealismus und namentlich Hegel zu Recht als Lutheraner. Auch Feuerbach mit seiner grundlegenden These, dass das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist, nimmt Luther aus gutem Grund für seine Position in Anspruch. Feuerbach aber ist deshalb so wichtig, weil sich in seinem Diktum die Wahrheit der gesamten neuzeitlichen Theologie ausspricht. Luther ist somit laut Barth nicht nur mittelalterlich – quasi-katholisch –, sondern zugleich Wurzel und Muster der verdorbenen neuzeitlichen Theologie, die in Wahrheit spekulative Anthropologie und somit natürliche Theologie ist. Luther und mit ihm gleichermaßen Mittelalter und Neuzeit verraten die Souveränität der Gottheit Gottes, die durch eine an Calvin geschulte Theologie zu verteidigen ist. Hier zeigt sich am deutlichsten, was den Umgang Barths mit Luther durchgehend methodisch prägt: Barth liest Luther nicht in distanziert dogmengeschichtlicher Perspektive, sondern setzt sich mit ihm in systematischer Hinsicht auseinander, und seine Spiegelung von Luther- und Neuzeitdeutung ist Teil seines systematischen Gesamtprojektes. In dieser methodischen Hinsicht ähnelt Barths Lutherlesart somit der seines Kollegen und Gegners Emanuel Hirsch, auch wenn Barth die Neuzeit als Verfallsgeschichte liest und damit gerade nicht als einheitliche Norm, der sich theologisches Denken zu ergeben hat. Ein theologischer Lehrer, mithilfe dessen Barth die Verteidigung der Gottheit Gottes organisiert, ist für Barth immer wieder – Luther selbst. Barth kommt zu keiner expliziten abschließenden Zuordnung beider Seiten Luthers, sondern verweist nur in einigen Nebenbemerkungen darauf, dass der von ihm gelobte (und somit der – von Barth so nicht genannte – „wahre“) Luther tendenziell der ältere Luther ist116 und zudem Siehe zum Folgenden Barth, KD IV/2, 88–91. Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV/1, Zürich 1953, 587; Barth bevorzugt in dieser Passage den älteren Luther, da dieser Rechtfertigung und Heiligung angemessen zu unterscheiden wusste, auch, weil der ältere Luther eine gegenüber der Rechtfertigungslehre eigenständigere Christologie entwickelt hat. Siehe zu diesem ganzen Abschnitt auch Saarinen, Gottes Wirken, 191–208. 115 116
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gegen manchen Wortlaut die „Intention“117 Luthers vertritt. Dieser Luther steht in einer Linie mit Kierkegaard, Calvin, Paulus und Jeremias und verweist gegen Schleiermacher darauf, dass „von Gott [zu] reden etwas Anderes heißt als in etwas erhöhtem Ton vom Menschen [zu] reden.“118 Im Laufe seines Gesamtwerkes kann Barth unter Rekurs auf diesen Luther Luther zu fast allen Themen loben, aufgrund derer er ihn auch kritisiert. Da bei Luther Gottes Souveränität gewahrt bleibt, wird das Wort nicht zu einer Erlebnismöglichkeit des Menschen.119 Im Glauben werden die göttlichen Prädikate nicht übertragen, und Symbol und Wirklichkeit bleiben unterschieden. Überhaupt ist des Menschen Vergottung ausgeschlossen. Das liegt zum einen in Luthers theologia crucis und der von daher immer zu beachtenden Verhülltheit der Offenbarung und der damit einhergehenden Verunmöglichung jeder natürlichen Theologie begründet.120 Das liegt zum anderen daran, dass in der unio cum Christo Christus herrschendes Subjekt in einer hierarchisch organisierten Tatgemeinschaft bleibt.121 Barth wendet sich zwar mehrfach gegen die Lutherdeutung der Lutherrenaissance, da bei dieser die Erlösung mit der Betonung des menschlichen Erlebens Gottes im Gewissen zu „menschliche[r] Zuständlichkeit“122 zu werden droht. Es ist aber deutlich, dass Barth Luther auch in materialer Hinsicht anhand derselben zwei Tiefenstrukturen bewertet, die auch in der Lutherrenaissance als wirksam identifiziert wurden: 123 Er sieht bei Luther insgesamt und vor allem in dessen Abendmahlslehre Geist und Natur als zu eng und zu statisch miteinander ver Barth, KD IV/3, 636. Barth, Wort Gottes, 158. 119 Karl Barth, Der heilige Geist und das christliche Leben, in: Karl Barth, Vorträge und Kleinere Arbeiten 1925–1930. Karl Barth Gesamtausgabe, im Auftrag der Karl-Barth-Stiftung herausgegeben von Hinrich Stoevesandt. III. Vorträge und kleinere Arbeiten, Zürich 1994, 458–520, 493. Hier zeigt sich nochmals die frappierende zeitliche Nähe der verschiedenen Bewertungen, die Barth Luther angedeihen lässt: Der Aufsatz Barth, Die Lehre, in dem er Luthers Theologie als quasi-katholisch mit magischen Zügen zeichnet und damit scharf gegen Calvin setzt, erscheint in demselben Jahr 1929, in dem er in dem Geist-Aufsatz Luther und Calvin gemeinsam gegen Augustin und die Neuzeit in Stellung bringt. 120 Siehe Barth, Der heilige Geist, 494 und Barth, KD I/1, 253 sowie Ernst Busch, Die Lutherforschung in der dialektischen Theologie, in: Rainer Vinke, Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, Mainz 2004, 51–69, v. a. 56–63. 121 Siehe Barth, KD IV/3, 685. 122 Barth, Der heilige Geist, 515. 123 Siehe dazu auch Saarinen, Gottes Wirken, 206–208. 117 118
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mittelt. Das führt in die Neuzeit hinein, in welcher die Theologie zur spekulativen Anthropologie umgebaut wird und damit Metaphysik und das Wort Gottes (als den Bereich, den die Neuprotestanten mit der Religion bezeichneten) nicht angemessen getrennt werden. Zudem sieht Barth diese Überidentifikation auch in Bezug auf Luthers Verhältnisbestimmung von menschlichem und göttlichem Wort vorliegen. Seinen „wahren“ Luther lobt er deshalb, weil dieser von der Souveränität Gottes her denkt, die Begegnung zwischen Gott und Mensch als ereignishaft entwirft und dabei den letzten Abstand zwischen Geist und Natur sowie zwischen menschlichem und göttlichem Wort wahrt. Man kann bezweifeln, dass Barth mit seinem „wahren“ Luther Luther wahrhaftig getroffen hat.124 Deutlich aber ist, dass die Auseinandersetzung Barths mit Luther in der Frage nach letzter Identität oder dem letztem Abstand von göttlichem mit dem menschlichen Wort gipfelt, in der Frage nach dem „est“. In dieser Auseinandersetzung Barths mit Luther und in der Entscheidung Barths, sich hier gegen den „ganzen“ Luther zu stellen, zeigt sich zugleich ein Grundzug der Theologie Barths als Ganzer.125 Als Impuls für die vorliegende Lutherauslegung ist die Frage auf In seinem Vergleich des frühen Barths mit der Theologie Luthers kommt Wilfried Härle, Die Theologie des „frühen“ Karl Barth in ihrem Verhältnis zu der Theologie Martin Luthers, Bochum (diss. masch.) 1971, zu dem Ergebnis, dass die beiden Theologien in grundsätzlichen Hinsichten gegensätzlich organisiert sind, da bei Barth Gott und Welt wesentlich getrennt sind, bei Luther aber Gott mit der Welt vermittelt ist, Offenbarung bei Barth wesentlich Verhüllung bedeutet und Schöpfung und Fall ineins fallen, während Luther beide gerade unterscheidet. Entsprechend sind auch zentrale Begriffe Luthers, die Barth übernimmt, bei Luther selbst in Wahrheit anders semantisch besetzt, siehe dazu exemplarisch a.a.O., 31–35 die verschiedenen semantischen Füllungen des Begriffes theologia crucis. Barth fasst diesen Begriff als völlige Verborgenheit der Offenbarung, bei Luther aber zeigt er das paradoxe Handeln desjenigen Gottes an, der sich im Kreuz ganz erschließt. 125 Im Rahmen dieser Arbeit konnte nicht die gesamte Auseinandersetzung Barths mit Luther rekonstruiert werden. Im Anschluss an Bayer, Theologie, 310– 388, 375, kann die Auseinandersetzung Barths mit Luther in systematischer Hinsicht wie folgt zusammengefasst werden: „Barth [. . .] unterscheidet, wo nach Luther eine Einheit herrscht, während er dort eine Einheit sieht, wo nach Luther zu unterscheiden ist.“ Diejenige Einheit, die Barth in Anschlag bringt, obwohl dort nach Luther zu unterscheiden ist, ist die von Gesetz und Evangelium. Auch Ebeling, Karl Barths Ringen, 537–573, meint, dass die Grunddifferenz zwischen beiden in dieser Richtung zu finden ist. Ebeling rekonstruiert die Grunddifferenz so, dass er Luther und Barth gleichermaßen als christozentrische Theologen ansieht, dass er aber Barths Christozentrismus als logisch-analogischen fasst, den von Luther hingegen als forensisch-antithetischen. Dieser Aspekt der Debatte Barths mit Luther konnte hier nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen konzentrierten wir uns auf die zweite 124
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zunehmen, wie eine Form des „est“ aussieht, die die Souveränität Gottes nicht in unangemessener Weise verkleinert. Diese Sachfrage erinnert zudem daran, dass Barth seine Position vor allem in expliziter Anknüpfung an Calvin und damit als reformierte entwickelt.126 Unsere Lutherauslegung wird einerseits zeigen, dass Luther Gott in einer solchen Dialektik von Transzendenz und Immanenz denkt, die die Immanenz Gottes betont, ohne dabei die Transzendenz zu verlieren. Denn Gott legt zwar seine Ehre dahinein, den Menschen in leiblicher Form ganz nahe zu kommen, aber Gott wird dadurch weder konstituiert, noch erschöpft er sich darin (siehe Drittes Kapitel, 2.2.2.3.). Andererseits ist es unübersehbar, dass dennoch Unterschiede in der Akzentuierung zwischen einer reformierten Theologie und der Luthers bestehen: Während der späte Luther betont, dass Gott seine Ehre dahinein legt, der Schöpfung auch in materieller Vermittlung ganz nah zu sein, sehen die Reformierten die Ehre Gottes so bestimmt, dass aufgrund ihrer eine letzte Differenz zwischen Gott und Schöpfung zu betonen ist.127 Im Folgenden soll nicht die Wirkung des Barthschen Lutherbildes weiterverfolgt werden,128 sondern ein kurzer Hinweis auf diejenige der von Bayer genannten Perspektiven, die besagt, dass Barth dort unterscheidet, wo nach Luther eine Einheit herrscht. Damit ist auf das Verhältnis von Gottes- und Menschenwort abgezielt, und die Frage ihrer Verhältnisbestimmung, so Bayer, Theologie, 388, ist von den beiden genannten Streitpunkten der treibende und tiefer liegende. Auch Joachim Ringleben, Gott im Wort unserer Sprache, in: Rainer Vinke, Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick, Mainz 2004, 117–134, 132–134, sieht hierin eine grundlegende Differenz zwischen beiden, aufgrund derer Barth nur im uneigentlichen Sinne als Theologe des Wortes zu bezeichnen sei. 126 Damit ist Barths Lutherbild bei aller Nähe doch auch durch eine entscheidende Differenz zu dem der Lutherrenaissance geprägt. 127 M. E. gilt das auch nach der Leuenberger Konkordie. Die konfessionellen Differenzen in Bezug auf Fragen des Abendmahls sind nur auf der Oberfläche ausgeglichen; weitergehende Differenzen (capax/non capax) bleiben einschlägig und prägen die Tiefenstruktur einer Theologie. 128 Eine ganze Reihe von Theologen, die von Barth stark beeinflusst oder sogar seine direkten Schüler waren, haben Studien zu Luther vorgelegt, darunter Ernst Wolf, Hans Joachim Iwand, Paul Schempp, Wilhelm Link, Harald und Hermann Diem, Karl Gerhard Steck und Helmut Gollwitzer. Letzterer ist für unser Projekt deshalb von besonderem Interesse, weil er sich ausführlich mit Luthers Abendmahlslehre auseinandergesetzt hat, siehe Helmut Gollwitzer, Coena Domini, Die altlutherische Abendmahlslehre in ihrer Auseinandersetzung mit dem Calvinismus dargestellt an der lutherischen Frühorthodoxie, München 1937, bes. 54–65, und Helmut Gollwitzer, Luthers Abendmahlslehre, in: Hans Asmussen, Helmut Gollwitzer, Friedrich W. Hopf (Hg.), Abendmahlsgemeinschaft? München, 2., erweiterte Aufla-
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Schule der Lutherdeutung erfolgen, die – in der bisher entwickelten Terminologie gesprochen – gerade den ganzen Luther für den wahren hält. Damit verlässt der Blick in die Forschungsgeschichte solche Positionen, von der sich die vorliegende Lutherauslegung zumindest in materialer Hinsicht absetzt, und erreicht solche, an die sie sich in recht umfangreichem Maße anzuschließen vermag. Denn im Folgenden wird zuerst Luther als Theologe des Wortes (Drittes Kapitel, 1.3.) und dann Luther als Theologe der Gabe (Drittes Kapitel, 1.4.) vorgestellt; Luthers späte Metaphysik des Abendmahls aber ist dadurch gekennzeichnet, dass er die Wirklichkeit als ein worthaftes Gabegeschehen fasst.
1.3. Der mittlere Luther als der reformatorische: Ernst Bizers Luther als Theologe des Wortes Ernst Bizers Hauptwerk Fides ex auditu vertritt die These, dass das Reformatorische an Luthers Theologie die Bestimmung des Wortes als performatives oder „als das Gnadenmittel“129 ist, das die Vermittlung der Gnade nicht nur anzeigt, sondern vollbringt. Bizer löst damit die wohl wichtigste reformationsgeschichtliche Debatte in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg aus130 und präsentiert eine eigenständige Spielart einer der Dialektischen Theologie verpflichteten Lutherinterpretation. Sie ist stark historisch fokussiert, ist sich ihrer systematischen und neuzeittheoretischen Implikationen aber stets bewusst. So versteht sich Bizer von seinen Anfängen bis zu seiner letzten größeren Publikation als Vertreter der Dialektischen Theologie131 und sieht die theologische Intention ge 1938, 94–121. In Aufnahme von Impulsen Barths fragt Gollwitzer, Coena Domini, 63, ob bei Luther nicht das Fleisch als solches selig machen würde und insofern ein im qualifizierten Sinne verstandenes „magisches“ Wirklichkeitsverständnis vorliege, „wo Unpersönliches aus sich heraus auf Persönliches wirkt, ohne personal in der Weise der Freiheit geleitet zu sein.“ 129 Bizer, Fides ex auditu, 5 u. ö. 130 Zu dieser Einschätzung siehe auch Thomas Kaufmann, Die Frage nach dem reformatorischen Durchbruch. Ernst Bizers Lutherbuch und seine Bedeutung, in: Rainer Vinke (Hg.), Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick-Bilanz-Ausblick, Mainz 2004, 71–97, 71. Die Vorgeschichte der Debatte um Bizer sowie diese selbst bis in die Mitte der 1960er Jahre hinein wird rekonstruiert von Otto Hermann Pesch, Zur Frage nach Luthers reformatorischer Wende. Ergebnisse und Probleme der Diskussion um Ernst Bizer, Fides ex auditu, in: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Wege der Forschung 73, Darmstadt 1968, 445–505. 131 Siehe dazu schon eine der ersten Veröffentlichungen Bizers: Ernst Bizer, Die
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der eigenen kirchengeschichtlichen Arbeiten darin, dieser zu dienen.132 Damit geht eine Beurteilung neuzeitlicher Theorielagen einher, die in Gestus und Gehalt geradezu an Barth gemahnt. Bizer schreibt etwa über den Abendmahlsstreit Luthers: „Es ging im Abendmahlsstreit auch um eine geistesgeschichtliche Entscheidung über die ganze geistige und politische Ordnung der gesamten europäischen Welt. Es ging um die Abwehr aller Arten des Subjektivismus, des Schwärmertums, des Rationalismus, des Pietismus, des Liberalismus, die heute in der Kirche Luthers regieren“133 – und zwar zu ihrem größten Schaden, wie Bizers 1940 veröffentliche Text deutlich durchklingen lässt. Entsprechend soll auch in der Gegenwart vertreten werden, was für Luther prägend war: dass das Wort Gottes als Ausgangspunkt von Frömmigkeit und Theologie zu nehmen ist.134 Ist Bizer in den bisher genannten Aspekten Barth nahe, so zeigt eine Näherbestimmung dessen, was er unter dem Wort Gottes versteht, die große Differenz Bizers zu Barth. Durch seine Position wird Bizer nicht nur zu einem wichtigen Lutherforscher, sondern auch zu einem eigenständigen Vertreter Dialektischer Theologie.135 Wie Barth sieht Bizer, dass der sich im Wort als Gnadenmittel ereignende Zusammenfall von Augustanafeier des Lutherischen Einigungswerkes in Augsburg, in: Christliche Welt 44 (1930), Sp. 1014–1019, 1014; und eine seiner letzten: Ernst Bizer, Über die Rechtfertigung, in: Ernst Bizer, J. F. Gerhard Goeters, Wolfgang Schrage (Hg.), Das Kreuz Jesu Chrsti als Grund des Heils, Gütersloh 1967, 11–29, 11 f.27–29. Die Entwicklung der Theologie Bizers ist bei Kaufmann, Die Frage, 75–88, sowie – unter besonderer Berücksichtung der früheren Jahre – bei Joachim Mehlhausen, In Memoriam Ernst Bizer (29. 4. 1904–1. 2. 1975), in: EvTh 37 (1977), 306–325 dargestellt. 132 Dies wird paradigmatisch in dem Nachwort zur dritten Auflage zu Bizer, Fides ex auditu, S. 191, deutlich. Dort wird Bizer von Regin Prenter vorgeworfen, dass Bizer „Luther zu dem großen Vorläufer der modernen ‚reformatorischen‘ Theologie des Wortes und der Existenz abstempelt.“ Bizer kommentiert ebd.: „Ich ehre das theologische Pathos, das aus diesen Sätzen spricht [. . .] und entnehme ihnen jedenfalls, dass der Verfasser die theologische Absicht meiner Schriftstellerei gesehen hat.“ 133 Ernst Bizer, Studien, 5 f. 134 Siehe Bizer Rechtfertigung, 11 f. Kaufmann, Die Frage, 81, legt dar, dass damit nicht nur um die Geltung der Dialektischen Theologie angesichts neu erstarkender anderer Strömungen gerungen wird, sondern dass dabei auch Motive eine Rolle spielten, die mit der eigenen Frömmigkeitsentwicklung Bizers im Zusammenhang stehen: Denn dieser entstammte keinem Pfarrhaushalt, so dass sein Zugang zu der (von pietistischer Frömmigkeit geprägten) Kirche durch die Theologie des Wortes erfolgte. 135 Siehe dazu auch Kaufmann, Die Frage, 84.
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Zeichen und Sache für Luthers reife Theologie als Ganze prägend ist.136 Anders als Barth meint er allerdings, dass damit gerade der wahre Luther bezeichnet ist, da so allererst Trost für angefochtene Gewissen gewährleistet ist und nur auf diese Weise jeglicher „Subjektivismus“ – jedes Schauen auf das eigene Gewissen und Werk – abgewehrt wird. Erst das von Barth abgelehnte Verständnis des Wortes, so könnte man formulieren, erlaubt es, Barths Intention eigentlich gerecht zu werden: Das ist der Vorteil einer von Luther her stammenden Theologie gegenüber einer reformiert geprägten.137 Bizers Lutherauslegung organisiert sich vor allem als Frage nach dem sachlichen Gehalt und der chronologischer Verortung der reformatorischen Entdeckung Luthers, weil Bizer sieht, dass damit zugleich das „Wesen des ‚Reformatorischen‘“138 zur Debatte steht. Er wendet sich gegen die vornehmlich von Holl initiierte und zu seiner Zeit fast durchgehend vertretene Ansicht, dass bereits in der Römerbrief-Vorlesung von 1515 der reformatorische Luther zu finden sei.139 Denn dort wird die Rechtfertigung in demutstheologischer Perspektive gedacht: Gottes Gerechtigkeit bewirkt die Gerechtigkeit des Menschen dadurch, dass er Glauben schafft. Erst im Glauben und somit aufgrund der Gnade erkennt der Mensch in vollem Umfang, dass er Sünder ist, dass von ihm ein reines Herz gefordert wird und dass er sich an Christus ausrichten soll, der den Weg der Demut voranging. Glauben heißt dann, selbst demütig zu werden und sich dem Gericht zu überantworten. Aufgrund der durch Gnade erreichten Demut, in der der Mensch sich als Sünder erkennt und somit Gott Recht gibt, rechnet Gott dem Menschen die Sünden nicht zu, sondern rechtfertigt ihn. Laut Bizer werden mit diesem Verständnis der Rechtfertigung zwar Theologumena festgehalten, die für die reformatorische Theologie wich So schon Ernst Bizer, Studien zur Geschichte des Abendmahlsstreits im 16. Jahrhundert. Gütersloh 1940, 17. 137 Der in ökumenischen Gesprächen engagierte Bizer hat in einer sorgfältigen Auslegung des Heidelberger Katechismus betont, dass im reformierten Verständnis des Abendmahls den bereits Gläubigen ein Mehr an Glauben gegeben wird. Um zu wissen, ob er zu den Gläubigen gehört und somit erwählt ist, muss der Gläubige im reformierten Verständnis in seinem Herzen eine gute Absicht spüren. Damit liegt eine nicht unerhebliche Differenz zum lutherischen Verständnis des Abendmahls vor, laut dem der Gottlose gerechtfertigt wird, der somit ganz von sich weg aufs Wort Gottes schauen kann, siehe Bizer, Studien, 302–328. 138 Bizer, Fides, 5. 139 Siehe zum folgenden Absatz Bizer, Fides, 23–53. 136
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tig sind. Dazu gehört, dass Gott die Sünden des Menschen nicht anrechnet und dass seine Gerechtigkeit die des Menschen bewirkt. Rechtfertigung geschieht somit aus Gnade (sola gratia), da Demut kein Werk des Menschen ist, und Glaube ist orientiert an Christus (solus Christus) und rechtfertigt (sola fide). Dennoch ist 1515 noch eine vorreformatorische Position gegeben. Denn es wird nur ein solcher Glaube als rechtfertigend angesehen, der in der Form der Demut und somit als fides formata auftritt. Gott rechtfertigt den Demütigen, nicht jedoch den Gottlosen aufgrund des gnadenvermittelnden Wortes des Evangeliums. Dieses Wortverständnis erlangt Luther erst später. Es ist jedoch von erheblichem sachlichen Gewicht, da allererst das Verständnis des Evangeliums als des gnadenvermittelnden Wortes die klare Unterscheidung von Gesetz und Evangelium als den zwei Worten Gottes ermöglicht und damit die Unterscheidung dessen, was in der vorreformatorischen Theologie Luthers ineins fiel. Erst von dem solo verbo aus werden die eben genannten Exklusivpartikel Aspekte reformatorischer Theologie. Bizers eigene Bestimmung dessen, was reformatorisch ist, orientiert sich an Luthers Vorrede zu den opera latina von 1545 sowie der Tischrede Nr. 5518.140 Bizer versteht Luthers Auslegung von Rm. 1,17 („Iustitia Dei revelatur in illo [sc. Evangelio], sicut scriptum est: Iustus ex fide vivit“) so, dass das Evangelium selbst die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes ist. Es ist als Promissio das Mittel, durch das der Gerechte im ganz am Wort orientierten Glauben die schenkende Gerechtigkeit Gottes empfängt.141 Mit diesem Verständnis des Evangeliums wird zudem die Hauptaussage von Luthers Tischrede aufgenommen, dass die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium das unterscheidend Reformatorische sei. Zur Explikation seiner Einsicht verfährt Bizer in methodischer Hinsicht so, dass er Luthers inhaltliche Bestimmung des reformatorischen Durchbruchs ebenso ernst nimmt wie dessen Datierung auf das Jahr 1518. Anhand der Quellen zeichnet er Luthers Weg zu dieser Entdeckung in folgender Weise nach. In der Hebräerbrief-Vorlesung (Sommersemester 1517 bis Anfang 1518) 142 entdeckt Luther, dass die Gerechtigkeit Gottes als schenkende, nicht als strafende zu verstehen ist.143 Zudem wird der Tod Jesu nicht mehr als Sakrament unseres geistlichen Siehe Bizer, Fides, 9–14. Siehe Bizer, Fides, 166. 142 Siehe Bizer, Fides, 75. 143 Dies geschieht in der Auslegung von Hebr. 7,1, siehe Bizer, Fides, 83 f. 140 141
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
Sterbens, sondern als Testament verstanden, durch das die Verheißungen in Kraft treten.144 Der Glaube wird als Glaube an das Wort, nicht mehr als Akt der Demut verstanden.145 In den Resolutiones zu den Ablassthesen tritt erstmals das performative – und damit das reformatorische – Wortverständnis in den Blick. Denn der sich zuerst als Demut vollziehende und so gerechtfertigte Glaube erlangt im Hören des Absolutionswortes des Priesters bei der Beichte unumstößliche Heilsgewissheit und wahren Frieden.146 Allerdings wird erst in der Auseinandersetzung mit Cajetan die volle reformatorische Position erreicht, denn erst im Laufe dieser Auseinandersetzung begreift Luther, dass der Glaube ganz von der Demut zu lösen und allein auf das Wort zu beziehen ist. Zudem bezieht Luther das performative Wortverständnis nicht mehr allein auf das Absolutionswort der Beichte, sondern auf das Evangeliumswort überhaupt.147 In den Predigten über die Gerechtigkeit fügt Luther dem hinzu, dass die Gerechtigkeit Gottes die mitgeteilte Gerechtigkeit Christi ist und der Glaube daher rechtfertigt.148 Im Kommentar über den Galaterbrief entdeckt er schließlich, dass mit dem neuen Wortverständnis die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium gegeben ist und damit die Einsicht, dass Gott zwei verschiedene Worte spricht.149 Somit ist im Jahr 1518 und damit zu dem von Luther in der Vorrede angegebenen Zeitpunkt die von ihm angegebene Position erreicht. Damit wird aus dem Ablassstreit die Reformation.150 Sowohl in genetischer wie in geltungstheoretischer Hinsicht zeigt sich in Luthers reformatorischer Theologie eine wechselseitige Verwiesenheit von Sakramentstheologie und Wortverständnis.151 An den Sakramenten Dies geschieht als Auslegung von Hebr. 9,17, siehe dazu Bizer, Fides, 87 f. Dies geschieht als Auslegung von Hebr. 7,22.9,14; siehe dazu Bizer, Fides, 89 f. 146 Siehe zu dieser Auslegung der 7. These der „Resolutiones“ Bizer, Fides, 108– 113. 147 Siehe dazu Bizer, Fides, 119. 148 Siehe dazu Bizer, Fides, 127–129. 149 Siehe dazu Bizer, Fides, 148–164. 150 Siehe Bizer, Fides, 122. 151 Diese Parallelisierung von Genese und Geltung bei wechselseitiger Verwiesenheit von Sakramentstheologie und Wortverständnis findet sich nicht nur bei Luther als dem Forschungsobjekt Bizers, sondern auch beim Lutherforscher Bizer selbst: Dieser entdeckt Luthers sakramentale Wortverständnis in seiner Auseinandersetzung mit Luthers Sakramentsverständnis, genauer: in Auseinandersetzung mit dessen Abendmahlslehre, und hält diese Einsicht als die für Luther in systematischer Hinsicht Entscheidende fest. Damit hat Bizer bereits 1940 die Grundeinsicht für seine Lutherauslegung von 1958 gewonnen, siehe Bizer, Studien, 1 f. 144 145
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– vornehmlich am Bußsakrament – entdeckt Luther das performative Wortverständnis, da der Mensch dem Wort des Priesters unumstößlich glauben soll. Damit schätzt Luther die Sakramente, weil in ihnen die Promissio laut wird. Entsprechend entwickelt Luther nun auch ein Verständnis von Taufe und Abendmahl, das diese von der Promissio her denkt.152 Umgekehrt versteht er das Wort der Predigt von den Sakramenten her. Das gilt nicht nur, weil die Predigt die Sündenvergebung als die zentrale Bestimmtheit der Sakramente zu ihrem Inhalt hat, sondern vor allem, weil das Predigtwort als Gnadenmittel selbst Sünden vergibt und somit sakramentalen Charakter hat: „Das Sakrament wird vom Wort aus verstanden, und das Wort selbst bekommt sakramentalen Charakter. Der Ausgangspunkt für beides ist das neue Verständnis von Röm. 1, 17: ‚Im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart‘, d. h., sie wird durch das Wort geschenkt.“153 In expliziter Ablehnung der Position der Lutherrenaissance nimmt Bizer somit den Luther ab Frühjahr 1518 als den wahren, reformatorischen, da dieser in Übereinstimmung mit seinem Selbstzeugnis das Wort als Gnadenmittel entdeckt. Sosehr Bizer mit seiner Betonung des Wortes als Gnadenmittel eine für das vorliegende Buch zentrale Einsicht erreicht, sosehr ist seine Position weiter zu entwickeln. Denn die schöpfungstheologische Dimension des Wortes sowie die Verbindung des Wortes mit der Leiblichkeit kommen bei ihm nicht ausreichend in den Blick. Während er die eine zu kritisierende Grundfigur der Lutherrenaissance – das nur signifikative Wortverständnis – überwindet, wird das andere – die Verbindung von Geist und Leib in der Schöpfung – nicht hinreichend bedacht. Um das Gesagte anhand von Luthers theologischer Entwicklung zu reformulieren: Bizers Wort- und Sakramentsverständnis ist ganz von Luthers Wort- und Sakramentsverständnis der Jahre 1518–1523 geprägt. Die Weiterentwicklung (nicht: Revision oder Ablösung) von Luthers Theologie in den Jahren 1523–1530 hingegen kommt nicht in ihrer positiven Gestalt in den Blick, sondern nur in Form der Abwehr substantialisierender Missverständnisse.154 152 Dies ist detailliert nachgezeichnet in dem nur ein Jahr vor „Fides ex auditu“ erschienen, großen Aufsatz Ernst Bizer, Die Entdeckung des Sakraments durch Luther, in: EvTh 17 (1957), 64–90. 153 Bizer, Fides, 178. 154 Siehe dazu die Auseinandersetzung mit Peter Brunner in Ernst Bizer, Lutherische Abendmahlslehre?, in: EvTh 16 (1956), 1–18. Brunner meint laut Bizer, dass in Luthers spätem Abendmahlsverständnis eine effektive Repräsentation des Golga-
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Ausgehend von den zentralen Einsichten Bizers und diese zuerst auf eigene Weise wiederholend155 stellt Oswald Bayer vor allem zwei eng miteinander verbundene Aspekte der Worttheologie des späteren Luthers heraus. Zum einen betont er, dass Luthers späte Worttheologie nicht nur rechtfertigungstheologische Themen bedenkt, sondern auch schöpfungstheologische. Luther denkt die „Schöpfung als Anrede.“156 Zum anderen stellt Bayer heraus, dass dasjenige Wort, das die Schöpfung hervorruft, ebenso wie dasjenige Wort, das die Schöpfung auf eigene Weise selbst ist, je auf eigene Weise mit dem Materiellen vermittelt ist. Es ist somit „Leibliches Wort“.157 Beide Aspekte sind für die folgende Luther auslegung von großer Bedeutung (siehe Drittes Kapitel, 2.). Daher wird mit diesen Aspekten nicht mehr die Geschichte der Lutherforschung rekonstruiert, sondern es ist die gegenwärtige Debatte um die rechte Lutherauslegung erreicht. Aus diesem Grund werden die Beiträge Bayers hier auch nicht eigens vorgestellt, sondern finden ihren Ort als in den Fußnoten ausgewiesene Gesprächspartner der folgenden Lutherauslegung. Bevor zur eigenen Lutherauslegung fortgeschritten wird, sei Luther als Theologe der Gabe skizziert. Auch diese Perspektive ist für die vorliegende Lutherauslegung von großer Bedeutung. Zugleich lohnt es sich in stärkerem Maße als bei dem Hinweis auf Luther als Theologen des leiblichen Wortes, Luthers Gabetheologie eigens in den Blick zu nehmen. Denn Luthers Gabetheologie soll in dem lebendigen interdisziplinären und internationalen Gabediskurs der letzten Jahre verortet werthageschehens vorliegt, durch die der Abendmahlsteilnehmer unmittelbar – ohne Wortvermittlung und damit zugleich an mehr teilhabend als durch das Wort ermöglicht – leibhaftig mit dem Leib Christi verbunden wird. Bizer betont richtig, dass auch beim späten Luther das Abendmahl wesentlich Wortgeschehen ist, betont aber nicht ausreichend, dass dem Wort seine leibhaftige Form nicht nur äußerlich ist. 155 Siehe Bayer, Promissio. 156 Siehe Oswald Bayer, Schöpfung als Anrede. Zu einer Hermeneutik der Schöpfung, Tübingen 1986. 157 Oswald Bayer, Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992. Gerade anhand dieses Buches könnte deutlich gemacht werden, dass wir im Folgenden zwar eine Vielzahl von Einsichten des Lutherforschers Bayers übernehmen und besonders in Bezug auf Aspekte der Schöpfungstheologie und der Leiblichkeit viel von Bayer profitieren, dass wir aber die Konfliktlinien und die Anschlüsse zwischen Reformation und Neuzeit anders fassen als bei Bayer. Denn wir vertreten die Position, die Bayer als gelehriger Schüler Hamanns nur ablehnen kann: dass erstphilosophische Überlegungen idealistischer Provenienz mit guten Gründen vertreten werden können.
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den, um auch in dieser Hinsicht die gegenwärtige Relevanz seiner Theologie anzudeuten.
1.4. Der späte Luther als der gegenwärtig relevante: Luther als Theologe der Gabe Unter Rückbezug auf den klassischen Essay von Marcel Mauss158 hat sich in den letzten 25 Jahren ein höchst lebendiger, internationaler und interdisziplinärer Diskurs über die Gabe entwickelt. In der Soziologie wird er durch Beiträge von Jacques Godbout159 oder Pierre Bourdieu160 geführt, in der Philosophie durch die Einsichten von Jacques Derrida161 und JeanLuc Marion162 und in der Theologie durch die Einwürfe von John Milbank163 und Miroslav Volf.164 Ausgehend von den Arbeiten von Martin Seils, der das Gabegeschehen als „die Sache Luthers“165 identifizierte, und ausgehend von den Arbeiten von Oswald Bayer, der die Gabe als „Urwort der Theologie“166 und zumal als Urwort der Theologie Luthers kennzeichnete, wurde in den letzten 20 Jahren auch Luther als Theologe der Gabe entdeckt. Zudem begannen gerade skandinavische Forscher wie Risto Saarinen167 oder Bo Kristian Holm168 , die Einsichten der soziologischen, philosophischen und theologischen Debatte mit der Lutherforschung ins Gespräch zu bringen.
158 Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1968. Hier und im Folgenden wird jeweils nur der wichtigste Beitrag des Autors zum Thema aufgeführt. 159 Jacques Godbout, The World of the Gift, Montreal 2000. 160 Piere Bourdieu, Marginalia – Some Additional Notes on the gift, in: Alan D. Schrift (Hg.), The Logic of the Gift. Toward an Ethic of Generosity, New York 1997, 231–241. 161 Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993. 162 Jean-Luc Marion, Being Given. Toward a Phenomenology of Givenness, Stanfort 2002. 163 John Milbank, Can a Gift be Given? Prolegomena to a Future Trinitarian Metaphysics, in: Modern Theology 11 (1995), 119–161. 164 Miroslav Volf, Free of Charge. Giving and forgiving in a Culture stripped of Grace, Grand Rapids, Michigan 2005. 165 Martin Seils, Die Sache Luthers, in: LJ 52 (1985), 64–80. 166 Oswald Bayer, Art. Gabe II. Systematisch-theologisch, in: RGG4 Bd. 3, 445. 167 Risto Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville 2005. 168 Bo Kristian Holm, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis von Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre, Berlin, New York 2006.
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Im Folgenden soll aus zwei Gründen weder der internationale und interdisziplinäre Diskurs über die Gabe in umfassender Weise dargestellt werden noch auch die gegenwärtige Lutherforschung, die Luther als Theologen der Gabe und damit als für die Gegenwart relevanten, anschlussfähigen Denker entdeckt. Denn zum einen stellen beide Diskurse und besonders der interdisziplinäre Gabediskurs ein so weites Feld dar, dass ihre Rekonstruktion eine eigene Monographie erfordert.169 Zum anderen sind beide Diskurse zu unabgeschlossen und zu dynamisch, als dass eine kurze Darstellung nicht in allerkürzester Zeit überholt wäre. Stattdessen sollen im Folgenden allein solche Aspekte der Forschung zur Gabe oder der gegenwärtigen Lutherforschung zum Thema präsentiert werden, die für unsere Auslegung von Luthers später Abendmahlslehre von besonderer Relevanz sind. Diese Aspekte werden zudem fast ausschließlich in ihrem materialen Kern dargestellt, da es zu weit führen würde, die dahinter stehenden historischen Einordnungen oder methodischen Fragen in ausführlicher Weise zu rekonstruieren. Drei Aspekte sind für folgende Lutherauslegung besonders einschlägig: Erstens sind einige grundlegende Strukturmomente des Gebens einer Gabe namhaft zu machen, die das Sich-Geben Gottes zu verstehen helfen. Dafür wird besonders auf die gegenwärtige skandinavische Lutherforschung zurückgegriffen (Drittes Kapitel, 1.4.1.). Zweitens sollen phänomenologische Überlegungen von Jean-Luc Marion zu dem Gegebensein und der Überfülle derjenigen Gaben nachgezeichnet werden, die Gott gibt (Drittes Kapitel, 1.4.2.). Drittens erfolgen Anmerkungen zu der Frage, ob Luther die Gaben als reine Gaben oder als gereinigten Gabentausch denkt, so dass auf die Debatte zwischen Jacques Derrida, Jean-Luc Marion, John Milbank, Ingolf Dalferth und Bo Kristian Holm eingegangen wird (Drittes Kapitel, 1.4.3.).
1.4.1. Saarinen und die Strukturmomente von Luthers Gabetheologie Risto Saarinen ist es zu verdanken, dass zwei Analyseperspektiven auf die Struktur des Gabegeschehens in der Lutherforschung Anwendung finden, die zentrale Aspekte von Luthers Gabetheologie zu verdeutlichen helfen. Die erste Analyseperspektive unterscheidet zwischen einer geber- und einer empfängerorientierten Perspektive, während die zweite Siehe als Einführung etwa Iris Därmann, Theorien der Gabe, Hamburg 2010.
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das Geben einer Gabe als ein vierstelliges Geschehen in Anschlag bringt. Saarinen betont somit zum ersten, dass das Gabegeschehen aus der geber- oder aus der empfängerorientierten Perspektive betrachtet werden kann. Denn es kann entweder der Geber und sein Akt des Gebens im Mittelpunkt der Betrachtung stehen oder aber der Empfänger und alle Fragestellungen, die mit der rechten Art des Empfangens verbunden sind. Luthers späte Gabetheologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Gabegeschehen in ausgezeichneter Weise aus der geberorientierten Perspektive rekonstruiert. Der frühe Luther der Demutstheologie und damit der wahre Luther der Lutherrenaissance hingegen betrachtete den Rechtfertigungsvorgang noch vor allem unter der empfängerorientierten Perspektive, da er den Glauben und die Demut des Menschen in das Zentrum der Überlegungen stellte. Indem der mittlere Luther das heilbringende Evangelium als eigenes Wort Gottes entdeckt, beginnt Luther, vor allem die geberorientierte Perspektive auf das Rechtfertigungsgeschehen einzunehmen.170 Unter der geberorientierten Perspektive kann das Gabegeschehen als solches und die Fülle des Gebers, des Gebens und der Gabe in ausgezeichneter Weise in den Blick genommen werden. So verwundert es nicht, dass Luther zunehmend auch die Gabeterminologie selbst in immer prominenteren Zusammenhängen und zur Rekonstruktion immer umfassenderer theologischer Themen verwendet. In seiner späten Abendmahlstheologie kommt die Gabeterminologie nicht nur im Bekenntnis von 1528 und damit an einer wichtigen Stelle eines zentralen Textes zum Tragen. Vielmehr wird sie auch in umfassender Weise eingesetzt, da sie neben der Charakterisierung der Rechtfertigung auch zur Beschreibung von Gottes Handeln, von der Schöpfung und von der Heiligung verwendet wird. – Obwohl der späte Luther die geberorientierte Perspektive betont, gibt er die empfängerorientierte Perspektive nicht auf. Denn unter dieser werden die Sündhaftigkeit des Menschen und damit der Missbrauch, den der Mensch mit der Wirklichkeit als Gabegeschehen treibt, in ausgezeichneter Weise sichtbar, und diese Themen sind auch für den späten Luther von bleibender Wichtigkeit (siehe dazu genauer unten, Drittes Kapitel, 2.1.).171 Zum zweiten betont Saarinen unter Aufnahme von Einsichten Senecas und in Differenz zu Marion, Derrida und vielen anderen Autoren, dass das Geben von Gaben nicht bloß als eine drei-, sondern als eine vierstel Siehe dazu Holm, Geben, 68 f. Siehe dazu auch Saarinen, God and the Gift, 56.
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lige Relation zu begreifen ist.172 Denn es ist hilfreich, nicht nur den Geber einer Gabe (1), die Gabe selbst (2) und den Empfänger (3) der Gabe voneinander zu unterscheiden. Vielmehr sollte darüber hinaus noch einmal zwischen dem Empfänger (3) und dem Nutznießer (4) einer Gabe differenziert werden. Nur auf diese Weise vermag angemessen rekonstruiert zu werden, dass ich als Geber (1) mein Blut als eine Gabe (2) dem Roten Kreuz als dem Empfänger gebe (3), während der Nutznießer (4) der Gabe das Opfer eines Verkehrsunfalls ist. Luthers späte Abendmahlstheologie ist nicht nur durch die Privilegierung der geberorientierten Perspektive charakterisiert, sondern auch durch eine in zweifacher Hinsicht bemerkenswerten Besetzung der vier Stellen der Relation des Gabegeschehens. Denn erstens betont Luther, dass der dreieinige Gott nicht bloß irgend etwas gibt – etwa die Schöpfung oder die Vergebung der Sünden –, sondern dass er vielmehr vor allem sich selbst gibt: Geber (1) und Gabe (2) fallen zusammen. Dieses Sich-Geben Gottes charakterisiert die Handlung aller drei Personen der Trinität und führt dazu, dass der Reichtum der Gaben Gottes und Gottes Nähe zu seiner Schöpfung im Allgemeinen und im Abendmahl im Besonderen ausgezeichnete Charakteristika von Luthers später Abendmahlstheologie sind. Letzteres ist, zweitens, auch dadurch gesichert, dass Luther in den abendmahlstheologischen Schriften auch den Empfänger (3) und den Nutznießer (4) des Gabegeschehens zusammenfallen lässt. Um diesen Zusammenfall anhand der Rechtfertigungstheologie zu explizieren: Christus kommt nicht nur als Gnadenbringer (favor) (1) in den Blick, sondern auch als Gabe (donum) (2).173 Entsprechend ist der Mensch nicht nur dergestalt Nutznießer (4) des Sich-Gebens Gottes, dass ihm die Sünden vergeben werden. Vielmehr ist er zudem Empfänger (3) des sich gebenden Christus. Dies ist möglich, da im Glauben Christus im Glaubenden gegenwärtig ist.174 Mit dieser Einsicht verbinden sich eine rechtfertigungstheologische und eine forschungsgeschichtliche Pointe. So ist die Rechtfertigungsleh172 Siehe dazu Risto Saarinen, The Language of Giving in Theology, in: NZSTh 52 (2010), 268–301, 278–282, Saarinen, God and the Gift, 50–52. 173 Simo Peura, Christ as Favor and Gift. The Challenge of Luther’s Understanding of Justification, in: Carl E. Braaten, Robert W. Jenson (Hg.), Union with Christ. The New Finnish Interpretation of Luther, Grand Rapids, Michigan 1998, 42–69. 174 Dies ist selbstredend eine Anspielung auf Tuomo Mannerma, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog (Arbeiten zur Geschichte und Theologie des Luthertums 8), Hannover 1989; siehe auch Peura, Christ, 51.
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re von Luthers späten Abendmahlsschriften nicht nur als forensische, sondern auch als effektive zu fassen. Denn durch die Rechtfertigung kommt dem Glaubenden nicht nur die Sündenvergebung zu, sondern es wird ihm auch Anteil gegeben an dem Reichtum Christi und seiner Gaben. Mithilfe des in ihm präsenten Christus kann der Christ ein neues Leben beginnen und wird zugleich ermächtigt, die empfangenen Gaben an seinen Nächsten weiterzugeben (siehe zu den sich hier anschließenden Fragen der Reziprozität des Gabegeschehen Drittes Kapitel, 1.4.3.).175 In forschungsgeschichtlicher Hinsicht ist damit gesagt, dass der Grundansatz der finnischen Lutherforschung gerade in seiner Absetzung gegenüber der Lutherrenaissance reichen Anhalt an Luthers späten Abendmahlstexten findet. Die finnische Lutherforschung, die von Tuomo Mannermaa angeregt wurde und gegenwärtig von Theologen wie Risto Saarinen, Simo Peura, und Antti Raunio vertreten wird, besagt in ihrem Grundansatz, dass die Verbindung Gottes mit den Menschen bei Luther nicht anhand von Kategorien wie denen des Willens, des Wirkens und des Wertes zu fassen ist, die – unter Aufnahme von neukantianischen Differenzierungen – der praktischen Philosophie entlehnt sind. Vielmehr ist die Verbindung Gottes mit den Menschen anhand von real-ontischen Kategorien wie denen der realen Präsenz und der Unio mit Christus zu fassen, die in der theoretischen Philosophie zu verorten sind.176 Ihre letzte Begründung findet dieser Grundansatz in Luthers Betonung, dass Christus durch den Glauben im Glaubenden real präsent ist. Sosehr in Luthers Abendmahlstheologie ontologische Kategorien von Wichtigkeit sind, sosehr ist der finnischen Re-Ontologisierung Luthers nur dann zuzustimmen, wenn sie sich – mit Saarinen gesprochen – als eine „reflektierte naiveté“177 vollzieht. Sie darf sich somit nicht von vornehe Siehe dazu Saarinen, God and the Gift, 59–79, Peura, Christ, and Simo Peura, What God Gives Man Receives. Luther on Salvation, in: Carl E. Braaten, Robert W. Jenson (Hg.), Union with Christ. The New Finnish Interpretation of Luther, Grand Rapids, Michigan 1998,76–94. 176 Siehe grundlegend Mannerma, Der im Glauben gegenwärtige Christus, und die Zusammenfassung der Position in Tuomo Mannerma, Why is Luther so fascinating? Modern Finnish Luther Research, in: Carl E. Braaten, Robert W. Jenson (Hg.), Union with Christ. The New Finnish Interpretation of Luther, Grand Rapids, Michigan 1998, 1–20, sowie Juhani Forsberg, Die finnische Lutherforschung seit 1979, in: LJ 72 (2005), 147–182 und Karsten Lehmkühler, Inhabitatio. Die Einwohnung Gottes im Menschen, Göttingen 2004, 238–286. 177 Risto Saarinen, Im Überschuss. Zur Theologie des Gebens, in: Bo Kristian Holm, Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology (Religion in Philosophy and Theology 37) Tübingen 2009, 73–85, 85. 175
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rein auf eine bestimmte Ontologie festlegen, sondern muss für weitergehende Reflexionen auf die verwendeten Kategorien offen sein.178 So ist Luthers Ontologie eine relationale,179 die zudem durch das Wort geprägt ist und somit eine kommunikative Ontologie darstellt, die die Wirklichkeit zugleich als umfassendes Gabegeschehen fasst. Wenn dieses Bedürfnis nach weiterer Klärung anerkannt wird, dann kann in Bezug auf die späten Abendmahlstexte festgehalten werden, dass die finnische Lesart Luther auf angemessene Weise auslegt.180 Luthers Abendmahlstheologie und auch seine Schöpfungstheologie bedenken nicht nur das Sich-Geben Gottes, sondern auch die Schöpfung als gute Gabe, die der sich-gebende Gott gibt. Dabei kommen die Geschöpfe nicht nur als Worte in den Blick, die von Christus als dem göttlichen Wort ins Sein gesprochen werden, sondern auch als Gaben voller Überfülle. Luther ist nicht nur Theologe des Wortes, sondern zugleich auch Theologe der Gabe: Er ist Theologe derjenigen Worte, die sich als Gaben ereignen. Diese Perspektive auf die Schöpfung ist für das vorliegende Buch deshalb von besonderem Interesse, weil damit ein Gegenbild zum Verständnis endlicher Wirklichkeit als Bestand entwickelt wird, das in der technischen Spätmoderne dominiert (siehe dazu oben, I.). Das Gegebensein der Dinge und ihre Überfülle können durch die phänome-
Siehe dazu auch Robert Jenson, Response to Tuomo Mannermaa, „Why is Luther so Fascinating?“, in: Carl E. Braaten, Robert W. Jenson (Hg.), Union with Christ. The New Finnish Interpretation of Luther, Grand Rapids, Michigan 1998, 21–24, 22 f. 179 Siehe dazu auch Albrecht Beutel, Antwort und Wort, in: Anja Ghiselli, Kari Kopperi, Rainer Vinke (Hg.), Luther und Ontologie. Das Sein Christi im Glauben als strukturierendes Prinzip der Theologie Luthers (Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg 21), Erlangen 1993, 70–94, der gegen die Position mancher Vertreter der finnischen Lutherforschung festhält, dass Luthers Ontologie relational ist. Die Finnen fassen Luthers Ontologie deshalb als nicht-relational, da sie die Lutherrenaissance mit ihrer Betonung von Gottes Wirken auf uns als Vertreter eines relationalen Denkens begreifen. Dagegen schreibt Beutel, Antwort, 91, zu Recht: „So besteht Anlaß, die auf die unio cum Christo bezogene These einer unversöhnlichen Opposition von relationaler und realer Verbindung zwischen Gott und Mensch zu bestreiten. Kommt doch gerade in der relationalen Bestimmung, wonach der Mensch in theologischer Hinsicht dadurch definiert sei, dass er durch Glauben gerechtfertigt werde, die reale Gegenwart Gottes zum Ausdruck.“ 180 Die theosis-Lehre als das andere Charakteristikum der finnischen Lutherforschung spielt für die für dieses Buch einschlägigen Texte keine Rolle und kann daher ignoriert werden, siehe dazu aber Mannermaa, Why, 10–19, Peura, Christ as Favor and Gift, 50–53. 178
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nologischen Überlegungen von Jean-Luc Marion weiter aufgehellt werden.
1.4.2. Marion zur Gegebenheit und zum Überschuss aller Phänomene Im Folgenden sollen nicht die älteren Arbeiten Marions zur Theologie wie sein God without Being181 herangezogen werden, sondern seine neueren Arbeiten, die in seinen letzten großen Veröffentlichungen wie Being Given und In Excess sowie einer Vielzahl von Aufsätzen vorliegen. Diese Arbeiten versteht Marion als strikt erstphilosophische, phänomenologische Explorationen von Grundstrukturen aller Phänomene.182 Sie sind für unseren Kontext deshalb von Interesse, da sie ebenso originelle wie sachgemäße Überlegungen zu den uns interessierenden Fragestellungen präsentieren. Zudem dürfte es auch in methodischer Hinsicht zum Vorteil gereichen, wenn die Position Luthers durch weitere erstphilosophische Überlegungen aufgehellt wird.183 181 Jean-Luc Marion, God Without Being. Horse-text, Chicago 1995. Aufgrund meiner nur rudimentären Französischkenntnisse bin ich gezwungen, im Folgenden auf die englischen (und, so vorhanden, die deutschen) Übersetzungen der Texte Marions zurückzugreifen. 182 Siehe dazu Jean-Luc Marion, In Excess. Studies of saturated phenomena, New York 2002, 1–3; das erste Kapitel von In Excess findet sich auch als Aufsatz in deutscher Fassung abgedruckt als Jean-Luc Marion, Eine andere „Erste Philosophie“ und die Frage der Gegebenheit, in: Michael Gabel, Hans Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg 2007, 56–76. Siehe zu diesem Thema auch denjenigen Schlagabtausch zwischen Marion und Derrida, der sich im Rahmen der berühmten Debatte beider an der Villanova-Universität im Jahre 1997 zutrug, Richard Kearney, On the Gift. A discussion between Jacques Derrida and Jean-Luc Marion, moderated by Richard Kearney, in: John D. Caputo, Michael J. Scanlon (Hg.), God, the Gift and Postmodernism, Bloomington 1999, 54–78, 66–71. Marion weist entschieden die Lesart Derridas zurück, der annimmt, dass Marion nur deshalb die Gegebenheit aller Dinge und damit ihre Verfasstheit als Gabe herausarbeitet und herausarbeiten kann, weil er die Gaben als Schöpfung und damit als von einem guten Gott gegeben ansieht. Demgegenüber insistiert Marion darauf, dass die Gegebenheit aller Dinge allein aufgrund einer phänomenologisch orientierten, immanent bleibenden Philosophie einsichtig gemacht werden kann. 183 Allerdings gilt auch hier wiederum, dass die damit verbundenen, hoch strittigen Fragen wie diejenige, ob Marion mit seinem Vorgehen die Phänomenologie sprengt oder nur erweitert, hier unerörtert bleiben müssen (siehe dazu z. B. Kearney, On the Gift, 71). Wie Marion in Kearney, On the Gift, 68, selbst sagt: „As to the question of whether what I am doing, or what Derrida is doing, is within phenome-
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Marion folgt dem frühen Husserl in methodischer Hinsicht auf der Suche nach dem ersten Prinzip einer Erstphilosophie. Er findet das gesuchte erste Prinzip bei Husserl selbst, sieht es aber nicht in der berühmten Formel des „soviel Schein, soviel Sein“ gegeben oder darin, dass wir zu den Sachen selbst zurück sollen. Vielmehr sieht er sie in einer Einsicht gegeben, die er in die folgende Formulierung fasst: „Wieviel Reduktion, soviel Gegebenheit.“184 Damit ist besagt, dass dann, wenn die phänomenologische Reduktion vollzogen ist und somit die intentionale Ekstatse des Bewusstseins ausgeschaltet wird, „die Gegebenheit des Gegebenen als der Ort, an dem tatsächlich das Scheinen in Sein übergeht (vgl. erste Formel), der Ort, an dem man auf den in Frage stehenden Sachverhalt selbst zurückkommt (vgl. zweite Formel)“, deutlich wird.185 Das Phänomen gibt es somit nur aufgrund der Gegebenheit: „Die Gegebenheit entspricht tatsächlich dem Phänomen selbst, dessen beide Seiten, das Erscheinen (von seiten des Bewusstseins) und das Erscheinende (seitens der Sache) sich nur deshalb nach dem Prinzip der Korrelation – Husserl nennt sie oft ‚wunderbar‘ – ausbilden, weil Ersteres als ein Gegebenes ebensoviel gilt, wie das Zweite, die Gegebenheit, gibt. [. . .] Ich halte es für gesichert, dass die Faltung des Phänomens, so wie sie sich im Erscheinen entfaltet, der Faltung der Gegebenheit entspricht, so wie sie in ihr das Gegebene birgt.“186 Das Sich-Geben des Erscheinenden, das dieses allererst zum Erscheinen bringt, ist zum einen dadurch gekennzeichnet, dass es ein SichSelbst-Geben ist. Es gibt sich ohne Rückhalt und Rest und kann nur deshalb vom Schein ins Sein übergehen.187 Zum anderen ist es dadurch gekennzeichnet, dass es sich nicht aufgrund eines ihm externen Grundes gibt. Vielmehr gibt es sich gerade nur deshalb, weil es selbst sich von sich her gibt.188 Damit tritt es als ein Ereignis auf, das auf unvorhersehbare Weise und als Neues Wirklichkeit wird. nology or beyond, it does not seem to me very important. Let me just quote here a famous sentence of Heidegger: ‚We are not interested in phenomenology, but in the things phenomenology is interested in.‘“ Auch die methodischer Hinsicht ebenso zentrale Frage, ob Marions Phänomenologie durch hermeneutische Überlegungen ergänzt werden müssten – eine Frage, der wohl zuzustimmen ist – kann hier nicht weiter verhandelt werden. 184 Marion, Eine andere „Erste Philosophie“, 66. 185 Marion, Eine andere „Erste Philosophie“, 66. 186 Marion, Eine andere „Erste Philosophie“, 69 f. 187 Siehe Marion, Eine andere „Erste Philosophie“, 67. 188 Siehe Jean-Luc Marion, The Reason of the Gift, in: Ian Leask, Eoin Cassidy
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Die Betonung der „Gegebenheit als erstem Prinzip“189 bringt die in umfassendem Sinn geltende Behauptung mit sich, dass alle Phänomene nur deshalb Phänomene sind, weil sich in ihnen ihr Sich-Geben ereignet.190 „Nichts zeigt sich, ohne sich zunächst zu geben.“191 Alle Phänomene sind zuerst einmal keine Objekte oder – in der Sprache Heideggers – kein Bestand, sondern Gaben. Mit dem Sich-Geben geht das Sich-Zeigen einher. Allen Phänomenen kommt es zu, sich zu zeigen. Gleichsam in Aufnahme von Einsichten von Heidegger vertritt Marion somit eine Theorie allgemeiner Offenbarung: „The revealed does not thus define an extreme stratum or a particular region of phenomenality, but rather the universal mode of phenomenalization of what gives itself in what shows itself.“192 Diejenigen Phänomene, die eigens als Gaben begegnen, machen somit dasjenige deutlich, was als die Grundfigur aller Phänomenalität anzusetzen ist.193 Im folgenden Abschnitt wird Marions Verständnis einer Gabe durch das Beispiel der Vaterschaft näher expliziert und auch dadurch, dass die Gabe in Beziehung zur Ökonomie und damit zum Blick auf die Wirklichkeit als Objekt oder Bestand gesetzt wird (Drittes Kapitel, 1.4.3.). Vorher aber sei ein weiterer Aspekt expliziert, der die Gege benheit in seinem Ereignis-Charakter kennzeichnet: der des Überschusses. Marion weist darauf hin, dass im Ereignis des Sich-Gebens ein Überschuss deutlich wird, der allen Phänomenen zukommt. So wie Marion unter allen Phänomenen einige als Gaben namhaft macht, um die Gegebenheit aller Phänomene zu verdeutlichen, so verdeutlicht er auch den Aspekt des Überschusses aller Phänomene an einigen besonderen Phänomenen. Er nennt sie gesättigte Phänomene (saturated phenomena). Während normale Phänomene dadurch gekennzeichnet sind, dass die Begriffe, die ihnen zugeordnet werden, dasjenige angemessen auszudrücken und dadurch zugleich auch auszuschöpfen vermögen, was sich als (Hg.), Givenness and God. Questions of Jean-Luc Marion, New York 2005, 101– 134, 126; siehe auch Marion, Being Given, 159–178, and Kearney, On the gift, 63 f. 189 Marion, Eine andere „Erste Philosophie“, 70. 190 Siehe dazu auch Marion, Eine andere „Erste Philosophie“, 69. 191 Jean-Luc Marion, Die Phänomenalität des Sakraments. Wesen und Gegebenheit, in: Michael Gabel, Hans Joas (Hg.), Von der Ursprünglichkeit der Gabe. JeanLuc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg 2007, 78–95, 90. 192 Marion, In Excess, 52; siehe dazu auch Robyn Horner, Jean-Luc Marion. A theo-logical introduction, Aldershot 2007, 133. 193 Siehe dazu Marion, The Reason, 131.
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Anschauung gibt und zeigt, sind gesättigte Phänomene dadurch gekennzeichnet, dass sich mehr zeigt, als in einzelnen Begriffen eingeholt werden kann. Um Marions Definition aus In Excess anzuführen: Gesättigte Phänomene sind solche „where the duality between intention (signification) and intuition (fulfilment) certainly remains, as well as the noetic-noematic correlation, but where, to the contrary of poor and common phenomena, intuition gives (itself) in exceeding what the concept (signification, intentionality, aim, and so on) can foresee of it and show. [. . .] They are saturated phenomena in that constitution encounters there an intuitive givenness that cannot be granted a univocal sense in return. It must be allowed, then, to overflow with many meanings, or an infinity of meanings, each equally legitimate and rigorous, without managing either to unify them or to organize them.“194 Die wichtigsten gesättigten Phänomene sind für Marion geschichtliche Ereignisse wie eine Geburt oder der Tod, des Weiteren das Antlitz des Anderen sowie – wiederum gleichsam in Aufnahme von Einsichten Heideggers (siehe Erstes Kapitel, 1.4.) – ein Kunstwerk, aber auch der eigene Leib.195 Ein gesättigtes Phänomen soll zuerst anhand des Vergleichs eines Straßenschildes mit einem Gemälde von Mark Rothko verdeutlicht werden, ehe der Leib als ein für das vorliegende Buch zentrales Thema in den Blick genommen wird. Sowohl das Straßenschild als auch der Rothko bestehen aus drei Farben, die in flächiger Form auf die Oberfläche aufgetragen werden. Anders als beim Rothko jedoch bemächtigt sich beim Straßenschild der Begriff so vollständig der Anschauung, dass diese zu verschwinden scheint und daher auch durch andere Anschauungen oder gar durch ein akustisches Signal ersetzt werden kann. Das Straßenschild transportiert somit allein eine Information und wird nicht auf das Sich-Geben hin angesehen, das diese Information allererst ermöglicht. In Rothkos Gemälde hingegen überflutet die Anschauung alle Begriffe, unter die man sie fassen will. „Im Angesicht dieses Rothkogemäldes werden wir von keiner Form, keiner Bedeutung, keinem Begriff, nichts davon entbunden, seine Anschaulichkeit im Auge zu behalten und seiner stummen Vorladung zu entsprechen. Und diese zu sehende Anschauung sieht nur sich selbst ähnlich, verweist allein auf das Sichtbare selbst und verweist uns mit sich selbst daran.“196 Entsprechend geht es Marion, In Excess, 112. Diesen vier Dimensionen ist je ein Kapitel in Marion, In Excess, gewidmet. 196 Jean-Luc Marion, Sättigung als Banalität, in: Michael Gabel, Hans Joas (Hg.), 194 195
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auch dem Maler nicht darum, ein Objekt in der Welt zu reproduzieren. Vielmehr will er ein neues Phänomen als ein Ereignis neuer Sichtbarkeit produzieren und damit eine Gabe Wirklichkeit werden lassen.197 Als zweites Beispiel eines gesättigten Phänomens seien einige Beobachtungen Marions zum Leib angeführt. Durch sie werden Einsichten aufgenommen und weitergeführt, die in den Überlegungen zur Leiblichkeit im zweiten Teil der Gegenwartsanalyse angedeutet wurden (siehe Erstes Kapitel, 2.2.5.) und die für Luthers Abendmahlstheologie von Interesse sind (siehe Drittes Kapitel, 2.). Anders als der Körper ist der Leib dadurch charakterisiert, dass er das „ursprünglichst Meine“198 ist, wie Marion in Aufnahme von Einsichten Husserls sagt. Es ist somit unmöglich, dass ich mein Ego von meinem Leib – genauer: von mir als Leib – distanziere. Mein Ego ist in mir als Leib unabweisbar geerdet und ich bin mir somit als Leib vor-gegeben.199 Gerade der Prozess des Alterns macht die Gegebenheit des Selbst und die Saturiertheit des Leibes deutlich. Denn in phänomenologischer Hinsicht vergeht die Zeit nicht, sondern akkumuliert sich in meinem Leib und gerade in meinem Gesicht, indem mein Gesicht durch die Zeit unaufhörlich geformt und deformiert wird.200 In dieser Hinsicht bin ich mir je vor-gegeben, und das auf eine Art, die nicht vollständig begrifflich einholbar ist. Zwei weitere Aspekte sind von Interesse: Der mir vor-gegebene Leib, in dem sich die Zeit akkumuliert, individuiert mich gerade dadurch, dass er mir vorgegeben ist und sich die Zeit in ihn einschreibt. „There is admittedly a mineness (Jemeinigkeit), nevertheless not because I would have decided it, but because it happens to me, [. . .], in short because flesh, of itself and always already, takes me. In receiving my flesh, I receive me myself – I am in this way gifted [adonné, given over] to it.“201 Doch der Leib gibt mir nicht nur Jemeinigkeit, sondern stellt auch die grundlegende und unaufhebbar primäre Weise meines Weltzugangs dar. „All phenomenalization of the world for me passes through my flesh.“202 Ohne den Leib gibt es für mich keine Phänomene. Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie in der Diskussion, Freiburg 2007, 96–139, 113. 197 Siehe auch Marion, The Reason, 134. 198 Marion, In Excess, 90. 199 Marion, In Excess, 92, folgt bis in sprachliche Anklänge hinein seinem Heideggerschen Erbe, wenn er davon spricht, dass der Leib geerdet (earthed) wird. 200 Marion, In Excess, 95. 201 Marion, In Excess, 98. 202 Marion, In Excess, 89.
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Kehren wir nach diesen Überlegungen zum Überschuss zu den Überlegungen zur Gabe zurück. Die Verbindung zwischen beiden Themen besteht darin, dass alle Phänomene solche sind, die sich im Überschuss selbst geben und nur dadurch überhaupt Phänomene sind. So wie der Überschuss aller Phänomene in ausgezeichneter Weise in den saturierten Phänomenen sichtbar wird, so wird das Sich-Geben aller Phänomene und damit ihr Gegebensein in ausgezeichneter Weise in den Gaben sichtbar. Um Marions Konzept der Gabe genauer zu verstehen, ist es vonnöten, einen Seitenblick auf die gegenwärtige Debatte um die Zuordnung von Gabe und Tausch oder Gabe und Ökonomie zu werfen. Dabei wird schnell deutlich werden, dass in dieser Debatte Sachverhalte verhandelt werden, die auch für das Verständnis von Luthers Gabetheologie von großem Interesse sind und daher mit einiger Intensität in der gegenwärtigen Lutherforschung debattiert werden.203 Denn die Ökonomie wird von Mauss über Derrida bis hin zu Marion als System des do, ut des bestimmt. Entsprechend stellt sich die Frage, wie die Gabe der Ökonomie zuzuordnen ist. Ist die Gabe in das System des do, ut des integriert oder stellt es gerade dessen Anderes dar? Ist eine Gabe nur dann sie selbst ist, wenn sie als reine Gabe und damit als das Andere der Ökonomie erscheint, wie Derrida meint? Oder können Gabe und Tausch miteinander vermittelt werden, wie es in eigener Weise Marion denkt?
1.4.3. Reine Gabe oder gereinigter Gabentausch? Derrida und Marion In Marcel Mauss grundlegendem Werk Die Gabe wird die Funktion der Gabe in archaischen Gesellschaften untersucht. Sie wird als „System der totalen Leistungen“204 begriffen, durch das alle Dimensionen einer Gemeinschaft verhandelt werden: die politische ebenso wie die familiäre und die ökonomische ebenso wie die religiöse. Dabei werden Gabe und Tausch als unaufhebbar miteinander vermittelt dargestellt. Laut Mauss spielen die Freiheit, eine Gabe zu geben, die Freiheit, die Gabe eines anderen zu empfangen und die Freiheit, eine Gabe weiterzugeben einerseits und die Pflicht zu all diesen Akten andererseits unaufhebbar ineinander.205 Ebenso bringen die ausgetauschten Gaben selbst zum einen die Siehe dazu Holm, Widmann (Hg.), Word-Gift-Being. Mauss, Gabe, 22. 205 Siehe auch Mauss, Gabe, 167 f. 203
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Dimension des Gebens eines Überschusses zum Ausdruck und sind zum anderen Teil eines agonalen Wettstreits um den sozialen Aufstieg.206 Mauss folgert aus diesen ethnologischen Beobachtungen, dass für alle Gesellschaften und damit auch für die modernen gelte, was er anhand der archaischen Gesellschaften beobachtet: Durch das Tauschen von Gaben entstehen allererst diejenigen stabilen sozialen Bindungen zwischen Menschen, die eine Gemeinschaft, aber auch eine Gesellschaft zusammenhalten.207 Dabei ist dieser Gabentausch kein einseitiger oder reiner, sondern einer, der Gegenseitigkeit erwartet. Das gilt auch in modernen Gesellschaften. Auch heute noch wird bei einer Hochzeit auf dem Lande das ganze Dorf eingeladen, und zwar zugleich in einem freien Akt und aus einer unausweichlichen Verpflichtung heraus. Die Feier selbst ist zugleich ein Akt großer Freigiebigkeit und eine agonale Inszenierung mit dem Ziel, die eigene soziale Position zu verbessern.208 Ausgehend von den Einsichten von Mauss kommt eine Vielzahl von Anthropologen zu der Ansicht, dass die Realität in allen Gesellschaften durch diese Form des zugleich freien und verpflichtenden do ut des angemessen dargestellt wird. Mit Mary Douglas kann zusammengefasst werden, dass „there is no free gift.“209 Derrida hingegen will die Ökonomie und die Gabe streng voneinander unterschieden wissen. Daher betont er, dass „selbst ein so monumentales Buch wie der Essai sur le don von Marcel Mauss von allem möglichen spricht, nur nicht von der Gabe: der Essai handelt von der Ökonomie, dem Tausch und dem Vertrag (do, ut des), der Gabe und der Gegengabe, kurz, von allem, was aus der Sache heraus zur Gabe drängt und zugleich dazu, die Gabe zu annullieren.“210 Denn laut Derrida ist eine Gabe nur dann eine solche, wenn sie als reine Gabe gerade das Andere der Struktur der Ökonomie ist. Die Gabe bezieht sich somit jeweils so auf die Ökonomie, dass sie die Ökonomie unterbricht.211 Die Ökonomie ist durch die Struktur des do, ut des und damit durch den Kreis gekennzeichnet, in der das Gegebene jeweils zu seinem Ursprung zurückkehrt. Sie ist durch Symmetrie und Reziprozität gekennzeichnet. Mauss, Gabe, 24 f. Siehe Mauss, Gabe, 165–183. 208 Siehe Mauss, Gabe, 158. 209 Mary Douglas, Foreword, in: Marcel Mauss, The Gift. The Form and Reason for Exchange in Archaic Societies, London 1990, XI. 210 Derrida, Falschgeld, 37. 211 Siehe Derrida, Falschgeld, 23 f. 206 207
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Die Gabe hingegen ist dadurch bestimmt, dass sie nicht zum Geber zurückkehren darf, wenn sie Gabe sein und bleiben will. Sie ist damit aber nicht nur „anökonomisch“212 , sondern auch das Unmögliche, „die Figur des Unmöglichen selbst.“213 Denn beim Geben jeder Gabe kommt es dann, wenn die Gabe bewusst als Gabe gegeben oder empfangen wird, zu Aspekten der Rückgabe, die die Gabe zerstört. So gewinnt der Geber einer bewusst als Gabe gegebenen Sache entweder an Sozialprestige oder an eigener Zufriedenheit. Der Empfänger einer Gabe wiederum fühlt sich unweigerlich in der Schuld dessen, der ihm die Gabe als die Gabe gegeben hat und somit in der Pflicht, das Gegebene auf die eine oder andere Weise zurückzugeben. Mehr noch: Bereits die Anerkennung der Gabe als Gabe durch den Empfänger stellt eine Form dar, in der der Empfänger dem Geber etwas zurückgibt. So kommt Derrida zu dem ebenso berühmten wie paradoxen Ergebnis, dass „die Bedingung der Möglichkeit der Gabe (daß irgend ‚einer‘ irgend ‚etwas‘ irgend ‚einem anderen‘ gibt) gleichzeitig die Bedingung der Unmöglichkeit der Gabe bezeichnet.“214 Diese Überlegungen führen Derrida nun nicht zu dem Schluss, dass es die Gabe als die Figur des Unmöglichen selbst in einem abstrakten Sinne einfach nicht gibt. Vielmehr gibt es die Gabe als ein Ereignis, das zugleich nicht in demselben Sinne präsent sein oder existieren kann wie ein Gegenstand der Ökonomie.215 Derrida sucht nach Wegen, der Gabe als dem Unmöglichen, das sich dennoch ereignet, auf eine ihm angemessene Weise nachzudenken. Dazu müssen der Geber, die Gabe und der Empfänger auf neue Art angedacht werden. Marion übernimmt Derridas Kritik an der Vermittlung von Gabe und Ökonomie und seine Suche nach der Denkbarkeit einer reinen Gabe, schlägt dafür aber einen eigenen Weg ein, die zu so etwas wie einem gereinigten Gabentausch führt. Denn anders als Derrida meint er nicht, dass Geber, Gabe und Empfänger und damit alle drei Terme des Gabegeschehens annulliert und neu konzipiert werden müssen, um die Gabe als Gabe zu erhalten. Vielmehr will er die Gabe dadurch von der Ökonomie unterscheiden, dass er nur einen oder zwei dieser Terme einklammert und neu bestimmt. Auf diese Weise wird die Gabe in den Horizont der
Derrida, Falschgeld, 17. Derrida, Falschgeld, 17. 214 Derrida, Falschgeld, 22. 215 Siehe dazu Derrida, Falschgeld, und Kearney, On the gift, 75 f. 212 213
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Ökonomie herausgenommen und in den des Gebens gestellt, ohne dass die Gabe aufhört, ein Phänomen zu sein.216 Marion erläutert seinen Ansatz am Beispiel der Vaterschaft.217 Die Vaterschaft ist ein nicht vollständig in die Ökonomie überführbares Gabegeschehen, da der Empfänger und die Gabe selbst auf anökonomische Weise zu fassen sind. Denn der Empfänger empfängt vom Geber das Leben und somit etwas, das ihn zuallererst konstituiert und das er zugleich unmöglich dem Geber zurückgeben kann. Der Empfänger wird also gleichsam eingeklammert und findet sich in einer Position radikaler Asymmetrie gegenüber dem Geber, die ihn aus dem Kreislauf der Ökonomie herausnimmt. Zudem ist das Leben als die vom Vater gegebene Gabe selbst etwas, was unmöglich zu einem ökonomischen Objekt werden kann: Das Leben ist keine Sache unter anderen. Damit ist mit dem Gabegeschehen der Vaterschaft einerseits ein Phänomen anvisiert, das alle Menschen kennen und das es daher unbezweifelbar gibt. Zugleich können zwar Aspekte der Vaterschaft in ökonomischen Kategorien reformuliert werden und etwa in einer familienpolitischen Überlegung auftauchen. Andererseits aber kann das Phänomen der Vaterschaft nicht vollständig in eine ökonomische Betrachtungsweise überführt werden, ohne dass dabei das Phänomen verpasst werden würde. Vielmehr gilt gerade umgekehrt, dass jede Ökonomie nur deshalb existiert, weil es das Gabegeschehen der Vaterschaft gibt. Damit wird an diesem Gabegeschehen in ausgezeichneter Weise deutlich, was für den Gabe- und den Überschussaspekt aller Phänomene gilt: Sie stehen in doppelter Weise in Beziehung zur Ökonomie. Zum einen sind die Gegebenheit und der Überschuss aller Phänomenen, die selbst keinen ihnen externen Grund haben, „the greater reason“218 aller Vernunfttätigkeit in der Ökonomie und damit der Ökonomie selbst. Jede Ökonomie beruht darauf, dass die Phänomene sich im Überschuss geben und zeigen.219 Zum anderen unterbrechen die saturierten Gabephänomene ebenso wie die Aspekte der Gegebenheit und des Überschusses an jedem Phänomen die Ökonomie und wehren auch auf diese Weise der Siehe Kearney, On the gift, 65. Siehe Marion, The Reason, 116–122. 218 Marion, The Reason, 133. 219 Von der Sache her erreicht Marion hiermit Einsichten, die der Zuordnung der Wahrheitsaspekte bei Koch entsprechen: der zweite und der dritte Wahrheitsaspekt sind nur deshalb möglich, weil dem ersten als dem phänomenalen Priorität zukommt (siehe oben, Zweites Kapitel, 2.3.2.4.). 216
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Totalisierung der Ökonomie, da sie als Phänomene erscheinen, die nicht vollständig in die Ökonomie einholbar sind. Diesen letzten Aspekt verbindet Marion mit einer zeitdiagnostischen Perspektive, die an Heidegger anschließt und daher die Beobachtungen im ersten Teil des Buches stützt (siehe Erstes Kapitel, 1. und Erstes Kapitel, 2.): „Es lässt sich sagen, dass die Welt mit einer vorrückenden und sichtbaren Schicht an (anschauungs-)armen Phänomenen überdeckt wird: die endlos produzierten und reproduzierten Gegenstände der Technik, die schließlich das, was sie überdecken, in den Schatten stellen. Und was überdecken sie, wenn nicht andere Phänomene zum Beispiel das Ereignis, das Gemälde, den Leib oder den Anderen, die nach unserem Vorschlag gesättigte Phänomene heißen?“220 Zugleich „soll nahe gelegt werden, dass die Mehrzahl der Phänomene, wenn nicht sogar alle zur Sättigung veranlassen können durch den ihnen innewohnenenden Überschuss der Anschauung über Begriff und Bedeutung. [. . .] In Anbetracht der meisten Phänomene, selbst der elementarsten (die Mehrzahl der Gegenstände, technische Produktionen und industrielle Reproduktionen), eröffnet sich die Möglichkeit einer doppelten Interpretation.“221 Gerade die saturierten Phänomene ermöglichen es, den Überschuss an allen Phänomenen wahrzunehmen. Bei Luther wird es Aufgabe des Abendmahls sein, die Teilnehmer in die Wahrnehmung der Fülle und des Gabecharakters der Wirklichkeit einzuweisen.
1.4.4. Marions Philosophie der Gabe und Luthers Abendmahlstheologie: Anschlussmöglichkeiten Marion selbst macht drei Anschlussmöglichkeiten seiner erstphilosophischen Phänomenologie an die Theologie explizit; eine vierte ist dem hinzuzufügen. Diese vier sind für die folgende Auslegung von Luthers Abendmahlstheologie von Wichtigkeit. Der erste Anschluss besteht in der Gegebenheit und dem Überschusscharakter aller Phänomene als solcher222 und zudem darin, dass diese den Grund jeder Ökonomie darstellen. Luthers Schöpfungstheologie wird beide Aspekte betonen und sie zugleich insofern weiter qualifizieren, als er die Gaben als Wörter charakterisiert und ihr Sich-Geben und damit ihre Gegebenheit für den Marion, Sättigung, 108. Marion, Sättigung, 109. 222 Siehe Marion, Eine andere „Erste Philosophie“, 76 f. 220 221
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Menschen im Geben Gottes wurzeln lässt. Der zweite Anschluss lässt sich über die gesättigten Phänomene herstellen, welche zugleich die Gegebenheit und den Überschuss aller Phänomene sichtbar machen. Marion selbst führt aus, was für die folgende Lutherauslegung zentral ist: Das Abendmahl kann als gesättigtes Phänomen gefasst werden, das seinen Überschuss von der totalen Selbstgabe Christi her empfängt. Im Abendmahl wird dadurch auch der Gabecharakter aller Wirklichkeit sichtbar.223 Der dritte Anschluss kann über die Vaterschaft hergestellt werden und damit über dasjenige Ereignis, in dem der Geber Leben gibt und damit den Empfänger allererst konstituiert, so dass es ein Ereignis ist, in dem im Überschuss Neues gegeben und Unmögliches möglich wird 224 : „If we ever have to name God with a name, it is very appropriate to call Him ‚Father‘ – and Him alone.“225 Als Abschluss und Überleitung in die Auslegung von Luthers Abendmahlslehre sei ein vierter Anschluss zu den Überlegungen Marions hergestellt. Der Anschluss liegt in der gegenwärtig intensiv diskutierten Debatte vor, die zu klären sucht, ob Luther die Gabe mit der Ökonomie in einiger Nähe zu Mauss dergestalt eng vermittelt, dass Luther eine genuine, aus empfangener Fülle quellende Gegengabe des Menschen kennt, oder ob Luther die Gabe als reine Gabe im Gefolge von Derrida oder als gereinigten Gabentausch von Marion denkt. Innerhalb dieser Debatte sind zwei Aspekte recht unstrittig, während ein weiterer Gegenstand lebendiger Diskussionen ist. Unstrittig ist, dass der dreieinige Gott Schöpfung, Versöhnung und Vollendung gleichermaßen als reine Gabe gibt. Mit Bayer gesprochen sind bei Luther „Schöpfung wie Neuschöpfung kategorische Gabe.“226 Denn Gott gibt aus lauter Güte und damit zugleich umsonst und aus Nichts – aus keinem anderen Grund als dem Überschuss seiner Liebe – die Schöpfung bzw. den Glauben und schafft damit jeweils etwas Neues. Das Geschaffen ist selbst kein Ding und wird zugleich durch diesen Akt allererst konstituiert. Daher ist es selbst ein Nichts, das sich selbst und damit auch die Möglichkeiten des Empfangens der Gaben allererst in Passivität empfängt.227 Der Anfang von Siehe Marion, Die Phänomenalität, 94 f. Marion, The Reason, 118 f. 225 Marion, The Reason, 122. 226 Bayer, Martin Luthers Theologie, 90. 227 Siehe dazu auch Sameli Juntunen, The notion of gift (donum) in Luther’s thinking, in: Ulrik Nissen (Hg.), Luther between past and present. Studies in Luther and Lutheranism, Helsinki 1990, 53–69, 57–64. 223 224
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Gottes Sich-Geben im ersten, im zweiten und im dritten Artikel entspricht also den Strukturmerkmalen, die Marion bei der Vaterschaft festgestellt hat. Unstrittig ist des Weiteren, dass Gott den Menschen in ein umfassendes Netz an Beziehungen zu Gott, zu anderen Menschen, der Umwelt und zu sich selbst hineinstellt. Innerhalb dessen handelt der Mensch dann so, dass er die empfangenen Gaben weitergibt, indem er Gott lobt und den Nächsten liebt, und dabei auch jeweils von anderen Menschen Gaben empfängt. Ein Thema, das in der folgenden Auslegung von Luthers Abendmahlstexte nicht im Zentrum der Debatte steht, aber gleichwohl nicht unwichtig ist, ist nun aber umstritten. Wie sind die Aktivitäten des Menschen und damit der Mensch als cooperator dei zu verstehen? 228 Laut Bo Kristian Holm muss die Aktivität des Menschen bei Luther in einiger Nähe (bei aller Differenz) zu Mauss gedacht werden. Denn der Mensch gibt sich selbst Gott im Lob zurück und dient seinem Nächsten in Liebe zu dessen Nutzen, so dass der Nächste wiederum selbst die empfangenen Gaben zurück- und weitergeben kann. Dieser Gabentausch lässt sich in folgende Formel fassen: „Deus dat, ut dem, et do ut des.“229 Dagegen ist zweierlei zu bemerken. Zum einen wenden Dalferth und Saarinen ein, was durch die folgende Auslegung der späten Abendmahlstexte Luthers bestätigt wird: Auch und gerade in seiner Aktivität ist der Glaubende allein dadurch aktiv, dass Gott in ihm handelt. Er kann somit nicht eigenständig das Empfangene weitergeben. Vielmehr ist er Mittel und Rohr der Aktivität Gottes und bleibt damit in gewisser Hinsicht ein Nichts oder als eigener Term eingeklammert. Der Mensch ist nicht nur im Moment des Geschaffenwerdens ganz von Gott abhängig, sondern dependiert Zeit seines Lebens und in allen Tätigkeiten von Gottes Erhaltung. „Das Aktivitätszentrum und die Aktionskraft der guten Werken ist nicht der menschliche Täter von sich aus, sondern der in und durch ihn wirkende gut und gerecht machende Gott: Gute Werke bleiben Gottes Werke.“230 Es wird „somit die Aktivität des Menschen nicht be228 Siehe dazu auch Bo Holm, Peter Widmann, A summary of the discussion, in: Bo Kristian Holm, Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology (Religion in Philosophy and Theology 37) Tübingen 2009, 187– 194, 189. 229 Bo Kristian Holm, Justification and reciprocity. „Purified gift-exchange“ in Milbank and Luther, in: Bo Kristian Holm, Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology (Religion in Philosophy and Theology 37) Tübingen 2009, 87–116, 116. 230 Ingolf U. Dalferth, Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther, in: Bo
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stritten, sondern als Vollzugsweise seiner basalen Passivität“ und damit als „fremdbedingte Passivitätsaktivität“231 charakterisiert (siehe dazu auch Drittes Kapitel, 2.2.2.3.). Dagegen bewirkt die Sünde, dass der Mensch die eigenen Aktivitäten als solche versteht, die er von sich aus und im Eigenstand gegenüber Gott vollzieht. Die Versöhnung bringt die Einsicht in die Abhängigkeit von den guten Gaben des Vaters mit sich. Luther entwirft die Schöpfung und das Leben in ihr somit als ein vielfältiges Beziehungsnetz, in dem der Mensch beständig gute Gaben empfängt und weitergibt. Dennoch ist dieses Geben und Nehmen nicht in einiger Nähe zu Mauss gedacht. Vielmehr ist es in einiger Nähe zu Marion gedacht, da der Mensch als Geber der Gaben eingeklammert ist: Es ereignet sich das reziproke Geben von Gaben, da der Glaubende in seinen Werken nur Mittel und Rohr des in ihm präsenten Gottes ist. Zum anderen ist in gewisser Hinsicht nicht nur der Mensch als Geber eingeklammert, sondern auch die Gabe als solche. Denn Luthers ganze Abendmahlstheologie kann zwar einerseits als Einweisung in das Verständnis der Wirklichkeit als Gabegeschehen gelesen werden. Andererseits aber betont Luther, dass Menschen einander weniger Gaben als Gaben geben, sondern vielmehr die Not oder die Freude des Nächsten wahrnehmen und dem Nächsten in dieser Not helfen. Luther stellt die Sachorientierung dieser Handlungen heraus und damit die Orientierung allein am konkreten Bedürfnis oder der konkreten Freude des Nächsten als derjenigen Form, in der sich das Gabegeben vollzieht. Somit gibt es gute Gründe dafür, das umfassende Netz des Empfangens und des Gebens von Gaben zu betonen, das Luther entwirft, zugleich aber darauf hinzuweisen, dass Luther das umfassende Gabegeschehen in struktureller Hinsicht im Sinne Marions versteht. Denn der Mensch als Empfänger und als Geber der Gaben ist bleibend ein Nichts gegenüber der schöpferischen und erhaltenden Aktivität Gottes, und die Gaben, die der Mensch gibt, gibt er weniger als Gaben denn als konkrete Hilfe in konkreter Not: Beide Terme sind eigentlich eingeklammert, ohne dass das Phänomen der Gaben damit verschwindet. Es ereignet sich ein gereinigter Gabentausch.
Kristian Holm, Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology (Religion in Philosophy and Theology 37) Tübingen 2009, 43–72, 58. Die Differenz von Luthers Gabenverständnis zu dem von Milbank betont auch Saarinen, God and the Gift, 57 f. 231 Dalferth, Mere Passive, 59.
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Luthers späte Abendmahlstexte sind gerade darin besonders interessant, dass Luther in ihnen zwei Diskurse verbindet, die gegenwärtig oftmals voneinander getrennt werden. Denn in Luthers späten Abendmahlstexten erweist sich Luther zugleich als Theologe des Wortes (siehe Drittes Kapitel, 1.3.) und als Theologe der Gabe (siehe Drittes Kapitel, 1.4.), da Gott sich gibt, indem er spricht, und da die guten Gaben selbst auf eigene Weise Wörter sind. Das sei in der folgenden Auslegung Luthers genauer dargestellt (siehe Drittes Kapitel, 2.), ehe abschließend eigens expliziert wird, dass Luther gerade auf diese Weise in kategorialer Hinsicht anschlussfähig und für die Gegenwart relevant ist (Viertes Kapitel).
2. Luthers Metaphysik des Abendmahls: Leibliche Gabe 2.1. Einleitung: Hinführungen zu Luthers Abendmahlstheologie 2.1.1. Zum Ansatz, zur Textauswahl und zur hermeneutische Verortung Verschiedene Zeiten verhandeln das Gesamte ihres Wirklichkeitsverständnisses anhand verschiedener Leitmedien. Während die Menschen in der westlichen Spätmoderne in den letzten Jahrzehnten ihr Wirklichkeitsverständnis oftmals anhand des Mediums der Medien verhandelten, verhandelten die Menschen im Spätmittelalters und in der Reformationszeit das Gesamte ihres Wirklichkeitsverständnisses oftmals anhand des Mediums der media salutis und im Besonderen anhand des Abendmahls.232 Dies gilt in ausgezeichnetem Maße für Luthers späte Abendmahlslehre und somit für die großen Schriften zum Abendmahl, die Luther zwischen 1525 und 1528 schrieb. In ihnen ist er weit davon entfernt, nur Spezialfragen zum dritten Glaubensartikel zu debattieren. Ebenso ist er weit davon entfernt, aufgrund des Kontextes hitziger Auseinandersetzungen mit Zwingli und mit anderen Gegnern einmalig zugespitzte Positionen etwa zur Frage der Realpräsenz oder zur Ubiquitätslehre zu entwickeln, die seine Theologie als Ganze sprengen. Vielmehr entwickelt er in seinen großen Abendmahlsschriften eine in sich kohärente Gesamtsicht der Wirklichkeit, eine umfassende Metaphysik. Sie steht mit seiner vorher und nachher entwickelten Theologie in Kon232 Siehe dazu auch Jochen Hörisch, Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt a. M. 1992, 7–28, v. a. 13 f.
2. Luthers Metaphysik des Abendmahls: Leibliche Gabe
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tinuität, auch wenn sie einige eigene Schwerpunkte setzt.233 Luther macht die Wirklichkeit als durch Wort und Materie vermitteltes Gabegeschehen sichtbar: Der dreieinige Gott wird als souveräner Geber charakterisiert und die Schöpfung als Ganze als gute Gabe. Der Mensch kommt als Empfänger von Gottes leiblichen Gaben in den Blick, der aufgrund des Empfangenen selbst Gaben weitergibt, auch wenn er nach dem Fall die Gaben missbraucht und stets in Anfechtung steht.234 Bereits diese ersten Andeutungen lassen erkennen, dass der Blick auf die Wirklichkeit als umfassendes Gabegeschehen als eine Möglichkeit verstanden werden kann, die Rechtfertigungslehre in ihrer Prägekraft für das Gesamtverständnis der Wirklichkeit 235 durchzubuchstabieren. Sie lassen zudem erkennen, dass Luther eine umfassende Alternative zu demjenigen in der technischen Spätmoderne vorherrschenden Blick auf die Wirklichkeit präsentiert, der diese als Bestand ansieht (siehe dazu das Erste Kapitel). Schließlich ist damit bereits angedeutet, dass Grundzüge von Luthers Blick auf die Wirklichkeit in erfreulicher Weise mit wichtigen Aspekten der Erstphilosophie Kochs und Schellings übereinstimmen (siehe dazu das Zweite Kapitel). Eine ausführliche Verknüpfung der gegenwartshermeneutischen sowie der erstphilosophischen Perspektive mit der von Luther wird im abschließenden Teil des Buches erfolgen (siehe das Viertes Kapitel). Die Gesamtsicht Luthers soll im Folgenden vor allem anhand seiner großen Abendmahlsschriften von 1525 bis 1528 rekonstruiert werden, so 233 Siehe dazu bereits Ernst Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls nach Luthers Gedanken über das Abendmahl 1527/1529, Leipzig 1930, 1–7 und Metzke, Metaphysik und Sakrament, 164–169. 234 Dass Luthers Theologie als Ganze als Theologie der Gabe verstanden werden kann, hat erstmals Martin Seils, Die Sache Luthers, in: LJ 52 (1985), 64–80 herausgearbeitet. Auch in der internationalen Debatte findet diese Lesart Anklang, siehe nur Bo Kristian Holm, Gabe und Geben bei Luther. Das Verhältnis zwischen Reziprozität und reformatorischer Rechtfertigungslehre (Theologische Bibliothek Töpelmann 134), Berlin, New York 2006; Simo Peura, What God Gives Man Receives: Luther on Salvation, in: Carl Braaten, Robert Jenson (Hg.), Union With Christ. The New Finnish Interpretation of Luther, Grand Rapids 1998, 76–95; Risto Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville, Minnesota 2005, 45–58 sowie die Beiträge in Bo Kristian Holm, Peter Widmann (Hg.), Word – Gift – Being. Justification – Ontology – Economy (Religion in Philosophy and Theology 37), Tübingen 2009. 235 Siehe dazu auch Christoph Schwöbel, Die Wirklichkeit im Horizont der Rechtfertigungsbotschaft, in: Wilfried Härle, Peter Neuner (Hg.), Im Licht der Gnade Gottes. Zur Gegenwartsbedeutung der Rechtfertigungsbotschaft, Berlin, Münster 2003, 135–151.
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dass die Texte Wider die himmlischen Propheten (1525),236 Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi wider die Schwarmgeister (1526),237 Daß diese Wort Christi ‚Dies ist mein Leib‘ noch fest stehen, wider die Schwärmgeister (1527) 238 sowie Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528) 239 die Grundlage der folgenden Ausführungen darstellen. Da der Kleine Katechismus und der Große Katechismus (1529) 240 ebenfalls das Gesamte der Wirklichkeit als Gabegeschehen bedenken und somit Luthers Abendmahlsschriften nicht nur in zeitlicher, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht nahe stehen, wird ebenso auf diese Schriften zurückgegriffen. Der Rückgriff auf die Katechismen rechtfertigt zudem den Ansatz unserer Auslegung, der besagt, dass die Abendmahlsschriften nicht als polemische Gelegenheitsschriften über ein Spezialthema zu lesen sind, sondern als Träger einer Gesamtsicht der Wirklichkeit, die auch sonst Luthers Theologie als Ganze prägt. Denn es ist gerade die Aufgabe der Katechismen, auf unpolemische Weise ein umfassendes Wirklichkeitsverständnis darzulegen. Das gelingt so gut, dass Luther die Katechismen für seine besten Schriften hielt.241 – Luthers Theologie des Abendmahlsstreites wird im Folgenden unter systematischer Perspektive rekonstruiert. Dafür werden die Ergebnisse entwicklungsgeschichtlicher Untersuchungen beständig aufgenommen, ohne dass aber die früheren Schriften Luthers zum Abendmahl selbst rekonstruiert werden.242 Hingegen werden einige Predigten und Tischreden zum Thema hin236 Martin Luther, Wider die himmlischen Propheten, von den Bildern und Sakramenten, WA 18, 37–214. 237 Martin Luther, Sermon von dem Sakrament des Leibes und Blutes Christi wider die Schwarmgeister, WA 19, 474–523. 238 Martin Luther, Daß diese Wort Christi ‚Dies ist mein Leib‘ noch fest stehen, wider die Schwärmgeister, WA 23, 38–320. 239 Martin Luther, Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis, WA 26 241–509. 240 Martin Luther, Der Kleine Katechismus, WA 30 I, 239–425. Martin Luther, Der Große Katechismus, WA 30 I, 125–238. 241 Siehe WAB 8, 99, 7 f. 242 Siehe dazu Hans Grass, Die Abendmahlslehre bei Luther und Calvin. Eine kritische Untersuchung (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 47), Gütersloh, 2. neubearbeitete Auflage 1954, 17–45, sowie ausführlich Wolfgang Schwab, Entwicklung und Gestalt der Sakramentstheologie bei Martin Luther (Europäische Hochschulschriften XXIII, 79), Frankfurt 1977, 145–231. Zu den mittelalterlichen Hintergründen zentraler Theologumena in Luthers späten Abendmahlsschriften siehe Hartmut Hilgenfeld, Mittelalterlich-traditionelle Elemente in Luthers Abendmahlsschriften (Studien zur Dogmengeschichte und Systematischen Theologie 29), Zürich 1971.
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zugezogen.243 Darüber hinaus wird recht ausführlich auf den Anfang von Luthers Großer Genesisvorlesung (1535–1545) 244 sowie auf seine Auslegung vom Anfang des Johannesevangeliums, dem Evangelium von der hohen Christmeß (1522), 245 zurückgegriffen. Der Rückgriff auf diese Texte erklärt sich nicht nur dadurch, dass Luther selbst in seinen Abendmahlsschriften an prominenten Stellen auf das erste Kapitel der Genesis sowie auf das erste Kapitel des Johannesevangeliums als wichtige Texte verweist, die auch das Abendmahlsgeschehen aufzuklären helfen.246 Vielmehr erklärt es sich auch aus dem Ansatz der vorliegenden Auslegung, Luthers Abendmahlstheologie als Metaphysik zu begreifen und somit auch die Schöpfung als Gabe sowie Christus als Geber ausführlicher in den Blick zu nehmen. Durch den Rückgriff auf die Katechismen, die Genesisvorlesung und die Johannesauslegung werden die Aussagen der großen Abendmahlsschriften somit vertieft und an manchen Stellen auch erweitert; diese Erweiterungen werden in der Auslegung eigens namhaft gemacht. Vor allem aber lässt sich aus allen genannten Schriften heraus eine umfassende und kohärente Theologie erheben, die die Wirklichkeit als Gabegeschehen fasst. Die Hermeneutik der folgenden Luther-Auslegung ist somit dadurch bestimmt, die genannten Texte auf inhaltliche Kohärenz hin zu lesen und aus ihnen ein umfassendes Wirklichkeitsverständnis herauszupräparieren. Denn diese Texte entstanden zwar über einen Zeitraum von fünf Jahren (und mehr) und gehören unterschiedlichen Gattungen an. Zudem präsentieren einige der angegebenen Texte ihr Wirklichkeitsverständnis in expliziter Form, während das Wirklichkeitsverständnis in anderen Texten nur implizit vorhanden ist und teils erst abduktiv erhoben werden muss.247 Dennoch ist es das Ziel dieser Auslegung herauszuarbeiten, Am wichtigsten ist Martin Luther, Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis über Mk. 7,31–37, WA 46, 493–495. Die späteren Äußerungen Luthers zum Abendmahl wie Martin Luther, Vermahnung zum Sakrament des Leibes und Blutes Christi, WA 30 II, 589–626, von 1530 und Martin Luther, Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament, WA 54, 119–167, von 1544 werden nur ganz kursorisch herangezogen, da sie sachlich gegenüber dem Diskussionsstand von 1528 nichts hinzufügen, was für unsere Fragestellung von Interesse wäre. 244 Martin Luther, WA 42. 245 Martin Luther, Evangelium in der hohen Christmeß, WA 10 I, 180–247. 246 Siehe nur (zu Gen. 1) WA 18, 14 f., WA 23, 139, 17–19, WA 23, 233, 6–9 sowie (zu Joh. 1) WA 23, 257, 21–24, WA 26, 282, 10–25. 247 Abduktive Schlüsse schließen anders als deduktive, die von allgemeinen Regeln auf den Einzelfall schließen, und anders als induktive, die die Regeln am Einzelfall überprüfen, von einer meist überraschenden Einsicht auf eine Regel. Die Abduk243
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
dass allen Texten eine ebenso grundlegende wie umfassende Metaphysik gemeinsam ist, die sie je auf eigene Weise explizieren.248 Auf zwei Wegen wird auf die ausführliche Rekonstruktion der Wirklichkeitssicht Luthers (Drittes Kapitel, 2.2.) hingeführt. Zuerst werden drei Grundstrukturen der Wirklichkeitssicht Luthers sowie einige zentrale materiale Bestimmungen namhaft gemacht. Die erste Grundstruktur besagt, dass Luther irreduzibel eine doppelte Perspektive auf das Gabegeschehen einbringt, eine geber- und eine empfängerorientierte. Die zweite Grundstruktur besteht in einer eigens geprägten Zuordnung von tion „geht mit einer Beobachtung um, die sie als These nimmt, und überprüft diese Beobachtung auf ihre Haltbarkeit hin an den vorliegenden Texten. Dabei wirkt sie Erkenntnis erweiternd und in diesem Sinne synthetisch und gehört zusammen mit der Induktion zur ‚logic of discovery.‘“ Dass die ursprünglich von Peirce in die Debatte eingeführte Abduktion mit dem Zitat aus Sibylle Rolf, Zum Herzen sprechen. Eine Studie zum imputativen Aspekt in Martin Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Konsequenzen für die Predigt des Evangeliums, Leipzig 2008, 18, näher bestimmt wurde, soll darauf verweisen, dass die Abduktion in der gegenwärtigen Luther-Forschung ein des Öfteren verwendetes methodisches Instrument darstellt. Siehe dazu auch Rüdiger Gebhardt, Heil als Kommunikationsgeschehen. Analyse zu dem in Luthers Rechtfertigungslehre implizierten Wirklichkeitsverständnis, Marburg 2002, 52 f. 248 Bisweilen wird in der gegenwärtigen Lutherforschung zwischen einem historisch-genetischen, einem systematisch-theologischen und einem hermeneutischen Rekonstruktionsansatz unterschieden, siehe dazu etwa Helmer, The Trinity, 26–30, aber auch Gebhardt, Heil, 54–56. Unser Ansatz nimmt die Ergebnisse der historisch-genetischen Perspektive als derjenigen, die Luther unter entwicklungsgeschichtlichen Fragestellungen bedenkt, beständig mit auf. Sie legt ihren Schwerpunkt aber auf die systematisch-theologische Perspektive, da sie die verschiedenen Schriften und auch die verschiedenen literarischen Formen auf ihren gemeinsamen Sachbezug hin befragt. Die hermeneutische Perspektive bringt eine neue Sensibilität für die literarischen Formen ins Spiel und gibt zu bedenken, dass bei Luther als dem Theologen des Wortes die Gattungen und rhetorischen Stilmittel, in denen sich das Wort ausspricht, auch für den Inhalt selbst von Bedeutung sind. Das Anliegen dieser Perspektive wird von unserem Ansatz insofern aufgenommen, als sich unsere Lutherauslegung anhand zweier großer Zitate aus zwei verschiedenen Gattungen organisiert. Auch während der weiteren Rekonstruktion Luthers werden recht häufig zentrale Sätze oder Passagen aus Luthers Schriften zitiert und dann ausführlich exegetisiert, um dem behandelten Material die Möglichkeit des Widerstandes gegenüber seiner (vielleicht allzu systematischen) Auslegung einzuräumen. Auch wenn die Ergebnisse des historisch-genetischen und des hermeneutischen Ansatzes aufgenommen werden, scheint es mir für das Anliegen dieses Buches einen größeren Gewinn darzustellen, aus den unterschiedlichen Texten und Textgattungen die gemeinsame, systematisierbare Wirklichkeitssicht Luthers herauszuarbeiten als den aufgrund der verschiedenen Textgattungen auch bestehenden Differenzen zwischen den Texten breitere Aufmerksamkeit zu schenken.
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Metaphysik und Rechtfertigungslehre und weist Luther als Realidealisten aus. Die dritte besteht in der charakteristischen Vermittlung der drei Artikel von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung und lässt Luther als dialektischen Denker sichtbar werden (Drittes Kapitel, 2.1.2.1.–3.). Sodann werden einige Aspekte, die in den Grundstrukturen namhaft gemacht wurden, dergestalt weiter entfaltet, dass Luthers grundlegendes Verständnis der Heilsordnung entwickelt wird. Mit der Heilsordnung ist diejenige Art und Weise bezeichnet, auf die Gott mit den Menschen handelt. Sie hat gravierende ontologische und soteriologische Implikationen. Da Luther sein eigenes Verständnis der Heilsordnung in steter Auseinandersetzung mit seinen Gegnern im Abendmahlsstreit entwickelt, wird kurz auf diesen Streit sowie die Position der Gegner eingegangen. Das angemessene Verständnis der Heilsordnung beinhaltet zudem auch ein Verständnis der Zuordnung von Vernunft, Schrift und Glaube, so dass auch dieser Themenkomplex in der zweiten Hinführung zu Luthers Gabetheologie kurz rekonstruiert wird. Er dürfte zudem für das vorliegende Buch als Ganzes von Interesse sein, da in diesem Abschnitt nicht nur deutlich wird, an welchen Punkten mir Luther ganz sachgemäß zu argumentieren scheint, sondern auch, an welchen Punkten kritische Vorbehalte namhaft zu machen sind.
2.1.2. Erste Hinführung: Drei Grundstrukturen von Luthers Metaphysik der Gabe Eine zentrale Beobachtung, die die folgende Luther-Auslegung leitet, besagt, dass Luthers Wirklichkeitsverständnis durch drei Grundstrukturen geprägt ist. Die nähere Explikation und die Argumente, die dafür sprechen, diese Grundstrukturen als solche herauszustellen, erfolgt durch die ausführliche Darlegung von Luthers Wirklichkeitssicht (Drittes Kapitel, 2.2.). Entsprechend endet auch die Rekonstruktion von Luthers Wirklichkeitsverständnis damit, dass auf diese drei Grundstrukturen zurückgekommen wird. Zugleich kann die Darlegung der Grundstrukturen als Hinführung zur ausführlichen Auslegung dienen und sei daher im Folgenden etwas detaillierter entwickelt.
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
2.1.2.1. Die erste Grundstruktur: Die Verschränkung der geberund der empfängerorientierten Perspektive auf die Wirklichkeit als Gabegeschehen Erstens präsentiert Luther die Wirklichkeit als Gabegeschehen und nimmt das Gabegeschehen unter zwei Perspektiven in den Blick. Beide Perspektiven spielen in den Texten oftmals ineinander und sind daher nicht voneinander zu trennen, aber auch nicht aufeinander zu reduzieren. Luther bedenkt die Gabe irreduzibel sowohl aus einer geberorientierten wie aus einer empfängerorientierten Perspektive (siehe zu dieser Terminologie auch Drittes Kapitel, 1.4.1.).249 Die geberorientierte Perspektive meint selbstredend nicht, die Wirklichkeit aus der Perspektive von Gott selbst sehen zu können, sondern vielmehr, das Gabegeschehen mit den durch Gottes Offenbarung informierten Augen des Glaubenden unter Betonung des Handelns des dreieinigen Gottes in den Blick zu nehmen. Der wichtigste Text für diese Perspektive ist ein zentraler Text für unsere Auslegung Luthers. Seine Zentralität weist sich bereits dadurch aus, dass er in der Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis zu finden ist. Er steht damit in demjenigen Text, in dem Luther auch nach eigener Angabe seine im Abendmahlsstreit entwickelte Position bündelt und dergestalt gültig zusammenfasst, dass er danach keine weiteren großen Texte zum Abendmahl mehr schreiben will (und faktisch auch nicht mehr geschrieben hat).250 Zudem steht dieser Text in dem Textabschnitt, der das in der Überschrift des Textes angekündigte Bekenntnis enthält. Luther war im Jahr 1527 als dem Jahr der Abfassung des Textes schwer krank und in besonderem Maße angefochten, so dass das eigene Sterben ein Thema war, das ihn sehr beschäftigte.251 Daher legt er in diesem Text ein Bekenntnis zu denjenigen Glaubensinhalten ab, die ihn im Leben und Sterben tragen sollen und von denen die Nachwelt gewiss sein soll, dass er sie für zentral erachtete.252 Unter allen Aussagen, die Luther 249 Die Differenz zwischen geber- und empfängerorientierten Perspektiven auf das Gabegeschehen hat besonders Saarinen, God and the Gift, herausgearbeitet, siehe etwa 2–8. 250 Siehe dazu WA 26, 262, 12–14. 251 Siehe dazu WA 26, 499, 2–10, sowie Martin Brecht, Martin Luther. Band 2 : Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, 203– 208.306–309. 252 Zu Luthers Verständnis des Bekenntnisses als eines in der Anfechtung abzulegenden Wahrheitszeugnisses für die ganze Kirche vor dem Richterstuhl Christi siehe auch Gunther Wenz, „Das ist mein glaube . . .“. Luthers Großes Bekenntnis von 1528, in: Edith-Stein-Jahrbuch 4 (1998), 193–213, v. a. 193–197; siehe auch den Ver-
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in diesem existentiell hoch aufgeladenen und theologisch dichten Bekenntnistext vorlegt, ragen die folgenden Zeilen nun nochmals eigens heraus. Denn während Luther sich ansonsten an traditionellen Formulierungen orientiert, welche er dann mit eigenen Akzenten versieht, setzt er in den folgenden Zeilen mit eigener Sprache und einem eigenen Denkmodell an. Die Annahme, damit Luthers eigener Intention besonders nahe zu sein, ist wohl nicht nur einer modernen Präferenz für Individuelles geschuldet.253 Luther schreibt: „Das sind die drei Personen und ein Gott, der sich uns allen selbs ganz und gar gegeben hat mit allem, das er ist und hat. Der Vater gibt sich uns mit hymel und erden sampt allen creaturen, das sie uns dienen und nütze sein müssen. Aber solche Gabe ist durch Adams fall verfinstert und unnütze worden. Darumb hat darnach der son sich selbs auch uns gegeben alle sein werck, leiden, weisheit und gerechtigkeit geschenckt und uns dem Vater versünet, damit wir widder lebendig und gerecht auch den Vater mit seinen gaben erkennen und haben möchten. Weil aber solche gnade niemand nütze wäre, wo sie so heimlich verborgen bliebe und zu uns nicht kommen kündte, so kompt der heilige geist und gibt sich auch uns ganz und gar. Der lehret uns solche wolthat Christi uns erzeigt erkennen, hilfft sie empfahen und behalten, nützlich brauchen und austeilen, mehren und fördern. Und thut dasselbige beide ynnerlich und eusserlich. Ynnerlich durch den glauben und ander geistlich gaben. Eusserlich aber durchs Euangelion, durch die tauffe und sacrament des altars, durch welche er als durch drey mittel odder weise zu uns kompt und das leiden Christi ynn uns ubet und zu nutz bringet der seligkeit.“254 Dieser Text betrachtet die gesamte Wirklichkeit unter der Perspektive des dreifachen Sichgebens des dreieinigen Gottes.255 Der Text wird oftmals und zu Recht als Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen gesehen, gilt er doch als „die Grundlage der von Kursachsen ausgehenden Bekenntnisbewegung der nächsten Jahre und somit auch der Confessio gleich mit dem Bekenntnis in Martin Luthers De servo arbitrio, WA 18, 600–787, bei Thomas Reinhuber, Kämpfender Glaube. Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio (Theologische Bibliothek Töpelmann 104), Berlin, New York 2000, 23–25. 253 So auch Seils, Die Sache Luthers, 65 f. 254 WA 26, 505, 38–506, 12. 255 Dass dieser Text aus der Geberperspektive geschrieben wurde, betont auch Saarinen, God and the Gift, 46.
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
Augustana.“256 Wir wollen ihn im Folgenden jedoch nicht als Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen verstehen, sondern als konzentrierte Zusammenfassung zentraler Aspekte von Luthers späten Abendmahlsschriften. Der Text stellt somit gleichsam einen hermeneutischen Schlüssel für die im Folgenden vorgelegte Auslegung Luthers dar. Dies gilt auch insofern, als unsere Auslegung von Luthers Abendmahlslehre nach kurzen Überlegungen zur immanenten Trinität dem heilsgeschichtlichen Ordnungsschema der drei Glaubensartikel folgt, das in dem Zitat aufgerufen wird: Es wird zuerst Luthers Schöpfungslehre rekonstruiert, sodann seine Lehre vom Fall und von der Christologie, ehe die Pneumatologie zur Sprache kommt, die in der geistgewirkten Realpräsenz Christi im Abendmahl ihren Höhepunkt findet; dies wird in der dritten Grundstruktur genauer expliziert. Bei aller Wichtigkeit darf jedoch nicht vergessen werden, dass die in diesem Text vorherrschende geberorientierte Perspektive von Luther durch eine empfängerorientierte Perspektive ergänzt wird, die in dem eben zitierten Text nur ganz beiläufig sichtbar wurde. In seinen Ausführungen zum ersten Glaubensartikel im Großen Katechismus leitet Luther dergestalt zur empfängerorientierten Perspektive über, dass er zuerst die Schöpfung als Selbstgabe des Vaters deutet und dann schreibt: „Weil uns das alles, so wir vermugen, dazu was ym hymel und erden ist, teglich von Gott gegeben, erhalten und bewaret wird, so sind wir ia schuldig yhn darumb on unterlas zu lieben, loben und dancken und kürtzlich yhm gantz und gar damit zudienen, wie er es durch die zehen gepot foddert und befolhen hat.“257 Die Zehn Gebote aber sind geprägt durch die Zentralstellung des Erstens Gebotes, da die anderen Gebote aus dem Ersten Gebot folgen, von ihm geprägt sind und wieder auf es hinführen.258 Entsprechend kann der berühmte Beginn von Luthers Auslegung des Ersten Artikels im Großen Katechismus für einen ersten Blick auf die empfängerorientierte Perspektive einstehen und wird auch in unserer weiteren Auslegung eine prominente Rolle spielen: „Du solt nicht andere Gotter 256 Emanuel Hirsch, Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik. Die Dogmatik der Reformatoren und der altevangelischen Lehrer quellenmäßig belegt und verdeutscht, Berlin, 4. Auflage 1964. 257 WA 30 I, 184, 34–38. 258 Siehe zur Stellung des Ersten Gebotes WA 30 I, 180, 23–181, 25 und auch Martin Wendte, Luthers Großer Katechismus, in: Rebekka Klein, Christian Polke, Martin Wendte (Hg.), Hauptwerke der Systematischen Theologie. Ein Studienbuch, Tübingen 2009, 91–108, 101.
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haben. Das ist, du solt mich alleine fur deinen Gott halten. Was ist das gesagt und wie verstehet mans? Was heist einen Gott haben oder was ist Gott? Antwort: Ein Gott heisset das, dazu man sich versehen sol alles guten und zuflucht haben ynn allen noten. Also das ein Gott haben nichts anders ist denn yhm von hertzen trawen und gleuben; wie ich offt gesagt habe, das alleine das trawen und gleuben des hertzens machet beide Gott und abeGott. Ist der Glaube und vertrawen recht, so ist auch dein Gott recht, und widerumb wo das vertrawen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwey gehören zuhauffe, glaube und Gott. Worauff du nu (sage ich) dein hertz hengest und verlessest, das ist eygentlich dein Gott.“259 Luther meint, dass alle Menschen von Gott geschaffen, erhalten und angeredet werden, so dass alle Menschen in einer von Gott her eröffneten Gottesbeziehung stehen. Nach Adams Fall aber hängen alle Menschen ihr Herz an Abgötter und nicht an den wahren Gott. Auch die Christen entkommen dem Drang ihres Herzens, sich an Abgötter zu hängen, nicht und bleiben bei allem Fortschritt im Glauben damit jeweils auch ganz Sünder: Sie sind als simul iusti et peccatores zu verstehen. Die empfängerorientierte Perspektive betont somit nicht nur, dass die Menschen Beziehungswesen sind, die ihr Herz je an Gott oder an einen Abgott hängen, und sie macht nicht nur auf die jeweils beschränkten Erkenntnismöglichkeiten aufmerksam, die mit der Endlichkeit des Menschen einhergehen. Vor allem macht sie deutlich, dass auch der Glaubende sich jeweils in Auseinandersetzungen befindet: Diese Auseinandersetzungen bestehen zum einen in dem intellektuellen Streit um die Wirklichkeit gegenüber anderen Auslegungen der Wirklichkeit. Zum anderen besteht sie in den Anfechtungen, die der Glaubende erfährt, wenn er sieht, dass er die Gebote nicht erfüllt, und wenn er das gnädige Sichgeben Gottes in der Weltwirklichkeit oder im eigenen, bleibend sündigen Verhalten nicht zu re-identifizieren vermag. Glaube ist jeweils angefochtener Glaube. Für Luther hat die Abgötterei des sündigen Herzens zum einen dergestalt eine übersituative Seite, dass seit Adams Fall alle Menschen ähnlichen Abgöttern anhängen, Abgöttern wie dem Geld, der Bildung oder den eigenen Werken und damit letztlich dem eigenen Ich.260 Zum anderen aber findet die Abgötterei in verschiedenen geschichtlichen Perioden und Situationen auch ihre je eigene Ausprägung, die entsprechend je ei WA 30 I,132, 32–133, 8. Siehe WA 30 I, 133, 17–136, 31.
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gens identifiziert und bekämpft werden muss. Um dies zu leisten, setzt sich Luther in seinen späten Abendmahlsschriften ausführlich mit seinen Gegnern auseinander. Er ordnet sie zunächst in ein geschichtstheologisches Schema ein und sucht ihre Argumente dann auch einzeln zu widerlegen. Diese Auseinandersetzungen stehen nicht im Fokus der folgenden Überlegungen. Dennoch ist es auch für die Skizzierung von Luthers eigener Position hilfreich, einen Seitenblick auf sie zu werfen, so dass die zweite Hinführung zu Luther damit begonnen wird (siehe Drittes Kapitel, 2.2.1.). Vier Aspekte sind mit dieser Skizze der ersten Grundstruktur implizit mit angeführt. Da die geber- und die empfängerorientierte Perspektive zwei irreduzible Dimensionen darstellen, haben erstens auch die Glaubenden keinen Zugriff auf die Geberperspektive ohne die beständigen Auseinandersetzungen, die nach dem Fall mit der Empfängerperspektive einhergehen. Saarinen bemerkt, dass die geberorientierte Perspektive Luthers der von Jean-Luc Marion ähnelt, da bei beiden der Empfänger eingeklammert wird und das Gegebensein in seiner Reinheit in den Blick genommen wird. Die empfängerorientierte Perspektive Luthers hingegen ähnelt insofern der von Jacques Derrida, da beide die faktische Möglichkeit dekonstruieren, eine Gabe rein zu empfangen und weiterzugeben.261 Allerdings ermöglicht laut Luther der Heilige Geist doch, dass wir an der Zirkulation der Gaben teilhaben. Auch wenn die empfängerorientierte Perspektive nicht zu vernachlässigen ist, kommt, zweitens, in sachlicher Hinsicht der Geberperspektive Priorität zu. Nur weil Gott sich dem Menschen in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung gibt, kann der Mensch Gott empfangen oder ihn ablehnen und dann selbst weiter handeln. Das lässt sich mit der Terminologie von Gesetz und Evangelium in Beziehung setzen. Laut Luther bezeichnet das Evangelium dasjenige, was Gott für den Menschen tut, und das Gesetz dasjenige, was der Mensch tun soll, was er aber nach Adams Fall ohne Hilfe von Christus und Geist nicht mehr zu tun vermag. 262 Das Evangelium bezeichnet nun nicht nur dasjenige, was Gott in Christus für den Menschen tut, damit der Mensch dasjenige tun kann, was er tun soll, was er aber aufgrund des Falls nicht tun kann. Das Evangelium ist somit nicht nur auf das das Böse überwindende Handeln in Jesus Chri Siehe Saarinen, God and the Gift, 52–54. Siehe der Sache nach WA 30 I, 182, 18–31, und Eilert Herms, Gesetz und Evangelium in reformatorischer Sicht, in: Eilert Herms, Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 368–389, 369. 261
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stus zu beziehen, sondern bereits auf Gottes schenkendes Handeln in der Schöpfung, das dem Menschen überhaupt erst zu sein und zu handeln ermöglicht. Wie aus der geberorientierten Perspektive besonders deutlich wird, stellt das Evangelium nicht nur eine Reaktion auf das Böse dar, sondern bezeichnet diejenige schöpferische Überfülle des sich gebenden Gottes, die allem Bösen voraus liegt. Dem Evangelium kommt somit der sachliche Vorrang vor dem Gesetz zu, auch wenn es nicht ohne das Gesetz zu denken ist.263 Drittens stellt das Abendmahl selbst zugleich den Höhe- wie den Kreuzungspunkt der geber- und der empfängerorientierten Perspektive dar. Zwar verschränken sich beide Perspektiven bereits in der Lehre von der immanenten Trinität, in der Schöpfungslehre und in der Christologie. Denn Luther denkt die Trinität als Trinität für den Menschen, er denkt die Schöpfung als gute Schöpfung für den Menschen, die dieser genießen soll, und er denkt in der Christologie die ontologischen mit den soteriologischen Dimensionen zusammen, so dass Christus jeweils Christus für den Menschen ist. Allerdings erfährt die Verschränkung beider Perspektiven im Abendmahl ihren Höhepunkt. Aus der geberorientierten Perspektive kommt Gottes dreifaches Sich-Geben im Abendmahl deshalb an sein Ziel, da der Geist im Abendmahl Christus und seine Gaben austeilt und die Menschen damit auch nach dem Fall die Gaben des Vaters in Fülle empfangen und genießen können.264 Auch die 263 Siehe dazu auch Oswald Bayer, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, 56 f., sowie Herms, Gesetz und Evangelium. Herms zeigt auf, dass Luther vor 1523 das Evangelium primär (oder sogar ausschließlich) als Hilfe gegen die Gesetzesübertretung des Menschen verstand und erst ab dann die Einsicht entwickelte, dass der Mensch anfänglich jeweils hineingestellt ist in eine vom gnädigen Wesen und Willen des Schöpfers bestimmte Schöpfungswirklichkeit, die als solche bereits Gnadencharakter hat. Diese Einsicht lässt sich auch in der Struktur des Großen Katechismus wiederfinden. Zwar hat Luther erst nach 1528 explizit gemacht, dass die Selbstvorstellung Gottes zu Beginn des Ersten Gebotes selbst bereits Evangeliumscharakter hat, während er im Großen Katechismus den Dekalog noch unter der Rubrik subsumierte, dass er vorgibt, was der Mensch tun soll (siehe dazu auch Herms, Gesetz, 376). Aber wie im Fließtext bereits angedeutet, bestimmt Luther in der Credo-Auslegung des Großen Katechismus den Dekalog als dankbare Antwort des Menschen auf die vom Vater gegebene Gabe der guten Schöpfung. 264 Diese Beobachtung entspricht der Einsicht von Eilert Herms, Luthers Auslegung des Dritten Artikels, Tübingen 1987, dass der dritte Artikel den Höhe- und Zielpunkt von Luthers Großem Katechismus darstellt. Siehe dazu in großer sachlicher Nähe auch die unter Rückgriff auf den Großen Katechismus und De servo arbitrio entwickelten Ausführungen von Christoph Schwöbel, Offenbarung, Glaube und Gewißheit in der reformatorischen Theologie, in: Eilert Herms, Lubomir Zak
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empfängerorientierte Perspektive kommt dort an ihren Zielpunkt, da dem Menschen im Abendmahl Vergebung der Sünden und damit die Vergebung der Übertretung des Ersten Gebotes zugesagt wird. Zugleich wird ihm durch die Realpräsenz Christi im Abendmahl ermöglicht, sein Herz vom Abgott ab- und dem wahren Gott zuzuwenden und somit in der Gewissheit des Glaubens das Erste Gebot zu erfüllen. Dabei kommt die empfängerorientierte Perspektive gerade deshalb an ihren Zielpunkt, weil das Abendmahl zugleich den Zielpunkt der geberorientierten Perspektive darstellt und sich somit beide Perspektiven hier in ausgezeichneter Weise treffen: Weil Gott im Abendmahl in besonders intensiver Weise am Menschen handelt, indem er hier auf heilbringende Weise dem Menschen real präsent ist, kann der Mensch das Erste Gebot erfüllen. Gott ermöglicht es, dass der Mensch sein Herz an Gott hängt. Zugleich ist mit dieser Erfüllung der empfängerorientierten Perspektive auch die geberorientierte an ihrem Zielpunkt angelangt. Denn es entspricht Gottes Willen, dem Menschen zugute zu handeln mit dem Ziel, dass der Mensch mit Gottes Hilfe sein Herz an Gott hängt und die guten Gaben des Vaters erkennen und genießen und den Vater für diese loben möge. Viertens: Unsere Auslegung von Luthers Abendmahlsschriften legt zwar die Rekonstruktion einer umfassenden Metaphysik vor, die Luther in der Zeit von 1525 bis 1529 vertrat. Sie beabsichtigt aber nicht, eine Entscheidung bezüglich der in der Forschung umstrittenen Frage herbeizuführen, was denn nun das eigentliche Grundanliegen lutherscher Theologie sei, welches seine Theologie durch alle Zeiten hindurch oder zumindest seit der reformatorischen Wende durchgehend prägte. Dennoch sei die Nebenbemerkung erlaubt, dass die Theologie Luthers, die in seinen späten Abendmahlsschriften sichtbar wird, weniger von denjenigen Auslegungen Luthers getroffen wird, die meinen, dass das Grundanliegen von Luthers Theologie insgesamt die Frage des angefochtenen Gewissens nach dem gnädigen Gott ist. Vielmehr weist unsere Lesart Luthers eine große Nähe zu zwei anderen Auslegungen von Luthers Grundanliegen insgesamt auf: Sie steht derjenigen Auslegung nahe, die meint, dass das Grundanliegen von Luthers Theologie eine Theologie der Gabe ist,265 und auch derjenigen, die meint, dass Luthers Theologie (Hg.), Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen 2008, 214–234, v. a. 232– 234. 265 Siehe dazu Seils, Die Sache Luthers, und Saarinen, God and the Gift.
2. Luthers Metaphysik des Abendmahls: Leibliche Gabe
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um die Erfüllung des Ersten Gebotes herum organisiert ist.266 Die angedeutete Doppelperspektivität ermöglicht es, Luther zugleich als Theologen der Gabe und als Theologen des Ersten Gebotes zu denken.267 Denn der dreieinige Gott gibt sich dem Menschen in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung dergestalt, dass der Mensch das Erste Gebot erfüllen kann und somit gerechtfertigt ist. Die Frage des angefochtenen Gewissens nach dem gnädigen Gott fällt dabei nicht aus, sondern erweist sich gerade unter diesen Vorgaben als besonders drängend. Dennoch wird sie als ein – wenn auch gewichtiges – Folgeproblem sichtbar. Sie stellt sich, da dem Gläubigen gerade in der empfängerorientierten Perspektive deutlich wird, dass er aufgrund des Sündenfalls das Erste Gebot nicht erfüllen kann und er daher unter Gottes Zorn steht, obwohl doch die Wirklichkeit als Ganze ein umfassendes Gabegeschehen ist.268 Mit der Nähe zu denjenigen Auslegungen des Grundanliegens von Luther, die Luther als Theologen der Gabe und als Theologen der Erfüllung des Ersten Gebotes verstehen, kommen unserer Auslegung auch die Vorteile dieser Auslegungsperspektiven zu: Luthers Theologie kreist nicht um ein Problem, das möglicherweise als das Sonderproblem eines Mönches aus einer längst vergangenen Epoche (miss)verstanden werden könnte. Luthers Theologie versucht nicht allein die Antwort auf eine Frage zu geben, die als spezifische Frage des Spätmittelalters klassifiziert werden könnte, so dass – unter dieser Perspektive – nicht nur Luthers Antwort in unserer Gegenwart kaum mehr nachvollziehbar wäre, sondern bereits die ihr zugrunde liegende Frage unverstehbar.269 Vielmehr bearbeitet Luther mit dem Thema der Erfüllung des Ersten Gebotes ein solches Thema, das vielleicht in unmittelbarer Weise als die Frage nach dem angefochtenen Gewissen alle Christen aller Konfessionen zu allen Zeiten beschäftigt. Luther ist daher wahrhaft „the catholic Luther“270 . Zudem bedenkt er das Thema der Erfüllung des Ersten Gebotes durch 266 Siehe dazu Simo Peura, What God gives, v. a. 76–79, und Herms, Luthers Auslegung, 80.86. 267 Dies wird bereits von Peura, What God gives, vollzogen. 268 Siehe dazu auch Herms, Luthers Auslegung, 86 FN 221. 269 Genaueres Nachdenken erweist, dass auch die Frage nach dem gnädigen Gott unter gegenwärtigen Bedingungen von größter Relevanz ist, siehe dazu etwa Jörg Baur, Zur Vermittelbarkeit der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Noch einmal: Helsinki 1963 und die Folgen, in: Jörg Baur, Einsicht und Glaube Band 2, Göttingen 1994, 135–154. 270 David Yaego, The Catholic Luther, in: Carl Braaten, Robert Jenson (Hg.), The Catholicity of the Reformation, Grand Rapids 1996, 13–34.
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die Entwicklung einer Gabetheologie, die in sich sehr differenziert ist. Zugleich ist Luthers Gabetheologie in hohem Maße anschlussfähig an gegenwärtige Diskussionen (siehe Drittes Kapitel, 1.4.) und relevant für die von der Technik geprägte Spätmoderne.271
2.1.2.2. Die zweite Grundstruktur: Zur Verschränkung von Metaphysik und Rechtfertigungslehre Wenn Luther die gesamte Wirklichkeit als umfassendes Gabegeschehen zu verstehen sucht, das in der Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl kulminiert, so stellt sich die Frage, wie laut Luther Metaphysik und Rechtfertigungslehre einander zuzuordnen sind. Die zweite Grundstruktur von Luthers Abendmahlstheologie besagt, dass die Beziehung von Metaphysik und Rechtfertigungslehre durch drei Momente geprägt ist: Die Metaphysik wird so entworfen, dass sie der Rechtfertigungslehre dient. Der Rechtfertigungslehre kommt selbst eine metaphysische Dimension zu, und die Metaphysik ist durch Charakteristika geprägt, die die Rechtfertigungslehre regieren. Das sei genauer ausgeführt. Erstens entwirft Luther die gesamte Metaphysik dergestalt, dass sie der Rechtfertigungslehre dient. Denn es werden die Inhalte der drei Artikel so gefasst, dass sie die heilbringende Realpräsenz Christi im Abendmahl zu ermöglichen helfen. Das gilt nicht nur für die Gotteslehre, die Gott wesentlich als sich-gebenden Gott darstellt, der dem Menschen in Schöpfung, Bewahrung, Versöhnung und Vollendung gegenwärtig ist. Das gilt auch für die Schöpfungslehre, in der Luther buchstäblich Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um die heilvolle Präsenz Christi im Abendmahl denkbar werden zu lassen. Der Himmel als Bezeichnung des Platzes, an dem der auferstandene Christus gegenwärtig ist, ist für Luther kein abgegrenzter Ort im Raum, irgendwo über den Wolken. Vielmehr bezeichnet der Himmel die gelingende Beziehung des Menschen zu Gott, welche sich überall ereignen kann. Insbesondere ereignet sie sich überall dort, wo das Abendmahl gefeiert wird. Auch die Christologie ist durch die Rechtfertigungslehre geprägt, so dass Christi Person 271 Die auch bestehende Abständigkeit von Luthers Theologie gegenüber gegenwärtigem Denken und gegenwärtigem Theologietreiben, die sich nicht nur in seinen späten Äußerungen zur Judenfrage etc. zeigt, soll damit keineswegs überspielt oder ignoriert werden. In diesem Buch allerdings wird die Anschlussfähigkeit, da Relevanz gerade von Luthers Abendmahlsschriften an heutiges Denken und Leben herauszustellen versucht.
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und Werk wesentlich aufeinander bezogen werden. Das gilt auch für die berühmte Idiomenkommunikation (dem Austausch der Eigenschaften der zwei Naturen Jesu Christi) inklusive der daraus folgenden Lehre von der Ubiquität (Allgegenwart) der menschlichen Natur Jesu Christi. Luther insistiert auf dieser Lehre, weil nur so denkbar ist, dass der menschliche Gott auch im Abendmahl für den Menschen gegenwärtig ist. Doch es werden nicht nur die zentralen Inhalte des ersten und des zweiten Artikels so gefasst, dass sie die Realpräsenz Christi im Abendmahl ermöglichen. Vielmehr ist, zweitens, auch gegen die Theologen der Lutherrenaissance und mit den finnischen Lutherauslegern der Gegenwart festzuhalten, dass diese heilbringende Präsenz Christi im Abendmahl selbst eine metaphysische Dimension hat: Durch die heilbringende Präsenz Christi wird nicht nur eine Willensgemeinschaft zwischen Gott und Mensch erreicht, sondern vielmehr eine Seinsgemeinschaft, da im Wort, im Sakrament und im Glauben Christus real gegenwärtig ist (siehe dazu Drittes Kapitel, 1.4.1.). Drittens wird für die Glaubenden durch die heilbringende Präsenz Christi sichtbar, dass nicht nur der dreieinige Schöpfer dem Menschen gnädig ist, sondern dass auch die gesamte Schöpfung gute Gabe für den Menschen ist, die dem Menschen – wie Luther in seiner Auslegung des Ersten Artikels im Kleinen Katechismus sagt – „on alle mein verdienst und wirdigkeit“272 zukommt. Die Wirklichkeit als Ganze ist ein umfassendes Gabegeschehen. Ein zentraler Aspekt des Gabecharakters der Schöpfung besteht darin, dass die Dinge in ihrer eigenen Weise Wörter sind, die von sich aus den Menschen anreden. Luther entwickelt seine Schöpfungslehre somit in großer sachlicher Nähe zu dem, was in erstphilosophischer Terminologie als Realidealismus bezeichnet wurde (siehe das Zweite Kapitel). Da die Schöpfung als Gabe von sich aus den Menschen anredet, ist die gesamte Schöpfung zugleich in diesen genannten Hinsichten durch solche zentralen Strukturmomente geprägt, die auch die Rechtfertigungslehre bestimmen. In dieser Hinsicht ist sie selbst bereits Evangelium (womit selbstredend nicht gesagt ist, dass der Schöpfung aus sich heraus eine erlösende Funktion zukommt).273 WA 30 I, 248, 11 f. Siehe dazu auch Schwöbel, Die Wirklichkeit im Horizont der Rechtfertigungsbotschaft, 135–151, sowie Bayer, Luthers Theologie, 87–92. In der Primär- wie in der Sekundärliteratur stehen das erste und auch das zweite Moment der zweiten Grundstruktur im Vordergrund, doch auch das dritte ist deutlich vorhanden und für uns von Interesse. In der Sekundärliteratur wird zumeist entweder das erste oder das 272
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2.1.2.3. Die dritte Grundstruktur: Zur Vermittlung von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung, und zur Dialektik Luthers Die dritte Grundstruktur nimmt Einsichten der zweiten Grundstruktur auf und reformuliert sie angesichts der Frage, wie das Abendmahl zu den drei Artikeln von Schöpfung, Versöhnung und Vollendung zu stehen kommt. Zudem bedenkt sie die Frage, wie die drei Artikel einander zuzuordnen sind, gerade auch in zeitlicher Perspektive. In Übereinstimmung mit der Auslegung im Großen Katechismus274 macht der oben zitierte Bekenntnistext Luthers zum dreifachen Sichgeben Gottes deutlich, dass Luther seine Wirklichkeitssicht im Anschluss an die dreigliedrigen Bekenntnisse der Alten Kirche entwickelt. Luther ordnet somit den ersten Artikel Gott dem Vater zu, den zweiten Gott dem Sohn und den dritten Gott dem Heiligen Geist. Das Abendmahl kommt im dritten Artikel zu stehen. In der Durchführung aber erweist sich Luther als hochflexibler Theologe, der dieses Ordnungsschema an die von ihm verhandelte Sache anpasst. Gerade in Bezug auf die Gotteslehre erweist sich Luther dann als dialektischer Denker eigener Art. Drei Aspekte dieser dritten Grundstruktur sind von besonderer Bedeutung. Erstens zeigt sich Luther dergestalt als konsequent trinitarischer Theologe, dass er in jedem der drei Artikel alle drei Personen der Trinität in Aktion sieht. Zweitens wurde bereits in der Skizzierung der zweiten Grundstruktur angedeutet, dass der erste und der zweite Artikel so reorganisiert werden, dass die heilbringende Präsenz Gottes im Abendmahl denkbar wird. Das vollzieht sich nicht zuletzt dadurch, dass auch bereits der erste und der zweite Artikel – und nicht erst der dritte – von der heilvollen Präsenz Gottes in der Gegenwart redet. In Luthers Auslegung beschreibt der erste Artikel somit nicht nur eine dann und damals geschehene Schöpfungstat im Anfang, sondern Luther verbindet vielmehr Schöpfung und Erhaltung aufs engste miteinander. Denn Gott der Vater ist durch eine lebendige Dialektik von Transzendenz und Immanenz charakterisiert, so dass er als der der Welt überlegene Schöpfer zudritte Moment besonders herausgearbeitet. Wie die meisten Arbeiten zu Luthers Abendmahlslehre arbeitet auch die letzte umfassende Arbeit im deutschsprachigen Raum zu Luthers später Abendmahlslehre, das Buch von Albrecht Peters, Realpräsenz. Luthers Zeugnis von Christi Gegenwart im Abendmahl, Berlin 1960, ausführlich das erste und nebenbei auch das zweite Moment heraus, während sich die hochinteressante Arbeit von Metzke, Sakrament und Metaphysik dem dritten Aspekt widmet. 274 Siehe WA 30 I, 182, 32–183, 11.
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gleich der Welt näher ist als diese sich selbst. Auf diese Weise schafft und erhält der allmächtige Vater die Schöpfung täglich aufs Neue. Der erste Artikel redet somit nicht allein vom initium, sondern vielmehr vor allem vom principium des Handelns Gottes.275 Auch der zweite Artikel denkt nicht allein dem dann und damals geschehenen Versöhnungswerk Jesu Christi nach, sondern stellt dar, dass dieser Jesus Christus als die eine Person in den zwei Naturen in dialektischer Weise auch gegenwärtig überall präsent und im Abendmahl in heilbringender Weise für den Menschen greifbar ist. Der dritte Artikel beschreibt dann, wie die heilbringende Präsenz Christi im Abendmahl mithilfe des Geistes dem Menschen in der Gegenwart zugute kommt. Der erste und der zweite Artikel bedenken somit selbst bereits Dimensionen der Gegenwart Gottes und dienen zugleich dazu, die sich im Abendmahl ereignende, heilbringende Präsenz Gottes für den Menschen denkbar zu machen. Das Abendmahl erweist sich somit als „focal thing“276 (siehe Erstes Kapitel, 2.3.), an dem Gott in ausgezeichneter Weise seine heilbringende Präsenz produziert. Zugleich verschränken sich im Abendmahl die drei Zeiten der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft auf charakteristische Weise.277 Denn aufgrund des Sündenfalls verpasst der Mensch den Gabe-Charakter der Schöpfung. Im Abendmahl aber vergegenwärtigen sich die Früchte des in der Vergangenheit zu verortenden Heilsereignisses des Kreuzestodes Jesu Christi auf eine Weise, dass sich erfüllte Gegenwart ereignet. Dadurch wird die gefallene Welt zur alten erklärt, die ursprüngliche wieder sichtbar und eine neue Zukunft eröffnet. Zugleich aber und als dritter Aspekt der Zuordnung der drei Artikel werden im Abendmahl grundlegende Einsichten über die Verfasstheit der Schöpfung überhaupt und über die Wege von Gottes Handeln in ihr erlangt. Indem im Abendmahl die Vermittlung des Heils durch Brot und Wein erfolgt, lässt sich vom Abendmahl aus erkennen, dass Gott immer vermittels der Schöpfung dem Menschen zugute handelt. Die Form materialer Vermittlung stellt ein „Grundgesetz“278 von Gottes Wirken am 275 Mit dieser Formulierung folge ich Johannes Schwanke, Luther on Creation, in: Lutheran Quaterly 16 (2002), 1–20, 3; siehe zur Sache auch David Löfgren, Die Theologie der Schöpfung bei Luther, Göttingen 1960, 37–45. 276 Albert Borgmann, Crossing the Postmodern Divide, Chicago 1992, 120, und siehe oben, I.2.3. 277 Siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 106 f. 278 Marc Lienhard, Martin Luthers christologisches Zeugnis. Entwicklung und Grundzüge seiner Christologie, Göttingen 1980, 159.
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Menschen dar, das für den ersten Artikel ebenso gilt wie für den zweiten und den dritten. Damit stellt das Abendmahl keinen Sonderfall des Umgangs Gottes mit den Menschen dar. Vielmehr handelt Gott im Abendmahl auf dieselbe Art und Weise, auf die er immer am Menschen handelt. Im dritten Artikel wird in der Abendmahlslehre somit nicht allein Gottes gegenwärtiges Handeln bedacht, sondern es werden auch Aspekte der principia des ersten und des zweiten Artikels deutlich: Die Vermittlung mit dem Materialen prägt dasjenige in grundlegender Weise, was Luthers Verständnis der „Heilsordnung“279 Gottes genannt werden kann. Der folgende Abschnitt als die zweite Hinführung zu Luthers Verständnis der Wirklichkeit als Gabegeschehen entwickelt Luthers Verständnis der Heilsordnung auch dadurch genauer, dass es gegen das Verständnis der Heilsordnung seiner Gegner im Abendmahlsstreit gestellt wird (siehe unten, Drittes Kapitel, 2.1.3.). Die erste Hinführung zu Luthers Auslegung der Wirklichkeit als Gabegeschehen sei damit beschlossen, dass einige der principia sowie einige weitere zentrale Aspekte der Wirklichkeitssicht Luthers summarisch zusammengefasst werden. Dabei wird von der geberorientierten zur empfängerorientierten Perspektive vorangeschritten: Luther entwickelt eine relationale und kommunikative Ontologie der Gabe, die vom dreifachen Sich-Geben Gottes geprägt ist. In allen drei Artikeln wird betont, dass der dreieinige Gott der souverän Handelnde ist, der alleinwirksam ohne ihm externe Vorgaben und somit ex nihilo allein aus Gnade handelt: Luther vertritt eine „theozentrische“280 Theologie. Gott handelt so, dass er sich dreifach gibt und auf diese Weise die Schöpfung schafft, erhält, versöhnt und vollendet. In allem Handeln ist der Schöpfer der Schöpfung und dem Menschen auf solche Art in dialektischer Form gegenwärtig, dass er bereits in der Schöpfung die Schöpfung und die Menschen erhaltend umgibt. In Jesus Christus, im Abendmahl und im Glaubenden verbindet sich der dreieinige Gott zu je eigenen Formen von dynamischer Einheit mit dem Menschen, indem er sich dem Menschen gibt und des Menschen Sünde nimmt: In dieser Hinsicht ist die Idiomenkommunikation in der ihr eigenen Dialektik ein principium der gesamten Wirklichkeitssicht Luthers. Gottes Handeln vollzieht sich durch das Wort, da Gott selbst Wort ist und Gottes Wort daher schafft, wovon es redet. Siehe zu diesem Begriff und einer ähnlich gelagerten Skizze wie der unsrigen im nächsten Abschnitt Schwab, Entwicklung und Gestalt, 238–241, 238. 280 Siehe dazu Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 8–15. 279
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Gott kleidet sein worthaftes Handeln für den Menschen zudem jeweils in äußere Form, wobei alles Materiale zu Gottes Vehikel werden kann. Das ist auch dadurch ermöglicht, da das Materiale – die Schöpfung – als solche gut und zudem auf eigene Weise worthaft ist. Luther entwickelt somit in sachlicher Hinsicht das, was in erstphilosophischer Terminologie als Realidealismus gefasst wurde, und betont dabei die kommunikative Seite der begrifflichen Verfasstheit der Wirklichkeit. Die gute, worthafte Schöpfung, die gute Gabe Gottes für den Menschen, dient als Medium des Handelns Gottes am Menschen. Dabei entspricht die Form des Handelns Gottes – das Handeln im Medium des leibhaften Wortes – dem Inhalt des Handelns Gottes – der konkreten Gabe des Guten für den Menschen. Die Form erweist sich als Moment des Inhalts. Nach dem Fall missbraucht der Mensch Gott und die guten Gaben Gottes beständig als Instrumente seines eigenen Willens, ist angefochten und in neuer Weise auf die heilbringende Nähe Gottes angewiesen. Die Nähe Gottes zu seiner Schöpfung offenbart sich in Jesus Christus als heilbringende Nähe für den Menschen und ereignet sich im Abendmahl in der ihrem Inhalt entsprechenden Form. Zugleich erhebt sich von daher unabweisbar die Frage, wie der alleinwirksame, heilbringende Gott mit dem Geschehen der Weltwirklichkeit in seiner Abgründigkeit und mit der eigenen Sündigkeit zusammenzubringen ist.
2.1.3. Zweite Hinführung: Luthers Verständnis der Heilsordnung im Streit mit seinen Gegnern Thomas Kaufmann konstatiert, dass der Abendmahlsstreit „als Grundlagenkrise der Reformation anzusprechen“ ist, da „der Streit um die Auslegung der bibl[lischen] A[benmahls]überlieferungen die bibl[lische] Basis theol[ogischer] Urteilsbildung zum Problem werden ließ, die Ausformung differenter bibelhermeneutischer und theol[ogischer] Positionen zu angrenzenden dogmatischen Sachfragen (Christologie; Ekklesiologie; Pneumatologie; Ontologie) innerhalb des reformatorischen Lagers dynamisierte und die dominierende theol[ogische] Autorität Luthers in Teilen der reformatorischen Bewegung in Frage stellte.“281 Im Folgenden wird keine Untersuchung des Abendmahlsstreits in kirchengeschichtlicher Perspektive angestrebt. Vielmehr sollen in einem Seiten281 Thomas Kaufmann, Art. „Abendmahl, II. Kirchengeschichte, 3. Reformation“, in: RGG4, Bd. 1, 25.
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blick allein von der Perspektive der Schriften Luthers her drei Aspekte kurz vor Augen geführt werden, die die von Kaufmann angeführten Themen gleichsam in umgekehrter Blickrichtung bedenken. Nach einigen Bemerkungen zu Luthers Geschichtstheologie wird die grundlegende Differenz im rechten Verständnis der Heilsordnung zwischen Luther und seinen Gegnern sowie Luthers Verständnis der Zuordnung von Vernunft, Schrift und Glaube bedacht. Es wird sich dabei zeigen, dass die Frage nach der Heilsordnung und die nach der Zuordnung von Vernunft, Schrift und Glauben sachlich eng miteinander verbunden sind. Zudem bietet die Explikation der Differenz in dem rechten Verständnis der Heilsordnung einen weiteren einführenden Einblick in Luthers eigene materiale Position zum Abendmahlsstreit, während die Zuordnung von Vernunft, Schrift und Glaube für das vorliegende Buch insgesamt und vor allem für die Zuordnung seines zweiten zu seinem dritten Teil von Interesse sein dürfte. Luther selbst merkte bereits 1525 in der Auseinandersetzung mit Karlstadt, dass – wie Kaufmann notiert – der Abendmahlsstreit „die dominierende theo[logische] Autorität Luthers in Teilen der reformatorischen Bewegung in Frage stellte.“ Entsprechend stilisiert sich Luther am Anfang von seiner Schrift Wider die himmlischen Propheten zum Verteidiger des uranfänglichen und damit wahren Kerns der Reformation. Zugleich dämonisiert er seine Gegner, indem er in ihnen den Teufel am Werk sieht. Luther schreibt gegen Karlstadt: „Da geht eyn new wetter her. [. . .] Doctor Andreas Carlstad ist von uns abgefallen.“ Das geschah, da der Satan von Karlstadt Besitz ergriff, um „die gantze lere des Euangelii, so er bis her mit gewalt nicht hat mügen tewben, mit listiger handelung der schrifft zuverderben.“282 Zwei Jahre später, zu Beginn der Schrift Dass die Worte ‚Dies ist mein Leib‘ noch stehen, wider die Schwarmgeister, ordnet Luther die Auseinandersetzung mit Karlstadt, Zwingli und Ökolampad sogar in einen umfassenden geschichtstheologischen Horizont ein. So betont er, dass die ersten Christen die Bibel als Autorität anerkannten.283 Dann aber kam der Teufel und bewirkte, dass „die schrifft anfieng nichts mehr zu gelten.“284 Ein jeder „deutet und drehet sie, wie es yhm gefiel“285 , so dass das Papsttum über die Schrift herrschte. Dagegen erhob sich Luther: „Nu itzt, zu unsern zeiten, da wir WA 18, 62, 2–13. Vgl. WA 23, 64, 14–19. 284 WA 23, 64, 27 f. 285 WA 23, 66, 7 f. 282 283
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sahen das die schrifft unter der banck lag und der teufel durch eitel stro und hew menschlicher gebot uns gefangen hielt und narret, haben wir [. . .] die schrifft widder erfur bracht, und menschen gebotten urlaub gegeben.“286 Der Teufel aber lässt sich nicht so leicht vertreiben, sondern „hat auch heymlich seines samens unter uns gemenget [. . .] auff das wir zwisschen zweyen feinden“ – den Altgläubigen auf der einen Seite und Karlstadt, Zwingli und Ökolampad auf der anderen – „deste leichter untergingen.“287 Luthers innerprotestantische Gegenspieler verweisen darauf, dass die von Luther betriebene Dämonisierung kaum christlichem Geist entspricht. Demgegenüber beharrt Luther darauf, dass er seine Gegner als vom Teufel besessen sieht. Er gedenkt dies auch weiterhin auszusprechen, da der Wahrheit der Vorzug zu geben ist gegenüber einer Einheit, die nicht in der Sache begründet ist.288 Warum aber sieht sich Luther so grundlegend von Karlstadt, Zwingli und seinen anderen Gegnern getrennt? Betrachten wir zuerst die grundlegende Differenz im Verständnis der Heilsordnung und dann die in der Zuordnung von Vernunft, Schrift und Glaube, welche selbst in der Differenz in dem Verständnis der Heilsordnung mitbegründet ist. Hier wie während der ganzen folgenden Auslegung wird die Darstellung der Position der Gegner Luthers allein aus Luthers Texten erhoben werden und damit allein aus Luthers Perspektive erfolgen.289 Luther schreibt gegen Karlstadt: „So nu Gott seyn heyliges Euangelion hat auslassen gehen, handelt er mit uns auff zweyerly weyse. Eyn mal eusserlich, das ander mal ynnerlich. Eusserlich handelt er mit uns durchs mündliche wort des Euangelii und durch leypliche zeychen, alls do ist Tauffe und Sacrament. Ynnerlich handelt er mit uns durch den heyligen geyst und glauben sampt andern gaben. Aber das alles, der massen und der ordnung, das die eusserlichen stucke sollen und müssen vorgehen. Und die ynnerlichen hernach und durch die eusser WA 23, 68, 10–14. WA 23, 68, 16–21. 288 Siehe WA 23, 78, 19–86, 21; WA 26, 402, 23–34. 289 Eine ausführliche Rekonstruktion der Texte Karlstadts, Zwinglis etc. hätte den Charakter des vorliegenden Buches grundlegend verändert. Die detaillierte Auseinandersetzung mit philosophischen Stimmen wäre dann nicht mehr möglich gewesen. Zu einer quellennahen, minutiösen Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Luther und Zwingli, die auch die Position Zwinglis aus den Quellen erarbeitet, siehe nach wie vor Walther Köhler, Zwingli und Luther. Ihr Streit über das Abendmahl nach seinen politischen und religiösen Beziehungen, 2 Bd., Leipzig 1924/1953. 286 287
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lichen komen, also das ers beschlossen hat, keinem menschen die ynnerlichen stuck zu geben on durch die eusserlichen stucke. Denn er will niemant den geyst noch glauben geben on das eusserliche wort und zeychen, so er dazu eyngesetzt hat, [. . .] Da her auch S. Paulus nennet [. . .] das mündlich Euangelion eyne Göttliche krafft, die do selig mache alle die dran glauben, Röm. am 1. Auff diese ordenung habe acht meyn bruder, da wird’s gantz und gar anligen. Denn wie wol sich dieser rotten geyst stelltet, alls hielte er gros von Gottes wort und geyst, und rhumet treffliche brunst der liebe und eyffers zur warheyt und gerechtickeyt Gottes, so ist doch das seyn meynung, das er diesen orden umbkere und eynen widersynnischen auffrichte aus eygenem frevel.“290 Entgegen der Einsicht Luthers, dass Gott jeweils mittels äußerer Wege ins Innere des Menschen gelangt und dort heilvoll an Menschen handelt, meinen die Gegner Luthers somit, dass Gott unvermittelt im Inneren des Menschen handelt. Um den Gegensatz abschließend noch kürzer auf den Punkt zu bringen, sei ein anderes, summierendes Zitat Luthers angefügt: „Gott aber [. . .] gib uns kein wort noch gebot fur, da er nicht ein leiblich eusserlich ding eingefasset und furgetragen werde. [..] Der Teuffel [. . .] hat widder fleisch noch bein.“291 Die Differenz zwischen den beiden unterschiedlichen Verständnissen der Heilsordnung ist aus mehreren Perspektiven genauer in den Blick zu nehmen. Erstens hat sie eine – wie Kaufmann sagte – „ontologische“ oder eine – wie wir es vornehmlich nennen – metaphysische Dimension. Wie sind Gott und Materie, Geist und Leib etc. einander zuzuordnen? Luthers Theologie ist wesentlich dadurch bestimmt, dass er beide Dimensionen nicht vermischt, aber gerade auch nicht trennt, sondern aufeinander bezogen sieht: Gott handelt in und durch materiale Vehikel, 292 um den Menschen zur Gemeinschaft mit sich zu bewegen. Er legt seine Ehre dahinein, dass er den Menschen in materialer Vermittlung nahe kommt. Das ist auch insofern möglich, als die Materie als solches als gut bestimmt wird und daher dem Handeln Gottes nützen kann. Entsprechend betont Luther, dass Gott dem Menschen in der und durch die Schöpfung nahe ist. Er betont die Einheit der zwei Naturen in der Person Jesu Christi, und er betont, dass das äußere Wort und das Sakrament die WA 18, 136, 9–28. WA 23, 261, 11–36. 292 Siehe dazu auch Kurt Hendel, The Material as a Vehicle of the Divine, in: Currents in Theology and Mission 28 (2001), 326–334. 290 291
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„brucken, steg und weg“293 darstellen, durch die der Geist zum Menschen kommt. Aus der Perspektive Luthers kommen Karlstadt und Zwingli darin überein, dass sie in allen genannten Hinsichten gerade umgekehrt optieren: Sie versuchen, Gott und Materie sowie Geist und Leib voneinander zu trennen, so dass Gott ohne materiale Vehikel am Menschen handelt. In der Lesart Luthers ist dies für Karlstadt und Zwingli auch deshalb geboten, da die Materie als solches von ihnen als sündig und damit als eines Gottes unwürdig betrachtet wird. Entsprechend betonen beide in der Schöpfungslehre die Differenz von Gott und Schöpfung, entwerfen eine dualistische Anthropologie, heben in der Christologie den Unterschied der beiden Naturen Jesu Christi hervor und legen dar, dass der Geist ohne äußere Vermittlung ins Innere des Menschen gelangt.294 Die skizzierten Differenzen in metaphysischer Hinsicht bringen zugleich Differenzen in soteriologischer Hinsicht mit sich. Diese Verbindung stellt einen zusätzlichen Grund für die Vehemenz dar, mit der Luther gegen seine Gegner streitet. Luther meint aus zwei Gründen, dass die angedeuteten metaphysischen Grundentscheidungen der Gegner dazu führen, dass sie das Evangelium verunmöglichen und stattdessen die Werkgerechtigkeit wieder aufrichten. Denn erstens ist folgendes zu bedenken: Wenn das Äußere als solches und damit neben der Natur auch die geschichtliche Wirklichkeit als an sich sündig gefasst wird, so ist es kaum mehr denkbar, dass Gott in Natur und Geschichte handelt. Damit aber ist es auch kaum mehr denkbar, dass Gott in Jesus Christus heilbringend präsent ist. Denn wenn Gott in Jesus Christus nicht real präsent ist, sondern Jesus nur ein Mensch wie alle anderen war oder aber die menschliche Natur und die göttliche in ihm als wesentlich voneinander geschieden gefasst werden, und wenn zugleich an der alten Einsicht festgehalten wird, dass nur ein Gott das Heil erwirken kann, so konnte Jesus nicht das Heil für die Menschen erwirkt haben.295 WA 18, 137, 13. Hier schließt sich die Frage an, ob nicht die Position der Gegner Luthers mit ihrer – vereinfacht gesprochen – platonisierenden Tendenz in systematischer Hinsicht in Bezug auf einige grundlegende Entscheidungen Nähen zu denjenigen Positionen der liquid modernity aufweisen, die im ersten Teil analysiert wurden (siehe v. a. I.2.2.5.). Wenn dieses systematische Nähe tatsächlich bestünde, wäre es umso plausibler, dass die metaphysischen Aspekte von Luthers Verständnis der Heilsordnung für die Gegenwart von besonderer Relevanz sind. 295 Siehe WA 26, 319, 32–39; WA 10 I, 199, 1–10. 293
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
Selbst wenn von der Frage abgesehen wird, wie es zu denken ist, dass Jesus Christus damals das Heil der Welt erwirkte, ist von den metaphysischen Differenzen, zweitens, auch die Frage betroffen, wie der Mensch heute des Heils teilhaftig wird. Luther betont, dass der Inhalt des Evangeliums als Gabe für den Menschen aufs engste mit seiner Form der Vermittlung durch äußere „brucken, steg und weg“ verbunden ist. Denn wenn diese Brücken abgerissen werden, so kann der Geist laut Luther nur so zum Menschen kommen, dass der Mensch zuvor zum Geist kommt, indem er sich innerlich in Gebet und „lange weyle“296 dem Geist öffnet. Das aber stellt wiederum ein Werk des Menschen dar, das er zu vollbringen hat, um den Geist und die Vergebung der Sünden zu erlangen.297 Indem der Geist jeweils durch äußere Vermittlung handelt, ist somit bereits durch die Form seiner Handlung das unaufhebbare Primat des Gegebenseins der Gabe gegenüber ihrer Aneignung und gegenüber dem Versuch ihrer Produktion durch den Menschen festgeschrieben.298 Die soteriologischen Implikationen der Differenzen in metaphysischer Perspektive bieten somit eine erste Erklärung dafür an, warum Luther in seiner geschichtstheologischen Skizze in seinen innerreformatorischen Gegnern denselben Teufel am Werk sah, den er vorher im Kampf mit den Altgläubigen zu besiegen suchte: Beide vertreten die Werkgerechtigkeit. Ein weiterer Grund, so hörten wir von Luther bereits, besteht darin, dass beide die Schrift verdrehen, wobei gerade die innerreformatorischen Gegner dies „aus eygenem frevel“299 und damit auf solche Weise tun, dass sie ihrer eigenen Vernunft mehr vertrauen als Gottes Wort. Damit steht die Zuordnung von Vernunft, Schrift und Glaube zur Debatte.
2.1.3.1. Vernunft, Schrift und Glaube Das in sich komplexe Thema von Luthers Zuordnung von Vernunft, Schrift und Glaube soll nach einem kurzen Hinweis auf die Disputatio de homine hier nur soweit behandelt werden, wie es in unseren Texten rund um den Abendmahlsstreit zur Sprache kommt. In diesen Texten wird die Vernunft in ihrem Fungieren im Bezug auf die göttlichen Dinge expliziert (die Vernunft in ihrer Funktion coram Deo). Die Vernunft in ihrem Fungieren im Bezug auf die weltlichen Dinge (die Vernunft in ih WA 23, 137, 7. Siehe WA 18, 196, 1–8; WA 19, 503, 11–504, 15. 298 Siehe dazu auch Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 66–70. 299 WA 18, 136, 28. 296 297
2. Luthers Metaphysik des Abendmahls: Leibliche Gabe
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rer Funktion coram mundo) kommt nur insoweit in den Blick, als dies ein Implikat der Vernunft coram Deo darstellt. In der berühmten Disputatio de homine denkt Luther in den ersten Thesen über die Leistungsfähigkeit der Vernunft des Menschen nach, soweit sie ohne Hilfe der Offenbarung in Bezug auf die irdischen Dinge aktiv ist.300 Luther denkt von der Vernunft in dieser Hinsicht recht hoch: Auch nach dem Sündenfall ist sie als „etwas Göttliches“301 zu fassen, das dem Menschen von Gott gegeben wurde und ihn vom Tier unterscheidet. Sie erlaubt es dem Menschen zwar nicht, das Woher und das Wohin der Schöpfung und der einzelnen geschaffenen Sachen sachgerecht zu bestimmen. Wenn auch nur auf dürftige Weise, so vermag sie hingegen aus sich heraus die Frage zu beantworten, woraus und als was eine Sache besteht.302 Sie vermag somit nicht, die causa efficiens und die causa finalis der Sachen zu erforschen, wohl aber, einige Grundzüge ihrer causa materialis und ihrer causa formalis.303 Die Vernunft ist „Erfinderin und Lenkerin aller Künste, der Medizin, der Rechtswissenschaft und all dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Ruhm von Menschen besessen wird. [. . .] [S] ie soll eine Sonne und eine göttliche Macht sein, gegeben um diese Dinge in diesem Leben zu verwalten.“304 Zu den Künsten, die die Vernunft entwickelte, gehören auch diejenigen Disziplinen, die zur Textauslegung vonnöten sind und die im mittelalterlichen Curriculum als „Trivium“ zusammengefasst wurden: Grammatik, Rhetorik und Dialektik (d. h. Logik). Die Einsichten und Regeln der Grammatik, Rhetorik und Logik gelten für die verschiedenen Lager innerhalb des Protestantismus ebenso wie für Christen und Nichtchris Siehe zum Folgenden grundlegend Gerhard Ebeling, Lutherstudien. Band II: Disputatio de Homine, 2. und 3. Teil, Tübingen 1982.1989 und Wilfried Härle, „Hominem iustificari fide“. Grundzüge der reformatorischen Anthropologie, in: Eilert Herms, Lubomir Zak (Hg.), Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen 2008, 338–358. 301 Ich folge der Übersetzung der „Disputatio de homine“, die in LDStA Bd. 1, verfügbar ist, siehe LDStA Bd. 1, 665, 12. Siehe zur Sache auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 143–147. 302 Siehe dazu LDStA Bd. 1, 665, 11–667, 18. 303 In systematischer Hinsicht wird der Vernunft somit ein Aufgabenbereich zugewiesen, der mit dem, den Kochs Erstphilosophie ausfüllt, überein zu stimmen scheint. Zugleich sei zugegeben, dass Luther kaum der Meinung gewesen sein dürfte, dass ein im strengen Sinne erstphilosophisches Unternehmen möglich oder sinnvoll ist. 304 LDStA Bd. 1, 665, 13–22. 300
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
ten gleichermaßen. Entsprechend können sie in Diskussionen zwischen den verschiedenen Lagern als von allen Seiten akzeptierte Argumente eingesetzt werden; dieser Punkt wird später noch weiter erläutert. Gleichzeitig gilt nach dem Sündenfall, dass die Vernunft auch in diesem weltlichen Bereich jeweils alles zu ihrem Selbstruhm nutzt. Denn faktisch versucht die Vernunft immer denjenigen Bereich des Wirkens an den Dingen in diesem Leben zu übersteigen, der ihr als der ihr eigene Wirkungsraum zukommt, da sie über Herkunft und Ziel des Menschen entscheiden will. Wenn sie aber aus sich heraus im Bereich soteriologischer Fragen operiert, so ordnet sie alles ihrem eigenen Ziel und damit dem Selbstruhm unter und manipuliert auch ihren Weltumgang zu diesem Zwecke.305 Letztlich ist wohl erst die von soteriologischen Fragen entlastete Vernunft eines Glaubenden in der Lage, die Dinge in diesem Leben auf eine ihnen sachgerechte Weise zu verwalten, wobei auch die Vernunft des Glaubenden jeweils versucht ist, erneut über Gott zu richten. Um das genauer zu verstehen, sei nun im Anschluss an Luthers späte Abendmahlsschriften die Zuordnung der Vernunft zu den göttlichen Dingen in Augenschein genommen. Ohne dass Luther selbst diese Systematik explizit entwickelt hätte, lassen sich seine vielen, unterschiedlichen und auf den ersten Blick auch widersprüchlichen Verhältnisbestimmungen von Vernunft, Schrift und Glaube dadurch in einen in sich kohärenten Aussagenzusammenhang bringen, dass die Vernunft in dreierlei Hinsichten betrachtet wird. Es gibt erstens solche Aussagen, die die Vernunft betreffen, soweit diese ohne die Offenbarung in Jesus Christus und ohne Hilfe der Schrift über die göttlichen Dinge nachdenkt. Die Vernunft macht dabei etwa Aussagen über Existenz, Wesen und Eigenschaften Gottes und entwickelt diese Aussagen in – mit moderner Terminologie gesprochen – spekulativer Manier. Luther meint, dass die spekulativ operierende Vernunft zwar die Existenz Gottes festzustellen vermag. Ganz in Übereinstimmung mit seiner Sündenlehre meint Luther allerdings, dass die gefallene Vernunft Gott ansonsten in formaler und materialer Hinsicht verfehlt. Allein durch die in der Schrift bezeugte Offenbarung Gottes in Jesus Christus weiß der Mensch auf sachangemessene Weise vom Wesen und den Eigenschaften Gottes. Zugleich denkt Luther in seinen materialen Bestim305 Dies ist ausführlich dargelegt in Karl-Heinz zur Mühlen, Reformatorische Vernunftkritik und neuzeitliches Denken. Dargestellt am Werk M. Luthers und Fr. Gogartens (Beiträge zur Historischen Theologie 59), Tübingen 1980, 11–167, zusammenfassend 152–158.
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mungen auf eigene Weise dialektisch über Gott nach und steht damit in gewisser Nähe zu derjenigen Denkweise, die wichtige Traditionen der philosophischen, spekulativen Vernunft pflegen. Luther erhebt seine Aussagen aus der Schrift, und der Tätigkeit der Schriftauslegung wird die zweite Klasse von Aussagen zur Vernunft zugeordnet. Zur Schriftauslegung benutzt die Vernunft Grammatik, Rhetorik und Logik und kann in dieser Hinsicht als instrumentelle Vernunft bezeichnet werden. Die instrumentelle Vernunft ist notwendig, um die klaren Worte der Schrift auf die ihr angemessene, klare Weise auszulegen.306 Auf diese Weise stellt die Vernunft zentrale Glaubensinhalte dar. Die zentralen Glaubensinhalte werden durch genaue Beschreibungen einzelner Aspekte der weltlichen Wirklichkeit illustriert und plausibilisiert. Hier operiert die Vernunft auf eine dritte Weise, in – mit moderner Terminologie gesprochen – phänomenologischer Manier, die einen realidealistischen Hintergrund hat. Betrachten wir diese drei Hinsichten auf die Vernunft in ihrem inneren Zusammenhang etwas genauer.
2.1.3.1.1. Die spekulativ operierende Vernunft: Ein Richter über Gott Die Vernunft, die ohne Hilfe der besonderen Offenbarung in Jesus Christus über die göttlichen Dinge gleichsam in spekulativer Manier nachdenkt, vermag laut Luther einzusehen, dass es Gott gibt. Alle Menschen wissen von der Existenz Gottes, und entsprechend pflegen auch alle Völker die eine oder die andere Weise des Gottesdienstes.307 Denn alle Menschen sind Glieder der „Kirche ohne Mauern“308 . Sie gehören somit derjenigen Schöpfungsordnung an, die gegeben ist, da Gott der Schöpfer die ganze Schöpfung und damit auch den Menschen durch sein Wort ins Leben ruft. Die Vernunft vermag es aber nicht aus sich heraus einzusehen, wie Gott verfasst ist. Sie vermag somit nicht sachgerecht zu bestimmen, ob Gott der Gott der Liebe und heilbringenden Nähe ist oder aber nicht. Um zu wissen, dass Gott der Gott der Liebe ist, bedarf
Siehe zu diesen beiden Punkten auch Bernhard Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 221–223. 307 Siehe dazu WA 30 I, 134, 35 f. 308 Siehe dazu WA 42, 79, 4. 306
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es der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus.309 In Bezug auf Gottes Wesen ist die Vernunft selbst orientierungsbedürftig. Mehr noch: Die gefallene Vernunft selbst vermag nicht nur nicht einzusehen, wie Gott verfasst ist – sie vermag nicht einmal einzusehen, dass sie nicht einzusehen vermag, wie Gott verfasst ist. Stattdessen will sie selbst bestimmen, wie Gott zu denken ist.310 Wie Luther oftmals betont, wohnt der Vernunft der Wille inne, über Gott zu richten.311 Das aber ist aus formalen wie aus inhaltlichen Gründen inakzeptabel. Denn in formaler Hinsicht stellt sich die Vernunft damit über Gott. Dies ist Ausdruck des Dünkels der Vernunft,312 welcher mit sich bringt, dass die Vernunft ihren eigenen Leistungen – ihren eigenen Maßstäben und damit ihren Werken – mehr vertraut als Gottes Wort. Damit aber erhebt sich die Vernunft über Gott, attackiert faktisch die Luther so wichtige Souveränität und Gottheit Gottes und verletzt so das Erste Gebot: Spekulation stellt laut Luther eine Form intellektueller Werkgerechtigkeit dar.313 Zudem verpasst die Vernunft in ihrem Versuch, über Gott zu richten, auch in inhaltlicher Hinsicht Gott auf entscheidende Weise. Das liegt daran, dass Gottes Gottheit in der ihr eigenen Majestät als solche für Siehe zu diesem inhaltlichen Punkt WA 30 I, 192, 3–8 sowie Herms, Gesetz und Evangelium, 373 f., auch 374 FN 14. In anderen Texten als den von uns behandelten traut Luther der spekulativen Vernunft bei der Bestimmung Gottes ein wenig mehr zu: Sie erkennt zum einen in negativer Hinsicht, was Gott nicht ist und will, nämlich Mord, Unglaube, Ungehorsam etc. Sie erkennt zum anderen in positiver Hinsicht, dass Gott alles in allem wirkt, dass alles Gute von Gott kommt und er deshalb zu verehren ist. Sie begreift aber nicht, dass sie dem nur entspricht, wenn sie selbst darauf verzichtet, Gott nach ihren eigenen, spekulativen Maßstäben zu richten; siehe dazu Bernhard Lohse, Ratio et Fides. Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, Göttingen 1958, 59–82, sowie Thomas Kaufmann, Die Ehre der Hure. Zum vernünftigen Gottesgedanken in der Reformation, in: Jörg Lauster, Bernd Oberdorfer (Hg.), Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke (Religion in Philosophy and Theology 41), Tübingen 2009, 61–91, 76–78. 310 Siehe zu diesem Punkt und zum Weiteren auch Kaufmann, Die Ehre der Hure, 64–80. 311 Siehe etwa WA 18, 146, 30–147, 10; WA 23, 249, 3–8; WA 26, 439, 32–36. 312 Siehe WA 10 I, 206, 1–10; WA 10 I, 240, 1–241, 2; WA 18, 143, 17; WA 19, 493, 12. 313 Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 15–18, meint sogar, dass alle Erklärungsversuche, die Luther in Bezug auf die Realpräsenz Christi im Abendmahl macht, für Luther nur uneigentliche Annäherungen an dasjenige ist, was im Abendmahl der Fall ist. Das aber, was dort der Fall ist, ist so verfasst, dass Gott je größer ist als alles, was die menschliche Vernunft denken kann. Wer das vergisst, verpasst Gott grundlegend und sündigt. 309
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menschliches Begreifen, das sich nur auf sich selbst stellt, schlechterdings unbegreiflich ist.314 Sie ist nur auf diejenige Weise zu begreifen, auf die Gott sie selbst begreiflich macht: Indem Gott seine nackte Majestät gnädig ins Wort einhüllt. Im Wort aber lässt sich Gott tatsächlich finden; das Wort offenbart Gott so, wie er wesentlich ist. Mit dem „Wort“ ist zum einen Christus bezeichnet, zum anderen die Heilige Schrift. So offenbart Christus mit Hilfe des Heiligen Geistes, wie Gott in Wahrheit ist, da Christus der „spiegel des veterlichen hertzens“315 ist. Die Schrift als das Wort Gottes informiert den Menschen verlässlich über Christus, Gottes Wort.316 Wer hingegen nicht die Leiter des Wortes benutzt, um durch sie zu einem angemessenen Verständnis Gottes aufzusteigen, folgt der eigenen Imagination und verpasst damit den wahren Gott. Denn die Imagination entwickelt ein Gottesbild, das von derjenigen Vorstellung der Heilsordnung geprägt ist, die Karlstadt und Zwingli vertreten: Sie vertritt laut Luther somit ein Gottesbild, das Gott gegen alle Formen der Vermittlung und vor allem gegen die Vermittlung mit der Dimension des Materiellen setzt. Entsprechend stellt sich die Vernunft bereits gegen die Lehre von der immanenten Trinität und vertritt einen abstrakten Theismus von nur einer göttlichen Person, der in der Kirchengeschichte von Arius, Sabellius und anderen vertreten wurde.317 Vor allem aber wehrt sich die Vernunft gegen die Nähe Gottes zur Schöpfung in der ökonomischen Trinität: Sie hält es nicht für denkbar, dass Gott in der Schöpfung allen Siehe WA 42, 10, 3–10. WA 30 I, 192, 5. 316 In diesen Überlegungen wird eine weitere Dimension von Luthers Verständnis der Heilsordnung sichtbar: Das Insistieren auf Vermittlungsformen und gerade das Insistieren auf die Vermittlungsform des äußeren Wortes ist nicht zuletzt der Einsicht geschuldet, dass Gottes Majestät als solche vom Menschen nicht begreifbar ist. Diese Unbegreifbarkeit hat eine epistemologische und eine existentielle Dimension: Wie eben angedeutet, verfehlt die frei spekulierende Vernunft die rechte Bestimmung von Gottes Gottheit. Zudem ist der Mensch in einer Weltwirklichkeit, in der ihm deus absconditus begegnet – Gott in seiner unverstehbaren Majestät, der Leben und Tod wirkt –, darauf verwiesen, sich an den Gott zu halten, der sich in Christus als sich gnädig gebender Gott für den Menschen bestimmt hat. Aus beiden Gründen ist es von entscheidender Bedeutung, dass Gott selbst wesentlich mit seinem Wort vermittelt ist. Luthers im Folgenden noch zu rekonstruierendes Verständnis der immanenten Trinität wird zeigen, dass Gott selbst laut Luther bereits „im Anfang“ – also ewig und damit prinzipiell – der dreieinige Gott ist, der sich mit sich selbst im Gespräch befindet. 317 Siehe etwa WA 18, 63,5–20 und WA 10 I, 191, 1–5. 314
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Dingen ganz nah sein und sie zugleich übersteigen kann.318 Bezüglich der Christologie wendet sie sich gegen die Lehre von der Inkarnation sowie gegen die Lehre des leidenden und toten Gottes.319 In der Abendmahlslehre schließlich wendet sie sich gegen die Ansicht, dass Gott im Brot des Abendmahles real präsent sei.320 Damit aber ergeben sich wiederum die oben erwähnten soteriologischen Probleme, da doch der Mensch selbst in dem Fall, dass Gott nicht in der Heilsgeschichte handeln kann, seine eigene Versöhnung bewirken muss. Diese Betonung der Trennung Gottes von aller Vermittlung und vor allem von der Vermittlung mit der Schöpfung stellt laut Luther auch den eigentlichen Beweggrund dafür dar, dass Karlstadt, Zwingli und Ökolampad die Schrift auf ihre Weise auslegen: so nämlich, dass sie die Trennung Gottes von der Schöpfung in allen drei Glaubensartikeln in der Schrift wiederzufinden vorgeben. Sie betreiben eine verfälschende Schriftexegese mit dem Ziel, die Schrift als Zeuge für ihr Verständnis der Heilsordnung ausgeben zu können. Sie betreiben damit in Wahrheit nicht Exegese, sondern Eisegese, da sie ihre eigene, dünkelhafte, bereits vor der Beschäftigung mit der Schrift feststehende Position in die Schrift hineinlesen. Sie präsentieren diesen Vorgang nur deshalb als wahre Schriftauslegung, da sie vor dem protestantischen Kirchenvolk, das Schriftbelege verlangt, besser dastehen wollen.321 Diejenige Vernunft, die ohne Hilfe der Offenbarung gleichsam in spekulativer Manier das Was Gottes bedenken will, verfehlt laut Luther somit Gott in formaler wie in materialer Hinsicht radikal. Sie scheut auch nicht davor zurück, ihren eigenen Dünkel in die Schrift hineinzulesen und diese damit zu verfälschen. Letztlich, so sahen wir, werden diese fundamentaltheologischen Fragen wiederum von soteriologischen getrieben: Letztlich verfehlt die spekulativ agierende Vernunft Gott in seiner Majestät und betreibt intellektuelle Werkgerechtigkeit.322 Das erklärt vollends, warum Luther die Größen von Vernunft und Wort Gottes bzw. die Vernunft und den Glauben in einer Vielzahl von Stellen in for Siehe WA 23, 137, 20–31. Siehe WA 23, 127, 13–18. 320 Siehe WA 23, 123, 28–127, 26. 321 Siehe WA 23, 125, 6–25. 322 Dass die fundamentaltheologischen bzw. wissenschaftstheoretischen Debatten Luthers letztlich um die Reinheit des Evangeliums kreisen, betont auch Ulrich Moustakas, Differenz und Relation. Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Luther, in: KuD 46 (2000), 92–125, 104. 318 319
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maler Hinsicht als „opposed totalities“323 charakterisiert. In inhaltlicher Hinsicht legt er ganz grundsätzlich fest, dass „Gotts wort ymer der vernunfft eine torheit ist. 1. Cor. 1“324 Daher gilt, dass „Gotts gewalt macht [. . .] solche ding, die kein vernunfft begreyffen kann, sondern schlecht müssen gegleubt werden.“325 An diesen und an weiteren Stellen 326 scheint Luther somit die Möglichkeit eines blinden Glaubens anzuvisieren, der, wenn nötig, gegenüber der (spekulativen) Vernunft auch dann an den Glaubensinhalten festzuhalten hat, wenn er diese nicht begreift: 327 Gerade so wird Gottes Wort die Ehre gegeben. Die Überlegungen am Ende des zweiten Teils dieses Buches (Zweites Kapitel, 4.1.) haben deutlich gemacht, dass es gute theologische Gründe dafür gibt, aus systematischer Perspektive der materialen und auch der formalen Bestimmung von Luthers Verständnis der spekulativ operierenden Vernunft zu widersprechen. Nach Kant, Hegel und Schelling scheint vieles dafür zu sprechen, dass die spekulative Vernunft das Dass Gottes nicht wird beweisen können, dass sie aber das Was Gottes als intern differenziert – theologisch gesprochen: als trinitarisches – zu bestimmen vermag. Damit ergibt sich eine Position, die zu der Luthers gerade alterniert: Während Luther annimmt, dass die Vernunft die Existenz Gottes einsehen kann, ist das Projekt des ontologischen Gottesbeweises gegenwärtig zumindest mit gravierenden Problemen behaftet. Während Luther annimmt, dass die Vernunft Gott theistisch als eine Person bestimmt, ist das Projekt der Darlegung eines intern differenzierten Absoluten hingegen gegenwärtig mit guten Gründen zu vertreten. Damit erweist sich in inhaltlicher Hinsicht eine bemerkenswerte Nähe der Gotteslehre und der Christologie Luthers zu derjenigen dialektischen Denkform, die auch das Denken von Hegel und Schelling formt. Alle drei denken Gott als dreieinigen, der im Anderen bei sich ist. Alle drei meinen, dass dies zuerst in der immanenten Trinität vorgebildet ist und sich sodann in der ökonomischen Trinität in allen drei Artikeln in der Geschichte realisiert. Jeweils ist Gott der Schöpfung näher, als es 323 Jared Wicks, Luther’s Reform. Studies on Conversion and the Church, Mainz 1992, 21. Wicks stellt dieses Strukturmoment an der zitierten Stelle für den frühen Luther fest; es ist aber gleichermaßen auch für den späten einschlägig. 324 WA 23, 127, 22 f. 325 WA 23, 117, 15 f. 326 Siehe etwa WA 26, 439, 26–440, 9. Wenige Zeilen später betont Luther, dass die zentralen Glaubensinhalte nur scheinbar gegen Vernunft und Logik stehen, siehe dazu auch weiter unten im Fließtext. 327 Siehe dazu auch Kaufmann, Die Ehre der Hure, 72.
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diese sich selbst ist, ohne dass Gott in dieser Nähe zur Schöpfung aufgeht. Bei aller Nähe in materialen Fragen und in der Denkform bleibt jedoch eine grundlegende Differenz in der Einschätzung der Methode spekulativer Vernunft. Während Luther die spekulative Vernunft als grundlegend orientierungsbedürftig ansieht und ihr eigenständiges Vorgehen im Gefolge seiner Sündenlehre als intellektuelle Werkgerechtigkeit einschätzt, vertrete ich etwa im Anschluss an Hegel, Schelling und Pannenberg die Meinung, dass die spekulative Vernunft zwar davon abhängt, dass etwas ist und sich zeigt, dass sie dann aber recht weitgehend selbst orientierungsfähig ist, und dass die Tätigkeiten der spekulativen Vernunft als Ausdruck des Interesses an der Wahrheit gelesen werden können. Dann sind sie auch für die Theologie von Interesse und müssen nicht hamartiologisch indiziert werden. Welche der beiden Ansätze sachangemessen ist, das lässt sich nur im Vollzug klären und nicht durch dem vorhergehende Bestimmungen (siehe dazu oben, Zweites Kapitel, 4.1., und unten, Viertes Kapitel).
2.1.3.1.2. Die instrumentell operierende Vernunft: Grammatik, Rhetorik, Logik Laut Luther widerspricht die spekulativ agierende Vernunft in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht dem Wort Gottes, wenn sie aus sich selbst heraus das Was der immanenten und der ökonomischen Trinität zu bestimmen sucht. In dieser Hinsicht stellt Luther das Wort Gottes gegen die Vernunft: als totale und einander total widersprechende Größen. Die Vernunft als die Vernunft eines endlichen Wesens reagiert auf das Wort Gottes hingegen dann sachangemessen, wenn es anerkennt, dass das Wort Gottes höher ist als die Vernunft. Das meint nun nicht, dass das Wort Gottes in sich einfach wider- oder unvernünftig ist. Vielmehr erweist sich das Wort Gottes für die der Offenbarung nachdenkenden Vernunft als nachvollziehbar,328 so dass Luther in Wahrheit doch kein Konzept eines blinden Glaubens vertritt. Die Vernunft wird vom Wort Gottes aktiviert und in den – ihr als der Vernunft eines endlichen Wesens
328 Siehe hierzu auch Theodor Dieter, Beobachtungen zu Martin Luthers Verständnis der Vernunft, in: Johannes von Lüpke, Edgar Thaidigsmann (Hg.), Denkraum Katechismus. Festgabe für Oswald Bayer zum 70. Geburtstag, Tübingen 2009, 145–169, v. a. 147–151.
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entsprechenden – Dienst genommen.329 Das Wort Gottes ist in zweifacher Hinsicht nachvollziehbar, und entsprechend wird die Vernunft in zweifacher Hinsicht in Dienst genommen: Das Wort Gottes ist als Schrift nachvollziehbar, also als Bibeltext, der in sich klar ist und auf die ihm entsprechende Weise auszulegen ist. Das gilt aber auch für die durch den Bibeltext transportierten Inhalte, und zwar auch für diejenigen Inhalte, die die Gotteslehre und die Christologie betreffen. Die erste Hinsicht – die klare Auslegung des in sich klaren Wortes Gottes als Text – entspricht dem Aspekt, der die instrumentelle Vernunft bedenkt, soweit diese der Schrift mithilfe von Grammatik, Rhetorik und Logik nachdenkt. Die zweite Hinsicht – die Einsichtigkeit der Inhalte – entspricht dem Aspekt, der die Vernunft bedenkt, soweit diese theologische Aussagen in gleichsam phänomenologischer Manier illustriert und plausibilisiert. Beide Hinsichten seien nacheinander näher bedacht. Luther hat größtes Interesse daran, deutlich zu machen, dass die Schrift klar und daher nachvollziehbar und in dieser Hinsicht vernünftig ist.330 Der Grund für das Interesse ist wiederum in Luthers Verständnis der Heilsordnung zu finden und umfasst zwei eng aufeinander bezogene Aspekte. Erstens handelt Gott laut Luther jeweils mittels äußerer „brucken, steg und weg“331 am Inneren des Menschen, so dass der Mensch den geistgewirkten Glauben jeweils nur vermittels des äußeren Wortes erlangt: „Denn er will niemant den geyst noch glauben geben on das eusserliche wort und zeychen, so er dazu eyngesetzt hat.“332 Zweitens ist der Glaube nicht allein als Vertrauensakt zu fassen, sondern ihm kommt zudem zu, auf Inhalte ausgerichtet zu sein, die ihm als wahr gewiss werden. Diese Inhalte werden durch das äußere Wort vermittelt. Das äußere Wort der Evangeliumspredigt und das Zeichen des Abendmahls aber finden ihre Kriterien am äußeren Wort der Schrift. Wenn dieses in sich selbst unklar ist oder unklar ausgelegt wird, so kann der Geist nicht den Glauben samt der ihm eigenen Gewissheit wirken.333 Luther hat somit nicht nur in Bezug auf die spekulativ operierende Vernunft ein soteriolo329 Siehe dazu auch Dietrich Korsch, Theologische Prinzipienfragen, in: Albrecht Beutel (Hg.), Luther Handbuch, Tübingen 2005, 353–362, v. a. 359–361. 330 Siehe zu Luthers Hermeneutik auch Peters, Realpräsenz, 170–176. 331 WA 18, 137, 13. 332 WA 18, 136, 16–18. 333 Siehe zu dieser Verbindung von Gewissheit und angemessener Schriftauslegung ausführlich WA 26, 262, 26–267, 33; 445, 19 f. und auch Moustakas, Differenz und Relation, 108 f.
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gisch motiviertes Interesse an derjenigen Zuordnung von Vernunft und Glaube, die er dort erreichte (siehe Drittes Kapitel, 2.1.3.1.1.). Vielmehr hat Luther aufgrund seines Verständnisses der Heilsordnung auch bei der der Offenbarung nachdenkenden Vernunft ein soteriologisch motiviertes Interesse an der von ihm erreichten Zuordnung von Vernunft und Glaube: Die Schrift präsentiert rational nachvollziehbare Inhalte und wird gerade so zur Brücke, mithilfe derer der Geist Gewissheit schafft. Mit diesen Überlegungen wird nach den ontologischen und dogmatischen Differenzen zugleich eine weitere Dimension der von Kaufmann konstatierten, im Abendmahlsstreit aufbrechenden „Grundlagenkrise“ des Protestantismus beleuchtet: diejenige Dimension, die in der „Ausformung differenter bibelhermeneutischer [. . .] Positionen“ besteht, welche „die bibl[lische] Basis theol[ogischer] Urteilsbildung zum Problem werden ließ“: Auch wenn – wie dargelegt – Luther meint, dass die gegnerische Position ihre Bibelexegese letztlich als Eisegese der Inhalte der spekulativen Vernunft betreibt, so kommen beide Lager doch darin überein, dass eine protestantische Theologie ihre Positionen zumindest offiziell als Schriftexegese zu inszenieren hat. Luther sieht nun die Gefahr, dass sich die reformatorische Bewegung selbst ad absurdum führt, wenn die von ihr so vehement eingeforderte biblische Basis aller theologischen Aussagen einander widersprechende Positionen zu so zentralen Themen wie dem Abendmahl aus sich heraussetzt. Zwei Gefahren drohen, wobei die erste vor allem eine soteriologische und die zweite vor allem eine ontologische und eine hermeneutische Dimension hat. Zum einen droht die Gefahr, dass die Menschen der Schrift selbst und damit Gottes Wort müde werden.334 Damit aber droht zugleich die Gefahr, dass die so wichtige Gewissheit der Wahrheit der Inhalte der Schrift verloren geht.335 Zum anderen droht die Gefahr, dass die Heilsordnung selbst umgedreht wird. Wenn jeder Text eine Vielzahl beliebiger Meinungen aus sich heraussetzt, wird der Eindruck erweckt, dass Gott ebenso wie die Schrift und damit das Äußere in seiner eigenen Widerständigkeit in das Innere der menschlichen Meinungen aufgelöst und von dessen Dünkel her vollständig dominiert wird.336 Schriftexegese würde sich vollziehen in der Ablösung des Zeichens von der Sache. Es wäre der vollständige Sieg einer Kultur der Repräsentation über die der Präsenz erreicht und Siehe WA 23, 70, 1–3. Siehe dazu WA 23, 245, 10–34 und WA 26, 262, 26–267, 33. 336 Siehe dazu auch Metzke, Sakrament, 169–173. 334 335
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der Teufel hätte auf diese Weise die von Gott eingesetzte Heilsordnung außer Kraft gesetzt.337 Luther streitet wider den Teufel, indem er zweierlei herausstellt. Erstens betont er im Anschluss an sein Verständnis der Heilsordnung, dass die Schrift nicht nur menschliche Rede, sondern Wort Gottes ist,338 so dass sich Gott in der Schrift selbst offenbart. Da Gott und Gottes Wort nicht lügen,339 kann davon ausgegangen werden, dass die Schrift selbst hell und klar ist.340 Diese Einsicht muss gegen alle Einflüsterungen des Teufels hochgehalten und die Schrift entsprechend geehrt werden.341 Wenn Unklarheiten bei der Textexegese auftreten oder einander widersprechende Auslegungen in Bezug auf zentrale Themen, so ist die Schuld daran in der Dunkelheit der Herzen der Ausleger zu suchen, nicht aber in der Dunkelheit der Schrift selbst.342 Zweitens: Um Unklarheiten und Widersprüche zu vermeiden bzw. aufzulösen, ist die Schrift auf eine solche Weise auszulegen, die ihr selbst entspricht: Die helle, klare Schrift ist auf helle, klare Weise auszulegen. Luther entwickelt somit in formaler Hinsicht eine Schrifthermeneutik, die ihrem Status als Wort Gottes entspricht. In inhaltlicher Hinsicht heißt das folgendes: „Lieber, die natürliche Sprache ist fraw Keyseryn, die geht uber alle subtile, spitzige, sophistische tichtung. Von der mus man nicht weychen [. . .], sonst bliebe keyn buchstabe ynn der schrifft fur den geystlichen geuckelern.“343 Die Auslegung muss so lange wie irgend möglich bei dem wörtlichen Verständnis der klaren Worte der Schrift als dem Wort Gottes bleiben. In Bezug auf die Einsetzungsworte bedeutet dies folgendes: Sie sind so zu verstehen, dass sie sagen wollen, was sie in wörtlicher Lesart sagen. Wenn sie sagen, dass das Brot der Leib Jesu Christi ist, so ist entsprechend festzuhalten, dass der Leib Christi im Abendmahl real präsent ist.344 Wenn doch einmal Bibelstellen unklar sind, dann – aber nur dann! – dürfen diese dunklen Stellen von den hellen her aufgeklärt werden, nicht aber umgekehrt: „Die heiligen lerer haben die weise, schrifft auszulegen, Siehe dazu von Soosten, Präsenz, 107. Siehe WA 23, 105, 24–28. 339 Siehe WA 18, 166, 9–11, WA 23, 267, 7–12. 340 Luther betont oft, dass die Schrift hell und klar ist, siehe nur WA 18, 147, 6; WA 19, 483, 23; WA 23, 70, 33; WA 26, 262, 31–33. 341 Siehe WA 23, 82, 21–30. 342 Siehe WA 26, 406, 14–16. 343 WA 18, 180, 17–20. Siehe zu dieser Betonung der wörtlichen Auslegung der Schrift in Ablehnung der Praxis der Gegner Luthers auch WA 23, 96, 23–104, 16. 344 Siehe etwa auch WA 18, 147, 23–35. 337
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das sie helle klare sprüche nehmen und machen damit die tunckel wanckel spruche klar. Ist auch des heiligen geists weise, mit liecht die finsternis zur leuchten. Aber unser schwermer thun widder synnisch. Sie zwacken etwa aus eim text ein tunckel wanckel wort, das yhrem dunckel gefelt, lassen dazu faren, was daneben stehet, lauffen darnach hin und wollen damit einen hellen, klaren text tunckel und wanckel machen. [. . .] Das ist die weise des teuffels, der ein herr der finsternis ist und mit finsternis das liecht will tunckel machen.“345 Entgegen der von Luther vertretenen, schrift- und gottgemäßen Form der Aufklärung und getrieben von ihrem alternativen Verständnis der Heilsordnung verstoßen Karlstadt, Zwingli und die anderen Gegner gegen die Auslegungsregel, die Schrift so lange wie möglich wörtlich zu verstehen. Sie lesen die Einsetzungsworte in übertragenem Sinne und enden daher bei einer Vielzahl von Auslegungen. Diese Differenz im gegnerischen Lager ist für Luther bereits als solche ein Ausweis dafür, dass die Gegner Unrecht haben.346 Darüber hinaus wird Luther durch sein Verständnis der Heilsordnung dazu motiviert, auch im Einzelnen aufzuzeigen, wie die helle, klare Schrift auf die entsprechende, klare Weise auszulegen ist. Dies geschieht auf zwei Arten. Zum einen präsentiert Luther im Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis eine ausführliche Exegese und Synopse aller einschlägigen neutestamentlichen Stellen zum Abendmahl347 und diskutiert an anderer Stelle ausführlich die Positionen der Kirchenväter zur Sache.348 Zum anderen widerlegt er in allen Schriften zum Abendmahl detailliert die von seinen Gegnern vorgelegten, alternativen Auslegungen dieser Stellen. Bei der eigenen Auslegung ebenso wie bei der Widerlegung der alternativen Exegesen lässt Luther die „natürliche Sprache“ auf solche Weise „fraw Keyserin“ sein, dass er einerseits zur Rechtfertigung seiner Position häufig auf den Gebrauch der Alltagssprache verweist und diese damit als normativ ansetzt (so dass er hier eine eigene Variante der „ordinary language philosophy“ betreibt).349 Andererseits entwickelt und verteidigt Luther seine Position durch den Verweis auf Regeln der Grammatik, der Rhetorik und der Logik. Karlstadts Auslegung der Abendmahlsworte wirft er vor, dass sie die griechische Grammatik missversteht und dementsprechend falsch anwendet, wenn Karlstadt Siehe WA 23, 225, 1–9. Siehe dazu WA 26, 262, 26–263, 5. 347 Siehe dazu WA 26, 445, 19–498, 31. 348 Siehe WA 23, 209, 28–243, 23. 349 Siehe beispielsweise WA 18, 186, 10–21; WA 26, 444, 3. 345
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meint, dass das „Dies“ im „Dies ist mein Leib“ auf den Körper von Jesus Christus und nicht auf das Brot verweist.350 Ökolampads Auslegung der Einsetzungsworte wirft er vor, die rhetorischen Stilmittel der Metapher und der Trope falsch zu gebrauchen, wenn dieser meint, dass der „Leib“ in den Einsetzungsworten als Leibzeichen zu verstehen ist.351 Und gegenüber Zwinglis Auslegung der Abendmahlsworte, die aus dem „ist“ ein „bedeutet“ machen wollen, führt er unter anderem ins Feld, dass sie gegen Grundregeln der Logik verstößt.352 Auch wenn Luther das in unseren Texten nicht explizit reflektiert, scheint er folgendes Verständnis des Status von Grammatik, Rhetorik und Logik anzunehmen: Diese Disziplinen stellen Aspekte derjenigen Vernunfttätigkeit dar, die sich ohne Hilfe der Offenbarung in Jesus Christus den irdischen Dingen sachgerecht widmen kann. Sie sind selbst nicht weltanschaulich gefärbt, sondern fungieren als Medium zur Verständigung zwischen verschiedenen Auslegungen und den diese Auslegungen teils regierenden Weltanschauungen. Luther meint somit nicht, dass es eine eigene christliche oder eine eigene protestantische (oder lutherische) Rhetorik, Grammatik oder Logik gibt.353 Vielmehr nutzt er die eine, allgemeine Rhetorik, Grammatik und Logik als „Kommunikationsmedium“354 , um auf für alle nachvollziehbare und überzeugende Weise für seine Position zu argumentieren. Luther, so ließe sich resümieren, lehnt mit Vehemenz die sich aus sich heraus vollziehende, spekulative Tätigkeit der Vernunft in Bezug auf das Wesen und die Eigenschaften Gottes ab. Er nimmt aber wie selbstverständlich in Anspruch, dass die Vernunft aus sich heraus in der Lage ist, grammatische, rhetorische und logische Regeln für die Auslegung von Texten zu entwickeln, die gleichermaßen auch für die Auslegung des Wortes Gottes einschlägig sind und dafür sorgen, die hellen Worte auf Siehe WA 18, 151, 24–161, 22. Siehe WA 26, 379, 17–386, 11. 352 Siehe WA 26, 301, 3–13. 353 Gegen den ansonsten ebenso anregenden wie überzeugenden Aufsatz Jörg Baur, Luther und die Philosophie, in: Jörg Baur, Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen, Tübingen 1993, 13–28, v. a. 22–26, aber auch gegen Soosten, Präsenz, 106 f., wenn dieser in einem ungenauen Gebrauch des Wortes „Logik“ meint, man solle „der Logik folgen, die in der Sprache lebendig ist“, und diese dann mit Performativität etc. näher bestimmt. 354 So Walter Sparn, Ontologische Metaphysik, 20. Gerhard Ebeling, Lutherstudien. Band II: Disputatio de Homine, 3. Teil, 32–36, zeigt auf, wie Luther diesen Aspekt zumindest für die Grammatik ausdrücklich reflektiert. 350 351
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rechte Weise zu verstehen. In Übereinstimmung mit seinem Verständnis der Heilsordnung benutzt er somit nicht nur das äußere Wort der Schrift, sondern auch diejenigen allgemeinen Weisen der Auslegung des äußeren Wortes der Schrift, die eine klare, zur Gewissheit hinführende Auslegung der Schrift allererst ermöglichen: „Das Wort Gottes ergeht in kreatürlicher Vermittlung, und insofern (zumindest) sind kreatürliche Verhältnisse innerhalb der um das Verständnis des Wortes Gottes bemühten Theologie maßgebend.“355 Luthers Umgang mit Grammatik, Rhetorik und Logik sei kurz an demjenigen Beispiel verdeutlicht, das er selbst besonders hervorhebt und das entsprechend auch in der Sekundärliteratur besondere Aufmerksamkeit erfährt: 356 Es sei kurz der Abschnitt de praedicatione Identica aus der Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis kommentiert.357 Luther behandelt in diesem Abschnitt ein Problem, das seiner Auskunft nach zwar von den Schwärmern nicht als solches erkannt wurde, das aber durch die Kirchengeschichte hindurch und besonders in der Scholastik und bei Wyclif von Bedeutung war und das zugleich in systematischer Hinsicht von größter Wichtigkeit ist. Folgendes Problem tritt auf: Die hellen, klaren Einsetzungsworten des Abendmahls besagen dann, wenn die natürliche Sprache Frau Kaiserin ist, dass im Abendmahl das Brot der Leib Christi ist. Besagen die Einsetzungsworte somit, dass zwei verschiedene Wesen – Brot und Leib – in derselben Hinsicht ein- und dasselbe Wesen sind? Verstößt die von den hellen Worten der Schrift unabweisbar behauptete Realpräsenz Christi im Abendmahl somit gegen einen fundamentalen Grundsatz der Logik, den Satz der Identität? Damit wäre die Verstehbarkeit des Wortes Gottes aufs höchste gefährdet und das von Luther vertretene Verständnis der Heilsordnung von innen her bedroht.358 Entsprechend betont Luther selbst, dass die „praedicatio identica de diversis naturis“359 nicht zulässig sei. „Es ist ia war und kann niemand leucken, das zwey unterschiedliche wesen nicht mügen ein wesen sein. Als was ein esel ist das kann ia nicht ein ochse sein. [. . .] Solchs alles mus alle vernunfft ynn allen Creaturn bekennen, da wird nicht Moustakas, Relation und Differenz, 116. Siehe dazu aus der neueren Debatte nur Baur, Luther und die Philosophie; Moustakas, Relation und Differenz; Joachim von Soosten, Präsenz und Repräsentation. 357 Siehe WA 26, 437, 30–445, 18. 358 Siehe dazu auch Moustakas, Differenz und Relation, 107–109. 359 WA 26, 439, 1. 355
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anders aus.“360 Da die mittelalterlichen Theologen meinten, dass die Abendmahlsworte doch zwei verschiedenen Wesen Identität prädizieren, haben sie die Transsubstantiationslehre eingeführt, so dass in ihrer Lesart im Abendmahl nur noch der Leib vorhanden sei. Wyclif hingegen optierte aus derselben Motivation heraus gerade umgekehrt und vertrat die Ansicht, dass im Abendmahl nur das Brot vorhanden sei.361 Luther meint nun nicht, dass in den durch die Offenbarung gegebenen Inhalten des christlichen Glaubens eine eigene, andere Logik gelten würde. Vielmehr will er zeigen, dass die Aussage, dass das Brot der Leib Christi ist, nur scheinbar Vernunft und Logik widerspricht. In Wahrheit aber liegt ein ganz anderer Sachverhalt vor.362 Um das Problem zu lösen, verschärft Luther es zunächst einmal, um auf diese Weise die nötigen Differenzierungen in den Blick zu bekommen. Luther verweist darauf, dass eine vergleichbare Form der Einheit wie die zwischen Brot und Leib bei mehreren zentralen Glaubensartikeln vorliegt. Luther nennt die Einheit von Brot und Leib die „sacramentliche einickeit“363 und sieht diese als vergleichbar damit an, dass die drei Personen der Trinität dennoch ein Gott sind. Luther nennt dies die „natürliche einickeit“.364 Er sieht sie auch damit als vergleichbar an, dass bei Jesus Christus die zwei Naturen in einer Person vereint sind und nennt diese Einheit die „personliche einickeit“.365 Schließlich sieht er sie auch damit als vergleichbar an, dass der Geist für die Jünger als Taube vorhanden ist und nennt dies die „Formliche einickeit“.366 Keine dieser Formen der Einheit aber behauptet einfach die „praedicatio identica de diversis naturis“, keine also verstößt gegen den Satz der Identität.367 Denn es gilt, dass jeweils die zur Verhandlung stehenden Wesen an sich verschiedene Identitäten haben und dass das auch dann der Fall bleibt, wenn die Einheit der Wesen betont wird. Die drei Personen der Trinität bleiben ebenso auch dann drei Personen, wenn betont wird, dass sie ein Gott sind, wie Brot und Leib auch dann Brot und Leib bleiben, wenn betont wird, dass sie im Abendmahl in sakramentlicher Einheit verbunden sind. Gegen den Satz der Identität WA 26, 439, 6–12. Siehe WA 26, 439, 18–25. 362 Siehe WA 26, 440, 15–18. 363 WA 26, 441, 38. 364 WA 26, 441, 3 f. 365 WA 26, 441, 4. 366 WA 26, 442, 17. 367 Siehe WA 26, 443, 12 f. 360 361
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würden die Einsetzungsworte nur dann verstoßen, wenn sie sagen wollten, dass das Brot als Brot zugleich und in derselben Hinsicht Leib Christi ist. Das aber will das „ist“ der Einsetzungsworte gerade nicht sagen. Es besagt nur, dass Brot und Leib im Abendmahl zu neuer, sakramentlicher Einheit verbunden sind: als „Einickeit aus zweyerley wesen.“368 Damit liegt hier ein anderer Fall vor als der eines Verstoßes gegen den Satz der Identität.369 Es liegt ein Fall dessen vor, was die Grammatik als Synekdoche bezeichnet.370 Dieses Phänomen kennen laut Luther alle Sprachen. Die Grammatik „leret also reden ynn allen sprachen das wo zwey unterschiedliche wesen ynn ein wesen komen da fasset sie auch solche zwey wesen ynn einerley rede. Und wie sie die einickeit beider wesens ansihet so redet sie auch von beiden mit einer rede“371 und somit so, dass ein jedes vom anderen mit dem Wörtchen „ist“ ausgesagt werden kann. Das Brot ist also seinem Wesen nach nicht mit dem Leib Christi identisch. Aufgrund der sakramentlichen Einheit mit dem Leib Christi kann von ihm jedoch mit einer Synekdoche legitimer Weise ausgesagt werden: „Dies ist mein Leib.“ (siehe auch unten, Drittes Kapitel, 2.2.5.1.) Der Fehler, den die Scholastiker und Wyclif begingen, als sie die Einsetzungsworte als Verstoß gegen den Satz der Identität verstanden, besteht in formaler Hinsicht darin, dass sie nicht genau genug auf die sprachliche Rede und damit auf die verwendete Grammatik achteten. Das ist deshalb ein Fehler, da die Logik nicht ihre eigenen Anwendungsbedingungen aus sich selbst heraus generieren kann. Vielmehr muss der jeweilige Redekontext in Betracht gezogen werden, wenn die Logik sachangemessen angewendet werden soll.372 Die Logik einerseits sowie die menschliche Rede samt der Grammatik als ihrem Regelsystem andererseits sind somit wechselseitig miteinander vermittelt: Die menschliche Rede darf nicht gegen die Grundsätze der Logik verstoßen, wenn sie verständlich bleiben will. Zugleich muss auf die jeweilige Redesituation und auf die dabei implizit mitgegebenen grammatischen Figuren geachtet werden, wenn die Logik sachangemessen angewendet werden soll. Auch die Theologie als Exegese des hellen, klaren Wortes Gottes und als Systematische Theologie kann ihre Inhalte, die die Vernunft nicht gleich WA 26, 442, 23. Siehe auch Dieter, Beobachtungen, 150 f. 370 Siehe dazu WA 26, 444, 2. 371 WA 26, 443, 14–19. 372 Siehe dazu WA 26, 443, 8–34 und Moustakas, Differenz und Relation, 120 f. 368 369
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sam in spekulativer Manier aus sich selbst heraus sachgemäß bestimmen kann und die in dieser Hinsicht höher sind als die Vernunft, nur dann sachgemäß erheben und vertreten, wenn sie die allgemeinen Regeln von Logik und Grammatik samt ihres eben angedeuteten internen Bezuges und damit die Regeln der instrumentellen Vernunft beachtet.
2.1.3.1.3. Die phänomenologisch operierende Vernunft und der realidealistische Hintergrund: Ein Körnlein auf dem Felde als das größte Wunder Auch die auf diese Weise erhobenen Inhalte des Glaubens sind nicht einfach widervernünftig. Ganz im Gegenteil versucht Luther in Bezug auf die zentralen Glaubensinhalte klarzumachen, dass das äußere Wort von einsehbaren Inhalten redet. Daher bringt Luther in allen großen Schriften zum Abendmahl zentrale Inhalte der Gotteslehre und der Christologie mit etwas in Verbindung, was man – unter Verwendung moderner Terminologie – phänomenologische Beschreibungen nennen könnte. Luther nutzt diese Beschreibungen, um qua Analogie zentrale Glaubensinhalte zu illustrieren und damit zu plausibilisieren.373 Verdeutlichen wir das an einem der raffiniertesten Beispiele, an derjenigen Verbindung, die zwischen der Allgegenwart Jesu Christi und dem Licht in einem Kristall gezogen wird. Um die Allgegenwart Christi zu verdeutlichen, schreibt Luther: „Ich rede itzt nicht aus der schrifft es gilt denckens [. . .] Wenn nu Christus auch also ym mittel aller creatur sesse gleich an einem ort wie das bleslin odder füncklin ym Christall und mir wurde ein ort der creaturn fur gestelt als das brod und wein durchs wort mir wird furgelegt gleich wie mir ein ort des Christals fur die augen gestellet wurde, solt ich nicht sagen konnen, sihe, da ist Christus leib warhafftig ym brod gleich wie ich sage Siehe da ist das füncklein gleich forn an ym Christall?“374 So wie der Mensch von jedem Standpunkt aus einen im Kristall vorhandenen Lichtfunken sehen kann und dieser Lichtfunken somit real 373 Siehe dazu etwa WA 26, 330, 12–339, 13, und Johann Anselm Steiger, Die communicatio idiomatum als Achse und Motor der Theologie Luthers. Der „fröhliche Wechsel“ als hermeneutischer Schlüssel zu Abendmahlslehre, Anthropologie, Seelsorge, Naturtheologie, Rhetorik und Humor, in: NZSTh 38 (1996), 1–28, v. a.16–23. Erstaunlicherweise wird in der Sekundärliteratur fast durchgehend der nun folgende Aspekt der phänomenologischen Beschreibungen der Vernunft ausgelassen, wenn das Thema der Zuordnung von Vernunft und Glaube oder von Theologie und Philosophie bei Luther verhandelt wird, siehe aber Metzke, Sakrament, 190 f. 374 WA 26, 337, 14–20.
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präsent bei ihm ist, so kann auch Christus an jedem Ort in Brot und Wein real präsent sein. Interessant ist, dass Luther „Kristall“ als „Christall“ schreibt, also als „Christ-all“.375 Damit könnte eine Allusion gegeben sein, die auf den ontologischen Grund dafür verweist, dass die Natur in diesen phänomenologischen Beschreibungen analogiefähig für Glaubensaussagen ist: Weil Christus ubiquitär oder überall (und damit Christ-all) ist, kann ein Kristall die Allgegenwart Christi verdeutlichen. Weil Gott seine Ehre darein setzt, der Schöpfung in ihrer Materialität nahe zu sein, vollzieht sich die Heilsordnung in derjenigen Form, in der Luther sie versteht, und darum kann ein äußerliches Ding die größten Glaubensgeheimnisse plausibilisieren. Mehr noch: Recht besehen, so Luther, führt die theologische Einsicht darein, dass die Schöpfung gute Gabe Gottes und dass Gott ihr nahe ist, dazu, dass in jedem einzelnen Ding Wunder zu entdecken sind, und dass Gott sich dem Menschen durch all diese wunderbaren Dinge zuspricht. Wie Luther in einer Predigt sagt: Es ist „unser Haus, Hoff, Acker, Garten und alles vol Bibel. Da Gott durch seine Wunderwerck nicht allein prediget, Sondern auch an unsere Augen klopfet, unsere Sinne rüret und uns gleich ins Herz leuchtet.“376 Das Buch der Natur ist in seiner eigenen Weise das Buch der Bücher.377 Der ontologische Grund dafür besteht in dem, was unter Aufnahme der erstphilosophischen Terminologie der realidealistische Hintergrund von Luthers Theologie genannt werden könnte. In sachlicher Hinsicht steht Luther damit in einiger Nähe zu den Einsichten von Koch und Schelling. Allerdings betont Luther die kommunikative Seite der begrifflichen Verfasstheit der Wirklichkeit in ausgezeichneter Weise. Denn Luther vertritt die Einsicht, dass die Dinge selbst auf eigene Weise Wörter sind. Sie sind der Begriff in der Form seines Andersseins, da sie – in der theologischen Begründung Luthers – vom Schöpfungsmittler Jesus Christus geschaffen werden, der selbst Wort ist und worthafte Dinge schafft; genaueres wird in der Rekonstruktion von Luthers Schöpfungslehre dargelegt (siehe Drittes Kapitel, 2.2.2.1.). Hier gilt bereits festzuhalten, dass Luther den Menschen in eine Schöpfungswirklichkeit eingebettet sieht, die selbst worthaft und Diese Beobachtung verdanke ich Niels Henrik Gregersen, Grace in Nature and History: Luther’s Doctrine of Creation Revisited, in: Dialog: A Journal of Theology 44 (2005), 19–29, 24. 376 WA 49, 434, 16–18. 377 Siehe dazu auch Steiger, Die communicatio idiomatum als Achse, 20. 375
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damit vernünftig ist und den Menschen anredet, und die dabei zugleich Medium der Anrede Gottes an den Menschen ist. Allein aufgrund des Sündenfalls ist der Mensch blind geworden gegenüber diesem Wunderwerk der Schöpfung ebenso wie gegenüber der Tatsache, dass Gott den Menschen durch die Schöpfung anredet.378 Daher muss durch die Bibel, durch das Abendmahl und durch den dort erfolgenden, gewissmachenden Zuspruch des Wortes dem Menschen die Augen aufgetan werden, damit dieser erneut die Natur als wunderbare Schöpfung Gottes ansieht, die selbst worthaft ist und Medium der Anrede Gottes an den Menschen.379 Damit ergibt sich folgendes Bild: In ontologischer Hinsicht gilt, dass die Welt von Gott geschaffen wurde und dass Christus als dasjenige Wort Gottes, das im Abendmahl präsent ist, Schöpfungsmittler ist und gemeinsam mit dem Vater überall präsent ist. Alle Dinge sind vom Schöpfungsmittler geschaffen und daher wunderbare Worte, die auf den Menschen hingeordnet sind und den Menschen anreden. Zugleich sind sie die Medien, durch die Gott zu den Menschen redet: Es sind gute Gaben, durch die Gott den Menschen anspricht. Aus diesen christologischen und schöpfungstheologischen Gründen können die Schöpfungswerke als Analogien für die größten Glaubensgeheimnisse dienen. In epistemologischer Hinsicht gilt einerseits, dass die phänomenologischen Beschreibungen der Schöpfung in ihrem wunderbaren Charakter das Abendmahlsgeschehen zu plausibilisieren helfen, und das gilt auch gegenüber dem gegnerischen Lager. Diese Beschreibungen scheinen somit deshalb, weil sie ein ontologisches Fundament haben und damit sachgemäß sind, ein Instrument darzustellen, um lagerübergreifend für die eigene Position zu werben. Andererseits gilt, dass der Mensch nach dem Sündenfall blind für die Schöpfung als Wunderwerk ist. Er kann sie nur dann als solche wahrnehmen und für andere beschreiben, wenn ihm im Abendmahl zugesagt wird, dass Gott tatsächlich überall heilbringend präsent ist. Die phänomenologischen Beschreibungen kommen somit 378 Siehe dazu neben der zitierten Stelle etwa auch WA 26, 416, 6 f., WA 42, 39, 15–22, sowie Bayer, Martin Luthers Theologie, 97–106 und Gregersen, Grace, 28. In manchen Texten und vor allem in der großen Genesisvorlesung weist Luther darauf hin, dass die Sünde nicht nur die menschliche Wahrnehmung der Schöpfung, sondern die Schöpfung selbst verändert, so dass die Erde durch die Sünde an Reichtum und Kraft verliert. In den meisten anderen Texten hingegen weist Luther nur darauf hin, dass durch die Sünde die menschliche Wahrnehmung gegenüber dem Reichtum der Wirklichkeit nachlässt, siehe dazu auch Drittes Kapitel, 2.2.3. 379 Siehe auch WA 10 I, 233, 10–234,2.
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vom Abendmahl her und führen wieder auf es hin, werfen dabei aber einen neuen Blick auf die ganze Schöpfung und lassen von der Schöpfung her das Abendmahl besser verstehen. Wer glaubt, sieht mehr und kann anderen davon auf solche Art erzählen, dass dieses Mehr zugleich auf den Glaubensgrund zurückverweist. Damit man aber glauben und damit mehr sehen und anderen davon erzählen kann, muss man vom Glaubensgrund an diesem Mehr Anteil bekommen haben. Das Mehr – die Fülle der Gaben, die in ausgezeichneter Weise aus der geberorientierten Perspektive sichtbar wird – ist etwas, auf das der Mensch nur im Glauben Zugriff hat und somit im ständigen Kampf gegen die eigene Sündigkeit – die in ausgezeichneter Weise in der empfängerorientierten Perspektive sichtbar wird. Luther vertritt somit keine einfache Naturfrömmigkeit einer ersten Naivität, sondern ein Entdecken der Wunderwerke der Schöpfung, das sich jeweils gegen den blindmachenden Sündenfall durchsetzen muss. Er vertritt somit so etwas wie eine zweite, jeweils angefochtene und durch Gnade im Geist neu geschenkte Naivität. Im Folgenden soll die von Luther unter der Perspektive des Glaubens vorgenommene Beschreibung der Wirklichkeit als relational-kommunikatives Gabegeschehen genauer rekonstruiert werden. Vorher aber sei zusammenfassend betont, dass sich aus den von uns bedachten Texten Luthers drei Dimensionen der Vernunft rekonstruieren lassen: In ihrer spekulativen Dimension kann die Vernunft zwar aus sich heraus bestimmen, dass Gott existiert, nicht aber, wie Gott verfasst ist. Da die gefallene Vernunft diese eigene Grenze aber nicht einsieht, versucht sie, aus sich heraus Gottes Wesen und Eigenschaften zu bestimmen. Damit verfehlt sie in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht Gott, da sie aus eigenem Dünkel über Gott richtet und dabei Gott so bestimmt, als ob er aller Vermittlung abhold wäre. Entsprechend sieht Luther die spekulative Vernunft und das Wort Gottes als „opposed totalities“. Zugleich denkt Luther dann, wenn er die Gehalte seines Gottesbegriffs aus der Bibel erhoben hat, auf eigener Weise dialektisch über Gott und damit in gewisser Nähe zu derjenigen Weise, in der auch die spekulative Vernunft des Idealismus über Gott denkt. Vor allem aber hilft die Vernunft in ihrer instrumentellen Funktion dabei, das Wort Gottes auszulegen. Da Gott sich durch das Äußere vermittelt und auf eine Gewissheit zielt, die an Inhalte gebunden ist, ist der Glaube daran interessiert, das klare Wort Gottes auf ihm angemessene, klare Weise auszulegen. Dafür benutzt er die allgemeine Grammatik, Rhetorik und Logik, die für Christen wie Nichtchristen gültig ist. Die auf diese Weise erhobenen Inhalte plausibi-
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lisiert Luther durch den Rückgriff auf die Vernunft in ihrer phänomenologischen Dimension. Der ontologische Grund dafür, dass diese Plausibilisierungen möglich sind, ist ein christologischer und ein schöpfungstheologischer. Christus ist ubiquitär, so dass viele Dinge als Illustrationen für Christi Ubiquität dienen können. Zudem sind alle Dinge durch den Schöpfungsmittler Christus geschaffen und somit selbst von worthaftem Charakter, Anrede an den Menschen und Medium von Gottes Anrede. Der Fall lässt den Menschen dem gegenüber blind werden. Daher vermag erst die glaubende Vernunft, die christologischen Analogien zu beschreiben und in umfassendem Sinne die weltliche Wirklichkeit als wunderbare Gabeordnung der Schöpfung sichtbar zu machen, durch die Gott zum Menschen spricht. Luthers Verständnis der Wirklichkeit als umfassendes, relational-kommunikatives Gabegeschehen sei im Folgenden ausführlich dargestellt.
2.2. Durchführung: Luthers Metaphysik des Abendmahls 2.2.1. Die immanente Trinität: Gottes Gespräch für den Menschen Die Rekonstruktion des materialen Teils von Luthers relational-kommunikativer Metaphysik der Gabe beginnt mit der Rekonstruktion des Anfangs dieser Metaphysik, mit der immanenten Trinität. Dabei zeigt sich paradigmatisch, wie Luther traditionelle Gehalte aufnimmt und gemäß seines aus der Schrift erhobenen Wirklichkeitsverständnisses umformt. Luther entwickelt die immanente Trinitätslehre in seiner Exegese des ersten Kapitels des Johannesevangeliums sowie in seiner Exegese der ersten Verse des ersten Kapitels der Genesis. Dabei verweist er bei der Exegese des einen der beiden Texte auf den jeweils anderen, da er davon ausgeht, dass in sachlicher Hinsicht zentrale Aussagen des Neuen Testaments bereits im Alten präsent sind. Zugleich ist das Alte auf seine Vollendung im Neuen hin angelegt und wird auch von daher erst in seiner ganzen Tiefe verständlich. Entsprechend liegen die entscheidenden Aussagen zur immanenten Trinität bereits in der Genesis vor, auch wenn diese erst von Jesus Christus her vollständig einsehbar sind: 380 „denn das new testament ist nit mehr denn eyn offinbarung des allten, gleych alß 380 Siehe dazu WA 10 I, 181, 15–186, 8; WA 42, 13, 34–14, 11; WA 42, 44, 13–25; sowie Albrecht Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 27), Tübingen 1991, 48– 68.
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wenn yemant tzum ersten eyn beschlossen [verschlossenen, M. W.] brieff hette und darnach aufbreche.“381 Von Jesus Christus als dem Wort Gottes her wird die wahre Bedeutung der ganzen Schrift als Gottes Wort lesbar. Bereits in der Genesis fasst Moses Gott als trinitarischen, auch wenn das die Juden nicht angemessen verstanden haben.382 Die Personen von Gott dem Vater und Gott dem Sohn werden in der Genesis dadurch eingeführt, dass betont wird, dass alle Weltwirklichkeit durch das Sprechen Gottes geschaffen wird. Damit sind Vater und Sohn auf dreifache Weise aufeinander bezogen.383 Erstens spricht Gott der Vater ein Wort aus – Christus –, das selbst ewig ist, da alle Kreatur durch es geschaffen wurde. Im Johannesprolog wird die Ewigkeit des Sohnes durch das „im Anfang“ ausgedrückt, in dem das Wort war. Entsprechend ist das Wort genauso Gott wie derjenige, der es spricht, da es von allem Anfang Moment des nackten Wesens Gottes war.384 „[G]ott spricht seyn wortt alßo von sich, das seyn gantz gottheyt dem wort folget unnd naturlich ym wort bleybt und weßenlich ist.“385 Zweitens ist der Sohn als dieses ewige Wort gleichwohl vom Vater unterschieden, da der Sprecher und das Gesprochene nicht identisch sein können. Die Differenz zwischen beiden ist darin zu sehen, dass der Sprecher aus sich selbst heraus ist, das Gesprochene aber vom Sprecher her. Im Johannesprolog wird diese Differenz dadurch ausgedrückt, dass eigens erwähnt wird, dass das Wort „bei“ Gott war. Schließlich sind beide in der Einheit des einen Gottes verbunden, da die Schrift deutlich besagt, dass nur ein Gott ist. Die Einheit wird im Johannesprolog durch die Formulierung betont, dass Gott das Wort „war“. Doch nicht nur Vater und Sohn, sondern auch der Heilige Geist wird bereits in der Genesis eingeführt, wenn in Gen. 1,2 eigens erwähnt wird, dass der Geist über den Wassern schwebt.386 Luther betont einerseits Einheit der drei Personen, die er sachlich in eine Linie mit der Einheit der zwei Naturen Jesu Christi und mit der Personeneinheit Jesu Christi stellt (siehe auch Drittes Kapitel, 2.1.3.1.2.). Andererseits vergisst er auch nicht die Differenziertheit innerhalb des einen Gottes, da er den drei Personen je eigene Aufgaben appropriiert. Luther entwik WA 10 I, 181, 24–182, 1. Siehe WA 42, 10, 17–22. 383 Siehe zu diesen drei Punkten WA 42, 13, 12–15, 25 sowie WA 10 I, 182, 6–193, 11 und Beutel, In dem Anfang, 68–78. 384 WA 42, 14, 28 f. 385 WA 10 I, 186, 20–187, 1. 386 Siehe WA 10 I, 185, 17–20; WA 42, 8, 21–29. 381
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kelt somit ein Bild der immanenten Trinität, bei dem Einheit und Vielheit miteinander vermittelt sind. Luther denkt die Trinität auf eigene Weise dialektisch. Zugleich nimmt Luther ein ihm von der Tradition überliefertes Verständnis der immanenten Trinität auf, welches die immanente Trinität durch die vom Vater ausgehenden Ursprungsrelationen bestimmt sieht. Er formt es so um, dass der Vater der Sprecher und der Sohn das Gesprochene wird. In einigen anderen Texten wird der Geist entsprechend als Zuhörer bestimmt.387 Da Christus dasjenige Wort ist, das der Vater ewig spricht und durch das er sich entsprechend selbst bestimmt, ist Gottes Wesen als diejenige Barmherzigkeit zu bestimmen, die im Sohn Fleisch wird. Indem Christus sich dem Menschen offenbart, offenbart er zugleich „den tieffsten abgrund seines veterlichen hertzens“388 . Anders gesagt, Gott offenbart durch das Wort das Wort: Das Wort Gottes ist Medium und Gegenstand der Offenbarung.389 Damit ist bereits angedeutet, dass Luther die immanente Trinität aufs engste mit der ökonomischen Trinität verbunden sieht. Damit steht Luther in Differenz zu seinen Gegnern im Abendmahlsstreit, die Gott dadurch charakterisiert sehen, dass er Distanz hält zur Schöpfung und sich damit auch nicht ganz in sein Handeln in der Schöpfung hinein begibt (siehe dazu auch Drittes Kapitel, 2.1.3.). Luther hingegen insistiert nicht nur in epistemologischer Hinsicht darauf, dass angemessene Aussagen über die immanente Trinität nur aufgrund derjenigen Schriftzeugnisse erfolgen können, die Christi Handeln in der Heilsgeschichte bezeugen, welches wiederum Gottes Sein und Wesen offenbart. Vielmehr gilt laut Luther auch in ontologischer Hinsicht, dass die immanente Trinität von vorneherein auf die ökonomische Trinität hin geöffnet ist. Luther ist nicht daran interessiert, darüber zu spekulieren, was Gott vor der Schöpfung tat. Er verweist sogar auf Augustins Bonmot zu dieser Frage, das besagt, dass Gott vor der Schöpfung die Hölle schuf, in die diejenigen kommen, die die Frage stellen, was Gott vor der Schöpfung tat.390 Luther entwickelt seine Lehre von der immanenten Trinität, um sicherzustellen, dass der Mensch in der ökonomischen Trinität tatsächlich Gott selbst begegnet. Mit Beutel gesprochen, „sieht Luther im verbum aeternum die systematische Gewähr dessen, daß es der homo audi Siehe dazu WA 46, 59, 17 f. sowie Beutel, In dem Anfang, 97 f. WA 30 I, 191, 34 f. 389 Siehe dazu auch Beutel, In dem Anfang, 89–94. 390 WA 42, 9, 21–31. 387
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ens wirklich mit dem Deus loquens zu tun bekommt.“391 Entsprechend denkt Luther die immanente Trinität als die „Innenseite“392 derjenigen Kommunikation Gottes mit den Menschen, die im gewissmachenden Wort in Predigt und Abendmahl an ihr Ziel kommt.393 Luther denkt somit bereits die immanente Trinität so, dass sich in ihr die geberorientierte Perspektive auf die empfängerorientierte hin öffnet. Diese Öffnung der immanenten Trinität auf die ökonomische hin und die damit einhergehende Betonung der ökonomischen geht so weit, dass Luther weder in den großen Abendmahlsschriften noch im Großen oder Kleinen Katechismus eigens eine Lehre von der immanenten Trinität entwickelt.394 In diesen Schriften betont er nur, dass im dreifachen Sich-Geben Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung Gott sein ganzes „Göttliche[s] wesen, willen und werck“395 offenbart, da Gott selbst gnädiges SichGeben ist. Seine Lehre von der immanenten Trinität entwickelt Luther in den hier herangezogenen Schriften somit allein in seiner Auslegung von Genesis 1 und von Johannes 1. Die Öffnung der immanenten Trinität auf die ökonomische hin vollzieht sich in zwei Hinsichten. Zum einen erfolgt eine wesentliche Vermittlung von Metaphysik und Rechtfertigungslehre. Diese besteht nicht nur darin, dass die metaphysischen Aussagen zur immanenten Trinität als Bedingung der Möglichkeit der soteriologischen Aussagen zu Gottes heilvollem Handeln in der Geschichte gefasst werden. Vielmehr ist das Sein Gottes bereits in sich durch seine heilbringende Liebe für die Menschen bestimmt. Damit entspricht Luthers Lehre von der immanenten Trinität einem wesentlichen Strukturmerkmal seiner Christologie, bei der auch Christi Sein als die eine Person in den zwei Naturen und sein Werk der heilbringenden Liebe für die Menschen wesentlich miteinander verbunden sind (siehe dazu genauer unten, Drittes Kapitel, 2.2.4.). Beutel, In dem Anfang, 99. Bayer, Martin Luthers Theologie, 202. 393 Christine Helmer, The Trinity and Martin Luther. A Study on the Relationship between Genre, Language and the Trinity in Luther’s Work (1523–1546), Mainz 1999, 202, betont, dass Luther die immanente Trinität auch in seinen Predigten auf diese Weise charakterisiert. 394 Die Studie von Helmer, The Trinity, zeigt sogleich, dass es nicht sachangemessen wäre anzunehmen, dass Luther nicht an der immanenten Trinität interessiert wäre; vielmehr hat Luther über mehr als 20 Jahre hinweg und quer durch die verschiedenen Genres seines Schaffens hindurch immer wieder die immanente Trinität bedacht. 395 WA 30 I, 191, 28. 391
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Genauer: Gott der Vater hat sich aus väterlicher Liebe bereits von Ewigkeit her dazu bestimmt, sein „nacktes Wesen“ (Metaphysik) von demjenigen Wort Jesus Christus (Rechtfertigungslehre) bestimmen zu lassen, das als promissio wesentlich (Person) gnadenhaftes Wort für die Menschen (Werk) ist. Zum anderen erfolgt die Öffnung der immanenten Trinität auf die ökonomische auch in zeitlicher Hinsicht: Wie erwähnt, ist Luther nicht daran interessiert darzustellen, was Gott vor der Schöpfung tat. Vielmehr wird die immanente Trinität als die Innenseite der ökonomischen Trinität in den Blick genommen, die nicht nur am Anfang Himmel und Erde schuf und dann in Jesus Christus die Welt mit Gott versöhnte, sondern die in der Gegenwart in der Predigt und im Abendmahl als Geber und als leibliche Gabe präsent ist.396 Somit vollzieht sich eine bemerkenswerte Verschränkung der Zeiten, die von Luthers Privilegierung der Gegenwart motiviert ist und diese sachlich allererst ermöglicht. Die von Beginn der Schöpfung bis in die Gegenwart hinein unablässig tätige ökonomische Trinität ist die Selbstmanifestation der ewigen, immanenten Trinität,397 der alle Zeiten und Dinge gleichzeitig vor Augen stehen.398 In dieser Dialektik von immanenter und ökonomischer Trinität kommt die immanente bei Luther vornehmlich in den Blick: als die ewige Trinität, die sich in der Zeit und vor allem in der Gegenwart manifestiert und die zugleich die Einheit der ökonomischen darstellt.399 Daher sei im Folgenden rekonstruiert, wie Schöpfung, Versöhnung und Vollendung laut Luther genauer bestimmt sind.
2.2.2. Schöpfung und Erhaltung: Die Welt als Gabeordnung 2.2.2.1. Die Welt als worthafte Schöpfung Gottes Ebenso, wie der Mensch aufgrund des Sündenfalls blind gegenüber der immanenten Trinität als Liebe ist, so ist er auch blind gegenüber der Schöpfung als guter Gabe des sich-gebenden Gottes: „Aber solche Gabe ist durch Adams fall verfinstert [. . .] worden.“400 Erst im Glauben vermag der Mensch wiederum zu sehen, wie die Schöpfung in Wahrheit verfasst ist.401 Die folgenden Aussagen sind somit Glaubensaussagen, die in ihrer Siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 200–202. Siehe dazu auch Herms, Luthers Auslegung, 118. 398 Siehe dazu WA 42, 57, 34–58, 2. 399 Siehe dazu Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 36 f. 400 WA 26, 505, 41. 401 Siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 90. 396 397
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Detailliertheit vor allem in Luthers Genesis-Vorlesung fußen, in ihren Grundzügen aber auch aus Luthers Bekenntnistext von 1528 und den Credo-Auslegungen des Kleinen und des Großen Katechismus entnommen sind. Wenn betont wird, dass die folgenden Aussagen Glaubensaussagen sind, so ist damit ihr Anspruch auf ontologische Validität nicht geschmälert, sondern gerade gestärkt. Denn indem das Wort Gottes mithilfe des Heiligen Geistes dem Menschen die Augen öffnet, wird dieser in die Lage versetzt, die Wahrheit über die Wirklichkeit der Schöpfung auszusagen. Gleichsam als Überschrift und Zusammenfassung von Luthers Schöpfungslehre aus der geberorientierten Perspektive kann der entsprechende Satz aus seinem Bekenntnis von 1528 fungieren: „Das sind die drei Personen und ein Gott, der sich uns allen selbs ganz und gar gegeben hat mit allem, das er ist und hat. Der Vater gibt sich uns mit hymel und erden sampt allen creaturen, das sie uns dienen und nütze sein müssen.“402 Luther betont, dass das Schaffen Gottes aufs engste mit seiner Gottheit verbunden ist. Hierin zeigt sich – wie es im Großen Katechismus heißt – „Gottes des vaters wesen, wille, thun und werck.“403 Gott erweist sich gerade dadurch als Gott in kategorialer Differenz zu allen Geschöpfen und damit als derjenige, dem die im Ersten Gebot geforderte Verehrung zu Recht zukommt, dass er kann, was kein Geschöpf kann: souverän aus dem Nichts zu schaffen.404 „Wenn man ein iung kind fragete: Lieber was hastu fur ein Gott, was weisestu von yhm? Das es kunde sagen: Das ist mein Gott, zum ersten der vater der hymel und erden geschaffen hat, Ausser diesem einigen halte ich nichts fur Gott, denn sonst keiner ist der hymel und erden schaffen kunde.“405 Luther verbindet somit aufs engste die Bestimmungen von Gott als Schöpfer, als Allmächtiger und als Vater miteinander. Dass Gott Schöpfer ist, ist Ausdruck seiner Allmacht. Seine Allmacht zeigt sich nicht darin, dass Gott alles logisch Mögliche tun könnte oder kann, sondern darin, dass er tut, was er tut: die Welt zu schaffen, zu erhalten, zu versöhnen und zu vollenden. Gott hat sich dazu bestimmt, die seiner Gottheit zukommende
WA 26, 505, 38–41. WA 30 I, 183, 15 f. 404 Siehe dazu auch Johannes Schwanke, Creatio ex nihilo. Luthers Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts in der Großen Genesisvorlesung (1535–1545), Berlin, New York 2004, 116–119 sowie Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 21–25. 405 WA 30 I, 183, 21–25. 402 403
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Allmacht in dieser konkreten Form auszuüben.406 Dazu gehört auch, dass Gott in seiner Allmacht „ex nihilo“ schafft, und das heißt: ohne externe Vorgaben. Gott ist nicht gezwungen zu schaffen, etwa weil ihm ohne die Welt etwas fehlen würde; auch ist ihm kein Gegenprinzip wie eine ewige Materie vorgegeben.407 Vielmehr schafft er allein deshalb, weil er schaffen will und weil sein Wille von seiner väterlichen Liebe bestimmt ist. Weil Gott als Vater wesentlich Liebe ist, will er die seiner Gottheit zukommende Allmacht präzise dazu benutzen, die Welt aus dem Nichts zu schaffen. Diese Aussage ist in zwei Hinsichten genauer zu qualifizieren: Zum einen handelt Gott bereits als Schöpfer als dreieiniger. Auch wenn Luther den ersten Artikel primär Gott dem Vater appropriiiert,408 so legt er doch dar, dass bereits die gesamte Trinität an der Schöpfung beteiligt ist und diese gerade erst dadurch das ihr eigene Gesicht erhält; dazu gleich mehr. Zum anderen ist das souveräne Schaffen des allmächtigen Gottes nicht nur auf den ersten Artikel beschränkt, sondern stellt gleichsam das Handlungsmuster dar, mit dem Gott auch im zweiten und dritten Artikel agiert.409 Gott gibt sich ohne ihm externe Voraussetzungen nicht nur in der Schöpfung so, dass die Welt aus dem Nichts geschaffen wird, sondern auch in der Versöhnung so, dass aus Tod Leben geschaffen wird, und in der Vollendung so, dass aus Unglaube Glauben geschaffen wird.410 Anders gesagt: Alle drei Artikel sind durch das souveräne, voraussetzungslose, schöpferische Sich-Geben Gottes zugunsten der Geschöpfe bestimmt, so dass die Metaphysik Luthers durchgehend durch Charakteristika bestimmt ist, die in ausgezeichnetem Maße der Rechtfertigungslehre zukommen. Das Schaffen Gottes ist von Anfang an und damit prinzipiell als das Schaffen des dreieinigen Gottes zu verstehen, das sich somit in einer in sich differenzierten Einheit vollzieht.411 Gott der Vater als der Sprecher spricht Christus als das Wort aus. Entsprechend ordnet Luther Gott dem Siehe auch Schwöbel, Offenbarung, Glaube und Gewissheit, v. a. 232. Siehe WA 42, 3, 30- 4, 2. 408 So etwa in WA 30 I, 182, 32–183, 11. 409 Dies ist auch die grundlegende These von Schwanke, Creatio ex nihilo, der aufzeigt, wie Gott sich in allen drei Artikeln als derjenige erweist, der aus dem Nichts Leben schafft. 410 Luther verweist in WA 42, 15, 9–18 selbst auf Röm 4,17, ohne allerdings dieses Schriftzitat auf die in ihm mitgegebene Verbindung der drei Artikel untereinander zu bedenken. 411 Siehe dazu WA 42, 37, 25–34. 406 407
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Vater das „Gott sprach“ zu, das in der Genesis als wichtige Formulierung auftaucht. Indem Christus als das Wort vom Vater gesprochen wird, wird zugleich zu Beginn der Zeiten die Welt ins Leben gerufen. Luther betont, dass es das Wort ist, durch das alle Dinge, die vorher keine Existenz hatten, aus dem Nichts in die Existenz kommen. Entsprechend der Wirkmächtigkeit des Wortes ordnet Luther Gott dem Sohn das „Gott schuf“ zu, das in der Genesis als zentrale Formulierung auftaucht. Indem Gott der Vater das Wort des Sohnes ausspricht, entstehen das Licht aus der Finsternis und die weiteren geschöpflichen Entitäten.412 Zugleich erhalten die Dinge dadurch die ihnen eigene Form.413 Beides ist möglich, da das Wort als Wort Gottes wirkmächtiges Wort ist. Es ist ein Wort, das tut, wovon es spricht. Es ist „thettel wort“,414 ein Tatwort, das als solches nicht leeres Gerede ist, sondern vielmehr „machtwort“.415 Für unseren Zusammenhang interessiert besonders, dass Luther in seinen Abendmahlsschriften das Machtwort der Schöpfung mit dem Machtwort des Abendmahls gleichsetzt. In beiden Fällen schafft der vom Vater beauftragte Christus durch seine Worte das, wovon er spricht: „Denn es sind thetel wort, die Christus auffs erste mal redet und leuget nicht, da er spricht ‚Nehmet, esset, das ist mein leib‘ etce., eben so wol, als son und mond da stund, da er sprach Gen. 1 ‚Es sey sonn und mond‘ und war kein lugen wort.“416 Wiederum zeigt sich zum einen, dass Luthers gesamte Metaphysik darauf hin ausgerichtet ist, die heilbringenden Realpräsenz Christi im Abendmahl zu erklären, und zum anderen, dass vom Abendmahl aus die Wirklichkeit als Ganze in ein neues Licht gerückt wird. – Doch auch Gott der Geist ist von Anfang an in die Schöpfung involviert. Denn ihm kommt es zu, Leben zu geben und zu erhalten, so wie er bereits über dem Tohuwabohu schwebte und über diesem brütete wie eine Henne über ihrem Nest, bis daraus Leben entsteht.417 Zudem kommt es dem Geist zu, die Schöpfung anzusehen und für gut zu befinden. Die Schöpfung selbst – also Himmel und Erde samt allem, was darinnen ist – ist vor allem durch vier Aspekte gekennzeichnet: dadurch, dass sie als ex nihilo Geschaffene bleibend vom allmächtigen Schöpfer abhän Siehe WA 42, 13, 12–18. Siehe WA 42, 19, 16 f. 414 WA 26, 282, 29 415 WA 26, 283, 4. 416 WA 26, 282, 39–283, 3. 417 Siehe WA 42, 8, 21–29. 412 413
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gig ist; dadurch, dass sie als von Gott geschaffene auch in ihrer Materialität gut, ja sogar wunderbar ist, so dass bei ihr Sein und Sinn zusammenfallen; dadurch, dass sie als vom Wort hervorgebrachte selbst in eigener Weise Wort ist, das den Menschen anredet; und dadurch, dass sie eine Gabe ist, die in eigener Ordnung für den Menschen gegeben ist. Das sei genauer ausgeführt. – Erstens schafft Gott ex nihilo, und das bedeutet für die Schöpfung zum einen, dass sie nicht ewig ist, sondern von Gott her hervorgebracht wurde. Dort, wo nichts war und somit nicht einmal das Nichts, dort kam durch Gottes Wort etwas in die Existenz. Zum anderen ist das Geschaffene in sich selbst dergestalt nichts, dass es nicht in sich selbst steht, sondern von Anfang an und bleibend in seiner Existenz von Gott abhängig ist.418 Gerade weil Luther die schöpferische Allmacht der Gottheit Gottes so sehr betont, entwirft er eine relational-kommunikative Metaphysik, die alles Geschaffene von Anfang an und bleibend in der Beziehung radikaler Abhängigkeit vom schöpferischen Wort des Schöpfers sieht. Die bleibende Abhängigkeit alles Geschaffenen vom Schöpfer und damit das Aktuale des Schöpfungsbegriffs Luthers und die daraus folgende enge sachliche Nähe von Luthers Verständnis der Schöpfung am Anfang mit der der Erhaltung werden im nächsten Abschnitt genauer rekonstruiert (siehe Drittes Kapitel, 2.2.2.3.). Luther betont, dass alles Geschaffene deshalb, weil es sich vom guten Gott her empfängt, selbst gut ist.419 Da es derjenige Gott, der es ohne ihm externe Voraussetzungen und somit in vollständiger Übereinstimmung mit seinem väterlichen Liebeswillen geschaffen hat, so schuf, wie er es schuf, ist es so, wie es ist, gut. Das impliziert auch, dass das Geschaffene gerade in seiner Materialität gut ist. Wie Luther in seinen Abendmahlsschriften betont: „Sintemal wir wissen das alle Creatur Gottes gut sind Gene. 1.“420 Diese Einsicht ist für Luther deshalb so wichtig, da sie eine zentrale Bedingung der Möglichkeit seines ontologischen Ansatzes darstellt, jeden Dualismus zwischen Geist und Materie ebenso zu unterlaufen wie jeden Reduktionismus auf einen absoluten Idealismus oder einen Naturalismus, um statt dessen für eine Vermittlung von Geist und Materie zu plädieren. Der Geist handelt mithilfe der Materie, da die Materie 418 Siehe dazu auch Sammeli Juntunen, Luther and Metaphysics: What is the Structure of Being according to Luther?, in: Carl E. Braaten, Robert W. Jenson (Hg.), Union with Christ. The New Finnish Interpretation of Luther, Grand Rapids 1998, 129–160, 152. 419 Siehe dazu auch Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 45–60. 420 WA 26, 351, 12 f.
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in sich gut ist und – wie deutlich werden wird – in sich Wort und damit offen für das Wirken des Geistes. Damit ist zugleich deutlich, dass diese Einsicht eine zentrale Bedingung der Möglichkeit von Luthers Verständnis der Heilsordnung Gottes darstellt, die betont, dass Gott in allen drei Artikeln durch äußere Mittel am Menschen handelt. Wenn diese Bedingung fallen würde, so würde neben der Schöpfung auch die Inkarnation und das Abendmahl entscheidend entwertet werden. Daher verteidigt Luther die Einsicht in das Gutsein der Materialität gerade in den Abendmahlsschriften ausführlich gegenüber seinen Gegenspielern und vor allem gegenüber Zwingli (siehe dazu auch oben, Drittes Kapitel, 2.1.3.).421 Laut Luther verweist Zwingli auf Johannes 3, wo es heißt, dass das, was aus Fleisch geboren ist, Fleisch ist,422 und auf Johannes 6, wo es heißt, dass das Fleisch nichts nütze sei.423 Laut Zwingli ist mit beiden Stellen im Besonderen das Fleisch Jesu Christi gemeint, im Allgemeinen aber auch alles Fleischliche überhaupt und somit auch das Brot des Abendmahls, das als solches im Gegensatz zum Geistigen steht. Demgegenüber betont Luther, dass das Fleischliche als solches und damit alles Materielle ebenso wie der menschliche Leib oder der Leib Christi im Besonderen gute Schöpfungen Gottes sind. Sie stehen damit nicht im Gegensatz zum Geist, sondern sind gerade als seine Vehikel zu verstehen. Denn laut Luther sind im Anschluss an Paulus die Zuordnung von Geist und Fleisch anhand anderer Ordnungskriterien zu organisieren als von Zwingli vorgeschlagen: Mit dem guten Geist und dem sündigen Fleisch werden nicht bestimmte Gegenstände oder Gegenstandsbereiche bezeichnet, etwa die Gegenstandsbereiche „innen“ (guter Geist) und „außen“ (sündiges Fleisch). Vielmehr sind damit Arten gemeint, mit der guten Schöpfung als Ganzer umzugehen, unabhängig davon, ob es sich um äußere oder um innere Gegenstandsbereiche handelt: „In usu, non in objecto spiritus est.“424 Entsprechend handelt derjenige, der mithilfe des Geistes auf angemessene Weise mit der Schöpfung als guter Gabe umgeht, auch dann geistlich, wenn er mit Materialem umgeht. Daher kann Luther von Christus schreiben, dass „sein fleisch eitel geist“425 ist. Derjenige hingegen, der aufgrund der Sünde auf unangemessene, selbstsüchtige Weise mit der Schöpfung umgeht, handelt auch dann Siehe dazu v. a. WA 26, 350–379 und Metzke, Sakrament, 177 f. Siehe WA 26, 350, 5–7. 423 Siehe WA 26, 353, 1–15. 424 WA 23, 189, 14. 425 WA 26, 352, 7.
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fleischlich, wenn er mit innerlichen Dimensionen umgeht. Es gilt also, „das alles geist, geistlich und des geists ding ist und heist, was aus dem heiligen geist kompt, es sey wie leiblich, eusserlich, sichtbarlich es ymer sein mag. Widderumb fleisch und fleischlich alles, was on geist aus naturlicher krafft des fleisschs kompt, Es sey wie ynnerlich und unsichtbar es ymer sey.“426 Dieser Punkt kann auf folgende Weise noch weiter zugespitzt und an die verschiedenen Verständnisse der Heilsordnung zurückgebunden werden. Da die Eingebundenheit des Menschen ins Materielle für Luther zugleich Signum des Kreatürlichen ist und der Versuch seiner Gegenspieler, in innerlicher Unmittelbarkeit in Kontakt mit Gott zu treten, Signum ihres Versuches, sich eigenmächtig über Gott zu erheben, kann Metzke sagen, dass für Luther „fleischlich [. . .] gerade die selbstgewisse Überhebung des Geistes über die kreatürliche Leiblichkeit ist, die der Spiritualismus und Rationalismus hochmütig als unnützes Fleisch abtut.“427 Dass die Geschöpfe Gottes überhaupt sind und dass ihnen das von Gott verliehene Gutsein zukommt, ist für Luther so eindrücklich, dass er es mit dem Begriff des Wunders bezeichnet.428 Der Begriff des Wunders bezeichnet für ihn somit nicht allein ein gleichsam übernatürliches Ereignis wie etwa die Totenauferweckung, sondern gilt bereits dem von Gott verliehenen und erhaltenen Natürlichen in der ihm eigenen Verfasstheit. Recht besehen, ist auch das unscheinbarste Ding ein Wunder, etwa jedes kleine Körnlein auf dem Felde: „Sihe an ein korn auff dem felde und sage mir, wie geht das zu, das der halm aus der erden wechst aus einem einigen korn und so viel körnlin auff der ehren tregt und einem iglichen seine gestalt gibt. Es sind ynn einem körnlein viel, viel wunderwerck, der sie keines warnemen noch achten.“429 Mehr noch: Die gleichsam übernatürlichen Ereignisse wie die Totenauferweckung sind viel geringer zu achten als die natürlichen Ereignisse wie die Erschaffung eines Vogels,430 da sich in letzteren die schöpferische Allmacht Gottes täglich vollzieht.431 Erst nach dem Sündenfall und aufgrund der damit WA 23, 203, 7–11. Metzke, Sakrament, 178. 428 Siehe zu diesem Abschnitt auch Löfgren, Luthers Theologie, 54–57 sowie Bayer, Martin Luthers Theologie, 97–106. 429 WA 19, 488, 9–12. 430 Siehe WA 42, 37, 10–24. 431 Siehe WA 42, 19, 32–35. 426 427
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einsetzenden Gewöhnung verliert der Mensch die Fähigkeit, im Entstehen und in der Verfasstheit der alleralltäglichsten Dinge wahre Wunder zu entdecken. Seit dem Sündenfall bedarf es des augenöffnenden Glaubens, um dieser Wunder wieder gewahr zu werden. Zu dem wunderbaren Gutsein des Geschaffenen gehört, drittens, dass es selbst in eigener Weise worthaft ist, da es von Christus als dem Wort geschaffen wurde. Luther betont, dass „die Sonne, der Mond, der Himmel, die Erde, Petrus, Paulus, du und ich usw. alles Worte Gottes sind.“432 „Jeder Vogel und jeder Fisch sind daher nichts anderes als Worte der göttlichen Grammatik.“433 Das erste Zitat führt vor Augen, dass tatsächlich die ganze geschaffene Wirklichkeit als Worte Gottes zu gelten haben: mit dem Verweis auf Himmel und der Erde gilt das für den Bereich des Natürlichen, der in Sonne und Mond seine Konkretisierung erfährt, und mit dem Verweis auf Petrus und Paulus gilt das für den Menschen und damit den Bereich der Geschichte, der sich durch die Zeiten hindurch bis in die Gegenwart erstreckt. Das zweite Zitat betont, dass alles Geschaffene nicht nur in sich selbst jeweils ein eigenes Wort Gottes ist, sondern damit zugleich in die göttliche Grammatik als einen größeren Gesamtzusammenhang eingeordnet wird. Um erneut das markante Zitat aus Luthers Predigt anzuführen, ist somit „unser Haus, Hoff, Acker, Garten und alles vol Bibel.“ Luther stellt heraus, dass die Dinge nicht nur in sich selbst Worte Gottes und somit Bibel sind, sondern dass sie gerade als diese Worte den Menschen anreden. Noch genauer: Letztlich redet nicht das Wunderwerk des Korn-Wortes den Menschen an, sondern es ist Gott selbst, der durch das Medium des Korns den Menschen anredet. Um das bereits mehrfach angeführte Zitat aus der Predigt weiterzuführen: Es ist „unser Haus, Hoff, Acker, Garten und alles vol Bibel. Da Gott durch seine Wunderwerck nicht allein prediget, Sondern auch an unsere Augen klopfet, unsere Sinne rüret und uns gleich ins Herz leuchtet.“434 Wichtig ist auch der Inhalt, den Gott durch alle Dinge dem Menschen zusagt: Er besagt, dass die Dinge selbst gute Gaben sind, die von Gott auf den Menschen hin geschaffen wurden, damit der Mensch sie zu seinem Genuss und Nutzen gebrauchen möge. Entsprechend formuliert Luther in einer WA 42, 17, 17–19: „Sic Sol, Luna, Coelum, teraa, Petrus, Paulus, Ego, tu etc. sumus vocabula Dei.“ (dt. Übers. M. W.) 433 WA 42, 37, 6–8: „Quaelibet igitur avis, piscis quilibet sunt nihil nisi nomina divinae Grammaticae.“ (dt. Übers. M. W.) 434 WA 49, 434, 13–16. 432
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Predigt, dass dann, wenn wir Augen und Ohren dafür hätten, „uns das Korn anreden würde: ‚Sei fröhlich in Gott, iss, trink, gebrauche mich und diene mit mir dem Nächsten.‘“435 „Sei fröhlich in Gott, iss, trink“: Bis in die Formulierungen hinein wird die Nähe der guten Schöpfungsgaben des Korns zu derjenigen Gabe von Brot und Wein im Abendmahl deutlich, die dem Menschen die Schöpfung wieder als Gabe sehen lässt. Entsprechend, so fordert Luther seine Zuhörer in einer anderen Predigt auf, sollen wir die Schöpfung auf folgende Weise sehen: „lass ein donum sein und schreib drann: ‚Dedit‘.“436 Damit ist Entscheidendes für den Schöpfungsbegriff Luthers gewonnen. Mit Bayer gesprochen: „Dass die ganze Welt und alle Kreaturen rufen und durch diese Medien Gott selbst sich uns ganz und gar zusagt und gibt, ist der Inbegriff von Luthers Verständnis der Schöpfung.“437 Den Dingen kommt ihr Gabecharakter und damit ihre Bestimmtheit, dass sie von Gott für den Menschen gegeben sind, von Anfang an zu. Ein wichtiger Aspekt des Gabecharakters der Schöpfung besteht, viertens, darin, dass sie eine in sich differenzierte, harmonisch aufeinander abgestimmte Gesamtordnung darstellt, die gerade in ihrer Geordnetheit Gabe für den Menschen ist; Ordnung und Gabe werden bei Luther somit dergestalt zusammengedacht, dass der Ordnungsaspekt dem Gabecharakter dient. Denn die gesamte Schöpfung ist so geordnet, dass sie wie ein Haus ist, in dem der Mensch wohnen kann.438 Zum einen kommt dieser Ordnung ein zeitlicher Aspekt zu. Denn Gott schafft nicht alles in einem Augenblick, sondern ruft die Welt in sechs Tagen ins Dasein.439 Zudem führt er noch einen Wechsel von Tag und Nacht ein, der dazu dient, dass der Mensch sich erholen kann.440 So ist mit der Schöpfung ein Haus in der Zeit errichtet, das der Mensch bewohnen kann. Bereits durch diese Ordnung der Zeit wird wiederum der Gabeaspekt oder die Kennzeichnung von Luthers Metaphysik durch Charakterzüge der Rechtfertigungslehre deutlich, da Luther betont, dass Gott die Welt schuf und somit alles für den Menschen bereitstellte, bevor er den Menschen selbst schuf.441 WA 46, 494, 15 f., zitiert nach Bayer, Martin Luthers Theologie, 100. WA 40, 3, 250, 1 f. und siehe Beutel, In dem Anfang, 112. 437 Bayer, Martin Luthers Theologie, 101. 438 Siehe zum Folgenden auch Schwanke, Creatio ex nihilo, 109. 439 Siehe WA 42, 4, 26–5, 25. 440 Siehe dazu WA 42, 32, 1–7. 441 Siehe WA 42, 29, 27–39. 435
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Dieser Ordnung kommt zum anderen ein gleichsam räumlicher Aspekt zu, durch den die ganze Welt als „wunderbares Domizil“442 für den Menschen erscheint. So schuf Gott zu Beginn des ersten Tages das Tohuwabohu, die ungeformte Materie, und schuf dann aus ihr durch das Wort die Welt als Haus, in dem Himmel und Erde als Dach und als Fundament dienen.443 Am dritten Tag drängt Gott die Urwasser so zurück, dass der Mensch auf Erden einen trockenen Platz finden kann444 und eine Vorratskammer für die Früchte, die dem Menschen zum Essen dienen.445 Am vierten Tag wurden Sonne und Mond zum Dienst am Menschen erschaffen und am fünften und am sechsten Tag wurden dem Menschen die Fische, die Landtiere und die Pflanzen in ihrer Überfülle zum genussvollen Gebrauch gegeben. Diese gute Gabenordnung gipfelt in einem zweifachen Höhepunkt. Zum einen formuliert Luther, dass Gott dem Menschen befahl, alle im Überfluss vorhandenen Früchte zu genießen: Wieder ist die sachliche Nähe des inneren Ziels der Schöpfungslehre mit dem der Abendmahlslehre mit den Händen zu greifen.446 Zum anderen und vor allem befiehlt Gott am siebten Tag, den Sabbath dergestalt zu heiligen, dass Gott gelobt wird. Zudem soll das Wort gepredigt und gehört werden, da der Mensch dadurch im Glauben nicht nur am irdischen, sondern auch am ewigen Leben teilhat.447 Der rechte Umgang mit dem heilbringenden Wort stellt somit einen Höhepunkt von Luthers Metaphysik der Gabe dar.448 WA 42, 29, 28: „domicilium [. . .] elegans“. Siehe WA 42, 55, 31. 444 Siehe WA 42, 26, 9–17. 445 Siehe WA 42, 29, 31. 446 Siehe WA 42, 29, 30 f.: „iubetur frui omnibus diviciis“. 447 Siehe WA 42, 61, 14–32. 448 Die erreichten Einsichten in Luthers Schöpfungstheologie sind im Hinblick auf das vorliegende Buch als Ganzes von Interesse. Denn zumindest zwei von ihnen können an Zentraleinsichten von Koch und Schelling und an Grundfragen der Heidegger-Interpretation angeschlossen werden. Zum einen zeigt sich in Luthers Bestimmung der Dinge als Worte die schöpfungstheologische Fundierung von dem, was in anachronistischer Terminologie Luthers Realidealismus genannt wurde – ein Realidealismus, der die kommunikative Seite der begrifflichen Verfasstheit der Wirklichkeit betont. Luthers Bestimmung des Geschaffenen ähnelt in bemerkenswerter Weise derjenigen, die Koch in seinen erstphilosophischen Erwägungen erreichte, als er feststellte, dass die Dinge selbst ein prädikatloser Dingdialekt sind, durch den sie allererst jedes menschliche Urteil ermöglichen (siehe Zweites Kapitel, 2.3.1.2.2.). Zudem ähnelt sie der Einsicht Schellings, dass die Dinge realisierte Potenzen und damit begrifflichen Charakters sind (siehe dazu oben, Zweites Kapitel, 3.3.3.), und sie ähnelt der Bestimmung Heideggers, der die Dinge durch aletheia 442 443
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Zugleich sind die erreichten Einsichten auch im Hinblick auf die spezifische Verfasstheit von Luthers Theologie von Interesse. Denn sie markieren in ontologischer Hinsicht den Grund für den Übergang von einer geber- zu einer empfängerorientierten Perspektive. Weil alle Schöpfung von Gott dergestalt geschaffen wurde, dass sie gerade darin sie selbst ist, dass sie für den Menschen ist, ist es nur sachangemessen, wenn sie nun aus der Perspektive des Menschen in den Blick genommen wird. Unter ständigem Rückgriff auf die große Genesisvorlesung und auf die großen Abendmahlsschriften sollen diejenigen Aspekte von Luthers Anthropologie, die für die Fragestellung dieses Buches von Interesse sind, im Anschluss an Luthers berühmte Auslegung des Ersten Artikels aus dem Kleinen Katechismus und damit aus der darin vorherrschenden empfängerorientierten Perspektive entwickelt werden.
2.2.2.2. Anthropologie: Der Mensch als Durchgangspunkt der Gabeordnung 2.2.2.2.1. Der Mensch als Beziehungswesen in der Gabefülle Gottes Wie sein Wirklichkeitsverständnis als Ganzes, so ist auch Luthers Anthropologie von seiner relational-kommunikativen Metaphysik der Gabe geprägt. Dabei sind drei Charakteristika grundlegend: Erstens Luther sieht den Menschen in ein komplexes Geflecht von Beziehungen eingespannt, welches aus der Beziehung zu Gott, zu der geschaffenen Welt und den Mitmenschen sowie aus der Beziehung zu sich selbst besteht. Zweitens sieht Luther jeweils den ganzen Menschen in diesen Beziehungen stehen. Der Mensch steht somit nicht etwa nur mit einem Seelenvermögen wie dem höheren Teil der Vernunft in Beziehung zu Gott, sondern als diejenige leibseelische Einheit, als die er auch in der geprägt sieht (siehe Erstes Kapitel, 1.3. und Erstes Kapitel, 1.4.). Zum anderen kann Luthers Einsicht, dass die Dinge von sich aus auf den Menschen hingeordnet sind, als gabetheologische Fassung von Kochs Subjektivitätsthese gefasst werden. Diese besagt in ihrer ontologischen Fassung, dass die Dinge nur dadurch sind, dass ihnen ein Index zukommt, welcher als solcher auf ein Subjekt verweist (siehe dazu oben, Zweites Kapitel, 2.2.6.). Luther sieht in seiner theologischen Perspektive, dass die Gegebenheit der Dinge auf den Menschen hin gute Gabe des Schöpfers ist. Zudem wird bereits hier ein im Folgenden näher explizierter, zentraler Aspekt der Anthropologie Luthers sichtbar, welcher darin besteht, dass der Mensch erst passiv sich und alle Wirklichkeit als Gabe empfängt und dann und damit zu eigener Aktivität befähigt und genötigt wird. Das kann als eine gabetheologische Variante der reflexiven Lesart von Heidegger begriffen werden.
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Beziehung zur geschaffenen Welt steht. Drittens ist das Beziehungsgeflecht durch eine charakteristische Zuordnung von Passivität und Aktivität bestimmt. Sie besteht darin, dass Gottes Aktivität allein den Menschen zu liebender Aktivität gegenüber Gott und dem Nächsten befähigt: Gott gibt dem Menschen, so dass dieser Gott und anderen Menschen geben kann. Der Mensch, der aus sich heraus ganz Mängelwesen ist – ein Nichts –, kann durch Gottes Sich-Geben selbst übervoll geben. Im Kleinen Katechismus beschreibt Luther dieses Beziehungsnetz wie folgt: „Ich glaub das mich got geschaffen hatt sampt allen creaturen, mier leyb und seel, augen oren und alle gelider, vernunfft und alle synn gegeben hat und noch erhelt, darzu kleyder und schuch, essen und trincke, hausz und hoff, weyb und kind, acker, vihe und all guter mit aller noturff und narung dazu leybs und lebens reychlich und teglich versorget, wider alle farlichkeyt beschirmet und vor allem ubel behüt und bewaret und das alles ausz lauter veterlicher göttlicher gütte und barmhertzigkeit on alle mein verdienst und wirdigkeit desz alles ich im zu dancke und zu loben und dar für zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gwiszlich war.“449 Wie alle anderen Geschöpfe, so steht auch der Mensch aus sich heraus als ein Nichts vor Gott, da Gott den Menschen wie alle anderen Geschöpfe durch sein Wort ex nihilo geschaffen hat.450 Entsprechend steht der Mensch bereits als solcher in Beziehung zu Gott. Luther kann diesen Sachverhalt in der großen Genesisvorlesung so ausdrücken, dass mit der Schaffung des Menschen die Schöpfungsordnung – oder, wie Luther auch sagt, die Stiftung451 – der Kirche mitgegeben ist, an der prinzipiell alle Menschen vor und nach dem Sündenfall teilhaben. Die Schöpfungsordnungen stellen laut Luther nicht primär Handlungsfelder des Menschen dar und sie sind erst recht nicht in den Ersten Artikel eingeschriebene und damit vergötzte spätmittelalterliche Gesellschaftsordnungen. Vielmehr markieren sie Orte, an denen und durch die Gott ununterbrochen in ausgezeichneter Weise so am Menschen handelt, dass dieser empfangend zu eigener Handlung ermächtigt wird. Luther selbst meint, das
WA 30 I, 247, 20–248, 15. Siehe zu diesem Text auch die präzise und ergiebige Interpretation von Bayer, Martin Luthers Theologie, 148–157. 450 Siehe dazu auch Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 66. 451 Siehe auch WA 26, 504, 30: Luther entwickelt auch im Rahmen seines „Bekenntnisses“ seine Lehre von den Schöpfungsordnungen oder Stiftungen. 449
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vor dem Fall Kirche und Ökonomie und nach dem Fall die Politik als Gottes Stiftung eingesetzt wurden.452 Die Kirche als Schöpfungsordnung oder als Stiftung bezeichnet somit nicht die einer bestimmten, positiven Religion zugeordnete Institution. Vielmehr ist sie als „Kirche ohne Mauern“453 zu fassen, die deshalb besteht, weil alle Menschen von Gott ins Leben gerufen sind. Ins Leben wird der Mensch gerufen „ausz lauter veterlicher göttlicher gütte und barmhertzigkeit on alle mein verdienst und wirdigkeit.“ Die Existenz des Menschen wird somit als reine Gabe Gottes charakterisiert, die sich allein Gottes allmächtig-liebendem Willen verdankt, während der Mensch sich rein passiv, „on alle mein verdienst und wirdigkeit“, von Gott her empfängt.454 Daher ist es sachangemessen, dass Luther nicht nur zur Bestimmung der Schöpfungswirklichkeit allgemein, sondern im Besonderen zur Bestimmung der Wirklichkeit des Menschen eine Terminologie gebraucht, die ansonsten aus der Rechtfertigungslehre vertraut ist: „on alle mein verdienst.“455 Luther qualifiziert die Grundstruktur des Empfangens dadurch weiter, dass dem Menschen seine Existenz „on alle mein wirdigkeit“ gegeben wird: Neben rechtfertigungstheologischer Terminologie benutzt Luther in seiner Schöpfungslehre wiederum die Terminologie aus der Abendmahlslehre und führt damit schon rein sprachlich die enge epistemologische und ontologische Verbindung beider loci vor Augen. Zugleich betont der zitierte Text, dass Gott dem Menschen nicht nur seine pure Existenz gibt. Vielmehr verleiht er ihm sogleich eine bestimmte Form und stellt ihn in ein umfassendes innerweltliches Bezie Siehe dazu grundlegend Hans G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik (Ethik im Theologischen Diskurs 2), Berlin 2007, bes. 102–114 u. ö. und Brian Brock, Why the Estates? Hans G. Ulrich’s Recovery of an unpopular Notion, in SCE 20.2 (2007), 179–202. 453 WA 42, 79, 4: „Ecclesia sine muris“. Siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 111–128. 454 Siehe dazu auch Schwanke, Creatio ex nihilo, 93 f. 455 Dieselbe Strategie verwendet Luther in seiner vielleicht berühmtesten Definition der menschlichen Person, die auf denselben Sachverhalt abzielt. In der Disputatio de homine bestimmt Luther den Menschen im Anschluss an Paulus so, dass „der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt wird.“ (zitiert nach LDStA 1, 669, 3 f.) Damit ist nicht nur darauf verwiesen, dass der Mensch nach dem Fall durch den Glauben zum Heil kommt, sondern es ist vielmehr in ontologischer Hinsicht darauf abgezielt, dass der Mensch seit seiner Erschaffung „durch den Glauben“ – und das heißt hier: im reinen Empfangen von Gott her – existiert, siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 91, und sachlich parallel auch WA 42, 64, 20–26. 452
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hungsnetz hinein. So ist sich der Mensch nur in leibseelischer Vermitteltheit präsent, da Gott „mier leyb und seel, augen oren und alle gelider, vernunfft und alle synn gegeben hat.“ In Übereinstimmung mit seinem Verständnis der Heilsordnung und in entschiedener Differenz zur platonisch eingefärbten Anthropologie seiner Gegner im Abendmahlsstreit führt Luther außen und innen – Leib und Seele, Vernunft und alle Sinne – gleichermaßen als gute Schöpfungsgaben auf, die in ihrer irreduziblen Verwiesenheit aufeinander zum Menschsein gehören (siehe dazu auch Drittes Kapitel, 2.1.3.). Der Mensch kommt von Anfang als leibseelische Einheit in den Blick und damit als eine solche Entität, die in Entsprechung zu Luthers gesamter Metaphysik jenseits der Alternative eines Dualismus von Geist und Körper einerseits und eines naturalistischen Reduktionismus andererseits steht. In dieser leibseelischen Einheit steht der Mensch sowohl in seinem Verhältnis zu Gott wie in seinem Verhältnis zur Welt und zu sich selbst. In terminologischer Hinsicht unterscheidet Luther dabei meist die Seele und den Geist, die für die Beziehung des ganzen Menschen zu Gott stehen, von Vernunft und allen Sinnen, mit denen der ganze Mensch in seinem Weltverhältnis steht.456 Dass die Seele wesentlich mit dem Leib des Menschen verbunden ist, arbeitet Luther in seinen Abendmahlsschriften auch dadurch heraus, dass der Mensch mit Mund und Herz gleichermaßen am Abendmahlsgeschehen beteiligt ist, als leibseelische Einheit versöhnt wird und auch mit seinem Leib am zukünftigen Heil Anteil gewinnen wird.457 Daher gilt auch für den Menschen, was oben bereits für die Schöpfung als Ganze festgestellt wurde (siehe Drittes Kapitel, 2.2.2.1.): Wenn der Mensch als geistlich oder als fleischlich bezeichnet wird, so ist damit nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich im Menschen abgezielt, etwa auf ein höheres Seelenvermögen, den Geist, dem die niedrigen, körperorientierten Seelenvermögen oder der Körper selbst als Fleisch entgegengestellt werden. Vielmehr gilt, dass jeweils der ganze Mensch in seinen Beziehungen agiert und mit geistlich und fleischlich die Art bezeichnet wird, wie der Mensch als ganzer Mensch mit Gott und mit der Schöpfung umgeht: in einer Weise, die eine angemessene Antwort auf das Wort Gottes ist, oder auf selbstsüchtige Weise.458 Siehe dazu auch Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 163–195, zusammenfassend 194 f. 457 Siehe dazu WA 23, 179, 7–181, 16. 458 Siehe dazu auch Joest, Ontologie, 196–202 und Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 69–71, sowie 69, Anm. 35. 456
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Als leibseelische Einheit kann der Mensch nur existieren, wenn beständig für Gaben gesorgt sind, die ihn als solche erhalten. Wiederum in Übereinstimmung mit seinem Verständnis der Heilsordnung betont Luther, dass Gott den Menschen schafft und erhält durch äußere Vermittlung als die „hand, rohre und mittel“,459 durch die Gott dem Menschen alles Gute gibt. Das beginnt bereits damit, dass Gott den Menschen mithilfe von dessen Eltern schafft460 und auch als Erwachsenen von seinen Mitgeschöpfen abhängig sein lässt. Entsprechend nimmt unser Text den Menschen von Anfang an nicht als isoliertes Individuum in den Blick, sondern als relationales Geschöpf: Gott hat „mich geschaffen sampt allen creaturen“. Die Mitgeschöpfe sind dem Menschen gute Gaben, und Luther führt diese gute Gaben in differenzierter Aufzählung auf: „kleyder und schuch essen und trincke, hausz und hoff, weyb und kind, acker, vihe und all guter.“ Die auf den Menschen hingeordnete Schöpfungswirklichkeit der Gabe kommt damit aus der Empfängerperspektive in den Blick und ist auf dreifache Weise gekennzeichnet: Erstens betont der Text bereits durch seine sprachliche Verfasstheit – durch die Länge des Satzes und die Aufzählung der einzelnen Gaben – die Überfülle dessen, was dem Menschen gegeben wird. Zweitens verdeutlicht der Text, dass die Gabenfülle Gottes sich im Alltäglichen und Elementaren der äußeren Welt zeigt und damit in solchem, das der Mensch nach dem Sündenfall durch Gewohnheit zu übersehen geneigt ist. Drittens macht gerade die Genesisvorlesung deutlich, dass der Mensch, der aus sich heraus Mängelwesen ist – ein Nichts –, von Anfang an in dieser Gabenfülle hineingestellt wird mit dem Befehl des guten Gebotes Gottes, aktiv mit dieser Gabenfülle umzugehen.461 Als leibseelisches Wesen ist er von Anfang an in die Schöpfungsordnung der Ökonomie hineingestellt,462 welche zum einen seine Verbundenheit mit Pflanzen, Tieren und anderen Menschen bezeichnet. Zugleich beinhaltet die Ökonomie, dass dem Menschen eine Sonderstellung gegenüber allen anderen Geschöpfen zukommt, da nur dem Menschen von Gott die Gottebenbildlichkeit verliehen wurde.463 Die Gottebenbildlichkeit des Menschen WA 30 I, 136, 9. Siehe dazu WA 44, 648, 21–26, und Schwanke, Creatio ex nihilo, 95.151. 461 Siehe dazu WA 42, 49, 20 f. 462 Siehe dazu WA 42, 79, 3–6, und dazu Bayer, Martin Luthers Theologie, 128– 134. 463 Siehe hierzu und zum Folgenden WA 42, 41, 37–53, 30, sowie Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 67–69. 459
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besteht nicht in einer einzelnen Qualität wie der Vernunft, die der Mensch besitzt und in der er den Tieren überlegen ist. Vielmehr besteht die Ebenbildlichkeit in der besonderen Beziehung, die von Gott her zwischen Gott und Mensch etabliert ist und die auf alle anderen Beziehungen des Menschen ausstrahlt, so dass der Mensch als Ebenbild Gottes in allen Beziehungen, in denen er steht, nach Gottes Willen handeln kann. Die besondere Beziehung Gottes zum Menschen findet darin ihren Ausdruck, dass Gott einen eigenen Ratschluss fasste, als er den Mensch erschuf. Sie führt dazu, dass der Mensch nicht nur zum irdischen, sondern auch zum ewigen Leben bestimmt ist.464 Zu dieser besonderen Beziehung gehört auch, dass der Mensch mit Vernunft und Wille ausgestattet wird, mit denen er seine verschiedenen Beziehungen auf die ihm eigene Weise gestalten kann. Aspekte dieser Gestaltung bestehen nicht nur darin, dass der Mensch Gott loben und preisen soll, sondern auch darin, dass er dazu beauftragt ist, in Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen Herrschaft über die Welt auszuüben und sich und die ganze Wirklichkeit dabei zu genießen. Der Gabe folgt somit die Aufgabe, dem schaffenden Wort Gottes die Antwort des Menschen: „desz alles ich im zu dancke und zu loben und dar für zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin.“ Ehe aber die Aktivität des Menschen näher charakterisiert wird, sei der Übergang von Passivität zu Aktivität dadurch genauer in den Blick genommen, dass Luthers Vermögenstheorie der menschlichen Seele skizziert sei.
2.2.2.2.2. Herz, Wille, Vernunft, Handlung: Die Vermögenstheorie des Menschen Der Mensch in seiner ganzen Existenz ist Antwort auf Gottes schöpferisches Wort. Er steht bereits durch seine Existenz selbst in der durch Gottes Anrede eröffneten Gottesbeziehung und ist insofern „responsorische“465 Existenz. Um das Responsorische genauer zu fassen, ist darauf zu verweisen, dass Luther den Menschen als leibseelische Einheit in den Blick nimmt und zugleich verschiedene Seelenvermögen des Menschen unterscheidet. So unterscheidet er das Personenzentrum oder das Selbst des Menschen, das er wahlweise das Herz, das Gewissen oder den Willen des Menschen nennt, von seiner Vernunft. Das Herz ist so verfasst, dass Siehe WA 42, 42, 21–34. und WA 42, 60, 23 f. Siehe dazu Härle, „Hominem iustificari fide“, 356 f.
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es von außen bestimmt wird, von Gottes Wort: Durch Gottes Wort wird es zu Gott hingerissen.466 Das Personenzentrum des Menschen ist somit exzentrisch verfasst. Oder, mit Luthers Auslegung des Ersten Gebotes aus dem Großen Katechismus gesprochen, ist der Mensch so verfasst, dass er sein Herz je an jemandem hängt, an Gott oder, nach dem Sündenfall, auch an einem Abgott.467 Diese Beziehung des Herzens auf dasjenige, an dem es hängt, wird durch das Wort bewirkt und vollzieht sich als Glaube; nach dem Sündenfall vollzieht sich diese Beziehung auch im Widerspruch zum Wort als Unglaube. Dem Glauben kommen zum einen bestimmte Inhalte und zum anderen eine ihm wesentliche Vertrauensdimension zu. So wird dem Menschen durch Wort und Geist gewiss, dass die Wirklichkeit in Wahrheit ein durch Gottes dreifaches Sich-Geben initiiertes Gabegeschehen ist, das darin seinen Höhepunkt findet, dass dem Menschen das Wort predigt wird und er so zum Glauben kommt. Gottes Wort bestimmt das Herz des Menschen somit dadurch, dass dem Menschen die Wahrheit über die Wirklichkeit offenbart und durch den Geist Gewissheit über diese Wahrheit geschenkt wird. Die Gewissheit des Herzens umfasst jedoch nicht nur diese gleichsam kognitive Dimension, sondern zugleich (und davon nicht zu trennen) eine gleichsam existentielle, das von Luther stark betonte Vertrauen. Denn die Wahrheit, derer das Herz gewiss wird, bringt nicht nur Informationen über die Wirklichkeit mit sich, sondern verortet und orientiert damit auch das Leben des jeweiligen Menschen als Ganzes in dieser Wirklichkeit. Die von Gott offenbarte Wahrheit der Wirklichkeit stellt einen Fall von Orientierungswissen dar, das demjenigen, dem es offenbart wird, ein Wissen präsentiert, bei dem das Gewusste zugleich das Gute für das ganze Leben von demjenigen ist, dem es offenbar wird.468 Dadurch wird der Mensch selbst in die gute Wirklichkeit mit einbezogen, die ihm offenbar wird. Entsprechend weiß das Herz nicht nur von dem sich gebenden Gott, sondern es glaubt und vertraut ihm auch im Leben und im Sterben als demjenigen Guten, von dem her es sich selbst und alles Gute empfängt. Im Anschluss an den Großen Katechismus formuliert: Es wendet sich entsprechend in aller Not an ihn und erhofft von ihm alles Gute.469 Indem es das tut, steht es in der rechten Gottesbeziehung. Es erfüllt das Erste Gebot. Siehe dazu auch Joest, Ontologie, 219–228. Siehe dazu WA 30 I, 133, 1–8. 468 Siehe dazu auch Herms, Luthers Auslegung, 67–70. 469 Siehe WA 30 I, 133, 9–16. 466 467
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Luther betont, dass der Mensch sein eigenes, exzentrisches Personenzentrum weder durch seinen Willen noch durch seine Vernunft aktiv beeinflussen kann.470 Vielmehr gilt umgekehrt, dass der Wille des Menschen oder sein Herz demjenigen folgt, was ihm durch Offenbarung als gute Wirklichkeit gewiss geworden ist. Coram Deo ist der Wille des Menschen ganz und gar unfrei471 und wird jeweils in toto von demjenigen Guten bestimmt, das das Herz bestimmt. Auch die Vernunft ist nicht in der Lage, den Menschen zu Gott zu führen.472 Die Vernunft scheitert somit nicht nur daran, aus sich heraus in spekulativer Manier in angemessener Weise Gott zu bestimmen (siehe dazu oben, Drittes Kapitel, 2.1.3.1.1.). Vielmehr scheitert sie auch daran, durch Einsicht den Willen des Menschen auf Gott hin zu bewegen oder gar dem Herz des Menschen Vertrauen in Gott zu ermöglichen. Entsprechend gilt, dass die Vernunft der Grundorientierung des Herzens nachdenkt und dabei von demjenigen Willen bestimmt wird, der von der Grundorientierung des Herzens bestimmt wird. Das Handeln des Menschen schließlich vollzieht sich in den Bahnen, die ihm Herz und Vernunft vorgeben. Denn das Handeln des Menschen ist geprägt durch ein Gesamtverständnisses der Wirklichkeit als des Guten, welches den Möglichkeitsraum präsentiert, innerhalb dessen er handeln kann. Zudem wird das Handeln des Menschen von demjenigen Willen geleitet, welcher selbst durch das Gesamtverständnis der Wirklichkeit geprägt ist. Somit vollzieht Luther eine klare Hierarchisierung der von ihm bedachten Vermögen in drei Ebenen: 473 Das Herz oder der Wille als das Personenzentrum des Menschen ist selbst exzentrisch verfasst und wird von derjenigen Größe bestimmt, auf die es glaubend bezogen ist (erste Ebene); was diejenige gute Wirklichkeit ist, an der sich Denken und Handeln orientiert, wird dem Menschen von außen offenbart. Als so oder so bestimmtes bestimmt das Herz die Vernunft des Menschen (zweite Ebene). Das Handeln des Menschen (dritte Ebene) wird geleitet von derjenigen Einsicht der Vernunft, die selbst wiederum vom Herz des Menschen geleitet werden. Luthers Handlungstheorie ist somit wesentlich güterethisch geprägt, wobei das höchste Gut geoffenbart werden muss. In die Güterethik sind 470 Siehe zum Folgenden auch Joest, Ontologie, 203–210, Herms, Luthers Auslegung, 66–73 und Bayer, Martin Luthers Theologie, 166–173. 471 So auch WA 26, 502, 35–503, 6 und WA 42, 64, 20–36. 472 Siehe dazu auch Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 75. 473 Wieder einmal steht Luther hier in einiger Nähe zu Grundeinsichten Heideggers (siehe dazu oben, Erstes Kapitel, 1.1.).
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tugendethische Dimensionen integriert, da der Mensch als Mittel und Rohr der Güter Gottes eine Haltung des Empfangens und Weitergebens guter Gaben einüben soll. Die pflichtenethischen Aspekte sind selbst als Korrektive dessen wiederum dahinein integriert. Passivität und Aktivität des Menschen sind somit folgendermaßen aufeinander bezogen: Der Mensch kann sein Herz nicht aktiv an etwas hängen. Vielmehr erleidet er in Passivität, dass sein Herz bestimmt wird. Mit der berühmten Metapher Luthers gesprochen: Der Mensch ist ein Reittier, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird.474 Unabhängig von der Frage, wodurch sein Herz jeweils in materialer Hinsicht bestimmt wird, gilt aber in formaler, dass der jeweilige Reiter Herz oder Wille und damit auch Vernunft seines Reittiers in aktiven Gebrauch nimmt, so dass der Mensch der jeweiligen Bestimmtheit mit all seinen Vermögen folgt und auch jeweils entsprechend handelt. Das Bestimmtwerden des Selbst durch Gott ist somit eine Passivitätserfahrung, die zugleich das Selbst mit allen seinen Vermögen in ihren Dienst nimmt: in diejenige „fremdbedingte Passivitätsaktivität“475 , die menschliches Handeln kennzeichnet (siehe Drittes Kapitel, 1.4.3. und Drittes Kapitel, 2.2.2.3.). Das heißt erstens, dass das Selbst so bestimmt wird, dass es selbst an seiner Bestimmtheit beteiligt ist. Dazu gehört auch, dass der Mensch durch seinen entsprechend bestimmten Willen seiner Bestimmtheit zustimmt. Er handelt somit in Übereinstimmung mit seinem eigenen Willen und nicht etwa gegen ihn.476 Das heißt zweitens, dass das Selbst zu höchster Aktivität angereizt wird, da das das Selbst bestimmende Wort Gottes eine Macht ist, die dasjenige, was es bestimmt, mithilfe des Geistes zu machtvollem Handeln ermächtigt. Gott gibt dadurch dem Menschen an seiner guten Schöpfermacht auf ihm gemäße Weise Anteil.477 Vernunft und Wille, die im Gottesverhältnis passiv und unfrei sind, werden durch Gottes Aktivität zu aktivem, freiem Gebrauch ermächtigt: „Die passive Konstitution des Selbstbewusstseins und aller Seelenvermögen befähigt den Menschen dann zur aktiven cooperatio cum Deo.“478 Aktiver Kooperator Gottes ist der Mensch, drittens, indem er Gott mithilfe der Kraft, die Gott ihm verleiht, dankt und lobt, und indem er in der Welt auf eine allein dem Wohl des Nächsten verpflichtete Siehe WA 18, 635, 12–30. Dalferth, Mere Passive, 59. 476 Siehe dazu auch Joest, Ontologie, 220 f. und Härle, „Hominem“, 354 f. 477 Siehe dazu auch Schwanke, Creatio ex nihilo, 114. 478 Härle, „Hominem“, 342. 474
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und damit weltgemäße und sachgerechte Weise handelt. Denn sein Herz wird ganz von Gott bestimmt und er vertraut Gott, so dass er in seinem Handeln von dem Versuch entlastet ist, sein eigenes Heil zu erwirken. Gerade weil im Glauben alle Fragen des Heils geklärt sind, kann sich der Mensch ganz und frei dem Wohl des Nächsten widmen und ihm die guten Gaben weitergeben, die er selbst empfängt.479 Luther reformuliert diese Einsichten auch anhand der Terminologie der Gottebenbildlichkeit. Als Ebenbild Gottes steht der Mensch in einer besonderen Beziehung zu Gott, durch die der Mensch in allen Beziehungen, in denen er steht, zu solcher eigenen Aktivität gelangt, die der Beziehung zu Gott entspricht. Das wird bereits durch die Definition angedeutet, durch die Luther die Gottebenbildlichkeit bestimmt: „Ich jedenfalls verstehe die Gottebenbildlichkeit wie folgt: [. . .] dass er [Adam] nicht allein Gott erkannte und ihm glaubte, dass er gut sei, sondern auch, dass er sein Leben auf göttliche Weise lebte, das heißt, das er ohne Furcht vor Tod und allen Gefahren und dankbar gegenüber der Gnade Gottes handelte.“480 Damit befand sich Adam im Paradies, da das Paradies keinen abgesonderten Ort im Raum bezeichnet, sondern die Qualität der Beziehungen, in denen der Mensch steht,481 also die Beziehung zu Gott, zur Umwelt, zu den Mitmenschen und zu sich selbst. Von Gottes Wort als Gottes Ebenbild geschaffen steht der Mensch in einer angstfreien, vertrauensvollen Beziehung zu Gott, in der er um Gott und seine Herrlichkeit weiß und Gott für alle empfangenen Gaben lobt und dankt. Lob und Dank Gottes vollziehen sich in expliziter Form am Sabbat482 und in der Kirche. Dort lässt sich der Mensch durch das Wort von Gott ansprechen und spricht in Gebet und Glauben zu Gott. In Wort und Antwort wird deutlich, dass der Mensch für das ewige Leben geschaffen ist. Lob und Dank vollziehen sich aber auch dann, wenn der Mensch in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes und damit in rechter Weise mit seiner Umwelt, seinem Nächsten und sich selbst umgeht: so, dass er verantwortlich die ihm anbefohlenen guten Gaben verwaltet und genießt.
Siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 256–261. WA 42, 47, 8–11: „Ergo imaginem Dei sic intelligo: [. . .] quod non solum Deum cognovit et credidit eum esse bonum, sed quod etiam vitam vixerit plane divinam, hoc est, quod fuerit sine pavore mortis et omnium pericolum, contentus gratiam Dei.“ (Übers. M. W.) 481 Siehe WA 42, 67, 27–41. 482 Zu Luthers Theologie des Sabbats siehe WA 42, 60, 1–62, 25. 479
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Die Beziehung zur Umwelt und damit das Stehen in der Ökonomie als der zweiten Stiftung Gottes neben der Kirche ist durch den Herrschaftsauftrag gekennzeichnet, den Gott dem Menschen gibt. Er vollzieht sich in der Form eines Gebotes Gottes, wobei das Gebot vor dem Sündenfall ein solches ist, das der Mensch als gute Weisung Gottes erkennt und leicht und gerne befolgt.483 Mit dem Herrschaftsauftrag kommt eine Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt in den Blick, in der der Mensch zwar aus seiner ihm als Gabe gegebenen Umwelt herausgehoben wird und als König über die Schöpfung diese für seinen Nächsten und für sich benutzen soll.484 Luther betont aber, dass diese Herrschaft im Gegensatz zur sündigen Umgangsweise mit der Umwelt gerade nicht auf Ausbeutung oder zum-Bestand-Machen der Wirklichkeit basiert.485 Vielmehr dient sie Mensch und Umwelt gleichermaßen zum Besten, da sie sich als von Gott verliehene Herrschaft in der Form des Dienens und Hütens vollzieht. In Übereinstimmung mit Luthers Verständnis der Heilsordnung und der ihr zugrunde liegenden Metaphysik bedeutet der Herrschaftsauftrag für den Menschen, dass er sich nicht von der Welt ab-, sondern ihr zuwenden soll.486 Das entspricht somit Luthers Grundsatz, dass nicht der Gegenstandsbereich, sondern die Art des Umgangs mit ihr zur Bewertung des geistlichen oder fleischlichen führt, und unterläuft auf diese Weise die mittelalterliche Unterteilung von heiligen und profanen Lebensbereichen. Denn der Herrschaftsauftrag betont, dass der Mensch gerade im profanen einer gottgemäßen Arbeit nachzugehen hat; wie es im Großen Katechismus heißt: „Ists nicht ein trefflicher rhum, das zuwissen und sagen: wenn du dein tegliche hausarbeit thuest, das besser ist denn alle Monche heilickeit und strenges leben?“487 Indem der Mensch auf diese Weise dem Gebot und Willen Gottes folgt, sind sein Wille und seine Vernunft gegenüber der Welt relativ frei. Denn wenn der Mensch durch Gottes Wort auf das rechte Ziel gottgemäßen Handelns ausgerichtet und von Gottes Wort zu liebevollem Handeln ermächtigt ist, so sind sein Wille und seine Vernunft frei dazu, gegenüber der Welt die Mittel und Wege zu erforschen und festzulegen, auf denen das geschehen soll.488 Siehe WA 42, 82, 23–83, 31 sowie Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 81 f. Siehe WA 42, 49, 18–28. 485 Siehe dazu WA 42, 50, 25–32, und auch Schwanke, Creatio ex nihilo, 112–115. 486 Siehe dazu auch Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 84 f. und Bayer, Martin Luthers Theologie, 128 f. 487 WA 30 I, 153, 14–16. 488 Siehe WA 42, 64, 26–36, und Joest, Ontologie, 319 f. 483
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Zur rechten Herrschaft entwickelt die Gott dienende Vernunft die säkularen Wissenschaften, die Mathematik und die Künste, so dass Adam über ein umfassendes Wissen über seine Umwelt verfügte.489 Auch auf diese Weise stand er in einer Beziehung zu seinem Land und seinen Tieren, das sich in beiderseitigem Nutzen vollzog: Er lenkte Land und Tiere durch Worte und leichte Arbeit und drückte in seiner Arbeit die Freude über Gott aus,490 so dass die Tiere Adam gerne dienten.491 Seinen Umgang mit der Umwelt vollzieht Adam in der und für die menschliche Gemeinschaft. In all seinem Tun gegenüber der Umwelt ist Adam Eva zur Seite gestellt, die – obgleich selbstredend dümmer als der Mann492 – ebenso wie der Mann an der Gottebenbildlichkeit teilhat. Mit ihr befindet sich Adam dadurch in vollendeter Gemeinschaft, dass beide dem Willen Gottes folgend und damit untereinander eines Willens sind.493 Sie sind auch eines Fleisches: In Übereinstimmung mit seinem Verständnis des Menschen als leibseelischer Einheit betont Luther mehrfach, dass auch Sexualität und Fortpflanzung vor dem Fall Handlungen darstellten, in denen Gott die Ehre gegeben wurde.494 Zugleich ist damit deutlich, dass dem Menschen nicht nur andere Menschen „hand, rohre und mittel“495 Gottes sind, durch die er alles Gute von Gott empfängt, sondern dass er selbst auf verschiedene Arten „hand, rohr und mittel“ Gottes ist, um die guten Gaben Gottes anderen Menschen weiterzugeben. Luther stellt an verschiedenen Stellen heraus, dass der Mensch nicht nur Knoten- und Durchgangspunkt der Gabeökonomie Gottes ist, der im Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes von Gott und den Menschen Gutes empfängt und anderen weitergibt, sondern dass er selbst dabei voller Freude über die Fülle der Gaben ist und diese ausdrücklich genießen soll und genießt. Letztlich ist es Gott selbst, der durch das Korn zum Menschen sagt: „Sei fröhlich in Gott, iss, trink, gebrauche mich und diene mit mir dem Nächsten.“496 Sein Selbstverhältnis ist davon bestimmt, dass er im Vertrauen auf Gott angefüllt ist von der Fülle WA 42, 49, 29–38. Siehe WA 42, 78, 29–41. 491 Siehe WA 42, 58, 37 f. 492 Siehe zur Charakterisierung Evas WA 42, 51, 33–52, 22. 493 Siehe WA 42, 50, 20. 494 Siehe WA 42, 53, 32–35 und WA 42, 59, 26–29. 495 WA 30 I, 136, 9. 496 WA 46, 494, 15 f., zitiert nach Bayer, Martin Luthers Theologie, 100. 489
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der Gaben, dass er in Dankbarkeit und Freude um sie weiß, und dass er sie zur höheren Ehre Gottes genießt. Voll des Genusses der Fülle des Wortes Gottes und der der irdischen Gaben kann der Mensch anderen Menschen dann weitergeben, was diese bedürfen.497 Zweitens betont Luther, dass die Gabenontologie nach dem Fall zwar noch besteht, dass der Mensch ihr gegenüber aber blind geworden ist: „Aber solche Gabe ist durch Adams fall verfinstert [. . .] worden“498 , wie es im großen Bekenntnis heißt. Entsprechend kommt dem Menschen auch die Gottebenbildlichkeit nur noch in eingeschränkter Weise zu, da diese zwar von Gott aus aufrechterhalten wird, der Mensch aber in allen seinen Beziehungen auf eine ihr nicht gemäße Weise handelt. Das Werk Jesu Christi führt dazu, dass die Menschen wieder Zugang zur Gaben Damit dürfte deutlich sein, dass Luther in seiner Schöpfungstheologie das umfassende Bild einer relational-kommunikativen Metaphysik der Gabe entwirft, die im Rahmen des vorliegenden Buches als Gegenbild zu einem von der Technik bestimmten Verständnis der Wirklichkeit als Bestand dient. Dies gilt auch dann, wenn etwa im Hinblick auf die von Luther als ganz selbstverständlich angesetzte Dummheit Evas unübersehbar ist, dass nicht alle Details von Luthers Theologie gleichermaßen für unsere Gegenwart zu übernehmen sind. Die zentralen Einsichten Luthers hingegen können – in anachronistischer Terminologie, die sachliche Brücken zu schlagen versucht – als theologische Variante der reflexiven Lesart Heideggers begriffen werden, die die Aktivität des Menschen als positives Moment mit einbegreift. Sie stellt somit gerade nicht eine Variante der revolutionären Lesart dar, die der Passivität und dem Rückzug aus der Welt in Gelassenheit das letzte Wort überlässt (siehe I.1.5.): Denn Luther verzichtet keineswegs darauf, den Menschen als Mittelpunkt der Welt darzustellen und ihn im Rahmen des ihm gemäßen Herrschaftsauftrags in eine aktive Sonderstellung gegenüber dem Rest der Schöpfung einzusetzen. Zugleich divergiert Luther von dem technischen Verständnis der Wirklichkeit als Bestand dadurch, dass nicht der Wille des Menschen als Wille zum eigenen Willen letztes Movens der Wirklichkeit ist, sondern der Wille Gottes, der den Menschen leitet. Er führt dazu, dass der Mensch die Wirklichkeit nicht als verfügbaren Bestand ansieht, sondern als Fülle der Gaben, die ihn anreden und die ihm anvertraut sind, damit er verantwortlich mit ihr umgehen möge und sie als Gabe für andere Menschen weitergeben kann. Diese Differenz wird in besonderer Weise am Sabbat explizit, der deutlich macht, dass der Mensch nicht nur frei für die Herrschaft über die Schöpfung ist, sondern auch frei dazu, seine Herrschaft zu unterbrechen und sich in konzentrierter Form dem Geber derjenigen Gaben zuzuwenden, die der Mensch dann als cooperator Dei verwaltet. Damit ist zugleich auf eine weitere grundlegende Differenz verwiesen, die Luthers Wirklichkeitsverständnis von dem des technischen Zeitalters trennt: Während Luthers Gabenontologie eine Ontologie der Fülle ist, die der Mensch genießen soll und kann, ist die des technischen Zeitalters eine des Mangels, bei der der Mensch blind ist gegenüber dem Guten, das ihm gegeben ist. Wiederum gilt also: Non in obiecto, sed in usu spiritus est. 498 WA 26, 505, 41. 497
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fülle erhalten und damit ihre Gottebenbildlichkeit vollständig restituiert wird.499 Doch bevor Luthers Sicht auf Fall und Versöhnung skizziert werden, sei ein letzter und zugleich entscheidend wichtiger Zug an Luthers Schöpfungslehre herausgearbeitet. Er entspricht dem zentralen Charakteristikum von Luthers Lehre von der immanenten Trinität: Luther betont überwältigend stark das Präsentische der Schöpfung, das die Betonung der wirkmächtigen Gegenwart Gottes ebenso umfasst wie die Betonung, dass Schöpfungsglauben Glauben des gegenwärtigen Menschen an ein gegenwärtiges Geschehen ist. Schöpfung und Erhaltung sind bei Luther aufs engste verbunden.
2.2.2.3. Gott ist gegenwärtig: Die Allgegenwart des allmächtigen Vaters „Ich glaub das mich got geschaffen hatt sampt allen creaturen, mier leyb und seel, augen oren und alle gelider, vernunfft und alle synn gegeben hat und noch erhelt“: So wie in diesem Zitat aus dem Kleinen Katechismus, so verbindet Luther in einer Vielzahl von Stellen Schöpfung und Erhaltung aufs engste miteinander.500 Im Abschnitt aus dem Bekenntnis von 1528 identifiziert Luther sogar Schöpfung und Erhaltung in dem präsentisch gefassten Sich-Geben des Vaters, wenn er schreibt, dass „der Vater sich uns mit hymel und erden sampt allen creaturen gibt, das sie uns dienen und nütze sein müssen.“ Der Sachgrund für diese enge Verbindung von Schöpfung und Erhaltung liegt darin, dass das Geschöpf nicht nur einmal dann und damals von Gott in seiner liebenden Allmacht ex nihilo geschaffen wurde, sondern dass es von seiner Erschaffung bis zu seinem Vergehen davon abhängig ist, dass Gott es in seiner Allmacht vor dem Nichts bewahrt und ihm seine Existenz und Kraft zum Handeln schenkt.501 Gott schafft seine Geschöpfe nicht als autonome Wesen, die nach ihrer Erschaffung aus sich heraus existieren könnten, sondern als solche, die aus sicher heraus Mängelwesen sind und daher bleibend von seiner Allmacht abhängen.502 Siehe WA 42, 48, 11–16. Siehe zum Folgenden auch Löfgren, Die Theologie der Schöpfung, 37–45. 501 Siehe dazu auch Juntunen, Luther and Metaphysics, 150 f. und Schwanke, Creatio ex nihilo, 139–148. 502 Siehe dazu auch Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 8 f. Auch wenn Luther somit das Präsentische und das Aktuale an der Schöpfung betont, so ist seine Schöpfungslehre zugleich nicht aktualistisch auf den jeweiligen Augenblick fixiert. 499
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Wiederum im Gegensatz zu der Position seiner Gegner im Abendmahlsstreit (siehe Drittes Kapitel, 2.1.3.) betont Luther somit, dass Gott den Menschen und alle Schöpfung schafft und erhält, indem er ihnen beständig gegenwärtig ist. Zentrale Dimensionen der Gegenwart Gottes seien als Auslegung des folgenden Zitats aus der Abendmahlsschrift Dass die Wort ‚Dies ist mein Leib‘ noch stehen, wider die Schwarmgeister entwickelt: „Die Göttliche gewalt aber mag und kann nicht also beschlossen und abgemessen sein. Denn sie ist unbegreiflich und unermeslich, ausser und uber alles, das da ist und sein kann. Widderumb mus sie an allen orten wesentlich und gegenwertig sein, auch ynn dem geringsten bawmblat. Ursach ist die: Denn Gott ists, der alle ding schafft, wirckt und erhellt durch seine allmechtige gewalt und recht hand, wie unser glaube bekennet. Denn er schickt keine amptleut odder Engel aus, wenn er etwas schaffet odder erhellt, sondern solchs alles ist seiner Göttlichen gewalt selbs eigen werck. Sol ers aber schaffen und erhalten, so mus er daselbst sein und seine creatur so wol ym aller ynnwendigsten als ym aller auswendigsten machen und erhalten. Drumb mus er ja ynn einer iglichen creatur ynn yhrem allerynnwendigsten, auswendigsten, umb und umb, durch und durch, unden und oben, forn und hinden selbs da sein, das nichts gegenwertigers noch ynnerlichers sein kann ynn allen creaturen denn Gott selbst mit seiner gewallt. Denn er ists, der die haut macht. Er ists, der auch die gebeine macht. [. . .] Er machts alles alleine.“503 Luther rekonstruiert die Gegenwart Gottes so, dass sie als eine erregende Dialektik von Transzendenz und Immanenz sichtbar wird.504 Da Gott Gott ist und kein Geschöpf, kann er von keinem Geschöpf „beschlossen und abgemessen“ werden und ist daher „unbegreiflich und unermeslich, ausser und uber alles, das da ist und sein kann.“ Nicht der Mensch kann Gott vermessen, sondern Gott den Menschen.505 Entgegen der Vorwürfe seiner Gegner an ihn und auch entgegen späteren AnfraVielmehr weiß sie ebenso von einem Anfang der Dinge und davon, dass Gott nicht noch eine weitere Erde schaffen will (siehe WA 42, 57, 4–14.), wie von den augenblicksübergreifenden, lebensfreundlichen Rhythmen in der Zeit, die sich etwa in der Unterteilung der Schöpfung in sieben Tage und Nächte realisiert, siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 154. 503 WA 23, 133, 26–137, 17. 504 Siehe dazu auch Werner Elert, Morphologie des Luthertums. Band 1. Theologie und Weltanschauung: hauptsächlich im 16. und 17. Jahrhundert, München 1931, 378–393. 505 Siehe dazu WA 26, 336, 10–15.
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gen aus reformierter Tradition (siehe dazu auch Drittes Kapitel, 1.3.) vergisst Luther also niemals die Freiheit und Überlegenheit, die Gott in seiner Gottheit gegenüber seiner Schöpfung zukommt.506 Zugleich widerspricht es Gottes Gottheit, seiner Majestät, Ehre507 und Gewalt nicht, sondern es entspricht ihr gerade, wenn er „an allen orten wesentlich und gegenwertig ist, auch ynn dem geringsten bawmblat.“ Innerhalb der Dialektik von Transzendenz und Immanenz betont Luther somit die Immanenz Gottes in ausgezeichnetem Maße. Sie vollzieht sich so, dass Gott den Geschöpfen näher kommt als diese sich selber zu kommen vermögen, so „das nichts gegenwertigers noch ynnerlichers sein kann ynn allen creaturen denn Gott selbst.“ Diese Gegenwart Gottes ist für die Kreatur lebensnotwendig, da alle Kreatur bleibend von Gottes gegenwärtiger, schaffender und erhaltender, also alles gebender Allmacht abhängt: „Denn Gott ists, der alle ding schafft, wirckt und enthellt durch seine allmechtige gewalt.“ Ohne diese nahe Macht Gottes würde alles Geschaffene innerhalb einer Stunde vergehen.508 Gottes Allmacht also ist des Menschen Kraft in all seiner Existenz und seinen Handlungen. Daher betont Luther die Allwirksamkeit Gottes: „Er machts alles alleine.“ Gott vollzieht seine allmächtige Allwirksamkeit in der Form seiner Gegenwart in den Geschöpfen, und das erlaubt, die Formulierung aus dem Bekenntnis besser zu verstehen, die besagt, dass „der Vater sich uns mit hymel und erden sampt allen creaturen gibt“: Gott der Vater gibt nicht nur irgendetwas von ihm Verschiedenes, sondern er gibt zugleich auch sich selbst. Geber und Gabe sind zum einen bleibend unterschieden, da Schöpfer und Geschöpf bleibend voneinander unterschieden sind. Zugleich fallen bereits bei Gott dem Vater Geber und Gabe auch zusammen, da die Gabe der Schöpfung nur so erhalten bleiben kann, dass sich Gott der allmächtige Vater selbst in sie hineinbegibt und in ihr alles macht. Genauer gesagt vollzieht sich das Sich-Geben Gottes dergestalt, dass er nicht erst nachfolgend zu seiner Schöpfung hinzutritt, sondern dass er jeweils schon überall präsent ist.509 Damit ist sachlich grundgelegt, was im Zusammenhang der Christologie weitere Aufmerksam506 Siehe dazu auch WA 26, 339, 33–340, 2, sowie Grass, Die Abendmahlslehre, 64, und Jörg Baur, Ubiquität, in: Oswald Bayer, Benjamin Gleede (Hg.), Creator est Creatura. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, Berlin/ New York 2007, 186–302, 210 f. 507 Siehe dazu WA 23, 155, 8–159, 6. 508 Siehe dazu WA 44, 68, 3–6 und Schwanke, Creatio ex nihilo, 147. 509 Siehe dazu WA 23, 141, 11–15.
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keit erfahren wird (siehe Drittes Kapitel, 2.2.4.2.): So wie das Paradies vor dem Sündenfall kein abgegrenzter Ort im Raum war, so ist auch der Himmel kein abgegrenzter Ort im Raum „da oben“. Luther dissoziiert Theologie und Kosmologie. Denn er räumt mit der von seinen Gegnern vertretenen Vorstellung auf, dass es innerhalb oder oberhalb des Kosmos einen eigens umgrenzten Ort geben würde, an dem allein Gott zu finden ist. Vielmehr ist Gott immer schon überall präsent, da der Kosmos nur dadurch existieren kann, dass sein Schöpfer ihn durch seine Gegenwart erhält.510 Auch wenn die Formulierung Luthers, dass Gott alles ohne Amtsleute und Engel alleine macht, in eine andere Richtung zu weisen scheint, so vollzieht sich die Allwirksamkeit Gottes des Vaters bei der Erhaltung der Welt doch nicht als Alleinwirksamkeit, sondern wiederum in vermittelter Gestalt und damit in Übereinstimmung mit Luthers Verständnis der Heilsordnung Gottes.511 Die dialektische Vermittlung vollzieht sich zum einen durch die anderen beiden Personen der Trinität und zum anderen durch Geschöpfe. Beide Vermittlungen sind selbst nochmals auf eigene Weise miteinander vermittelt. Luther betont, dass nicht nur der Vater, sondern auch der Sohn und der Geist und damit die gesamte Trinität gemeinsam auch in der Gegenwart unablässig tätig ist, um die Welt zu erhalten und neues Leben hervorzubringen und zu bewahren.512 Besonders interessant ist die Vermittlung durch den Sohn als das Wort Gottes. Denn dieser handelt als der Schöpfungsmittler so, dass er sich mit denjenigen Geschöpfen vermittelt, vermittels derer Gott wirkt. Als Beispiel verweist Luther auf das Wachsen und Gedeihen eines Kükens in einem Ei.513 Am fünften Tag schafft der dreieinige Gott ein neues Werk, indem er Tiere erschafft. Diese stellen bereits in sich eine eigene Art der Vermittlung von Gottes Werk dar, da sie im Gefolge von Gottes Segen selbst neues Leben ihrer Art hervorbringen: Ein Vogel bringt wiederum einen Vogel hervor. Gott schafft mit den Tieren etwas, vermittels dessen er weitere Tiere schafft, so dass die Tiere bei der Aufgabe Gottes mitarbeiten, neues Leben hervorzubringen. Zugleich vermittelt sich der Siehe dazu auch Baur, Ubiquität, 216. Bekanntlich wird diese Thematik von Luther breit diskutiert in seiner Schrift De servo arbitrio WA 18, 600–787, in der er zu einem ähnlichen Ergebnis kommt wie dem eben angedeuteten; siehe dazu auch Wilfried Härle, Einleitung, in: LDStA, Bd. 1, XXVII. 512 Siehe WA 23, 139, 4–23. 513 Siehe zum Folgenden WA 42, 39, 33–40, 12. 510 511
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Schöpfungsmittler selbst in seine Vermittlung hinein und gibt den Tieren durch sein Segenswort die Kraft, neues Leben hervorzubringen. Entsprechend bedarf es einer doppelten Perspektive, um das Entstehen neuen Lebens angemessen in den Blick zu bekommen. So stellt Luther fest, dass er mit den Philosophen in der Beobachtung übereinstimmt, dass sich Küken im Ei aufgrund der Wärme der Sonne und der Wärme des Körpers der Mutter entwickeln können. Zugleich ist es gerade das gegenwärtige Segenswort, das der Wärme ihre Kraft gibt: „Dieses Wort ist im Körper der Henne und in allem Lebendigen gegenwärtig, und die Wärme, durch die die Henne das Ei erwärmt, stammt aus dem göttlichen Wort, denn wenn das Wort abwesend wäre, wäre die Hitze selbst unbrauchbar und uneffektiv.“514 Äußerlich sichtbar also ist allein das Handeln der Geschöpfe. Die Geschöpfe aber haben nur darum Kraft zum Handeln, da in ihnen und durch sie hindurch das gegenwärtige Wort wirkt. Das Wort ist darin allwirksam, dass es allein allem Geschöpflichen, durch das es wirkt, Kraft zum Handeln gibt.515 Das gilt auch für das Handeln des Menschen: Er ist nur dadurch cooperator Dei, dass Gott ihm bleibend die Kraft dafür gibt, mit Gott zusammen zu handeln (siehe Drittes Kapitel, 1.4.3. und Drittes Kapitel, 2.2.2.2.). Wie Dalferth zu Recht sagt, ist die Aktivität des Menschen „fremdbedingte Passivitätsaktivität“516 , so dass „gute Werke Gottes Werke bleiben.“517 Die Bindung Gottes des Vaters an sein Wort wird in den christologischen Überlegungen weiter bedacht werden, wenn die Ubiquität auch des Menschen Jesus aufgrund der Idiomenkommunikation von göttlicher und menschlicher Natur in der einen Person Jesus Christus in den Blick genommen wird. Dort wird auch die besondere sachliche Dringlichkeit deutlich, die die Vermittlung des Vaters mit dem Sohne und dabei gerade auch mit dem Menschen Jesus für den Menschen hat. Sie ergibt sich zum einen aus einer erkenntnistheoretischen Überlegung, da der allgegenwärtige und allwirksame Vater für den endlichen Menschen so ungreifbar ist, dass seine Allgegenwart seiner Abwesenheit gleicht und
514 WA 42, 40, 9–12: „Hoc verbum gallinae et omnibus animatibus in ipso corpore praesens est, et calor, quo fovet ova gallina, est ex verbo divino, quia, si absque verbo esset, calor ille esset inutilis et inefficax.“ (Übers. M. W.) 515 Siehe dazu auch Schwanke, Creatio ex nihilo, 150–153. 516 Dalferth, Mere Passive, 59. 517 Dalferth, Mere Passive, 58. Die Differenz von Luthers Gabenverständnis zu dem von Milbank betont auch Saarinen, God and the Gift, 57 f.
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er nur durch Jesus Christus greifbar wird.518 Zum anderen ergibt sie sich aus einer die Gotteslehre nach dem Fall betreffenden Überlegung, da sich die Frage stellt, wie der Vater, der „alles alleine handelt“, mit dem Bösen in der Welt zu verbinden ist; in Jesus Christus aber definiert sich Gott als menschenfreundlicher Gott für den Menschen (siehe dazu Drittes Kapitel, 2.2.4.). Hier sei bereits festgehalten, dass Luther Gott den dreieinigen Schöpfer vor allem in zwei Perspektiven in den Blick nimmt: als den, der souverän durch sein Wort schafft und die Schöpfung als Schöpfer bleibend anredet, und als den, der ihr gegenwärtig ist und ihr dadurch die zur Erhaltung notwendige Kraft gibt. Die erste Perspektive betont, dass die Schöpfung ein personal-kommunikatives, die zweite, dass sie ein gegenwärtig-nahes Geschehen ist. Beide Perspektiven sind dialektisch miteinander vermittelt, ohne ineinander aufgehoben zu werden. Indem die souveräne Anrede Gottes an die Kreatur betont wird, werden alle pantheistischen Verengungen abgewehrt. Indem die gegenwärtige Nähe Gottes in aller Kreatur betont wird, werden alle deistischen und personalistischen Verengungen abgewehrt.519 Für den Schöpfungsglauben des Menschen impliziert der Glaube an diesen persönlich-gegenwärtigen Schöpfer- und Erhaltergott, dass die Schöpfung nicht vor allem ein vergangenes Geschehen bezeichnet, das den Menschen nur als Mitglied der Menschheit insgesamt betrifft. Vielmehr bezeichnet die Schöpfung vor allem ein gegenwärtiges Geschehen, das gerade den jeweiligen Menschen selbst betrifft. Um auf Saarinnens Überlegungen zurückzugreifen, die verdeutlichen, dass es bei einer Gabe die Position des Gebers, der Gabe, des Nutznießers und des Empfängers gibt, ist somit festzuhalten, dass der Mensch nicht nur Nutznießer des Schöpfungsaktes des Vaters dann und damals, sondern sogar ihr Empfänger ist. Genauer gesagt ist er Nutznießer und Empfänger der Gabe der guten Schöpfung und zugleich Nutznießer und Empfänger des Gebers der Gabe, der sich selbst als Gabe gibt, damit die Schöpfung gute Gabe für den Menschen heute sein kann. Damit ist deutlich, dass es nicht nur in der Lehre von der immanenten Trinität, sondern entsprechend auch in Luthers Schöpfungslehre zu derjenigen Verschränkung von geber- und empfängerorientierter Perspektive kommt, die im Abendmahl ihren Höhepunkt erfahren wird. Denn Luther denkt Schöp Siehe dazu WA 23, 153, 1 sowie Grass, Die Abendmahlslehre, 63. Siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 95 f.
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fung von der Verbindung des in Natur und Geschichte handelnden Gottes mit der gegenwärtigen Glaubenserfahrung des leibseelischen Ichs her: 520 „Ich glaub das mich got geschaffen hatt sampt allen creaturen, mier leyb und seel, augen oren und alle gelider, vernunfft und alle synn gegeben hat und noch erhelt [. . .] und teglich versorget. [. . .] Das ist gwisz lich war.“ Nach dem Sündenfall gehört zur Erhaltung dazu, dass Gott den Menschen „wider alle farlichkeyt beschirmet und vor allem ubel behuüt und bewaret.“ Werfen wir einen Blick auf Luthers Verständnis des Sündenfalls.
2.2.3. Die Sünde: Die Wirklichkeit als Gabegeschehen verdunkelt sich In Luthers Verständnis der Sünde kreuzt sich eine strukturelle Dimension, die in allen geschichtlichen Realisierungen der Sünde konstant ist, mit einer Dimension, die die jeweiligen Eigenarten der Realisierungen der Sünde bedenkt. Diese Verbindung beider Dimensionen liegt darin begründet, dass Luther die Erb- oder Ursünde zwar in Adams Fall dann und damals begründet sieht, zugleich aber meint, dass sie sich in den verschiedenen, in der Geschichte auftretenden Tatsünden jeweils neu realisiert.521 Das Wesen der strukturellen Dimension der Sünde besteht darin, dass der Mensch sein Herz an etwas anderes hängt als an Gott und damit letztlich nur seiner eigenen Aktivität vertraut.522 Daraus folgt, dass der Mensch blind wird gegenüber dem umfassenden Gabegeschehen, in dem er steht, und sich entsprechend verhält. Je nach geschichtlicher Situation benutzt er dann alle Wirklichkeit zur Befriedigung seiner eigenen Begierden, oder er ignoriert die geschöpfliche Wirklichkeit und versucht, zu einer abstrakt geistigen Form der Seligkeit zu fliehen. Das sei genauer bedacht. Der Mensch, so sahen wir oben in Drittes Kapitel, 2.2.2.2., ist so verfasst, dass sein Herz als sein Personenzentrum seine Vernunft und sein Handeln bestimmt. Zugleich hängt sein Herz jeweils an einer externen Entität, die über das Herz auf die eine oder andere Weise herrscht. Der Siehe dazu auch Schwanke, Creatio ex nihilo, 87–93, der daher Luthers Schöpfungslehre von dieser Empfängerperspektive her zu rekonstruieren beginnt. 521 Siehe dazu auch Lohse, Luthers Theologie, 264–273, und Bayer, Martin Luthers Theologie, 173–175. 522 Siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 160–166. 520
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Mensch ist so verfasst, dass sein Innerstes vom Äußersten bestimmt wird. In der Auslegung des Ersten Gebotes im Großen Katechismus bestimmt Luther das Wesen der Sünde so, dass der Mensch sein Herz nicht an Gott, sondern an einen Abgott hängt.523 Abgötter können alle Entitäten sein, die nicht Gott selbst sind. Zu Abgöttern können somit weltliche Gegenstände wie Geld werden, aber auch soziale Interaktionsverhältnisse wie Ruhm, oder bestimmte religiöse Praktiken wie die Heiligenverehrung. Letztlich aber dienen Geld, Ruhm und religiöse Sicherheit der Vergötterung des eigenen Ichs als derjenigen Instanz, um die der Sünder jeweils kreist. Die genannten Entitäten werden dadurch vergöttert und damit zu Abgöttern, dass der Mensch von ihnen dasjenige erwartet, was er rechter Weise von Gott allein erwarten sollte: Hilfe in aller Not und alles Gute für sein Leben. Bei aller Verschiedenheit gleichen sich alle Abgötter nicht nur darin, dass sie letztlich der Erhöhung des eigenen Ichs dienen, sondern auch darin, dass sie dem Menschen nur dann Hilfe und Gutes geben, wenn er selbst zuvor aktiv geworden ist. Die grundlegende Reihenfolge, die die Wirklichkeit als Gabegeschehen bestimmte und die darin bestand, dass der Mensch zuerst aus der Fülle empfängt, ehe er selbst zu eigener Aktivität freigesetzt wird, dreht sich um. Der Mensch will wie Gott sein und damit zuerst geben, ehe er empfängt. Damit meint Abgötterei nicht nur die Vergötterung des eigenen Ich, sondern auch eine Form der Werkgerechtigkeit, so dass der Mensch zugleich zum Herrn und zum Knecht wird. Herr und Knecht ist er auch in der Weise, wie er zum Sünder wird.524 Zum einen ist der Mensch der Ausrichtung seines Herzens oder Willens nicht mächtig, so dass er vom Teufel als einer ihm externen Macht zur Sünde bewegt wird.525 Der sündige Mensch ist das Reittier, das vom Satan geritten wird.526 Zum anderen stimmt der Wille des sündigen Menschen seiner ihm zukommenden Willensausrichtung selbst zu. Daher kann Luther sagen, dass der Mensch sein Herz aktiv an den Abgott hängt527 und für seine Sünden zur Verantwortung gezogen werden kann.
Siehe zu Luthers Auslegung des Ersten Gebotes WA 30 I, 132, 33–136, 26. Siehe dazu auch Bayer, Martin Luthers Theologie, 175 f. 525 Diese Perspektive wird in den großen Abendmahlsschriften betont, siehe nur WA 23, 64, 6–70, 32 sowie WA 26, 401, 23–402, 34. 526 Siehe dazu auch Joest, Luthers Ontologie, 250–255. 527 Diese Perspektive wird im Großen Katechismus betont, siehe WA 30 I, 132, 33–133, 8. 523 524
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Da die Sünde das Personenzentrum des Menschen betrifft, besteht die Folge der Sünde darin, dass alle Relationen, in denen der Mensch steht, von der Sünde betroffen werden. Somit besteht eine Strukturparallele zwischen der Erfüllung des Ersten Gebotes und dem Verstoß gegen das Erste Gebot. Die Erfüllung des Ersten Gebotes bringt die Erfüllung aller anderen Zehn Gebote mit sich, da die anderen Gebote nur Explikationen verschiedener Dimensionen des Ersten Gebotes unter den Bedingungen leiblicher Existenz sind528 und das Erste Gebot somit „heupt und quell born“529 der anderen ist. Ebenso wird in den anderen Geboten letztlich nur das Erste erfüllt. Strukturparallel dazu bringt der Verstoß gegen das Erste Gebot den Verstoß gegen alle anderen mit sich, und in allen anderen wird letztlich gegen das Erste Gebot verstoßen. Indem sich die Relation des Personenzentrums des Menschen zu Gott verändert, verändert sich auch seine Relation zu den Mitmenschen, zur Umwelt und zu sich selbst. Zugleich beeinflusst die neue Ausrichtung des Herzens auch die Ausrichtung von Vernunft und Handeln.530 Entsprechend schreibt Luther im Bekenntnis, dass „solche gabe durch Adams fal verfinstert und unnütze worden“531 ist, und dass der Sohn sich uns gibt, damit wir wieder „den Vater mit seinen gaben erkennen und haben möchten.“532 Indem der Mensch sein Herz an etwas anders als an Gott hängt, verkennt der Mensch, dass Gott der Geber guter Gaben ist und dass die Wirklichkeit als ganze ein gutes Gabegeschehen ist. Die Erbsünde führt dazu, „dass wir das Wissen um Gott verloren haben, dass wir ihm nicht immer und überall Dank sagen für seine Taten; dass wir uns nicht an dem Werk seiner Hände und all seiner Taten erfreuen .“533 Damit geht der missbräuchliche Umgang mit der Wirklichkeit einher: Die sündige Welt „ist ynn yhrer blindheit ersoffen, aller guter und gaben Gottes allein zu yhrer hoffart, geitz, lust und woltagen misbraucht und Gott nicht eyn mal ansehe, das sie ym danckete odder fur ein herrn
528 Siehe dazu auch Eilert Herms, Die Bedeutung des Gesetzes für die lutherische Sozialethik, in: Eilert Herms, Erfahrbare Kirche. Beiträge zur Ekklesiologie, Tübingen 1990, 1–25. 529 WA 30 I, 181, 22; siehe zur Stellung des Ersten Gebotes WA 30 I, 180, 23–181, 25. 530 Siehe dazu auch Löfgren, Luthers Theologie, 97–105. 531 WA 26, 505, 41. 532 WA 26, 506, 2 f. 533 WA 42, 86, 34–36: „quod amissa est cognitio Dei, quod non ei ubique et semper gratias agimus, quod non delectamur eius operibus et factis.“ (Übers. M. W.)
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und schepffer erkennete.“534 Luther kann die grundlegende Fehlorientierung des Menschen auch so benennen, dass er sie als einen weitgehenden Verlust der Gottebenbildlichkeit des Menschen betrachtet.535 Zwar sinkt der Mensch nicht auf das Niveau der Tiere zurück, da Gott seine Auszeichnung des Menschen nicht zurücknimmt. In seiner Fehlorientierung aber verliert der Mensch diejenige dankbare, genussvolle Leichtigkeit im Umgang mit seiner Umwelt, seinen Mitmenschen und sich selbst, die ihn vorher auszeichnete, und die durch Jesus Christus wieder hergestellt wird. Alle Tatsünden liegen in der Erbsünde als der falschen Willensausrichtung begründet und stellen Realisierungen der Erbsünde dar. Zugleich realisiert sich in den Tatsünden die Erbsünde in unterschiedlichen Situationen auf unterschiedliche Weise. In den hier zugrunde liegenden Texten skizziert Luther zwei Weisen, in denen die Wirklichkeit als Gabegeschehen verpasst wird. Vor allem in der Genesisvorlesung und im Grossen Katechismus findet sich der Mensch als ein Wesen vor, das von seinen Lüsten getrieben wird. Die weltliche Wirklichkeit in ihrer Materialität steht ihm feindlich gegenüber. Gleichwohl arbeitet sich der Mensch an ihr ab, indem er sie vergöttert oder beherrscht.536 Laut den großen Abendmahlsschriften führt die Erbsünde hingegen dazu, dass der Mensch die weltliche Wirklichkeit in ihrer Materialität fliehen will und sein wahres Selbst ebenso wie Gott aus ihrer Vermittlung mit der Materialität zu lösen sucht.537 In systematischer Hinsicht stellen die erste, gleichsam technizistisch-materialistische, und die zweite, gleichsam platonisierende Variante die beiden grundlegenden Optionen dar, mit denen auf den Verlust der Wirklichkeit als Gabegeschehen reagiert werden kann. Indem sie auf den Verlust der Gabe durch übergroße Nähe oder übergroßer Distanz reagieren, erweisen sie sich als gegenläufig organisierte Brüder im Geiste. In der ersten Variante führt das veränderte Gottesverhältnis dazu, dass der Mensch von seinen Begierden getrieben wird, die ihn zum einen dazu führen, weltliche Entitäten zu vergöttern und zum anderen, die weltliche Wirklichkeit inklusive anderer Menschen für seine Lüste zu gebrauchen. So hängt er sein Herz an Reichtum oder an Ruhm und da WA 30 I, 185, 7–9; so auch WA 19, 518, 12–19. Siehe WA 42, 47, 31–49, 15. 536 Siehe dazu auch Löfgren, Luthers Theologie, 105–114. Diese erste Weise zeigt somit eine besondere Nähe zu wichtigen Dimensionen des technischen Zeitalters. 537 Auch diese Dimension zeigte sich in der Analyse des technischen Zeitalters. 534 535
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mit letztlich an sich selbst.538 Um sich und seine Begierden durchsetzen zu können, ge- und missbraucht er andere Menschen. So wird die Beziehung zum (anderen) Geschlecht allein von der Lust geformt, ohne der darin urständlich mitgegebene Gottesverehrung Raum zu geben.539 Zudem wird der andere Mensch nicht als Mittel und Rohr der Gaben Gottes gesehen, sondern als Konkurrenten im Kampf um knappe Güter. So übervorteilen sich Menschen gegenseitig und es kommt zu Mord, Diebstahl und Lüge. Entsprechend setzt Gott als dritten Stand nach Kirche und Ökonomie nun postlapsarisch den Staat ein und stattet ihn mit dem Mandat zur Gewaltausübung aus, um noch größeres Chaos zu verhindern.540 In systematischer Hinsicht ist die hier ansetzende Lehre von den zwei Regimenten oder Regierweisen Gottes somit als Explikation derjenigen Weise anzusehen, durch die Gott unter Bedingungen des Falls gnädiger Weise seine erhaltende Macht ausübt.541 Der Gewaltförmigkeit sozialer Beziehungen entspricht die Gewaltförmigkeit der Beziehung des Menschen zur Natur. Während Luther in allen Texten hervorhebt, dass die Sünde die menschliche Wahrnehmung des reichen Gabegeschehens trübt, vertritt er in der Genesisvorlesung sogar die Position, dass sich durch den Sündenfall nicht nur die menschliche Wahrnehmung der Natur, sondern auch die Natur selbst verändert. Die reiche Schöpfungswirklichkeit, die dem Menschen zur Freude gegeben war, wird dem Menschen eine feindliche und karge Umwelt.542 In ihr kann sich der Mensch nur mit größter Anstrengung, mit List und Tücke und unter Ausübung von eigens dafür entwickeltem Handwerk behaupten.543 Die Tiere gehorchen dem Menschen nur widerwillig, und die Landarbeit wird mühselig und ertragsarm. Der Versuch des Menschen, in einer feindlichen Umgebung Herrschaft auszuüben, findet seine ultimative Grenze darin, dass er sterben muss. Während der Mensch vor dem Fall von Gott eines Tages sanft enthoben worden wäre, muss er aufgrund des Falls den bitteren Tod des Sünders sterben.544 Dieses finale Siehe WA 30 I, 132, 33–133, 8. Siehe WA 42, 53, 35–37. 540 Siehe WA 42,78, 9–79, 19 und Schwanke, Creatio ex nihilo, 182–187. 541 Siehe dazu Carl Heinz Ratschow, Das Heilshandeln und das Welthandeln Gottes. Gedanken zur Lehrgestalt des Providentia-Glaubens in der evangelischen Dogmatik, in: Carl Heinz Ratschow, Von den Wandlungen Gottes. Beiträge zur Systematischen Theologie, Berlin/New York 1986, 182–243, bes. 202–208. 542 Siehe WA 42, 58, 37–52. 543 Siehe WA 42, 50, 25–32. 544 Siehe WA 42, 83, 33–39. 538 539
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Misslingen des Versuches des sündigen Menschen, durch eigene Leistungen und die Durchsetzung der eigenen Begierden zu einem erfüllten Leben zu gelangen, spiegelt sich Zeit seines Lebens darin, dass das Gewissen des Menschen unruhig und ungewiss wird.545 Erst durch Christus erhält die Schöpfung ihren Reichtum zurück, erst durch ihn wird dem Gewissen Gewissheit geschenkt und der Tod zum neuen Durchgang zum Leben mit Gott. Die zweite Form, in der sich die Selbsterhöhung mitsamt des damit verbundenen Verlustes der Wirklichkeit als Gabegeschehen vollzieht, ist die gleichsam platonisierende. Laut Luther wird sie von Luthers Gegnern im Abendmahlsstreit vertreten, und da sie im Eingangsteil der Lutherrekonstruktion als diejenige Heilsordnung etwas breiter dargestellt wurde, die der Luthers entgegensteht (siehe oben, Drittes Kapitel, 2.1.3.), muss an sie hier nur kurz erinnert werden. In ontologischer Hinsicht meint sie, dass Gott ebenso wie das wahre Selbst des Menschen von der Vermittlung mit dem Materiellen fernzuhalten ist. Denn dieses wird als solches und nicht erst aufgrund des sündigen Umgangs mit ihm für sündig gehalten. Entsprechend verbietet es die Ehre Gottes, dass Gott sich Welt und Materie nähert. In der Christologie wird der Unterschied der beiden Naturen betont, und bezüglich des Abendmahls wird die Meinung vertreten, dass nicht Leib und Blut Christi vorhanden sind, sondern allein Brot und Wein für ein Gedächtnismahl. Wenn sich Gott und Mensch doch annähern, so nähert sich Gott dem Menschen, indem er sich mit seinem Geist direkt an das Innere des Menschen wendet. Der Mensch nähert sich Gott nicht vermittels des äußeren Wortes der Schrift und des Sakraments, sondern unmittelbar in seinem eigenen Inneren und kraft seiner eigenen Vernunft. Als End- und Höhepunkt der Rekonstruktion von Luthers Schöpfungslehre wurde auf die schöpferische und erhaltende Gegenwart Gottes in allem Weltgeschehen verwiesen. Gottes Wille an die Menschen, der sich im guten Gebot Gottes ausspricht, und Gottes Präsenz in der Schöpfung werden auch durch den Sündenfall und die damit einhergehende Selbstvergötterung des Menschen nicht abgetan. Sie zeigen sich dem Menschen aber auf radikale andere Weise. Gott zeigt sich als zornig über das Brechen der Gebote, und sein Wirken im Weltgeschehen wird allzu oft unverstehbar. Gottes Zorn und Gottes Unverstehbarkeit gehen einerseits Christen und Nichtchristen gleichermaßen an, da allen Men Siehe etwa WA 26, 265, 30–266, 7.
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schen die Zehn Gebote ins Herz eingeschrieben sind und alle Menschen von Gott wissen.546 Andererseits sind Christen davon in besonderer Weise betroffen. Denn der Sündenfall verdunkelt die Gebotserkenntnis im Herzen aller Menschen ebenso wie die Gotteserkenntnis. Erst von Christus her werden die Gebote ebenso wie die Präsenz Gottes wieder voll offenbar. Erst von ihm her wird zugleich auch die Dramatik des Zornes und der Unverstehbarkeit Gottes in ihrer bedrängenden und anfechtenden Wucht sichtbar.547 In stärkerer Weise als bei den Nichtchristen haben Christen mit Anfechtungen zu kämpfen. Christlicher Glaube ist angefochtener Glaube, der sich mit deus absconditus konfrontiert sieht. So betont Luther besonders im Großen Katechismus, dass Gott mit großem Ernst darauf dringt, dass die Gebote gehalten werden, und dass er entsprechend alle straft, die sie nicht einhalten.548 Zugleich betont Luther, dass kein Mensch auch nur eines der Gebote einzuhalten vermag.549 Daher wird das Gesetz dem Menschen ein hartes, fremdes Wort,550 und Gott ist allen Menschen ein „zorniger und schrecklicher Richter.“551 Vollends unverstehbar als Geber guter Gaben wird Gott, wenn seine Gegenwart mit dem Welterleben des Menschen in Beziehung gebracht werden soll. Gott wird unverstehbar, wenn die aus der geber orientierten Perspektive zu betonende allmächtige Allgegenwart Gottes mit der aus der empfängerorientierten Perspektive zu betonenden Weltwirklichkeit in ihrer Gleichförmigkeit und in ihrer Abgründigkeit in Beziehung gebracht werden soll. Diese Unverstehbarkeit begegnet in einer gleichsam atheistisch und in einer gleichsam diabolisch gefärbten Spielart.552 In der ersten wird Gott ungreifbar, da Gottes Weltgegenwart überall anzunehmen ist, er dadurch von einem endlichen Menschen aber
Siehe WA 30 I, 192, 10–20. Siehe als einen Text, der die folgenden Fragestellungen aus dem Gesamtwerk Luthers her bedenkt, auch Carl Heinz Ratschow, Der angefochtene Glauben. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh 1957, 233–248, zusammenfassend 246 f. 548 Siehe WA 30 I, 180, 15 f. 549 WA 30 I, 179, 14 f. 550 Zur Differenz des Gesetzes vor und nach dem Fall siehe auch WA 42, 83, 10– 18. 551 WA 30 I, 192, 6. 552 Siehe dazu auch Grass, Die Abendmahlslehre, 63, und Bayer, Martin Luthers Theologie, 178–186. 546 547
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gerade nicht mehr gefasst werden kann.553 Dies gilt umso mehr, als die Nähe Gottes bleibend in die Dialektik von Immanenz und Transzendenz eingespannt ist. „Gleich als ich von der rechten Gotts sage: wie wol die selbige allenthalben ist, wie wir nicht leucken mügen, Noch weil sie auch nirgent ist, wie gesagt ist, kanstu sie werlich nirgend ergreiffen.“554 Da die Nähe Gottes die Nähe desjenigen Gottes ist, der als Schöpfer der Schöpfung immer auch transzendent ist, droht die Nähe Gottes Gottes Nähe aufzulösen und zum Agnostizismus oder zum Atheismus zu führen. Gott wird dem Menschen unbegreiflich, da er als Gott vom Menschen nicht ergriffen werden kann. Während diese erste Spielart die Nähe Gottes aufzulösen droht, rückt die zweite die Nähe Gottes auf beunruhigende Weise in Nähe des Teufels. Denn die Allmacht und Allgegenwart Gottes erlaubt es nicht, Gott vom Mangel, von der Sünde und vom Teufel zu trennen und dem Teufel damit ein eigenes Reich zuzugestehen. Wenn Gott jedem Körnlein auf dem Felde näher ist als dieses sich selbst, wenn Gott dem Korn die Kraft gibt, sich zu entwickeln und wenn er durch das Korn dem Menschen zuruft, dass das Korn gute Gabe für ihn ist, dann, so Ratschow zu Recht, „ist jeder Mangel eben Anfechtung, d. h. zureichende Infragestellung Gottes.“555 Ähnliches ist von der Sünde und vom Teufel zu sagen. Denn Gott gibt laut Luther nicht nur allen Lebewesen diejenige Kraft, die der gefallene Mensch dann unter der Führung des Teufels zu sündigem Verhalten einsetzt. Vielmehr rückt Luther Gott und Teufel noch näher aneinander. Wie Luther in Dass die Worte ‚Dies ist mein Leib‘ noch steht, wider die Scharmgeister schreibt, kann der Teufel nur deshalb Luthers Gegner verwirren, da Gott in seinem Zorn ihm das erlaubt: Es ist „Gottes zorn, der dem teufel den zaum lesst, solch grobe, tolpissche yrthum, und greifliche finsternis anzurichten, zu straffen unser schendliche undankbarkeit.“556 Gott vollzieht sogar selbst Taten, die auch dem Teufel zugeschrieben werden könnten. Gott selbst verstockt die Gegner Luthers und lässt sie blind werden gegenüber Gottes Wahrheit, so dass diese die Schrift nicht angemessen verstehen.557 Das Weltgeschehen in seiner Abgründigkeit konfrontiert den Menschen dann, wenn er mit Luther annimmt, dass Gott der allmächtig-allgegenwärtige Gott ist, damit, Siehe etwa WA 23, 153, 1–4. WA 23, 151, 17–19. 555 Ratschow, Das Heilshandeln, 208 f. 556 WA 23, 72, 13–15. 557 Siehe WA 23, 72, 36 und WA 23, 159, 2. 553
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dass Gottes schöpferisch-erhaltendes Handeln in gleichsam moralischer Hinsicht unbegreiflich ist.558 Indem Gott nicht mehr als Geber guter Gaben sichtbar ist, verliert zugleich die ganze Wirklichkeit ihren Charakter als gutes Gabegeschehen. Die Wirklichkeit als Ganze ist verdunkelt. Die Rekonstruktion von Luthers Christologie wird verdeutlichen, dass Jesus Christus den Zorn des Vaters über die Sünden der Welt hinweg trägt, Gott als Liebe definiert und ihn am Kreuz und im Abendmahl greif- und begreifbar werden lässt. Zugleich aber wird sich zeigen, dass der Glaube bleibend angefochtener Glaube ist.
2.2.4. Jesus Christus: Die Wiedergewinnung der Wirklichkeit als Gabegeschehen 2.2.4.1. Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation In der Person Jesu Christi sind die göttliche und die menschliche Natur aufs engste miteinander verbunden. Deshalb ist Christus der „spiegel des veterlichen hertzens“559 und offenbart, dass Gott Liebe ist. Das zeigt sich darin, dass sich Jesus Christus bis in den Tod hinein hingibt, um am Kreuz die Sündenschuld der Menschen und den Zorn Gottes abzutragen. So wird der Mensch mit Gott versöhnt und erhält erneut vollumfänglich Anteil an den Gaben des Vaters. Zugleich erkennt er den Vater als liebenden Gabegeber und die Wirklichkeit als umfassendes Gabegeschehen. Diese Aspekte fasst Luther in seinem Bekenntnis so zusammen: „Darumb hat darnach der son sich selbst auch uns gegeben alle sein werck, leiden, weisheit und gerechtickeit geschenckt und uns dem Vater versunet damit wir widder lebendig und gerecht auch den Vater mit seinen gaben erkennen und haben möchten.“560 Robert Jenson, Luther’s Contemporary Theological Significance, in: Donald K. McKim (Hg.), The Cambridge Companion to Martin Luther, Cambridge 2003, 272–287, 279, schreibt dazu: „The real God, the Creator, whose omnipotent agency is closer to every grain of sand than it is to itself, cannot so easily be excused. [. . .] Did God will the Shoa? No. Could he have prevented it? Obviously, if he is. What then are we to say? [. . .] We cannot make God’s providence morally comprehensible. We cannot justify his ways.“ Luther selbst weist in De servo arbitrio darauf hin, dass gerade die Nichtgläubigen angesichts des Weltlaufs mit guten Gründen zu der Einsicht kommen können, dass Gott entweder ungerecht ist oder dass er nicht ist, siehe WA 18, 784, 33. 559 WA 30 I, 192, 5. 560 WA 26, 505, 42–506, 3. 558
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Die genauere Explikation wird verdeutlichen, warum die Christologie Luthers in der Sekundärliteratur bisweilen als der vielleicht aufregendste und innovativste Bereich seiner Theologie angesehen wird561, während er zugleich den inneren Kern seiner Theologie darstellt.562 Dieser innere Kern prägt alle anderen Bereiche seiner Theologie und vor allem seine Abendmahlstheologie, so dass das Abendmahl von der Christologie her seine entscheidenden Bestimmungen erfährt. Zugleich entwickelt Luther seine Christologie aber nicht nur auf das Abendmahl hin, sondern auch von diesem her, da sie dazu dient, die heilbringende Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl begreifbar zu machen.563 Die Christologie erfährt dabei eine Gestalt, die Luther von einigen Gegnern den Vorwurf eintrug, ein „neues Dogma“564 zu entwickeln. Denn in methodischer Hinsicht werden die ontologischen und die soteriologischen Dimensionen der Christologie in dynamischer Form radikal miteinander vermittelt. Die Person, die Naturen und das Werk Jesu Christi werden aufs engste dialektisch miteinander verbunden.565 Dafür betont Luther die Personeneinheit der zwei Naturen und fasst die Personeneinheit als dynamische, heilbringende Idiomenkommunikation.566 In materialer Hinsicht führt dies zu so radikalen Bestimmungen wie denjenigen, dass Gott stirbt und dass die Menschheit Jesu allgegenwärtig ist. Um den in der Christologie besonders deutlich sichtbaren Kern von Luthers Theologie Siehe dazu nur die Beiträge von Jörg Baur, Lutherische Christologie im Streit um die neue Bestimmung von Gott und Mensch, in: Jörg Baur, Luther und seien klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen, Tübingen 1993, 145– 163, sowie Baur, Ubiquität. 562 So nicht zu Unrecht Steiger, Die communicatio idiomatum. 563 Entsprechend kann Oswald Bayer, Das Wort ward Fleisch. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, in: Oswald Bayer, Benjamin Gleede (Hg.), Creator est Creatura. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, Berlin 2007, 5–34, 24, sogar sagen, dass „Luthers Christologie eine Hilfskonstruktion seiner Abendmahlslehre“ ist. 564 Siehe zu diesem erstmal von Bullinger erhobenen Vorwurf Theodor Mahlmann, Das neue Dogma der lutherischen Christologie. Problem und Geschichte seiner Begründung, Gütersloh 1969, v. a. 9–18 und Bayer, Das Wort ward Fleisch, 23. 565 Siehe dazu auch Bayer, Das Wort ward Fleisch, 32: „In ihrem kommunikativen Charakter ist die „Person“ Jesu Christi mit seinem „Werk“ identisch.“ 566 Siehe dazu auch Peters, Realpräsenz, 68–74. Carl Heinz Ratschow, Jesus Christus (HST 5), Gütersloh 1982,21–31 macht deutlich, dass Luthers späte Christologie überhaupt und damit auch die Christologie, die in den von uns nicht behandelten Texten entwickelt wird, wesentlich von der Personeneinheit der zwei Naturen Jesu Christi her denkt, die als dynamische gefasst wird und die Idiomenkommunikation impliziert. 561
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im Anschluss an die Terminologie der Gabe zu reformulieren, ließe sich folgendes sagen: Das Gabegeschehen der Wirklichkeit ist wesentlich davon bestimmt, dass Gott sich dem Menschen gibt und der Mensch von Gott empfängt und dadurch erhöht wird. Das Gabegeschehen wird postlapsarisch durch das Werk der Selbstgabe Christi wieder umfänglich in Gang gebracht. Die Restitution des Gabegeschehens durch Jesus Christus ist darin begründet, dass Jesus Christus selbst in seinem „Binnenverhältnis“567 als Gabegeschehen zu fassen ist: Die Person Jesu Christi ist das Sich-Geben der göttlichen Natur an die menschliche und das Empfangen und Erhöhtwerden der menschlichen Natur. Damit ist diejenige Verschränkung der geber- mit der empfängerorientierten Perspektive, die bereits in der Lehre von der immanenten Trinität sowie der Schöpfungslehre aufgezeigt wurde und die in der Abendmahlslehre ihren Höhepunkt erfährt, auch in das christologische Zentrum von Luthers Theologie eingeschrieben. Das sei genauer ausgeführt. Die enge Verbindung von Gott und Mensch in Jesus Christus ist nur deshalb denkbar, da Luther im Gegensatz zu seinen Gegnern im Abendmahlsstreit daran festhält, dass das Fleisch Jesu Christi so wie jedes nichtgefallene Fleisch gut ist. Von seinem gilt sogar, dass „sein fleisch eitel geist“568 ist (siehe dazu auch oben, Drittes Kapitel, 2.1.3.). Entsprechend ist Gott ganz präsent in Jesus Christus: „Wohlan, da gehet Christus auff erden und ist die gantze Gottheit personlich, wesentlich ynn yhm auff erden.“569 In Übereinstimmung mit dem Verständnis der Heilsordnung insgesamt betont Luther daher, was erst von Jesus Christus vollends sichtbar wird: dass Gott in Christus gerade durch die Vermittlung mit dem Materiellen zum Heil der Menschen handelt. „Da er auff erden gieng, war er so nütze, das wen er anrüret durch sein fleisch, dem halff er. Er rieff durch seinen leib mit leiblicher stym Lasaro aus dem grabe, Er rüret den aussetzigen an und macht yhn rein, Er gieng auff dem meer und reicht dem sinckenden Peter die hand.“570 Diese Vermittlung ins Materielle hinein entspricht Gottes Majestät und Ehre gerade und widerspricht ihr nicht, wie Luthers Gegner meinen. Das gilt auch dann, wenn das Materielle gefallen ist: „Unsers Gotts ehre aber ist die, so er sich umb unser willen auffs aller tieffest erunter gibt, yns fleisch, yns brod, ynn unsern mund, hertz und schos. Und dazu umb unsern willen Baur, Ubiquität, 196. WA 26, 352, 7. 569 WA 23, 139, 31 f. 570 WA 23, 257, 24–27. 567
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leidet, das er unehrlich gehandelt wird beyde auff dem creutz und altar.“571 In Christus offenbart sich, was entsprechend im Abendmahl gilt: Gottes Ehre besteht darin, sich in das Materielle hinein zu begeben und sich dem Menschen gegen alles Unehrenhafte zum Heil zu geben. Mit dem letzten Zitat und den letzten Überlegungen sind bereits Aspekte des inneren Kerns von Luthers Christologie erreicht. Ganz im Gefolge altkirchlicher Christologie sagt Luther, dass die göttliche und die menschliche Natur unvermischt sind.572 Zugleich ist aufgrund der Personeneinheit zu betonen, dass beide Naturen ungetrennt sind, so dass folgt, dass „Gott mensch ist und mensch Gott.“573 Luther nennt die von ihm hervorgehobene Personeneinheit die „personliche einickeit“,574 die er sachlich in einer Linie mit der Einheit der drei Personen der Trinität und mit der Einheit von Brot und Wein im Abendmahl sieht (siehe dazu auch oben, Drittes Kapitel, 2.1.3.1.2.). In kühner Weiterbildung der Tradition dynamisiert Luther diese ontologischen Bestimmungen zugleich und bedenkt sie in ihrer soteriologischen Relevanz.575 Aufgrund der Personeneinheit Jesu Christi erhalten die Eigenschaften der göttlichen und der menschlichen Natur aneinander Anteil. Es vollzieht sich die Idiomenkommunikation, so dass auch Gottes Sohn selbst leidet und stirbt und der Mensch erhöht wird: „Weil Gottheit und menscheit ynn Christo eine person ist so gibt die schrifft umb solcher personlicher einickeit willen auch der Gottheit alles was der menscheit widderferet und widderumb Und ist auch also ynn der warheit. Denn das mustu ia sagen Die person (zeige christum) leidet stirbt Nu ist die person warhafftiger Gott drumb ists recht gered Gottes son leidet.“576
WA 23, 157, 30–33, siehe auch WA 19, 486, 14–487, 13, sowie WA 26, 437, 9–18. Siehe etwa WA 26, 324, 2 f. 573 WA 26, 324, 5. 574 WA 26, 441, 4. 575 Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Luthers Lehre von der Idiomenkommunikation siehe Bayer, Das Wort ward Fleisch, 10–20; zur Lehre von der Idiomenkommunkation in der Alten Kirche siehe Benjamin Gleede, Vermischt, ausgetauscht und kreuzweise zugesprochen. Zur wechselvollen Geschichte der Idiome Christi in der alten Kirche, in: Oswald Bayer, Benjamin Gleede (Hg.), Creator est Creatura. Luthers Christologie als Lehre von der Idiomenkommunikation, Berlin 2007, 35–94. Zum sachlichen Impuls, der Luther die Lehre von der Idiomenkommunikation vertreten ließ, siehe auch Jenson, Luther’s contemporary theological significance, 274–278. 576 WA 26, 321, 5–10. Luther ist diese Bestimmung so zentral, dass er sie auch in sein Bekenntnis aufnimmt, siehe WA 26, 500, 33–502, 2. 571
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Zweierlei ist hier wichtig. Auch wenn Luther das nicht selbst ausführlich expliziert, scheint es mir der Fall zu sein, dass Luther hiermit keinen Patropassianismus im engeren Sinne vertritt, sondern eine trinitätstheologisch ausdifferenzierte Variante des Todes Gottes: Gott der Sohn stirbt aufgrund der Personeneinheit Jesu Christi. Zugleich aber denkt Luther im Gegensatz zu seinen Gegnern im Abendmahlsstreit und auch im Gegensatz zu späteren römisch-katholischen Theologen die Personeneinheit Jesu Christi nicht nach dem Modell der suppositionalen Union, laut der die göttliche Person eine ohne eigenen Daseinsgrund zu denkende menschliche Natur auf eine Weise annimmt, dass sie selbst davon nicht berührt wird. Vielmehr denkt Luther die Personeneinheit nach dem Modell der persönlichen Einigkeit und damit dergestalt, dass die eine Person gerade die Kommunikation zwischen den beiden Naturen ist, welche entsprechend durch diesen Austausch berührt werden.577 Mit Baur zusammengefasst, „bringt das Evangelium Christus als das Geschehen der Vermittlung und Gemeinschaft von Gott und Mensch zur Sprache: Christus ist die geschichtlich-kontingent bewährte, unendlich gültige permanente Anteilgabe der schöpferischen Gottheit im Sohn an die Menschheit Jesu (Erhöhung) und ihre Anteilnahme an dem Geschick, den Taten und Leiden des an die Stelle der an sich verfallenen Menschheit tretenden erhöhten Menschen Jesus (Erniedrigung).“578 Die enge Verbindung von Personeneinheit und Idiomenkommunkation bringt zum einen mit sich, dass Christus ein für allemal die Vergebung der Sünden erwirkt,579 und zum anderen, dass Christus nach beiden Naturen an der Allgegenwart Gottes teilhat. Denn in Jesus Christus litt und starb nicht nur ein weiterer Mensch oder nicht nur die menschliche Natur, welche selbst einen Heiland bräuchte.580 Wäre das Leiden auf die menschliche Natur reduziert, so wäre der Heiland hinweg genommen und „damit der gantze Christliche Glaube und aller welt selickeit aller dinge.“581 Vielmehr erleidet Gott der Sohn im Fleisch die Sünde und den Tod. Das führt dazu, dass die Sünde und der Tod selbst den Tod erleiden: „Der tod hat sich wol ein mal [am göttlichen Fleisch, Siehe dazu Baur, Ubiquität, 196 f., sowie ders., Lutherische Christologie, 149 f. Baur, Ubiquität, 219. 579 Luther betont mehrfach, dass Christus am Kreuz ein für allemal Vergebung der Sünden erwarb, welche dann in Wort und Sakrament ausgeteilt wird, siehe dazu nur WA 18, 203, 27–38 und WA 26, 294, 5–18. 580 Siehe dazu auch WA 26, 319, 33–39. 581 WA 26, 342, 17 f. 577 578
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M. W.] versucht und wolts verzeren und verdawen, Aber er kund nicht, sondern es zureis yhm den bauch und hals mehr denn ynn hundert tausent stuck, das dem tod die zeene zur stoben [. . .] denn die speise war dem tod zu starck und hat den fresser verzeret und verdawet.“582 Damit kann es zum erneuten Herrschaftswechsel kommen. Der Mensch, der von Gott daraufhin geschaffen wurde, sein Herz an Gott zu hängen und der sich sodann von Tod und Teufel reiten ließ und daher unter dem Zorn Gottes stand, steht nun unter der Herrschaft Christi, der den Zorn Gottes auf sich nahm und den Tod besiegte. Im Glauben und durch das Wort wird Christus, was Luther im Anschluss an das Glaubensbekenntnis formuliert: „mein Herr.“583 Dieser Herr ist allgegenwärtig und kann daher auch je beim Gläubigen sein.
2.2.4.2. Zur Allgegenwart des menschlichen Sohnes Die Idiomenkommunikation endet nicht mit der Kreuzigung Jesu. Vielmehr gilt sie auch für den Auferweckten, der zur Rechten Gottes sitzt, da sie wesentlich und damit bleibend das Binnenverhältnis der einen Person Christi ausmacht. Weil die Rechte Gottes an keinem abgegrenzten Ort im Raum zu lozieren ist, ist sie allgegenwärtig. Entsprechend kommt die Allgegenwart Gottes auch der menschlichen Natur Jesu Christi zu. Dadurch ist garantiert, dass Jesus Christus jeweils dort präsent ist, wo Menschen seiner bedürfen und wo sie ihn empfangen wollen, etwa im Abendmahl.584 Die Präsenz Jesu Christi ist somit letztlich in der Allmacht Gottes des Vaters, des Schöpfers, gegründet und zielt auf seine gnädige Gegenwart im Abendmahl.585 Genauer: Im Gefolge der Schrift und des Glaubensbekenntnisses stimmt Luther mit seinen Gegnern darin überein, dass Jesus Christus nach der Auferweckung gen Himmel fuhr und nun zur Rechten Gottes sitzt. Im Gefolge seines Verständnisses der Heilsordnung und entgegen der Ansicht seiner Gegner meint Luther aber, dass der Himmel kein abgrenzbarer Ort im Raum da droben ist. Luther schreibt entsprechend WA 23, 243, 31–35. WA 30 I, 186, 11 und dazu Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Eine historische und systematische Einführung in das Konkordienbuch. Band 1, Berlin 1996, 306–309. 584 Siehe dazu auch Grass, Die Abendmahlslehre, 68–83, und Peters, Realpräsenz, 78–86. 585 Siehe dazu WA 23, 153, 13–15. 582 583
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gegen seine Widersacher: „Wenn wir sie nu hie fragen was sie Gottes rechte hand heissen, da Christus sitzt, acht ich, sie werden uns daher schwermen, wie man den kindern pflegt fur zu bilden einen gauckel hymel, darin ein gulden stuel stehe und Christus neben dem vater sitze ynn einer kor kappen und gulden krone, gleich wie es die maler malen.“586 Vielmehr ist Gottes Rechte an allen Orten zu finden, da nur die Allgegenwart Gottes und seiner Rechten die Schöpfung erhalten werden kann.587 Luther dissoziiert somit Theologie und Kosmologie auf eigene Art.588 Er verfolgte diese weitreichende Einsicht nicht sehr viel weiter und kannte wohl auch Kopernikus nicht, so dass er seine Überlegungen nicht mit den neuesten wissenschaftlichen Einsichten seiner Zeit abzugleichen vermochte.589 Dennoch gelingt ihm damit eine bedeutende Einsicht.590 Luther betont, dass Gott und Gottes Rechte allgegenwärtig sind. Seine Überlegungen zur Ubiquität sind somit von seiner Lehre des machtvollen Vatergottes geprägt, so dass er den zweiten Artikel vom ersten her charakterisiert sein lässt.591 Um die Personeneinheit des auferweckten Jesus Christus, der zur Rechten Gottes sitzt, nicht zu zerreißen, ist die Allgegenwart auch der menschlichen Natur und damit auch dem Leib Christi zuzuschreiben. „Ist er nu [. . .] personlich wo er ist so mus er daselbs auch mensch sein, denn es sind nicht zwo zurtrennte personen sondern ein einige person. Wo sie ist da ist sie die einige unzurtrennete person Und wo du kanst sagen Hie ist Gott da mustu auch sagen So ist Christus der mensch auch da. Und wo du einen ort zeigen wurdest, da Gott were und nicht der mensch, So were die person schön zurtrennet, WA 23, 131, 9–13. Siehe WA 23, 133, 19–139, 23. 588 Siehe dazu Baur, Ubiquität, 216. 589 Siehe dazu Elert, Morphologie, 363–378. 590 Siehe dazu auch Metzke, Sakrament, 191–197. Um die Terminologie aus dem zweiten Teil des Buches aufzunehmen, sind Gott und Gottes Rechte aufgrund ihrer Allgegenwart nicht dergestalt eindeutig in einem Koordinatensystem der Indikatoren zu lozieren, dass Gott oder Gottes Rechte von mir aus gesehen allein über mir auf einem goldenen Stuhl zu verorten wären. Dies hieße, Gott nach Art des Verstandes zu denken und damit, ihn bereits aufgrund der Form des Nachdenkens zu verpassen. Zugleich sind Theologie und Kosmologie bei Luther dergestalt verbunden, dass Gott sich gerade nicht an einen – wenn man so sagen will – „Ort“ jenseits des Kosmos zurückzieht, sondern dass er in eigener Dialektik einem jeweiligen Ort immanent und zugleich auch transzendent ist (siehe dazu auch oben, Zweites Kapitel, 3.2.1.). 591 Siehe dazu WA 23, 155, 3–10 und Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 24. 586 587
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weil ich als denn mit der warheit kund sagen Hie ist Gott der nicht mensch ist und noch nie mensch ward.“592 In diesem Fall würde dasjenige auseinander gerissen, was weder Tod noch Teufel zu trennen vermochten.593 Für Luther ist dieser Punkt aus zwei eng miteinander verbundenen Gründen von größter Wichtigkeit. Zum einen ist nur durch die Allgegenwart auch des Leibes Christi garantiert, dass der allgegenwärtige Gott derjenige Gott ist, der sich in Jesus Christus als gnädiger Gott für die Menschen definiert hat. Zum anderen ist nur so garantiert, dass Christus im Abendmahl real präsent ist und dass er damit das Heil, das er am Kreuz erwarb, an die Menschen so austeilen kann, das diese des Heils gewiss sind.594 Der zweite Punkt wird im nächsten Absatz genauer bedacht. Der erste sei mit folgendem Zitat verdeutlicht, welches sich an die eben zitierten Worte anschließt. Das Zitat sagt voller Schrecken von einem Gott, der nicht wesentlich mit der menschlichen Natur Jesu verbunden ist: 595 „Mir aber des Gottes nicht. [. . .] Es solt mir ein schlechter Christus bleiben der nicht mehr denn an einem einzelnen ort zu gleich eine Göttliche und menschliche person were. Und an allen andern orten muste er allein blosser abgesonderter Gott und Göttliche person sein on menscheit. Nein, geselle, wo du mir Gott hinsetzest da mustu mir die menscheit mit hin setzen, Sie lassen sich nicht sondern und von einander trennen. Es ist eine person worden.“596 Um die Allgegenwart Christi und damit auch die der menschlichen Natur genauer zu explizieren, greift Luther auf die mittelalterliche Tradition597 der Differenzierung von drei Weisen zurück, an einem Ort zu sein.598 Die erste Weise wird localiter genannt und meint die aus dem Alltag bekannte und mithilfe von Verstandeskategorien beschreibbaren Weise, nach der Dinge an einem Ort sind: Jedes einzelne Ding befindet sich genau an einem Ort im Raum. Die zweite Weise wird diffinitive genannt und bezeichnet die Weise, nach der zwei Körper an einem Ort sein können. So kann etwa der Teufel zugleich mit einem Menschen im WA 26, 332, 28–35, siehe dazu auch WA 19, 491, 17–18. Siehe WA 26, 333,1 f. 594 Siehe dazu auch Bayer, Das Wort ward Fleisch, 30. 595 So auch Jenson, Luther’s contemporary theological significance, 276. 596 WA 26, 332, 35–333, 8. 597 Siehe zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund Hilgenfeld, Mittelalterlich-traditionelle Elemente, 183–232. 598 Siehe zum Folgenden WA 26, 327, 2–331, 16 und WA 26, 335, 9–341, 38 sowie Baur, Ubiquität, 208–216. 592 593
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Körper des Menschen sein.599 Die dritte Weise wird repletive genannt und bezeichnet die Weise, nach der etwas zugleich an allen Orten sein kann, ohne von einem Ort umfangen zu sein: Gott ist in seiner Allgegenwart auf repletive Weise präsent. Luther betont nun, dass der Leib Jesu Christi auf alle drei Weisen präsent war oder ist. Dass Christus kein Scheinleib zukommt, ist dadurch gesichert, dass er auf lokale Weise und damit als Leib unter Leibern während der Zeit seines irdischen Wirkens präsent war. Durch die Zeiten hindurch ist er auf diffinite Art im Abendmahl gegenwärtig, da er in, mit und unter dem Brot präsent ist, ohne dass das Brot aufhören müsste, Brot zu sein. Die Präsenz des Leibes Christi im Brot ist nur möglich, da er auch auf repletive Art gegenwärtig ist. Jesus Christus ist ein Christ-all, der wie das Licht im Kristall an jedem Ort gegenwärtig ist. 600 In strikter Entsprechung zu derjenigen Allgegenwart Gottes des Vaters, an der die Allgegenwart des Sohnes auch nach seiner menschlichen Natur teilhat, kommt es somit der Menschheit zu, allen Orten transzendent zu sein. 601 Die Lehre von der Menschheit Christi ist somit durch ein „‚Extra Lutheranum‘“602 geprägt. In Entsprechung zur Allgegenwart Gottes des Vaters liegt aber auch bei der Allgegenwart des Sohnes und seiner Menschheit die Betonung auf der heilvollen Immanenz im Abendmahl, die mit der Transzendenz dialektisch vermittelt ist. Letztlich übernimmt Luther die Lehre von den drei Weisen, an einem Ort zu sein, aus dem Grund, um die Realpräsenz im Abendmahl auszusagen und damit zugleich den Einsetzungsworten der klaren, hellen Schrift in der ihnen gemäßen, wörtlichen Lesart folgen zu können. 603 Dennoch scheint die Betonung der Allgegenwart der Menschheit all diejenigen Fragestellungen in intensivierter Form wiederzubringen, die zum Abschluss der Überlegungen zum Sündenverständnis angesprochen wurden. Denn als allgegenwärtiger ist Gott für den Menschen ungreifbar und somit letztlich auch unbegreiflich. Wenn auch Christus als derjenige, durch den Gott sich begreifbar macht, allgegenwärtig ist, so droht die Gefahr, dass Gott sich endgültig der Begreifbarkeit entzieht. Um dieser Gefahr zu entgehen, differenziert Luther zwischen zwei Arten, wie Gott präsent ist. Es ist „ein anders, wenn Gott da ist, und wenn WA 26, 328, 7 f . Siehe WA 26, 337, 14–20 und oben, Drittes Kapitel, 2.1.3.1.3. 601 WA 26, 341, 3 f. 602 Baur, Ubiquität, 215. 603 So auch Grass, Die Abendmahlslehre, 55 f., 59, und Hilgenfeld, Mittelalterlich-traditionelle Elemente, 232. 599
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er dir da ist. Denn aber ist er dir da, wenn er sein wort dazu thut und bindet sich damit an und spricht: Hie soltu mich finden. Wenn du das wort hast, so kanstu yhn gewislich greiffen und haben und sagen: Hie habe ich dich.“604 Diese sich durch das Wort vollziehende Selbstgabe Gottes in einen bestimmten Ort hinein ereignet sich in ausgezeichneter Weise im Abendmahl. Denn Christus ist aufgrund seiner Allgegenwart auch nach seiner Menschheit hin „unbegreifflich worden, und wirst yhn nicht ertappen, ob er gleich ynn deinem brod ist, Es sey denn, das er sich dir anbinde und beschide dich zu eim sonderlichen tissch durch sein wort und deut dir selbs das brod durch sein wort, da du yhn essen solt, Welchs er denn thut ym abendmal und spricht ‚Das ist mein leib‘ als solt er sagen: Da heymen magstu auch brod essen, da ich auch freylich nahe gnug bey bin, Aber dis ist aber das rechte ‚Tuto‘, das ‚Das ist mein leib‘, Wenn du dis issest, so issest du meinen leib und sont nicht.“605 Sosehr Luther in Bezug auf das Kreuzesgeschehen betonte, dass tatsächlich Gott litt und starb und Christus nur dadurch zum Heiland wurde, so betont er in Bezug auf das Abendmahl, dass tatsächlich der Mensch präsent ist, da Gott nur auf diese Weise der begreifbare Gott für den Menschen und damit der menschliche Gott ist. 606 Die Allgegenwart auch der Menschheit Christi wird von Luther somit deshalb so stark betont, um begreifbar zu machen, wie Gott sich durch das Wort an ausgezeichneten Orten ganz begreifbar machen kann. Zugleich hebt die Betonung der Gegenwart Gottes diejenige Grundspannung der Theologie Luthers nicht auf, die gerade für ihre Rekonstruktion aus der Empfängerperspektive charakteristisch ist, sondern verschärft sie wiederum. 607 Denn zum einen betont Luther, dass Gott der Sohn in der Personeneinheit der zwei Naturen allgegenwärtig und damit an ausgezeichneten Orten wie dem Abendmahl auf persönliche Weise für den Menschen gewisslich greifbar ist. Weit davon entfernt, der Konkretheit und Leiblichkeit gelebten Lebens zu widersprechen, erweist sich die Ubiquitätslehre als ein Theorem, das dieser Konkretheit entspricht und zu ihrem acht- und heilsamen Umgang dienen soll: 608 „Ja weil er allenthalben ist, so sind wir freylich da er ist denn er mus ia bey uns auch sein
WA 23, 151, 13–17, siehe auch WA 19, 491, 17–493, 24. WA 26, 151, 28–35, siehe dazu auch Grass, Die Abendmahlslehre, 65–77. 606 Siehe dazu auch Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 26–34. 607 Siehe dazu auch Peters, Realpräsenz, 54–63. 608 Siehe auch Baur, Ubiquität, 207. 604 605
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sol er allenthalben sein.“609 Er, der überall da ist, muss nur noch als dieser offenbart werden, um für den Menschen greifbar zu sein. 610 Entsprechend trifft auf Jesus Christus in gesteigerter Form zu, was auch auf den Vater zutrifft: Er ist nicht nur der Geber einer von ihm getrennten Gabe, sondern er gibt sich dergestalt selbst, dass er leibliche Gabe ist. Der Mensch ist damit auch in Bezug auf Christus nicht nur Nutznießer, sondern zugleich Empfänger der guten Gabe Christi. Mit seiner Realpräsenz bringt Christus die vom Geist gewirkte Gewissheit der Sündenvergebung und ewiges Leben mit sich. Zudem führt die Realpräsenz dazu, dass Gottes Wesen als Liebe greif- und begreifbar wird und zu eigenen Liebestaten anreizt, dazu gleich mehr. Zum anderen jedoch wird Gott aufgrund der Realpräsenz nur umso unbegreiflicher, so dass der im Abendmahl gestärkte Glaube stets angefochten ist. Denn die Lehre von der Realpräsenz betont, dass nicht nur Gott der allmächtige Vater, sondern auch Gott der Sohn mitsamt seiner Gott als Liebe offenbarenden menschlichen Natur und somit Gott der Sohn als menschlicher Gott allgegenwärtig ist. Damit aber stellt sich umso unabweisbarer die Frage, wie es zu denjenigen Weltgeschehen und zu demjenigen eigenen sündigen Verhalten kommen kann, deren Betrachtung nur den Schluss zulassen, dass Gott entweder ungerecht ist oder dass er nicht ist. Auch wenn der Glaube von diesen Fragen zum Abendmahl flieht, um dort gestärkt zu werden, wendet er sich von dort aus wiederum der Welt zu und wird angefochten. Voreschatologisch ist dem Glauben eine Wunde eingeschrieben, die nur um den Preis der Negation der Gottheit und Liebe Gottes oder um den Preis der Leugnung der Abgründigkeit der Weltgeschichte geschlossen werden kann. Der Preis wäre der der Selbstabschließung einer Theorie gegenüber derjenigen Wirklichkeit, von der sie doch eigentlich handeln will. Diese Auswe WA 26, 349, 6 f., siehe auch WA 23, 143, 20–22. Entsprechend vertritt Luther zumeist die Position, dass Christus auch bei der Inkarnation und für seine Präsenz im Sakrament nicht den Himmel zu verlassen und niederzufahren braucht, da er jeweils schon an allen Orten ist, siehe WA 18, 206, 10–23. Er vertritt somit viel eher eine Krypsis- als eine Kenosis-Christologie, ohne allerdings das Element der Kenosis ganz aufzugeben, wenn er etwa schreibt: „Unsers Gotts Ehre aber ist die, so er sich um unser willen aufs allertiefeste heruntergibt, ins Fleisch, ins Brot“ (WA 23, 157, 30 f.). Diese beiden Ansätze sind bei Luther nicht vollständig miteinander vermittelt, so dass beide Seiten des Kenosis-Krypsis-Streits ein gewisses Recht hatten, sich auf Luther zu berufen, siehe dazu Grass, Die Abendmahlslehre, 80. 610 Siehe WA 23, 147, 25, und Jörg Baur, Art. Abendmahl III.1.a) Dogmatisch lutherisch, in: RGG4, Band 1, 31–36, 35. 609
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ge nicht gewählt zu haben und damit die Gott als allmächtigen Geber guter Gaben, die Wirklichkeit als umfassendes Gabegeschehen und zugleich als Ort bleibender Anfechtung in den Blick zu nehmen, ist Charakteristikum von Luthers Abendmahlstheologie. – Im Abendmahl wird dem angefochtenen Gewissen das Heil zugesprochen; zugleich gewinnt die Anfechtung an Intensität gerade aufgrund der heilsamen, geistvermittelten Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl, dem Thema des folgenden Abschnittes.
2.2.5. Geistgewirkte Realpräsenz. Vom Wesen und Nutzen des Abendmahls Um die heilsame Realpräsenz Christi im Abendmahl zu explizieren, verbindet Luther christologische Überlegungen und damit auch solche zur Worttheologie mit pneumatologischen Überlegungen und damit auch mit solchen zu Glauben, Gewissheit und Liebe. Die christologischen und die pneumatologischen Überlegungen zusammen verdeutlichen, wie eng Wesen, Nutzen und Form des Abendmahls miteinander verbunden sind. Das Wesen des Abendmahls besteht in der durch das Wort hervorgerufenen, heilsamen Realpräsenz Jesu Christi in Brot und Wein. Da bereits die Überlegungen zu Leben, Tod und Auferstehung Christi verdeutlichten, dass bei Christus selbst Person und Werk aufs engste miteinander vermittelt sind, erhellt, dass auch Christi Präsenz im Abendmahl heilsame Gegenwart mit Gabecharakter ist. Die Gabe wird als leibliche Gabe gegeben und damit in derjenigen Form, in der Gott immer am Menschen handelt. Dadurch werden im Abendmahl für die Glaubenden die Sünden vergeben und sie erhalten Anteil am ewigen Leben. Zugleich schenkt der Geist ihnen die Gewissheit, dass die Wirklichkeit ein umfassendes Gabegeschehen ist und dass sie selbst von der Gabenfülle beschenkt sind, von der sie entsprechend anderen Menschen weitergeben können. Im Bekenntnis fasst Luther die pneumatologische Perspektive wie folgt zusammen: „Weil aber solche gnade niemand nütze wäre, wo sie so heimlich verborgen bliebe und zu uns nicht kommen kündte, so kompt der heilige geist und gibt sich auch uns ganz und gar. Der lehret uns solche wolthat Christi uns erzeigt erkennen, hilfft sie empfahen und behalten, nützlich brauchen und austeilen, mehren und fördern. Und thut dasselbige beide ynnerlich und eusserlich. Ynnerlich durch den glauben und ander geistlich gaben. Eusserlich aber durchs Euangelion, durch die tauffe und sacrament des altars, durch welche er als
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durch drey mittel odder weise zu uns kompt und das leiden Christi ynn uns ubet und zu nutz bringet der seligkeit.“611
2.2.5.1. Heilsame Realpräsenz: Die christologische Dimension Durch die Einsetzungsworte bindet Jesus Christus seinen Leib so an Brot und Wein, dass er in ihnen real präsent ist. Luther nimmt damit die von Augustin herstammende Bestimmung auf, nach der sich das Sakrament realisiert, wenn das Wort zum Element kommt. 612 Dies ist möglich, da die Einsetzungsworte sowohl „thettel wort“ wie „heisse wort“613 sind, also Tat- wie Befehlswort. Bereits in den Überlegungen zur Schöpfungslehre wurde deutlich, dass die Worte, die Christus spricht, Machtworte sind, die mit sich bringen, wovon sie reden (siehe dazu auch oben, Drittes Kapitel, 2.2.2.1.). Die Einsetzungsworte sind ebenfalls solche Machtworte: „Denn es sind thetel wort, die Christus auffs erste mal redet und leuget nicht, da er spricht ‚Nehmet, esset, das ist mein leib‘ etce., eben so wol, als son und mond da stund, da er sprach Gen. 1 ‚Es sey sonn und mond‘ und war kein lugen wort.“614 Zugleich gibt Christus den Wiederholungsbefehl: „solches nehmt“ und „solches esst“. 615 Dadurch wird bewirkt, dass auch der das Abendmahl feiernde Mensch nach Christi Tod und Auferweckung durch das Sprechen der Einsetzungsworte die Macht hat, den Leib Jesu Christi präsent werden zu lassen. „So ists sein leib, nicht unsers sprechens odder thettel word halben, sondern seines heissens halben, das er uns also zu sprechen und zu thun geheissen hat und sein heissen und thun an unser sprechen gebunden hat.“616 Im Abendmahl wird somit durch menschliches Sprechen die Schöpferkraft Gottes und seines Wortes erfahrbar. 617 Wie Luther immer wieder und mit Nachdruck betont, wird dadurch der allgegenwärtige Leib Jesu Christi im Brot real präsent. 618 Die Realpräsenz wird von allen Evangelien übereinstimmend bezeugt. 619 Sie gilt allein aufgrund des verläss WA 26, 505, 38–506, 12. Siehe WA 30 I, 214, 15–17. 613 WA 26, 282, 17. 614 WA 26, 282, 39–283, 3, siehe dazu auch Grass, Die Abendmahlslehre, 86–92. 615 Siehe dazu auch Schwab, Entwicklung, 272–275. 616 WA 26, 285, 16–18. 617 Siehe dazu auch Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 9. 618 Siehe nur WA 19, 483, 20–29; WA 19, 490, 10–23; WA 23, 143, 23–145, 2; WA 26, 442, 29–35. 619 Siehe WA 26, 458, 26–459, 21. 611
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lichen Wortes Gottes und somit unabhängig von dem Glauben oder der Würdigkeit der das Abendmahl austeilenden oder empfangenden Menschen. Die Realpräsenz vollzieht sich in der Form der Verbindung des Leibes und Blutes Christi mit dem Brot und Wein des Abendmahls, die Luther auf doppelte Weise bestimmt. Einerseits betont er, dass die Verbindung eine ganz enge ist. Entsprechend wird sie von Luther als „Sacramentliche Einickeit“620 bezeichnet und sachlich in eine Linie mit der Einheit der drei Personen der Trinität und mit der Personeneinheit Jesu Christi gestellt (siehe auch Drittes Kapitel, 2.1.3.1.2.). Sie wird durch die Synekdoche sprachlich gefasst, so dass zu Recht gesagt werden kann: „Dies ist mein Leib.“ Für die Dauer der Feier des Abendmahls wird aus dem Brot „leibsbrot“621, und es gilt, dass „wer dis brod angreiffet, der greiffet Christus Leib an, Und wer dies Brot isset, der isset Christus leib [. . .] Denn was man dem Brot thut, wird recht und wol dem leibe Christi zu geeignet umb der sacramentlichen einickeit willen.“622 Andererseits ist der Leib nicht in derselben Weise am Ort des Brotes eingeschlossen, wie es das Brot ist, so dass der Leib nicht auf dieselbe Weise verzehrt wird wie das Brot: „Und bleibt doch allwege war, das niemand Christus leib sihet, greifft, isset oder zubeisset, wie man sichtbarlich ander fleisch sihet und zubeisset.“623 Der Leib ist nicht localiter im Brot eingeschlossen. Er ist seinem Wesen nach da, aber nicht im Modus der Körperlichkeit präsent. 624 Zugleich ist laut Luther in Übereinstimmung mit seinem gesamten Verständnis der Heilsordnung im Allgemeinen und seiner holistischen Anthropologie und Christologie im Besonderen mit dem Leib Christi die ganze Person Christi präsent, da „Christi leib eine person mit WA 26, 442, 24. WA 26, 445, 11. Bezüglich der Frage nach dem Modus und der Dauer der Realpräsenz, die auch für die Auseinandersetzung mit den Altgläubigen und den Reformierten von Interesse ist, beschränkt Luther die Dauer der Präsenz Christi somit nicht auf den Moment des Ausspruchs der Einsetzungsworte oder auf den Moment der Nießung, sondern bezieht sie auf die ganze Feier des Abendmahls, allerdings nicht darüber hinaus; sollten Elemente übrig bleiben, so sollen sie am Ende der Feier verzehrt werden, siehe dazu Grass, Die Abendmahlslehre, 112–121. 622 WA 26, 442, 32–38. 623 WA 26, 442, 35 f., siehe dazu auch WA 23, 251, 25 und Grass, Die Abendmahlslehre, 122–129. 624 Siehe dazu Baur, Art. Abendmahl, 35 und Grass, Die Abendmahlslehre, 122– 129; 268 betont Grass, dass der grundlegende Strang von Luthers Theologie, der darin besteht herauszuarbeiten, dass sich Christus in der Inkarnation und im Abendmahl an Leibliches anbindet, der letzte Grund der Differenz zu Calvin ist. 620 621
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Gott ist“. 625 In, mit und unter dem Brot ist nicht bloß der Leib, sondern vielmehr die ganze Person Christi anwesend. In Bezug auf die ganze, leibliche Person Christi gilt, was Luthers Theologie immer wieder betont und was Luther selbst durch Formulierungen wie das „in, mit und unter“ ausdrückt: 626 Der nahe, sich hingebende Christus, der seinen Leib ganz mit dem Brot verbindet, ist zugleich der souveräne Herr des Abendmahls und der ganzen Welt, der nicht auf dieselbe Art verzehrt wird wie das Brot. 627 Gott gibt sich ganz, ohne sich durch sein Sichgeben allererst zu konstituieren oder sich darin zu erschöpfen. Die Einsetzungsworte lassen jedoch nicht nur Jesus Christus im Abendmahl präsent werden, sondern sie teilen Christi Leib auch an den Empfänger aus und erwirken so dessen Sündenvergebung: „für euch gegeben zur Vergebung der Sünden“. 628 Damit wird in den Einsetzungsworten diejenige Verbindung von Metaphysik und Rechtfertigungslehre vollzogen, die auch in den christologischen Überlegungen deutlich wurde, wobei die christologische Dimension die Verbindung in den Einsetzungsworten sachlich fundiert: Christi Person und sein Werk sind untrennbar miteinander verbunden, so dass es nur angemessen ist, wenn die Einsetzungsworte einen solchen Leib in seiner Präsenz offenbar werden lassen, der für die Menschen gegeben ist. Vermittels des Worts ist Christus nicht nur anwesend, sondern seine Präsenz ist auch als solche heilbringend. 629 „Du solt glewben, nicht allein das Christus mit leib und blut da sey, sondern auch das er dir da geschenckt sey.“630 Das Heil, das am Kreuz ein für allemal erworben wurde, gelangt somit durch die Einsetzungsworte in die Elemente des Abendmahls und kommt auf diese WA 26, 334, 29 f. Wir folgen somit Autoren wie Metzke, Sakrament, 177–180, Peters, Realpräsenz, 105–113, Schwab, Entwicklung, 266–269, und Baur, Art. Abendmahl, 33 („Res ist kein Alternativterm zu Person.“), die gegen Autoren wie Grass, Die Abendmahlslehre, 48–57 und 83–86 betonen, dass es dem ganzen Anliegen von Luthers Abendmahlstheologie widerspricht, wenn man einen gleichsam naturalistisch-apersonalen Strang in Luthers Abendmahlsschriften, der von der Präsenz von Christi Leib und Blut redet und der von Luther exegetisch erhoben wurde, von einem gleichsam personalistischen Strang trennt, der von der Präsenz der Person Christi redet und den Luther aufgrund von christologischen Begründungen vertreten habe. Luther ist gerade darin interessant, dass er diese Trennung unterläuft. 626 Siehe dazu WA 26, 344, 1–19 und Baur, Ubiquität, 215. 627 Siehe dazu auch Peters, Realpräsenz, 88–105. 628 Siehe dazu auch Schwab, Entwicklung, 279 f. 629 Siehe dazu auch Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 34–43, und Schwab, Entwicklung, 292. 630 WA 19, 503, 11 f. 625
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Weise den Menschen zugute. 631 Dieses Heil fasst Luther auch unter dem Begriff des Neuen Testaments, welcher das Evangelium der Sündenvergebung und des neuen Lebens für die Glaubenden bezeichnet. Daraus erhellt, dass Luther im Großen Katechismus das wirkmächtige Einsetzungsworten und das Evangelium aufs engste miteinander verbunden sehen kann. Die Einsetzungsworte, die das Heil und das Neue Testament mit sich bringen, stellen für ihn die Summe des Evangeliums und des Glaubensbekenntnisses dar, 632 so wie die Sündenvergebung die „Grundsignatur“633 der Gesamtexistenz des Christen ist. Die eben entwickelten, für Luther zentralen christologischen Aspekte der heilvollen Realpräsenz seien in einem prägnanten Zitat zusammengefasst: „Darumb sihe, welch ein schon, gros, wunderlich ding es ist, wie es alles ynn einander henget und ein sacramentlich wesen ist. Die wort sind das erste, Denn on die wort were der becher und brod nichts, Weiter on brod und becher were der leib und blut Christi nicht da, On leib und blut Christi were das newe testament nicht da. On das newe testament were vergebung der sunden nicht da, On vergebung der sunden wer das leben und seligkeit nicht da. So fassen die wort erstlich das brot und den becher zum sacrament, Brot und becher fassen den leib und blut Christi, Leib und blut Christi fassen das newe testament, das newe testament fasset vergebung der sunden, Vergebung der sunden fasset das ewige leben und seligkeit. Sihe, das alles reichen und geben uns die wort des abendmals, und wir fassens mit dem glauben.“634 In dem eben angeführten Zitat ist ein weiteres Strukturmoment der Rechtfertigungslehre impliziert: Das Erwerben und Vergegenwärtigen des Heils ist allein Werk Gottes, nicht das des Menschen. Wie Luther an anderer Stelle über das Abendmahl sagt, „hats der Herr nicht allein eingesetzt, sondern machts und helts auch selbs und ist der koch, kelner, speise und trank selbs.“635 Als Speise und Trank ist er in dem ihn nie631 Diese Unterscheidung und Bezogenheit von meritum und distributio meriti wird von Luther mehrfach betont. Stets besteht die Pointe darin, dass das Heil am Kreuz einmal erworben wurde und dann durch das Wort je in der Gegenwart ausgeteilt wird (siehe nur WA 18, 202, 28–203, 2; WA 26, 294, 5–18. Christus selbst aber wird gerade nicht täglich neu geopfert; diese altgläubige und zur Werkgerechtigkeit hinführende Annahme ist vielmehr als größte Lästerung anzusehen, siehe WA 23, 273, 13–33 und Schwab, Entwicklung, 283–288. 632 WA 30 I, 226, 8–16, und Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 109 f. 633 Herms, Luthers Auslegung, 112. 634 WA 26, 478, 36–479, 8. 635 WA 23, 271, 9–11.
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ßenden Menschen real präsent und teilt ihm so das Heil mit. Gleichsam als hätte Luther die Ablehnung der Lutherrenaissance provozieren und der finnischen Lutherforschung Belegmaterial für ihre zentrale These liefern wollen, schreibt er: „Also sey Christus durch das sacrament, so wir essen und trincken, naturlich und wesentlich ynn uns und wir ynn yhm, und brauche auch dazu des worts ‚naturlich‘ allenthalben hie, das er beweise ein naturliche vereinigung des leibs Christi mit uns, und nicht allein eine geistliche, die ym willen und synn stehe.“636 Dass Christus in das Herz des Menschen gelangen kann und sich das Herz des Menschen für Christus öffnet, geschieht nicht nur mittels des Wortes, sondern auch durch den Glauben. Dieser ist Werk des Heiligen Geistes, dem Thema der folgenden Überlegungen.
2.2.5.2. Gewissheit und Weitergabe: Die pneumatologische Dimension Dem Geist kommt als Charakteristikum dasjenige zu, was bereits dem Vater und dem Sohn zugeschrieben wurde, was beim Geist aber geradezu sein Wesen ausmacht: Er ist dadurch definiert, dass er nicht bloß irgendetwas gibt, sondern sich selbst. 637 Entsprechend ist der Mensch nicht nur Nutznießer seines Handelns, sondern empfängt den Geist selbst. Indem der Geist sich selbst gibt, schenkt er Glauben. So bewegt er die Herzen der Menschen auf den sich selbst gebenden Christus hin und lässt zugleich Person und Werk Jesu Christi im Herzen der Menschen Wohnung nehmen. 638 Die Menschen hängen ihr Herz an den präsenten
636 WA 23, 239, 8–12, siehe zur realen unio des ganzen Glaubenden nach Leib und Seele mit dem ganzen Christus nach Leib und Person auch die eindringliche Darstellung und die vielen Belegstellen bei Peters, Realpräsenz, 115–122 sowie Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 81–90. 637 Mit Herms, Luthers Auslegung, 118, gesprochen: „Das Werk des Vaters besteht darin, daß er sich als Schöpfer Himmels und der Erde vergegenwärtigt; das Werk des Sohnes besteht darin, daß er sich als der, in seine Schöpfung eingehende, sie sich definitiv aneignende, Schöpfer vergegenwärtigt; das Werk des Heiligen Geistes besteht darin, daß er sich als der sich schöpferisch Vergegenwärtigende vergegenwärtigt.“ 638 Siehe dazu auch Peters, Realpräsenz, 67. Peters, Realpräsenz, 45–49, betont zu Recht, dass Luther dem Geist damit eine wesentliche Rolle zuschreibt, die besonders im Großen Katechismus expliziert wird. Der Vorwurf der Reformierten an Luther, eine einseitig christozentrische, da geistvergessene Theologie zu betreiben, ist somit in Bezug auf die hier ausgelegten Texte nicht haltbar.
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Christus. 639 Auf diese Weise schenkt der Geist mit sich zusammen den Glauben und die dem Glauben zukommende Gewissheit, dass der Glaube wahr ist und deshalb im Leben und Sterben tragen kann. 640 Somit zeigt sich, dass diejenige Verschränkung der geber- mit der empfängerorientierten Perspektive, die bereits in Luthers Lehre von der immanenten Trinität, in der Schöpfungslehre und in seiner Christologie namhaft gemacht wurde, in den pneumatologischen Überlegungen zum Abendmahl zu ihrem Zielpunkt kommen. Zum Zielpunkt kommt die empfängerorientierte Perspektive gerade deshalb, weil das Abendmahl zugleich den Zielpunkt der geberorientierten Perspektive darstellt und sich somit beide Perspektiven hier in ausgezeichneter Weise kreuzen: Weil Gott im Abendmahl in besonders intensiver Weise am Menschen handelt, indem er hier sich zeigt und auf heilbringende Weise dem Menschen real präsent ist, kann der Mensch das Erste Gebot erfüllen. Gott ermöglicht, dass der Mensch sein Herz an Gott hängt. Zugleich ist mit diesem Zielpunkt der empfängerorientierten Perspektive gerade auch die geberorientierte an ihrem Zielpunkt, da es Gottes Willen entspricht, dem Menschen zugute zu handeln mit dem Ziel, dass der Mensch auch nach dem Fall sein Herz an Gott hängt und die guten Gaben des Vaters erkennen und genießen und dem Vater für diese loben möge. Die Selbstvermittlung des Geistes und damit die Entstehung des Glaubens vollziehen sich vermittels des äußeren Wortes und der äußeren Zeichen der Sakramente, da „der geist bey uns nicht sein kann anders denn ynn leiblichen dingen als ym wort, wasser und Christus leib.“641 Auch der Mensch empfängt die ihn ganzheitlich ansprechenden Zeichen von Brot und Wein, das Wort und den Geist auf ganzheitliche Weise und damit in Übereinstimmung mit dem rechten Verständnis der Heilsordnung. 642 Der Mensch nießt das Abendmahl mit Leib und Seele. Er isst also leiblich mit dem Mund und geistlich mit dem Herzen. Beide Dimensionen dürfen weder voneinander getrennt noch aufeinander reduziert werden, sondern sind auf rechte Art miteinander zu verbinden. Zwar führt das leibliche Essen alleine nicht zum Heil, so dass das geistliche Essen dem leiblichen vorgeordnet ist. 643 Aber da Christus neben dem Siehe WA 30 I, 188, 6–17. Luther betont immer wieder, dass der Geist mit dem Glauben auch Gewissheit schenkt, siehe nur WA 23, 215, 29–32; WA 23, 245, 30 f.; WA 26, 262, 26–268, 14. 641 WA 23, 193, 31 f. 642 Siehe dazu auch Grass, Das Abendmahl, 92–95 und 108. 643 Siehe dazu auch Peters, Realpräsenz, 115–129. 639
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geistlichen Essen auch das leibliche eingesetzt hat, ist auch auf das leibliche Essen nicht zu verzichten. 644 Beide ergänzen einander auf folgende Art: Der Leib des Menschen isst für das Herz das Brot auf leibliche Weise, indem er es mit dem Mund verzehrt. Der Mund erweist sich dadurch als Gliedmaß des Herzens. 645 Das Herz isst für den Leib auf geistliche Weise, indem es aufgrund von Wort und Geist gewiss ist, dass der Mund den Leib Christi isst. 646 „So machts nu Gott gleich, das [. . .] also alle beide von einerley speise gesetigt und selig werden.“647 Es erhellt, dass Luther die durch Wort und Sakrament vermittelte und Leib und Seele betreffende Rechtfertigung nicht nur als forensische, sondern auch als real verändernde, effektive denkt. 648 Denn das dreifache Sichgeben Gottes führt zur heilbringenden Realpräsenz Gottes im Menschen, und diese ermöglicht es dem Menschen, sein Herz an Gott zu hängen. So vertraut der Mensch auf Gott als Geber aller guter Gaben, gewinnt Anteil an der Überfülle der Gabenwirklichkeit, vermag die Wirklichkeit als Gabegeschehen zu erkennen und in dieser in der ihr angemessenen Form zu handeln. Die dreifache Selbstgabe des dreifaltigen Gottes führt also dazu, dass sich das Verhältnis und das Verhalten des sündigen Menschen zu Gott, zu sich selbst, zur Umwelt und zu seinen Mitmenschen ändert. Das sei kurz genauer ausgeführt. So verändert sich das Verhältnis des Menschen gegenüber Gott, da er im Abendmahl die Vergebung für seine Sünden erfährt und er im Glauben gewiss ist, dass ihn auch die künftigen Sünden nicht mehr zu verdammen vermögen. 649 Dadurch wird dem Menschen ein freies und fröhliches Gewissen geschenkt. 650 Doch der Mensch ist nicht nur dadurch Nutznießer des Kreuzestodes Christi, dass er vor dem Zorn Gottes geschützt wird und seine Sünden vergeben werden, sondern er ist auch Empfänger der effektiv verändernden Realpräsenz Christi. Sie erwärmt das gegenüber Gott erkaltete, am Teufel hängende Herz des Menschen, 651 so dass der Mensch sein Herz mit geistgeschenkter Gewissheit an Gott hängt. Er erwartet nicht mehr von sich selbst, sondern von Gott alles Siehe WA 23, 181, 33–183, 2. Siehe WA 23, 181, 12. 646 Siehe dazu auch Schwab, Entwicklung, 294–296. 647 WA 23, 191, 20–22. 648 Siehe dazu auch Herms, Luthers Auslegung, 65–100 und jetzt auch Rolf, Zum Herzen sprechen, 32–234, zusammenfassend 226–234. 649 Siehe WA 30 I, 190, 29 f. 650 Siehe WA 18, 195, 38 f. 651 Siehe WA 30 I, 229, 9–16. 644 645
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Gute und Hilfe in aller Not und lobt und dankt ihm für die Erlösung von Tod und Sünden. So erfüllt er das Erste Gebot. Der im Herzen des Menschen präsente Christus wird der Herr des Menschen, so dass der Mensch selbst im Himmel als demjenigen Ort ist, der sich durch die rechte Beziehung zum dreieinigen Gott auszeichnet. 652 Dadurch hat er bereits jetzt Anteil am ewigen Leben653 und lebt in der Hoffnung, dereinst zum ewigen Leben auferweckt zu werden. Gemäß Luthers Verständnisses der Heilsordnung und seiner holistischen Anthropologie und Christologie betont er, dass nicht nur die Seele, sondern auch der Leib des Menschen in den Kampf gegen den Teufel hineingezogen wurde und zugleich so am Heil partizipiert, dass er auferweckt werden wird. 654 Denn „die seele sihet und verstehet wol, das der leib müsse ewiglich leben, weil er eine ewige speyse zu sich nympt, die yhn nicht lassen wird ym grabe odder staub verfaulet und verweset.“655 Indem das Herz von dem im Menschen anwesenden Christus bestimmt wird, werden auch Vernunft und Handeln des Menschen entsprechend bestimmt. Die Anwesenheit Christi lässt dem Menschen die Augen aufgehen, so dass er die Wirklichkeit nicht mehr als zu beherrschender oder als zu fliehender Bestand wahrnimmt, sondern sie als Überfülle der guten Gaben des Vaters zu erkennen vermag. Jedes Körnlein wird zum Wunderwerk, durch das der Schöpfer den Menschen anspricht und ihn auffordert, die Schöpfung in ihrer Fülle zu genießen. 656 Auch das Verhältnis zu den Mitmenschen ändert sich grundlegend. Diese werden nicht mehr bloß als Konkurrenten, sondern wiederum als Mittel und Rohre wahrgenommen, durch die Gott dem Menschen Gutes zukommen lässt. Als reich beschenkter vermag der Mensch mithilfe des in ihm handelnden Geistes, anderen Menschen zu ihrem eigenen Besten zu verhelfen. Das Abendmahl ist Ursprungsort der Diakonie. Diese auch in den Katechismen zu findende Struktur erfährt in Luthers Abendmahlsschriften eine eigene, abendmahlsspezifische Begründung. 652 Siehe WA 19, 489, 27–30, wo Luther sehr schön über Christus schreibt: „Ich predige, das er sitzet zur rechten Gottes und hirscht uber alle creatur, sund, todt, leben, welt, Teuffel und Engel; wenn du das glewbest, so hast yhn bereit ym hertzen. Also ist dein hertz ym hymel, nicht ynn einem schein odder trawm sondern warhafftig.“ 653 WA 26, 479, 6. 654 Siehe dazu auch Peters, Realpräsenz, 140–153. 655 WA 23, 191, 25–28, siehe auch WA 23, 205, 13, WA 23, 233, 25, WA 30 I, 230, 37–231, 2. 656 WA 19, 488, 9–16.
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Denn der Glaubende wird durch das Abendmahl nicht nur mit dem Leib Christi als dem präsenten Herrn im Brot real verbunden, sondern er wird damit zugleich auch mit seinen Mitgläubigen zum Leib Christi, der Kirche, verbunden. Die gleichsam vertikale Verbindung zu Christus und die gleichsam horizontale zu den Mitchristen sind zwei untrennbare Aspekte der Realpräsenz des das Heil kommunizierenden Christus. 657 Zugleich dient das Sakrament des Abendmahlsbrotes als „figur odder furbild“ für das angemessene Verhalten derjenigen, die durch das Brot des Abendmahls mit ihren Nächsten verbunden sind: 658 „Als ein brod wird aus vielen körnlin zusamen gebracht, daraus man ein teig und klump machet, und heisset ein brod nichts anders denn viel körnlin ynn einander gebacken. ‚Also sind auch wir viel‘ (sagt Paulus 1. Cor. 10), doch alle ein brod und ein leib.‘ [. . .] So thut ein Christ und weis nicht anders, denn das das gut, das sein ist, seinem nehisten geben ist; macht kein unterscheid, hilfft yderman mit leib und leben, gut und ehre, wie er kann.“659 Eine genauere Exploration verschiedener Dimensionen dessen, wie der Mensch seinem Nächsten zu Diensten sein kann, liefert Luthers Auslegung der Zehn Gebote im Großen Katechismus. Die Zehn Gebote kommen dabei in einer Funktion in den Blick, die gegenüber der Funktion für den gefallenen Menschen radikal verschieden ist und die an die der Gebote vor dem Fall erinnern. Die Zehn Gebote erscheinen nicht mehr als fremdes Gesetz, das des Menschen Sünde aufweist und ihn zu verdammen droht. Vielmehr bilden sie den Orientierungsrahmen für das Handeln desjenigen Menschen, der von Gottes Sich-Geben beschenkt ist und der somit in einem weiteren Horizont steht, welcher güterethisch gefasst werden könnte. Als Beschenkter will der Mensch dann Gottes Willen gemäß handeln. Die Gebote orientieren mithin denjenigen Menschen, der von sich sagt, dass wir „lust und liebe zu allen gepoten Gottes kriegen, weil wir sehen, wie sich Gott gantz und gar mit alem das er hat und vermag, uns gibt zu hulffe und stewer, die zehen gepot zu halten: Der vater alle creaturn, Christus alle sein werck, der Heilige geist alle 657 Siehe dazu auch WA 23, 235, 36–237, 1, und Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 92–95. 658 Siehe dazu auch Peters, Realpräsenz, 156–159. 659 WA 19, 511, 11–24. Diejenigen ethischen Impulse, die aus der Abendmahlslehre der Schrift Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis und gerade aus ihrem Schlussteil zu erheben sind, werden exegetisiert in Antti Raunio, Faith and Christian living in Luther’s Confession concerning Christ’s supper (1528), in: LJ 76 (2009), 19–56.
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seine gaben.“660 Die Zehn Gebote vermögen Orientierung für das Handeln zu geben, indem sie in den ersten drei Geboten Dimensionen einer angemessen gestalteten Beziehung zu Gott explizieren und in den folgenden Geboten die Grundlage einer zwischenmenschlichen Ethik der Gabe entwickeln. 661 Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die genaueren Konturen einer Ethik der Gabe zu entfalten. Deutlich durfte jedoch bereits geworden sein, wie eng die metaphysische und die pragmatische Ebene in Luthers Abendmahlstheologie zusammenhängen: Das Abendmahl ist eine Handlung, die von einem bestimmten Wirklichkeitsverständnis getragen wird, so dass in den Handlungen auch ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis sichtbar wird. Zugleich ist die Wirklichkeit eine solche, die Handlungen des Menschen freisetzt. Die Auslegung von Luthers später Abendmahlslehre sei dadurch abgeschlossen wird, dass zuerst auf die bleibende Angefochtenheit des Glaubens verwiesen wird und sodann die Besonderheiten des Abendmahls gegenüber der Predigt herausgearbeitet werden. Danach werden in zwei Gängen Zusammenfassungen unserer Lutherauslegung präsentiert, die zugleich den Übergang zum letzten Teil des Buches darstellen (Viertes Kapitel). Denn es wird zuerst an die in den Prolegomena dargelegten Grundzügen unserer Auslegung von Luthers Abendmahlslehre erinnert, ehe Grundzüge von Luthers Metaphysik des Abendmahls unter Rekurs auf den Kern der Einsichten Kochs und Schellings namhaft gemacht werden (Drittes Kapitel, 2.2.6.).
2.2.5.3. Die bleibende Angefochtenheit des Glaubens Der Mensch, der das Abendmahl empfängt, empfängt Gott als gute Gabe; er ist sich des Heils gewiss, beginnt, die Welt erneut als guten Gabenzusammenhang zu begreifen und bekommt die Kraft, um anderen Menschen zu helfen. Dennoch wird seine Anfechtung nicht aufgehoben, aus drei Gründen. So konstatiert Luther zwar einerseits, dass der Glaubende im Himmel ist, da Christus dem Nießenden so nah ist wie seinen Jüngern zu der Zeit, als er noch auf Erden wandelte. Im Abendmahl schmeckt der Glaubende den Himmel. Luther vergisst aber andererseits nicht, dass Christus nur verborgen und nur im Glauben präsent ist und WA 30 I, 192, 25–29. Siehe dazu Herms, Die Bedeutung des Gesetzes, sowie ders., Luthers Auslegung. 660 661
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
damit nicht auf solche sichtbare Weise, wie er es am Jüngsten Tag sein wird. 662 Ebenso sind auch die Glaubenden nur im Glauben geistliche Menschen, so dass ihre geistliche Existenz ebenso wie das unsterbliche Wesen ihres Leibes noch verborgen ist663 und somit immer wieder Anlass zu Rückfragen und Zweifel bietet. Zweitens wird es nicht allein aufgrund der Verborgenheit Christi und des geistlichen Menschen, sondern vor allem deshalb, weil das gefallene Fleisch und der Teufel noch nicht ganz abgetreten sind, verständlich, dass auch der effektiv gerechtfertigte Glaubende in der gefallenen Welt weiterhin sündigt und bleibend von Tod und Welt angefochten wird. 664 Seine Sünden werden ihm zwar nicht mehr angerechnet und er befindet sich auf dem Wege realer Besserung. Dennoch sündigt er immer wieder. Er hängt sein Herz an andere Entitäten als an Gott und verstößt so gegen das Erste Gebot und damit gegen alle Zehn. Gerade aus der empfängerorientierten Perspektive wird immer wieder deutlich, dass das Wissen um die Wirklichkeit als Gabegeschehen und das diesem Wissen entsprechende Handeln dem Mensch nur in beständigem Kampf gegen seine eigene Sündigkeit zukommen, die ihn die Wirklichkeit als von ihm zu vernutzenden Bestand sehen und ihn entsprechend handeln lässt. Doch auch das Weltgeschehen als Ganzes bleibt dunkel und somit Ort der Anfechtung. Gestärkt vom Abendmahl schaut der Mensch in die Geschichte mit der Hoffnung, dass sich diese als von vielen Akteuren betriebene Kommunikation der Gaben vollziehen möge. Faktisch aber vollzieht sich Geschichte allzu oft als Kampf zwischen Konkurrenten, als Schlachtbank der Schwachen. An diesem Punkt wird, drittens, Gottes Unverstehbarkeit erneut zum Thema. Die Unverstehbarkeit erwächst nicht nur aus den bereits angeführten Fragen, wie die Sünde und das Böse Macht haben können in einer Welt, der der allmächtige Vater und der menschliche Sohn nahe sind. Sondern sie erhebt sich auch aus Luthers Reflexionen über die manducatio impiorum, die Speisung der Unwürdigen. 665 Denn einerseits meint Luther, dass das Abendmahl gerade für diejenigen bestimmt ist, die um ihre eigene Sündigkeit wissen und von ihr angefochten werden. Derjeni-
662 Siehe WA 23, 193, 10–16 und zur eschatologischen Spannung insgesamt, die Luthers Abendmahlslehre durchzieht, Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 56– 62. 663 Siehe WA 23, 205, 25 und WA 23, 233, 25. 664 Siehe WA 19, 515, 19–25 und WA 30 I, 190, 23–29. 665 Siehe dazu auch Peters, Realpräsenz, 129–134.
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ge ist würdig zum Empfang, der um seine eigene Unwürdigkeit weiß. 666 Derjenige darf aufgrund des Geistwirkens seines Heils gewiss sein, der von seinen eigenen Sünden angefochten wird. 667 Denn dieser begehrt von Gott Hilfe in aller Not und erhält diese auch durch das Abendmahl. So erfüllt er mithilfe Gottes das Erste Gebot. Andererseits betont Luther die Realpräsenz Christi im Abendmahl so stark, dass laut ihm auch diejenigen im Abendmahl Christus empfangen, die ihn unwürdig essen. Die Unwürdigen sind diejenigen, die meinen, dass sie nicht unwürdig sind. 668 Des Heils verlustig gehen diejenigen, die meinen, dass sie nicht des Heils Christi bedürfen, da sie nicht um ihre Sündigkeit wissen. Auch diese essen den real präsenten Herrn, allerdings essen sie ihn sich zum Gericht. 669 Zugleich betont Luther, dass die Einsicht in die eigene Sündigkeit selbst wiederum Geschenk des Geistes ist. 670 Auch wenn Luther die nun folgende Frage nicht in den hier behandelten Texten explizit stellt, sondern vor allem in De servo arbitrio erörtert, so ist auch hier auf folgendes Sachproblem zu verweisen: Wie ist ein Gott zu verstehen, der Menschen dafür richtet, dass sie ihre Sündigkeit nicht als Sünde begreifen, daher nicht das Heil begehren und zum Glauben kommen, wenn doch die Einsicht in die eigene Sündigkeit ebenso wie das Heil und der Glaube selbst ein Geschenk Gottes ist? 671 Die Überlegungen zu Vater, Sohn und Geist haben gezeigt, dass gerade derjenige Gott, der sich als dreieiniger gibt, stets auch deus absconditus ist. Der Glaube ist unaufhebbar angefochtener Glaube. Und dennoch behält das Abendmahl seinen Wert als Stärkung der angefochtenen Gewissen. Doch wie verhält sich das Abendmahl zur Predigt: Gibt es einen Gewinn des Abendmahls gegenüber der Predigt?
Siehe WA 30 I, 229, 9–27 sowie 231, 19 f. Siehe WA 19, 506, 26–28. 668 Siehe WA 30 I, 229, 28–230, 23. 669 Siehe WA 30 I, 231, 4–7 und Schwab, Entwicklung, 296–298. 670 Siehe WA 30 I, 232, 30–233, 2. 671 Bekanntermaßen benennt Luther dieses Problem in De servo arbitrio als dasjenige, das voreschatologisch weder durch vernünftige Überlegungen noch durch den Glauben gelöst werden kann, sondern erst im zukünftigen Licht der Herrlichkeit verstehbar wird, siehe WA 18, 785, 23–36. 666 667
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2.5.4. Leibhaftige Nähe und bleibende Vorgegebenheit: Der Gewinn des Abendmahls gegenüber der Predigt Warum widmet Luther gerade denjenigen Fragen, die das Abendmahl betreffen, fünf Jahre lang ebenso hochpolemische wie grundlegende, ebenso umfangreiche wie pointierte Schriften? Was hat das Abendmahl, das die Wortverkündigung nicht hat? Was lässt es Luther als den Theologen des Wortes angezeigt sein, einige der produktivsten Jahre seines Lebens mit einer wesentlich von ihm selbst befeuerten Debatte um Brot und Wein zu verbringen? Gibt es abgesehen davon, dass verschiedene Epochen das Gesamte ihres Wirklichkeitsverständnisses anhand unterschiedlicher Medien verhandeln und das Medium von Luthers Gegenwart zur Verhandlung des Wirklichkeitsverständnisses eben das Abendmahl war, noch andere, in der Sache selbst gegründete Argumente dafür? Nur wenn sich diese Argumente namhaft machen lassen, kann Luthers Abendmahlslehre von Relevanz sein für eine Zeit wie die unsrige, die das Gesamte ihres Wirklichkeitsverständnisses nicht anhand des Mediums des Abendmahls verhandelt. Zweierlei ist überdeutlich. Zum einen gibt es laut Luther keinen soteriologischen Gewinn des Abendmahls gegenüber der Predigt. Es partizipiert laut Luther nicht nur derjenige an der Vollgestalt des Heils, der am Abendmahl teilhat, während derjenige, der allein das promissionale Wort hört, das Heil nur in unvollständiger Form und damit eigentlich nicht das Heil empfängt. Solcherlei Abstufungen verbieten sich bereits deshalb, da das Abendmahl nur aufgrund des Wortes selbst Heil vermittelt. Zudem ist das Abendmahl in eigener Weise Wort, da doch Jesus Christus, das Wort Gottes, in Brot und Wein real präsent ist. 672 Zum anderen fällt auf, dass auf der Ebene expliziter Äußerungen Luther selbst große Zurückhaltung bezüglich der Frage übt, wie Abendmahl und Wortverkündigung zueinander ins Verhältnis zu setzen wären. Erst recht übt er Zurückhaltung bezüglich der Frage, welches denn der Gewinn oder der eigene Nutzen des Abendmahls gegenüber der Wortverkündigung ist. 673 Luther hat diese Frage nur selten eigens thematisiert. 674 Wenn er sie doch zur Sprache brachte, so hat er beinahe ausweichend darauf verwiesen, dass Gott verschiedene Weisen der Heilsvermittlung Siehe dazu auch Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 120–122. Siehe dazu auch Peters, Realpräsenz, 134–140. 674 Zu Luthers Zurückhaltung an diesem Punkt siehe auch Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 122 f. 672
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einsetzte und die Menschen dem zu folgen hätten, ohne Gottes Handeln weiter befragen zu sollen. 675 Nur beiläufig erwähnt er, dass im Abendmahl auf persönlichere Weise dasjenige gegeben wird, was auch aus der Predigt zu empfangen ist: „hie wird es dir und mir ynn sonderheit geben, das die predigt uns zu eigen kompt.“676 Die zurückliegende Untersuchung rekonstruierte Luthers späte Abendmahlstheologie in umfassender Weise. Damit entwarf sie ein Bild seiner Theologie, aus dem sich nun derjenige Gewinn des Abendmahls gegenüber der reinen Wortverkündigung explizit machen lässt, der Luther dazu motiviert haben mochte, sich so ausführlich mit dem Abendmahl zu beschäftigen – auch wenn Luther selbst diesen Gewinn nicht eigens als diesen Gewinn thematisierte. Die auf diese Weise abduktiv erhobene These über den Gewinn hat drei eng miteinander verbundene Aspekte. Sie nimmt Einsichten auf, die eingangs des Lutherteils bei der Explikation des dritten Grundzugs unserer Lutherauslegung angedeutet wurden (siehe dazu oben, Drittes Kapitel, 2.1.2.2.) und die nun weiter entwickelt werden können. Die These besagt erstens, dass der Gewinn nicht in soteriologischer, sondern in epistemologischer Hinsicht zu verorten ist. Sie besagt zweitens, dass der Gewinn in epistemologischer Hinsicht durch die im Abendmahl vorliegende Form erzielt wird. Dies ist, drittens, deshalb möglich, da die Form ihrem Inhalt in ausgezeichneter Weise entspricht. Genauer: Erstens vermittelt die Predigt ebenso das Heil wie das Abendmahl. Aber stärker als durch die Predigt wird durch das Abendmahl sichtbar, dass das Heil dem Menschen zugleich von außen und doch auf greifbare Weise persönlich nahe kommt, und dass der Mensch Moment einer umfassenden Wirklichkeit ist, die als leiblich vermitteltes Gabegeschehen zu fassen ist. Anhand des Abendmahls sind somit die grundlegenden Charakteristika des rechten Verständnisses der Heilsordnung in besonderer Weise sichtbar, erfahrbar, begreifbar. Der Grund dafür liegt, zweitens, darin, dass das Abendmahl diese Einsicht in der Form der materialen Gabe präsentiert. Brot und Wein bringen den Menschen auf den Geschmack, dass Gott sich ihm hingibt und dass die Wirklichkeit als Ganze leibliche vermittelte, gute Gabe für ihn ist. 677 Siehe etwa WA 23, 269, 3–18. WA 19, 505, 11–13. 677 Auch Peters, Realpräsenz, 155, weist darauf hin, dass Luther gerade im Kontext derjenigen Stellen, die die leibliche Nießung des Abendmahls bedenken, zu seinen Einsichten in das rechte Verständnis der Heilsordnung insgesamt vorstößt. 675 676
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Denn beim Abendmahl entspricht, drittens, die Form der Vermittlung der Einsicht in den Gabecharakter der Wirklichkeit dem Inhalt der Einsicht selbst. Das gilt in doppelter Hinsicht. Zum einen sind Brot und Wein der Form nach materiale Gaben und entsprechen damit in ihrer Form dem Kern ihres Inhalt: dass das Evangelium konkrete Gabe für den einzelnen Menschen in seiner leibseelischen Einheit ist, an die der Mensch sich halten kann. Die greifbare Form des Abendmahls entspricht dem Inhalt von Gottes Evangelium, dass Gott sich dem Menschen greifund begreifbar macht als menschlicher Gott für den Menschen. Damit sieht der Mensch auch, dass die Wirklichkeit als Ganze und somit auch die Wirklichkeit in ihrer Materialität gute Gabe für den Menschen ist. 678 Zum anderen ist durch diese Form das unaufhebbare Primat des Gebers der Gabe und des Gegebenseins der Gabe gegenüber ihrer Aneignung und gegenüber dem Versuch ihrer Produktion durch den Menschen festgeschrieben. Die Form weist darauf hin, dass das heilvoll-nahe pro nobis unaufhebbar im extra nos Gottes gründet und gerade so heilvoll-nah ist. Entsprechend ist auch die Wirklichkeit als Ganze nicht in menschliche Reflexion oder menschliches Tun auflösbar. Vielmehr hängen diese je von der Vorgängigkeit und dem Sich-Offenbaren der Wirklichkeit ab. 679 Die drei Aspekte können somit wie folgt zusammengefasst werden: Der Inhalt des Evangeliums besagt, dass Gott und die ganze Wirklichkeit dem Menschen unaufhebbar vorgegeben sind, dass Gott aber zugleich als dieser Geber gute, material vermittelte Gaben für den jeweiligen Menschen gibt. Diesem Inhalt entspricht die Form des Abendmahls nicht nur, sondern dieser Inhalt ereignet sich gerade durch die Form des Abendmahls selbst, so dass die Form Moment des Inhalts ist. Zugleich lassen Brot und Wein aufgrund der ihnen eigenen Form in ausgezeichneter Weise sichtbar werden, dass die ganze Wirklichkeit dem Menschen zum guten Gebrauch vorgegeben ist. Es scheint mir daher nur sachgemäß zu sein, dass Luther seine umfassende Theologie leiblicher Gabe im Zusammenhang seiner Schöpfungstheologie, vor allem aber in seinen großen Abendmahlsschriften entwickelt.
Siehe dazu auch Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 124–131. Siehe dazu auch Sommerlath, Der Sinn des Abendmahls, 66–70 und Metzke, Sakrament, 170–173 sowie 203 f. 678
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2.2.6. Zusammenfassung und Übergang Zugleich als zusammenfassende Rückschau und als Übergang in den Schlussteil des Buches sei Luthers Auslegung des Abendmahls dadurch charakterisiert, dass zuerst an die in der ersten Hinführung dargelegten Grundzüge unserer Auslegung von Luthers Abendmahlslehre erinnert sei (Zweites Kapitel, 2.2.6.1.). Dabei klingen bereits Grundzüge der Metaphysik Luthers an, die dann nochmals eigens und unter Rekurs auf den Kern der Überlegungen Kochs und Schellings namhaft gemacht werden sollen (Zweites Kapitel, 2.2.6.2.).
2.2.6.1. Grundzüge unserer Lutherinterpretation Die in der Einleitung eingeführten Grundzüge unserer Lutherinterpretation waren die Folgenden: Luther versucht, der Wirklichkeit als Gabegeschehen dadurch gerecht zu werden, dass er sie unter einer geber- und unter einer empfängerorientierten Perspektive rekonstruiert. Beide Perspektiven sind aufs engste miteinander verbunden, ohne ineinander überführt werden zu können. Als Leittext der geberorientierten Perspektiven dient der Textausschnitt aus dem Bekenntnis des Textes Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis, der die Wirklichkeit durch das dreifache Sichgeben Gottes bestimmt sah. Als Leittext der empfängerorientierten Perspektive dient der Textausschnitt aus Luthers Auslegung des Ersten Gebotes aus dem Großen Katechismus, der den Menschen als einen solchen bestimmt, der sein Herz jeweils an einen Gott oder einen Abgott hängt. Der Leittext der geberorientierten Perspektive gab zugleich die Struktur unserer Auslegung Luthers vor, so dass nach kurzen Überlegungen zur immanenten Trinität ausführlich die Schöpfungslehre und sodann Luthers Verständnis vom Fall, von der Christologie und vom Abendmahl in den Blick kamen. Die strukturelle Pointe besteht darin, dass sich die geber- und die empfängerorientierte Perspektive in allen loci kreuzen, dass die Kreuzung im Abendmahl jedoch den ihr eigenen Zielpunkt erfährt. Denn Luther ist nicht an der immanenten Trinität vor aller Zeit interessiert, sondern denkt die Trinität von Anfang an als Trinität für den Menschen. Ebenso denkt er die Schöpfung bereits von Anfang an als gute Gabeordnung, die auf den Menschen hingeordnet ist und die dieser genießen soll. Desgleichen denkt er in der Christologie von Anfang an die ontologische mit der soteriologische Dimension zu-
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sammen, da die Person Jesus Christus gerade als Idiomenkommunikation und damit als sein Werk für die Menschen zu fassen ist. Zugleich erfährt die Verschränkung beider Perspektiven im Abendmahl ihren Höhepunkt. Aus der geberorientierten Perspektive kommt Gottes dreifaches Sich-Geben im Abendmahl deshalb an sein Ziel, da der Geist im Abendmahl Christus und seine Gaben austeilt und die Menschen damit auch nach dem Fall die Gaben des Vaters in Fülle empfangen und genießen können. 680 Auch die empfängerorientierte Perspektive kommt dort an ihr Ziel, da dem Menschen im Abendmahl Vergebung der Sünden und damit die Vergebung der Übertretung des Ersten Gebotes wirkmächtig zugesagt wird. Durch die geistgewirkte Realpräsenz Christi im Abendmahl wird dem Menschen ermöglicht, sein Herz vom Abgott ab- und dem wahren Gott zuzuwenden und somit in der Gewissheit des Glaubens das Erste Gebot zu erfüllen. Im Abendmahl kommt die empfängerorientierte Perspektive somit gerade deshalb an ihr Ziel, weil das Abendmahl zugleich den Zielpunkt der geberorientierten Perspektive darstellt: Der dreieinige Gott ermöglicht es mithilfe des Abendmahls, dass der Mensch sein Herz an den dreieinigen Gott hängt. Zugleich ist mit dieser Erfüllung der empfängerorientierten Perspektive auch die geberorientierte an ihrem Ziel. Denn es entspricht Gottes Willen, dem Menschen zugute zu handeln mit dem Ziel, dass der Mensch sein Herz an Gott hängt und die Überfülle der guten Gaben des Vaters als umfassende Gabewirklichkeit erkennen und genießen und den Vater für diese loben möge. Luthers umfassende Gabeontologie wurde dadurch rekonstruiert, dass den drei Aspekten der Zuordnung von Metaphysik und Rechtfertigung nachgegangen wurde, die den zweiten Grundzug von Luthers Wirklichkeitsverständnis ausmachen. So entwirft Luther seine gesamte Metaphysik dergestalt, dass sie der Rechtfertigungslehre dient. Die Trinität öffnet sich ebenso auf das Heilsgeschehen hin wie der Himmel aufhört, ein Ort im Raum zu sein, um am Kreuz und im Abendmahl präsent sein zu können. Entsprechend kommt auch den mit der Rechtfertigungslehre beschriebenen Ereignissen eine metaphysische Dimension zu. Sie findet ihren deutlichsten Ausdruck darin, dass Jesus Christus im Diese Beobachtung entspricht der Einsicht von Herms, Luthers Auslegung, dass der dritte Artikel den Höhe- und Zielpunkt von Luthers Großem Katechismus darstellt. Siehe dazu in großer sachlicher Nähe auch die unter dem Rückgriff auf den Großen Katechismus und De servo arbitrio entwickelten Ausführungen von Schwöbel, Offenbarung, Glaube und Gewißheit, v. a. 232–234. 680
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Abendmahl ebenso real präsent ist wie im Herzen der Glaubenden: „Also sey Christus durch das sacrament, so wir essen und trincken, naturlich und wesentlich ynn uns und wir ynn yhm.“681 Dadurch wird dem Glaubenden erneut sichtbar, dass die Schöpfung durch Charakteristika geprägt ist, die die Rechtfertigungslehre regieren. Luthers Schöpfungslehre stellt eine umfassende und in sich kohärente Metaphysik der Gabe dar, die vornehmlich durch vier Dimensionen geprägt ist. Erstens ist die geschaffene Wirklichkeit als Ganze von Gott aus reiner Güte ex nihilo geschaffen und bleibend von Gottes souveränem, allmächtigem Handeln abhängig. Sie ist somit ebenso wenig Werk des Menschen wie des Menschen Heil des Menschen Werk ist. Vielmehr ist sie allem Wollen, Denken und Handeln des Menschen unaufhebbar vorgegeben. Zweitens ist alles Geschaffene durch den Schöpfungsmittler Jesus Christus ins Dasein gerufen und damit selbst auf eigene Weise Wort: „Die Sonne, der Mond, der Himmel, die Erde, Petrus, Paulus, du und ich usw. sind alle Worte Gottes.“682 Drittens ist alles Geschaffene auf solche Weise Wort, dass es gerade in seiner Materialität den Menschen anredet und dass es Medium der Anrede des Schöpfers an den Menschen ist. Das gilt für die Mitmenschen, die die Mittel und Rohre darstellen, durch die Gott dem Menschen Gutes in Fülle gibt, so dass die Mitmenschen für den Menschen Grund zu Staunen und Dankbarkeit sind. Das gilt aber auch für die Natur. Hätten wir Augen und Ohren dafür, so würde „uns das Korn anreden: ‚Sei fröhlich in Gott, iss, trink, gebrauche mich und diene mit mir dem Nächsten.‘“683 Damit ist bereits, viertens, angesprochen, dass der Schöpfer und die von ihm geschaffene und erhaltene Schöpfung, die der Mensch in Fülle als gute Gaben empfängt, den Menschen zu höchster Aktivität freisetzen. Mithilfe des in ihm aktiven Gottes lobt der Mensch Gott, dient seinem Nächsten und genießt Gott, seinen Nächsten und sich selbst. Die ausführlichen Rekonstruktionen von Luthers Schöpfungstheologie wurden auch unter Rückgriff auf Luthers große Genesisvorlesung vollzogen und deuteten an, was im abschließenden Teil IV ausgeführt werden wird: dass Luthers Gabetheologie für die Gegenwart relevant ist, da sie ein Gegenbild zum Verständnis der Wirklichkeit im technischen Zeitalter darstellt und zugleich als Variante der reflexiven Lesart Heideggers begriffen werden kann – und dass sie in philosophi WA 23, 239, 8–10. WA 42, 17, 17–19: „Sic Sol, Luna, Coelum, teraa, Petrus, Paulus, Ego, tu etc. sumus vocabula Dei.“ (dt. Übers. M. W.) 683 WA 46.,494, 15 f. 681
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scher Hinsicht überzeugend ist, da sie als Form des Realidealismus verstanden werden kann (siehe dazu gleich mehr). Zugleich entwickelt Luther ein Gottesbild, das in eigener Weise dialektisch ist und an das im Anschluss an den dritten Grundzug von Luthers Wirklichkeitsverständnis erinnert sei. So sieht Luther die drei Personen in der immanenten Trinität dialektisch miteinander vermittelt und entsprechend auch in jedem der drei Glaubensartikel alle drei Personen der Trinität in Aktion. Zugleich reorganisiert Luther den ersten und den zweiten Artikel dergestalt, dass die heilbringende Präsenz Gottes im Abendmahl denkbar wird. Um das zu realisieren, reden bereits der erste und der zweite Artikel von der heilvollen Präsenz Gottes in der Gegenwart. Der erste Artikel beschreibt nicht nur eine dann und damals geschehene Schöpfungstat im Anfang, sondern redet auch von der Erhaltung als Werk Gottes des Vaters. Gott der Vater ist durch eine lebendige Dialektik von Transzendenz und Immanenz charakterisiert, so dass er als der der Welt überlegene Schöpfer der Welt zugleich auch näher ist als diese sich selbst. Auf diese Weise schafft und erhält der allmächtige Vater die Schöpfung täglich aufs Neue. Auch der zweite Artikel denkt nicht allein dem dann und damals geschehenen Versöhnungswerk Jesu Christi nach, sondern stellt dar, dass dieser Jesus Christus als die eine Person in den zwei Naturen in dialektischer Weise auch gegenwärtig überall präsent ist. So kann der menschliche Gott im Abendmahl in heilbringender Weise für den Menschen greifbar werden. Der dritte Artikel beschreibt dann, wie die heilbringende Präsenz Christi im Abendmahl mithilfe des Geistes dem Menschen in der Gegenwart zugute kommt. Der erste und der zweite Artikel bedenken somit selbst bereits Dimensionen der Gegenwart Gottes und dienen zugleich dazu, die sich im Abendmahl ereignende, heilbringende Präsenz Gottes für den Menschen denkbar zu machen. Zugleich kommt von hier aus eine andere, unaufhebbare Dialektik in den Blick: die von Gewissheit und Anfechtung. Das Abendmahl ist der Ort, an dem dem angefochtenen Gewissen vom dreieinigen Gott die Gewissheit geschenkt wird, dass Gott präsent ist und dass er in Liebe für den Angefochtenen da ist, so dass der Mensch von den eigenen Sünden nicht mehr verdammt wird. Das Abendmahl ist zudem der Ort, an dem dem Menschen erneut vor Augen geführt wird, dass die gesamte Wirklichkeit ein umfassendes Gabegeschehen ist. Zugleich stellt sich dem Gewissen vom Abendmahl aus in neuer Dringlichkeit die Frage, warum es weiterhin sündigt und warum sich die Sünde und das Böse in der Welt
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ereignen, wenn doch der allmächtige, allgegenwärtige Vater, der alles schafft und erhält, im Sohn sein Wesen als Liebe offenbart und sich als menschlicher Gott erweist, der sich im Geist vermittels des Abendmahls ins Herz der Menschen schenkt. Der Gott, der sich im Abendmahl ganz begreifbar macht, bleibt dem Menschen auch unbegreiflich; das Gewissen, das im Abendmahl Gewissheit in der Anfechtung erhält, wird vom Abendmahl aus auch in neue Anfechtung gestürzt. Die eben bereits erwähnten Aspekte von Luthers Metaphysik sollen nun unter Rekurs auf den Kern einiger Einsichten Kochs und Schellings nochmals eigens benannt werden. Weitere Begründungen für sie können allerdings nicht erfolgen. Begründet wurden die Positionen Luthers im Rahmen dieses Buches letztlich durch zwei Bezüge: zum einen durch die interne Kohärenz, die sich im Verlauf ihrer Rekonstruktion im Dritten Kapitel, 2. aufbaute, und zum anderen durch ihre Übereinstimmung mit Grundzügen der Position Kochs und Schellings, für welche in den entsprechenden Teilen (Zweites Kapitel, 2. und Zweites Kapitel, 3.) ausführlich argumentiert wurde. 684
2.2.6.2. Luthers Metaphysik des Abendmahls: Leibliche, worthafte Gabe, und einige Grundzüge des realidealistischen Verständnisses von Gott, Welt und Mensch Laut Koch ist die Wahrheit zum einen dasjenige Thema, das die Erstphilosophie allererst definiert. Zum anderen bringt ein jeweiliges Wahrheitsverständnis umfassende ontologische, epistemologische, semantische und logische Implikationen mit sich. Aus beidem ergibt sich in formaler Hinsicht, dass Koch mit seiner Wahrheitstheorie gleichsam den harten kategorialen Kern seiner Erstphilosophie entwickelt. In materialer Hinsicht präsentiert Koch seine Wahrheitstheorie als die DreiAspekten-Theorie der Wahrheit, die eine Weise der Reformulierung des Realidealismus darstellt (siehe dazu vor allem Zweites Kapitel, 2.3.1.1.). 684 Luther selbst sowie viele Lutheraner der Gegenwart würden betonen, dass sich die Position Luthers vor allem von der Bibel als der norma normans her begründen lassen muss. Auch wenn ich dieser Forderung im Prinzip zustimme, kann ihr im Rahmen des vorliegenden Buches nicht entsprochen werden, da eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Stand der exegetischen Forschung den Rahmen des Buches und den Zeitrahmen zu seinem Schreiben gesprengt hätte. Allerdings habe ich durchaus den Eindruck, dass es von der Sache her möglich wäre, dieser Forderung zu entsprechen.
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Diese drei Aspekte sind zum ersten das anschaulich-präsentationale Begriffsmoment, das auf das Sich-Zeigen und das Sich-Geben der Dinge verweist und auf das Angewiesensein aller menschlichen Urteilstätigkeit auf dieses Sich-Zeigen. Zum zweiten ist das realistisch-repräsentationale Begriffsmoment anzusetzen, das festlegt, dass die Wahrheit einer von zwei Wahrheitswerten ist. Es weist somit auf die Objektivität der Dinge hin und damit zugleich darauf, dass dem Menschen eine Wirklichkeit gegeben ist, die er selbst nicht im Moment seiner Rede schafft. Schließlich ist das praktisch-normative Begriffsmoment der Wahrheit aufzunehmen, das die Wahrheit als berechtigte Behauptbarkeit fasst. Es bedenkt die Verwobenheit menschlicher Wahrheitsansprüche in Sprache und Gemeinschaft und konturiert somit diejenigen menschlichen Aktivitäten, die in dem Sich-Zeigen der Dinge gegründet sind. Die tiefe Einsicht Kochs besteht zum einen darin, den ersten, anschaulich-phänomenalen Wahrheitsaspekt als den führenden anzusetzen, und zum anderen darin, alle drei Wahrheitsaspekte als irreduzibel, aber unlöslich miteinander verbunden zu explizieren. Damit öffnet die DreiAspekten-Theorie der Wahrheit ein Verständnis der Grundzüge der Wirklichkeit, das für Luthers Metaphysik des Abendmahls grundlegend ist. Das gilt gleichermaßen für das Abendmahlsgeschehen selbst wie für das umfassende Wirklichkeitsverständnis, das es transportiert. Denn das Abendmahlsgeschehen ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass Jesus Christus sich mithilfe des Geistes in Fülle gibt und zeigt (erster Aspekt). Dadurch ist er real präsent (zweiter Aspekt) und bringt Leben und Vergebung der Sünden mit sich, so dass er auf diese Weise menschliche Aktivität begründet und begrenzt (dritter Aspekt). Im Abendmahlsgeschehen realisiert sich die kategoriale Grundstruktur der Wirklichkeit in ausgezeichneter Weise, die zugleich die kategoriale Grundstruktur eines Gabegeschehens ist. Um das denkbar zu machen, entwickelt Luther eine kühne Christologie: Christus, der in Leben, Tod und Auferstehung sowie im Abendmahl das Gabegeschehen der Wirklichkeit von seiner sündigen Verkehrung befreit, ist in seinem Binnenverhältnis selbst Gabegeschehen. Aufgrund der Personeneinheit erhält die göttliche Natur Anteil am Sterben der menschlichen Natur, und die göttliche Natur gibt der menschlichen Anteil an ihrer Allgegenwart. So kann der Gottmensch Jesus Christus dann, wenn die Einsetzungsworte als Machtworte erklingen, mithilfe des Geistes im Abendmahl real präsent sein und im Glauben Heil mit sich bringen: Gabegeschehen für die ganze Wirklichkeit.
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Entsprechend macht die Metaphysik des Abendmahls zugleich die Metaphysik der ganzen Wirklichkeit sichtbar. Für die Metaphysik als Ganze gilt die angedeutete kategoriale Grundstruktur: Alles menschliche Denken, Sprechen und Tun hängt davon ab, dass sich Gott und die Dinge zeigen und geben (erster Aspekt), dass die Dinge aber nicht in ihrem Sich-Zeigen aufgehen (zweiter Aspekt) und dass sie gerade so menschliches Reden und Handeln begründen und begrenzen (dritter Aspekt). Das sei etwas genauer ausgeführt, indem ausführlicher auf Luthers Entwicklung des klassischen metaphysischen Tenars von Gott, Welt und Mensch eingegangen wird und Luthers Position als worttheologische Variante des Realidealismus verdeutlicht wird. Luther entwickelt ein trinitarisches Gottesbild, das in eigener Weise dialektisch ist. Vater, Sohn und Heiliger Geist sind bereits in der immanenten Trinität als Sprecher, Wort und Hörer wesentlich aufeinander verwiesen. Konstituiert vom Vater sind sie nur miteinander der dreieinige Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Luther divergiert von Schelling, da er die interne Vermittlung der drei – ihre dialektische Verwiesenheit – nicht in dem Maße spekulativ entwickelt, wie es bei Schelling der Fall ist; er durchklärt seine bildhafte Rede nicht in demselben Maße auf ihre begrifflichen Gehalte hin, wie es Schelling tut. Luther divergiert des Weiteren dadurch von ihm, dass er den Aspekt des Worthaften bereits in stärkerem Maße in die immanente Trinität einträgt, als das bei Schelling der Fall ist. Wiederum klärt Luther allerdings nicht, wie dasjenige Gespräch genauer zu begreifen ist, das Gott ist und das sich doch sicherlich an wichtigen Punkten von menschlichen Gesprächen unterscheidet, welche zumeist in natürlichen Sprachen zwischen leiblich kopräsenten, aber nicht perichoretisch miteinander vermittelten Personen stattfinden. Bei allen Unterschieden liegen in den in Anschlag gebrachten Grundstrukturen dennoch Nähen zwischen Luther und Schelling vor, indem beide den Vater als Ursprung und Quelle der Trinität benennen und die drei Personen der Trinität sodann in wesentlichem Wechselspiel sehen (siehe dazu weiter das Vierte Kapitel). Als dergestalt intern differenzierte kann die Trinität Anderes schaffen und erhalten, ohne dann von diesem Anderen zu dependieren. Und als dergestalt intern differenzierte kann es zu jener radikalen Dialektik von Immanenz und Transzendenz kommen, die das Verhältnis Gottes zur Welt laut Luther kennzeichnet: In seinem schaffenden und erhaltenden Handeln ist Gott der Welt näher als diese sich selbst, ohne dass Gott sich dadurch konstituiert oder darin erschöpft.
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Luthers Schöpfungslehre stellt eine differenziert entwickelte Metaphysik der ansprechenden, leiblichen Gabe in realidealistischer Durchführung dar, die vornehmlich durch drei Dimensionen geprägt ist. Erstens ist die geschaffene Wirklichkeit als Ganze von Gott aus reiner Güte ex nihilo geschaffen und bleibend von Gottes Handeln abhängig. Sie ist somit kontingent. Zweitens ist die Schöpfung ein umfassender Zusammenhang – ein großes Haus, wie Luther sagt, oder ein allseitiges Wechselverhältnis, wie Koch es nennt. Alles Besondere und Individuelle ist somit nicht atomistisch verfasst, sondern immer schon Moment dieser Ganzheitsdimension, aus der es dann heraustritt. Drittens ist die Schöpfung zum einen allem menschlichen Wollen, Denken und Handeln unaufhebbar vorgegeben. Dass etwas ist, ist Vorgabe aller menschlichen Reflexion und Tat. Zum anderen ist alles Geschaffene durch den Schöpfungsmittler Jesus Christus ins Dasein gerufen und damit selbst auf eigene Weise Wort. In seiner Worthaftigkeit redet es gerade in seiner Materialität den Menschen an und ist Medium der Anrede des Schöpfers an den Menschen. Mit Koch gesprochen, sind die Dinge nicht nur objektiv vorgegeben und solche, die erscheinen, sondern sie reden vielmehr zu den Menschen im prädikatlosen Dingdialekt. Mit dieser Doppelbestimmung vertritt Luther eine worttheologische Variante des Realidealismus, wenn dieser in antinaturalistischer Stoßrichtung besagt, dass dasjenige, was objektiv der Fall ist oder existiert, ceteris partibus unter Verwendung des Wahrheitsprädikates vollständiger beschrieben werden kann als ohne Verwendung des Wahrheitsprädikates – und wenn er in Ablehnung des absoluten Idealismus besagt, dass die Dinge zugleich nicht durch menschliche Aktivitäten hier und jetzt geschaffen werden. Zugleich stellt Luther heraus, dass die ansprechenden Dinge eine Überfülle an Bestimmungen mit sich bringen, die weder mit menschlichen Worten noch in menschlichem Tun ganz ausgeschöpft werden können. Die Dinge reden – mit Marion gesprochen – als saturierte Phänomene. Neben anderem schafft Gott auch den Menschen. Dabei ist Luthers Anthropologie holistisch, antirationalistisch und kommunikativ-relational. Entgegen aller dualistisch-platonisierenden Tendenzen (und auch entgegen aller naturalistischen Tendenzen, die Luther aber nicht gleichermaßen deutlich im Blick hat) ist der Mensch gerade als leibseelische Ganzheit von Gott angesprochen und begabt. Fleischlich ist und handelt er nicht dann, wenn er seinen Leib benutzt, sondern dann, wenn er auf Gott unangemessene Weise agiert.
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In vermögenstheoretischer Hinsicht vertritt Luther dabei eine antirationalistische Position. Es lenkt nicht die Vernunft den Willen oder das Herz und damit auch das Handeln des Menschen, sondern vielmehr lenkt der Wille oder das Herz die Vernunft und damit auch das Handeln des Menschen. Das Herz selbst aber ist nicht fähig zur Selbstbestimmung, sondern wird selbst nochmals bestimmt von Mächten, denen gegenüber es unfrei ist: vom Satan oder vom Heiligen Geist. Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus, denkt und will dann aber dasjenige, wohin ihn die ihn bestimmende Macht lenkt, und handelt entsprechend. Des Menschen Herz ist ebenso wie die vom Herz bestimmte Vernunft und das menschliche Handeln nicht aus sich selbst orientierungsfähig, sondern orientierungsbedürftig. Die dem entsprechende Ethik ist primär güterethischen Zuschnitts, weil das Handeln des Menschen von derjenigen umfassenden Wirklichkeitssicht oder von demjenigen umfassenden Orientierungswissen geprägt ist, das sich ihm als gut offenbart und damit sein Herz bestimmt. Die pflichtenethischen Aspekte, die im Rahmen der Gebotsauslegung entwickelt werden, sind ebenso wie die tugendethischen in den güterethischen Rahmen integriert, da sie nur materiale Bestimmungen, nicht aber die motivationale Kraft des Handelns explizieren. Die kommunikativ-relationale und damit anti-atomistische oder antiindividualistische Dimension von Luthers Anthropologie umfasst drei Dimensionen: Die Beziehungen des Menschen zu Gott, zu anderen Menschen, zu seiner Umwelt und zu sich selbst sind wesentlich sprachlich vermittelt. Die Beziehung zu Gott prägt sein Herz und damit neben seinem Denken und Handeln auch seine Selbstbeziehung in der eben angedeuteten Weise. Dabei ist der Mensch bleibend abhängig vom SichGeben Gottes, welches sich meist vermittels der Schöpfung vollzieht. Entsprechend lebt er von anderen Menschen her und auf diese hin: Er ist Durchlaufpunkt des Empfangens und Weitergebens von ansprechenden Gaben. Er ist Durchlaufspunkt des gereinigten Gabentauschs. – Luther vertritt damit eine recht differenzierte und in sich kohärente Anthropologie, die zwar nicht in dem Maße ausgearbeitet ist wie die Anthropologie Kochs, aber wiederum in Grundzügen mit dieser übereinstimmt und darüber hinaus die Gottesbeziehung des Menschen bedenkt. Das folgende, letzte Kapitel des Buches versucht, ausgehend von Luthers Metaphysik die innere, sachliche Verbindung der drei Teile der Arbeit – des gegenwartshermeneutischen, des erstphilosophischen und des theologischen – zu verdeutlichen. Luthers Metaphysik und gerade
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3. Kapitel: Luthers Metaphysik des Abendmahls
seine Behandlung des klassischen Tenars gewinnen dabei durch den ausführlicheren Vergleich etwa mit Koch und Schelling (Viertes Kapitel, 2., Viertes Kapitel, 3., Viertes Kapitel, 4.) weiter an Kontur.
Viertes Kapitel
Making it explicit. Verbindungslinien zwischen den drei Teilen des Buches Wenn man das Inhaltsverzeichnis des vorliegenden Buches aufschlägt und sieht, dass in dem Buch gegenwartshermeneutische, erstphilosophische und systematisch-theologische Überlegungen versammelt sind, so könnte man den Eindruck erhalten, dass das Buch aus drei disparaten Kapiteln besteht. Auch die drei Kapitel selbst bestehen jeweils noch einmal aus zwei Hauptabschnitten, deren innerer Zusammenhang nicht unmittelbar ersichtlich ist. Denn im ersten Kapitel stehen seinsgeschichtliche Überlegungen des späten Heideggers neben soziologischen Beobachtungen zu der Entwicklung westlicher Gesellschaften in den letzten dreißig Jahren. Im zweiten Kapitel findet sich eine ausführliche Reflexion auf die Urteilspraxis mithilfe des Instrumentariums analytischer Philosophie neben einer Rekonstruktion der Geschichte der Gottesbeweise bei Kant, Hegel und Schelling. Das dritte Kapitel bietet Einblicke in verschiedene Stationen der Forschungsgeschichte zu Luther neben einer ausführlichen Auslegung von Luthers später Metaphysik des Abendmahls. Bereits diese Aufzählung macht deutlich, dass die Verbindung der drei Kapitel miteinander und der einzelnen Hauptabschnitte der jeweiligen Kapitel untereinander weder durch eine gemeinsame Methode noch durch eine gemeinsame Theoriesprache oder durch eine einzige Denkschule gewährleistet ist. Die innere Verbindung besteht vielmehr in einem gemeinsamen Sachbezug. In einem Satz zusammengefasst besteht der Sachbezug darin, dass in Luthers Abendmahlstheologie eine umfassende Metaphysik der Gabenfülle mitgedacht wird (Drittes Kapitel), die in erstphilosophischer Hinsicht als eine Variante des Realidealismus analysiert und argumentativ eingeholt werden kann (Zweites Kapitel) und die für die technische Spätmoderne von besonderer Relevanz ist, da sie ein anderes Verständnis der Wirklichkeit mit sich bringt als diese; mithilfe dessen kann die Hyperaktivität des Menschen in der Hyperrealität der Spätmoderne begrenzt werden (Erstes Kapitel). Dieser Sachbe-
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4. Kapitel: Making it explicit
zug vermag es nicht nur, alle Differenzen in den Methoden, Theoriesprachen und Denkschulen zu relativieren, sondern er vermag es auch, die verschiedenen Methoden, Theoriesprachen und Denkschulen zu wechselseitiger Bereicherung miteinander ins Gespräch zu bringen. Um diesen Sachbezug eigens herauszustellen, sollen auf den folgenden, abschließenden Seiten nicht so sehr die einzelnen Argumente der drei Kapitel zusammengefasst werden. Vielmehr sollen die zentralen sachlichen Verbindungen zwischen den Kapiteln und ihren Hauptabschnitten explizit gemacht werden. Diese Verbindungen zwischen den Kapiteln wurden im Verlauf der Arbeit und gerade an den Übergängen vom Ersten Kapitel zum Zweiten Kapitel und vom Zweiten Kapitel zum Dritten Kapitel zwar bereits namhaft gemacht, sollen im Folgenden aber nochmals in konzentrierter Form vor Augen geführt werden. Dazu wird das vorliegende Buch von Luthers Metaphysik des Abendmahls als dem Fluchtpunkt aller Überlegungen aus in einem Gang vom Ende hin zum Anfang rekonstruiert. Es wird somit zuerst verdeutlicht, wie Luthers Abendmahlslehre (als Drittes Kapitel, 2.) mit der Forschungsgeschichte (als Drittem Kapitel, 1.) verbunden ist und sodann, wie Luthers Abendmahlslehre mit den erstphilosophischen Überlegungen (als Zweitem Kapitel) insgesamt und dann mit der Rekonstruktion der Geschichte des Gottesbeweises im Idealismus (als Zweitem Kapitel, 2.) verbunden ist etc.
1. Luther als Theologe des Wortes und der Gabe, der gegen die Lutherrenaissance und gegen Barth steht: Aspekte der Verbindung von Luthers Metaphysik des Abendmahls mit der Forschungsgeschichte zu Luther (zur Verbindung vom Dritten Kapitel, 2. mit dem Dritten Kapitel, 1.) Als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen dient der Zielpunkt des ganzen Buches, Luthers Metaphysik des Abendmahls. Da diese nicht nur in dem Dritten Kapitel, 2. ausführlich dargelegt wurde, sondern in dem abschließenden Dritten Kapitel, 2.2.6.2. in seinen wichtigsten Aspekten zusammengefasst wurde, sei an dieser Stelle auf diese Zusammenfassung verwiesen und sogleich begonnen, den sachlichen Zusammenhang von Luthers Metaphysik mit den forschungsgeschichtlichen Überlegungen aus dem Dritten Kapitel, 1. zu verdeutlichen. Die Forschungsgeschichte versucht sich nicht in dem aussichtslosen Unterfangen, die moderne Lutherforschung als Ganze aufzuarbeiten. Vielmehr
1. Luther als Theologe des Wortes und der Gabe
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konzentriert sie sich auf vier Diskussionen, die für Luthers Metaphysik des Abendmahls deshalb von systematischem Interesse sind, weil sie entweder Grundlagen dieser Metaphysik präsentieren oder aber genau entgegengesetzte Auslegungen Luthers vertreten. Die Arbeiten von Ernst Bizer, die Luther als Theologen des Wortes charakterisieren (Drittes Kapitel, 1.3.), und die gegenwärtige Debatte um Luther als Theologen der Gabe (Drittes Kapitel, 1.4.) präsentieren Inhalte, die Luthers Metaphysik des Abendmahls grundlegend prägen. Denn Luthers Abendmahlstheologie ist sowohl eine Theologie des Wortes als auch eine Theologie der Gabe. Das dreifache Sich-Geben Gottes wird aus der geberorientierten Perspektive (Drittes Kapitel, 1.4.1.) besonders deutlich und führt dazu, dass der dreieinige Gott im Glauben real präsent ist, wie die finnische Lutherforschung zu Recht betont (Drittes Kapitel, 1.4.1.). Zugleich ist das Sich-Geben Gottes als kommunikatives Ereignis zu begreifen, da Gott sich dadurch gibt, dass er spricht (Drittes Kapitel, 1.3.). Er spricht, da er selbst in sich Gespräch ist: Der Vater ist der Sprecher, der Sohn das Wort und der Geist der Zuhörer und zugleich derjenige, der das Wort in das Herz der Menschen hineinträgt. Doch Gott gibt nicht nur sich selbst, sondern auch die Schöpfung. Sie ist dadurch charakterisiert, dass in ihr wiederum Aspekte der Gabe und Aspekte des Wortes verbunden sind. Denn die Geschöpfe sind vom Wort Jesus Christus als dem Schöpfungsmittler in die Wirklichkeit gerufen und damit auf eigene Weise Wort (Drittes Kapitel, 1.3.). Zugleich lehrt Jean-Luc Marion zu sehen, dass diese Worte Gaben sind, die Überfülle mit sich bringen und sich den Menschen geben (Drittes Kapitel, 1.4.2.). Somit ist laut Luther die gesamte Wirklichkeit durch ihre Worthaftigkeit und ihren Gabecharakter geprägt. Die Gaben werden von Luther als anökonomische gefasst, die in wichtigen Hinsichten das Spiel des wechselseitigen Gebens und Nehmens zugunsten eines einseitigen Gebens unterbrechen (Drittes Kapitel, 1.4.3.). Denn der väterliche Gott gibt dem Menschen aus reiner Liebe und somit ex nihilo sich selbst und die guten Gaben, ohne dass der Mensch dafür etwas tun oder etwas Entsprechendes zurückgeben kann. Zudem ist Gott – und nicht der Mensch – auch der eigentliche Akteur, wenn Menschen die empfangenen Gaben an andere Menschen weitergeben. Luther betont das Sich-Geben Gottes vor allem deshalb so stark, weil ihm an der heilbringenden Realpräsenz Christi im Abendmahl gelegen ist, an dem est: Der Herr ist mitsamt seiner guten Gaben in, mit und unter dem Brot gegeben. Doch auch Gott der Vater ist in seiner Schöp-
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fung präsent, da die Schöpfung nur auf diese Weise erhalten wird. Und der Geist ist diejenige Person der Trinität, der das Sich-Geben Gottes und die damit mitgegebene Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung selbst als zentrale Aufgabe und als zentrale Kennzeichnung zukommt. Luther sieht somit das Sich-Geben der drei Personen der Trinität als Vollzug einer lebendigen Dialektik von Transzendenz und Immanenz mit besonderer Betonung der Immanenz. Das provoziert Karl Barths Frage aus reformierter Perspektive, ob Luther nicht die Souveränität der Gottheit Gottes aufgibt, statt dessen Materielles vergötzt und mit beidem dem neuzeitlichen Anthropozentrismus in der Theologie Tür und Tor öffnet (Drittes Kapitel, 1.2.). Demgegenüber ist darauf zu verweisen, dass Luther zwar die Immanenz Gottes betont, dass Gott laut Luther aber weder durch seinen Weltbezug konstituiert wird noch sich in diesem erschöpft. Er bleibt zugleich der souveräne Herr der Welt (siehe auch Drittes Kapitel, 2.2.2.3.), der aufgrund der ihm zukommenden Überfülle frei sich selbst geben kann, ohne sich zu verlieren, und der mehr gibt, als Menschen von ihren Erwartungen oder Bedürfnissen her erhoffen. Der wohl entscheidende Differenzpunkt zur reformierten Perspektive kann mit der Frage markiert werden, ob der christliche Gott seine Ehre dahinein legt, dem Menschen gerade durch materiale Vermittlungen in Wort und Sakrament nahe zu kommen, oder ob Gott seiner Ehre dadurch entspricht, dass er eine letzte Distanz zur Schöpfung gerade in ihrer Materialität wahrt. Der Luther der späten Abendmahlsschriften als der Theologe der Gabe und des Wortes, der die Vermittlung Gottes mit seiner Schöpfung auch in ihrer Materialität betont, steht in inhaltlicher Hinsicht dem Luther der Lutherrenaissance vor allem in zwei Hinsichten genau entgegen (Drittes Kapitel, 1.1., siehe die Zusammenfassung in dem Dritten Kapitel, 1.1.4). So präsentiert der Luther der späten Abendmahlsschriften erstens eine Theologe, die durch eine umfassende Metaphysik gekennzeichnet ist und die somit die Zuordnung von Gott und Welt nicht allein über die Kategorien des Willens und des Wirkens expliziert. Wie bereits eben in der Auseinandersetzung mit der refomierten Kritik Karl Barths angedeutet ist diese Metaphysik durch die enge Vermittlung von Geist und Materie gekennzeichnet, ohne dadurch in eine Substanzontologie zu verfallen. Das liegt auch darin begründet, dass die späten Abendmahlsschriften Luther zweitens als einen Theologen präsentiert, für den das Wort zentral ist. Denn Gottes Wort schafft, wovon es redet, und die Dinge selbst sind auf eigene Weise Wörter. In diesen beiden Hinsichten
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divergiert der Luther der späten Abendmahlsschriften grundlegend von dem der Lutherrenaissance. Entsprechend gelten in vorliegendem Buch diejenigen Aspekte an Luther als Aspekte des wahren, theologisch interessanten, philosophisch zu verteidigenden und für die Gegenwart relevanten Luthers, die die Lutherrenaissance als Aspekte des ganzen Luthers und damit nicht als Aspekte des wahren, sondern als Aspekte des theologisch problematischen, da philosophisch nicht verteidigbaren und für die Gegenwart irrelevanten, spätmittelalterlichen Luthers ansieht. Bei aller grundlegenden Differenz in inhaltlicher Hinsicht übernehme ich aber die methodische Beobachtung und die sich daraus ergebende Forderung, die in der Lutherrenaissance und besonders bei Emanuel Hirsch sichtbar wird. Hirsch ist darin zuzustimmen, dass die jeweils getroffene Benennung desjenigen Aspektes an Luther, der als der wahre gefasst wird, nicht allein aus sorgfältiger historischer Arbeit an den Quellen erfolgt, sondern sich zudem aus normativen Annahmen speist. Diese entstammen zum einen derjenigen Philosophie, die für wahr gehalten wird, und zum anderen demjenigen Bild der Neuzeit, das leitend ist. Entsprechend gebietet es dann die intellektuelle Redlichkeit, den wahren Luther vor dem gegenwärtigen Wahrheitsbewusstsein und vor einer Gegenwartsanalyse zu explizieren. Die beiden ersten Kapitel des Buches erfüllen diese beiden Forderungen. Noch ein anderer Aspekt der Verbindung von Luthers Metaphysik des Abendmahls mit der Erstphilosophie sei erwähnt: Wenn Luther in seiner Abendmahlstheologie tatsächlich eine umfassende Metaphysik vertritt, dann muss diese in ihren Gehalten aufgeklärt und verteidigt werden, da nur so dem mit der Metaphysik mitgegebene Wahrheitsanspruch entsprochen wird. Diese Aufklärung und Verteidigung soll nicht nur durch die Darlegung der internen Kohärenz des Denkens Luthers erfolgen, sondern auch durch die Aufnahme von umfassenden kategorialen Klärungen in erstphilosophischer Perspektive. Sie werden zugleich Argumente dafür liefern, Luthers Metaphysik als eine Variante des Realidealismus zu verstehen und diesen als wahr zu vertreten.
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2. Luthers Metaphysik des Abendmahls in erstphilosophischer Betrachtung I: Überlegungen zur Methode (zur Verbindung von dem Dritten Kapitel, 2. mit dem Zweiten Kapitel, 4.) Zwei Themenbereiche innerhalb von Luthers Metaphysik verdienen besondere philosophische Aufmerksamkeit. Zum einen sind Luthers Aussagen zur Existenz und Verfasstheit Gottes zu prüfen (siehe dazu Zweites Kapitel, 3.3.), zum anderen soll auf seine Aussagen über Verfasstheit der geschaffenen Dinge und der Menschen reflektiert werden (siehe dazu Zweites Kapitel, 2.). Doch bevor an diese materialen Untersuchungen erinnert sei, sollen Anmerkungen zu zwei entscheidenden methodischen Schritten des vorliegenden Buches gemacht werden. Erstens ist darauf einzugehen, warum das vorliegende Buch erstphilosophische Untersuchungen der spekulativen Vernunft präsentiert, obwohl Luther diese gerade als unmöglich und als selbstüberheblich klassifiziert. Zweitens sei erklärt, warum unter den vielen Erstphilosophien diejenigen gewählt wurden, die gewählt wurden (siehe zu beidem auch Zweites Kapitel, 4.1.). Vielleicht würde Luther erstphilosophische Untersuchungen zur Verfasstheit der Dinge und der Menschen tolerieren. Gegenüber den Versuchen der spekulativen Vernunft, von sich aus Aussagen über Gott zu treffen, hat er hingegen ein klares Urteil gefällt: Unabhängig davon, ob diese Versuche in materialer Hinsicht dem christlichen Gott entsprechen oder nicht, sind sie in methodischer Hinsicht abzulehnen. Denn die Vernunft ist selbst orientierungsbedürftig und daher nicht in der Lage, von sich aus materiale Einsichten über Gott zu gewinnen. Alle Versuche, diese Einsicht zu ignorieren, sind als intellektuelle Werkgerechtigkeit zu fassen und daher abzulehnen (siehe Drittes Kapitel, 2.1.3.1.1.). Auch wenn Luther mit dieser Einschätzung in Übereinstimmung mit seinen sonstigen hamartiologischen Überlegungen steht, distanziert sich meine Arbeit an diesem Punkt von Luthers Position. Ich plädiere dafür, die erstphilosophischen Aktivitäten der spekulativen Vernunft nicht hamartiologisch zu indizieren und damit als Gesprächspartner auszuschalten, sondern stattdessen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Erstphilosophie zu suchen. Letztlich ist meine Position im Interesse an der verhandelten Sache begründet: Wenn Luthers Metaphysik ernst genommen werden soll und wenn es Erstphilosophien gibt, die sich mit denselben metaphysischen Themen auseinandersetzen, dann gebietet es das Interesse an der Sache, in eine vertiefte Diskussion mit den erstphiloso-
2. Luthers Metaphysik des Abendmahls in erstphilosophischer Betrachtung I
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phischen Reflexionen einzutreten. Ob die Vernunft in Bezug auf die göttlichen Dinge orientierungsbedürftig ist oder nicht, erweist sich dann im Durchgang durch die zu verhandelnden Sachen. Genauer gesagt können aus theologischer Perspektive vor allem zwei Gründe dafür namhaft gemacht werden, diese erstphilosophischen Überlegungen als Gewinn anzusehen. Erstens kann das spekulative Vorgehen als der Versuch der Vernunft begriffen werden, die Voraussetzungen und Implikationen von wahren Urteilen und die Wahrheit selbst zu bedenken. In dieser Sachorientierung entspricht die Vernunft gerade demjenigen Gott, der auch laut Luther selbst der Ort der Einheit der Wahrheit ist. Als zweiter Grund kann angeführt werden, dass die Erstphilosophie solche Strukturen des Absoluten entwerfen kann, die Kriterien oder Minimalbedingungen der Rede von Gott darstellen. Sie sichern zum einen die Intelligibilität der Rede von Gott und stellen zum anderen notwendige Bedingungen sachgemäßer Rede von Gott dar. Entsprechend gelten diese philosophischen Kriterien auch für eine solche theologische Rede von Gott, die von der Offenbarung herkommt, wenn die Theologie ihren Anspruch aufrechterhalten will, intelligible und sachgemäße Aussagen über Gott zu erheben. Aufgrund der (relativen) Voraussetzungslosigkeit der erstphilosophischen Überlegungen kommt den Einsichten der Erstphilosophie eine besondere argumentative Valenz zu. Daher können die in der Erstphilosophie gewonnenen Kriterien nicht nur als Bestärkung, sondern auch als kritisches Korrektiv der jeweiligen theologischen Aussagen fungieren. Zugleich sind die Kriterien selbst offen für erneute Diskussion (siehe Zweites Kapitel, 4.2.). Erstphilosophien gibt es viele; worin begründet sich die getroffene Auswahl? Mit ihr soll nicht der Anspruch erhoben werden, dass die uns interessierenden Themen ausschließlich anhand dieser Erstphilosophien verhandelt werden könnten. Dennoch sind die hier herangezogenen Erstphilosophien für das vorliegende Buch in besonderem Maße geeignet, da sie diejenigen zentralen Inhalte auf differenzierte Weise reflektieren, die mindestens auch bedacht werden müssen, wenn Luthers Metaphysik des Abendmahls philosophisch reflektiert werden soll. Andere Entwürfe müssten somit zumindest auch auf diejenigen Argumente reflektieren, die die hier ausgewählten Entwürfe präsentieren. Dass Kant, Hegel und Schelling die hier interessierenden Inhalte in ausgezeichneter Weise reflektieren, ist allgemein anerkannt: Eine Debatte über die Existenz und die Verfasstheit Gottes, aber auch eine Debatte über die Verfasstheit der Welt, die diejenigen Inhalte ignoriert, die Kant, Hegel
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und Schelling zur Debatte beitragen, wird zumindest im deutschen akademischen Diskurs kaum den Anspruch erheben können, den gegen wärtigen erstphilosophischen Debattenstand zu repräsentieren. Kochs Entwurf hingegen ist weniger bekannt. Doch gerade weil er eine hoch reflektierte (und in Teilen sehr originelle Zusammenführung) der Einsichten der Tradition präsentiert, gilt auch in Bezug auf ihn, dass das jenige, was er mithilfe des Instrumentariums analytischer Philosophie bedenkt, von alternativen Entwürfen zu bedenken wäre, wenn diese dem gegenwärtigen Debattenstand entsprechen wollen. Zudem ergänzen sich Koch auf der einen Seite und Kant, Hegel und Schelling auf der anderen Seite in drei Hinsichten. Erstens erlauben es die kleinschrittigen Überlegungen Kochs, wichtige Inhalte Luthers nicht nur in thetischer Form zu bestätigen, sondern aufgrund von vielen, präzisen Argumenten nachvollziehbar zu machen. Zugleich aber finden Kochs Reflexionen darin ihre Grenze, dass sie die Kontingenz des urteilenden Subjekts zwar notieren, aber keine Reflexionen über das Absolute anstellen. Diese Lücke wird dadurch geschlossen, dass die Überlegungen von Kant, Hegel und Schelling zu den Gottesbeweisen präsentiert werden. Zweitens zeigt sich, dass Hegel und Schelling ihre Theorien des Absoluten als ein umfassendes Verständnis der Wirklichkeit entwickeln. Deshalb behandeln ihre Systeme auch diejenigen Aspekte und Entitäten, die bei Koch zur Sprache kommen. Das eröffnet die Möglichkeit, die Positionen Hegels und Schellings mit der Kochs zu vergleichen. Dabei zeigt sich eine bemerkenswerte Nähe zwischen den Überlegungen Schellings und denen Kochs, die beide als Vertreter eines Realidealismus ausweisen. Sie vertreten einen Idealismus, der sich zugleich gegen eine Hegelsche Totalvermittlung von Denken und Sein richtet und damit seine Form in einer eigenen Variante negativer Dialektik findet. Diese Nähe ist, drittens, umso bemerkenswerter, als Schelling seine Ergebnisse mithilfe der Begrifflichkeiten und Denkstrukturen des Deutschen Idealismus entwickelt und Koch primär mithilfe der Begrifflichkeiten und Denkstrukturen der Analytischen Philosophie (auch wenn Koch in höchstem Maße vertraut ist mit den idealistischen Debattenlagen). Kontinentale und analytische Instrumentarien führen zu Ergebnissen, die in ihren zentralen Aussagen zur Sache auf bemerkenswerte Art vergleichbar sind. Dass diese vergleichbaren Aussagen zur Sache mithilfe unterschiedlicher methodischer Ansätze und begrifflicher Instrumentarien erreicht werden, stärkt die argumentative Valenz dieser Aussagen nochmals.
3. Luthers Metaphysik des Abendmahls in erstphilosophischer Betrachtung II
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3. Luthers Metaphysik des Abendmahls in erstphilosophischer Betrachtung II: Überlegungen zur Gotteslehre (zur Verbindung von dem Dritten Kapitel, 2. mit dem Zweiten Kapitel, 3.) Um den Rahmen dieser Zusammenführung nicht zu sprengen, können nicht die einzelnen Argumente für die erreichten Positionen präsentiert werden, sondern nur die wichtigsten Ergebnisse. Luther selbst meint, dass die natürliche spekulative Vernunft die Existenz Gottes erkennen kann, nicht aber Gott als trinitarischen. Der Glaube hingegen ist nicht nur Gottes gewiss, sondern weiß auch von Gott als dem dreieinigen, der der Welt in dialektischer Weise transzendent und zugleich immanent ist. Die erstphilosophischen Überlegungen Schellings widersprechen der Einschätzung Luthers in Bezug auf die Ergebnisse der spekulativen Vernunft, stützen aber gerade sein aus theologischer Perspektive gewonnenes Gottesbild. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Versuche der spekulativen Vernunft, Gottes Existenz zu beweisen, mit gravierenden Schwierigkeiten besetzt sind, während es sehr gute Gründe dafür gibt, das Absolute als intern differenziert und damit als trinitarischen zu denken (siehe Zweites Kapitel, 3.3.3.). Schelling kommt zu diesen Ergebnissen, indem er in formaler Hinsicht in der Tradition von Kant und Hegel steht. Er prüft somit die Beweiskraft der Gottesbeweise nicht allein im Rahmen des Nachdenkens über einen bestimmten Gegenstand – Gott –, sondern er prüft sie im Rahmen einer kritischen Überprüfung der Leistungskraft der Vernunft selbst. Kant bedenkt das Denken des ontologischen Gottesbeweises selbst und sieht den Gottesbeweis aus urteilstheoretischen Gründen scheitern. Hegel folgt ihm darin, dass als das eigentliche Thema des ontologischen Gottesbeweises die Reflexion zu gelten hat. Er unternimmt es aber, die Reflexion als das Absolute zu fassen und das Absolute als Reflexion und mit der absoluten Reflexion in der Form des spekulativen Schlusses den ontologischen Gottesbeweis zu restituieren. Schelling begreift dagegen, dass die Reflexion nicht absolut ist, sondern dass das Absolute jeder Reflexion vorausliegt. Denn der Denkvollzug kann nicht alle seine Voraussetzungen in sich aufheben, da ihm zumindest seine eigene Faktizität immer schon vorgegeben ist. Auch wenn sich das Denken die Art und Weise seines Vollzuges ganz durchsichtig machen kann, den Vollzug als Dialektik zu bestimmen vermag und ihn auf diese Weise in
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sich einzuholen in der Lage ist, so bleibt ihm dessen Dass doch auf immer entzogen. Das bringt zwei Ergebnisse mit sich: Zum einen erkennt die Reflexion selbst, dass sie nicht das Absolute ist. Vielmehr ist das Absolute das unvordenkliche Sein als das Wesen, das selbst nicht beweisbar ist, sondern jedem Beweisen als unbeweisbarer Ungrund zugrunde liegt. Schelling präsentiert somit gute Gründe für das Scheitern des Gottesbeweises. Zum anderen aber fallen laut Schelling die Vernunft und ihr Anderes nicht einfach abstrakt auseinander. Auch wenn Schellings Dialektik eine negative Dialektik mit einem unaufhebbaren Bruch ist, so ist sie als Dialektik dennoch in der Lage, die jeweiligen Entitäten miteinander zu vermitteln. Die Vernunft vermag dann, wenn etwas ist, sich selbst in der Wirklichkeit als in ihrem Anderen wiederzufinden. Denn das Andere bewegt sich dann, wenn es ist, innerhalb des Möglichkeitsraumes derjenigen Potenzen, die zugleich Bestimmungen der Vernunft sind, da es selbst von den Potenzen geprägt ist. Wenn etwas ist, sind die Ordnung des Denkens und die des Seins miteinander vermittelt. Die aposteriorische Bestimmbarkeit der Wirklichkeit bezieht sich sowohl auf endliches Seiendes wie auf Gott selbst. Wenn etwas ist und wenn sich die Vernunft darauf richtet, so kann die Vernunft alles Seiende angemessen bestimmen, einschließlich des Menschen selbst. Auch Gott kann entsprechend in der ihm eigenen Bestimmtheit als freier Grund der Schöpfung zwar nicht be-, wohl aber erwiesen. Er kann als die Totalität der Potenzen bestimmt werden, der somit intern differenziert ist. In theologischer Terminologie gesprochen: Wenn Gott ist, so ist er als trinitarischer. Als dieser kommt es ihm zu, in der ihm eigenen Dialektik der Welt zugleich transzendent und immanent zu sein. Die bleibende Transzendenz ist dadurch gesichert, dass Gott auch die Totalität der Potenzen übersteigt, da er Überfülle der Freiheit ist. Gott kann somit bestimmt werden und es kann zugleich seiner Freiheit gegenüber allen Bestimmungen Rechnung getragen werden. Bei aller radikalen methodischen Differenz zu Luther entwickelt Schelling somit mit guten erstphilosophischen Gründen in materialer Hinsicht Grundzüge einer Gotteslehre, die derjenigen Luthers Nahe steht. In ihren Grundzügen ist Luthers Gotteslehre aus erstphilosophischer Hinsicht gerechtfertigt.
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4. Luthers Metaphysik des Abendmahls in erstphilosophischer Betrachtung III: Von Menschen und Dingen. Realidealismus und die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit (zur Verbindung von dem Dritten Kapitel, 2. mit dem Zweiten Kapitel, 3., dem Zweiten Kapitel, 2. und dem Zweiten Kapitel, 1.) Neben Luthers Beobachtungen zur Gotteslehre werden auch Luthers Beobachtungen zur Verfasstheit der geschaffenen Dinge und des Menschen aus erstphilosophischer Perspektive geprüft (siehe Zweites Kapitel, 2.). Luther entwickelt seine relational-kommunikative Metaphysik der Gabe in schöpfungstheologischer Hinsicht dergestalt, dass die Dinge in einen umfassenden Ganzheitszusammenhang eingebettet sind, und dass sie in eigener Weise Wörter sind, die die Menschen ansprechen und so dem Menschen in Überfülle gegeben sind. In der ihnen eigenen Materialität und Überfülle gehen sie zugleich nicht darin auf, Bestand für den Menschen zu sein. Der Mensch selbst wird als leibseelische Einheit und als Sprachwesen gefasst, der in wesentlichem Bezug auf die Dinge und auf andere Menschen steht, ohne diese dadurch allererst zu konstituieren. Die Handlungen des Menschen sind dadurch geprägt, dass sich dem aus sich heraus unfreien Herz des Menschen etwas offenbart und dieses dann Vernunft und Handeln des Menschen prägt. Da Kant, Hegel und Schelling das Absolute auf je eigene Weise als mit der Welt vermittelt denken, entwickeln sie in ihren Überlegungen zu den Gottesbeweisen auch Überlegungen zur Verfasstheit der Dinge und der Menschen. Schelling erreicht dabei unter Verwendung idealistischer Terminologien eine Position, die eine relational-kommunikative Metaphysik vertritt und damit derjenigen Position ähnelt, die Koch unter Verwendung von analytischer Terminologien erreicht. Allerdings ist sich Koch der Sprachlichkeit des Denkens und der Wirklichkeit in stärkerem Maße bewusst als Schelling und steht in dieser Hinsicht näher bei Luther als Schelling. Laut Koch sind die Dinge in einen allseitigen Wechselzusammenhang eingebettet und darin als Erscheinungen zu fassen, die von sich aus auf den Menschen hin geöffnet sind, ohne durch den Bezug in der jeweiligen Situation allererst konstituiert zu werden. Denn den Dingen selbst ist zum einen das Wahrheitsprädikat zuzuschreiben, welches in sprachphilosophischer Perspektive als eine eigene Variante des Wortseins begriffen werden kann. Die Dinge sprechen somit den Menschen im prädikatlosen Dingdialekt an und ermöglichen allererst auf diese
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Weise menschliches Sprechen. Zugleich existieren die Dinge nur deshalb, weil sie sich überhaupt auf ein Subjekt beziehen (Subjektivitätsthese, Zweites Kapitel, 2.2.2.2.6.). Da den Dingen auch Materialität zukommt, werden sie jedoch nicht in der jeweiligen Situation von dem jeweiligen Menschen konstituiert, der sich auf sie bezieht. Auch als Erscheinungen sind sie objektiv. Der Mensch selbst wird als leibgeistige Einheit begriffen, der damit jenseits der Alternative des Geist-Körper-Dualismus einerseits und eines naturalistischen Ansatzes andererseits zu verorten ist (Zweites Kapitel, 2.2.2.4.). Der Mensch als leibgeistige Einheit kann sich in irreduzibel dreifacher Weise auf sich beziehen: Er ist Körper unter Körpern, er ist Leib und als solcher Person, und er ist Subjekt. Auch wenn Koch damit subjektivitätstheoretische Überlegungen präsentiert, die nicht im Horizont des Denkens Luthers stehen, verdeutlichen diese Andeutungen zugleich, dass Kochs Position zur Verfasstheit der Dinge und der Menschen insgesamt in großer Nähe zur Position Luthers steht. Koch hilft damit, Luthers Position besser zu begreifen und zu rechtfertigen. In Bezug auf Gott, Welt und Mensch vertritt Luther somit eine Position, die in erstphilosophischer Perspektive als eine Variante des Realidealismus gefasst werden kann, wenn der Idealismus mit Koch wie folgt definiert wird: „Was objektiv der Fall ist oder existiert, kann ceteris partibus unter Verwendung des Wahrheitsprädikates vollständiger beschrieben werden als ohne Verwendung des Wahrheitsprädikats.“1 Der Realidealismus, dem Luther sowie Schelling und Koch zugeordnet werden können, unterscheidet sich darin vom absoluten Idealismus Hegelscher Prägung, dass er die absolute Vermittlung von Denken und Sein ablehnt. Entsprechend lehnt er auch die Aufhebung der Religion in die Philosophie und die des Urteils in den Schluss ab. Wenn etwas ist, kann die Vernunft es in seinen Grundstrukturen denken, da allem, was ist, selbst Wahrheit zukommt. Dass aber etwas, ist selbst nicht in erstphilosophischer Hinsicht begründbar. Koch entwickelt seine Überlegungen zur Verfasstheit der Dinge und des Menschen im Rahmen seiner Analyse der Implikationen der alltäglichen Urteilspraxis und des in dieser Urteilspraxis implizierten Verständnisses von Wahrheit, da das jeweilige Wahrheitsverständnis umfassende ontologische, epistemologische, semantische und logische Implikationen mit sich bringt. Koch entwickelt seine Wahrheitstheorie als die Koch, Versuch, 186.
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Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit, die eine Weise der Reformulierung des Realidealismus darstellt. Damit wird verständlich, dass die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit nicht nur den kategorialen Kern von Kochs Erstphilosophie, sondern letztlich den des ganzen Buches darstellt, da sie den Tiefenstrukturen von Luthers und von Heideggers Theorien entspricht. Die Drei-Aspekten-Theorie besagt, dass Menschen dann berechtigt sind, in ihren Urteilen Wahrheitsansprüche zu erheben, wenn im Verständnis der Wahrheit drei Aspekte in Anschlag gebracht werden, die wesentlich aufeinander bezogen sind, ohne aufeinander reduziert werden zu können. Diese drei Aspekte sind zum ersten das anschaulich-präsentationale Begriffsmoment, das auf das Sich-Zeigen und das Sich-Geben der Dinge verweist und auf das Angewiesensein aller menschlichen Urteilstätigkeit auf dieses Sich-Zeigen. Es gelangt in phänomenologischen Wahrheitstheorien und in der Heideggers zu besonderer Prominenz. Zum zweiten ist das realistisch-repräsentationale Begriffsmoment anzusetzen, das festlegt, dass die Wahrheit einer von zwei Wahrheitswerten ist. Es weist somit auf die Objektivität der Dinge hin und damit zugleich darauf, dass dem Menschen eine Wirklichkeit gegeben ist, die er selbst nicht im Moment seiner Rede schafft. Das realistisch-repräsentationale Begriffsmoment ist in den verschiedenen Korrespondenztheorien der Wahrheit führend. Schließlich ist das praktischnormative Begriffsmoment der Wahrheit aufzunehmen, das die Wahrheit als berechtigte Behauptbarkeit fasst. Es bedenkt die Verwobenheit menschlicher Wahrheitsansprüche in Sprache und Gemeinschaft und konturiert somit diejenigen menschlichen Aktivitäten, die in dem Sich-Zeigen der Dinge gegründet ist. Es ist in den Konsens- und – in eigener Art – auch in den Kohärenztheorien der Wahrheit von besonderer Wichtigkeit. Die Einsicht Kochs besteht zum einen darin, den ersten, anschaulich-phänomenalen Wahrheitsaspekt als den führenden anzusetzen, und zum anderen darin, alle drei Wahrheitsaspekte als irreduzibel und als unlöslich miteinander verbunden zu explizieren. Damit präsentiert die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit ein Verständnis der Grundzüge der Wirklichkeit, das auch für Luthers Metaphysik des Abendmahls grundlegend ist. Das gilt gleichermaßen für das Abendmahlsgeschehen selbst wie für das umfassende Wirklichkeitsverständnis, das es transportiert. Denn das Abendmahlsgeschehen ist dadurch gekennzeichnet, dass Jesus Christus sich mithilfe des Geistes gibt und zeigt (erster Aspekt), somit real präsent ist (zweiter Aspekt) und auf diese Weise menschliche
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Aktivität begründet und begrenzt (dritter Aspekt). Entsprechend gilt für die Metaphysik als Ganze, dass alles menschliche Denken, Sprechen und Tun davon abhängt, dass sich Gott und die Dinge in ihrer Überfülle zeigen (erster Aspekt), dass sie zugleich nicht in ihrem Sich-Zeigen aufgehen, sondern objektiv gegenwärtig sind (zweiter Aspekt) und gerade so menschliche Aktivität ermöglichen und begrenzen (dritter Aspekt). Die Drei-Aspekten-Theorie stellt nicht nur die tiefste Verbindung der erstphilosophischen Überlegungen zu den theologischen dar, sondern auch die tiefste Verbindung der erstphilosophischen und der theologischen Überlegungen zu den gegenwartshermeneutischen. Denn im Anschluss an Heidegger wird der technischen Spätmoderne des Westens vorgeworfen, dass sie den ersten Aspekt vergisst und den dritten verabsolutiert und auf diese Weise ihre eigenen Beschleunigungen verabsolutiert. Damit erweist sich die Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit nicht nur als der kategoriale Kern der Überlegungen Kochs, sondern auch als der von Luthers Metaphysik des Abendmahls und als der von Heideggers Technikphilosophie. Heideggers Gegenwartsanalyse sei in ihrer Relevanz für die Spätmoderne dadurch genauer vor Augen geführt, dass zuerst an einige Charakteristika der Spätmoderne als liquid modernity erinnert wird und dann an die focal practices wie das Abendmahl, die Gegengewichte gegen Einseitigkeiten der Spätmoderne zu bilden suchen. Schließlich wird Heidegger und seine Variante der Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit als eine solche Technikphilosophie bedacht, die zum einen die Tiefenstrukturen von gegenwärtigen Veränderungen namhaft macht und zum anderen in einiger Nähe zu Einsichten Luthers steht.
5. Luthers Metaphysik des Abendmahls in der technischen Spätmoderne: Die Wirklichkeit als Bestand, die Wahrheit als Wert und das Abendmahl als focal practice (zur Verbindung von dem Dritten Kapitel, 2. mit dem Ersten Kapitel) Menschliches Handeln orientiert sich an einem Gesamtverständnis der Wirklichkeit, welches dann, wenn es als solches explizit gemacht wird, als eine Metaphysik zur Sprache kommt. Da menschliches Handeln in verschiedenen Situationen und zu unterschiedlichen Zeiten stattfindet und sich die Situationen wie die Zeiten ändern, sind auch zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Metaphysiken oder unterschiedliche As-
5. Luthers Metaphysik des Abendmahls in der technischen Spätmoderne 485
pekte einer Metaphysik von besonderer Relevanz. Entsprechend stellt sich die Metaphysik von Luthers Abendmahlslehre in der spätmodernen, von der Technik geformten Gegenwart in den westlichen Gesellschaften von heute in anderem Licht dar, als es die Vertreter der Lutherrenaissance meinten: Sie ist gerade kein spätmittelalterliches, für die Gegenwart irrelevantes Relikt, sondern sie ist in neuer Weise interessant. Denn Luthers Metaphysik des Abendmahls ist dadurch charakterisiert, dass die Menschen und die Dinge selbst als Gaben und als Wörter angesehen werden. Als Gaben geben sich die Dinge in Überfülle, und zwar dergestalt, dass sie selbst auf eigene Weise Wörter sind, die in prädikatlosem Dingdialekt sprechen. Auf diese Weise ermöglichen und begrenzen sie menschliche Aktivitäten. Zugleich schätzt Luther das Materielle und den Leib als Medium der Kommunikation zwischen Gott und Mensch und zwischen den Menschen hoch und betont die Verbindlichkeit der so entstehenden Beziehungen (siehe dazu vor auch Drittes Kapitel, 2.1.3.). Dieses Wirklichkeitsverständnis stellt einen Kontrapunkt zu demjenigen Wirklichkeitsverständnis dar, das die Spätmoderne zur liquid modernity macht (Erstes Kapitel, 2.). Die Spätmoderne sieht die Wirklichkeit als Bestand an, der von Mangel geprägt ist und über den die sich verabsolutierende menschliche Aktivität vollständig verfügen kann. Auf der Grundlage dieses Wirklichkeitsverständnisses kommt es in den letzten dreißig oder vierzig Jahren zum Übergang von einer in sich recht stabilen, geordneten Moderne hin zu einer flexibleren, ungeordneteren Spätmoderne, zur liquid modernity. In makrosoziologischer Perspektive lassen sich diese Veränderungen anhand von Umbauten in so wichtigen Bereichen der Gesellschaft wie der Ökonomie nachzeichnen, in der die Entwicklung der wichtigsten Produkte und Ressourcen von „things to thinking“ geht. Die Verflüssigungen zeigen sich auch in den Veränderungen im Berufs- und Privatleben, in denen das nomadische Dasein zum Leitbild wird und neue Formen der Einsamkeit mit sich bringt, und sie bewirken sogar ein neuen Verständnis des eigenen Körpers, der als Leib abgedämpft und als Körper stillgestellt oder divinisiert wird. Am deutlichsten wird diese Veränderung in der Verschiebung der gesellschaftlichen Raum- und Zeitordnungen. Gerade aufgrund der neuen Medien bringen die angedeuteten Veränderungen eine neue Ort- und Zeitlosigkeit mit sich, die zugleich auf eine vollständige Verfügbarkeit über beide abzielt. So ist es nur allzu plausibel, dass das Internet das Leitmedium der Gegenwart darstellt. „If the essence of technology is to make everything accessible and optimizable, then the internet is the per-
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fect technological device. It is the culmination of the same tendency to make everything as flexible as possible that has led us to digitalize and interconnect as much of reality as we can.“2 Um den negativen Aspekten der Verflüssigungen entgegenwirken zu können, weist Borgmann auf focal practices hin, welche um focal things herum organisiert sind. Die focal practices sind Handlungen, die den Leib involvieren und meist in Gemeinschaft vollzogen werden. Sie sind durch ein anderes Verständnis der Wirklichkeit motiviert, welches zugleich in diesen Handlungen ausagiert wird. So zielen sie darauf ab, die Totalisierung menschlicher Aktivitäten zu brechen, indem sie helfen, die Wirklichkeit nicht nur als verfügbaren Bestand für menschliches Handeln wahrzunehmen, sondern in der ihr eigenen commanding presence of reality. Der Vollzug des Abendmahls kann als focal practice verstanden werden, in der die commanding presence of reality als Gabe der Überfülle wahrgenommen und in einer feiernden Gemeinschaft in leiblicher Form empfangen wird. Die Spätmoderne mit ihren Verflüssigungen (Erstes Kapitel, 2.) wird als die gesamtgesellschaftliche Realisierung von Verschiebungen begriffen, die von Heidegger vorgedacht wurden (Erstes Kapitel, 1.). Dabei vertritt Heidegger eine Position, die der Luthers in struktureller Hinsicht ähnelt. Denn auch er meint in güterethischer Perspektive, dass menschliche Handlungen (dritte Ebene) von einem Gesamtverständnis der Wirklichkeit gesteuert werden, welches dann, wenn es explizit gemacht wird, als Metaphysik zur Sprache kommt (zweite Ebene). Die Metaphysik wiederum ist von einem Grundverständnis – einem kategorialen Kern – der Wirklichkeit geprägt, welches sich nach Heidegger zeigt oder verbirgt (erste Ebene). Dieses Grundverständnis ist das des Seins oder der Wahrheit. Sein und Wahrheit sind geschichtlich zu denken und prägen selbst Geschichte. Heidegger sieht die Geschichte des Abendlands durch drei Grundverständnisse der Wahrheit geprägt, und diese drei Grundverständnisse entsprechen den drei Aspekten der Wahrheit bei Koch. Zur Zeit der Vorsokratiker oder vielleicht auch zu Zeiten einer Vergangenheit, die noch nie war und sich erst bei Heidegger selbst ankündigt, wurde Wahrheit als Unverborgenheit verstanden. Dieses Wahrheitsverständnis entspricht dem ersten Aspekt der Wahrheit Kochs, der Wahrheit als Sich-Zeigen bestimmt. Beginnend mit Platon wurde die Wahrheit als Richtigkeit angesehen. Dadurch rückte der Mensch in den Dreyfus, On the Internet, 1 f.
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Mittelpunkt des Interesses. Dieses Wahrheitsverständnis entspricht dem zweiten Wahrheitsaspekt Kochs, der die Korrespondenz betont. Nietzsche macht explizit, was sich in der Neuzeit zu realisieren beginnt: dass die Wahrheit allein als Wert zu verstehen ist. Wahrheit als Wert baut sich damit durch Aktivitäten des Menschen auf und ermöglicht es dem Menschen, über alle Wirklichkeit zu verfügen. Daraus folgen der Tod Gottes und die Auferstehung des Übermenschen. Dieses Wahrheitsverständnis entspricht dem dritten Wahrheitsaspekt Kochs, der das pragmatische Moment der Urteilspraxis betont. Das Rasende der Technik (und, so können wir ergänzen, die Verflüssigungen der Spätmoderne) sind laut Heidegger Folgen der Verabsolutierung des Verständnisses des Grundzuges von Wirklichkeit als Wert. Laut Heidegger kann das Rasende der Technik nur durch das Andenken eines anderen Verständnisses von Wahrheit überwunden werden. Dieses andere Verständnis der Wahrheit muss das Sich-Zeigen der Dinge und damit das seit Platon verdrängte Verständnis der Wahrheit als Unverborgenheit und der damit mitgegebenen Fülle wieder aufnehmen, und es muss die Einsicht aufnehmen, dass die Sprache kein bloßer Informationsträger ist, sondern Haus des Seins. Dadurch kommen die Dinge in ihrer eigenen Würde – als Gaben – und nicht nur als Bestand in den Blick, und der Mensch wird als Sterblicher in Gemeinschaft sichtbar, nicht als Übermensch, der sein eigener Herr und Knecht ist. Auch wenn es strittig ist, ob Heidegger selbst in revolutionärer Lesart die Ersetzung der Wahrheit als Wert und als Richtigkeit durch die Wahrheit als Unverborgenheit fordert oder ob er in reflexiver Lesart alle drei Aspekte integrieren will, folge ich aus systematischen Gründen der reflexiven Lesart, die in Kochs Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit eine ausführliche Rechtfertigung erfährt. Die Wahrheit in ihrer Vermittlung der drei Verständnisse zeigt sich laut Heidegger in ausgezeichneter Weise in Kunstwerken und in der Philosophie. Beide sind somit Heideggers Formen des Kultes und der focal practice, während diese Rolle im vorliegenden Buch dem Abendmahl zugeschrieben wird.
6. Making it explicit: Verbindungslinien zwischen den drei Kapiteln des Buches. Eine Zusammenfassung Abschließend sei die innere Verbindung der verschiedenen Kapitel des Buches auf ihren Kern reduziert. In einem Absatz zusammengefasst
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4. Kapitel: Making it explicit
stellt sich der Gedankengang des Buches wie folgt dar: Die Lutherrenaissance und namentlich Emanuel Hirsch weisen darauf hin, dass jede Lutherauslegung auch von einem Verständnis der Gegenwart geprägt ist und von einem Verständnis dessen, was in philosophischer Hinsicht vertretbar ist (Drittes Kapitel, 1.). Das Buch nimmt diese Einsicht auf, indem das Erste Kapitel eine Gegenwartsanalyse liefert und das Zweite Kapitel erstphilosophische Überlegungen zu den Dingen, zu den Menschen und zu Gott. Die grundlegende These dieses Buches besagt zum einen, dass Luthers Abendmahlslehre für die Gegenwart deswegen besonders relevant ist, da sie die Wirklichkeit als durch Fülle geprägtes, worthaftes Gabegeschehen versteht. Sie präsentiert damit ein Gegenbild zu demjenigen Wirklichkeitsverständnis der technischen Spätmoderne, das die Wirklichkeit als Bestand und damit als stummes Mangelphänomen ansieht. Die menschliche Aktivität, die in der liquid modernity zur Hyperaktivität in der Hyperrealität zu werden droht, wird durch das worthaftes Gabegeschehen der Fülle begründet, in eine Gemeinschaft hineingestellt und begrenzt. Die grundlegende These des Buches besagt zum anderen, dass zentrale Züge von Luthers Metaphysik des Abendmahls in erstphilosophischer Hinsicht rekonstruierbar sind und als gerechtfertigt angesehen werden können. Denn sie können als Spielarten desjenigen Realidealismus begriffen werden, der von Koch in Bezug auf die Verfasstheit der Dinge und des Menschen im Rahmen der Explikation der Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit entwickelt wird und der von Schelling in Aufnahme und Überbietung von Einsichten Kants und Hegels Bestätigung erfährt. Luthers Gottesbild hingegen entspricht demjenigen eines intern differenzierten Absoluten, das Schelling entwickelt und das es dann erlaubt, zugleich die Immanenz und die Transzendenz Gottes zu denken. Etwas genauer, und nun dem Gang des Buches vom Anfang bis zum Ende folgend: Das Buch beginnt mit einer Gegenwartsanalyse, die bedenkt, in welchem Maße die Spätmoderne der westlichen Gesellschaften durch Technik geprägt ist. Im Gefolge Heideggers werden mit dem Terminus der Technik nicht nur einzelne Geräte oder einzelne menschliche Handlungen bezeichnet, sondern eine Seinsweise, die in einem umfassenden Wirklichkeitsverständnis gründet, das alle Handlungen prägt. Heidegger sieht, dass das Rasende der Technik in ihrer unbegrenzten Verfügungsdynamik auf eine Einseitigkeit im Grundverständnis der Wirklichkeit zurückzuführen ist, welche Wahrheit als Wert und damit die Wirklichkeit als Bestand versteht und damit blind ist gegenüber ihrer
6. Making it explicit
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Gabenfülle (Erstes Kapitel, 1.). Das öffnet grenzenlose Spielräume menschlichen Handelns, die der Mensch zu nutzen sucht, um dem Mangel der Wirklichkeit zu entkommen. In der Spätmoderne realisiert sich dieses Wahrheitsverständnis in gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, die die Gegenwart zur liquid modernity machen (Erstes Kapitel, 2.). Demgegenüber betont Heidegger, dass das Grundverständnis der Wirklichkeit erst dann angemessen auf den Begriff gebracht wird, wenn die Verständnisse der Wahrheit als Unverborgenheit, als Richtigkeit und als Wert miteinander verbunden sind. In focal practices wie dem Betrachten eines Kunstwerks oder der Feier des Abendmahls kommen Menschen auf den Geschmack dieses vermittelten Verständnisses der Wahrheit und damit auf den Geschmack eines anderen Verständnisses der Wirklichkeit, einer neuen Gemeinschaft und eines dem entsprechenden Handelns. Kochs Analyse der Urteilspraxis führt mithilfe von Instrumentarien der analytischen Philosophie in erstphilosophischer Perspektive zu einer detaillierten Rekonstruktion und Rechtfertigung der von Heidegger vertretenen Verbindung der Wahrheit als Unverborgenheit, als Richtigkeit und als Wert. Diese Verbindung tritt bei Koch als Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit auf, welche gleichsam den kategorialen Kern der erstphilosophischen Überlegungen und des ganzen Buches darstellt. Die metaphysischen Implikationen der Urteilspraxis, die von der Drei-Aspekten-Theorie geprägt sind, lassen die Dinge als Wörter in eigener Weise sichtbar werden, die menschliche Aktivitäten begründen und begrenzen. Der Mensch wird als leibseelische Einheit sichtbar, auf den sich die Dinge beziehen, und der zugleich wesentlich auf andere Menschen bezogen ist. Die so erreichte metaphysische Position kann als Realidealismus auf den Begriff gebracht werden (Zweites Kapitel, 2.). Damit steht Koch in großer Nähe zur Erstphilosophie Schellings, auch wenn Schelling als Spätidealist seine Philosophie mithilfe eines ganz anderen philosophischen Instrumentariums entwickelt. In ständiger Auseinandersetzung mit den Einsichten von Kant und Hegel bedenkt Schelling darüber hinaus das Absolute und seine Beziehung zum Kontingenten und spekuliert somit über eine Fragestellung, die bei Koch keine Beachtung findet. Schelling betont, dass es gravierende, die Leistungsfähigkeit menschlichen Denkens überhaupt betreffende Probleme bezüglich der Durchführung eines Gottesbeweises gibt. Wenn aber etwas ist, dann ist das Absolute als intern differenziertes zu fassen, in theologischer Terminologie: dann ist Gott als trinitarischer zu fassen. Als sol-
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cher ist Gott der Welt in eigener Dialektik transzendent und immanent, ohne in dieser Immanenz aufzugehen (Zweites Kapitel, 3). Um Luthers relational-kommunikativen Realidealismus der Gabe material kurz anzudeuten (Drittes Kapitel, 2.): In allen drei Artikeln betont Luther, dass der dreieinige Gott der souverän Handelnde ist, der alleinwirksam ohne ihm externe Vorgaben und somit ex nihilo allein aus Gnaden handelt und in Überfülle gibt. Dabei gibt er sich dreifach und schafft, erhält, versöhnt und vollendet auf diese Weise die Schöpfung. In allem Handeln ist der Schöpfer der Schöpfung und dem Menschen auf solche Art in dialektischer Form gegenwärtig, dass er bereits in der Schöpfung die Schöpfung und die Menschen erhaltend umgibt und dergestalt die Aktivitäten des Menschen begründet und begrenzt. In Jesus Christus, im Abendmahl und im Glaubenden verbindet sich der dreieinige Gott zu je eigenen Formen von dynamischer Einheit mit dem Menschen, indem er sich dem Menschen gibt und des Menschen Sünde nimmt. Gottes Handeln vollzieht sich durch das Wort, da Gott selbst Wort ist und Gottes Wort daher schafft, wovon es redet. Gott kleidet sein worthaftes Handeln für den Menschen zudem jeweils in äußere Form, wobei alles Materiale zu Gottes Vehikel werden kann. Das ist auch dadurch ermöglicht, da das Materiale – die Schöpfung – als solche gut und zudem auf eigene Weise worthaft ist. Als Medium des Handelns Gottes wird die gute, worthafte Schöpfung zur guten Gabe Gottes für den Menschen. Dabei entspricht die Form des Handelns Gottes – das Handeln im Medium des leibhaften Wortes – dem Inhalt des Handelns Gottes – der konkreten Gabe des Guten für den Menschen. Die Form erweist sich als Moment des Inhalts. Nach dem Fall missbraucht der Mensch Gott und die guten Gaben Gottes beständig als Bestand und damit als Instrumente seines eigenen Willens, wird blind gegenüber der Gabenfülle, ist angefochten und in neuer Weise auf die heilbringende Nähe Gottes angewiesen. Die Nähe Gottes zu seiner Schöpfung offenbart sich in Jesus Christus als heilbringende Nähe für den Menschen und ereignet sich im Abendmahl in der ihrem Inhalt entsprechenden Form. Auf diese Weise wird der Mensch in eine neue Form der Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen geführt. So erhellt, dass das Abendmahl ebenso wie Luthers gesamtes Wirklichkeitsverständnis von der Drei-Aspekten-Theorie der Wahrheit als dem kategorialen Kern des Buches her verstanden werden kann: Gott zeigt und gibt sich durch die Dinge hindurch in Fülle (erster Aspekt). Er ist real präsent (zweiter Aspekt). Zudem begründet er so menschliche
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Aktivität (dritter Aspekt) und begrenzt sie gegenüber derjenigen Hyperaktivität in der Hyperrealität, die für die liquid modernity unserer Gegenwart charakteristisch ist. Zugleich erhebt sich die drängende Frage, wie der alleinwirksame, heilbringende Gott mit dem Geschehen der Weltwirklichkeit in seiner Abgründigkeit und mit der eigenen Sündigkeit zusammenzubringen ist. Auch wenn Luthers Abendmahlslehre eine für die Gegenwart relevante und in erstphilosophischer Hinsicht gerechtfertigte Metaphysik präsentiert, bleibt der Glaube angefochten.
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Personenregister Anselm von Canterbury 214, 224. Barth, K., 11, 279, 281, 282, 285, 313–321, 324, 472, 474. Bauman, Z., 16, 43, 59, 64, 66–68, 72–76, 82, 85. Bayer, O., 303, 315, 320, 328 f., 345, 359, 363, 365, 373, 380, 391, 396, 403, 405, 408, 409, 411, 414, 416, 418, 421, 425 f., 432, 435, 437, 441. Beck, U., 22, 59, 64, 73, 75, 78. Bizer, E., 11, 286, 303, 322–328, 473. Borgmann, A., 17, 22, 43, 59, 61, 64, 70 f., 75 f., 83 f., 91–93, 365, 486. Calvin, J., 317–321, 447. Dalferth, I. U., 210 f., 214, 246, 330, 346 f, 415, 424. Davidson, D., 106, 191. Descartes, R., 31, 79, 81, 104, 293, 301, 311. Derrida, J., 53, 107, 199, 329–331, 335, 340–342, 358. Dreyfus, H. L., 50, 65, 486. Dummett, M., 116. Foucault, M., 81 f. Giddens, A., 22, 59, 64, 66, 69 f., 73, 75, 77. Gumbrecht, U., 22, 59, 61–64, 88, 91 f.
Harnack, A. von, 11, 285–295, 298, 300 f., 304, 309, 312 f. Hegel, G. W. F., 1, 3, 14, 102, 108 f., 121, 164, 197, 204, 209, 211–216, 221, 223, 225–244, 245–248, 249–261, 263, 268, 274, 276, 293, 318, 379 f, 471, 477 f, 481 f., 488 f. Henrich, D., 102, 206, 217, 219–222, 226, 231, 247, 250, 308. Heidegger, M., 1–3, 15–19, 22–58, 59–61, 65, 67, 69, 80–82, 86, 90 f., 93, 98–101, 104 f., 107, 110,120, 123, 135, 149–151, 154, 157, 159 f., 162, 164, 171, 174, 177, 193, 199–201, 203, 277, 336–339, 344, 406, 414, 419, 463, 471, 483 f., 486–489. Hirsch, E., 11, 285 f., 291, 295, 298 f., 301, 304–312, 318, 356, 453, 475, 488. Holl, K., 11, 285, 291, 295–303, 304, 306 f., 309, 312 f., 324. Holm, B. K., 329–333, 340, 346 f., 349. Hörisch, J., 5, 16, 64 f., 348. Husserl, E., 178, 336, 339. Kant, I., 1, 3, 14, 27, 102, 109, 113, 117, 133, 138, 164, 181, 204, 206, 208 f., 213–225, 226–228, 231 f., 234, 238–244, 247 f., 251, 258–261, 268, 271, 293, 300, 311, 333, 379, 404, 471, 477–479, 481, 488. Karlstadt, A., 5, 290, 368 f., 371, 377 f., 384. Koch, A. F., 1–3, 12–15, 16 f., 55, 57, 81, 95–204, 209, 212 f., 216, 240,
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Personenregister
257, 260–284, 313, 343, 349, 373, 390, 406, 455, 461, 465 f., 468–470, 478, 481–489. Leibniz, 35 f., 221. List, E., 43, 59, 79–81, 83, 89. Luther, M., passim Mauss, M., 329, 340 f., 345–347. Marion, J.-L., 91, 109 f., 169, 254, 329–331, 335–347, 358, 468, 473. Metzke, E., 8, 101, 349, 364, 382, 389, 402, 403, 440, 448, 460. Mühling, 210 f. Nietzsche, F., 9, 16, 23 f., 28, 30–41, 53, 60, 86, 199, 267, 487. Paulus, 288, 319, 370, 402, 404, 409, 454, 463. Parmenides, 196 f., 200. Platon, 16 f., 24–26, 28–36, 46 f., 79, 84, 121, 170 f., 486 f. – platonisch, platonisierend, 31, 84, 93, 152, 219, 371, 410, 429, 431, 468.
Quine, W. V. A., 155, 222, 279. Ritschl, A., 286 f., 291, 298, 309. Rorty, R., 52, 199. Saarinen, R., 291, 300 f., 318 f., 329, 330–333, 346, 349, 354 f., 358, 360, 424. Schelling, F. W., 1, 3, 12, 13–15, 102 f., 109, 151, 204, 209, 212, 213–216, 242, 244–260, 261–269, 273–275, 282, 349, 379 f., 390, 406, 455, 465, 467, 470, 471, 477–481, 488 f. Schleiermacher, F., 319. Schwöbel, Chr., V, 9, 51, 271, 349, 359, 363, 399, 462 Seneca, 331. Sennett, R., 22, 59, 64, 68, 71–76, 78. Sokrates, 29, 222 f. Vorsokratiker, 16, 27, 47, 157, 486. Zwingli, U., 4–6, 152, 290, 294, 317, 348, 368–371, 377 f., 384, 402.
Sachregister Abendland, 16, 23, 24, 26–28, 31, 33, 36, 38, 43, 53, 57, 60 f., 100, 107, 193, 200 f., 277, 486. – abendländisch, 5, 24, 31, 213, 277, 287, 294. Absolute, 3, 14 f., 43, 95, 98, 102, 110, 186, 204, 209, 211–213, 216, 223 f., 226–228, 233 f., 237 f., 242–246, 250, 254, 258–265, 268, 274, 278, 280, 282, 379, 477–483, 489. Aletheia, 16, 29, 30, 36, 47, 51, 57, 406. Allgegenwart, 7, 363, 389 f., 420, 424, 432, 438, 439–444, 465 f. – allgegenwärtig, 7, 424, 435, 439, 446, 465. Allmacht, 398 f., 401, 403, 420, 422, 433, 439. – allmächtig, 365, 400, 409, 420, 432 f., 444, 445, 456, 463–465. Anthropologie, 152, 273, 281, 318, 320, 371, 407, 410, 447, 453, 468 f. Antidualismus, 146, 149. Antinaturalismus, 146, 148 f. Antinomie (des Diskurses), 141, 177, 194–200, 29. Antirealismus, 103, 115 f., 146, 159, 189. Apriorismus, 105. Beobachtungssätze, 155 f., 161–164, 178. Bestand, 1, 2, 17, 21, 30, 35–44, 49, 57, 65, 70, 82 f., 88, 90, 93, 95, 114, 149, 151, 160, 167, 176, 202, 334, 337,
349, 417, 419, 453, 456, 481, 484–488, 490. Behauptbarkeit, gerechtfertigte, 13, 99, 116 f., 159, 170, 466, 483. Bipolarität, bipolar, 116 f. Bivalent, 116 f. Causa – sui, 231. – efficiens , 373. – finalis, 373. – materialis, 373. - formalis, 373. Christologie, 6, 10, 152, 289, 290, 299, 301, 306, 316, 318, 356, 359, 362, 367, 371, 378 f., 381, 389, 396, 422, 431, 434, 434–439, 447, 451, 453, 461, 466. Cyborg, 82–84. Designation, 102, 111, 117–119, 123 f., 150, 152 f., 156, 163, 176, 192, 205 f., 209. Deus absconditus 377, 432, 457. Dualismus – siehe „Geist-Körper-Dualismus“ Eigennamen, 125, 210. Einsetzungsworte, 5, 383–388, 442, 446–449, 466. Ens necessarium, 217–221, 225–227, 231 f., 247–250, 259. Ens perfectissimum, 245, 247–250, 259, 265. Erkenntnistheorie, 104, 118.
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Sachregister
Erstphilosophie, 1–3, 12–15, 66, 95–110, 151, 171, 195, 201, 203, 267–283, 336, 349, 373, 465, 475–477, 483, 489. Epistemologie, 104, 311. Epoché, 177, 178–182, 185–187, 190–192, 294. Ethik, 300, 414, 455, 469. – Gütheretik, 414. – Tugendethik, 469. – Pflichtenethik, 415, 469. Evangelium, 18, 282, 286–292, 302, 305–308, 310 f., 320, 325–329, 358 f., 363, 371, 378, 438, 449, 460. Fall (Sündenfall), 10, 94, 355–361, 365, 367, 373, 391–393, 397, 403, 404, 409, 411, 413, 417–420, 423, 425, 430–433, 438, 451, 454, 461 f., 467, 490. finitum capax infiniti, 314. Fleisch, fleischlich, 322, 370, 395, 402 f., 410, 417 f., 436, 438, 444, 447, 456, 468. focal practice, 15, 17, 22, 43, 58, 61, 87, 90, 91–93, 365, 484, 486 f., 489. Gabe, 2, 7, 9–11, 17, 57 f., 88, 91, 93, 95, 99, 104, 114, 151, 153, 176, 201–203, 207, 212–214, 263 f.,269, 282, 286, 300, 322, 328, 329–348, 349–362, 365–369, 372, 390–393, 397–445, 451–453, 455, 459–464, 465 f., 472 f., 481, 485–490. – reine, 330, 340, 345, 409. – als favor, 332, 334. – als donum, 332, 345, 405. Gabentausch, gereinigter, 330, 340–347, 369, 469. Geist, 2, 5, 7, 13, 43, 62, 79–81, 83, 88, 96, 99, 130, 146–148, 151–153, 172, 202, 226, 233, 236–238, 242, 246, 253, 259, 273, 279, 290, 292, 294, 298, 300, 302, 313, 319 f., 359,
370–372, 381, 387, 392, 395, 401–403, 410, 413, 423, 429, 444, 450–457, 462, 464–466, 473, 482 f. – heiliger, 355, 358, 364, 398, 467. geistlich, 325, 355, 402, 410, 417, 445, 450–452, 456. Geist-Körper-Dualismus, 43, 79, 81, 153, 202, 273, 482. Genus majestaticus, 316, 318. Gesetz, 31, 148–150, 155, 259, 282, 302, 304–307, 310–312, 320, 325 f., 358 f., 432, 454. Gestell, 1, 39–45, 83. Geviert, 50 f. Gewissen, 7, 295 f., 302, 304–308, 324, 360 f., 412, 431, 445, 452, 457, 464 f. Gewissensreligion, 295 f., 304, 311. Glauben, passim – angefochtener, 357, 432, 434, 457. Gott, passim Gottesbeweis, 1, 3, 14, 102, 109, 204, 213–261, 479–482. Gottebenbildlichkeit, 411, 416, 418–420, 429. Gotteserweis, 12, 14, 216, 253, 257. Gotteslehre, 6, 14, 289, 362, 364, 379, 381, 389, 425, 479–481. Grammatik, 373, 375, 380–389, 392, 404. Heilsgewissheit, 6 f., 302, 315, 326. Herz, 78, 203, 274, 292, 324, 357, 360, 383, 390, 395, 404, 410, 412–416, 426–429, 432, 439, 450–453, 456, 461–465, 469, 473, 481. Himmel, 7, 50, 63, 210, 237, 316, 362, 397, 400, 404, 423, 439, 450, 453, 455, 462 f. Ich, Dreistufengebrauch des, 136, 148, 172, 177. Idee – regulative, 222, 225 f., 232, 239. – konstitutive, 108.
Sachregister
– absolute, 226–229, 232 f., 239, 242. Identität – numerische, 127, 140–143. – qualitative, 127, 140–143. Idiomenkommunikation, 316, 363, 366, 424, 434–439, 462. Indikatoren, 125–132, 136, 142 f., 147, 150, 153, 156, 172, 184–186, 205 f., 210–212, 273 f, 278, 440. Inferentialismus, 172, 175 f. Irrtum, 38, 47, 99, 111 f., 117, 120–122, 125, 135, 154, 158, 161, 163–165, 191–193, 198–199. Irrtumsimmun, 121, 123, 158, 188, 190–192. Jesus Christus, 5–7, 263, 265, 269, 301, 306, 316, 365–367, 371–376, 385, 390, 393 f., 397, 424 f., 434–445, 446, 448, 458, 462–466, 468, 473, 483, 490. Kennzeichnung, 124–126, 136, 223, 265, 405, 474. Körper, 1, 16, 43, 66, 72, 76, 78, 79–85, 131–136, 146, 152, 184, 186, 206, 339, 385, 410, 424, 441, 485. Kontingenz 3, 102, 142, 186, 202, 205–210, 261, 282, 303, 478. Koordinatensystem (der Indikatoren), 79, 128–131, 136, 172, 184–186, 206, 210–212, 273, 278, 440. Kosmologie, 7, 62 f., 423, 440. Kunstwerk, 48–52, 58, 61, 91, 93, 338, 487, 489. Leib, leiblich, 5 f., 8, 17, 31, 57, 60, 62 f., 79–84, 88, 89, 91–93, 95 f., 99, 101, 104, 110, 117, 123, 128, 130, 132–137, 139, 143, 150, 152 f., 185 f., 202, 205, 212, 255, 262 f., 273, 307, 321, 327 f., 338 f., 344, 348, 370 f., 385, 387 f., 397, 402, 410, 431, 436,
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440, 442, 446–453, 456, 458–460, 466, 485, 486. – Christi, 350, 383, 386, 389, 402, 440, 442, 446–453. – „dies ist mein Leib“, 5 f., 212, 350, 385, 388, 447. Leibseelische (Einheit, Ganzheit), 28, 95, 407, 410–412, 418, 426, 460, 468, 481, 489. Leitmedium, 5 f., 8, 16, 65, 85, 485. Liquid modernity, 15 f., 22, 43, 56, 59, 63, 87, 96, 152, 371, 484 f., 488 f., 491. Luther, passim – ganze und/oder wahre, 286, 293, 295, 311, 318, 324, 331. Lutherrenaissance, 11, 285 f., 295, 312, 319, 321, 327, 331, 333 f., 363, 450, 472, 474 f., 485, 488. Metaphysik, 1–3, 5, 7–18, 26–28, 31–52, 56–58, 92, 96, 101, 104–106, 151 f., 174, 203, 263, 267 f., 277, 280, 282 f., 285, 291–294, 300, 302, 306, 313, 320, 348, 351–353, 360, 362, 393, 396, 399, 400, 405–407, 410, 417, 448, 455, 461–470, 471–4777, 483. Metaphysica – generalis, 104. – specialis, 9, 104. Monismus, starker anomaler, 146, 149 f., 200. Naturalismus, 99, 103, 106, 108, 146–149, 153, 202, 313, 401. Negation, 116, 194–200, 218, 238, 444. – erste, 229. – zweite, 229 f. – doppelte, 45 f. Nihilismus, 33–36, 38 f., 41, 193. Nominalismus, 165. Normativität, 157, 170.
514
Sachregister
Offenbarung, 18, 63, 114, 201, 235, 253–256, 266, 278–281, 288, 317, 319, 325, 337, 354, 373–382, 385, 395, 414, 477. Omnitudo realitatis, 217–227, 231, 244, 248, 250 f., 259. Ontotheologie, 225. Operatorgebrauch (des Ich), 182–185, 206, 208. Orientierungswissen, 109, 264, 270–272, 413, 469. Ort, Weise, am Ort zu sein: – diffinitive, 441. – localiter, 441, 447. – repletive, 442. Personalitätsthese, 143, 150 f. Phänomen, passim – gesättigt, 338, 345. Phänomenalität, 111, 157, 160, 193, 337. Philosophie – analytische, 104. – positive, 251 f., 255. – negative, 252, 275, 279. Potenz, 247–254, 259 f., 274, 406, 480. Prädikation, 111, 117–120, 123 f., 126, 152 f., 156, 163–165, 168, 176, 192, 205 f., 256. Präsenzmetaphysik, 37, 61, 69, 100, 107, 151, 160, 167, 174, 193, 200. Promissio, promissional, 302 f., 307, 313, 325, 327, 397, 458. Propositionales als, 164. Raumzeit, 64, 69, 88, 123 f., 126, 128–130, 136, 137–139, 145, 161, 210–212. – euklidisch, 137 f. – nichteuklidisch, 137 f. Realismus, passim – erkenntnistheoretischer, 151. – semantischer, 114 f. Realidealismus,3, 11–15, 57, 101, 103, 151, 204, 216, 261, 363, 367, 406,
464–468, 471, 475, 478, 481- 483, 488–490. Realpräsenz, 6 f., 10, 65, 309, 348, 356, 360, 362–364, 376, 386, 400, 435, 442, 444–462, 473. Rechtfertigung, 12, 106, 110, 156, 171, 190, 297–299, 302, 305, 324 f., 331–333, 349, 353, 362–364, 384, 396–399, 405, 409, 448, 462 f., 487, 489, – forensisch, 333, 452. – effektiv, 333, 452. Religion, passim – absolute, 235. Res cogitans, 130, 145, 148, 184. Res extensa, 130, 148, 184. Satz vom ausgeschlossenen Dritten, 108, 116, 198. Satz vom Grund, 35 f., 41, 43, 46, 54, 177. Schluss, 55, 153, 161 f., 165, 170–177, 205, 218, 227, 255–260, 351, 482. – spekulativer, 227, 238–244, 479. Schöpfung, 397–425, passim Schöpfungslehre, 6, 168, 269, 356, 359, 362 f., 371, 390, 398, 406, 409, 420, 425, 431, 436, 446, 451, 461, 463, 468. Schöpfungsordnung, 375, 408–411. Sein, passim – veritatives, 104, 118–120. – existentiales, 119–122, 158, 165. – prädikatives, 118 f. Selbstbezüglichkeit, 105, 203, 269. Significat, 6, 338. Skepsis, 115, 123, 157, 159, 178, 189–193. Skeptizismus, 103, 106, 146, 190. Solipsismus, 105. Stiftung, 408 f., 417. Subjektivitätsthese, 134, 139–151, 157, 167, 185, 212 f., 262, 407, 482.
Sachregister
Sünde, 10, 277, 296–300, 308, 325, 332, 347, 347, 360, 365 f., 372–374, 391, 402, 426–434. – Sündenfall, 10, 361, 365, 373 f., 391 f., 397, 403 f., 408, 411, 413, 417, 423, 426, 430–434. – Erbsünde, 428 f. – Tatsünde, 426, 429. – Ursünde, 426. Substanzmetaphysik, 288, 291, 301. Synekdoche, 388, 447. Technik, 22–58, passim Technikphilosophie, 1, 15, 22, 24. Teufel, 7, 54, 308, 368 f., 372, 383, 415, 427, 433, 439, 441, 452 f., 456. Theologie, passim – natürliche, 318. Theorie apriori der Bezugnahme (TVA), 128, 131 f., 135, 141, 143, 147, 182, 184 f. Tiefenphilosophie, 107, 200, 277. Transzendentalphilosophie Trinität – immanente, 211, 236, 393–397, 467. – ökonomische, 395, 397. Ubiquität, 83, 290, 292, 348, 363, 393, 424, 440, 443. Übermensch, 32–38, 50, 487. Union, suppositionale, 438. Unverborgenheit (Wahrheit als, Sein als), 16, 29, 36, 44, 47, 51–55, 81, 90–94, 95, 99, 107, 120, 149, 157, 167, 174, 193, 198, 200, 277, 486–489. Ursachverhalt, 55, 119–125, 137 f., 157–160, 172, 179–181, 184, 192 f., 196, 199. Vater (Gott, der), 235, 253 f., 288, 292, 297, 337, 343, 345–347, 355 f., 359 f., 364, 391, 394–401, 420, 423–425,
515
428, 434, 439–442, 444, 450–457, 462, 464–467, 473. Vernunft, 15, 25, 30 f., 35 f., 53, 57, 139, 154, 161, 171, 202, 208, 211 f., 215, 217–221, 225–228, 234, 237–241, 244, 250–266, 271, 274–279, 292 f., 343, 353, 368 f., 372–393, 407, 410, 412–420, 431, 453, 469, 476 f., 479–482. Vertrauen, 74, 372, 381, 413 f., 418. Versöhnung, 203, 268 f., 345, 347, 353, 358, 361, 364, 378, 396 f., 399, 420, 464. Wahrheit – Drei Aspekten-Theorie, 10, 13, 15, 17 f., 57, 81, 95, 97 f., 101 f., 123, 136, 153–161, 175 f., 189, 195, 199, 260, 262, 465 f., 481–484, 487–490. – anschaulich-präsentationaler Aspekt, 13, 98 f., 154–157, 466, 483. – realistisch-repräsentationaler Aspekt, 13, 99, 154, 157–163, 466, 483. – praktisch-normativer Aspekt, 13, 99, 159–161, 466. – Korrespondenztheorie, 13, 99, 115, 158 f., 483. – Konsenstheorie, 159. – Kohärenztheorie, 13, 99, 483. – als Wert, 1, 16 f., 34, 36, 38, 43, 48, 52, 57, 59 f., 81, 90, 95, 99, 484, 487, 489. – als Richtigkeit, 16, 29–36, 52, 57, 81, 99, 160, 486–489. – als Unverborgenheit, siehe: Unverborgenheit – einwertige, 121, 180. – zweiwertige, 179. – Wahrheitswertlücken, 116. Wechselverhältnis, 138, 143–146, 148, 151–153, 161 f., 199, 202, 276, 313, 468. – allseitiges, 146, 203, 270 f.
516
Sachregister
– intersubjektives, 185, 207. – materielles, 146. – raumzeitliches, 145 f. – subjektiv-objektives, 145, 148, 153, 168, 185, 207. Weltbild, 39 f., 63. Werkgerechtigkeit (auch: intellektuelle), 264, 266, 371 f., 376, 378, 380, 427, 449, 476. Wort, passim – Gottes, 263, 288, 302, 315, 317, 320, 323, 331, 377 f., 380 f., 383, 386, 391 f., 394 f., 398, 400, 404, 410, 412, 415, 423, 458.
– Tatwort, 400. – Machtwort, 400, 446, 466. Wille, 7, 133, 213, 252, 274, 296, 297, 301, 304, 333, 359 f., 367, 376, 398 f., 409, 412–419, 427, 431, 436, 437, 444, 447, 450 f., 545, 462, 469, 474, 490. – zur Macht, 34–36, 42 f., 82 f. – zum Willen, 34, 50. Wunder, 46, 148, 297, 389–393, 403 f., 453. Zweiwertigkeit (des Urteils), 112, 116, 163, 194.