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German Pages [420] Year 2012
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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300275 — ISBN E-Book: 9783647300276
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Daniel Jütte
Das Zeitalter des Geheimnisses Juden, Christen und die Ökonomie des Geheimen (1400–1800)
Vandenhoeck & Ruprecht
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Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort sowie mit Unterstützung der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg und mit Mitteln der Exzellenzinitiative.
Umschlagabbildung: Pietro della Vecchia: Der Chiromant (um 1650), Palazzo Chiericati, Vicenza. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30027-5 ISBN 978-3-647-30027-6 (E-Book)
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Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.
Kapitel – Das Zeitalter des Geheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Geheimnis als Untersuchungsgegenstand. Methodische Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Geschichte des Geheimnisses im Mittelalter und im Übergang zur Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte und Kontinuitäten der ›Arkanisierung‹ in der Frühen Neuzeit Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden. Diskurse und Realität in der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Kapitel – Facetten der Ökonomie des Geheimen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Alchemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Medizinische Arkana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Kryptographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Spionage und Informationsbeschaffung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Zivile und militärische Technologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Das Einhorn: Juden als Vermittler von Geheimnissen der Natur . . . . . . 119 III. Kapitel – Zwischenräume: Die Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 IV. Kapitel – Geheimnisse und Geschäfte: Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 V. Kapitel – Ein jüdischer professore de’ secreti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Abramo Colorni – eine Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit. Lehrjahre . . . . . . . . . . . . . . . 173 Mit Geheimnissen rechnen. Mathematik, Mechanik und Meßkunst . . . 198 Divination und Distinktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Inhalt
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Der Magus und sein Kosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 Arcana imperii – Imperium arcanorum. Der Kaiserhof Rudolfs II. . . . . 235 Geheimnisse übermitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Explosives Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Projekte, Proteste und ein Hasardstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Die Fußstapfen des Daedalus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 Wer war Abramo Colorni? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 VI. Kapitel – Konjunktur und Krise des Geheimnisses: Vom Umbruch des Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Die Historiographie und das ›kontributorische Narrativ‹ . . . . . . . . . . . . . 324 Ökonomie des Geheimen und Pluralität der Wissenskulturen . . . . . . . . 333 Optionen und Utopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Arkana und Ansehen im Zeitalter der Aufklärung. Drei Karrieren . . . . 352 Das Verschwinden der Ökonomie des Geheimen im 19. Jahrhundert . . 359 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
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Inhalt
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Vorbemerkung
Verfasser und Titel werden im Fußnotenapparat eines jeden Kapitels bei der ersten Erwähnung vollständig angegeben. Danach wird nur noch ein Kurztitel verwendet. Archivquellen werden nur dann mit einer Foliierungsangabe zitiert, wenn diese bereits im Original vorhanden ist. Venezianische Quellen, die more veneto datiert sind, wurden stillschweigend an die moderne Zeitrechnung angepaßt. Entsprechendes gilt für Quellen aus der Toskana, wo das neue Jahr gemäß dem calendario fiorentino jeweils erst am 25. März begann. Für die Umschrift des Hebräischen lagen die leicht modifizierten Transkriptionsregeln der Encyclopaedia Judaica (22007) zugrunde. In Fällen, bei denen sich davon abweichende Schreibweisen in den Quellen finden oder im Deutschen eingebürgert haben (also etwa bei Eigennamen oder Zeitschriftentiteln), wurden mitunter Ausnahmen gemacht. Auf Wunsch des Verfassers wurde in diesem Buch die alte Rechtschreibung beibehalten. Alle Bibelzitate in deutscher Sprache sind – soweit nicht anders angegeben – der zur Zeit gültigen Ausgabe der Luther-Bibel (1984) entnommen.
Vorbemerkung
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I. Kapitel Das Zeitalter des Geheimnisses
Annäherungen »Es ist also wohl denkbar: daß die öffentliche Geschichte sich aus der geheimen werde erklären lassen können.«1
Als der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) diese Worte niederschrieb, hatte er die Geschichte der Freimaurerei vor Augen. Fichte, von dem ausgesprochen gehässige Aussagen über Juden überliefert sind, hätte sich vermutlich dagegen verwahrt, seinen Gedanken auf die jüdische Geschichte anzuwenden. Nicht zuletzt darum aber soll es in der vorliegenden Studie gehen. Der Ausgangspunkt der hier angestellten Überlegungen ist die jüdische Geschichte in der Frühen Neuzeit. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei den ständigen und vielfältigen Wechselwirkungen zwischen jüdischer und christlicher Gesellschaft – Wechselwirkungen, die man weder ausblenden kann noch verklären sollte. Auf einer allgemeineren Ebene handelt diese Studie von der Bedeutung und Funktion von Geheimnissen und Geheimhaltung zwischen 1400 und 1800. Eines der angestrebten Ziele ist es, durch die Linse der ›geheimen Geschichte‹ – um hier für einen kurzen Augenblick die Begriffe Fichtes zu adaptieren – ein schärferes Bild von der ›öffentlichen Geschichte‹ zu gewinnen. Die These dieser Dissertation betrifft im Kern die allgemeine Geschichte des Wissens in der Vormoderne. Wie stellt sich nun die ›öffentliche Geschichte‹ der Juden in Mitteleuropa in der Frühen Neuzeit auf den ersten Blick dar? Wenn jedenfalls von der Lebenswelt und vom Berufsspektrum frühneuzeitlicher Juden in Italien und im Heiligen Römischen Reich die Rede ist, dann werden oft vor allem der Geldverleih, der Fernhandel, die Medizin, der Trödelhandel sowie mitunter auch einige handwerkliche Tätigkeiten genannt. Namentlich die Zahl der Forschungen zu den Aktivitäten 1
Johann Gottlieb Fichte, Vorlesungen über die Freimaurerei [1802/1803], in: Ausgewählte politische Schriften, hg. von Zwi Batscha und Richard Saage, Frankfurt am Main 1977, S. 169–216, hier S. 213. Annäherungen
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von Juden im Geld- und Kreditgeschäft ist kaum mehr überschaubar. Die Fülle dieser Studien hat natürlich ihre Berechtigung, denn das Geldgeschäft – wenn auch vorwiegend auf der Ebene von Kleinkrediten und Pfandleihe – blieb zweifellos bis ins bürgerliche Zeitalter eines der hervorstechendsten und sichtbarsten Merkmale des jüdischen Wirtschaftslebens, wenn auch nicht überall in Europa gleichermaßen. Die vorliegende Studie beabsichtigt keineswegs, einen dezidierten Gegenentwurf zu den bisherigen Arbeiten zur jüdischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte in der Vormoderne zu liefern. Sie möchte jedoch die Aufmerksamkeit auf einen bisher kaum erforschten Bereich der jüdischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte lenken. Gemeint ist der in seiner wirtschaftlichen Bedeutung nicht zu unterschätzende Handel mit Geheimnissen bzw. – um an dieser Stelle einen etwas weiter gefaßten Terminus einzuführen – die Bedeutung von Juden für die vormoderne Ökonomie des Geheimen. Bevor das hier angedeutete Phänomen sowie einige der in dieser Studie zu entwickelnden Thesen umrissen werden, sind zunächst einige Begriffe zu klären. Dies gilt vor allem für den Terminus Ökonomie des Geheimen, der im weiteren Verlauf dieser Untersuchung eine zentrale Rolle spielen wird. Der Begriff ›Ökonomie‹ knüpft hierbei an die jüngere wissenschaftsgeschichtliche Forschung an, die anregt hat, die Gesamtheit der verschiedenen, mitunter auch konkurrierenden Wissenskulturen der Vormoderne mit dem Überbegriff der »knowledge economy« zu bezeichnen.2 In der vorliegenden Studie soll die Rede von einer innerhalb dieser »knowledge economy« zu situierenden, spezifischen Ökonomie des Geheimen sein. Mit dem Begriff Ökonomie soll auch dem wirtschaftlichen Charakter des Handels mit Geheimnissen Rechnung getragen werden. Daß Geheimnisse zur Ware werden können, läßt sich für die Frühe Neuzeit ebenso feststellen3 wie dies von Soziologen und Kommunikationswissenschaftlern für die Gegenwart nachgewiesen worden ist.4 Der Terminus ›Ökonomie (des Geheimen)‹ bezeichnet in der vorliegenden, historischen Studie jedenfalls die Gesamtheit jener Aktivitäten, die sich als Handeln, Anbieten, Vermitteln, Liefern, Tausch und Verkauf von Geheimnissen beschreiben lassen. Er verweist zudem explizit auf die noch herauszuarbeitenden Berührungspunkte zwischen diesen Aktivitäten und der merkantilen Sphäre (sowie deren Rhetorik) in der Frühen Neuzeit. Auch der Begriff des Geheimnisses ist an dieser Stelle absichtlich weit gefaßt, 2
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Vgl. z. B. Joel Mokyr, The Gifts of Athena. Historical Origins of the Knowledge Economy, Princeton etc. 2002; sowie Larry Stewart, Experimental Spaces and the Knowledge Economy, in: History of Science 45 (2007), S. 155–177. William R. Newman, George Starkey and the Selling of Secrets, in: Mark Greengrass/Michael Leslie/Timothy Raylor (Hg.), Samuel Hartlib and Universal Reformation. Studies in Intellectual Communication, Cambridge 1994, S. 193–210. Joachim Westerbarkey, Das Geheimnis. Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen 1991, S. 171–173. Das Zeitalter des Geheimnisses
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wie weiter unten noch in theoretischer Beziehung auszuführen sein wird. Damit ist nicht zuletzt dem weit ausgreifenden, alle Bereiche der Lebenswelt umfassenden Geheimnisbegriff der untersuchten Epoche selbst Rechnung getragen. Denn der Kosmos der Frühen Neuzeit war in den Augen seiner Bewohner nicht nur von den Wunderzeichen Gottes und – gemäß der sogenannten Signaturenlehre – von einem komplexen System der Korrespondenzen zwischen allen Wesen erfüllt.5 Vielmehr war die Welt für Christen wie Juden nicht zuletzt von der Vorstellung geprägt, in einem Kosmos zu leben, der voller Geheimnisse, aber nicht selten auch entsprechender Wissensverbote war.6 In dieser Epoche gingen, so Niklas Luhmann, »die Alltagswelten des erfahrbaren und kontrollierbaren Sinnes sehr rasch über in Unbekanntes, Deutungsbedürftiges, Autoritätsabhängiges; und in diese Grundorientierung des Vertrauten und Unvertrauten fügt sich die Lehre der religiösen und natürlichen Geheimheiten bruchlos ein.«7 Auf christlicher Seite wurde dabei zwischen verschiedenen Arkanbereichen unterschieden. So existierten beipielsweise Geheimnisse der Natur (arcana naturae), Geheimnisse Gottes (arcana Dei) und Geheimnisse der Obrigkeit (arcana imperii). Teilweise begegnen in den Quellen außerdem Weltgeheimnisse (arcana mundi) sowie Herzensgeheimnisse (arcana cordis) als Termini,8 wobei im einzelnen eine gewisse Überschneidung zu den bereits genannten Kategorien evident ist. Der Terminus arcanum für sich genommen weist im frühneuzeitlichen Schrifttum verschiedene Facetten auf. Zedler beispielsweise definiert in seinem monumentalen Universal-Lexicon (1732–1754) das Arkanum als »eine geheime, uncörperliche und unsterbliche Sache, welche von dem Menschen nicht, ausser durch die Erfahrung, mag erkannt werden.«9 Es gibt dabei Unterschiede zwischen der Verwendung des Begriffs in religiös-theologischen Diskursen und dem Gebrauch sowie den Konnotationen in naturphilosophischen Kontexten. In medizinischen Texten werden in der paracelsischen Tradition mit arcana nicht nur allgemeine Geheimnisse, sondern auch spezifische Wirk- und Heilkräfte (virtutes) sowie auf 5 6
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Klassisch dazu Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974 [11966], v. a. S. 46–74. Carlo Ginzburg, High and Low. The Theme of Forbidden Knowledge in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Past and Present 73 (1976), S. 28–41; Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, hier v. a. Kap. 2. Niklas Luhmann, Geheimnis, Zeit und Ewigkeit, in: Ders./Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt am Main 21992, S. 101–138, hier S. 103. Vgl. Aleida Assmann/Jan Assmann, Das Geheimnis und die Archäologie der literarischen Kommunikation. Einführende Bemerkungen, in: Dies. (Hg.), Geheimnis und Öffentlichkeit (= Schleier und Schwelle, Bd. 1), München 1997, S. 7–16, hier S. 9. Lemma Arcanum, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon [Zedler], Bd. 2, Sp. 1182–1183, hier Sp. 1182. Annäherungen
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alchemische Weise hergestellte Arzneien bezeichnet. Allerdings wurde der Begriff im medizinischen Kontext bald so inflationär gebraucht, daß nahezu jede Arznei, deren Herstellung und Zutaten geheimgehalten wurden, sowie »medicinische Geheimnisse« im allgemeinen als arcana galten.10 Zudem begegnen Arkana im Zusammenhang mit Zunftgeheimnissen (arcana artis).11 Zur Bezeichnung eines Geheimnisses fand auch der Begriff secretum Verwendung, wenngleich er oftmals in der Theorie wie in der Praxis synonym mit arcanum gebraucht wurde. Heidrun Kugeler hat jüngst versucht, die Bedeutung der Begriffe secretum, arcanum und – das bisher noch nicht genannte – occultum in der Sprache und Literatur der Diplomatie und des Gesandtenwesens im 17. Jahrhundert zu unterscheiden. Sie ist dabei zu dem überzeugenden Ergebnis gekommen, daß es sich um ein weitgespanntes »Begriffsfeld« handelt, dessen Termini die verborgenen Inhalte ebenso wie »Techniken der Geheimhaltung« und »Praktiken der Geheimnisaufdeckung« bezeichneten.12 In alltagsweltlichen Diskursen der Frühen Neuzeit stellt sich die Sache ähnlich dar. Jedoch dürfte in diesem Fall die Bandbreite des Begriffs secretum am größten gewesen sein. Denn dieser Terminus war noch tiefer als das arcanum in der Lebenswelt des Alltags verwurzelt. Fast jedes Wissen konnte zum secretum werden oder als solches kommuniziert werden – mitunter bezeichnete der Begriff einfach eine ärztliche Verschreibung oder ein Kochrezept, manchmal nur einen Kunstgriff.13 Das secretum war aber auch eine philosophische Kategorie. So wurde in der aristotelischen Tradition in der Regel zwischen zwei verschiedenen Formen von secreta unterschieden. Erstens waren mit dem Begriff alle Manifestationen okkulter Qualitäten gemeint, also beispielsweise die Wirkung von Naturkräften, deren Erklärung die menschliche Sinneskraft überforderte (etwa der Magnetismus). Zweitens wurden mit dem Begriff auch die oftmals wundersamen Vorgänge und Effekte bezeichnet, die aus nicht-natürlicher Einwirkung auf die Natur resultie10
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Ebd.; siehe auch G. Jüttner, Lemma Arcanum, in: LexMA, Bd. 1, Sp. 895. Eine besonders bemerkenswerte Verwendung des Terminus findet sich in der Eingabe des Augsburger Bürgers Johann Heindl an den bayerischen Hof [um 1760]. Darin wird ein »Arcanum« angeboten, um »das so beschwerliche Ungeziefer« aus Zimmern und »tapetten« zu vertreiben. BayHStA, Generalregistratur Fasz. 1204, Nr. 130. Reinhold Reith, Know-How, Technologietransfer und die Arcana artis im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit, in: Early Science and Medicine 10 (2005), S. 349–377. Heidrun Kugeler, »Ehrenhafte Spione«. Geheimnis, Verstellung und Offenheit in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts, in: Claudia Benthien/Steffen Martus (Hg.), Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 127–148, hier v. a. S. 136–137. Lemma Secretum, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon [Zedler], Bd. 36, Sp. 923. Zur Gattung der sog. »Kunstbüchlein«, die solche secreta enthalten, vgl. William Eamon, Science and the Secrets of Nature. Books of Secrets in Medieval and Early Modern Culture, Princeton 1994, S. 112–120. Siehe auch David Gentilcore, Medical Charlatanism in Early Modern Italy, Oxford 2006, S. 359. Das Zeitalter des Geheimnisses
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ren konnten (die geheimen Techniken der Handwerker – zum Beispiel in der Glasherstellung – zählten hierzu).14 Hingegen unterschied beispielsweise der berühmte Arzt und Naturphilosoph Girolamo Cardano (1501–1576) in seiner Schrift De secretis (erstmals gedruckt 1562) zwischen drei verschiedenen Arten von Geheimnissen. In die erste Kategorie fielen unbekannte Phänomene, die noch der Entdeckung harrten. In die zweite ordnete Cardano all jene Dinge ein, von denen man im Prinzip zwar wisse, die in der Praxis aber lediglich einem kleinen Kreis bekannt und daher wertvoll seien. Als dritte Form des Geheimnisses bezeichnete er alltägliche und oft auch weithin bekannte Phänomene, deren Ursachen aber unbekannt waren.15 Es wird – wie die bisherigen Ausführungen verdeutlichen – dem Historiker kaum gelingen, den Geheimnisbegriff der Frühen Neuzeit exakt einzugrenzen. Dies gilt nicht zuletzt für die Praxis der Arkanwissenschaften. Der heutige Sprachgebrauch läßt vermuten, daß es sich bei Arkanwissen(-schaften) entweder um geheimes Wissen oder das Wissen um Geheimnisse handelt. Hingegen umfaßt der Begriff für die Frühe Neuzeit, wie bereits gesehen, auch das Wissen von den zahlreichen okkulten Vorgängen in der Natur. Diese Vorgänge waren keineswegs notwendigerweise geheim, teilweise waren solche Prozesse und ihre Auswirkungen sogar für jedermann sichtbar. Geheim oder, besser gesagt, verborgen waren in diesem Fall lediglich die Ursachen. Der weit gespannte Geheimnisbegriff der Frühen Neuzeit hat naturgemäß Implikationen für die vorliegende Darstellung. In der Tat wird sich diese Studie mit Geheimnissen aller Art beschäftigen, seien sie naturwissenschaftlicher, alchemischer, magischer, militärischer oder politischer Natur. Weitgehend ausgespart bleibt lediglich die Beschäftigung mit und der Austausch von theologischspirituellen Geheimnissen, also jenen Geheimnissen, die man annäherungsweise als arcana Dei (hier: des Judentums) bezeichnen könnte. Die vorliegende Studie beschäftigte sich ebenfalls nicht mit der Theologie des Geheimnisses im (rabbinischen) Judentum.16 Die Geschichte der Ausbreitung und Rezeption der 14
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Eamon, Secrets of Nature, S. 54. Zur Kontinuität dieses secreta-Begriffs in modifizierter Form im 17. und 18. Jahrhundert siehe die instruktive Studie von Keith Hutchison, What Happened to Occult Qualities in the Scientific Revolution?, in: Isis 73 (1982), S. 233–253. »Sunt ergo secretorum tria prima genera: incognitum, quod tandem in lucem veniet: Cognitum paucis, quod maxime in precio est: & multis, quod evidentem causam non habent […].« Siehe Girolamo Cardano, De secretis, in: Opera omnia, 10 Bde., Lyon 1663 [Faksimile Stuttgart–Bad Cannstatt 1966], Bd. 2, S. 537–551, hier S. 537–538. Zum Thema Geheimnis und Geheimhaltung im rabbinisch-talmudischen Schrifttum siehe v. a. Gerd A. Wewers, Geheimnis und Geheimhaltung im rabbinischen Judentum, Berlin etc. 1975. Unter stärkerer Berücksichtigung der Kabbala siehe auch Moshe Idel, Secrecy, Binah and Derishah, in: Hans G. Kippenberg/Guy Stroumsa (Hg.), Secrecy and Concealment. Studies in the History of Mediterranean and Near Eastern Religions, Leiden etc. 1995, S. 311–343; sowie Moshe Halbertal, Annäherungen
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Kabbala auf jüdischer wie christlicher Seite wird nur am Rande berührt. Diese Entscheidung mag auf den ersten Blick verwundern. Denn ohne jeden Zweifel ist die Verbreitung des Ideenguts der jüdischen Mystik seit dem Spätmittelalter der vielleicht bekannteste Beleg für das Interesse an, aber auch für die Wirkmächtigkeit von Geheimnissen – hier spiritueller Natur – im vormodernen Judentum. Doch solche Geheimnisse erweisen sich bei genauer Betrachtung in der Regel eher als ›Mysterien‹. Diese Unterscheidung ist nicht zuletzt auf begrifflicher Ebene notwendig und wichtig. Denn im Deutschen vereinigt das Wort »Geheimnis« im heutigen Sprachgebrauch zwei verschiedene Bedeutungen in einem Signifikanten. Hingegen unterscheidet beispielsweise das Englische zwischen den Begriffen secret und mystery.17 Als Mysterium läßt sich aus Sicht der modernen Sprachwissenschaft bezeichnen, was »man nicht weiß, weil es prinzipiell nicht wißbar ist«. Das Geheimnis (secret) kann demgegenüber definiert werden als das, »was man nicht weiß, weil ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen« es verborgen halten, obwohl es »prinzipiell wißbar« ist.18 Um Geheimnisse letzterer Art soll es in der vorliegenden Studie gehen, wobei das Spektrum – wie gesagt – von der Alchemie bis hin zum Militärwesen reicht. Der Geheimnisbegriff dieser Studie entspricht daher nur mit Einschränkungen dem frühneuzeitlichen Begriff des secretum in der aristotelischen Tradition. Das Kriterium für das, was im weiteren Verlauf der Studie als Geheimnis gilt, ist im wesentlichen ein modernes. Denn was die in der vorliegenden Darstellung thematisierten Geheimnisse gemeinsam haben, ist die erwähnte »prinzipielle Wißbarkeit«. Solche Geheimnisse unterscheiden sich von Mysterien nicht zuletzt in Hinblick auf ihre Distribution und Zirkulation.19 Zwar verbreiteten sich bei-
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Concealment and Revelation. Esotericism in Jewish Thought and its Philosopical Implications, Princeton 2007. Vgl. jetzt auch Elliot R. Wolfson, Murmuring Secrets. Eroticism and Esotericism in Medieval Kabbalah, in: Wouter J. Hanegraaff/Jefffey J. Kripal (Hg.), Hidden Intercourse. Eros and Sexuality in the History of Western Esotericism, Leiden etc. 2008, S. 65–109. Siehe zur Geheimhaltung in der jüdischen Mystik ebenfalls weiter unten das Kapitel »Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden«. Dies gilt mutatis mutandis auch für das Französische (secret/mystère), das Italienische (secreto/ mistero) und das Spanische (secreto/misterio). Vgl. Hans-Martin Gauger, Geheimnis und Neugier – in der Sprache, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Geheimnis und Neugier (= Schleier und Schwelle, Bd. 3), München 1999, S. 14–28, hier S. 22. Gauger, Geheimnis und Neugier, S. 23. Diese Beobachtung finden wir bereits bei Kant. Der Königsberger Philosoph vertrat die Ansicht, daß man in jeder Religion »auf ein Geheimnis [stoße], d. i. auf etwas Heiliges, was zwar von jedem Einzelnen gekannt, aber doch nicht öffentlich bekannt, d. i. allgemein mitgeteilt, werden kann.«. Von diesem »heilige[n] Geheimnis (mysterium) der Religion« unterscheidet Kant explizit die arcana und secreta (Begriffe, die er enger faßt als die vorliegende Studie): »Es gibt Geheimnisse, Verborgenheiten (arcana) der Natur, es kann Geheimnisse (Geheimnishaltung, secreta) der Politik geben, die nicht öffentlich bekannt werden sollen; aber beide können uns doch, so fern sie auf Das Zeitalter des Geheimnisses
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spielsweise die Geheimnisse der jüdischen Mystik in der Frühen Neuzeit bis in die Kapillaren des jüdischen und christlichen Geisteslebens, aber – und dies ist der entscheidende Unterschied zu den von mir thematisierten Geheimnissen – sie zirkulierten vergleichsweise selten im ökonomischen Kreislauf. Der Austausch und die Ent-»deckung« der Geheimnisse der jüdischen Mystik seit dem späteren Mittelalter ist ein faszinierendes Kapitel der europäischen Geistes-, aber eben kaum eines der Wirtschaftsgeschichte. Zwar gab es immer wieder Versuche, die Kabbala gewissermaßen zu einer ›praktischen Technologie‹ zu formen,20 wovon auch die Unterscheidung zwischen theoretischer Kabbala (Kabbala iyyunit) und praktischer, d. h. magischer Kabbala (Kabbala ma’asit) zeugt.21 Von den daraus resultierenden Berührungspunkten zur Alchemie wird später noch ausführlicher die Rede sein. Insgesamt aber kann mit Scholem die Weltauffassung des Kabbalisten als »in einem prägnanten Sinn symbolisch« bezeichnet werden.22 Es ist in diesem Kontext aufschlußreich, daß bereits im frühneuzeitlichen Judentum die Figur des Kabbalisten nicht selten explizit in der Sphäre der Engel verortet wurde, der Alchemist aber (der als vielleicht prominenteste Verkörperung der frühneuzeitlichen Ökonomie des Geheimen gelten kann) in der irdischen Welt.23 Auch auf christlicher Seite galt der Kabbalist als Mitglied eines kleinen Zirkels, der sich mit erhabenen Mysterien beschäftigte.24
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empirischen Ursachen beruhen, bekannt werden.«. Vgl. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 7, S. 645–879, hier S. 803–805 [Hervorhebungen im Original]. So wurde die kabbalistische Idee des tikkun mitunter als ein »mandate for an active attempt to reform and improve the world« aufgefaßt. Vgl. Allison P. Coudert, Kabbalistic Messianism versus Kabbalistic Enlightenment, in: Matt D. Goldish/Richard H. Popkin (Hg.), Jewish Messianism in the Early Modern World, Dordrecht etc. 2001, S. 107–124, hier S. 113–117 (Zitat S. 113). Scholem sieht in der praktischen Kabbala vor allem ein Korpus magischer Praktiken. ›Praktische Kabbala‹ bedeute demnach im Wortgebrauch der Kabbalisten »einfach Magie, die mit erlaubten Mitteln ausgeübt wird«. Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main 1980 [11957], S. 157. Siehe auch ders., Lemma Kabbalah, in: EJ, Bd. 11, S. 586–692, hier S. 588 sowie S. 665–668. Scholem, Die jüdische Mystik, S. 28. Zum Geheimnisbegriff der Kabbalisten vgl. ebd., S. 28–30. Moshe Idel, Differing Conceptions of Kabbalah in the Early 17th Century, in: Isadore Twersky/ Bernard Septimus (Hg.), Jewish Thought in the Seventeenth Century, Cambridge/Mass. 1987, S. 137–200, hier S. 169. Vgl. Tomaso Garzoni, Il teatro de’ vari e diversi cervelli mondani, Venedig: Zoppini 1598, darin das Kapitel (S. 57–58) über die Kabbalisten »che fanno professione d’una certa scienza eminente, à pochi nota, & che non solo appresso al volgo, incognita resta, ma anco in poco numero de’ saggi manifesta ritrova«. Dabei handele es sich meist um »cose alte, & oscure, velate« (S. 57). Siehe auch den unter Christen viel gelesenen Discorso (1638) des venezianischen Rabbiners Simone Luzzatto, der erklärte, daß die Rabbiner für die Einhaltung der Religionsbräuche zuständig seien, die Kabbalisten hingegen »per la misteriosa espositione della Scrittura«. Siehe Simone Luzzatto, Discorso circa il stato de gl’hebrei. Et in particolar dimoranti nell’inclita città di Venetia, Venedig: Calleoni 1638 [ND Bologna 1976], fol. 80v. Annäherungen
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Die Geheimnisse jedenfalls, mit denen sich die vorliegende Studie beschäftigt, waren – wie bereits angedeutet – im Unterschied zu den Mysterien nicht nur »prinzipiell wißbar«, sondern oftmals ›nützliches Wissen‹ (useful knowledge), also in konkreten technischen Situationen oder politisch-ökonomischen Konstellationen benötigtes Wissen.25 Angesichts des in der Frühen Neuzeit weitverbreiteten Glaubens an Geheimnisse als ›nützliches Wissen‹ kann es nicht verwundern, daß für Alchemisten und Wirtschafstheoretiker wie Johann Joachim Becher (1635–1682) Arkana sogar Grundlage einer »kameralistischen Technik [wurden], wie man ein Land richtig lenken müsse«.26 Auch die zahllosen in der Frühen Neuzeit kursierenden Geheimnisbücher waren ihrem Inhalt nach oftmals in beträchtlichem Maße Gebrauchsanweisungen, die beispielsweise technisches oder medizinisches know-how vermittelten.27 Eine Aufgabe der vorliegenden Studie wird es sein, den Nachweis zu führen, daß das Beschaffen, Bereitstellen, Anbieten und Vermitteln der hier erwähnten »praktischen Geheimnisse« – wie man die von mir untersuchten Geheimnisse in Abgrenzung von den Mysterien der Kabbala nennen könnte28 – eine mitnichten periphere Aktivität innerhalb des jüdischen Wirtschaftslebens der Vormoderne war. Namentlich für Italien läßt sich – um einen zeitgenössischen Ausdruck einzuführen – von jüdischen professori de’ secreti sprechen. Der prominenteste unter ihnen war vermutlich Abramo Colorni (ca. 1544–1599). Im fünften Kapitel der vorliegenden Arbeit gilt das Augenmerk deshalb der jüdischen Familie Colorni aus Mantua und namentlich ihrem bemerkenswertesten Vertreter, Abramo Colorni. Es gibt wenige Gebiete, auf denen Colorni nicht hervortrat – er war Hofingenieur, Mathematiker, Chiromant, Alchemist, Waffen25
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Zum in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte popularisierten Begriff des ›useful knowledge‹ vgl. v. a. Mokyr, Gifts of Athena, passim. Siehe außerdem das entsprechende Themenheft der Zeitschrift History of Science 45 (2007) sowie Peter Harrison, Curiosity, Forbidden Knowledge, and the Reformation of Natural Philosophy in Early Modern England, in: Isis 92 (2001), S. 265–290, hier v. a. S. 289. Meine Verwendung des Begriffs ›useful knowledge‹, der eigentlich vor allem mit Blick auf das 18. Jahrhundert geprägt worden ist, unterscheidet sich jedoch insofern von der ursprünglichen Bedeutung, als ich damit nicht nur vorwiegend offen zirkulierendes, sondern explizit auch geheimes Wissen bezeichne. Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979, S. 133; siehe dazu allgemein auch Pamela H. Smith, The Business of Alchemy. Science and Culture in the Holy Roman Empire, Princeton 1994. John Ferguson, Bibliographical Notes on Histories of Inventions and Books of Secrets, Staten Island 1998 [11896]; Eamon, Science and the Secrets of Nature, v. a. S. 4. Man könnte freilich auch die Terminologie von Aleida und Jan Assmann übernehmen. Sie unterscheiden zwischen »substantiellen Geheimnissen« (welche beispielsweise um abstrakte Phänomene wie Liebe, Tod, Seele, Ursprung und Zeit kreisen) und »strategischen Geheimnissen«. Vgl. Aleida Assmann/Jan Assmann, Die Erfindung des Geheimnisses durch die Neugier, in: Dies. (Hg.), Geheimnis und Neugier (= Schleier und Schwelle, Bd. 3), München 1999, S. 7–11, hier S. 7. Das Zeitalter des Geheimnisses
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und Pulverhersteller, Kryptologe, Magus und Händler von Luxusgütern. Seine Biographie ist bisher kaum erforscht worden. Es ist auch ein Anliegen meiner Studie, durch die Erschließung einer Reihe von bisher unbekannten Quellen einen Weg für weitere Forschungen zu dieser faszinierenden Figur zu ebnen. Dies allein ist allerdings nicht der Grund für den biographischen Exkurs zu Colorni. Colorni war nicht der einzige jüdische professore de’ secreti in dieser Epoche, aber es ist sinnvoll, sich zunächst durch eine Fokussierung auf seine Biographie dem noch weitgehend unerforschten Phänomen des Handels von Juden mit Geheimnissen anzunähern. Ich teile die Ansicht Anthony Graftons, daß »die öffentliche Anatomie eines einzelnen Magus – oder zumindest die Präparation des ihn betreffenden Materials – ein der zu untersuchenden Zeit [der Frühen Neuzeit, D. J.] angemessenes Verfahren« darstellt.29 Grafton ist nicht der einzige Historiker, der das Potential des biographischen Zugangs im Kontext der Geschichte der Wissenschaften (speziell der okkulten) hervorgehoben und in einer Reihe von Studien konkret demonstriert hat.30 Eine kritische und – wie ich ergänzen möchte – auch für die Methoden der Mikrogeschichte aufgeschlossene Biographik (also in jedem Fall nicht das Genre der ›Heroen-Biographie‹) bietet im Idealfall die Möglichkeit, »im individuellen Protagonisten die vielfältigen Dimensionen, die Wissenschaft haben kann« aufzuzeigen, darunter vor allem »sozioökonomische Strukturen, institutionelle Rahmenbedingungen [und] mentale Prägungen«.31 Colornis Biographie ist in diesem Sinne vorzüglich geeignet, um die Handlungsspielräume, die wirtschaftlichen und sozialen Chancen sowie den Alltag eines frühneuzeitlichen Juden, der in der Ökonomie des Geheimen operierte, beispielhaft zu veranschaulichen. Die Fülle der für ihn nachweisbaren, teilweise bereits genannten Aktivitäten läßt sich, wie schon Zeitgenossen hervorhoben, in der Tat treffend unter dem Überbegriff des professore de’ secreti fassen. Überdies war, wie herausgearbeitet soll, Colorni nicht das einzige Mitglied der Familie, das die Ökonomie des Geheimen als ein attraktives Geschäfts- und Wirkungsfeld für sich entdeckt hatte. Nicht zuletzt sein Sohn Simone (geb. ca. 1570), der den Beinamen Il Morino trug, trat als Lieferant von kostbaren und geheimnisvollen Objekten – von Einhörnern bis hin zu raren Kunstwerken – hervor und genoß am Hofe der Gonzaga in Mantua hohes Ansehen. Weitere Verwandte Abramo Colornis betätigten sich an Höfen als Lieferanten gesuchter Güter. Der Schwiegervater Abramos wiederum war kein Geringerer als Yechiel Nissim da Pisa (ca. 1493–1574), 29 30
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Anthony Grafton, Der Magus und seine Geschichte(n), in: Ders./Moshe Idel (Hg.), Der Magus. Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, Berlin 2001, S. 1–26, hier S. 11. Thomas L. Hankins, In Defence of Biography. The Use of Biography in the History of Science, in: History of Science 17 (1979), S. 1–16; Margit Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte – WissenschaftsGeschichte. Vom Nutzen der Biographie für Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 17–35. Szöllösi-Janze, Lebens-Geschichte, S. 30. Annäherungen
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einer der führenden Geldverleiher und Kabbalisten Italiens. Die Geschichte der Familie Colorni in der Frühen Neuzeit, die in der vorliegenden Studie ausgehend von der Biographie Abramo Colornis immer wieder ins Blickfeld rücken soll, bietet sich also in hohem Maße an, um auf prosopographischer Ebene Einblicke in mögliche Netzwerkstrukturen und generationenübergreifende Merkmale der Tätigkeit in der Ökonomie des Geheimen zu gewinnen. Freilich dürfen schillernde Biographien wie diejenige Abramo Colornis nicht den Blick dafür verstellen, daß der Handel mit Geheimnissen in der Frühen Neuzeit auch von einer Vielzahl von Juden praktiziert wurde, die eigentlich ›gewöhnliche‹ Berufe ausübten. Für sie war das Geschäft mit dem Geheimen oft ein Zubrot, wenngleich ein nicht zu vernachlässigendes. Denn die Ökonomie des Geheimen bot handfeste wirtschaftliche Chancen, namentlich die Aussicht auf lukrative Aufträge von sowie Kontakte zu der christlichen Mehrheitsgesellschaft und Obrigkeit. Geheimnisse vermochten zudem auch unabhängig von konkreten ökonomischen Zielen und Projekten bemerkenswerte, mitunter ungewöhnliche Zwischenräume zwischen Juden und Christen zu generieren. Diese beiden Aspekte – die ökonomische Relevanz und die Generierung von Zwischenräumen – deuten bereits daraufhin, daß die Erforschung des Handels mit Geheimnissen Einblicke in zentrale Bereiche der Lebenswelt frühneuzeitlicher Juden eröffnen kann. Die Ökonomie des Geheimen war ein Markt sui generis, auf dem sich zahlreiche Chancen – seien sie finanzieller oder sozialer Art – boten. Das Anbieten und Vermitteln von Geheimnissen jedweder Art, etwa technologischer Natur, stellte einen wichtigen Zweig des jüdischen Wirtschaftslebens dar, wobei die Geheimnisse auch auf politischer Ebene und im Kontakt zur Obrigkeit zu wertvollen und gefragten Aktivposten werden konnten. In bisherigen Studien aus dem Gebiet der jüdischen ebenso wie der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte begegnet hingegen oft die stillschweigende, gelegentlich auch explizite Prämisse, daß Formen offener Wissenszirkulation für eine gesellschaftlich unterdrückte Minderheit a priori besondere Anziehungskraft ausüben müßten. Eine Untersuchung der Bedeutung der Ökonomie des Geheimen im frühneuzeitlichen Judentum erhärtet eine solche Annahme jedoch nicht. Die Fragen, die all dies mit Blick auf die historiographische Debatte über die Stellung von Juden zur und in der ›Wissenschaftlichen Revolution‹ aufwirft, werden im Schlußkapitel ausführlich behandelt. Dort soll dann ebenfalls erörtert werden, welche historiographischen Implikationen die Ergebnisse dieser Studie für die allgemeine Wissenschaftsgeschichte und für eine Geschichte des Geheimnisses in der Vormoderne haben können. Fraglos galt vieles von dem, was bisher über die frühneuzeitliche Ökonomie des Geheimen, ihre Anziehungskraft und ihre Möglichkeiten gesagt wurde, prinzipiell ebenfalls für christliche Anbieter von Geheimnissen. Dieser Kontext soll in der vorliegenden Studie so gut wie möglich berücksichtigt werden. In einer 18
Das Zeitalter des Geheimnisses
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Gesellschaft, in der das Ideal vom Wissenserwerb als Jagd (venatio) weit verbreitet war, konnte sich für jedermann das Offerieren von secreta, insbesondere gegenüber Höfen, als ein potentiell lukrativer Markt erweisen. Professori de’ secreti und sonstige Geheimniskundige hat es auf christlicher Seite ebenfalls in großer Zahl gegeben.32 Es ist dementsprechend auch nicht die Absicht meiner Studie, eine quantitative Untersuchung dieses Phänomens im Judentum zu leisten. In absoluten Zahlen wäre die Gruppe der christlichen Protagonisten in der Ökonomie des Geheimen naturgemäß immer größer als die der entsprechenden Juden. Die eigentlichen Unterschiede zwischen dem jüdischen und christlichen Handel mit Geheimnissen betreffen – zusammenfassend gesprochen – drei spezifische Merkmale der jüdischen Stellung in der Ökonomie des Geheimen.33 Erstens ist dies die Existenz einer in der frühneuzeitlichen Gesellschaft weitverbreiteten Vorstellung von der genuinen und überdurchschnittlichen Expertise von Juden in der Ökonomie des Geheimen. Ein zweites Merkmal ist die bereits erwähnte Bedeutung der Sphäre des Geheimen bzw. von Formen des nicht-offenen Wissens für die Generierung von bemerkenswerten Kontakten und Zwischenräumen zwischen Juden und der Mehrheitsgesellschaft. Drittens soll verdeutlicht werden, daß die Aktivität von Juden in der Ökonomie des Geheimen oftmals auf ungewöhnlich enge Weise mit den ökonomischen und merkantilen Kernbereichen des (jüdischen) Wirtschaftslebens verbunden war. Als ich die vorliegende Untersuchung begann, waren Biographien wie diejenige Colornis für mich vor allem ein Ausgangspunkt, um Fragen nach der Stellung von Naturforschung und ihrer Akzeptanz im vormodernen Judentum zu beantworten. Im Laufe der Forschung aber stellte ich fest, daß diese Fragen – die schon seit längerem gestellt werden – in mancherlei Weise an den Quellen vorbeigehen. Mittlerweile glaube ich, daß Colornis Biographie in erster Linie eher als eines (wenngleich ein sehr aufschlußreiches) von mehreren Beispielen für ein Phänomen gesehen werden sollte, das in seiner Gesamtheit bisher nicht ausreichend beachtet worden ist. Dieses Phänomen ist die erwähnte, in dieser Epoche bemerkenswerte Beschäftigung von Juden mit Geheimnissen aller Art und die oftmals damit verbundene – aber nicht einzig darauf zurückzuführende – Vorstellung von einer genuinen Arkankompetenz der Juden. Um zu verstehen, weshalb Juden auf genuine Weise mit Geheimnissen in Verbindung gebracht wurden, warum sie selbst sich für geheimes Wissen interessierten und welche Rolle dies für ihre 32
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Eine Charakterisierung dieses Berufs bei Tomaso Garzoni, La piazza universale di tutte le professioni del mondo [erstmals 1585], hg. von Giovanni Battista Bronzini, 2 Bde., Florenz 1996, hier De’ professori de’ secreti (Discorso 22), Bd. 1, S. 241–243. Zum Phänomen im allgemeinen siehe v. a. Eamon, Science and the Secrets of Nature, Kap. 4; sowie jetzt auch – anhand einer Fallstudie – ders.. The Professor of Secrets. Mystery, Medicine, and Alchemy in Renaissance Italy, Washington D.C. 2010. Von allen dreien ist weiter unten noch ausführlicher die Rede. Annäherungen
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Kontakte zur christlichen Mehrheit spielte, begann sich im Laufe der Arbeit das Augenmerk zunehmend auf die allgemeine Bedeutung und Funktion von Geheimnissen in der Vormoderne zu richten. Allmählich verstärkte sich der Eindruck, daß der Topos und die Praxis der jüdischen Arkankompetenz weit mehr als nur eine Fußnote in der allgemeinen Geschichte des Wissens sind. Die vorliegende Studie unternimmt daher den Versuch, ausgehend von der jüdischen Geschichte eine Praxeologie – und vielleicht auch eine Theorie – des Geheimnisses in der Vormoderne zu entwerfen.
Das Geheimnis als Untersuchungsgegenstand. Methodische Vorüberlegungen Es ist an dieser Stelle geboten, noch einmal zu Fragen der Begrifflichkeit und der Methodik zurückzukehren. Ein zentrales Kriterium für die Definition des Geheimnisbegriffs, mit dem die vorliegende Studie operiert, ist bereits angesprochen worden: Es ist dies das Kriterium der »prinzipiellen Wißbarkeit«. Damit läßt sich eine wichtige Eigenschaft der thematisierten Geheimnisse beschreiben und sich auch erklären, weshalb sie zu zirkulierenden Waren und »useful knowledge« werden konnten. Jedoch genügt es nicht, nur die Geheimnisse selbst als Objekte in den Blick zu nehmen. Vielmehr sollte das Geheimnis nicht künstlich vom Modus des Handelns (in den verschiedenen Bedeutungen des Wortes), den es generiert, getrennt werden. Für den Historiker ist es in der Regel oft nicht notwendig, den eigentlichen Inhalt der ›verhandelten‹ Geheimnisse – soweit er sich rekonstruieren läßt oder überhaupt existierte – aufzudecken. Weniger das Geheimnis an sich (als Objekt) als vielmehr das spezifische Handeln und die soziale Interaktion, die durch das Geheimnis generiert oder erforderlich werden, bieten ein reiches Forschungsfeld für die Geschichtswissenschaft. Der Historiker tut auch in diesem Zusammenhang gut daran, auf methodischer Ebene über die Grenzen des eigenen Faches hinauszuschauen. Dies gilt um so mehr, als zur Thematik des Geheimen insgesamt aus historischer Sicht immer noch vergleichsweise wenige Studien vorliegen. Eine signifikante Ausnahme bildet lediglich das Phänomen der geheimen Gesellschaften, deren Mehrzahl sich aber erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts, also am Ausgang der Frühen Neuzeit, ausbildete.34 Eine Gesamtdarstellung zur Theorie und Praxis 34
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Siehe z. B. Richard van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart–Bad Cannstatt 1975; Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert, München 1989; Linda Simonis, Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002. Das Zeitalter des Geheimnisses
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von Geheimnis und Geheimhaltung in der Frühen Neuzeit bildet hingegen ein Desiderat der Forschung.35 Anregungen kann sich der Historiker aus benachbarten Disziplinen holen, in denen die Beschäftigung mit Phänomenen der Geheimhaltung weiter fortgeschritten ist und nicht selten auch mit mehr methodischer Systematik betrieben wird.36 Dies gilt beispielsweise für die Psychologie37, die Kommunikations- und Sprachwissenschaft38, die Ethnologie39 und die Religionswissenschaft40, vor allem aber für die Soziologie. Was letztere betrifft, ragt bis heute Georg Simmels maßgebliche Studie Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft (1906) aus der einschlägigen Forschungsli-
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Es liegen jedoch einige nützliche Sammelbände vor: Il segreto (= Micrologus. Natura, scienze e società medievali 14 [2006]); außerdem Gisela Engel/Brita Rang/Klaus Reichert/Heike Wunder (Hg.), Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne (= Zeitsprünge 6 [2002]), Frankfurt am Main 2002; sowie epochenübergreifend die von Aleida und Jan Assmann herausgegebene Trilogie Schleier und Schwelle, München 1997–1999. Epochenübergreifend angelegt ist auch Kocku von Stuckrads Einführung Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens, München 2004, die überwiegend um ideen- und religionsgeschichtliche Fragen kreist. Zur Bedeutung und Funktion von Geheimnissen in verschiedenen Religionen und Kulten des antiken Mittelmeerraums siehe Hans G. Kippenberg/Guy Stroumsa (Hg.), Secrecy and Concealment. Studies in the History of Mediterranean and Near Eastern Religions, Leiden etc. 1995. Zum Mittelalter aus einer vorwiegend geschlechtergeschichtlichen Perspektive: Karma Lochrie, Covert Operations. The Medieval Uses of Secrecy, Philadelphia 1999. Zur Frühen Neuzeit aus begriffsgeschichtlicher Perspektive: Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Siehe auch Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Partiell relevant ist der – allerdings eher um Fragen der Öffentlichkeit kreisende – Sammelband von Gert Melville/Peter von Moos (Hg.), Das Öffentliche und das Private in der Vormoderne, Köln etc. 1998. Zu Formen der Klandestinität im städtischen Raum (allerdings mit dem Schwerpunkt auf der Zeit nach 1800) siehe jetzt Sylvie Aprile/Emmanuelle Retaillaud-Bajac (Hg.), Clandestinités urbaines. Les citadins et les territoires du secret (XVIe–XXe), Rennes 2008. Zu Geheimnissen aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive einschlägig: Eamon, Science and the Secrets of Nature. Vgl. jetzt auch das Schwerpunktheft der Zeitschrift Early Science and Medicine 10, 3 (2005) zu »craft secrecy«; siehe ebenfalls Pamela O. Long, Openness, Secrecy, Authorship. Technical Arts and the Culture of Knowledge from Antiquity to the Renaissance, Baltimore etc. 2001. Literatur zu Geheimbünden: siehe weiter oben. Einen nützlichen Literaturbericht gibt Albert Spitznagel, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Geheimnis und Geheimhaltung. Erscheinungsformen – Funktionen – Konsequenzen, Göttingen etc. 1998, S. 19–51. Wilhelm Stok, Geheimnis, Lüge und Missverständnis. Eine beziehungswissenschaftliche Untersuchung, München etc. 1929; Albert Spitznagel (Hg.), Geheimnis und Geheimhaltung. Erscheinungsformen – Funktionen – Konsequenzen, Göttingen etc. 1998. Joachim Westerbarkey, Das Geheimnis. Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen 1991; Burkhard Sievers, Geheimnis und Geheimhaltung in sozialen Systemen, Opladen 1974. Beryl L. Bellman, The Language of Secrecy. Symbols and Metaphors in Poro Ritual, New Brunswick 1984; T.M. Luhrmann, The Magic of Secrecy, in: Ethos 17 (1989), S. 131–165. Kippenberg/Stroumsa, Secrecy and Concealment. Das Geheimnis als Untersuchungsgegenstand
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teratur hervor.41 Simmel geht von der allgemeinen Annahme aus, daß »durch das Geheimnis eine ungeheure Erweiterung des Lebens erreicht [wird], weil vielerlei Inhalte desselben bei völliger Publizität überhaupt nicht auftauchen können«.42 Am Beispiel zwischenmenschlicher Beziehungen führt der Soziologe aus, daß ein »absolutes Kennen« und ein »psychologisches Ausgeschöpfthaben« jedwede »Lebendigkeit der Beziehungen lähmt und ihre Fortsetzung als etwas eigentlich Zweckloses erscheinen läßt«.43 Geheimnisse sind daher unverzichtbar, denn das Geheimnis gebe der Persönlichkeit eine Ausnahmestellung, die »prinzipiell unabhängig von dem Inhalt ist, den es hütet«.44 Simmel kommt zu dem emphatischen Ergebnis, daß »das Geheimnis in diesem Sinne, das durch negative oder positive Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten, […] eine der größten Errungenschaften der Menschheit« ist.45 Simmels Überlegungen wirken bis heute in der Forschung nach.46 Jedoch ist mittlerweile zutreffend kritisiert worden, daß er in seinen Ausführungen nicht immer begrifflich scharf zwischen Privatheit und Geheimnis unterscheidet. Vieles von dem, was Simmel als das ›Recht auf Privatheit‹ bezeichnet, trifft weniger auf vom Geheimnis geprägte Konstellationen zu als vielmehr auf den Bereich der Privatsphäre sowie den »Zustand der Privatheit«.47 Simmel hat also mitunter eigentlich Fragen der Diskretion und der Privatsphäre im Blick, zumal dort, wo seine Studie um die Soziologie der Lüge, der Ehe und des Briefes kreist. Eine solche Kritik an Simmel wirft die Frage auf, wie im Umkehrschluß ein Geheimnis-Begriff definiert sein müßte, auf den sich aus disziplinenübergreifender Perspektive eine möglichst weitausgreifende Theorie des Geheimnisses gründen ließe. Auf diese Frage sind mittlerweile eine Reihe von Antworten gegeben worden, bis hin zu derjenigen, daß es überhaupt keine umfassende ›Definition‹ des Geheimnisses geben könne.48 Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht liegt nach Meinung Westerbarkeys ein Geheimnis dann vor, wenn wenigstens ein Inter-
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Georg Simmel, Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft [1906], in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908] (Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt am Main 1992, S. 383–455. Ebd., S. 406. Ebd., S. 405. Ebd., S. 408. Ebd., S. 406. Lawrence E. Hazelrigg, A Reexamination of Simmel’s ›The Secret and the Secret Society‹. Nine Propositions, in: Social Forces 47 (1969), S. 323–330; André Petitat (Hg.), Secret et lien social, Paris 2000. Claudia Schirrmeister, Geheimnisse. Über die Ambivalenz von Wissen und Nicht-Wissen, Wiesbaden 2004, S. 35. Manfred Voigts, Das geheimnisvolle Verschwinden des Geheimnisses. Ein Versuch, Wien 1995, S. 57. Das Zeitalter des Geheimnisses
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essent gezielt von der Kenntnisnahme von Informationen ausgeschlossen wird.49 Diese Definition scheint relativ eng. Es ist zudem fraglich, inwieweit sich mit ihr historische Phänomene wie beispielsweise »offene Geheimnisse« erklären lassen – also Geheimnisse, die nahezu jedermann in der Gesellschaft bekannt sind. Sehr weit gefaßt (im Zweifelsfall aber praktikabler) ist dagegen Luhmanns Annahme, daß »jede Vorsicht mit Kommunikation bereits Geheimhaltung« darstelle.50 Um Differenzierung bemüht sich Sievers, der aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht zwischen »einfachen« und »reflexiven Geheimnissen« unterscheidet. »Einfach« sind Geheimnisse demnach, wenn der Geheimhaltende die Existenz eines Geheimnisses mitteilt, seinen Inhalt aber nicht preisgibt. Dies gilt beispielsweise für kryptographische Verfahren, bei denen das Vorliegen einer Geheimschrift für jedermann sichtbar, die Entschlüsselung der Botschaft aber dem Nicht-Eingeweihten kaum möglich ist. In Abgrenzung davon sind jene Geheimnisse »reflexiv«, bei denen auch das Faktum der Geheimhaltung selbst geheim gehalten wird. Dies trifft beispielsweise – um beim Beispiel der Kryptographie zu bleiben – auf jene schriftlich niedergelegten Inhalte zu, die nach außen hin als ›normale‹, einen Sinn ergebende Botschaft getarnt sind und vermeintlich von jedermann gelesen werden können (Steganographie).51 Es dürfte indes aus der Sicht des Historikers nicht genügen, die Definition des Begriffs Geheimnis vornehmlich an die Frage zu knüpfen, wer auf welche Weise vom geheimgehaltenen Wissen ausgeschlossen bleibt. Ebenfalls verkennt man die Komplexität der Ökonomie des Geheimen, wenn Geheimnisse in erster Linie als Strategien der Täuschung oder der Verweigerung von Information gesehen werden. Die Philosophin Sissela Bok hat zutreffend hervorgehoben, daß Geheimnisse nicht per se ›schlecht‹ sind, auch wenn sie heute oft mit negativen Assoziationen verbunden werden.52 Im Prinzip könne alles zu einem Geheimnis werden, und der Inhalt sei schwerlich als Kriterium für eine Definition heranzuziehen. Bok definiert das Geheimnis daher absichtlich neutral als »intentional concealment«.53 Das Kriterium des »intentional concealment« erweist sich – in Kombination mit der weiter oben erörterten Prämisse der »prinzipiellen Wißbarkeit« – für die Analyse der in der vorliegenden Studie behandelten Geheimnisse als praktikabel. Auf diese Weise läßt sich die Phänomenologie der thematisierten Geheimnisse relativ präzise beschreiben. Doch darf darüber auch die soziale und performative Dimension des Geheimnisses – wie bereits angedeutet wurde – keineswegs 49 50 51 52 53
Westerbarkey, Das Geheimnis, S. 226. Luhmann, Geheimnis, S. 101. Sievers, Geheimnis und Geheimhaltung, S. 30–34. Vgl. auch Spitznagel, Einleitung, S. 34. Sissela Bok, Secrets. On the Ethics of Concealment and Revelation, New York 21989, S. 9; siehe ähnlich aus ethnologischer Sicht: Bellman, The Language of Secrecy, v. a. S. 4. Bok, Secrets, S. 5. Das Geheimnis als Untersuchungsgegenstand
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vernachlässigt werden. Eine Analyse des Geheimnisses als Objekt kann nur der Grundstein sein für eine notwendige Praxeologie des Geheimnisses. Es ist in diesem Zusammenhang Manfred Voigts beizupflichten, der die vornehmliche Aufgabe des Kulturwissenschaftlers darin sieht, »die Grundstruktur aufzuzeigen, innerhalb derer das Geheimnis situiert ist«.54 Das Geheimnis wird in der vorliegenden Studie daher nicht als ein statisches Objekt oder gar als ausschließlich in negativer Absicht verborgener Inhalt aufgefaßt, sondern vielmehr als ein spezifischer Modus kommunikativen Wissensaustausches und sozialen Handelns begriffen. Geheimhaltung erscheint dementsprechend nicht als defiziente Variante oder gar Schwundstufe offener Wissensformen, sondern eröffnet für die Beteiligten genuine Handlungsspielräume und Kontaktzonen. Das Geheimnis generiert gewissermaßen ein eigenes soziales Feld und – konkret in der Frühen Neuzeit – einen dynamischen Markt. Die Studie versucht also, Ergebnisse der jüngeren sozialwissenschaftlichen und ethnologischen Forschung aufzugreifen, in der Geheimnisse inzwischen zunehmend als »eigenständiger Kommunikationsmodus« und als spezifische »Form des kommunikativen Handels« gelten.55 Freilich hat bereits Simmel darauf hingewiesen, daß die Verwendung von Geheimnissen in zwischenmenschlichen Beziehungen als eine »soziologische Technik« und Form des Handelns bezeichnet werden kann, »ohne die angesichts unsres sozialen Umgebenseins gewisse Zwecke überhaupt nicht erreichbar sind«.56 Es kann daraus abgeleitet werden, daß es die Aufgabe des Historikers ist, nicht zuletzt nach der sozialen Funktion des Geheimnisses in einer gegebenen geschichtlichen Situation zu fragen. Reinhart Koselleck hat in seinen Untersuchungen zur Freimaurerei im 18. Jahrhundert für ein solches Vorgehen plädiert und darauf hingewiesen, daß »die Funktionen des Maurergeheimnisses im Rahmen des absolutistischen Staates weit wichtiger als ihr wirklicher oder vermeintlicher Inhalt [sind], dem nachzuforschen meist vergeblich sein wird«.57 Auch für den aufklärerisch gesinnten Geheimbund der Illuminaten im 18. Jahrhundert ist festgestellt worden, daß »das ›Geheimnis‹ keinen Wert in sich [hatte], sondern von funktionaler Bedeutung« war.58 Was hier für die Charakterisierung 54 55
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Voigts, Verschwinden des Geheimnisses, S. 57. Bellman, The Language of Secrecy, S. 139, S. 144; Schirrmeister, Geheimnisse, S. 31–33; zum »Geheimnis als Kommunikationsmodus« bereits Sievers, Geheimnis und Geheimhaltung, v. a. S. 24. Simmel, Das Geheimnis, S. 407. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt am Main 1973 [11959], S. 57. Ähnliche Prämissen leiten jetzt auch eine aufschlußreiche Studie zur politischen Kommunikation im Venedig des 16. und 17. Jahrhunderts: Filippo de Vivo, Information and Communication in Venice. Rethinking Early Modern Politics, Oxford 2007, v. a. S. 45. Van Dülmen, Geheimbund, S. 116. Das Zeitalter des Geheimnisses
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von Geheimbünden gesagt wurde, läßt sich auf die Ökonomie des Geheimen als Ganzes übertragen. Das Beispiel der Alchemie kann dies veranschaulichen. Denn auch in der Alchemie erfüllte das Geheimnis verschiedene Funktionen. Für den Adepten gab es verschiedene Gründe, das eigene Wissen geheimzuhalten. Bei weitem war es nicht nur die Angst vor obrigkeitlichen Repressionen, die Alchemisten zur Geheimhaltung ihres Wissens veranlaßte. Vielmehr waren auch sozialethische Motive verbreitet, also ein Verantwortungsbewußtsein für Wissen, das nach eigener Ansicht nicht selten als donum Dei empfangen worden war.59 Die Rede vom Geheimnis war zudem in der Frühen Neuzeit oft ein Modus der Inszenierung. Sie wies große Schnittmengen mit dem auf, was damals wie heute als »Projektemacherei« bezeichnet wird.60 Damit ist auch die Brücke geschlagen zu einigen Fragen, die im Laufe dieser Studie immer wieder begegnen werden. Welche Funktion hatten Geheimnisse und Geheimhaltung in der Begegnung zwischen Juden und Christen in der Frühen Neuzeit? Welche besonderen Handlungsspielräume bot die Ökonomie des Geheimen für Juden im Unterschied zu offenen Formen des Wissensaustausches? Und was resultiert aus einer solchen Untersuchung am Beispiel der jüdischen Minderheit für die Einschätzung jenes historischen Prozesses, der in der Wissenschaftsgeschichte oftmals als ›Wissenschaftliche Revolution‹ bezeichnet wird und mitunter als ein Siegeszug des ›offenen Wissens‹ dargestellt worden ist?
Zur Geschichte des Geheimnisses im Mittelalter und im Übergang zur Frühen Neuzeit Ob es tatsächlich einen triumphalen Durchbruch der Ideologie des ›offenen Wissens‹61 in der Frühen Neuzeit gegeben hat, ist sehr fraglich. Die Popularität 59
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Zu diesem Punkt siehe Gerhard Eis, Von der Rede und dem Schweigen der Alchemisten, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 25 (1951), S. 415–435, hier v. a. S. 427–428.; außerdem auch: Michael Horchler, Die Alchemie in der deutschen Literatur des Mittelalters. Ein Forschungsbericht über die deutsche alchemistische Fachliteratur des ausgehenden Mittelalters, Baden-Baden 2005, S. 49–54. Im Spanien des 17. Jahrhunderts bildeten solche arbitristas (Projektemacher) eine Art Berufsgruppe, die die Regierung ›mit Rat bombardierte‹, so John H. Elliott, Imperial Spain 1469–1716, New York 1970, S. 300. Zu Projektemachern siehe jetzt auch Jan Lazardzig, »Masque der Possibilität«. Experiment und Spektakel barocker Projektemacherei, in: Helmar Schramm/Ludgar Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.), Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin etc. 2006, S. 176–212. Jüngere Literatur zum »rise of public science« ist etwa: Larry Stewart, The Rise of Public Science. Rhetoric, Technology, and Natural Philosophy in Newtonian Britain (1660–1750), Cambridge 1992. Die These von der Ausbreitung des offenen Wissens auch bei Pamela O. Long, The Openness Zur Geschichte des Geheimnisses im Mittelalter
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von Geheimnissen in der Frühen Neuzeit konnte auf eine lange Tradition zurückblicken und ließ sich nicht schlagartig aufheben. Ein kurzer Abriß zur Geschichte sowie zur gesamtgesellschaftlichen Bedeutung jenes Phänomens, das eingangs als frühneuzeitliche Ökonomie des Geheimen bezeichnet worden ist, dürfte dies veranschaulichen. Bereits seit dem 12. Jahrhundert hatte sich in Europa nicht zuletzt unter dem Einfluß der Rezeption der Geheimniswissenschaften des Islam – zu der Juden in der Praxis einen bedeutenden Beitrag leisteten – ein reges Interesse an Geheimnissen entwickelt.62 Die Vorstellung von der Notwendigkeit einer Jagd (venatio) nach Geheimnissen aller Art wurde in der Frühen Neuzeit, wie erwähnt, zu einem der zentralen Merkmale der Wissensproduktion und erfaßte alle Schichten der Gesellschaft. Wissensgebiete, wie beispielsweise die Alchemie und der Hermetismus, die von der Aura des Geheimnisvollen durchdrungen waren, erfreuten sich großer Beliebtheit und Anhängerschaft.63 In ganz Europa florierte die Ökonomie des Geheimen – und dies keineswegs nur im Geheimen. Der Markt der Geheimnisse war – im Unterschied zu Universitäten und den sich formierenden Akademien – Anbietern fast aller Art zugänglich. Umgekehrt hing auch der Erwerb von Geheimnissen nicht notwendigerweise vom sozialen Status ab. Vielmehr bildeten Geld oder vom Verkäufer im Gegenzug begehrte Informationen die vorherrschenden Währungen in der Ökonomie des Geheimen.64 Namentlich Venedig – über Jahrhunderte das Tor zum Orient – war nicht nur ein ›ständiger Messeplatz‹65 für Güter ebenso wie für Informationen, sondern
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of Knowledge. An Ideal and its Context in 16th-Century Writings on Mining and Metallurgy, in: Technology and Culture 32 (1991), S. 318–355; vgl. auch Eamon, Science and the Secrets of Nature, der am Schluß seiner Studie zu der Feststellung gelangt, daß »the ideology crafted in the Royal Society of science as public knowledge has become an integral part of the scientific ethos« (S. 356). Siehe auch ders., From the Secrets of Nature to Public Knowledge, in: David C. Lindberg/Robert S. Westman (Hg.), Reappraisals of the Scientific Revolution, Cambridge 1990, S. 332–365. Eamon, Science and the Secrets of Nature, v. a. S. 54. Zu den Geheimwissenschaften im Islam und ihrer europäischen Rezeption ebd., S. 39–45. Florian Ebeling, ›Geheimnis‹ und ›Geheimhaltung‹ in den Hermetica der Frühen Neuzeit, in: AnneCharlott Trepp/Hartmut Lehmann (Hg.), Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2001, S. 63–80; siehe auch Monika Neugebauer-Wölk, Esoterik in der Frühen Neuzeit. Zum Paradigma der Religionsgeschichte zwischen Mittelalter und Moderne, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 321–364. Zum Tausch von Geheimnissen gegen Geheimnisse siehe z. B. Gentilcore, Medical Charlatanism, S. 363; vgl. ebenfalls Tara Nummedal, Alchemy and Authority in the Holy Roman Empire, Chicago etc. 2008, S. 327; zu weiteren nicht-monetären Tauschobjekten siehe auch Newman, Starkey and the Selling of Secrets, S. 202. So – in Anschluß an den italienischen Wirtschaftshistoriker Gino Luzzatto – jüngst David Gentilcore, Medical Charlatanism, S. 274. Die »abundantia omnium rerum« in der Lagunenstadt wird nicht zuletzt von zeitgenössischen Reisenden erwähnt. Vgl. zum Beispiel Felix Fabri, Evagatorium Das Zeitalter des Geheimnisses
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zudem ein Zentrum der Produktion und Distribution von Geheimnissen aller Art.66 Dies ist gemeinsam mit der vorzüglichen Quellen- und Forschungslage der Grund, weshalb der Serenissima in der vorliegenden Studie immer wieder eine hervorgehobene Rolle zukommt. In Italien bildete sich in der Frühen Neuzeit auch der Beruf des sogenannten professore de’ secreti heraus, der par excellence durch den neapolitanischen Adligen, Naturkundigen und Magus Giovan Battista Della Porta (1535–1615) verkörpert wurde.67 Della Porta selbst begründete in seiner Heimatstadt Neapel eine Accademia de’ Secreti. Obgleich diese Einrichtung eher einem informellen Salon als einer Akademie im heutigen Sinne geglichen haben dürfte, zog der Kreis um Della Porta Geheimniskundige aus ganz Europa an, was einmal mehr die gesamteuropäische Dimension der beschriebenen Faszination für Geheimnisse verdeutlicht.68 Ebenfalls ein fast ganz Europa umfassendes Phänomen war die Konjunktur der Secreta-Literatur.69 Zwar läßt sich bereits seit dem 12. Jahrhundert die Formierung einer spezifisch von Geheimnissen handelnden und/ oder zu deren Enthüllung anleitenden Literatur nachweisen. Doch fanden Werke wie das pseudo-aristotelische Secretum secretorum im Spätmittelalter nur mit Einschränkung Eingang in den normativen Kanon des Wissens, wie er sich namentlich an und durch die Universitäten ausgeformt hatte. Das heterogene Wissen über Geheimnisse bildete für die Scholastiker oft jenen, freilich sehr umfangreichen Wissensrest, der sich nicht mit den Kategorien und dem scientia-Begriff der aristotelischen Naturphilosophie fassen ließ. Die scholastische Wissensauffassung wies den Geheimnissen eine Stellung an den Rändern der scientia zu, welch letztere von Aristoteles auch als ein Wissen um Ursachen (demonstratio propter quid) definiert worden war. Phänomene und Objekte, die sich nicht demonstrieren oder deren Ursachen sich nicht mit den Mitteln der Logik erklären ließen, mußten somit in
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in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem, hg. von Konrad Dietrich Hassler, 3 Bde., Stuttgart 1843, hier Bd. 3, S. 431. Zu Venedig als zentralem Marktplatz für Informationen aller Art siehe Peter Burke, Early Modern Venice as a Center of Information and Communication, in: John Martin/Dennis Romano (Hg.), Venice Reconsidered. The History and Civilization of an Italian City-State (1297–1797), Baltimore etc. 2000, S. 389–419, sowie jetzt auch De Vivo, Information and Communication, passim. Federico Barbierato, Nella stanza dei circoli. Clavicula Salomonis e libri di magia a Venezia nei secoli XVII e XVIII, Mailand 2002. Auch Rom ist mitunter als eine ›Stadt der Geheimnisse‹ bezeichnet worden. Siehe Fabio Troncarelli (Hg.), La città dei segreti. Magia, astrologia e cultura esoterica a Roma (XV–XVIII), Mailand 1985. Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 135, S. 194. Mario Gliozzi, Sulla natura dell’ »Accademia de’ Secreti« di Giovan Battista Porta, in: Archives internationales d’histoire des sciences 3 (1950), S. 536–541. Eine einschlägige Übersicht zu diesem Schrifttum bieten Fergusons Bibliographical Notes. Zur Geschichte des Geheimnisses im Mittelalter
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der Regel aus dem Blickfeld der scientia geraten.70 Diese tradierte und vielerorts normative Einstellung des Universitätsbetriebs gegenüber Geheimnissen verlor im 16. Jahrhundert zunehmend ihre Deutungshoheit, wobei die Ausbreitung des Buchdrucks einen wesentlichen Beitrag leistete.71 Zahllose Bücher, die damit warben, noch die abgelegensten Geheimnisse zu enthüllen, kamen seit dem 16. Jahrhundert auf den Markt und wurden ebenfalls in gelehrten und akademischen Kreisen rezipiert, namentlich in der Naturforschung und -philosophie. Nach Ansicht des Historikers William Eamon, der auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet hat, veränderte sich damit jedoch auch der Anspruch der Geheimnisbücher. Habe die mittelalterliche Secreta-Literatur noch einen esoterischen Charakter aufgewiesen, so lasse sich bei den Geheimnisbüchern des 16. Jahrhunderts eine explizite Tendenz zur Offenheit nachweisen. Als Geburtsstunde dieses Phänomens gilt Eamon der Druck der Secreti del reverendo donno Alessio piemontese (1555), deren Verfasser Girolamo Ruscelli (1500–ca. 1566) gewesen sein dürfte. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker sieht das Verdienst dieser Schrift weniger in der Kompilation zahlloser, der Sphäre des Geheimen entnommener Experimente und Rezepte als vielmehr in der dem Werk angeblich zugrundeliegenden Prämisse, daß es »ethically superior« sei, Geheimnisse zu veröffentlichen statt sie vor der angeblich unwürdigen Masse zu verbergen. Auch bei den Epigonen Ruscellis und Della Portas sei die Ansicht vorherrschend gewesen, der Intellektuelle habe die moralische Pflicht, seine Geheimnisse der Öffentlichkeit zu übergeben.72 Eamon sieht in den professori de’ secreti mithin eine Gruppe, für die in der Regel die Suche nach den Geheimnissen der Natur ein ›wissenschaftlicher und moralischer Kreuzzug‹ (»a scientific and moral crusade«) war.73 Einen generellen Paradigmenwechsel von der Praxis des Geheimen hin zum Ideal der Offenheit – eine »conversion to the ethics of openness«74 – bereits ins 16. Jahrhundert zu datieren, ist m. E. jedoch etwas voreilig. Wie noch zu zeigen sein wird, hatten beispielsweise viele jüdische Geheimniskundige – noch bis ins 18. Jahrhundert – wenig Sympathien oder geringe ökonomische Anreize für eine solche ›Konversion‹. Gegen die These Eamons ist aber auch allgemein einzuwenden, daß allein mit der Verschriftlichung und Veröffentlichung Geheim70
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Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 54; ders., From the Secrets of Nature to Public Knowledge, S. 338, sowie Hutchison, Occult Qualities. Zum normativen Kanon des Wissens an Universitäten dieser Zeit siehe auch Nancy G. Siraisi, Medieval and Early Renaissance Medicine. An Introduction to Knowledge and Practice, Chicago etc. 1990, S. 70–77. Das aristotelische Konzept von den »okkulten Eigenschaften« zahlreicher Objekte und Phänomene der Natur erhielt sich dabei auf modifizierte Weise, siehe Hutchison, Occult Qualities. William Eamon, The ›Secrets of Nature‹ and the Moral Economy of Early Modern Science, in: Il segreto (= Micrologus. Natura, scienze e società medievali 14 [2006]), S. 215–235, hier v. a. S. 225. Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 166. Ebd., S. 253.
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nisse noch keineswegs enthüllt waren.75 Überhaupt ist die Verschriftlichung von Geheimnissen, zumal in dieser Zeit, ein relativ problematisches Kriterium für Aussagen über den ›offenen‹ Charakter von Wissen. So hat Carlo Cipolla aus einer technikgeschichtlichen Perspektive davor gewarnt, die Aussagekraft und -bereitschaft schriftlicher Quellen, die um Innovationen und technisches knowhow kreisen, zu überschätzen.76 Als pointiertes Beispiel führt er die schriftliche und bildliche Darstellung einer überaus kunstvollen, wasserbetriebenen Seidenmühle in der Abhandlung Nuovo teatro di machine et edificii (Padua 1607) des italienischen Ingenieurs Vittorio Zonca an. Im Piemont, wo solche Mühlen in Betrieb waren, galt diese Technologie als Staatsgeheimnis; der Verrat konnte mit dem Tode bestraft werden. Dennoch befürchteten die Piemonteser nichts von der Veröffentlichung. Denn Zoncas detaillierte Darstellung war ohne die nötige Expertise im praktischen Umgang mit der Maschine kaum nachzubauen. Dies mußte man auch in England feststellen, wo die Erfindung begehrt war. Obwohl Zoncas Band schon in den 1620er Jahren in englischen Bibliotheken einsehbar war, gelang der Nachbau erst, nachdem ein Engländer zwei Jahre lang im Piemont vor Ort Industriespionage betrieben hatte.77 In schriftlicher oder sogar gedruckter Form festgehaltenes Wissen konnte in dieser Epoche oft erst im Zusammenspiel mit individuellem know-how nutzbar gemacht werden. Das bedruckte oder beschriebene Blatt Papier ist für Cipolla daher »nothing more than an abstract of somebody’s knowledge; it is the stepchild not the parent of activity.«78 Diese von Cipolla formulierte These kann auf die Secreta-Literatur übertragen werden. Deren Veröffentlichtung ist allein noch kein Indiz für ein Ethos der Offenheit. Della Porta selbst, dessen 1558 erstmals gedruckte Magia naturalis im 16. Jahrhundert zu einem Klassiker der Secreta-Literatur avancierte und bis ins 17. Jahrhundert mehr als fünfzig Auflagen in allen großen europäischen Sprachen erlebte, hatte auch nach der Veröffentlichung seines Bestsellers weiterhin genug Geheimnisse ›auf Lager‹, um – wie er selbst bekannte – für deren Preisgabe und weitere Erforschung von seinen fürstlichen Mäzenen im Laufe seines Lebens die stolze Summe von 100.000 Dukaten zu erhalten.79 Mit der Veröffentlichung als solcher gab ein frühneuzeitlicher professore de’ secreti also noch keineswegs 75
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Eine, wenngleich nicht die einzige Möglichkeit ist das sprichwörtliche ›Schreiben zwischen den Zeilen‹. Einschlägig dazu am Beispiel der Philosophie: Leo Strauss, Persecution and the Art of Writing, Chicago 1988 [11952], v. a. S. 24. Carlo M. Cipolla, The Diffusion of Innovations in Early Modern Europe, in: Comparative Studies in Society and History 14 (1972), S. 46–52. Ebd., S. 47–48. Vgl. auch Reith, Know-how, S. 351–352. Cipolla, Diffusion, S. 48. Dies war das Zehnfache des Jahresgehalts des spanischen Vizekönigs in Neapel. Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 222. Zur Geschichte des Geheimnisses im Mittelalter
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seine Geheimnisse aus der Hand – und zudem sollte nicht vergessen werden, daß Della Porta seine Werke überdies auf lateinisch schrieb. Auch Cardano veröffentlichte zwar zahlreiche seiner Geheimnisse, blieb aber genauso »ein veritabler Geheimniskrämer«.80 Die gedruckten Geheimnisbücher glichen ihrer Funktion also nicht selten den zur selben Zeit auf dem Buchmarkt kursierenden sog. usus et fabrica-Büchern. Bei letzteren handelte es sich um gedruckte Gebrauchsanweisungen für die Herstellung von astronomischen und mathematischen Instrumenten, wobei die Bücher nicht selten Papierscheiben und -formen zum Ausschneiden enthielten. Wie jüngst zutreffend bemerkt worden ist, war durch die Verbreitung solcher Bücher das entsprechende technische Wissen nur vordergründig in die Hände der Öffentlichkeit gelangt.81 Denn die auf der Basis solcher Texte hergestellten Instrumente reichten meist nicht für den gewünschten Zweck aus. Dagegen führten sie bei vielen Käufern zu einer ersten Beschäftigung mit dem Markt für solche Instrumente und somit mittelfristig zu dem Wunsch, ein höherwertiges Produkt zu erwerben. Die usus et fabrica-Literatur entzog den niedergelassenen Herstellern von Instrumenten also keineswegs die Kunden. Vielmehr generierte sie eine bisher ungekannte Nachfrage nach fachmännisch hergestellten Instrumenten. Es kann auch daher nicht erstaunen, daß die usus et fabrica-Bücher teilweise bereits Hinweise auf örtliche Hersteller höherwertiger mathematischer und astronomischer Instrumente enthielten. Vor dem hier skizzierten Hintergrund sollte meines Erachtens auch die SecretaLiteratur des 16. Jahrhunderts gesehen werden. Nicht nur, daß die solchermaßen veröffentlichten Geheimnisse in den Drucken oft nur vage beschrieben wurden und somit mehr andeuteten als preisgaben. Nur wenige Leser, wie etwa der finanziell gut gestellte Naturforscher Ulisse Aldrovandi (1522–1605) in Bologna, hatten genug Muße und Mittel, um jede Versuchsanordnung, jedes Rezept, jedes Experiment aus der Secreta-Literatur selbst auszuprobieren und zu prüfen.82 Zudem deutet manches darauf hin, daß auch für die Zeitgenossen die zuverlässigste Form der Enthüllung von Geheimnissen immer noch der professionellen Anleitung und eines performativen Rahmens bedurfte. Die eminente Bedeutung mündlicher Überlieferung für die Ökonomie des Geheimen darf keinesfalls unterschätzt werden (sie ist freilich für den Historiker sehr viel schwerer greifbar
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Manuel Bachmann/Thomas Hofmeier, Geheimnisse der Alchemie, Basel 1999, S. 192. Mario Biagioli, From Prints to Patents. Living on Instruments in Early Modern Europe, in: History of Science 44 (2006), S. 139–186, hier S. 164. Zu Aldrovandis Arbeit mit Secreta-Literatur vgl. Paula Findlen, Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientifc Culture in Early Modern Italy, Berkeley etc. 1994, S. 212. Das Zeitalter des Geheimnisses
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als die vielen gedruckten Geheimnisbücher der Zeit).83 In diesem Kontext darf ebenfalls die Rolle von theatralischen Darstellungen und – allgemein gesprochen – von Theatralisierung für die große Zahl der umherreisenden Scharlatane nicht übersehen werden.84 Auch vom Adligen Della Porta – seines Zeichens ein angesehener Theaterautor – ist bekannt, daß er in seinem Domizil elitäre Vorführungen veranstaltete.85 Sein ebenfalls in ganz Italien bekannter Zeitgenosse, der universal gebildete professore de’ secreti Leonardo Fioravanti (1518–1588), wiederum versäumte es in seinen Geheimnis-Büchern nicht, in eigener Sache zu werben und darauf hinzuweisen, daß man die beschriebenen Produkte und Rezepte in seinem Haus bei der Kirche San Luca in Venedig erwerben könne.86 Dieses Muster findet sich gleichfalls in den in der Regel etwas schmaleren Geheimnisbüchlein, die von – übrigens größtenteils obrigkeitlich lizenzierten – Scharlatanen verfaßt wurden und die mitunter mehr mit Werbung in eigener Sache als mit der Preisgabe von Geheimnissen zu tun hatten.87 Eine (gesteigerte) öffentliche Zirkulation von Geheimnissen – etwa in Form von Veröffentlichungen – führte keineswegs notwendigerweise zu einer Destabilisierung der Ökonomie des Geheimen, sondern war vielmehr eine der Formen, in denen diese Ökonomie sich in der Praxis ausprägte. Solange das Geheimnis – allgemein gesprochen – seinen Status als relevante epistemische und kosmologische Kategorie behielt, blieb dieses System stabil. In der Tat wirft die noch im 18. und teilweise sogar im 19. Jahrhundert fortwährende Ubiquität von Scharlatanen und herumreisenden professori de’ secreti auf den Plätzen und Straßen Italiens88 (und darüber hinaus) die Frage auf, ob die für jedermann erschwingliche gedruckte Secreta-Literatur allein wirklich das Bedürfnis der breiten Masse nach der Enthüllung von Geheimnissen zu stillen vermochte. Auch wenn immer mehr Geheimnisbücher die Druckpressen verließen, ist überdies fraglich, ob viele Autoren 83
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Siehe dazu jetzt auch Albrecht Burkardt, Les secrets de magie et d’alchimie à Florence à la fin du XVIe siècle. Circulations et pratiques d’appropriation à travers une étude de cas, in: Sylvie Aprile/ Emmanuelle Retaillaud-Bajac (Hg.), Clandestinités urbaines. Les citadins et les territoires du secret (XVIe–XXe), Rennes 2008, S. 35–51, hier S. 36. Gentilcore, Medical Charlatanism, v. a. S. 301–334. Sergius Kodera, Der Magus und die Stripperinnen. Giambattista della Portas indiskrete Renaissancemagie, in: Brigitte Felderer/Ernst Strouhal (Hg.), Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst, Wien etc. 2007, S. 55–77, hier S. 69. »S’alcuno si volesse servire di tai nostri remedij mi trovara in Venetia a san Luca dove sempre saro pronto al servitio di tutto«. Zitiert nach Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 397. Zu Fioravanti vgl. Piero Camporesi, Camminare il mondo. Vita e avventure di Leonardo Fioravanti, medico del Cinquecento, Mailand 1997, sowie jetzt auch Eamon, The Professor of Secrets. Gentilcore, Medical Charlatanism, S. 363. Gentilcore, Medical Charlatanism; sowie ders.,›Charlatans, Mountebanks and Other Similar People‹. The Regulation and Role of Itinerant Practitioners in Early Modern Italy, in: Social History 20 (1995), S. 297–314. Zur Geschichte des Geheimnisses im Mittelalter
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von Secreta-Literatur überhaupt primär auf die erwähnten breiten Massen als eigentliche Zielgruppe schielten. Zwar konnten mit dem Verkauf der Bücher Einnahmen erzielt werden. Das eigentlich einträgliche Geschäft aber stellte sich für die professori de’ secreti oftmals erst dann in Aussicht, wenn die Veröffentlichung ein Patronage-Verhältnis, zumal an einem Hof, nach sich zog.89 Man wird die Bedeutung der Secreta-Literatur daher in hohem Maße auch als Form des frühneuzeitlichen »self-fashioning«90 und als Werbestrategie ihrer Autoren sehen müssen. Selbst denjenigen Autoren, die im Alltag als Scharlatane ihr Geld verdienten und die kaum auf einen Aufstieg vom Marktplatz zum Hof oder auf adlige Patronage hoffen konnten, bot sich durch Veröffentlichung eines Geheimnisbüchleins die Möglichkeit, dem eigenen Wirken einen gelehrten Anstrich zu geben.91 Wer hingegen als wahrer Gelehrter bereits akzeptiert war, hatte Grund zur Hoffnung, durch das Verfassen oder Kompilieren von Geheimnissen die Aufmerksamkeit eines wohlhabenden Förderers zu gewinnen. Höfe blieben in der gesamten Frühen Neuzeit bedeutende und zuverlässige Konsumenten auf dem Markt der Geheimnisse.92 Bezeichnenderweise zog es auch ein Exponent der ›Neuen Wissenschaft‹ wie Galileo Galilei vor, bei der Kontaktaufnahme zum toskanischen Hof die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit als »secreti particolari« anzupreisen.93 Und um dieselbe Zeit stellte wiederum Tommaso Campanella die These auf, daß jeder Wissenschaftler (scienziato) auch ein Magus sei, der die Natur und ihre Geheimnisse manipuliere.94 Die Konzentration von Historikern auf die Frage, inwieweit sich Gebiete der Wissensproduktion in der Frühen Neuzeit ›öffneten‹, verstellt also nicht selten den Blick auf das in der Frühen Neuzeit überaus komplexe Wechselspiel zwischen geheimen und offenen Formen
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Eric H. Ash, Power, Knowledge, and Expertise in Elizabethan England, Baltimore etc. 2004, S. 15; Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 222. Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago etc. 1980. Gentilcore, Medical Charlatanism, S. 363. William Eamon, Court, Academy, and Printing House. Patronage and Scientific Careers in Late Renaissance Italy, in: Bruce T. Moran (Hg.), Patronage and Institutions. Science, Technology, and Medicine at the European Court 1500–1750, Rochester 1991, S. 25–50. Brief vom 7. Mai 1610 aus Padua an Belisario Vinta in Florenz: »Io dei secreti particolari, tanto di utile, quanto di curiosità ed ammirazione, ne ho tanta copia, che la sola troppa abbondanza mi nuoce, ed ha sempre nociuto, perchè se io ne avessi avuto un solo, l’avrei stimato molto, e con quello facendomi innanzi potrei appresso qualche principe grande aver incontrata quella ventura, che finora non ho nè incontrata, nè ricercata.« Siehe Galileo, Opere, Bd. 6, S. 97. Zitiert bei William Eamon, Technology as Magic in the Late Middle Ages and the Renaissance, in: Janus 70 (1983), S. 171–212, hier S. 204. Das Zeitalter des Geheimnisses
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des Wissens.95 Denn die Enthüllung von Geheimnissen generierte in dieser Epoche oftmals wieder neue Geheimnisse. In dieser Studie geht es also – auch aus den hier genannten Gründen – nur am Rande um die Frage nach ›Öffentlichkeit‹ bzw. um die seit Habermas kontrovers geführte Debatte, wann und ob sich eine solche Kategorie in der Neuzeit ausgeformt hat.96 Daß es bereits im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit spezifische Formen von Öffentlichkeit gegeben hat, kann heute kaum mehr bestritten werden, wenngleich der Begriff in seiner heutigen Bedeutung den Zeitgenossen fremd war. Die jüngere Forschung neigt nicht zuletzt deshalb inzwischen dazu, den Plural ›Öffentlichkeiten‹ dem Begriff der einen ungeteilten Öffentlichkeit vorzuziehen.97 Soweit die theoretischen Einwände. Entscheidend aber ist hier ein praktischer Vorbehalt: Die vorliegende Studie kann schon deswegen nicht auf eine Untersuchung oder den Nachweis von ›Öffentlichkeit‹ abzielen, weil – wie wir gesehen haben – augenfällig ist, daß viele der hier behandelten Geheimnisse ja durchaus in der Öffentlichkeit oder jedenfalls in Teil- bzw. Suböffentlichkeiten zirkulierten. Dies ist, wie erwähnt, kein Widerspruch – auch in der heutigen Zeit und in modernen Industriegesellschaften existieren bekanntlich ›offene Geheimnisse‹. Öffentlichkeit – als »Kommunikationsforum« verstanden98 – oder das Ver-»öffentlichen« stehen nicht in grundsätzlichem Widerspruch zur Ökonomie des Geheimen. Zwar haben zahlreiche der unten behandelten Arkanisten das ›Licht der Öffentlichkeit‹ gemieden, aber dies oftmals eher aus strategischen als aus intrinsischen Gründen. Offenes und geheimes Wissen konnten im Prinzip gleichermaßen in der Öffentlichkeit kursieren (schließlich galt es in beiden Fällen, Interessenten bzw. Kunden zu finden). Dabei mußte das Geheimwissen allerdings nicht notwendigerweise offenbart werden, um in der Öffentlichkeit zu zirkulieren. Wenn weiter unten verschiedentlich von einer Spannung zwischen ›geheimem‹ und ›offenem Wissen‹ gesprochen wird, dann ist das Kriterium für diese Unterscheidung also nicht das Maß der ›Öffentlichkeit‹, sondern – wie ich weiter oben ausgeführt habe – vielmehr die Art der Präsentation und Konstitution dieses Wissens. Geheimes Wissen war demnach nicht notwendigerweise durch Verborgensein in der Öffentlichkeit gekennzeichnet, sondern – im Unterschied zum ›offenen Wissen‹ – durch den mit unterschiedlicher Intensität geäußerten 95
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Hutchison, Occult Qualities; Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, v. a. S. 59; siehe auch Koen Vermeir, Openness versus Secrecy. Some Historical and Conceptual Issues [Ms., vorgetragen auf der Konferenz »States of Secrecy«, Harvard University, 11. April 2009]. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage von 1990, Frankfurt am Main 1991 [11962]. Sebastian Küster, Vier Monarchien, vier Öffentlichkeiten. Kommunikation um die Schlacht bei Dettingen, Münster 2004. Ebd., v. a. S. 473. Zur Geschichte des Geheimnisses im Mittelalter
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Anspruch des Verbergens der jeweiligen Wissensinhalte, der auch durch Veröffentlichung keineswegs automatisch aufgehoben wurde.
Aspekte und Kontinuitäten der ›Arkanisierung‹ in der Frühen Neuzeit Die meisten der in der vorliegenden Studie vorgestellten Strategien der Geheimhaltung widersprechen dem heutigen Ideal von Wissenschaft als einer offenen Form von Wissensproduktion. Das Geheimnis hat – wie wir im Schlußkapitel noch genauer erörtern werden – heute in sehr vielen Lebensbereichen eine negative Konnotation. Dabei wird leicht übersehen, daß die moderne Wissenschaft – ebenso wie die Politik99 – in der Praxis nie gänzlich frei ist von auf Geheimhaltung abzielenden Mechanismen.100 Die Methoden und Themen der heutigen Wissenschaft können zudem oft de facto nur von einer Minderheit der Gesellschaft nachvollzogen werden,101 dies schließt allerdings nicht aus, daß ebendiese moderne Wissenschaft – im markanten Unterschied beispielsweise zur frühneuzeitlichen Alchemie – den Anspruch auf offene Wissenszirkulation erhebt. Die Beschwörung der Notwendigkeit von Offenheit in der Wissenschaft ist ein Merkmal des modernen Wissenschaftsbegriffs, aber auch eine ritualisierte Rede.102 Die Etablierung des vielbeschworenen Ideals der Offenheit hat sich jedenfalls – soviel läßt sich an dieser Stelle bereits festhalten – in jenem Prozeß, der oft als ›Wissenschaftliche Revolution‹ bezeichnet wird, sehr viel zögerlicher vollzogen als namentlich die ältere Wissenschaftsgeschichte in mitunter teleologischer Manier behauptet hat.103 Das spezifische Beispiel der jüdischen Geschichte kann veranschaulichen, daß der intellektuelle »Paradigmenwechsel«, der die wissenschaftliche Revolutionen der Neuzeit nach weitverbreiteteter Ansicht auszeichnete (Thomas
99 So bereits Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 51985, S. 548. 100 David Hull, Openness and Secrecy in Science. Their Origins and Limitations, in: Science, Technology and Human Values 10 (1985) (Themenheft »Secrecy in University-Based Research«), S. 4–13. Vgl. auch Bok, Secrets, S. 154; Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 357. 101 Darauf weist prägnant hin: Steven Shapin, Science and the Public, in: Robert Cecil Olby et al. (Hg.), Companion to the History of Modern Science, London etc. 1990, S. 990–1007. 102 Bok, Secrets, S. 153; siehe auch Simon Schaffer/Steven Shapin, Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, Princeton 1985, S. 343. 103 Eine ausführliche Übersicht zu dieser Forschung findet sich unter dem Titel »The ›Great Tradition‹ in the History of Science« in der kommentierten Bibliographie bei Steven Shapin, The Scientific Revolution, Chicago etc. 1996, S. 168–170.
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S. Kuhn)104, keineswegs bei allen gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen – in diesem Fall bei den Juden – die unmittelbare oder entscheidende Ursache für die Verbreitung der ›Neuen Wissenschaft‹ war. Vielmehr kam dieser Prozeß teilweise erst ins Rollen, als sich gesamtgesellschaftliche Parameter auf massive Weise zu wandeln begannen.105 Überhaupt dürfte die Frage nach einem generellen oder gar abrupten Übergang von geheimen zu offenen Formen des Wissens in der Frühen Neuzeit eine erhebliche Differenzierung und vorsichtigere Beurteilung erfahren, wenn der Blick über das Feld der Naturforschung und Technologie hinaus weitere Bereiche des Alltags und Systeme der Wissensproduktion einbezieht. Die Beschäftigung mit okkulten Wissenschaften blieb bis weit ins 18. Jahrhundert populär.106 Zwar gibt es auch seitdem und nicht zuletzt in der heutigen Zeit ein beträchtliches Interesse an Okkultem bzw. an dem, was Esoteriker der Gegenwart dafür halten (Stichwort »New Age«). Von einem gesamtgesellschaftlichen Phänomen kann aber nicht die Rede sein, und man wird hierin nicht sehr viel mehr als eine öffentlich oftmals belächelte und wissenschaftlich schlechterdings nicht ernstgenommene Nische sehen können. Damit ist freilich ein signifikanter Unterschied zur Frühen Neuzeit bezeichnet. Der Begriff der »okkulten Wissenschaft« stellt im frühneuzeitlichen Denken keineswegs eine contradictio in adiecto dar. Zwar wich im 17. Jahrhundert aus der Sphäre und der Sprache des sich formierenden wissenschaftlichen Betriebs – also vor allem den Akademien und gelehrten Gesellschaften – allmählich die Vorstellung von einer unüberwindbaren »occultas res naturae« sowie die damit zusammenhängende Terminologie.107 Dies bedeutete aber nicht, daß die Vorstellung von einer an Geheimnissen reichen Lebens- und Alltagswelt damit auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (gar schlagartig) verschwand.108 In allen Lebensbereichen blieb die Faszination für und die Bedeutung von Geheimnissen bis weit ins 18. Jahrhundert intakt.109 Dies gilt namentlich für den Bereich privater und religiöser Alltagspraxis und Lebensführung. Aber auch Bereiche wie die Künste entzogen sich diesem Phänomen nicht: Es kann hier zum Beispiel auf die Kon-
104 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, zweite rev. und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage, Frankfurt am Main 91988. 105 Siehe dazu ausführlich Kapitel VI. 106 Über die Popularität des Hermetismus und der Magia naturalis im Zeitalter der Aufklärung vgl. z. B. Allen G. Debus, Chemistry, Alchemy and the New Philosophy, 1550–1700. Studies in the History of Science and Medicine, London 1987, Kap. I, v. a. S. 16. 107 P. G. Maxwell-Stuart, The Occult in Early Modern Europe. A Documentary History, London 1999, S. 1–3. 108 Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, S. 7. 109 Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, v. a. S. 44; Simonis, Kunst des Geheimen, passim. Aspekte und Kontinuitäten der ›Arkanisierung‹ in der Frühen Neuzeit
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junktur der Emblematik mit ihren oftmals rätselhaften Bild-Wort-Kombinationen verwiesen werden.110 Die Beschäftigung mit den Geheimnissen der Natur, die überall im Alltag begegnen konnten, galt bis ins 18. Jahrhundert – zumal für Gläubige – sogar als ein genuiner Weg zur Annäherung an Gott und damit letztlich zur visio beatifica.111 Auch die Magie und eine Reihe weiterer divinatorischer Praktiken konnten ein, wenngleich bei weitem nicht der einzige Weg zur Schau eines höheren Wissens sein. Geheimnisbücher erfreuten sich selbst in und nach der ›Wissenschaftlichen Revolution‹ beträchtlicher Beliebtheit.112 Noch 1785 beklagte sich ein anonymer Zeitgenosse in der renommierten Berliner Monatsschrift über die Vielzahl von Neuerscheinungen aller Art mit dem Wort »Geheimnis« im Titel (womit keineswegs nur Werke esoterischen Inhalts gemeint waren).113 Das Interesse an Geheimnissen, Mysterien und Geheimhaltung betraf dabei keineswegs nur einen Kreis von Obskuranten. Vielmehr war nicht zuletzt in aufklärerischen Kreisen des 18. Jahrhunderts die Meinung verbreitet, daß »das Geheimnis überhaupt das einzige Mittel [sei], die Menschheit zu bessern, sie zum Reich der Tugend und Aufklärung zu führen« – eine Vorstellung, die (gemeinsam mit der aufgrund von Repressionen realen Notwendigkeit zur Geheimhaltung) zur Gründung aufklärerisch gesinnter Geheimgesellschaften führte.114 Namentlich zu nennen wäre hier die Formierung und Popularität von Geheimsozietäten wie die Freimaurergesellschaften, die Illuminaten oder der Rosenkreuzerbund.115 Ebenfalls muß angemerkt werden, daß auch in der Sphäre der Politik und des Staates für die Frühe Neuzeit mitnichten von einer Erosion des Geheimen die Rede sein kann. Gestrich hat zutreffend darauf hingewiesen, daß eine Geschichte des politischen Geheimnisses in der Frühen Neuzeit bisher ungeschrieben geblieben 110 Arthur Henkel/Albrecht Schöne (Hg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart etc. 1996. 111 Maxwell-Stuart, The Occult in Early Modern Europe, S. 1–3; Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, S. 43. Jetzt speziell für den protestantischen Kontext siehe Trepp, Glückseligkeit, S. 44, S. 52. 112 Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 3. 113 N.N, Itziger Hang zu Geheimnissen, in: Berlinische Monatsschrift (2) 1785, S. 478–479. 114 Van Dülmen, Geheimbund, S. 116; siehe zu diesem Komplex jetzt auch Simonis, Kunst des Geheimen. 115 Die Forschungsliteratur zu diesem Gebiet ist fast unüberschaubar. Eine nützliche Einführung bieten die Beiträge sowie die Auswahlbibliographie (S. 203–220) bei Reinalter, Aufklärung und Geheimgesellschaften. Siehe auch Monika Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1995; sowie dies., Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 15 (2003), S. 7–65.
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ist.116 Dies ist um so erstaunlicher, als die Frage nach der Bedeutung von politischen Geheimnissen in den Kern des politischen Denkens der Frühen Neuzeit führt. Denn Geheimnisse galten als eine »anerkannte und notwendige Dimension politischen Handelns« und die Lehre von den arcana imperii bildete ein »Kernstück der Politik«.117 Namentlich im Absolutismus wurde das Geheimnis zu »einem der wichtigsten politischen Symbole«.118 Michel Foucault sieht in der Arkanpolitk des frühneuzeitlichen Staates daher ein wichtige Facette jenes Phänomens, das er als die Ausformung der »Gouvernementalität« bezeichnete.119 Das »Wissen der Stärken [des Staates] ist«, so Foucault, »in vielen Fällen nur unter der Bedingung ein Instrument der Regierung, daß es nicht bekannt gemacht wird«.120 Keineswegs war dabei seit der Renaissance realiter die Menge an Geheimnissen, die der Staat hüten zu müssen glaubte, gestiegen. Allerdings gab es einen »increasing taste for secrecy«.121 Vor dem hier skizzierten Hintergrund wurde der Begriff der arcana imperii, der sich ursprünglich von Tacitus herleitete, zum Schlagwort der politischen Theorie des 16. und 17. Jahrhunderts. So sind zum Beispiel bei Arnold Clapmarius (1574–1604), dem calvinistischen Staatstheoretiker und Autor eines weitverbreiteten Buches zur Regierungskunst im 17. Jahrhundert (De Arcanis Rerumpublicarum), die arcana imperii definiert als »geheime und verborgene Mittel zur Gründung und Erhaltung des Staates«.122 Um dessen Handlungsfähigkeit zu gewährleisten, seien die Schaffung geheimer Strukturen, die Aneignung geheimen Wissens und die Anwendung geheimer Maßnahmen gleichsam unerläßlich. Der Prozeß der »Arkanisierung des politischen Handelns« erfaßte weite Teile Europas.123 Im wesentlichen lassen sich m. E. drei maßgebliche Faktoren für die Wiederentdeckung und politische Fruchtbarmachung des bereits in der Antike 116 Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, S. 250. Gestrichs Studie, die in ihren theoretischen Teilen von Luhmann beeinflußt ist, dürfte der bisher tiefschürfendste Beitrag auf diesem Gebiet sein. 117 Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, S. 8. 118 Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, S. 34. 119 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978, hg. von Michel Sennelart, 2 Bde., Frankfurt am Main 2004, hier Bd. 1, S. 397–398. 120 Ebd., S. 397. 121 Dejanirah Couto, Spying in the Ottoman Empire. Sixteenth-Century Encrypted Correspondence, in: Francisco Bethencourt/Florike Egmond (Hg.), Correspondence and Cultural Exchange in Early Modern Europe, Cambridge etc. 2007, S. 274–312, hier S. 276. Zur Diskrepanz zwischen Ideal und Realität der Arkanpolitik am Beispiel Venedigs siehe: De Vivo, Information and Communication, v. a. S. 4. 122 Herfried Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1987, S. 285. 123 Michael Stolleis, Arcana imperii und Ratio status. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts, Göttingen 1980, S. 33. Speziell zur Ausformung des »Geheimen Rats« siehe Gerhard Oestreich, Das persönliche Regiment der deutschen Fürsten am Beginn der Neuzeit, in: Aspekte und Kontinuitäten der ›Arkanisierung‹ in der Frühen Neuzeit
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bekannten Begriffs arcanum unterscheiden. Zunächst einmal ist die politische Arkanisierung von der beschriebenen Kontinuität der secreta-Konjunktur auf naturwissenschaftlichem Gebiet nicht scharf zu trennen. So blieb beispielsweise die zeitgenössische medizinische Terminologie, in der arcana eine wichtige Rolle spielten, nicht ohne Einfluß auf die politische Sprache und die Vorstellung vom ›Staatskörper‹.124 Noch wichtiger dürfte jedoch – zweitens – die Übernahme theologischer Ideen in die politische Theorie und Sprache sein. Der Rekurs auf die Bedeutung des Geheimnisses in der christlichen Theologie sollte dabei nicht nur den Geheimhaltungsanspruch des frühneuzeitlichen Staates legitimieren. Vielmehr erzeugte das Geheimnis auch eine (theologisch fundierte) Aura der Gottesnähe des Herrschers. Denn Gottes Herrschaft über die Menschen beruhte ebenfalls wesentlich auf Geheimnissen (namentlich der Verheimlichung der Zukunft).125 Diese Vorstellung war im Mittelalter noch kaum ausgeprägt. Im Gegenteil herrschte im Frühen und Hohen Mittelalter in der Theologie wie im politischen Denken die Ansicht vor, daß sich Gottes Willen in der Person und im Handeln des Herrschers in aller Deutlichkeit ›offenbare‹. Im ausgehenden Mittelalter wurde der christliche Gott jedoch zunehmend zu einem verborgenen Gott (Deus absconditus).126 Die Popularisierung dieser Vorstellung geht wesentlich auf Nikolaus von Kues (1401–1464) zurück, der in seinem Dialogus de Deo abscondito die Maxime »Quia ignoro, adoro« prägte.127 Mit dem auf theologischer Ebene eingeleiteten Paradigmenwechsel wandelte sich auch die Konnotation des Geheimnisses im politischen Diskurs. Zunehmend war das Geheimnis (aus theologischer Sicht) von einer Aura des Hohen und Göttlichen umgeben und bot sich daher par excellence als Leitidee für die politische Kommunikation des (absolutistischen) Herrschers an.128 So wurde zum Beispiel die Vorstellung von der Kirche als »corpus ecclesiae mysticum« seit dem 13. Jahrhundert verstärkt auf die weltliche Obrigkeit angewandt und führte allmählich zum Konzept eines frühabsolutistischen »corpus reipublicae mysticum«.129 Die Vorstellung von der Göttlichkeit des durch Geheimnisse regierenden Fürsten gipfelte in der politischen Theorie in der um 1700 sich herauskristallisierenden Maxime »arcanum est divinum«.130
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Ders., Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, S. 201–234; für die Diplomatie siehe z. B. Charles Howard Carter, The Secret Diplomacy of the Habsburgs (1598–1625), New York etc. 1964. Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, S. 132. Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, S. 35. Ebd. Ebd., S. 41. Ebd., S. 35 und ingesamt Kap. 2. Ernst H. Kantorowicz, Mysteries of State. An Absolutist Concept and its Late Mediaeval Origins, in: The Harvard Theological Review 48 (1955), S. 65–91. Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, S. 55.
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Ein dritter wichtiger Faktor für die Ausformung der Theorie der Staatsarkana im 16. Jahrhundert war schließlich der Einfluß des Machiavellismus und des eng damit verbundenen Konzepts der Staatsräson (ratio status).131 Dieser Traditionsstrang ist von der theologischen Argumentation nicht nur deswegen zu unterscheiden, weil Machiavelli (1469–1527) zum Erzfeind der Religion stilisiert wurde. Vielmehr divergierten die machiavellistische und die theologische Forderung nach politischer Arkanisierung auch in ihren Motiven. Der Rekurs auf den theologischen Topos vom Deus absconditus zielte zunächst einmal darauf ab, den Herrscher mit einer divinen Aura zu umgeben. Die Berufung auf Machiavelli war hingegen eher von pragmatischen Überlegungen zur Herrschaftsausübung geprägt. In der Tradition Machiavellis bezeichnen die arcana imperii weniger ein Instrument der fürstlichen Selbstinszenierung als vielmehr einen »Katalog geheimer Praktiken, die die Erhaltung der Herrschaft über das unmündige Volk sichern sollen«.132 Der Fürst selbst gebot zudem über die arcana dominationis, die zur »Sicherung des Herrschers gegen Anschläge aus seiner Umgebung« dienten.133 Die Idee der arcana imperii ist ohne den Machiavellismus nicht denkbar, aber – wie wir gesehen haben – nicht mit ihm identisch. Machiavelli war nur einer von mehreren Vätern der politischen Arkantheorie. Es wäre ohnehin zu kurz gegriffen, hinter der Arkanpolitik des frühneuzeitlichen Staates lediglich gewissenlose Machtpolitik zu wittern. Vielmehr war die Geheimhaltung selbst eine ethische Aufgabe des Herrschers und seiner Vertrauten; sie galt keineswegs als generell unmoralische Handlung. Im Unterschied zur Lüge, die nach christlicher Lehre verboten war, war das Verbergen von Wissen nicht per se negativ konnotiert. Nicht nur bei Machiavelli, sondern beispielsweise auch beim spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601–1658), findet sich ein Lob der Unaufrichtigkeit und Verstellung (simulatio, dissimulatio). Gracián rechtfertigte solches Verhalten vor allem mit der Notwendigkeit der versatilitas, der Kunst des Anpassens.134 In seinem Handorakel – einer Anleitung zur »Weltklugheit« – billigte er ausdrücklich auch die Geheimhaltung.135 Dies hing nicht nur mit seinem aus theologischen Gründen positiven Geheimnisbegriff zusammen.136 Vielmehr waren auch pragmatische Überlegungen im Spiel. Bereits in seiner dritten Maxime forderte er: »Mit offenen Karten spielen ist weder nützlich noch angenehm. […] Bei allem lasse man etwas
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Stolleis, Arcana imperii; Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, S. 131 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 117. Münkler, Im Namen des Staates, S. 285. Siehe dazu jetzt auch Lutz Danneberg, Aufrichtigkeit und Verstellung im 17. Jahrhundert. Dissimulatio, simulatio und Lügen als debitum morale und sociale, in: Claudia Benthien/Steffen Martus (Hg.), Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 45–92, hier S. 46. 135 Baltasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart 1992. 136 Ebd., Nr. 160: »Das Geheimnisvolle hat einen gewissen göttlichen Anstrich.« Aspekte und Kontinuitäten der ›Arkanisierung‹ in der Frühen Neuzeit
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Geheimnisvolles durchblicken und errege, durch seine Verschlossenheit selbst, Ehrfurcht«.137 Es ist also festzuhalten, daß – allemal aus der Sicht von Obrigkeiten – die Idee des Öffentlichen im Unterschied zur heutigen Zeit keineswegs prinzipiell oder gar a priori positiv konnotiert war. Geheimhaltung galt hier nicht zuletzt als Frage der Ehre sowie als eine ethische Verantwortung.138 Denn in der Öffentlichkeit war das Risiko sehr viel größer, daß Geheimnisse zum Schaden aller in falsche Hände gerieten. Eine Ironie der Geschichte: In diesem Zusammenhang wurde selbst die Rolle Machiavellis, auf den sich die Theoretiker der arcana imperii beriefen, als ambivalent gesehen. Niklas Luhmann hat diese Einstellung prägnant beschrieben: »Man sieht geradezu, was dabei herauskommt, wenn Luther und Machiavelli Religion und Politik im Buchdruck profanieren und für jedermann zugänglich machen. Was entsteht, sind Unverständnis, Wirren, Turbulenzen, Bürgerkriege, da die Menschen damit offensichtlich überfordert sind.«139 Auch in der Wirtschaftspolitik frühneuzeitlicher Obrigkeiten spielt der Begriff des Arkanums bis weit in das 18. Jahrhundert eine überaus bedeutende Rolle. Verschiedentlich wird in den Quellen sogar explizit von »Arkanisten« gesprochen, womit Handwerker und Technologiekundige gemeint waren, von deren Betriebsgeheimnissen sich die Obrigkeit erheblichen wirtschaftlichen Nutzen versprach. Der Begriff arcanum bezeichnet in diesem Zusammenhang die nicht preisgegebene Anleitung zur Herstellung eines (meist innovativen) Produkts.140 Das vermutlich berühmteste Beispiel für solche wirtschaftspolitische Arkanpolitik ist die Porzellanherstellung des 18. Jahrhunderts. Im Fall der Herstellung von weißem Porzellan war das Arkanum zufällig aus alchemischen Experimenten in Sachsen hervorgegangen und unterlag dort nach seiner wirtschaftlichen Nutzbarmachung strengster Geheimhaltung. Die Arkanisten am Dresdner Hof bezogen sehr hohe Gehälter und üppige Pensionen, um Geheimnisverrat auszuschließen. Um auch bei Todesfällen eine Kontinuität der Produktion zu gewährleisten, wurde das Wissen in sog. Arkanbüchern aufgezeichnet. Diese Bände wurden in der Schatzkammer des Grünen Gewölbes im Dresdener Schloß deponiert.141 Die An- und Abwerbung solcher Arkanisten durch Höfe und Regierungen läßt sich in der Frühen Neuzeit fast überall in Europa nachweisen.142 Vor dem hier umrissenen Hintergrund kann es also nicht verwundern, daß 137 138 139 140 141 142
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Ebd., Nr. 3, siehe auch Varianten in Nrn. 98; 179 und 237. De Vivo, Information and Communication, S. 40–45. Luhmann, Geheimnis, S. 118. Reith, Know-how, S. 372. Ebd., S. 372–373. Ebd., passim. Vgl. auch Rainer A. Müller, Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit, München 22004, S. 61. Das Zeitalter des Geheimnisses
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Geheimhaltung während der gesamten Frühen Neuzeit allgemein einen zentralen Modus für die Kommunikation zwischen Herrscher und Untertan darstellte. Wer bei Hof Interesse für seine ›Projekte‹ wecken wollte, war gut beraten, deren arkanen Charakter hervorzuheben. In zahlreichen Archiven bedeutender europäischer Höfe haben sich bis heute dicke Aktenbüschel mit solchen oftmals als geheim deklarierten Projekten erhalten.143 Der Markt für Geheimnisse bzw. die Ökonomie des Geheimen blieben, wie wir gesehen haben, im großen und ganzen bis ins 18. Jahrhundert intakt. Tendenziell expandierte sogar, wie erwähnt, die Sphäre des Geheimen im Bereich der privaten Lebensführung sowie in der politischen Sprache und der Herrschaftsausübung. Und auch das Spektrum der intellektuellen Sphäre zeichnete sich noch in der Epoche der ›Neuen Wissenschaft‹ durch eine beträchtliche Komplexität aus, wobei okkulte, magische und alchemische Praktiken nach wie vor einen Platz für sich beanspruchten. Damit ist der Hintergrund umrissen, vor dem auch die Aktivitäten von Juden im Handel, Anbieten und Liefern von Geheimnissen gesehen werden müssen. Wenn von Juden in der Ökonomie des Geheimen die Rede ist, darf zudem ein weiterer, spezifischer Aspekt nicht übersehen werden. Gemeint ist die in der christlichen Mehrheitsgesellschaft tief verwurzelte Vorstellung von der prinzipiellen »Heimlichkeit« der Juden.
Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden. Diskurse und Realität in der Frühen Neuzeit Der englische Historiker Cecil Roth (1899–1970), dessen historiographische Prämissen heute nicht selten kritisiert werden, hat als einer der ersten versucht, die Geschichte jener Denkfigur, die man als ›Arkankompetenz‹ der Juden bezeichnen könnte, in einen größeren Kontext zu stellen. Aufgrund der Rolle von Juden bei der Vermittlung griechisch-arabischen Wissens sieht Roth im Mittelalter auf christlicher Seite noch ein Überwiegen der Vorstellung von den Juden als Bewahrern philosophischen Denkens. Durch die Ausformung des Humanismus und die damit verbundene Verbreitung der Griechischkenntnisse seien die Dienste der Juden in Europa auf diesem Gebiet jedoch zunehmend verzichtbar geworden. Geblieben sei auf christlicher Seite die Vorstellung, »that the Jews had access to
143 Umfangreiche, nach dem Pertinenzprinzip geordnete Bestände mit Eingaben von Projektemachern sind z. B. für die Habsburger: ÖStA, Hofkammerarchiv, Verschiedene Vorschläge; für die Este: ASMo, ASE, Invenzioni, progetti, scoperte; für die Wittelsbacher: BayHStA, Generalregistratur Fasz. 1204, Nr. 130. Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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stores of recondite information«. Roth bestreitet nicht – und darin liegt hier sein Verdienst – daß Juden die daraus erwachsenden Betätigungschancen ergriffen. Jedoch schätzt er diese Entwicklung insgesamt negativ ein: »There was thus a debasement of the currency of Jewish participation in cultural life. In place of the unostentatious translators and learned scientists of a former age, the forefront of the stage was now occupied to some extent by picturesque charlatans.«144 Es ist nicht zu übersehen, daß Roth sich zumindest mit dieser Ansicht in hohem Maße als der Wissenschaft des Judentums verpflichtet erweist.145 Namentlich für die deutschsprachigen Vertreter dieser einflußreichen historiographischen Schule des 19. Jahrhunderts galten mutmaßlich esoterische Phänomene wie die Alchemie als ein »Juden und der hebräischen Sprache fernliegendes Gebiet«.146 Einige Forscher verstiegen sich sogar zu der Behauptung, die Alchemie sei »niemals als ein bei den Juden vorkommender Aberglaube gefunden worden«.147 In jüngerer Zeit hat die Historikerin Elisheva Carlebach die Geschichte des gegenüber Juden geäußerten Vorwurfs der exzessiven Geheimhaltung untersucht und ihn entschiedener als Roth in den Kontext der christlichen Theologie gestellt. Sie sieht in dem Vorwurf ein zentrales Element christlicher Polemik und Judenfeindlichkeit.148 Im Mittelalter sei den Juden auf nahezu jedem Gebiet der Lebensführung eine solche übermäßige Praxis der Verheimlichung vorgeworfen worden.149 Man könnte hier ergänzend anmerken, daß seit dem Mittelalter auch der »jüdische Körper selbst als ein verborgener, geheimnisvoller Körper« gesehen wurde, was sich nur teilweise mit dem Brauch der Beschneidung erklären läßt.150 Das Phantasma von der Ansteckungsgefahr, die angeblich von den geheimnisvollen jüdischen Körpern ausging, hatte dabei handfeste reale Implikationen, darunter räumliche Segregation151 und das an einigen Orten für Juden geltende Verbot, Marktware anzufassen. Der Vorwurf der jüdischen Geheimhaltung wurde keineswegs nur von katholischer Seite geäußert. Vielmehr war es nicht zuletzt Luther, der die Ansicht vertrat,
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Cecil Roth, The Jews in the Renaissance, Philadelphia 1959, S. x. Siehe dazu auch das Schlußkapitel der vorliegenden Studie. Steinschneider, Mathematik bei den Juden, in: MGWJ 1 (1905), S. 90. Richard Liechtenstein, Ein eigenhändiger Brief Dr. Martin Luthers an den Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg, in: Allgemeine Zeitung des Judentums vom 17. August 1906 (Nr. 33), S. 392. Elisheva Carlebach, Attribution of Secrecy and Perceptions of Jewry, in: Jewish Social Studies 3 (1996), S. 115–136, hier v. a. S. 115–117. Dazu jetzt auch Johannes Heil, »Gottesfeinde – Menschenfeinde«. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert), Essen 2006. Carlebach, Attribution of Secrecy, S. 117. Heil, »Gottesfeinde – Menschenfeinde«, passim. Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995, S. 310. Dazu Sennett, Fleisch und Stein, S. 269–314.
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daß sich die angebliche jüdische »perfidia« hinter einem Schleier der Geheimhaltung verberge.152 Obwohl der damit zusammenhängende, von Luther ebenfalls in aggressiver Weise vorgebrachte Vorwurf der jüdischen Zauberei in der Frühen Neuzeit allmählich an Schlagkraft verlor, habe die Idee von genuinen Geheimnissen der Juden weiterhin fortbestanden. In der Tat stellt Carlebach zutreffend fest, daß der Jargon der Enthüllung in der christlichen Polemik gegenüber den Juden bis ins 17. Jahrhundert weit verbreitet war. Dazu trugen auch jüdische Konvertiten bei, die sich Legitimation oder Aufmerksamkeit erhofften, indem sie die vorgeblichen Geheimnisse ihrer einstigen Religion der christlichen Umwelt preisgaben.153 Die Vorstellung von einer »nuda veritas« des Judentums, die an den Tag gebracht werden müsse, sei – so Carlebach – erst nach 1700 abgelöst worden von einem »delight in difference«. Die Historikerin knüpft diese These an die Entwicklung der Titel von gedruckten Schriften über das Judentum. Überwiegen demnach für das 16. Jahrhundert noch Buchtitel, die den geheimnisvollen Charakter des Judentums hervorheben, würden im 17. und 18. Jahrhundert zunehmend Titel begegnen, die – wie etwa bei Johann Jacob Schudt – einen gewissermaßen ethnographischen Blick auf die conditio judaica als ein Tableau von »Merckwürdigkeiten« versprechen.154 Carlebachs Studie analysiert zutreffend Motive und Funktionen des gegenüber Juden geäußerten Geheimhaltungsvorwurfs. Es ist unbestreitbar, daß der Vorwurf dort, wo er polemisch verwendet und theologisch verbrämt wurde, keine Begründung in der Realität hatte, zumal wenn er mit den Phantasmen der christlichen Judenfeindschaft (Ritualmord, Hostienschändung, Brunnenvergiftung etc.) zusammengebracht wurde. Man könnte in diesem Zusammenhang ergänzend zu Carlebach jedoch anmerken, daß die Vorstellung von einer exzessiven Geheimhaltung durch die Juden keineswegs eine Domäne der Theologie war. Immerhin läßt sich sogar bei Autoren, die ein kritisches Verhältnis zum Christentum und zumal zur Kirche hatten, dieses Vorurteil antreffen. Dies gilt beispielsweise für den wenig gottesfürchtig lebenden englischen Dramatiker Christopher Marlowe (1564–1593). Er griff gleichwohl rege auf die Vorstellung von der exzessiven Geheimhaltung der Juden zurück, als er mit der Figur des Barabas in dem Bühnenstück The Jew of Malta (um 1589/1590) den Prototyp eines jüdischen Erzbösewichts entwarf. Immer wieder erwähnt, ja beschwört Barabas im Verlauf der Handlung gegenüber seinem Knecht Ithamore die Notwendigkeit von Geheimhaltung.155
152 Dazu Carlebach, Attribution of Secrecy, S. 122. 153 Heil, »Gottesfeinde – Menschenfeinde«, S. 376–387. Siehe auch Carlebach, Attribution of Secrecy, S. 119–120. 154 Carlebach, Attribution of Secrecy, S. 125–128, 155 Christopher Marlowe, The Jew of Malta (= The Complete Works of Christopher Marlowe, Bd. 4), hg. von Roma Gill, Oxford 1995. Vgl. z. B. die Stellen »Be true and secret« (II, 3); »then now be secret« (III, 4); »if we two be secret« (IV, 1). Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, die Rede von einer genuinen Arkankompetenz von Juden im Alltag und speziell auf dem Markt der Geheimnisse in ausnahmslos jedem Fall als eine oktroyierte Charakterisierung abzutun. Zunächst einmal war – unter Christen wie auch innerhalb der religiösen Minderheit selbst – die Meinung verbreitet, daß Juden unübertroffen darin seien, noch die fernsten und entlegensten Güter zu besorgen, etwa auf dem Weg des Handels.156 Bei der Suche wiederum nach einer prisca sapientia, ja überhaupt nach den Anfängen von Wissenschaften und Philosophie, führte nach Meinung namhafter christlicher Gelehrter kaum ein Weg an den Quellen der biblischen Israeliten vorbei – eine Meinung, die von jüdischen Autoren der Frühen Neuzeit schon aus apologetischen Gründen oftmals geteilt und sogar befördert wurde.157 Nicht zuletzt gab es Juden, wie den jüdischen Arzt und Kabbalisten Abraham Yagel (1553–ca. 1623), die annahmen, daß die Juden von Gott prädestiniert seien, um die Geheimnisse seiner Schöpfung und speziell der Natur zu erkunden.158 Solche Vorstellungen im jüdischen Denken finden sich auch in früheren Jahrhunderten. Bereits im Mittelalter beschäftigten sich Rabbiner intensiv mit dem »Geheimnis der Tora« (Sod ha-Tora) und legten den Grundstein für eine regelrechte ›Arkanisierung kanonischer Texte‹ (Moshe Idel).159 Namentlich zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert erlebte die Esoterik im Judentum eine bis dato ungeahnte Konjunktur. Es wäre dabei voreilig, diese Entwicklung als eine Reaktion auf Repression oder gar schlichtweg als hermeneutischen Rückschritt zu sehen. Vielmehr erfüllte das Ideal der Geheimhaltung und der Arkanisierung im Kontext der damaligen Zeit eine bedeutende, stabilisierende Funktion, wie Moshe Halbertal jüngst veranschaulicht hat. Demnach war es für das mittelalterliche Judentum am ehesten unter den Vorzeichen des Geheimnisses möglich, auf die Herausforderung durch die verschiedenen religiösen, philosophischen und esoterischen Strömungen zu reagieren, mit denen es von außen zunehmend konfrontiert wurde (darunter Astrologie, Gnosis, Aristotelismus und Neoplato-
156 »[L]a Natione Hebrea dispersa, e disseminata per il mondo, priva d’alcun capo di protetione, con pronta flessibilità si dispone sempre in conformità de Publici comandi«, so beispielsweise der Rabbiner Luzzatto, Discorso circa il stato de gl’hebrei, fol. 22r sowie ebd. allgemein Kap. 5. 157 Abraham Melamed, A Legitimating Myth. Ashkenazic Thinkers on the Purported Jewish Origins of Philosophy and Science, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 8 (2009), S. 299–315. 158 Vgl. David B. Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science. The Cultural Universe of a SixteenthCentury Jewish Physician, Cambridge/Mass. etc. 1988, S. 3: »From his perspective, the religious obligation of Jews to comprehend the natural world was merely a contemporary manifestation and extension of the special bond between the religious and the occult that had existed in Judaism since its inception.« 159 Idel, Secrecy, Binah and Derishah, S. 342. Dieses Geheimwissen wurde mitunter sogar zum Stolz des Judentums überhöht, vgl. dazu jetzt Hartley Lachter, Spreading Secrets. Kabbalah and Esotericism in Isaac ibn Sahula’s Meshal ha-kadmoni, in: Jewish Quarterly Review 100 (2010), S. 111–138, hier v. a. S. 136–137.
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nismus). Die Ausformung von teilweise konkurrierenden Geheimlehren erlaubte es Juden, solche Strömungen in das eigene Denkgebäude zu absorbieren, ohne den eigentlichen Kern der jüdischen Tradition preiszugeben.160 Geheimhaltung und Arkanisierung wurden somit zu wichtigen ›hermeneutischen Werkzeugen‹ (hermeneutic tools), die dem mittelalterlichen jüdischen Denken eine beträchtliche Flexibilität ermöglichten.161 Ein Ergebnis dieser Entwicklung war die Ausformung der Kabbala, also der jüdischen Mystik.162 Die Kabbala galt für Juden wie für Christen in diesem Zusammenhang oftmals buchstäblich als Schlüssel, um die Geheimnisse der beiden Bücher, die Gott den Menschen gegeben hatte – also die Heilige Schrift und das Buch der Natur – zu enthüllen.163 Auf prominente und bezeichnende Weise versinnbildlicht ist diese Vorstellung auf dem Frontispiz der Kabbala denudata (1677–1684), einem Meilenstein der christlichen Kabbala. Dort findet sich die Kabbala als weibliche Figur dargestellt, die mit dem Schlüssel in der Hand auf den Eingang des Palastes der Geheimnisse (»Palatium Arcanorum«) zueilt, der hier die Geheimnisse der Natur repräsentiert.164 Die Kabbala wurde rasch zum Inbegriff des Geheimnisvollen schlechthin – auch weit über den ursprünglichen jüdischen Kontext hinaus.165 So verbreitete sich in der Frühen Neuzeit in verschiedenen europäischen Sprachen der aus dem Hebräischen entlehnte Begriff »Kabale« (engl.: Cabal, frz.: Cabale), der zur Bezeichnung
160 Moshe Halbertal, Concealment and Revelation. Esotericism in Jewish Thought and its Philosopical Implications, Princeton 2007. Halbertal spricht vom »use of the medium of secrecy in order to absorb and introduce new theologies into the heart of Judaism« (S. 138–140). 161 Ebd., S. 140 und allgemein Kap. 16. 162 Grundlegend zur Kabbala ist nach wie vor Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main 1980 [11957]. Freilich hat sich das Gebiet der jüdischen Mystik seit Scholems Zeiten längst zu einem eigenständigen und kaum mehr überschaubaren Forschungszweig entwickelt. Auch werden heute einige Thesen Scholems kritisch oder differenziert gesehen. Es würde den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen, diese Diskussionen hier im einzelnen nachzuzeichnen. Einige Facetten des Gesamtphänomens Kabbala – darunter die ›Christliche Kabbala‹ und die ›Praktische Kabbala‹ – werden (mit weiterführenden Literaturangaben) weiter unten noch ausführlicher behandelt. Zur Entwicklung und zum Stand der Kabbala-Forschung sowie zur Diskussion um Scholem findet sich ein detaillierter Überblick und eine Bibliographie mit weiterführender Literatur in den von Idel verfaßten Abschnitten im Lemma Kabbalah, in: EJ, Bd. 11, S. 586–692. 163 Coudert, Kabbalistic Messianism, S. 115. 164 Christian Knorr von Rosenroth, Kabbala denudata seu, Doctrina Hebraeorum transcendentalis et metaphysica atque theologica, 2 Bde., Sulzbach: Lichtenthaler 1677–1684. Zur frühneuzeitlichen Metapher des Palasts der Geheimnisse vgl. Neil Kenny, The Palace of Secrets. Béroalde de Verville and Renaissance Conceptions of Knowledge, Oxford 1991. 165 Eine gute Einführung bietet nach wie vor François Secret, Les kabbalistes chrétiens de la Renaissance, Paris 1964. Siehe auch Andreas Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1998. Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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für geheime Umtriebe und speziell für Intrigen gebraucht wurde.166 Die Konjunktur der Kabbala in der Frühen Neuzeit war zweifellos ein maßgeblicher Grund dafür, daß Juden aus christlicher Sicht von der Aura des Arkanen umgeben waren. Erwähnt werden sollte aber auch, daß soziale Ausgrenzung und Diskriminierung mitunter Strategien der Geheimhaltung in manchen Bereichen des jüdischen Alltags in der Frühen Neuzeit zu einer ganz realen Notwendigkeit hatten werden lassen.167 Man darf beispielsweise nicht unterschätzen, daß jüdisches und konkret vor allem sephardisches Leben in der Frühen Neuzeit nicht selten von der identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Erfahrung der Kryptoexistenz gekennzeichnet war.168 Wenngleich der Terminus vom »Kryptojudentum« in der historischen Forschung nicht immer mit der notwendigen Differenzierung verwendet worden ist, so kann doch kein Zweifel daran herrschen, daß zahlreiche conversos einen vor der christlichen Umwelt geheim gehaltenen jüdischen Alltag führten und führen mußten.169 Die oft unnachgiebige Ahndung dieser Häresie durch die Kirche und speziell durch die Inquisition dürfte wiederum den Eindruck bei den christlichen Zeitgenossen vermittelt oder verstärkt haben, daß jüdische Existenz aufs engste mit der Sphäre des Geheimen verbunden sei. Bezeichnend ist beispielsweise die Annahme eines Vertrauten des Este-Hofes, der 1654 mit Blick auf die Ankunft einer Gruppe von portugiesischen Juden im Territorium den Herzog bereits vorauseilend darauf hinwies, daß die Geheimnisse dieser Juden mit viel Geschick und Zeit aufgedeckt werden müßten.170 Wirtschaftspolitisch war es freilich klüger, solche Gruppen nicht durch Enthüllungsabsichten zu verschrecken, sondern vielmehr durch Geheimhaltung zu gewinnen. In der Tat bemühten sich etwa die geschäftstüchigen Medici in der Toskana in ihren Beziehungen zu sephardischen und insbesondere kryptojüdischen Kontaktpersonen um ein hohes Maß an Geheimhaltung.171 166 Lemma Kabale, in: Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 20 1967, S. 337. 167 Vgl. Natalie Zemon Davis, Fame and Secrecy. Leon Modena’s ›Life‹ as an Early Modern Autobiography, in: The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi. Leon Modena’s Life of Judah, hg. von Mark R. Cohen, Princeton 1988, S. 50–70, hier v. a. S. 68. 168 So jetzt auch Federica Ruspio, La nazione portoghese. Ebrei ponentini e nuovi cristiani a Venezia, Turin 2007, S. 67. 169 Für die Kryptojuden im frühneuzeitlichen Spanien spricht eine Historikerin sogar vom Geheimnis als einem der »éléments fondateurs de l’existence marrane«. Siehe Natalia Muchnik, Du secret imposé à la clandestinité revendiquée. Les communautés cryptojudaïsantes madrilènes face à l’Inquisition (XVIe –XVIIIe siècle), in: Sylvie Aprile/Emmanuelle Retaillaud-Bajac (Hg.), Clandestinités urbaines. Les citadins et les territoires du secret (XVIe–XXe), Rennes 2008, S. 23–34, hier S. 31. 170 Andrea Balletti, Gli ebrei e gli Estensi, Reggio Emilia 21930 [ND Bologna 1969], S. 81. 171 Stefanie B. Siegmund, The Medici State and the Ghetto of Florence. The Construction of an Early Modern Jewish Community, Stanford 2006, S. 105.
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Auch die wirtschaftliche Tätigkeit und das innergemeindliche Leben von Juden, die sich offen zu ihrer Religion bekannten, waren aufgrund von Anfeindungen und Verboten nicht selten auf Geheimhaltung oder zumindest Diskretion angewiesen. Dies wurde –beispielsweise unter aschkenasischen Juden – sowohl auf sprachlicher wie literarischer Ebene reflektiert. So berichtet eine Geschichte aus dem im Jahr 1602 erstmals gedruckten jiddischen Ma’assebuch von der realistisch gezeichneten Not der Juden in Mainz, nachdem der Papst der Judenschaft den Ritus der Beschneidung untersagt hatte. Daraufhin trafen die Juden Absprachen mit dem Bischof von Mainz, um ihre Kinder fortan insgeheim (»im sod«) zu beschneiden.172 Diese Geschichte ist zwar erfunden und nimmt letztlich ein gutes Ende, doch sind in ihr reale Momente und kollektive Erfahrungen verdichtet. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß sich das italienische Wort secreto in hebräischer Umschrift (ʥʿʨʲʸʷʩʹ) in den internen Quellen italienischer Judengemeinden findet.173 Die Verwendung von Geheimschriften in der Privat- und Geschäftskorrespondenz von Juden, die sich bereits im 15. Jahrhundert nachweisen läßt, wird weiter unten noch ausführlich thematisiert. Doch nicht nur die Übermittlung von Informationen, auch die Abwicklung der Geschäfte selbst erforderte oft Strategien der Geheimhaltung. Die Forderung, daß jüdische Geldverleiher, Unternehmer und Händler ihre Geschäftsbücher in der Landessprache (also nicht auf hebräisch) führen sollten, wurde schon erhoben, bevor diese Frage im 19. Jahrhundert zu einem Politikum und zu einer Bedingung für die Gewährung von ›Emanzipation‹ werden sollte. Für jüdische Geldverleiher reichte Diskretion meistens noch aus.174 Jüdische Edelsteinhändler und Juweliere hingegen dominierten zwar europaweit ihren Markt175, waren aber für ihre Geschäfte oft auf absolute Geheimhaltung angewiesen. Dies gilt beispielsweise für jüdische Edelsteinhändler, die im venezianischen Territorium lebten, wo den Juden über Jahrzehnte hinweg offiziell untersagt war, mit solchen Preziosen zu handeln oder diese zu verarbeiten.176 Soweit Korrespondenz erhalten ist, liefert sie eine Fülle von Beispielen für die Notwendigkeit zur Geheimhaltung, die jüdischen Juwelieren daraus erwuchs. Dies
172 Das Ma’assebuch, hg. von Ulf Diederichs, München 2003, S. 517–524, das Zitat auf S. 519. 173 Isaiah Sonne, Avnei Bonim le-Toldot ha-Yehudim be-Verona (hebr.: Bausteine zur Geschichte der Juden in Verona), in: Kobez al Jad 3 (1940), hier S. 160. 174 Siehe dazu auch die Bemerkungen über die Architektur jüdischer Pfandleihhäuser und Geldstuben in der Renaissance bei Robert Bonfil, Jewish Life in Renaissance Italy, Berkeley etc. 1994, S. 90–91. 175 Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism 1550–1750, Oxford 1985, S. 139–140. 176 Luigi Arnaldo Schiavi, Gli ebrei in Venezia e nelle sue colonie. Appunti storici su documenti editi ed inediti, in: Nuova antologia, ser. III, 47 (1893), S. 485–519, hier S. 506. Zur Bedeutung dieses Gewerbes unter Juden siehe auch M.G. Sandri/Paolo Alazraki, Arte e vita ebraica a Venezia 1516–1797, Florenz 1971, S. 15. Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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trifft selbst für den vermutlich bedeutendsten Edelsteinlieferanten der Gonzaga, Salomone di Vita Levi, zu, der außerdem in der Verarbeitung von Gold, Silber und Juwelen sowie im Wechselgeschäft tätig war. Levi pflegte Kontakt mit den angesehensten Goldschmieden und Kaufleuten Italiens.177 Dennoch mußte auch er in seinen Geschäftsbeziehungen großen Wert auf Geheimhaltung legen. So wickelte er von Venedig aus im Jahr 1575 ein Geschäft mit dem Herzog von Mantua ausdrücklich »secretisimamente« [sic] ab.178 Auch die Ankäufe von Edelsteinen beim jüdischen Juwelier David Cervi wurden vom selben Hof als geheimes Geschäft bezeichnet (»com’era segretto questo negotio«).179 Cervi selbst hatte in den 1590er Jahren die Situation auf den Punkt gebracht, als er gegenüber einem Mantuaner Hofbeamten anmerkte, daß die Geschäfte mit Juwelen und Edelsteinen »in motto di segretezza« abgewickelt werden müßten.180 Eine Gruppe portugiesischer Juden aus Venedig ließ 1612 im Vorfeld eines geplanten Juwelengeschäfts mit dem Mantuaner Hof den Herzog ebenfalls ausdrücklich wissen, daß auf die Geheimhaltung der Geschäftsbeziehungen Wert gelegt werde.181 Juweliere waren jedoch nicht die einzige jüdische Berufsgruppe, die der Diskretion und Geheimhaltung bedurfte. In einigen Berufen – beispielsweise im Viehhandel – entwickelten sich in der Frühe Neuzeit unter Juden regelrechte Geheimsprachen. Dies war auch in der christlichen Umwelt bekannt, wenngleich hinter solchen Geheimsprachen jüdischer Händler häufig unbegründeterweise a priori böse Absichten vermutet wurden. Um so mehr muß hervorgehoben werden, daß das Verschleiern durch die Erfindung oder Kombination von Sprachen unter frühneuzeitlichen Juden im familiären und innergemeindlichen Kontext gelegentlich auch spielerische Formen annehmen konnte. Dem Literaturwissenschaftler Dan Pagis gebührt das Verdienst, in den 1980er Jahren ein in Vergessenheit geratenes literarisches Genre der hebräischen Literatur wiederentdeckt zu haben, das sich vom 17. Jahrhundert an für fast zweihundert Jahre vor allem unter italienischen Juden sowie unter Sepharden in den Niederlanden großer Beliebtheit erfreute. Es handelt sich um eine faszinierende Gattung von Rätselgedichten, die aus einem enigmatischen Bild (hebr. Tzurat ha-Chida, im Italienischen oft mit figura dell’enigma wiedergegeben) und einem komplizierten hebräischen Text bestanden, wobei das Verständnis der Verse durch die Verwendung italienischer und spanischer Worte noch erschwert wurde. In dieser hochelaborierten Form ist ein solches Genre nur unter frühneuzeitlichen Juden nachweisbar (auch wenn 177 Daniela Sogliani, La repubblica e il ducato. Rapporti culturali e artistici tra la Serenissima e Mantova negli anni di Guglielmo Gonzaga, in: Gonzaga/Venedig I, S. 15–81, hier S. 62. 178 Gonzaga/Venedig I, Dok. 330. 179 Gonzaga/Mailand, Dok. 684. 180 Gonzaga/Rom, Dok. 239. 181 »[Hanno] gusto che si trattasse con loro con ogni segretezza«. Siehe Gonzaga/Venedig II, Dok. 1074.
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man über Einflüsse aus der christlichen Barocklyrik – speziell der sog. ArgutiaIdee – und der Emblematik spekulieren kann). Es gab in den jüdischen Gemeinden Italiens und der Niederlande regelrechte Wettbewerbe (zum Beispiel auf Hochzeiten), bei denen sich die Teilnehmer im Entschlüsseln dieser heute oftmals nur schwer zu deutenden, mehrsprachigen Gedichte versuchten.182 Allerdings waren es in dieser Epoche nicht nur Juden, die sich des Hebräischen bedienten, um Botschaften und Gespräche zu verschleiern. So war bereits den Zeitgenossen bekannt, daß dem Hebräischen entlehnte Wörter eine bedeutende Rolle im für Außenstehende oft unverständlichen Argot devianter Gesellschaftsgruppen spielte. Dies gilt namentlich für Bettler- und Gaunersprachen wie das Rotwelsch, in denen der Anteil der aus dem Hebräischen übernommenen Worte nach modernen Schätzungen knapp zwanzig Prozent betrug.183 Die Relevanz solcher sprachlicher Phänomene für die Zuschreibung einer genuin jüdischen Arkankompetenz ist nicht zu unterschätzen. Dies gilt auch für die unter vielen Juden in dieser Epoche überdurchschnittlich ausgeprägte Mehrsprachigkeit. So sah ein französischer Levante-Reisender des 16. Jahrhunderts die Gründe für die in seinen Augen herausragende Stellung jüdischer Ärzte im osmanischen Reich darin, daß sie verschiedenste Sprachen – darunter das Griechische und Arabische – beherrschten, denn diese seien für das Studium der Arzneikunst, aber auch der Naturphilosophie und der Astrologie unverzichtbar.184 Von allen Sprachen aber war es das Hebräische, das auf entscheidende Weise die Vorstellung von einer spezifisch jüdischen Arkankompetenz mitprägte. Der Glaube an eine zutiefst okkulte Dimension der hebräischen Sprache war weit verbreitet. Zunächst einmal hing dies mit dem Erscheinungsbild der hebräischen Sprache zusammen. Allgemein wurden Konsonantenschriften, in denen die Vokale gewissermaßen verborgen waren, als besonders günstiges Medium angesehen, um Geheimnisse zu tarnen. Insbesondere aber galt dies nach damaliger Auffassung für
182 Dan Pagis, Baroque Trends in Italian Hebrew Poetry as Reflected in an Unknown Genre, in: Italia Judaica (= Atti del II convegno internazionale, 1984), hg. von der Commissione mista per la storia e la cultura degli ebrei in Italia, Rom 1986, S. 263–277. 183 Robert Jütte, Rotwelsch – die Sprache der Bettler und Gauner, in: Heiner Boehncke/Rolf Johannsmeier (Hg.), Das Buch der Vaganten. Spieler, Huren, Leutbetrüger, Köln 1987, S. 133–143, hier S. 136. 184 »[L]a cognitione che hanno delle lingue & delle lettere Greche, Arabiche, Caldee & Hebraiche. Nelle quali lingue […] hanno scritto li principali Autori della Medicina, & Filosofia naturale, & dell’Astrologia: scienze tutte congiunte alla Medicina.« Siehe Nicolas de Nicolay, Le navigationi et viaggi fatti nella Turchia di Nicolo de Nicolai […] Cameriere, & Geografo ordinario del Re di Francia, Venedig: Ziletti 1580 [Erstmals frz. als Les quatre premiers livres des navigations et peregrinations orientales, Lyon 1568], hier Buch III, Kap. 13, S. 99. Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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das Hebräische.185 Nicht minder wichtig für die Vorstellung vom okkulten Potential des Hebräischen war der Rekurs auf die einschlägige rabbinische Lehrmeinung vom vierfachen Schriftsinn der Heiligen Schrift. In der jüdischen Tradition wird zwischen vier Arten unterschieden, den Text der Heiligen Schrift zu deuten. Im einzelnen sind dies (1) Peshat (einfacher Wortsinn), (2) Remez (allegorischer Sinn), (3) Derash (rabbinisch-homiletische Auslegung) und (4) Sod (Geheimnis, mystische Deutung). Diese Methode wird traditionell mit dem Wort PaRDeS bezeichnet, also dem Akronym, das sich aus den Anfangsbuchstaben der vier hebräischen Worte ergibt. Zwar existierte auch in der christlichen Bibelexegese die Vorstellung von einem vierfachen Schriftsinn. Doch fehlte in der christlichen Tradition ein Äquivalent für die Kategorie eines explizit geheimen Schriftsinns (Sod). Nicht zuletzt hieran machte sich die Faszination zahlreicher christlicher Hebraisten und Kabbalisten für das Judentum fest. So widmete sich bereits Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494), der seinerseits sogar von mehr als vier Schriftsinnen ausging, intensiv der verborgenen Dimension des hebräischen Bibeltexts.186 Unter dem Einfluß seiner Beschäftigung mit der Kabbala griff Pico die Vorstellung auf, daß in den fünf Büchern Mose die gesamte Weisheit – göttlicher oder menschlicher Natur – enthalten sei. Er hob jedoch hervor, daß dieses Wissen in der Anordnung der hebräischen Buchstaben der Heiligen Schrift verborgen sei. Pico plädierte daher für eine Art kombinatorische Exegese, bei der – unter Berücksichtigung entsprechender jüdischer Lehren – die Buchstaben der Heiligen Schrift umgestellt und vertauscht werden sollten. Auf diese Weise sei es möglich, die Geheimnisse aller freien Künste (»secreta omnium liberalium disciplinarium«) zu enthüllen.187 Auch Johannes Reuchlin (1455–1522), der für
185 »Some have hidden their secretes by their maners of writing, as namely by consonants only: so that no man can reade them, without he knowe the signification of the words […] and therefore there is a great concealing with them, but especially with the Iewes«, so (Ps.-)Roger Bacon, The mirror of alchimy, composed by the thrice-famous and learned fryer, Roger Bachon, sometimes fellow of Martin Colledge […] London: Olive 1597, S. 77. Diese Schrift wurde in der Frühen Neuzeit verschiedentlich gedruckt. Zur Autorschaft und Popularität vgl. Hans-Werner Schütt, Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie, München 2000, S. 280–282. 186 Giovanni Pico della Mirandola, Heptaplus, hg. von Eugenio Garin (= Edizione nazionale dei classici del pensiero italiano; Bd. 1), Florenz 1942. Siehe dazu Antonella Ansani, Giovanni Pico Della Mirandola’s Language of Magic, in: Ilana Zinguer (Hg.), L’Hébreu au temps de la Renaissance, Leiden 1992, S. 89–104, sowie jetzt auch Crofton Black, Pico’s ›Heptaplus‹ and Biblical Hermeneutics, Leiden etc. 2006. 187 Pico, Heptaplus, S. 374–376: »Firma est sententia omnium veterum, quam ut indubiam uno ore confirmant, omnium artium, omnis sapientiae et divinae et humanae, integram cognitionem in quinque libris mosaicae legis includi; dissimulatam autem et occultatam in litteris ipsis quibus dictiones legis contextae sunt […]. At, vocabulis resolutis, elementa eadem divulsa si capiamus et iuxta regulas, quas ipsi tradunt, quae de eis conflari dictiones possunt rite coagmentemus, futurum dicunt ut elucescant nobis, si simus capaces occlusae sapientiae, mira de rebus multis
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die Rezeption der Kabbala sowie des rabbinischen Schrifttums in christlichen Kreisen Entscheidendes leistete, vertrat dezidiert die Ansicht vom geheimen Potential der hebräischen Sprache. Die von Pico und Reuchlin geprägten Ideen wurden bald zu einer weitverbreiteten Lehrmeinung.188 Als 1524 der englische, an der Universität Cambridge lehrende Hebraist Robert Wakefield (gest. 1537) ein emphatisches Plädoyer für das Erlernen der hebräischen Sprache veröffentlichte, versäumte er es nicht, seine Leser darauf hinzuweisen, daß die Sprache der Juden ihre eigentlichen Schätze verberge und zur Wahrung ihrer Geheimnisse neige.189 Hebräischkenntnisse waren freilich nicht nur ein wichtiger Schlüssel für den Zugang zur Heiligen Schrift, sondern auch für die Erkundung der heiligen Stätten selbst. Es kann daher nicht verwundern, daß selbst adlige und geistliche Pilger die Dienste von jüdischen (Reise-)Führern in Anspruch nahmen, um insbesondere die Geheimnisse des Heiligen Landes zu erkunden.190 Obwohl seit dem 16. Jahrhundert die Zahl der Christen anstieg, die das Hebräische erlernten, nahm die Vorstellung vom arkanen Potential dieser Sprache keineswegs ab. Noch im späten 18. Jahrhundert stellte die hebräische, biblische Sprache einen zentralen Bezugspunkt dar für die »gesuchte, neue Ästhetik der Dunkelheit und des Geheimnisses«, wie sie sich zum Beispiel bei den Schriftstellern Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder (v. a. in seinen mythenreichen Schriften zum Alten Testament) manifestiert.191 Freilich waren es in dem gesamten hier besprochenen Zeitraum nicht nur Gelehrte, die von der angeblich okkulten Dimension des Hebräischen fasziniert waren. Auch in der Popularkultur findet man dieses Phänomen. Bezeichnend ist die Geschichte einer Gruppe von drei jüdischen Konvertiten aus Padua. In den 1580er Jahren gelang es ihnen, in Venedig im Milieu der Scharlatane – in dem es nicht an Konkurrenten
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sapientissima dogmata, et si in tota hoc fiat lege, tum demum ex elementorum hac quae rite statuatur et positione et nexu erui in lucem omnem doctrinam secretaque omnium liberalium disciplinarium.« Siehe z. B. von Stuckrad, Esoterik, S. 126. Vgl. allgemein auch Ilana Zinguer (Hg.), L’Hébreu au temps de la Renaissance, Leiden 1992. Robert Wakefield, On the Three Languages [Oratio de laudibus et utilitate trium linguarum, London 1524], hg. von Gareth Lloyd Jones, Binghamton 1989, S. 83: »At haec lingua divitias suas dissimulat, et flores dulcesque fructus in sinu habet, non ostentat. Quid plura? In recessu plus retinet unde detineat, quam praefert in fronte unde capiat bracteatisque Alcibiadis Silenis est simillima. Quorum simulacra extrinsecus erant hispido ore, tetro et aspernabili, verum intus plena gemmarum supellectilis rarae et praeciosae.« So schreibt in den 1480er Jahren der Dominikanermönch Felix Fabri über den jüdischen Fremdenführer, den die Reisegesellschaft in Jerusalem engagierte: »quasi occulte ducente nos Judaeo, qui dixit, quod quaedam occulta nobis vellet ostendere.« Fabri, Evagatorium in Terrae Sanctae, Bd. 2, S. 125. Simonis, Kunst des Geheimen, S. 371; sowie allgemein dazu ebd., S. 371–405. Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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fehlte – rasch Fuß zu fassen und Geld zu verdienen, indem sie vor den Augen eines faszinierten Publikums überwiegend hebräisch sprachen.192 Es wäre überdies – wie wir bereits gesehen haben – voreilig anzunehmen, daß die christliche Vorstellung von einer speziellen Expertise der Juden in der Ökonomie des Geheimen ihre Gründe einzig in den Diskursen sowie in der Polemik von Theologen, Kabbalisten und Hebraisten hatte. Vielmehr spielten neben den beschriebenen Anleihen aus der Realität auch vor- und außerchristliche Traditionen in die Vorstellung von der spezifischen Arkankompetenz der Juden hinein. Dies läßt sich am Beispiel der Alchemie veranschaulichen. Bereits spätantike Autoren hatten die Alchemie mit dem Judentum in Verbindung gebracht.193 In dem Maße, in dem seit dem späteren Mittelalter christliche Alchemisten ihre Künste – auch aus Gründen der Legitimierung – auf biblische Figuren wie Adam, Tubal-Kain, Moses und Salomo zurückführten, verbreitete sich die Annahme, daß Juden schlechthin überdurchschnittliche Experten auf diesem Gebiet seien.194 Die Vorstellung, daß die Juden das alchemische Wissen der arabischen Welt nach Europa gebracht hätten, war in diesem Zusammenhang ebenfalls von Bedeutung.195 Manche christlichen Alchemisten nahmen sogar an, daß wahrhafte Meisterschaft in der Alchemie ohne die Beschäftigung mit jüdischen Quellen nicht möglich sei.196 Dies erklärt zum Teil das zunehmende Interesse auf christlicher Seite an der Kabbala. Ganz abwegig waren die Hoffnungen nicht, die christliche Alchemisten mit dem Studium der Kabbala bzw. jener Texte, die unter diesem Etikett kursierten, verbanden. Dies gilt namentlich für die sog. ›praktische Kabbala‹, die einen Zweig der jüdischen Mystik darstellt. Eingehende Untersuchungen zur praktischen Kabbala (und ihrer Schnittmenge mit der Alchemie) sind allerdings 192 Gentilcore, Medical Charlatanism, S. 329. 193 Raphael Patai, The Jewish Alchemists. A History and Source Book, Princeton 1994; Bernard Suler, Lemma Alchemy, in: EJ, Bd. 1, S. 599–603, hier S. 599. 194 Patai, Jewish Alchemists, S. 11; Suler, Lemma Alchemy, in: EJ, S. 599–600; Joshua Trachtenberg, The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Anti-Semitism, Philadelphia 1983 [11943], S. 73–74. Solche Zuschreibungen waren auch in der islamischen Welt verbreitet, vgl. Manfred Ullmann, Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam (= Handbuch der Orientalistik, 1. Abt., Ergänzungsbd. 6, 2), Leiden 1972, S. 187–188. Zu Austauschprozessen zwischen spätantiker und jüdischer Legendenbildung über den Ursprung der Alchemie vgl. Moshe Idel, The Origin of Alchemy According to Zosimos and a Hebrew Parallel, in: Revue des études juives 145 (1986), S. 117–124. 195 Will-Erich Peuckert, Lemma Jude, Jüdin, in: HdA, Bd. 4, Sp. 808–833, hier Sp. 810. 196 Patai, Jewish Alchemists, S. 233. Siehe zu diesem Komplex auch Karl Hoheisl, Christus und der philosophische Stein. Alchemie als über- und nichtchristlicher Heilsweg, in: Christoph Meinel (Hg.), Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 1986, S. 61–84, hier v. a. S. 71; außerdem Suler, Lemma Alchemy, in: EJ, S. 599.
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nach wie vor Desiderata der Forschung.197 Dabei gab es in der Tat jüdische Kabbalisten, wie den berühmten Chayyim Vital, die sich intensiv mit der Praxis der Alchemie und angrenzender Gebiete beschäftigten.198 Vital verfaßte im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts sogar ein erhaltenes handschriftlich Geheimnisbuch in hebräischer Sprache mit dem Titel Kabbala ma’asit ve-Alkimiyya (Praktische Kabbala und Alchemie), in dem er beispielsweise Geheimnisse aus der Magie, Medizin, Technologie, Metallurgie und Chemie vorstellte.199 Doch auch in der ›theoretischen Kabbala‹ (Kabbala iyyunit) lassen sich einige Berührungspunkte und mitunter Affinitäten zur Alchemie finden.200 Es ist zwar sehr fraglich, inwieweit die Mehrheit jener christlichen Naturforscher und Alchemisten, die – wie z. B. Paracelsus – eine Beschäftigung mit der Kabbala für notwendig erachteten oder empfahlen, die Schriften der jüdischen Mystik im einzelnen wirklich kannten.201 Aber allein schon die vage Vorstellung vom Vorhanden- bzw. Verborgensein alchemischen Wissens im kabbalistischen Schrifttum trug bereits dazu bei, daß Juden eine genuine Expertise auf dem Gebiet der Alchemie zugeschrieben wurde. Als einflußreich für die Sprache der Alchemie erwies sich zudem die Vorstellung von den okkulten Qualitäten und dem magischen Potential der hebräischen Sprache. Immerhin schöpfte der alchemische Diskurs wichtige »power words« (Patai) aus dem Hebräischen, darunter nicht zuletzt den ebenso vieldeutig wie abwegig gebrauchten Begriff der Cabbala. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß Grundkenntnisse des Hebräischen für den Alchemisten (und auch für den Magus) ebenso wichtig waren wie das Lateinische für gelehrte Mediziner.202 Die hier erwähnten Faktoren führten zu einer beträchtlichen Konjunktur von alchemischem Schrifttum aus angeblich jüdischer Feder.203 Juden waren gegen den Glauben an solche Legenden nicht gefeit. So kursierte in einigen jüdischen 197 So jüngst auch Idel: »The entire practical Kabbalah, an important branch of the kabbalistic literature, is still only at the extreme margin of modern research […].« Moshe Idel, Vorwort zu: Joshua Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion, Philadelphia 22004, S. ix–xxv, hier S. xvi. 198 Siehe zu Kabbala und Alchemie auch Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science. 199 Die Hs. befindet sich heute in der Moussaieff Collection in Jerusalem. Siehe Gerrit Bos, Hayyim Vital’s »Practical Kabbalah and Alchemy«. A 17th Century Book of Secrets, in: Journal of Jewish Thought and Philosophy 4 (1994), S. 55–112. Siehe auch Patai, Jewish Alchemists, S. 340–364. 200 Gershom Scholem, Alchemie und Kabbala, in: Ders., Judaica IV, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1984, S. 19–128; Arturo Schwarz, Cabbalà e alchimia. Saggi sugli archetipi comuni, Mailand 2004; Patai, Jewish Alchemists, S. 152–169; Coudert, Kabbalistic Messianism, S. 116. 201 Suler, Lemma Alchemy, in: EJ, S. 600. 202 Patai, Jewish Alchemists, S. 11; Ansani, Giovanni Pico Della Mirandola’s Language, S. 95. 203 Ebd., S. 10. Siehe auch Moritz Steinschneider, Pseudo-Juden und zweifelhafte Autoren, in: MGWJ 1 (1893), S. 39–48. Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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Kreisen seit dem Mittelalter die Vorstellung, daß – ausgerechnet – Maimonides eine Abhandlung zur Alchemie verfaßt habe.204 Die Vorstellung von der besonderen Kompetenz von Juden auf dem Gebiet der Arkana hatte also – wie am Beispiel der Alchemie deutlich wird – ihre Wurzeln keineswegs nur in der kirchlichen Judenfeindschaft, sondern konnte sich aus verschiedensten außertheologischen Quellen und Fiktionen speisen, teilweise auch aus solchen auf jüdischer Seite. Zudem darf der in der christlichen Polemik oft geäußerte Vorwurf der exzessiven Geheimhaltung durch die Juden ebenfalls nicht den Blick dafür verstellen, daß die gesamtgesellschaftliche, namentlich die höfisch-obrigkeitliche Nachfrage nach Geheimnissen aller Art sich im Alltag mit einer konkreten und pragmatischen Bereitschaft von Juden treffen konnte, diese zu liefern – davon handelt zu einem guten Teil die vorliegende Studie. Es läßt sich zugespitzt behaupten, daß vermutlich keiner gesellschaftlichen Gruppe mehr Fähigkeiten in der Ökonomie der Geheimnisse zugetraut wurde als den Juden. Zwar darf nicht übersehen werden, daß die Zeitgenossen auch einer zahlenmäßig sehr viel bedeutsameren gesellschaftlichen Gruppe, den Frauen, ein beträchtliches geheimes Wissen zuschrieben.205 Daraus resultierten – wie im Falle der Juden – Chancen und Nischen für weibliche Geheimniskundige. Jedoch war der Inhalt dieses weiblichen ›Geheimwissens‹ – und damit ist ein signifikanter Unterschied zur jüdischen Seite bezeichnet – in beträchtlichem Maße an den mit Geschlechterbildern aufgeladenen Vorgaben und Vorstellungen der männlichen Forscher und Kunden ausgerichtet. Das geheime Wissen von Frauen wurde dort als besonders glaubwürdig angesehen, wo es mit dem geheimnisvollen Körper der Frau in Verbindung gebracht wurde.206 Es fehlte nicht an Frauen in der »Ökonomie des Geheimen«, die eigentlichen ökonomischen Chancen aber hielten sich für die weiblichen Protagonistinnen oft in relativ engen Grenzen. Von der Hebamme über die Kräuterfrau bis zur Wunderheilerin gab es verschiedene Rollen für das weibliche Geschlecht in der Ökonomie des Geheimen. Aus der ihnen in einer patriarchalischen Gesellschaft zugewiesenen niedrigen sozialen Stellung vermochten sich jedoch auch auf diese Weise nur wenige dieser Frauen – wie beispielsweise hochbezahlte Hofhebammen – zu lösen. Jüdischen Geheimniskundigen wurde hingegen – zumindest in der zeitgenössischen Phantasie – eher zugetraut, mittels okkulten Wissens fast alle gesell204 Scholem, Alchemie und Kabbala, S. 28. 205 Katharine Park, Secrets of Women. Gender, Generation, and the Origins of Human Dissection, New York 2006, v. a. S. 82–91. 206 Vornehmlich mit diesem Komplex beschäftigt sich Parks Studie Secrets of Women. Ich danke Frau Professor Katharine Park (Harvard) für ein anregendes Gespräch zu den in ihrer Studie aufgeworfenen Fragen.
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schaftlichen Schranken zu überwinden. Ein eindrückliches Beispiel dafür bietet die Charakterisierung des Protagonisten Iachelino in Ariosts heute kaum noch bekannter Komödie Il negromante (1510/1528).207 Ihre Hauptfigur – der titelgebende Nigromant – ist ein Jude, der sich im Verlauf der Handlung als ein in vornehmer Gesellschaft vielgefragter professore de’ secreti erweist.208 Denn die Liste von Iachelinos Fähigkeiten ist lang und umfaßt beispielsweise die Philosophie, die Alchemie, die Medizin, die Astrologie, die Magie und die Geisterbeschwörung.209 Zudem rühmt sich der jüdische Magus, das Geheimnis der Unsichtbarwerdens zu kennen sowie die Erde beben lassen und Menschen in Tiere verwandeln zu können (I, 3). Am Schauplatz der Komödie, dem Cremona der Renaissance, benötigt er diese Künste jedoch kaum. Die ihm anvertraute Aufgabe ist prosaischer: Er soll in ein Verwirrspiel und Beziehungsdrama, das um unerwiderte Liebe, Impotenz und väterliche Heiratspolitik kreist, mit übernatürlichen Mitteln eingreifen. Iachelino wiederum sucht vor allem auf betrügerische Weise seinen Vorteil, was ihm schließlich zum Verhängnis wird. Am Schluß muß der Nigromant die Stadt Hals über Kopf verlassen. Ariost karikiert in seiner Komödie nicht zuletzt die Naivität all jener vornehmen christlichen Kreise, die es Iachelino bis zu seiner Desavouierung überhaupt erst ermöglichten, mit Betrügereien Geld zu verdienen. In Ariosts Augen ist jedoch der Jude offenkundig bereits durch seine Herkunft für die Rolle des Magus prädestiniert. Daß der aus Spanien vertriebene Iachelino sein Judentum eigentlich leugnet210, ist daher unwesentlich. Der jüdische Magus ist eine von Ariost mit wenig Sympathien und beträchtlichen Vorurteilen gezeichnete Figur. Sie war für die christlichen Zeitgenossen gleichwohl glaubwürdig, wie bereits die wechselvolle Aufführungsgeschichte der Komödie bezeugt, an der Ariost ein Jahrzehnt lang arbeitete. Denn die von Papst Leo X. anläßlich des Karnevals 1520 angeordnete Uraufführung soll vor allem deswegen abgesagt worden sein, weil der Pontifex fürchtete, daß die Figur des Iachelino mit dem päpstlichen jüdischen Leibarzt Bonetto de Latis (Bonet de Lattes; geb. ca. 1450) in Verbindung gebracht werden könnte, der bereits Alexander VI. sowie Julius II. gedient und sich auch als Astro207 Ludovico Ariosto, Il Negromante [1528], in: Tutte le opere di Ludovico Ariosto, hg. von Cesare Segre, 5 Bde., Verona 1974, hier Bd. 4, S. 448–542. 208 Vasoli spricht von Iachelino als einer »figura molto familiare alla società italiana del tempo«. Vgl. Cesare Vasoli, Gli astri e la corte. L’astrologia a Ferrara nell’età ariostesca, in: Ders., La cultura delle corti, Florenz 1980, S. 129–158, S. 129. 209 »Per certo, questa è pur gran confidenzia, / Che mastro Iachelino ha in se medesimo, / Che mal sapendo leggere e mal scrivere, / Faccia professïone [sic] di filosofo, / D’alchimista, di medico, di astrologo, / Di mago, e di scongiurator di spiriti […].« Negromante, II, 1, vv. 526–531. 210 »Or è Giovanni, or Piero; quando fingesi / Greco, quando d’Egitto, quando d’Africa; / Et è, per dire il ver, giudeo d’origine, / Di quei che fur cacciati di Castilia. / Sarebbe lungo a contar quanti nobili, / Quanti plebei, quante donne, quanti uomini / Ha giuntati e rubati […].« Negromante, II, 1, vv. 549–555. Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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loge einen guten Ruf erworben hatte.211 Inwieweit Bonetto de Latis dem Dichter wirklich als Vorbild gedient hat, bedarf weiterer Untersuchungen.212 Ariosts Komödie berührt die Realität zumindest dort, wo sie die Aufstiegschancen schildert, die sich in der Ökonomie des Geheimen für einen Juden boten, der sich – wie Iachelino – mittel- und heimatlos eine berufliche Nische suchen muß und zudem noch nahezu ein Analphabet ist. Dabei spart Ariosts Komödie, wie das Schicksal Iachelinos vor Augen führt, auch die Risiken dieser Berufswahl nicht aus. Von solchen Risiken soll weiter unten noch ausführlicher die Rede sein. Es genügt an dieser Stelle der Hinweis, daß aus der Zuschreibung spezieller Kompetenzen auf dem Gebiet der Arkana für Juden immer auch Gefahren resultieren konnten. Aus obrigkeitlicher Sicht war die Beschäftigung mit der Alchemie zwar nicht per se strafbar. In der Praxis fanden sich aber bei Bedarf rasch Gründe oder Vorwände zum Einschreiten. Namentlich aus der Sicht der Kirche lag bei der Alchemie oftmals eine Nähe zur Magie, zum Betrug oder zur Falschmünzerei in der Luft.213 Das reale oder vermeintliche Wissen von Juden auf dem Gebiet der Alchemie war somit auch Wasser auf die Mühlen derjenigen, die einer Ausweisung der Juden zum Wohle der christlichen Gesellschaft das Wort redeten. So stellte nach der Vertreibung der Juden aus Regensburg ein christlicher Zeitgenosse 1519 mit Genugtuung fest, man habe in den Häusern des ehemals jüdischen Viertels unterirdische Schmelzöfen gefunden, in denen die Juden mit der Alchemie experimentiert hätten (in Wirklichkeit dürfte es sich um herkömmliche Öfen gehandelt haben, die nicht zuletzt zur Herstellung von Mazzen dienten).214 Das Prestige, das Juden in der Alchemie genossen, konnte aber im Extremfall auch zu der abenteuerlichen Theorie führen, daß sich aus dem jüdischen Leib Gold herstellen lasse.215 Erwähnt werden muß auch, daß keineswegs jeder Herrscher und jeder Hof gleichermaßen empfänglich für Geheimnisse von Juden war – zumal, wenn mutmaßlich schwarze Magie im Spiel war. Luther kolporiert mit Schadenfreude die Geschichte eines Juden, der dem Herzog Albrecht von Sachsen (1443–1500) 211 Beatrice Corrigan, Two Renaissance Plays [Il Negromante/Sofonisba], Manchester 1975, Vorwort, S. 7. 212 Zur Biographie von Latis sowie zu seinen astronomischen und astrologischen Schriften siehe bislang v. a. Daniel Goldschmidt, Bonetto de Latis e i suoi scritti latini e italiani, in: Daniel Carpi/ Attilio Milano/Umberto Nahon (Hg.), Scritti in memoria di Enzo Sereni. Saggi sull’ebraismo romano, Jerusalem 1970. Zu Latis als Astrologe siehe auch Robert Bonfil, Rabbis and Jewish Communities in Renaissance Italy, London etc. 1993, S. 78. 213 Nummedal, Alchemy and Authority, S. 150–152; Burkardt, Les secrets de magie, S. 35. 214 »Habuerunt quoque conflatoria subterranea, ubi alchimie operam dederunt«. Zitiert nach Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der Juden in Regensburg 1453–1738, bearb. von Raphael Straus, München 1960, Dok. 1040. 215 Bernhard Karle, Lemma Alchemie, in: HdA, Bd. 1, Sp. 244–254, hier Sp. 254; siehe auch Cecil Roth, Abramo Colorni, geniale inventore mantovano, in: Rassegna mensile di Israel 9 (1934), S. 147–158, hier S. 157.
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angeblich ein Geheimnis zum sog. »Festmachen« – also zum Unverwundbarmachen – anvertraute. Der Jude überreichte zu diesem Zweck »einen knopff […] mit seltzamen characteribus, der solt dienen vor kalt eisen«. Doch der Herzog kam auf den Gedanken, diese Methode am Juden selbst zu erproben und »furet den Juden fur das thor und henget im den knopf an hals, zoch das schwert raus und stach in durchaus«.216 Gefährlich konnte die Situation für jüdische (wie natürlich auch christliche) Geheimniskundige vor allem dann werden, wenn der Vorwurf der Hexerei und Zauberei erhoben wurde, was nicht selten zu einem Inquisitionsprozeß und im schlimmsten Fall auf den Scheiterhaufen führte.217 Ingesamt aber dürften für Juden die beträchtlichen Chancen, die sich in der Ökonomie des Geheimen boten, überwogen haben. Auch hierfür bietet die Alchemie als Geheimwissenschaft par excellence218 und als Kernbereich der frühneuzeitlichen Ökonomie des Geheimen ein anschauliches Beispiel, wie hier skizziert werden soll. Zwar waren Juden gewiß nicht die einzige, aber vermutlich die prominenteste gesellschaftliche (Rand-)Gruppe, für die der Alltag der Alchemie – und insgesamt der Markt der Geheimnisse – eine bemerkenswerte ökonomische Nische bot. Aufgrund ihres kaum institutionalisierten Charakters erwies sich die Alchemie im Unterschied zu den Universitäten – wie die jüngere Forschung verdeutlicht hat – insgesamt für Vertreter aller Schichten, von der Hofdame über den Geistlichen hin zum Abenteurer, als reich an Wirkungsmöglichkeiten.219 Im Venedig des späten 16. Jahrhunderts war es bezeichnenderweise die Alchemie, die einem völlig unbekannten und unbemittelten jungen Zyprioten den Weg zu einer Karriere ebnete, die ihn bis in die höchsten politischen Kreise führen sollte. Gemeint ist der Aufstieg des Marco Bragadino (ca. 1545–1591) zu einem der begehrtesten Alchemisten seiner Zeit. Seine Verpflichtung nach Venedig war eine Staatsaffäre von solchem Ausmaß, daß auf der Reise in die Serenissima aus Furcht vor einer Entführung des Alchemisten Infanteriekompanien und Artillerieeinheiten für den Geleitzug Bragadinos abgestellt wurden.220 Die Ankunft 216 Martin Luther, Tischreden [Nr. 5567], in: Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], Weimar 1883 ff., hier Bd. 5, S. 246. 217 Trachtenberg, Devil and the Jews; R. Po-chia Hsia, The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany, New Haven etc. 1988. 218 Siehe dazu jetzt Bachmann/Hofmeier, Geheimnisse der Alchemie, v. a. S. 9–13. 219 Nummedal, Alchemy and Authority, S. 18. Bruce T. Moran, German Prince-Practitioners. Aspects in the Development of Courtly Science, Technology, and Procedures in the Renaissance, in: Technology and Culture, 22 (1981), S. 253–274, hier S. 273. Zu Frauen und Alchemie jetzt auch Alisha Rankin, Becoming an Expert Practitioner. Court Experimentalism and the Medical Skills of Anna of Saxony (1532–1585), in: Isis 98 (2007), S. 23–53, hier v.a. S. 52. 220 Hatto Kallfelz, Der zyprische Alchimist Marco Bragadin und eine Florentiner Gesandtschaft in Bayern im Jahre 1590, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 31 (1968), S. 475–500, hier S. 480. Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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Bragadinos führte in der Lagunenstadt zu einer solchen Konjunktur der Alchemie, daß bereits nach kurzer Zeit in der ganzen Stadt keine Bücher mehr zu diesem Thema aufzutreiben waren.221 Im Unterschied zu jenem Wissen, das nur den Mitgliedern von Universitäten und Gilden zugänglich war, bot der Kosmos der Alchemie zahlreiche Einstiegschancen. Der Weg zur Alchemie war nicht von Geburt und Herkunft abhängig, den Ausschlag gaben vielmehr Erfahrung, Talent und Glaubwürdigkeit. Die Frage der Herkunft war schon deshalb eher unwesentlich, weil die Praxis der Alchemie erhebliche Spielräume für die »self-construction« des Adepten bot.222 Die Alchemie – und dies läßt sich auf die meisten okkulten Wissenschaften ausdehnen – erlaubte ihren Adepten in der Realität jedenfalls nicht selten, beträchtliche soziale und geographische Schranken zu überwinden.223 Nach Ansicht einiger Historiker fungierte an Höfen wie demjenigen Rudolfs II. in Prag die Alchemie inmitten des Zeitalters der Religionskriege sogar als eine über die Zerwürfnisse der Konfessionen hinausweisende ›Sprache der Mediation‹.224 Der Wissenschaftshistoriker William R. Newman sieht in diesem Sinne einen der wesentlichen Gründe für die Konjunktur der Alchemie im 16. Jahrhundert darin, daß sie einen »natural locus for unorthodox religious speculation at the height of the massive confessional upheaval of early modern Europe« bildete.225 Vor dem Hintergrund der hier beschriebenen Aspekte kann es nicht verwundern, daß die Ökonomie des Geheimen im allgemeinen und die Alchemie im besonderen sich für Juden als attraktiv erwies. Es lassen sich beispielsweise auf dem Gebiet der Alchemie sehr viel mehr Juden nachweisen lassen, als die Forschung bisher angenommen hat. Dies gilt nicht minder für die Magie, von der noch gesondert zu sprechen sein wird. Zwar hat das Phänomen durchreisender Juden, die in ganz Europa Geheimnisse aller Art anboten, unter Historikern bisweilen Erwähnung gefunden. Im Unterschied jedoch zum gegenüber Juden geäußerten Vorwurf der exzessiven Geheim221 In dem Protokoll eines Gesprächs Bragadinos mit den venezianischen Behörden (1589) wird berichtet »che hora alle librarie non si trovava più alcun libro di alchemia et che molti soffiavano et questa potrebbe esser la causa che diversi si impoveririano consumando il suo.« Zitiert nach Ivo Striedinger, Der Goldmacher Marco Bragadino. Archivkundliche Studie zur Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts, München 1928, Dok. 298 (S. 267). 222 Nummedal, Alchemy and Authority, S. 12. 223 Ebd. 224 Pamela H. Smith, Alchemy as a Language of Mediation at the Habsburg Court, in: Isis 85 (1994), S. 1–25; siehe auch Hugh Trevor-Roper, Princes and Artists. Patronage and Ideology at Four Habsburg Courts (1517–1633), London 1976, v. a. S. 99. 225 William R. Newman, From Alchemy to »Chymistry«, in: Katharine Park/Lorraine Daston (Hg.), Early Modern Science (= The Cambridge History of Science, Bd. 3), Cambridge 2006, S. 497–517, hier S. 498.
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haltung ist die reale Praxis des Handels mit Geheimnissen im frühneuzeitlichen Judentum bisher nur unzureichend erforscht. Eine systematische, gar umfassende Studie liegt bisher nicht vor. Freilich ist für den Historiker auch Vorsicht geboten. Denn die Assoziation von Juden mit der Ökonomie des Geheimen war in der Frühen Neuzeit so ausgeprägt, daß auch christlichen Autoren von Secreta-Literatur in den Ruf kommen konnten, Juden zu sein. Dies geschah zum Beispiel dem spätmittelalterlichen Arzt und Philosophen Guglielmo Varignana (gest. 1330), wenngleich nicht zu Lebzeiten. Varignana war Sproß einer angesehenen christlichen Gelehrtenfamilie aus Bologna. 1519 wurden seine Secreta sublimia ad varios curandos morbos erstmals gedruckt und gelangten bald zu großer Popularität. Bezeichnenderweise verbreitete sich daraufhin die Idee, Varignana sei Jude gewesen.226 Varignana ist kein Einzelfall. Sogar Aristoteles geriet in den Ruf, Jude zu sein. Denn der griechische Philosoph galt (fälschlicherweise) seit dem Mittelalter als Autor der überaus populären Schrift Secretum secretorum.227 Es kann angesichts dieser Aristoteles zugeschriebenen Kompetenz auf dem Gebiet der Geheimnisse also nicht gänzlich erstaunen, daß es im Volksglauben Vermutungen über eine jüdische Herkunft des Philosophen gab.228 Nachdem in den bisherigen Ausführungen die methodischen Prämissen für eine Untersuchung der Rolle von Juden in der Ökonomie des Geheimen benannt wurden, wird es die Aufgabe der nächsten Kapitel sein zu zeigen, wie sich solch arkanes Handeln in der Realität gestaltete. Es wäre vermessen zu behaupten, daß das Spektrum der von Juden ausgeübten Aktivitäten in der Ökonomie des Geheimen im Rahmen der vorliegenden Studie in seiner ganzen Breite ausgelotet und umrissen werden kann. Es ist daher sinnvoll, einige Schwerpunkte festzulegen und das ebenso vielseitige wie umfangreiche Material in thematischen Abschnitten vorzustellen. Zuerst soll das Augenmerk der Alchemie gelten, von der hier bereits verschiedentlich die Rede war. Danach werden sich Abschnitte mit den Bereichen Medizin, Spionage, Kryptographie und Technologie beschäftigen. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einem Exkurs zum Handel mit Einhörnern.
226 »[I]tem Guilielmus Varignana, Judaeus quantum apparet, vir magnae eruditionis«, schreibt etwa Hermann Conring in seiner In universam artem medicam introductio (1654). Vgl. Ferguson, Bibliographical Notes, S. 209. 227 Zu dieser Schrift und ihrer Rezeption siehe Gundolf Keil, Lemma Secretum secretorum, in: LexMA, Bd. 7, Sp. 1662–1663; ders., Lemma Secretum secretorum, in: VerfLex, Bd. 8, Sp. 993–1013; außerdem Bachmann/Hofmeier, Geheimnisse der Alchemie, S. 31–32. 228 Trachtenberg, Devil and the Jews, S. 63. Die angebliche ›Arkankompetenz‹ der Juden
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II. Kapitel Facetten der Ökonomie des Geheimen
Alchemie Die Alchemie als historisches Phänomen ist auch heute noch ein Faszinosum. Gleichwohl liegen dieser Faszination nicht selten falsche oder simplifizierende Vorannahmen und Assoziationen zugrunde. Die Alchemie, wie sie sich im frühneuzeitlichen Europa manifestierte, war mehr als nur das Streben nach dem »Stein der Weisen« und nach dem Goldmachen (Transmutation). Keinesfalls läßt sie sich pauschal mit betrügerischen Absichten gleichsetzen, auch wenn es solche zweifellos immer wieder gegeben hat. »Die Alchemie ist keine Naturwissenschaft, wohl aber eine Wissenschaft von der Natur.«1 Als solche wies die Alchemie verschiedene Facetten auf, darunter beispielsweise einen medizinischen Seitenzweig ebenso wie einen mystisch-christologischen. Es ist daher in jüngerer Zeit sogar angeregt worden, von mehreren vormodernen Alchemien anstatt von einer einzigen zu sprechen.2 Wenngleich in der vorliegenden Studie aus Gründen der besseren Lesbarkeit der Singular beibehalten wurde, soll nachstehend versucht werden, auf die verschiedenen Ausprägungen der Alchemie einzugehen und damit der Komplexität eines Phänomens Rechnung zu tragen, dessen Erforschung zumindest aus Sicht der jüdischen Geschichte erst am Anfang steht. Jüdische Alchemisten lassen sich in Mitteleuropa für die gesamte Epoche der Frühen Neuzeit und teilweise bereits im Spätmittelalter nachweisen. Auch existiert vor allem seit der Renaissance ein bemerkenswertes innerjüdisches Schrifttum zur Alchemie. Im vorliegenden Zusammenhang soll das Augenmerk jedoch nicht diesem Textkorpus gelten, da diese Facette des Phänomens ›Juden und Alchemie‹ bisher noch vergleichsweise gut erforscht worden ist.3 Rar sind hingegen 1 2 3
Claus Priesner/Karin Figala, Vorwort, in: LexAlch, S. 9. Tara Nummedal, Alchemy and Authority in the Holy Roman Empire, Chicago etc. 2008, S. 14. Siehe v. a. Raphael Patai, The Jewish Alchemists. A History and Source Book, Princeton 1994; Gershom Scholem, Alchemie und Kabbala, in: Ders., Judaica IV, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1984, S. 19–128. Alchemie
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die Untersuchungen, die sich dem konkreten Wirken sowie den Motiven und Handlungsspielräumen jüdischer Alchemisten im Alltag widmen. Eine Ausnahme bildet – zumindest der Intention nach – die einschlägige Studie des Volkskundlers Raphael Patai, die allerdings inhaltliche Mängel aufweist und nur mit Einschränkungen benützt werden kann.4 Auch galt das Augenmerk Patais vor allem dem sephardischen Judentum. In der Tat lassen sich bei den sephardischen Juden alchemische Interessen schon relativ früh nachweisen. So beschäftigte sich beispielsweise bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts ein jüdischer Arzt und Astrologe namens Menachem (»Magister Menaym Judaeus«) am Hof des aragonesischen Königs Peter IV. (reg. 1336–1387) mit der Alchemie.5 Wenige Jahrzehnte später (1396) erhielt im selben Königreich der Jude Caracosa (Saracosa) Samuel aus Perpignan ein königliches Privileg zur ungehinderten Durchführung seiner alchemischen Experimente im gesamten Territorium. König Johann I. wies die Behörden ausdrücklich an, die alchemischen Unternehmungen des Juden auf keine Weise zu behindern.6 Welche Absichten und Erfolge dieser Caracosa Samuel hatte, ist nicht überliefert. Ein durchreisender Betrüger war er offenbar nicht. Immerhin läßt er sich bereits über ein Vierteljahrhundert vor der Gewährung dieses Privilegs in Perpignan nachweisen, wo er ein hohes Ansehen in jüdischen wie christlichen Kreisen genossen haben muß. So bekleidete er 1367 einen hohen Posten in der örtlichen jüdischen Gemeinde und wurde wenige Jahre später von König Peter IV. nach Barcelona gerufen, um in einer juristischen Frage als Experte Auskunft zu geben.7 Magister Menachem und Caracosa Samuel dürften nicht die einzigen jüdischen Adepten im mittelalterlichen Spanien gewesen sein. Als der König von Aragon 1384 in einem Erlaß drei Christen in der heutigen Stadt Montblanc die Ausübung der Alchemie gestattete, erlaubte er ihnen bezeichnenderweise – je nach Notwendigkeit – mit christlichen ›Kollegen‹ sowie mit Juden und Sarazenen zusammenzuarbeiten.8
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Vgl. die detaillierten und kritischen Rezensionen zu Patais Studie von Gad Freudenthal (in: Isis 86 [1995], S. 318–319) sowie Y. Tzvi Langermann (in: Journal of the American Oriental Society 116 [1996], S. 792–793). Patai, Jewish Alchemists, S. 235. Ders., Sephardic Alchemists, in: Yehuda K. Stillman/Norman A. Stillman (Hg.), From Iberia to Diaspora. Studies in Sephardic History and Culture, Leiden etc. 1999, S. 235–244, hier S. 240. »[…] possis et valeas artem alquimie ubique terrarum nostrarum experiri, et quod de arte ipsa persenseris ad plenum probare per experientiam et liberaliter exercere.« Zitiert nach Documents per l’historia de la cultura catalana mig-eval, bearb. von Antoni Rubió y Lluch, 2 Bde., Barcelona 1908–1921, hier Bd. 2, S. 346 (Dok. 357). Patai, Jewish Alchemists, S. 236; ders., Sephardic Alchemists, S. 240. »cum christianis, judeis aut sarracenis qui cum eis in dictis operibus voluerint interesse«. Zitiert nach Documents per l’historia de la cultura catalana mig-eval, Bd. 1, S. 319 (Dok. 352). Facetten der Ökonomie des Geheimen
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Allerdings darf nicht übersehen werden, daß sich auch für das aschkenasische Judentum – und damit für das Heiligen Römische Reich – bereits in derselben Epoche vergleichbare Beispiele für alchemische Aktivitäten beibringen lassen.9 Inwieweit dieses Phänomen sogar bereits ins Hochmittelalter zurückreicht, bleibt einstweilen schwer zu sagen. Der Chronist Adam von Bremen jedenfalls berichtet um 1060 von einem betrügerischen jüdischen Alchemisten im Umfeld des Erzbischofs Adalbert von Hamburg (ca. 1000–1072). Dieser jüdische Alchemist gab demnach an, seine alchemischen Kenntnisse während einer Reise nach Byzanz erworben zu haben.10 Was die gesicherten Belege betrifft, datiert eines der frühesten und zugleich bemerkenswertesten Zeugnisse in die 1420er Jahre.11 Gemeint ist das für diese Jahre dokumentierte Wirken des Juden Salman (Salomon) Teublein am Hofe des Landgrafen zu Leuchtenberg (in der Nähe Passaus). Obgleich das Territorium des Landgrafen verhältnismäßig klein war, bildete der Hof im frühen 15. Jahrhundert den Schauplatz verschiedener alchemischer Aktivitäten. Vieles spricht dafür, daß die Alchymey teuczsch (1426), eine der ältesten alchemischen Schriften in deutscher Sprache, im Umkreis des landgräflichen Hofes entstanden ist.12 Es ist dieser Codex, der auch entscheidende Indizien für das geheimnisvolle Wirken des Juden Salman Teublein enthält. Eingehend wird dort zunächst beschrieben, daß der Jude sowie seine Frau und sein Gesinde in der Landgrafschaft dieselben Privilegien genossen wie die Juden im benachbarten Regensburg und Straubing. Konkret wurde ihm erlaubt, jüdischen Gottesdienst und Schulunterricht zu halten sowie im Territorium Geld zu verleihen. Doch was sich wie die Beschreibung eines traditionellen Schutzbriefes ausnimmt, wird durch die anschließenden Klauseln auf eine geheimnisvolle Ebene gehoben. Ausdrücklich wird Teublein konzediert, er sei nicht verpflichtet, seine Künste irgend jemandem mitzuteilen. Dagegen müsse er drei seiner besten Kunststücke verraten, wenn er den Dienst des Landgrafen
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Vgl. dazu jetzt auch Gerd Mentgen, Jewish Alchemists in Central Europe in the Later Middle Ages. Some New Sources, in: Aleph 9 (2009), S. 345–352. Manuel Bachmann/Thomas Hofmeier, Geheimnisse der Alchemie, Basel 1999, S. 15. Bereits im 14. Jahrhundert soll der Alchemist Nicolas Flamel von einem Juden eine alchemische Handschrift erhalten haben. Wenngleich es nicht abwegig ist, daß Juden bereits zu dieser Zeit alchemisches Wissen weitergaben, ist dieser Bericht vermutlich ins Reich der Legenden zu verweisen. Siehe Didier Kahn, Lemma Flamel, Nicolas, in: LexAlch, S. 136–138. Die einzige erhaltene Hs. befindet sich in der Universitätsbibliothek Heidelberg [cpg 597]. Zur Handschrift und zum Inhalt vgl. Michael Horchler, Die Alchemie in der deutschen Literatur des Mittelalters. Ein Forschungsbericht über die deutsche alchemistische Fachliteratur des ausgehenden Mittelalters, Baden-Baden 2005, S. 146–150 sowie Gerhard Eis, Alchymey teuczsch, in: Ostbairische Grenzmarken 1 (1957), S. 11–16, hier S. 12. Alchemie
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verlassen wolle.13 Im Gegenzug verpflichtete sich der Landgraf, die ihm solchermaßen anvertrauten Geheimnisse nur an die eigenen Nachkommen weiterzugeben.14 Die detaillierten vertraglichen Regelungen zur Preisgabe und Geheimhaltung von Teubleins ›Künsten‹ verdeutlichen, daß diese Geheimnisse einen Aktivposten des Juden bei seiner Übereinkunft mit dem Landgrafen darstellten. Wenig verrät der Text über den Inhalt von Teubleins Kunststücken. Vieles spricht dafür, daß die nicht genauer benannten Geheimnisse alchemischer oder magischer Natur waren. Immerhin ist die Übereinkunft in einen alchemischen Codex kopiert worden. Es ist vermutet worden, daß sich in dem Bestreben Teubleins, seine Kenntnisse für sich zu behalten, nicht nur der Wunsch äußere, »die Geschäftsgeheimnisse zu wahren, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdiente, sondern auch das sozialethisch fundierte Verantwortungsgefühl, das viele Alchemisten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit erfüllt hat«.15 Der Hinweis auf ein unter Alchemisten nachweisbares Ethos der Geheimhaltung ist zweifellos angebracht. Dieses Ethos erinnert – so ließe sich ergänzen – in gewisser Weise an die innerjüdische Tradition, wonach die Schriften der jüdischen Mystik nur mit großer Gewissenhaftigkeit und nur von männlichen Erwachsenen studiert werden sollten.16 Im konkreten Falle Teubleins dürfte jedoch die Strategie der Geheimhaltung ebenfalls mit der gesellschaftlichen Stellung Teubleins als Jude in Verbindung zu bringen sein. Teublein konnte annehmen, durch die andeutungsvolle Rede von den streng geheimen Kunststücken die landgräfliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Erst unlängst bekannte gewordene Quellen erhärten diese Vermutung. Demnach ist Teublein offenbar identisch mit jenem »Salman von Hals«, der um 1415 in Innsbruck aufgrund seines geheimnisvollen Wissens die Gunst Friedrichs IV. von Tirol genoß. Es war damals nicht zuletzt die Aussicht auf die Preisgabe einer nicht näher benannten arkanen Kunst, mit der Salman den Landesherrn zur Freilassung eines inhaftierten Nürnberger Juden zu bewegen vermochte, nachdem zuvor mehrere Gnadengesuche und Lösegeldangebote der Familie und der jüdischen Gemeinde abgewiesen worden waren.17 In Teubleins Kontakt zu verschiedenen Höfen begegnet somit ein Muster, das sich – wie noch zu zeigen sein wird – bis ins 18. Jahrhundert erhalten sollte. Im Spannungsfeld zwischen christlicher Erwartungshaltung und gesellschaftlicher 13
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»[S]o sol er uns seiner besten kunst drey, die er kann, und die er fur die besten heldet und nennet, oder welch drey wir aller liebste haben wollen, lernen gut und gerecht auf sein gelubde und aide, die er uns dann wurd sweren, das er uns die gantz und gerecht gelernett hett«. Zitiert nach Eis, Alchymey teuczsch, S. 12. »[D]as die kunst newr bey unsern erben und unsern herscheften zum Leuchtenberg und Halls furbas beleibe und nicht verrer kume«. Zitiert nach ebd., S. 12. Ebd. Scholem, Lemma Kabbalah, in: EJ, S. 587, S. 591 Mentgen, Jewish Alchemists, S. 346–347. Facetten der Ökonomie des Geheimen
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Marginalisierung war es par excellence das Anbieten von Geheimnissen, das Kanäle der Kommunikation und des Austausches zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft schuf. Die Geheimnisse, von denen in diesem Zusammenhang die Rede ist, mußten dabei – wie teilweise im Falle Teubleins – weder notwendigerweise offenbart werden noch überhaupt real existieren. Im 15. Jahrhundert können weitere konkrete Zeugnisse für das Wirken von Juden in der Alchemie nachgewiesen werden. Um 1455 war ein Jude namens Michael als Alchemist in den Diensten des Landgrafen von Kassel beschäftigt.18 Zur selben Zeit experimentierte der jüdische Arzt Seligmann im Auftrag des österreichischen Erzherzogs Sigismund über Jahre hinweg mit Verfahren zur Transmutation.19 Wohl ohne adligen Patron und damit ohne Protektion probierte einige Jahre zuvor der ›Schulklopfer‹ (Gemeindediener) der Nürnberger Juden sein Glück mit dem Goldmachen. Er wurde 1440 jedoch ›von gefährlicher Alchymie wegen‹ festgenommen und auf Geheiß der städtischen Obrigkeit ›durch die Stirn gebrannt‹.20 Gleichwohl blieb er offenbar nicht der einzige Adept in den Reihen der Nürnberger Judenschaft.21 Die Aktivitäten jüdischer Alchemisten erweisen sich – wie diese erste Sondierung bereits nahelegt – als geographisch diversifiziert. Eine polyzentrale Infrastruktur für die Aktivitäten christlicher wie jüdischer Alchemisten bildete dabei das europäische Netz der Höfe. Bereits im 13. Jahrhundert soll sich der jüdische Übersetzer und Maimonides-Anhänger Jacob Anatoli (ca. 1194–1256) aus Frankreich im Auftrage Kaiser Friedrichs II. in Neapel nicht zuletzt mit der Alchemie beschäftigt haben.22 In der Frühen Neuzeit wiederum sind Aktivitäten jüdischer Alchemisten an einer Reihe bedeutender Höfen nachzuweisen, darunter Dresden, Stuttgart und vor allem Prag. Namentlich für den Hof Kaiser Rudolfs II. darf die Bedeutung jüdischer Alchemisten nicht unterschätzt werden. Mit Mardochaeus de Nelle bekleidete ein Jude sogar das Amt eines alchemischen Chronisten, der die am Hofe durchgeführten Experimente in Versform festzuhalten hatte.23 Die Historikerin Rotraud Ries hat jüngst zutreffend, wenn auch eher beiläufig festgestellt, daß an frühneuzeitlichen Höfen das Spektrum der Tätigkeiten von Juden vom Hof- und Küchenmeister bis hin zum Kriegsmann und eben auch zum
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GJ, III, 1, S. 605. Mentgen, Jewish Alchemists, S. 348. Vgl. Jos. Baader, Zur Criminaljustiz der Nürnberger, in: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit 9 (1862), Sp. 364–365, hier S. 365. Siehe auch ders., Zur Geschichte der Alchemie oder Goldmacherkunst, in: Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit 10 (1863), Sp. 356–358, hier Sp. 356. Mentgen, Jewish Alchemists, S. 349. Colette Sirat, A History of Jewish Philosophy in the Middle Ages, Cambridge 1990, S. 227–228. Zu Nelle siehe weiter unten ausführlich das Kapitel »Arcana imperii – imperium arcanorum«. Alchemie
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»alchimistischen Berater« reichte.24 Ingesamt weist sie jedoch jüdischen Alchemisten einen »Ausnahmecharakter« innerhalb der jüdischen Berufsstruktur zu.25 Diese Einschätzung ist möglicherweise zu zurückhaltend. Denn immerhin lassen sich Juden als Alchemisten auch abseits von Höfen nachweisen. In der Stadt Hildesheim etwa unterwies in den 1570er Jahren der Jude Aaron Goldschmidt gegen hohe Bezahlung christliche Bürger in der Kunst der Transmutation.26 Goldschmidt wurde schließlich an den benachbarten Hof zu Wolfenbüttel beordert, vermutlich auf Anregung christlicher Untertanen.27 Im unweit entfernten Hannover erlernte der angesehene Minenexperte und Oberbergmeister Lazarus Ercker in denselben Jahren bei einem Juden namens Gottschalck das Geheimnis, wie sich schlechtes Gold zu Dukatenqualität steigern lasse.28 Der in der Frühen Neuzeit viel rezipierte Alchemist Salomon Trismosin gibt in seinem Aureum vellus (erstmals gedruckt 1598/1599) an, als junger Mann in den 1470er Jahren gemeinsam mit einem italienischen Kaufmann und einem deutschsprachigen jüdischen Alchemisten, die zusammen ein unternehmerisches Gespann bildeten, durch Italien gereist zu sein.29 Es wäre voreilig anzunehmen, daß sich im Heiligen Römischen Reich die Beschäftigung mit der (Transmutations-)Alchemie vornehmlich auf verarmte aschkenasische Juden beschränkt habe, die mit dem Stein der Weisen die Hoffnung auf schnellen Reichtum verbanden. Solche Fälle hat es gewiß gegeben. Doch kann umgekehrt nicht übersehen werden, daß die Alchemie beispielsweise auch in den sephardischen Gemeinden auf deutschem Boden beliebt war, also bei einer Gruppe, die innerjüdisch zur ökonomischen Elite zählte. Es waren dabei keineswegs nur sephardische Ärzte, die sich mit solchen Geheimwissenschaften beschäftigten.30 Vielmehr scheute auch der außerordentlich reiche portugiesische
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Rotraud Ries, Juden als herrschaftliche Funktionsträger, in: Werner Paravicini (Hg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe, Bd. 1, Ostfildern 2005, S. 303–307, hier S. 304. Rotraud Ries, Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert, Hannover 1994, S. 382. Ebd., S. 382; der hier genannte Aaron dürfte identisch sein mit dem gleichnamigen Alchemisten, den Nummedal erwähnt. Siehe Nummedal, Alchemy and Authority, S. 235. Albert Rhamm, Die betrüglichen Goldmacher am Hofe des Herzogs Julius von Braunschweig. Nach den Proceßakten dargestellt, Wolfenbüttel 1883, S. 109. In diesem Zusammenhang erklärt sich die Existenz eines von Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel ausgestellten Geleitbriefs [1576] für Aaron Goldschmidt, worin dem Juden das Recht zu beliebig langem Aufenthalt erteilt wird. Das Dokument wird erwähnt bei Ries, Jüdisches Leben in Niedersachsen, S. 165. Nummedal, Alchemy and Authority, S. 102–103. Vgl. die Quelle bei Patai, Jewish Alchemists, S. 269. Zu sephardischen Ärzten und Alchemie siehe Michael Studemund-Halévy, »Es residieren in Hamburg Minister fremder Mächte« – Sefardische Residenten in Hamburg, in: Rotraud Ries/J. Friedrich Battenberg (Hg.), Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 154–176, hier S. 163–164. Facetten der Ökonomie des Geheimen
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Kaufmann Manoel Texeira (1631–1705) nicht davor zurück, für seine Förderin Christina von Schweden, deren Hamburger Resident er war, Kontakte zu einem italienischen Transmutationsalchemisten herzustellen.31 Die schwedische Königin, die von Mystik und vom Okkulten fasziniert war, säumte in der Tat nicht, 1667 bei einem Besuch in Hamburg den von Texeira vermittelten Kontakt aufzunehmen. Texeira lieferte auch Informationen über ein geheimnisvolles Elixier, das vermutlich alchemischer Natur war.32 Man könnte Texeiras arkane Dienste mit den Notwendigkeiten erklären, die aus seinem Patronage- und Abhängigkeitsverhältnis zur schwedischen Königin resultierten. Dies aber greift vermutlich auch in seinem Fall zu kurz. Texeira war jedenfalls nicht der einzige sephardische Jude in Hamburg, der sich auch im Privatleben von der Alchemie handfeste Ergebnisse versprach. Bereits in den 1630er Jahren hatten sich angesehene Hamburger Sepharden emphatisch über das Potential der Alchemie geäußert. Einer von ihnen war Jacob Rosales (ca. 1588–1662), der Resident des spanischen Königs.33 Rosales war ein angesehener Arzt, Astronom und Astrologe. Der in Lissabon geborene Sohn eines Kryptojuden hatte Medizin, Physik, Astronomie und Mathematik studiert. Nach einer Denunziation bei der Inquisition (1624) versteckte er sich für einige Wochen in Rom, wo er in der Umgebung von Galileo lebte. Galileo nannte ihn einen ›bewundernswürdigen Mann und gelehrten Astronomen‹.34 Seit den 1630er Jahren lebte Rosales als Arzt in Hamburg, wo er sich als Leibarzt zahlreicher Aristokraten hohes Ansehen erwarb und von Kaiser Ferdinand III. sogar mit dem sog. Kleinen Palatinat – die Hofpfalzgrafen-Würde, in der Praxis ein Privileg zur Ausübung kaiserlicher Reservatrechte – ausgezeichnet wurde.35 Ob die adligen Patienten auch die alchemische Expertise ihres sephardischen Arztes in Anspruch nahmen, bedarf weiterer Forschungen. Jedenfalls lobte Rosales in seinen Dichtungen verschiedentlich die Alchemie und veröffentlichte auch die erste bisher bekannte Abhandlung über diese Materie in portugiesischer Sprache (Anotaçam crisopeia; zu deutsch also ›Die Kunst, Gold herzustellen‹).36 Noch bekannter wurde das Werk des sephardischen Arztes Binjamin Mussafia (1606–1675), der eigentlich als »Avisenschreiber« (Agent und Berichterstatter)
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Zu Texeira siehe v. a. Michael Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon der Hamburger Sefarden. Die Grabinschriften des Portugiesenfriedhofs an der Königstraße in Hamburg-Altona, Hamburg 2000, S. 791–795. Studemund-Halévy, Sefardische Residenten, S. 163. Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon, S. 232–235. Ebd., S. 233. Ebd., S. 234. Diese Abhandlung findet sich in seinen Anacephaleoses da Monarchia Luzitana (Lissabon 1624). Siehe Studemund-Halévy, Sefardische Residenten, S. 164. Alchemie
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für den Gottorfer Hof seinen Lebensunterhalt verdiente.37 Mussafias Posten war somit Teil der Ökonomie des Geheimen. Avisenschreiber (damals mitunter auch »Zeitungsschreiber« genannt) waren damit beauftragt, von auswärts ihren zumeist höfischen Patronen aktuelle Informationen möglichst zeitnah zukommen zu lassen. Nicht selten wies diese Tätigkeit Berührungspunkte zur Spionage auf. Generell war das gesamte höfische System der Informationsbeschafftung durch sog. »Agenten« von Geheimhaltung geprägt. Die Höfe gaben in aller Regel die Namen ihrer Korrespondenten nicht bekannt, und umgekehrt vermieden es die Avisenschreiber, die eigenen Blätter zu unterzeichnen.38 Mussafia, der offiziell lediglich den Titel »Hofjude« führte, hatte also schon von Berufs wegen mit Geheimnissen zu tun. Er war ein vielseitiger und mehrsprachiger Schriftsteller, der Züge eines Polyhistors trug. Von Hamburg aus korrespondierte Mussafia, der als junger Mann Medizin in Padua studiert hatte, mit christlichen Diplomaten, aber auch mit portugiesischen Gelehrten über Alchemie und Astronomie. 1638 veröffentlichte er seine später wiederholt nachgedruckte Schrift Mezahab Epistola (Hamburg 1638), ein Lob der Alchemie. Darin vertrat er ausführlich die These, daß bereits die Bibel vom alchemischen Wissen der Juden künde.39 Mussafia stützt seine Theorie nicht zuletzt auf die titelgebende biblische Figur des Me-Sahab (Gen 36:39; 1 Chron 1:50), dessen Name wörtlich ›Goldwasser‹ bedeutet. Mussafias Schrift ist heute sehr selten geworden und vor allem durch den auszugsweisen Abdruck in den Jüdischen Merckwürdigkeiten von Johann Jacob Schudt (1714) bekannt.40 Von der beträchtlichen zeitgenössischen Rezeption des Werkes zeugt ferner der umfangreiche Kommentar, der sich in einem von Johann Ludwig Hannemann 1694 in Frankfurt veröffentlichten Traktat findet.41 Bisher war überwiegend vom Judentum im deutschsprachigen und iberischen Raum die Rede. Das Phänomen der jüdischen Alchemisten war jedoch keineswegs nur auf das Judentum auf der iberischen Halbinsel und im Heiligen Römischen Reich beschränkt. Auch für Osteuropa und das osmanische Reich lassen sich Beispiele beibringen, wenngleich der Forschungsbedarf auf diesen Gebiet zweifellos am größten sein dürfte. Ein Jude namens Zacharias, der um 1470 eine jüdisch-christliche Sekte in Nowgorod gründete, soll nicht zuletzt in der Alchemie 37 38 39 40
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Zu seiner Biographie siehe Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon, S. 660–662. Siehe auch Patai, Jewish Alchemists, S. 437–446. Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 83–85. Patai, Jewish Alchemists, S. 437–446; Studemund-Halévy, Sefardische Residenten, S. 164. Ein Jüdischer Brief / Mesahab genannt / von der Alchimie und Kunst Gold zu machen in: Johann Jacob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten […] Was sich Curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahrhunderten mit denen in alle IV. Theile der Welt sonderlich durch Teutschland zerstreuten Juden zugetragen […], Frankfurt am Main/Leipzig 1714 [ND Berlin 1922, 4 Bde.], hier Nr. 11 der Documenta und Schrifften, S. 327–339. Johann Ludwig Hannemann, Ovum hermetico-paracelsico-trismegistum, Frankfurt: Knochii 1694. Facetten der Ökonomie des Geheimen
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versiert gewesen sein.42 In der jüdischen Gemeinde zu Krakau läßt sich Mitte des 16. Jahrhunderts ein jüdischer Alchemist namens Mordechai nachweisen.43 Die nicht selten beträchtliche Mobilität unter frühneuzeitlichen Juden trug zur Verbreitung alchemischen Wissens aus Süd- und Mitteleuropa nach Osteuropa bei. So wirkte der in Kreta aufgewachsene und in Italien ausgebildete, angesehene jüdische Arzt Joseph Salomon Delmedigo (1591–1655) – seines Zeichens ein Adept der Alchemie – über mehrere Jahre hinweg in Polen und Litauen.44 Im osmanischen Reich wiederum sollen die jüdischen Produzenten von Chemikalien und alchemischen Substanzen im 17. Jahrhundert sogar in einer eigenen Zunft organisiert gewesen sein.45 In Damaskus schrieb kurz nach 1600 der bedeutende Kabbalist Chayyim Vital seine bereits weiter oben erwähnte Abhandlung über ›Praktische Kabbala und Alchemie‹ nieder.46 Es ist nicht auszuschließen, daß Alchemie auch im Spiel war, als der von einigen zeitgenössischen Juden als Messias betrachtete Abenteurer David Reuveni in den 1520er Jahren in Ägypten an den Juden Abraham Castro, den mächtigen Inhaber der dortigen Münze, herantrat, um ihm ein Geheimnis (Sod) anzubieten.47 Vor allem aber blühte die Alchemie unter den Juden Italiens. Eine Reihe bedeutender alchemischer Handschriften in hebräischer Sprache aus dem Italien der Frühen Neuzeit bezeugen dies. Der Mantuaner Arzt Abraham Portaleone ließ seine Schrift De auro, die auch alchemische Fragen berührte, sogar drucken (1584).48 Eine systematische Erschließung dieses Korpus fehlt bislang, wenngleich Vorarbeiten
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Moritz Güdemann, Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit, 3 Bde., Wien 1880–1888, hier Bd. 3, S. 156. Skeptisch dazu Scholem, Alchemie und Kabbala, S. 60. M[arcus] Brann, Geschichte der Juden in Schlesien (= Jahres-Bericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung, Heft 5), Breslau 1910, S. 155. Zu seinen alchemischen Interessen siehe Isaac Barzilay, Yoseph Shlomo Delmedigo (Yashar of Candia). His Life, Works and Times, Leiden 1974, S. 261. Mark Wischnitzer, A History of Jewish Crafts and Guilds, New York 1965, S. 135. Vgl. Gerrit Bos, Hayyim Vital’s »Practical Kabbalah and Alchemy«. A 17th Century Book of Secrets, in: Journal of Jewish Thought and Philosophy 4 (1994), S. 55–112. Zur Datierung siehe ebd., S. 56. Die Episode ist in Reuvenis Tagebuch beschrieben: Sippur David ha-Reuveni, hg. von Aaron Zeev Aescoly, Jerusalem 21993, S. 19. Abraham Portaleone, De auro dialogi tres. In quibus non solum de auri in re medica facultate, verum etiam de specifica eius, & cæterarum rerum forma, ac duplici potestate, qua mixtis in omnibus illa operatur, copiose disputatur, Venedig: Porta 1584. Vgl. dazu auch Samuel S. Kottek, Jews between Profane and Sacred Science in Renaissance Italy. The Case of Abraham Portaleone, in: Jürgen Helm/Annette Winkelmann (Hg.), Religious Confessions and the Sciences in the Sixteenth Century, Leiden 2001, S. 108–118; Gianfranco Miletto, Glauben und Wissen im Zeitalter der Reformation. Der salomonische Tempel bei Abraham ben David Portaleone (1542–1612), Berlin etc. 2004, S. 245–259; Patai, Jewish Alchemists, S. 379–380. Alchemie
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vorliegen.49 Das schriftlich aufgezeichnete Wissen dürfte nur einen kleinen Teil des Spektrums alchemischer Aktivitäten unter den Juden Italiens darstellen. Eine Faszination für alchemische Experimente läßt sich jedenfalls im Alltag der italienischen Juden durch die gesamte Frühe Neuzeit hinweg nachweisen.50 Für Italien reichen solche Beispiele bereits in die Mitte des 15. Jahrhunderts zurück, wie der Fall des zu Lebzeiten weit über seine Heimatstadt Cuneo hinaus bekannten jüdischen Arztes Abraham Foa verdeutlicht. Der an verschiedenen Orten im Piemont tätige Arzt behandelte so prominente Patienten wie den Herzog von Mailand und die Markgräfin von Saluzzo, zeitweise stand er auch der lokalen Judenschaft vor.51 Daß Foa wenige Jahre zuvor wegen alchemischer Experimente zu einer Strafe von 60 Gulden verurteilt worden war, erwies sich dabei offenbar nicht als ein Hindernis für den Aufstieg des Arztes.52 Ebenfalls beträchtliches Ansehen in Norditalien und im Alpenraum genoß zur selben Zeit der Jude Perret Symuel, auch er von Beruf Arzt. Perret Symuel galt sogar als Kopf einer Schule von Alchemisten. Nachweisbar jedenfalls ist, daß er sowohl jüdische als auch christliche Vertraute hatte. Seine Spezialität bestand in der angeblichen Herstellung von Silber.53 Am bekanntesten dürfte jedoch das Beispiel Leon Modenas (1571–1648) sein. Der auch unter Christen angesehene venezianische Rabbiner beschäftigte sich nicht nur selbst gelegentlich mit der Alchemie, sondern mußte auch erleben, wie der eigene Sohn Mordechai, ein weitaus eifrigerer Adept, durch das Einatmen giftiger Dämpfe bei einem Experiment ums Leben kam.54 Auch ein Jugendfreund Modenas, der Arzt und spätere römische Rabbiner Abraham di Cammeo, investierte viel Zeit und Geld in die Alchemie.55 Modenas Sohn war keineswegs der einzige jüdische Zeitgenosse, der genug Vertrauen in die Alchemie hatte, um auch hohe Risiken einzugehen. Meistens waren diese Risiken eher finanzieller Natur. So schenkte im Jahre 1569 ein venezianischer Jude einem Alchemisten namens Timolione Vertrauen, der damals mit seinen Versprechungen, Salpeter herzustellen, in der Serenissima Aufsehen erregt hatte. Timolione lieh sich bei dem Juden, den er mit der Aussicht auf baldigen 49 50
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Vgl. Patai, Jewish Alchemists, S. 365–375. Scholem, Alchemie und Kabbala, S. 72; vgl. auch Tocci, der jedoch insgesamt dazu neigt, die Bedeutung des Phänomens zu unterschätzen: Franco Michelini Tocci, Dottrine ›ermetiche‹ tra gli ebrei in Italia fino al Cinquecento, in: Italia judaica (= Atti del I convegno internazionale, 1981), hg. von der Commissione mista per la storia e la cultura degli ebrei in Italia, Rom 1983, S. 287–301. The Jews in Piedmont, bearb. von Renata Segre, 3 Bde., Jerusalem 1986–1990, hier Bd. 1, Dok. 608, 732, 738, 748. Ebd., Dok. 495. Mentgen, Jewish Alchemists, S. 350–351. The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi. Leon Modena’s Life of Judah, hg. von Mark R. Cohen, Princeton 1988, S. 108–109. Vgl. ebd. Modenas Bericht über die gemeinsamen Experimente in den Jahren 1602/1603, S. 102, S. 168. Facetten der Ökonomie des Geheimen
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Reichtum beeindruckt hatte, beträchtliche Geldsummen, die freilich nach dem plötzlichen Verschwinden des Alchemisten nicht wieder auftauchten.56 Auch in Polen sollen jüdische Kaufleute im späten 16. Jahrhundert dem berühmten Alchemisten Michael Sendivogius leichtgläubig vertraut haben.57 Einige Jahrzehnte später berichtet der bereits erwähnte Leon Modena von seinem Onkel Shemaia, einem jüdischer Geldverleiher in der Stadt Modena, der sich von einem christlichen Alchemisten für ein Experiment begeistern ließ, bei dem das vorhandene Kapital erheblich vermehrt werden sollte. Shemaia trug zu diesem Zweck all sein Silber und Gold in einem Raum zusammen und sah der in Aussicht gestellten wundersamen Vermehrung des Edelmetalls entgegen. Doch der Alchemist tötete ihn und raubte das Hab und Gut.58 Hoffnung auf schnellen Reichtum war ebenfalls das Motiv, das den italienischen Juden Abraham Segre aus Savigliano im Piemont zu seinen alchemischen Experimenten veranlaßte. Segre wurde allerdings 1608 in Genua verhaftet, nachdem er Goldmünzen eingeführt hatte, die einen höheren Goldanteil aufwiesen als in der Republik erlaubt. Die Manipulation von Münzen war nicht nur in Genua ein schweres Delikt, zumal sie nur selten wie im Falle Segres zur Wertsteigerung der Zahlungsmittel führte. Die positive Wertentwicklung der Münzen im Falle Segres war vielleicht der Grund dafür, daß die drohende Todesstrafe noch abgewendet werden konnte. Der jüdische Adept konnte die Behörden der Republik überzeugen, daß eine Steigerung des Goldgehalts von Anfang an seine Absicht gewesen sei. Das hierzu notwendige Geheimnis, vermutlich aus dem Bereich der Transmutationsalchemie, sei ihm von einem deutschen Juden enthüllt worden. Die eigentliche »operazione alchimistica« habe er dann in einem Dorf unweit von Genua durchgeführt. Diesen Leichtsinn mußte Segre fortan auf den Galeeren der Republik büßen.59 Das positive Interesse der Republik Genua weckte hingegen einige Jahre später (1629) der Jude Isach Buzalini aus Verona, der schriftlich ein – offenbar alchemisch inspiriertes – Geheimnis anbot, mit dem das Rosten von Waffen verhindert werden sollte.60 Bisher war überwiegend von Aktivitäten und Experimenten von Juden im Zusammenhang mit der Transmutationsalchemie die Rede. Allerdings existierten – wie erwähnt – auch Zweige der Alchemie, die sich nicht mit der Herstellung von 56 57
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Gonzaga/Venedig I, Dok. 85. Der Name des Juden wird in den Quellen nicht genannt. Dies berichtet eine anonyme Vita Sendivogii aus dem späten 16. Jahrhundert. Diese Quelle bei P. G. Maxwell-Stuart, The Occult in Early Modern Europe. A Documentary History, London 1999, S. 213. The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi, hg. von M. Cohen, S. 79. The Jews in Genoa, bearb. von Rossana Urbani und Guido Nathan Zazzu, 2 Bde., Leiden etc. 1999, hier Bd. 1, Dok. 540. Ebd., Dok. 553. Alchemie
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Gold beschäftigten, so etwa die Iatrochemie.61 Außerdem gab es einige Gewerbe, in denen regelmäßig auf alchemisches Wissen zurückgegegriffen wurde, so etwa in der Pulver- und Glasherstellung sowie in der Metallurgie. Auf all diesen drei Feldern waren Juden, wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, in der Frühen Neuzeit in beträchtlichem Maße aktiv und galten teilweise sogar als besonders kompetent. Im Zusammenhang mit solchen Berufen waren freilich auch für Juden Kenntnisse der sog. ›Praktischen Alchemie‹ unverzichtbar. Solche Kenntnisse waren ebenfalls in dem bisher nicht erwähnten Gewerbe der Färberei nützlich, das vor allem unter italienischen Juden vielerorts ausgeübt wurde.62 Für die Färbekunst wurden damals ein »ausgeprägtes chemisches Wissen« sowie alchemische Herstellungsmethoden und -verfahren benötigt.63 In der Tat findet sich in der damaligen Färberliteratur häufig alchemische Fachterminologie.64 Es wäre allerdings ahistorisch, bei der Erforschung solcher Phänomene gewerblicher Anwendung rückblickend von einer ›chemischen Industrie‹ zu sprechen oder für die Frühen Neuzeit gar eine künstliche Unterscheidung zwischen ›Chemie‹ und ›Alchemie‹ zu treffen. Eine solche Kategorisierung entspricht nicht den frühneuzeitlichen Gegebenheiten und Begrifflichkeiten. Alchemie und Chemie können noch im 17. Jahrhundert in der Regel nicht scharf unterschieden werden.65 Ein vorzügliches Beispiel für solche Verflechtungen und für die Rolle von Kenntnissen der (praktischen) Alchemie für Juden in denjenigen Gewerben, die man heute – vorschnell – unter den Begriff der ›chemischen Industrie‹ zusammenfassen könnte, läßt sich aus Venedig anführen. Dort betrieb die jüdische Familie Sarfatti seit den 1630er Jahren für fast 150 Jahre die Herstellung von chemischen Stoffen, und dies teilweise ausdrücklich unter Verwendung alchemischer Rezepte. Der Fall sei an dieser Stelle auch deshalb etwas detaillierter dargestellt, da er die bereits angedeutete und weiter unten (Kapitel IV) noch eingehend auszuführende These veranschaulicht, daß Geheimnisse als ökonomische Aktivposten fungierten und darüber hinaus das wirtschaftspolitische Interesse der Obrigkeit wecken konnten. Im Mai 1630 wandte sich der sephardische Jude Nacaman (Sarfatti) offenbar erstmals in einer Eingabe an die Republik Venedig und bot sein »secretto« an. Er pries vor allem seine Fähigkeiten in der Herstellung gewisser »materie d’Alchimia et industria«.66 Mit dem Begriff Alchemie war in diesem Kontext eher die ›Praktische Alchemie‹ als die Transmutationsalchemie gemeint. Sowohl die Justizbeamten der Republik als auch die Cinque Savi alla Mercanzia kamen nach ihrer 61 62 63 64 65 66
Zu Juden und medizinischen Arkana siehe weiter unten das Kapitel »Medizin«. Vgl. zum Beispiel Güdemann, Geschichte des Erziehungswesens, Bd. 2, S. 69, S. 312–313. Horchler, Alchemie in der deutschen Literatur, S. 278–280. Ebd., S. 279. Vgl. William R. Newman/Lawrence M. Principe, Alchemy vs. Chemistry. The Etymological Origins of a Historiographic Mistake, in: Early Science and Medicine 3 (1998), S. 32–65. Eingabe Nacamans vom 16. Mai 1630, ASV, Senato Terra, filza 315.
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Prüfung der Eingabe bereits knapp einen Monat später zu dem Ergebnis, daß das Vorhaben eines Versuches wert sei (»che fosse degno«).67 Aus dem daraufhin vom Senat gewährten Privileg für Nacaman ist ersichtlich, welche Stoffe konkret hergestellt werden sollten. In erster Linie waren dies Quecksilberverbindungen, darunter Sublimat (Quecksilberchlorid) und das damals als Zinnober bezeichnete Quecksilbersulfid (»fabrica di Solimadi [e] Cinaprij«). Außerdem sollten einige namentlich nicht genauer benannte alchemische Stoffe produziert werden (»simile materie d’Alchimia«).68 Namentlich Sublimat und der (in diesem Fall synthetisch hergestellte) Zinnober waren in dieser Epoche sowohl für gewerbliche als auch für alchemische Zwecke gefragt.69 Nacaman war, wie hervorgehoben werden muß, weder ein Glücksritter noch ein Scharlatan. Vielmehr genoß er in der venezianischen Judenschaft beträchtliches Ansehen. Er läßt sich beispielsweise als Mitglied einer einflußreichen fünfköpfigen Kommission zur Wohnungsvergabe im sog. Ghetto Novissimo nachweisen.70 1665 stieg er sogar zum Vertreter der levantinischen Juden auf (»Massaro della Nazion ebrea levantina«). Als Privatmann konnte Nacaman es sich leisten, in seiner Wohnung kostspielige Dekorationsarbeiten durch angesehene christliche Handwerker durchführen zu lassen.71 Es gibt also wenig Grund zu der Annahme, es habe sich bei den chemischen Unternehmungen um ein esoterisches Experiment gehandelt. Bereits das offizielle Privileg sprach explizit von einer »industria« und ordnete an, daß der Fortschritt des Unternehmens keinesfalls behindert werden dürfe (»che non sia perturbato ne impedito il progresso«).72 In der Tat muß Nacaman schon bald beträchtliche Erfolge erzielt haben. Fast 30 Jahre später ging der sephardische Unternehmer in der Serenissima immer noch seinen oben genannten Aktivitäten nach, wobei seine (al-)chemischen Geheimnisse nach wie vor das Kernstück seines Erfolgs bildeten. Die christliche Obrigkeit sprach bezeichnenderweise über ein Vierteljahrhundert nach der ursprünglichen Gewährung des Privilegs immer noch vom ›Geheimnis‹ des Unternehmers (»secretto che possiede Nacaman Giuda 67 68
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Gutachten der Provveditori alla Iustizia Vecchia sowie der Cinque Savi alla Mercanzia vom 10. Juni 1630, ASV, Senato Terra, filza 315. Privileg des Senats vom 13. Juni 1630, ASV, Senato Terra, filza 315. Zur Geschichte der Privilegierung und eine knappen Skizze der Unternehmensgeschichte bisher lediglich Roberto Berveglieri, Inventori stranieri a Venezia (1474–1788). Importazione di tecnologia e circolazione di tecnici, artigiani, inventori. Repertorio (= Istituto veneto di scienze, lettere ed arti. Memorie, Bd. 58), Venedig 1995, S. 104–111. Karin Figala, Lemma Quecksilber, in: LexAlch, S. 295–300; Claus Priesner, Lemma Zinnober, in: LexAlch, S. 378–379. Donnatella Calabi/Ugo Camerino/Ennio Concina, La città degli ebrei. Il Ghetto di Venezia, architettura e urbanistica, Venedig 1996, S. 57. In diesem Band bleiben die (al-)chemischen Aktivitäten allerdings unerwähnt. Ebd., S. 63. Privileg des Senats vom 13. Juni 1630, ASV, Senato Terra, filza 315. Alchemie
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hebreo Levantino«).73 Obgleich die Herstellung offiziell unter dem Namen eines christlichen Kaufmanns betrieben werden mußte, waren offenbar nur Nacaman und seine Söhne in die Geschäftsgeheimnisse eingeweiht. Dies mag das Mißtrauen der für das Ghetto zuständigen Ufficiali al Cattaver geweckt haben, die dem Unternehmer Ende der 1650er Jahre ohne Begründung die Lizenz ebenso entzogen wie jene Spezialgenehmigung, die es Nacaman erlaubte, mit seiner Familie bei Bedarf Tag und Nacht in den Produktionstätten außerhalb des Ghettos zu wohnen.74 Nacaman, der inzwischen den Namen Gioseffo Sarfatti gebrauchte, legte gegen diese Entscheidung umgehend Widerspruch ein. Er verwies darauf, daß die Herstellung schon aufgrund der benötigten Öfen und Gerätschaften viel Raum in Anspruch nehme.75 Außerdem sei es auch aufgrund des erhöhten Brandrisikos notwendig, die Herstellungsstätten außerhalb des Ghettos zu betreiben.76 Diese Argumente überzeugten den Senat, der die Gültigkeit des Privilegs nochmals ausdrücklich bekräftigte und dessen Laufzeit bei dieser Gelegenheit verlängerte.77 Die Entscheidung, daß Sarfatti auch weiterhin tags- und nachtsüber außerhalb des Ghettos arbeiten dürfe, verdeutlicht die Bedeutung, die man im venezianischen Senat den Geheimnissen Sarfattis zusprach. Denn dieses Privileg wurde damals nur einer kleinen Minderheit der Ghettobewohner zuteil, zumal wenn es sich um die Erlaubnis zum nächtlichen Ausgang handelte.78 Sarfatti konnte also auch nach den Streitigkeiten mit den Ufficiali al Cattaver seine bisherige Tätigkeit weiterführen und behielt zudem sein Gespür für das fortwährende Interesse der venezianischen Oberen an lukrativen Geheimnissen. 1662 wandte er sich mit einer ebenso vagen wie geheimnisvollen Eingabe an den Dogen, in der er eine Geschäftsidee anbot, die eine erhebliche Verbesserung der Finanzen der Republik in Aussicht stellte. Auf nähere Erkundigung der Behörden gab er preis, daß er sich der in ihrem Potential bisher nicht ausgeschöpften venezianischen Bleiindustrie zuwenden wollte. Bei dieser Gelegenheit brachte Sarfatti einen Interessenten ins Gespräch, der bereit sei, für ein auf zehn Jahre ausgelegtes Privileg 22.500 Dukaten, zu bezahlen.79 Die Behörden nahmen daraufhin noch am selben Tag Kontakt zu Sarfatti auf. Schließlich erhielt ein gewisser 73 74
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Privileg des Senats [1660], ASV, Senato Terra, filza 673. Berveglieri, Inventori stranieri, S. 104–105. Über den Argwohn der Ufficiali al Cattaver, daß die Juden sich zu viele oder nicht begründete Privilegien anmaßen, vgl. Brian Pullan, The Jews of Europe and the Inquisition of Venice 1550–1670, Oxford 1983, S. 152. »molto fondo per li fornelli e per le macine [sic]«. Eingabe Sarfattis vom 3. Februar 1660, ASV, Senato Terra, filza 673. »il rischio del fuoco, senza il quale non possono correggersi li ingredienti velenosi«. Ebd. Privileg des Senats vom 13. März 1660, ASV Senato Terra, filza 673. Zu einigen solcher Ausnahmen, vor allem für Ärzte, vgl. Benjamin Ravid, New Light on the Ghetti of Venice, in: Daniel Carpi et al. (Hg.), Shlomo Simonsohn Jubilee Volume. Studies on the History of the Jews in the Middle Ages and Renaissance Period, Tel Aviv 1993, S. 149–176. Berveglieri, Inventori stranieri, S. 106.
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Abram Sarfatti, vermutlich ein Verwandter des Unternehmers, den Zuschlag für dieses Privileg. Darüber hinaus traf Gioseffo Sarfatti Vorkehrungen dafür, daß seine geheimnisvolle Chemikalienproduktion in den Händen der Familie blieb. Noch 1753, also fast ein Jahrhundert später, waren daher Mitglieder der Familie Sarfatti in der ›chemischen Industrie‹ Venedigs aktiv, wobei ihnen nach wie vor ausdrücklich erlaubt war, außerhalb des Ghettos zu wohnen.80 Die Familie versuchte offenbar, mit ihren Unternehmungen auch über das venezianische Territorium hinaus zu expandieren. 1697 errichtete in dem Ort Finale, der damals unter der Herrschaft der Este stand, ein gewisser Abram Scarfatti [sic] eine Herstellungsstätte für Sublimat und eine Reihe weiterer, nicht näher benannter Quecksilberverbindungen (»precipitadi«).81 Es dürfte sich dabei um jenen Abraham aus der venezianischen Sarfatti-Familie handeln, der in den 1660er Jahren in der Bleiindustrie der Serenissima Fuß gefaßt hatte. Womöglich handelte es ebenfalls sich um ein Mitglied der Familie, das 1673 in der Toskana ein Privileg zur Herstellung von Quecksilberverbindungen, darunter auch Sublimat, erhielt.82 Der Nachname des in diesem Zusammenhang in den toskanischen Quellen genannten Unternehmers, Nataniel Zalfaldi, könnte eine verballhornte Form von »Sarfatti« sein. Erwiesen ist dagegen, daß die venezianische Familie Sarfatti ihren chemischen Betrieb um 1700 für einige Jahre nach Triest verlegte.83 Dies veranlaßte die Serenissima zu Anstrengungen, die Familie durch gezielte Anreize zur Rückkehr in die Lagune zu bewegen. Vermutlich seit dieser Zeit wurde die Familie direkt von der Republik beispielsweise mit Salpeter beliefert und erfreute sich nunmehr auch staatlicher Subventionen. Denn die Mitglieder der jüdischen Familie galten nach wie vor als Hüter bedeutsamer Geheimnisse auf dem Gebiet der Herstellung von Chemikalien, die namentlich in der Medizin, für die Goldverarbeitung und vermutlich auch auf militärischem Gebiet unverzichtbar waren.84 Selbst zeitweilige Ungereimtheiten bei der Verwendung der staatlichen Subventionen wirkten sich langfristig nicht negativ aus. Die Geschäfte der Familie Sarfatti florierten bis in die Jahre vor dem Fall der Republik im Jahre 1797. So waren etwa in den 1760er Jahren 28 Öfen für die Herstellung verschiedener Quecksilberverbindungen in Betrieb, und sogar Exporte der Chemikalien nach Genua und ins osmanische Reich wurden vermeldet. In den 1770er Jahren versuchte die Familie darüber 80 81 82 83 84
Ebd. Andrea Balletti, Gli ebrei e gli Estensi, Reggio Emilia 21930 [ND Bologna 1969], S. 165. Lucia Frattarelli Fischer, Vivere fuori dal Ghetto. Ebrei a Pisa e Livorno (secoli XVI–XVIII), Turin 2008, S. 156. Berveglieri, Inventori stranieri, S. 109. So stellt der Magistrato alle Artiglierie 1759 fest: »[I]l segreto di fare il solimato e il precipitato, inserviente il primo a molti usi della medecina, della chirurgia e al lavoro degli orefici, non è comune a tutte le nazioni, ma credesi conosciuto solamente in Olanda e in Turchia«. Zitiert nach ebd., S. 107. Alchemie
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hinaus, zu expandieren und den Verkauf von Weinstein aufzunehmen.85 Was aus der Familie Sarfatti und ihrer Produktion nach dem Fall der Republik Venedig wurde, bedarf weiterer Forschungen. Möglicherweise fielen die Subventionen weg und brachten das Unternehmen in Schieflage. Es sind jedenfalls bislang keine Quellen bekannt geworden, die darauf hindeuten, daß die Familie Sarfatti ihre in zwei Jahrhunderten bewährten Aktivitäten an der Schnittstelle zwischen geheimem Wissen und innovativem Unternehmergeist nach dieser Zeit fortführte.
Medizinische Arkana Die bisher beigebrachten Beispiele aus dem Bereich der Alchemie sprechen dafür, daß die These Raphael Patais zutrifft, wonach die Alchemie im Mittelalter und der Frühen Neuzeit als eine »favorite and high-prestige occupation« von Juden bezeichnet werden kann.86 Aber galt dies nur für die Alchemie und ihre Geheimnisse? Wie wir noch sehen werden, läßt sich Patais These durchaus auf das gesamte Spektrum der Ökonomie des Geheimen ausdehnen. So kann beispielsweise nicht übersehen werden, daß es in der Frühen Neuzeit auch eine ausgeprägte Nachfrage nach medizinischen Geheimnissen von Juden gab. Allgemein gründete sich das Ansehen von Ärzten in dieser Zeit oft auf ihr angebliches Wissen von Arkana.87 Namentlich in der Tradition des Paracelsus hatte sich seit dem Ende des 16. Jahrhunderts eine »pharmazeutische Arkanologie« ausgeformt.88 Bei den Paracelsisten bezeichnete der Begriff arcanum beispielsweise Arzneien (materia medica), die auf (al-)chemischem Weg hergestellt werden (Iatrochemie).89 Paracelsus selbst hatte vom idealen Arzt gefordert: »Mach Arcana/ und richte dieselbigen gegen den kranckheiten [sic]«.90 Bald schon erfuhr der Begriff eine inflationäre Verwendung. Noch im 18. Jahrhundert wurde darüber geklagt, daß »ein jeder seine Artzeneyen für Arcana ausgeben [kann], wenn er nur die Ingredientia und den Modum praeparandi verschweiget«.91 Die allgemeine Vorstellung vom Wert und 85 86 87 88
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Ebd., S. 108–111. Patai, Sephardic Alchemists, S. 244. Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979, S. 132. Joachim Telle, Paracelsus als Alchemiker, in: Heinz Dopsch/Peter F. Kramml (Hg.), Paracelsus und Salzburg, Salzburg 1994, S. 157–172, hier S. 159. Vgl. auch Allen G. Debus, Chemistry, Alchemy and the New Philosophy, 1550–1700. Studies in the History of Science and Medicine, London 1987, Kap. II, v. a. S. 187. Siehe z. B. Horchler, Alchemie in der deutschen Literatur, S. 311. Zitiert nach Telle, Paracelsus als Alchemiker, S. 159. Lemma Arcanum, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon [Zedler], Bd. 2, Sp. 1182–1183, hier Sp. 1182. Facetten der Ökonomie des Geheimen
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Nutzen von Geheimnissen in der Medizin dürfte auch jüdischen Ärzten zunutze gekommen sein, zumal in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft, die Juden eine spezifische Kompetenz in der Ökonomie des Geheimen und speziell der Alchemie zuschrieb. Jüdische Ärzte waren in der Frühen Neuzeit aus der Sicht vieler Christen allgemein vom »Nimbus des Mysteriösen« umgeben.92 »Auf Kräuter und Steine versteht sich der Jude besonders«,93 heißt es noch bei Goethe. Bereits 1509 war in Venedig ein Jude namens Abraham Lunardi auf den Plan getreten, der sich des geheimnisvollen Talentes (ingegno) rühmte, Methoden zur Reinhaltung der Lagune und zur Vorbeugung der Pest ersonnen zu haben.94 Ebenfalls in Venedig verdiente der berühmte Rabbiner Leon Modena in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein Zubrot mit der Unterweisung in medizinischen Arkana sowie dem Verkauf von Amuletten und Rezeptbüchern, in denen medizinische Geheimmittel erhalten waren.95 Der jüdische Arzt Salomo Ashkenazi (ca. 1520–1602), der zu einem der mächtigsten Vertrauten des osmanischen Sultans aufstieg, übermittelte nicht nur verschiedentlich geheime Botschaften nach Italien, sondern führte neben seinen diplomatischen Aktivitäten auch seine ärztliche Tätigkeit fort, bei der Geheimmittel und secreta eine wichtige Rolle spielten.96 Venezianische Kaufleute nahmen bei ihren Reisen in die Levante oft die Dienste von Juden im Balkan in Anspruch und erwarben bei dieser Gelegenheit explizit auch medizinische Geheimnisse und Rezepte. So berichtete etwa ein venezianischer Kaufmann 1567 von einem Juden namens Aaron, der ihn über den Balkan nach Konstantinopel geführt und ihm auf der Strecke eine Reihe von Geheimnissen – darunter solche aus der Kräutermedizin – offenbart habe.97 Auch Johann 92
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Nicoline Hortzitz, Der »Judenarzt«. Historische und sprachliche Untersuchungen zur Diskriminierung eines Berufsstands in der frühen Neuzeit, Heidelberg 1994, S. 20; Robert Jütte, Zur Funktion und sozialen Stellung jüdischer »gelehrter« Ärzte im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Deutschland, in: Rainer Christoph Schwinges (Hg.), Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, Berlin 1996, S. 159–179, hier S. 175. Goethe, Reineke Fuchs (10. Gesang), in: Werke [Hamburger Ausgabe], hg. von Erich Trunz, 14 Bde., München 1998, hier Bd. 2, S. 392. Achille Olivieri, Il medico ebreo nella Venezia del Quattrocento e Cinquecento, in: Gaetano Cozzi (Hg.), Gli ebrei a Venezia (secoli XIV–XVIII). Atti del convegno internazionale organizzato dall’Istituto di storia della società e dello stato veneziano della Fondazione Giorgio Cini, Mailand 1987, S. 449–468, hier S. 456. Am Ende seiner Autobiographie gibt Modena eine Liste von 26 Aktivitäten, mit denen er in seinem Leben Geld verdiente. Darunter sind auch die hier genannten. Siehe The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi, hg. von M. Cohen, S. 162. Cecil Roth/Leah Bornstein-Makovetsky, Lemma Ashkenazi, Solomon, in: EJ, Bd. 2, S. 577–578; Benjamin Arbel, Trading Nations. Jews and Venetians in the Early Modern Eastern Mediterranean, Leiden etc. 1995, S. 78–86. Olivieri, Il medico ebreo, S. 450–452. Medizinische Arkana
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Jacob Schudt erwähnte später einen jüdischen Arzt, der »sich berühmt/daß er ein sonderlich Arcanum wieder [sic] die Pest habe/auch solches einem Edelmann theuer verkaufft«.98 An die Arkankompetenz jüdischer Ärzte und Heiler wurden hohe Erwartungen und mitunter sogar die letzten Hoffnungen geknüpft. So engagierte die berühmte Kaufmannsfamilie Fugger in den 1590er Jahren einen jüdischen Heiler aus der Nähe von Augsburg, nachdem zuvor eine Reihe von christlichen Ärzten an der Behandlung eines rätselhaften Krankheitsfalls in der Familie gescheitert waren. Der Familienpatriarch Hans Fugger zeigte sich zufrieden mit dem Therapieansatz des Juden, in dem Geheimnisse augenscheinlich eine gewichtige Rolle spielten: Die vom jüdischen Heiler verabreichten Arzneizutaten waren, so viel verraten die ansonsten schweigsamen Quellen, nicht in den damaligen Apotheken zu beziehen.99 Die Geheimnisse jüdischer Ärzte fanden verschiedentlich Eingang in die SecretaLiteratur, darunter auch in ungedruckte »Kunstbüchlein« (um hier den deutschen Terminus zu verwenden). So enthält beispielsweise ein umfangreiches, Manuskript gebliebenes Libro di Segreti d’arti diverse aus dem 16. Jahrhundert, das heute in der Marciana in Venedig aufbewahrt wird, ausdrücklich auch einige Rezepte, die jüdischen Ärzten zugeschrieben wurden.100 Außer medizinischen Secreta findet sich darunter etwa ein Geheimnis zur Herstellung weißer Seife (aus schwarzer).101 In der Tat zählten raffinierte Salben und Kosmetik zu den secreta, deren Herstellung in frühneuzeitlichen »Kunstbüchlein« tradiert wurde. Auf diesem Gebiet wurde traditionell Frauen Expertise zugeschrieben. Es kann also nicht verwundern, daß sich nicht zuletzt für jüdische Frauen in diesem Teil der Ökonomie des Geheimen durchaus ein Betätigungsfeld bot. Es war beispielsweise eine römische Jüdin namens Anna, die um 1500 namentlich Gesichtssalben und Kosmetik an Caterina Sforza lieferte.102 In der Toskana lassen sich Juden als Händler und Produzenten von Kosmetika und Parfum ebenfalls im 16. Jahrhundert nachweisen.103 Im Herzogtum Mantua wiederum war es 1590 ein Jude namens Manuele Ongaro, 98 Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten, VI. Buch, Kap. 23., S. 389. 99 Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594. Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv, bearb. von Christl Karnehm, 3 Bde., München 2003, Bd. II/2, Dok. 3211; 3226; 3236. 100 Biblioteca Nazionale Marciana, It., III. 10 [Ms. 5003]. Siehe auch eine kurze Beschreibung dieser Hs. im Catalogo dei codici Marciani italiani, hg. von Carlo Frati und A. Segarizzi, Modena 1909, Bd. 1, S. 312–313. 101 Biblioteca Nazionale Marciana, It., III. 10 [Ms. 5003], fol. 29r; 30r; 73v–75r. 102 Jacob R. Marcus, The Jew in the Medieval World. A Source Book 315–1791, Cleveland 21961, S. 399– 400. 103 Bernard Dov Cooperman, Trade and Settlement. The Establishment and Early Development of the Jewish Communities in Leghorn and Pisa (1591–1626), Ph.D. thesis Harvard University 1976 [unveröffentlicht], S. 163; Cecil Roth, The Jews in the Renaissance, Philadelphia 1959, S. 48–49; siehe jetzt auch Siegmund, The Medici State, S. 230.
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der kostbare, mit Moschus und Amber angereicherte Salben einführte. Er erhielt von den Gonzaga ein exklusives Privileg für die Herstellung und den Verkauf dieser Produkte.104 In Imola stellte ein Jude namens Gioseffo in den 1570er Jahren verschiedene Aphrodisiaka her, die sich – obgleich recht unappetitliche Zutaten im Spiel waren – bei christlichen Kunden großer Beliebtheit erfreuten und sogar von Klerikern nachgefragt wurden.105 Wie wir bereits gesehen haben, boten jüdische Ärzte und Heilkundige keineswegs lediglich medizinische Geheimnisse feil. Überhaupt ist es sinnvoll, sich das Spektrum der Interessen und Dienste jüdischer Ärzte in dieser Zeit als ausgesprochen breit vorzustellen. So schlossen sich Geldverleih und Medizin mitnichten aus.106 Der Historiker David Ruderman hat vor Augen geführt, daß zudem die Beschäftigung mit der jüdischen Mystik unter jüdischen Ärzten in der Vormoderne weitaus verbreiteter war als vielfach angenommen.107 Doch reichte die Beschäftigung mit Arkana und Okkultem oft über die Faszination für die Kabbala hinaus. Es stellt sich mithin die Frage, ob das in der jüdischen Geschichtsschreibung und speziell Wissenschaftsgeschichte mitunter anzutreffende Narrativ von der jüdischen Ärzteschaft als rationaler, akademisch ausgebildeter Elite nicht in mancher Hinsicht überzogen ist. Dieses Narrativ ist jedenfalls ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts. Der Komplexität der Stellung und der Aktivitäten vieler jüdischer Ärzte in der Frühen Neuzeit entspricht es nicht.108 So verdiente zum Beispiel der jüdische Arzt Israel Conegliano im Venedig des späten 17. Jahrhunderts einen beträchtlichen Teil seines Lebensunterhalts damit, »libri curiosi« – womit, wie sich herausstellte, vor
104 Das Privileg spricht von »l’arte di fabbricare le paste di muschio, et ambra«. Ich zitiere nach der Abbildung des herzoglichen Mandats bei Daniela Ferrari, La cancelleria gonzaghesca tra Cinque e Seicento. Carriere e strategie parentali dei duchi, in: Raffaella Morselli (Hg.), Gonzaga. La celeste galeria, Mailand 2002, Bd. 1, S. 297–318, hier S. 310 Ongaro arrangierte auch Lieferungen von Bedarfs- und Luxusartikeln an den Mantuaner Hof. Vgl. Gonzaga/Elenco dei beni, Nrn. 1827; 1830; 1882; 2581; sowie Gonzaga/Florenz, Dok. 353. 105 Ariel Toaff, Il prestigiatore di Dio. Avventure e miracoli di un alchimista ebreo nelle corti del Rinascimento, Mailand 2010, S. 38–39. 106 Wolfgang Treue, »Verehrt und angespien«. Zur Geschichte jüdischer Ärzte in Aschkenas von den Anfängen bis zur Akademisierung, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 21 (2002), S. 139–203, hier S. 179. 107 David B. Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science. The Cultural Universe of a Sixteenth-Century Jewish Physician, Cambridge/Mass. etc. 1988.; für das 18. Jahrhundert und den deutschsprachigen Raum jetzt auch Nimrod Zinger, »Who Knows What the Cause is?«. »Natural« and »Unnatural« Causes for Illness in the Writings of Ba’alei Shem, Doctors and Patients Among German Jews in the Eighteenth Century, in: Maria Diemling/Giuseppe Veltri (Hg.), The Jewish Body. Corporeality, Society, and Identity in the Renaissance and Early Modern Period, Leiden etc. 2009, S. 127–155. 108 Siehe dazu auch Wolfgang Treue, Zur Geschichte jüdischer Ärzte. Medizinische Arkana
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allem magische Werke gemeint waren – an Kunden in ganz Europa zu liefern.109 Leonardo Fioravanti, ein bereits erwähnter namhafter christlicher professore de’ secreti des 16. Jahrhunderts, pries wiederum einen jüdischen Arzt namens Davide Calonimos in Venedig, der sich als Sammler von Geheimnissen verschiedenster Art hervorgetan hatte. Es ist nicht genau bekannt, welche Geheimnisse Fioravanti von seinem jüdischen Freund (»cordialissimo amico«) erhielt. Calonimos jedenfalls soll von ›vielen Geheimnissen‹ gewußt haben.110 Auch in der Astrologie traten jüdische Ärzte (ebenso wie übrigens Rabbiner) nicht nur in der Theorie, sondern ebenfalls in der Praxis auf den Plan.111 Sie konnten sich dabei auf ein reiches innerjüdisches Schrifttum stützen.112 Die astrologische Expertise des jüdischen Arztes Marco Challo wurde im frühen 16. Jahrhundert von hohen Vertretern des venezianischen Staates in Anspruch genommen, darunter nicht zuletzt vom Dogen.113 In Neapel wirkte zur selben Zeit der Arzt Leon Abravanel, dessen Fähigkeiten sich jedoch nicht darauf beschränkten, Aussagen über die Zukunft zu treffen. Vielmehr bot er den Venezianern im Jahr 1500 auch an, in Konstantinopel durch Kontakte zum Astrologen des Sultans sensible Informationen zu beschaffen.114 Daß jüdische Ärzte sich ebenfalls intensiv mit der Alchemie beschäftigten, ist weiter oben bereits ausgeführt worden. Eine ausführliche Betrachtung verdient schließlich eine im Zusammenhang mit jüdischen Ärzten ebenfalls dokumentierte geheime Aktivität, die jedoch weder magischer noch alchemischer Natur war. Die Rede ist von der Herstellung und dem Verkauf von Giften und Antidoten. Mit dieser Thematik ist eine für den Historiker brisante Materie angesprochen. Es sei schon an dieser Stelle in aller Ausdrücklichkeit bemerkt, daß es absurd wäre, das hier ausgebreitete Material in eine wie auch immer geartete Verbindung mit dem auf christlicher Seite erhobenen Vorwurf der Brunnenvergiftung115 zu brin109 Federico Barbierato, Nella stanza dei circoli. Clavicula Salomonis e libri di magia a Venezia nei secoli XVII e XVIII, Mailand 2002, S. 176. 110 Schriftliche Mitteilung von William Eamon an den Verf., 23. Februar 2009. 111 Zu jüdischen Ärzten als Astrologen siehe allgemein Harry Friedenwald, Jewish Luminaries in Medical History (and a Catalogue of Works Bearing on the Subject of the Jews and Medicine from the Private Library of Harry Friedenwald), Baltimore 1944, S. 11–12. Zu Rabbinern als Astrologen vgl. Robert Bonfil, Rabbis and Jewish Communities in Renaissance Italy, London etc. 1993, S. 78, 112 Zu Astrologie im Judentum vgl. v. a. Reimund Leicht, Astrologumena Judaica. Untersuchungen zur Geschichte der astrologischen Literatur der Juden, Tübingen 2006. Siehe auch Joshua Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion, New York 1939, Kap. 16. 113 Luigi Arnaldo Schiavi, Gli ebrei in Venezia e nelle sue colonie. Appunti storici su documenti editi ed inediti, in: Nuova antologia, ser. III, 47 (1893), S. 485–519, hier S. 504. 114 Paolo Preto, I servizi segreti di Venezia, Mailand 1994, S. 484. 115 Dazu v. a. Joshua Trachtenberg, The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Anti-Semitism, Philadelphia 1983 [11943], Kap. 7.
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gen. Eine solche Verknüpfung ist schon deswegen abwegig, weil chronologisch gesehen nicht zuerst die jüdischen Giftmischer und -händler in Europa auftraten, sondern der christliche Vorwurf der Brunnenvergiftung. Dem Autor ist bisher nicht ein einziger glaubwürdiger Fall eines jüdischen Handels mit Giften vor 1400 bekannt geworden. Auch ist generell Vorsicht gegenüber jenen Quellen geboten, in denen Juden losgelöst vom Brunnenvergiftungsvorwurf der Giftmischerei beschuldigt werden.116 Brunnenvergiftungen waren ein Phantasma der christlichen Judenfeindschaft. Allgemein hatte der Vorwurf der jüdischen Giftmischerei auf christlicher Seite oft weniger mit konkreter Angst als vielmehr mit gezielter Diffamierung zu tun. In jüngerer Zeit ist darauf hingewiesen worden, daß sogar in den Pestjahren des 14. Jahrhunderts der Vorwurf der Brunnenvergiftung eher selten Auslöser für ›spontane‹ Massaker an den örtlichen Juden war, sondern vielmehr gezielt von der Obrigkeit vorbereitete Pogrome legitimierte.117 Der Giftvorwurf selbst war dabei kein Produkt der Pestjahre mitsamt ihren Ängsten, sondern findet sich bereits im 12. Jahrhundert (wobei sich das Spektrum angeblicher jüdischer Giftanschläge nicht nur auf Brunnen beschränkte).118 In dem Maße, in dem sich die Vorstellung von den Juden als Brunnenvergiftern, zumal nach den verheerenden Pestwellen des 14. Jahrhunderts, in der kollektiven Imagination ausbreitete, kam es jedoch offenbar auch zu einer gezielt Juden geltenden Nachfrage nach Giften. Es kann nicht übersehen werden, daß mit dem Eintritt einer solchen Situation mancher jüdische Arzt und Naturkundige tatsächlich bereit war, entsprechende Dienste zu leisten. Dabei gilt es für den Historiker zu beachten, daß nicht überall, wo in den Quellen von Giften die Rede ist, auch automatisch eine kriminelle Absicht vorlag. Begriffe wie »venenum« konnten beispielsweise durchaus auch Abtreibungsmittel bezeichnen. Schließlich bleibt anzumerken: Wo Gifte ins Spiel kommen, sind meist auch Gegengifte nicht weit. In der Tat werden wir weiter unten noch sehen, daß eine Reihe von prominenten jüdischen Ärzten der Frühen Neuzeit sich zu jenem Wirkstoff äußerten, der vielen Zeitgenossen als unübertroffenes Antidot galt. Gemeint ist das sagenumwobene Einhorn.119
116 Vgl. das unglaubwürdige Urteil gegen einen Juden namens Mosse [sic], der 1474 in Regensburg als Giftmischer verbrannt wurde, da »er etlich person [in Regensburg] boese gift zu machen gelert und darumb gelt genommen hab, und hab auch solliche ding darzu dienende aus appertecken [Apotheken] begert«. Zitiert nach Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der Juden in Regensburg 1453–1738, bearb. von Raphael Straus, München 1960, Dok. 140. 117 Iris Ritzmann, Judenmord als Folge des »Schwarzen Todes«. Ein medizinhistorischer Mythos?, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 17 (1998), S. 101–130. 118 Trachtenberg, Devil and the Jews, S. 97; Ritzmann, Judenmord, S. 109. 119 Siehe dazu den abschließenden Exkurs in diesem Kapitel. Medizinische Arkana
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Dort, wo also ein jüdischer Handel mit Giften in den Quellen begegnet, ist er von der christlichen Nachfrage nicht zu trennen. Eine solche Nachfragesituation stellte sich in Italien und speziell in der Republik Venedig in der Frühen Neuzeit ein. Denn namentlich die venezianische Obrigkeit scheute – wie bereits den Zeitgenossen bekannt war – nicht vor der Ermordung von politischen Gegnern oder von Verrätern durch Gift zurück.120 Die Ausführung solcher Anschläge ist für Venedig bereits für das 15. Jahrhundert nachweisbar. Diese Praxis dürfte im 16. Jahrhundert noch eine verstärkte Legitimation (und damit Ausweitung) durch die sich ausformende Theorie der Staatsarkana erfahren haben, die der Obrigkeit – zumal bei staatsbedrohlichen Gefahren – geheime und nicht selten moralisch verwerfliche Mittel des Handelns in die Hand gab. Bereits 1450 wurde dem venezianischen Rat der Zehn ein Jude empfohlen, der sich mit Giften auskenne (»qui dicitur doctissimus in hac scientia venenosa«).121 Allein im Zeitraum von 1450 bis 1474 ordnete der Rat der Zehn insgesamt zehn Giftanschläge an, darunter mehrfach auf Francesco Sforza in Mailand und den osmanischen Sultan Mehmet II. Unter den beauftragten Attentätern finden sich neben verschiedenen Italienern, einem Kroaten, einem Polen, einem Katalanen und einem Mönch auch zwei Juden.122 Im Jahr 1471 bot der zum Islam konvertierte italienische Jude Jacopo da Gaeta (Ya’qūb Pasha) – seines Zeichens Leibarzt des Sultans Mehmet II. – den Venezianern an, den im christlichen Europa verhaßten Eroberer Konstantinopels mit Gift zu töten. Als Lohn veranlangte er von den Venezianern eine hohe Einmalzahlung, eine Steuerbefreiung sowie das venezianische Bürgerrecht. Wie ernst es dem Arzt mit diesem Angebot war, ist umstritten (die Pläne wurden nie ausgeführt).123 Für die venezianische Seite jedenfalls war er glaubwürdig.124 Einige Jahre später (um 1475) bot der jüdische Geldverleiher Salomon aus Piove der Republik Venedig an, einen jüdischen Arzt namens Valchus 120 Zur Verbreitung von Giftmorden unter den Herrschern Italiens in der Renaissance siehe Louis Lewin, Die Gifte in der Weltgeschichte. Toxikologische allgemeinverständliche Untersuchungen der historischen Quellen, Hildesheim 31984 [11920], S. 288–324, hier speziell zu Venedig: S. 322–324; zu Venedig als »patria dei veleni« siehe auch Preto, Servizi segreti, S. 361–374. 121 Preto, Servizi segreti, S. 364. 122 Vladimir Ivanovič Lamanskij, Secrets d’état de Venise. Documents, extraits, notices et études servant à éclaircir les rapports de la Seigneurie avec les Grecs, les Slaves et la Porte ottomane, à la fin du XVe et au XVIe siècle (= Zapiski Istoriko-filologicheskago fakul’teta Imperatorskago S.Peterburgskago universiteta, Bd. 12), Sankt Petersburg 1884, S. 818. 123 Bernard Lewis, The Privilege Granted by Mehmed II to His Physician, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 14 (1952), S. 550–563, hier S. 563; Franz Babinger, Ja’qûb-Pascha, ein Leibarzt Mehmed’s II. Leben und Schicksale des Maestro Jacopo aus Gaeta, in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen zur Geschichte Südosteuropas und der Levante, Bd. 2, München 1966, S. 240–262; Preto, Servizi segreti, S. 308; Gentilcore, Medical Charlatanism, S. 297. 124 Siehe die Edition der venezianischen Dokumente bei Babinger, Ja’qûb-Pascha.
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(»magister valchus«) nach Konstantinopel zu schicken, um Sultan Mehmet II. mit Gift zu töten. Als der Initiator Salomon überraschend selbst starb, griff sein Sohn Salomoncinus das Vorhaben auf. Salomoncinus forderte im Gegenzug für die Durchführung des Anschlags von Venedig für sich und seine Nachkommen die Erlaubnis, in der Lagune freien Handel treiben und fünf Banken errichten zu dürfen.125 Weshalb das Projekt scheiterte, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Zwar gelangte der mit dem Anschlag betraute Arzt Valchus tatsächlich bis an den osmanischen Hof, der ohnehin sieche Sultan starb allerdings erst vier Jahre später (1481).126 Zur Ausführung kam hingegen 1545 im Auftrag der Serenissima ein Giftmord, in den ein namentlich nicht genannter »medico Giudeo« verwickelt war. Geheimhaltung hatte höchste Priorität bei diesem Anschlag, und so ordnete der Rat der Zehn ausdrücklich an, daß der Name des jüdischen Giftkundigen geheim bleibe. Die Quellen sprechen daher andeutungsvoll lediglich von einer Person, der man vertrauen könne (»una persona, a chi si può prestar fede«).127 Ebenfalls nur Spärliches ist über das Vorhaben eines Juden namens Zacuti bekannt, der den Venezianern 1654 versprach, einen Verräter in Konstantinopel durch Gift aus dem Weg zu schaffen.128 Ohne konkreten Anlaß und jedenfalls unaufgefordert hatte bereits Abramo Colorni in den späten 1590er Jahren den venezianischen Behörden sowie dem Herzog von Modena einen ebenso martialischen wie riskanten Vorschlag unterbreitet. Er stellte die Lieferung von auf giftigen Substanzen basierenden Waffen (und einem entsprechenden Antidot) in Aussicht, mit denen man große Menschenmengen – darunter, ausgerechnet, auch die versammelte Schar von Gläubigen in einer Kirche – auf einmal töten könne.129
125 Lamanskij, Secrets d’état de Venise, Dok. 20; David Jacoby, Un agent juif au service de Venise. David Mavrogonato de Candie, in: Thesaurismata 9 (1972), S. 68–96, hier S. 75; Babinger, Ja’qûbPascha, S. 254–258; Preto, Servizi segreti, S. 308. 126 Babinger, Ja’qûb-Pascha, S. 254. 127 Lamanskij, Secrets d’état de Venise, Dok. 44. 128 Ivana Burdelez, The Role of Ragusan Jews in the History of the Mediterranean Countries, in: Alisa Meyuhas Ginio (Hg.), Jews, Christians, and Muslims in the Mediterranean World after 1492, London etc. 1992, S. 190–197, hier S. 194. 129 Memoriale di Abraam Colorni [undatiert, für Cesare d’Este], ASMo, ASE, Ingegneri, b. 2. Diese Eingabe ist unveröffentlicht. Siehe zu diesem Vorhaben außerdem ein undatiertes Schreiben Abramo Colornis an Cesare d’Este sowie ein undatiertes Memoriale Colornis für die Republik Venedig, abgedruckt bei J-1891, S. 48–49. Was genau Colorni im vorliegenden Fall beabsichtigte, läßt sich nicht mit absoluter Gewißheit sagen. Vermutlich schwebte ihm die Produktion von Waffen vor, die giftige Dämpfe verströmen sollten. Colorni war nicht der einzige Zeitgenosse, der sich mit solchen Waffen befaßte: Bereits Leonardo da Vinci beschäftigte sich mit solchen Ideen. Im 16. und 17. Jahrhundert galten zu diesem Zweck vor allem Quecksilber- und Arsendampf als tauglich, siehe Lewin, Gifte in der Weltgeschichte, S. 93–96. Ebd. auch zu mit Gift imprägnierten Waffen, S. 571–574. Medizinische Arkana
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Auch unabhängig von konkreten Anschlagsplänen war in Venedig die angebliche Expertise von Juden auf dem Gebiet der Giftherstellung offenbar gefragt. 1601 wurde der Konvertit Domenico Gerosolimitano aus Mantua von den Behörden in die Lagunenstadt gerufen, um ein hebräisches Buch über Gifte vorzustellen.130 Vielleicht hing die Vorstellung von einer speziellen Expertise der Juden auf diesem Gebiet ebenfalls damit zusammen, daß bereits in der Bibel verschiedentlich Gifte erwähnt werden und in der Heiligen Schrift ebenso wie im späteren jüdischen Schrifttum eine differenzierte Terminologie für die Bezeichnung von Giften existiert.131 Auch die weitreichenden Handelskontakte von Juden weckten Assoziationen. Denn bereits im Spätmittelalter war die Ansicht verbreitet, daß die gefährlichsten Gifte in fernen Ländern hergestellt würden. Namentlich jüdische Händler und Reisende konnten vor diesem Hintergrund leicht zur Zielscheibe von Vorwürfen und Verdächtigungen werden.132 Dabei bedurfte es nicht einmal einer regelmäßigen Reisetätigkeit, um Opfer einer Denunziation zu werden. So wurde zu Straßburg im Pestjahr 1348 der Vorwurf erhoben, daß eine gewisse ›Frau Guothild, die Jüdin, über das Meer fuhr und einen Laden voller Gift mit sich brachte‹.133 Schließlich dürfte nicht zuletzt die Vertrautheit von Juden mit der Wissenschaft der arabischen Welt Grund zu der Annahme gegeben haben, daß Juden auf dem Gebiet der Theorie der Gifte besondere Kenntnisse vorweisen könnten. Im Prinzip war diese Vermutung nicht ganz abwegig. Tatsächlich war beispielsweise das arabische ›Buch der Gifte‹ des Ğābir (spätes 9. Jahrhundert) – das zwar eigentlich überwiegend auf griechischen Quellen basiert, aber als »ausführlichste Darstellung auf diesem Gebiet in arabischer Sprache« gilt134 – unter einigen frühneuzeitlichen Juden bekannt, wie etwa aus einer in hebräischer Sprache verfaßten, alchemischen Anthologie des 16./17. Jahrhundert hervorgeht, die sich heute in der Berliner Staatbibliothek befindet.135 Im späten 12. Jahrhundert hatte der berühmte jüdische Rabbiner und Arzt Maimonides eine Abhandlung über Gifte und Gegengifte in arabischer Sprache verfaßt, die im christlichen Europa vornehmlich unter dem
130 Preto, Servizi segreti, S. 368. 131 Ausschließlich mit der Wortgeschichte beschäftigt sich Chayim Cohen, Lemma Poison, in: EJ, Bd. 16, S. 283–284. 132 Johannes Heil, »Gottesfeinde – Menschenfeinde«. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert), Essen 2006, 395–397. 133 Zitiert nach ebd., S. 396. 134 Das Buch der Gifte des Ğābir ibn Hayyān. Arabischer Text in Faksimile (HS. Taymūr, tibb. 393, Kairo), übers. und erläutert von Alfred Siggel, Wiesbaden 1958, S. 4. Vgl. dazu auch Manfred Ullmann, Die Natur- und Geheimwissenschaften im Islam (= Handbuch der Orientalistik, 1. Abt., Ergänzungsbd. 6, 2), Leiden 1972, S. 208. 135 Patai, Jewish Alchemists, S. 408.
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Titel Tractatus de venenis bekannt wurde.136 Auch in einem handschriftlich erhaltenen Geheimnisbuch des bedeutenden italienischen Kabbalisten Chayyim Vital, das dieser kurz nach 1600 im osmanischen Reich niederschrieb, sind Rezepte für die Herstellung tödlicher Gifte beziehungsweise entsprechender Antidote angegeben.137 Was Venedig betrifft, so wurde der Ruf von Juden als Experten auf dem Gebiet der Gifte im 17. Jahrhundert möglicherweise dadurch verstärkt, daß eine jener Substanzen, welche die venezianische Obrigkeit bevorzugt als Gifte verwendete, in nennenswertem Maße von Juden hergestellt wurde. Es handelt sich um das Sublimat (Quecksilberchlorid; HgCl2)138, das in Venedig – wie weiter oben erwähnt – seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts über Generationen hinweg von der hierfür behördlich konzessionierten Familie Sarfatti hergestellt wurde.139 Auch in der Toskana und im Herzogtum Modena hatten seit dem späteren 17. Jahrhundert, wie wir gesehen haben, jüdische Unternehmer Privilegien für die Herstellung von Sublimat inne.140 Zinnober wiederum, auf dessen Herstellung sich in Venedig insbesondere die erwähnte Familie Sarfatti spezialisierte, wurde in der Frühen Neuzeit ebenfalls als Gift verwendet.141 Natürlich bedeutet dies nicht, daß bei der Vorbereitung von Giftanschlägen die hier erwähnten chemischen Substanzen in der Praxis tatsächlich von jüdischen Produzenten bezogen wurden. Die Möglichkeit aber war rein theoretisch gegeben; und zumindest in den Augen der Obrigkeit konnten Juden mit der Herstellung dieser Substanzen assoziiert werden. Mit dem Niedergang des venezianischen Einflusses im Mittelmeerraum in der Frühen Neuzeit wuchs die Bereitschaft der Serenissima, durch die Verwendung 136 Moses Maimonides, Treatise on Poisons and Their Antidotes (= The Medical Writings of Moses Maimonides, Bd. 2), hg. von Suessman Muntner, Philadelphia etc. 1966. 137 Vgl. Patai, Jewish Alchemists, S. 354; Bos, Hayyim Vital’s »Practical Kabbalah and Alchemy«, S. 94. 138 Zum Gebrauch des Sublimats durch die venezianische Obrigkeit vgl. Preto, Servizi segreti, S. 364. Zur allgemeinen Bedeutung von Sublimat als Gift in der Vormoderne siehe Lewin, Gifte in der Weltgeschichte, S. 252. Die hier gemeinte Quecksilberverbindung ist nicht zu verwechseln mit dem genauso giftigen Arseniksublimat, das im 16. Jahrhundert mitunter ebenfalls vereinfacht als »Sublimat« bezeichnet wurde, so beispielsweise in den Schriften des sephardischen Arztes Amatus Lusitanus. Siehe dazu ebd., S. 418. 139 Daß die jüdischen Hersteller von der Giftigkeit der Substanz wußten, läßt sich beispielsweise entnehmen aus ASV, Senato Terra, filza 673. 140 Frattarelli, Vivere fuori dal Ghetto, S. 156; Balletti, Ebrei e gli Estensi, S. 165. 141 Zu Zinnober als Gift siehe Girolamo Cardano, De venenis libri tres, in: Opera omnia, 10 Bde., Lyon 1663 [Faksimile Stuttgart–Bad Cannstatt 1966], Bd. 7, S. 275–355, hier S. 312. Aus Sicht der modernen Medizin: Louis Lewin, Gifte und Vergiftung (= Handbuch der Toxikologie), Berlin 4 1929, S. 260. Medizinische Arkana
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von Gift dem osmanischen Reich zu schaden. Zunehmend kam es ebenfalls zur Erprobung von vormodernen Formen der chemischen und biologischen Kriegsführung. Auch der Herzog von Mantua, der 1601 die Offensive eines kaiserlichen Heers gegen die osmanische Festung Canissa (heute: Nagykanizsa) anführte, beauftragte seine Alchemisten mit der Herstellung von Gift enthaltenden Kampfgeschossen.142 Solche Techniken der Kriegsführung kursierten freilich schon seit Jahrhunderten143, fanden aber vor dem 16. Jahrhundert eher selten Verwendung (etwa bei der berüchtigten Belagerung von Kaffa) oder blieben schlichtweg kühne Theorie, wie etwa Leonardo da Vincis Ideen zur Entwicklung biologischer Kampfgeschosse bezeugen.144 Seit den 1570er Jahren allerdings lassen sich zunehmend praktische Versuche auf venezianischer ebenso wie auf türkischer Seite nachweisen, beispielsweise durch die Vergiftung von Gewässern des Feindes strategische Vorteile zu erzielen.145 Für Juden war eine solche Entwicklung von beträchtlicher Brisanz. In der Tat kursierten in dieser Zeit immer wieder Meldungen über im Auftrag der Türken von Juden vergiftete Brunnen, so etwa in einem Aviso aus Konstantinopel aus dem Jahr 1615, in dem von solchen, für Malta geplanten Aktionen die Rede war.146 Es war abzusehen, daß im Falle der tatsächlichen Anwendung solcher Methoden der Kriegsführung durch die Osmanen, zumal auf dem Balkan, die dortigen Juden von christlicher Seite auch ohne jeden realen Anhaltspunkt nur allzu schnell der Mittäterschaft bezichtigt werden würden.147 Es könnte daher die Furcht vor solchen Beschuldigungen gewesen sein, die 1570 einen Juden aus Ragusa veranlaßte, den venezianischen Rat der Zehn durch Briefe über angeblich von den Türken geplante Brunnenvergiftungen im Umkreis einiger venezianischer Festungen in Dalmatien zu informieren.148 Allerdings gab es umgekehrt auch Juden, die entweder aus Verbundenheit mit der venezianischen Sache oder aber – was in diesem Zusammenhang plausibler ist – aus Geschäftssinn der Serenissima Unterstützung bei Plänen zur biologischen und chemischen Kriegsführung anboten. So offerierte 1654 ein jüdischer Arzt namens Michel Angelo Salomon der Republik ein mit der Pest kontaminiertes Gift, mit dem Kleider und Textilien imprägniert werden sollten, die für den Export ins osmanische Reich hergestellt worden waren.149 Möglicherweise ist dieser Arzt 142 Roberto Navarrini, La guerra chimica di Vincenzo Gonzaga, in: Civiltà mantovana 4 (1969), S. 43–47. 143 Vgl. z. B. die Erzählung im Buch der Gifte des Ğābir ibn Hayyān, S. 144. 144 Lewin, Gifte in der Weltgeschichte, S. 533–547; Preto, S. 314. 145 Preto, Servizi segreti, S. 301–327; Cooperman, Trade and Settlement, S. 69. 146 Preto, Servizi segreti, S. 314. 147 Vgl. bereits Marlowes Portrait des »Juden von Malta« als Brunnenvergifter (II, 3): Christopher Marlowe, The Jew of Malta (= The Complete Works of Christopher Marlowe, Bd. 4), hg. von Roma Gill, Oxford 1995. 148 Lamanskij, Secrets d’état de Venise, Dok. 19 sowie S. 78, S. 460. 149 Burdelez, Role of Ragusan Jews, S. 194.
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identisch mit dem von Preto erwähnten Juden Salomone da Zara, der 1650 Kontakt mit dem venezianischen Provveditore generale in Dalmatien aufnahm und ein Gift, das angeblich die »quinta essenza della peste« enthielt, anbot.150 Der venezianische Befehlshaber in Dalmatien, der bereits zuvor immer wieder Versuche zur Anwendung von Giften im Krieg um Candia (Kreta) unternommen hatte, reagierte positiv auf den Vorschlag des jüdischen Arztes, mußte das Vorhaben aber nach mehreren Anläufen 1652 endgültig aufgeben. Ausschlaggebend war vor allem die Angst der Venezianer vor Ansteckungen mit der Pest in den eigenen Reihen. Ob der jüdische Protagonist jemals den ihm versprochenen Jahreslohn in Höhe von 300 Dukaten erhielt, ist entsprechend fraglich.
Kryptographie Die Kryptographie stellt par excellence einen Bereich dar, in dem die Theorie der Staatsarkana in der Frühen Neuzeit die Entwicklung bisher weitgehend ungekannter Formen und Maßnahmen der Geheimhaltung beförderte. In der mittelalterlichen Korrespondenz waren Verschlüsselungsmethoden noch relativ selten angewandt worden.151 In Italien kam die verstärkte Beschäftigung mit Chiffren um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Gang.152 Als einflußreich sollte sich auch auf diesem Gebiet nicht zuletzt Machiavelli erweisen. Denn Machiavelli, auf dessen Schriften sich später zahlreiche Theoretiker der arcana imperii beriefen (wenngleich nicht immer kritiklos), erwähnte in seinem Werk die Nützlichkeit verschlüsselter Botschaften für den Fürsten und gab damit der Beschäftigung mit der Kryptographie Auftrieb.153 Vor allem aber leistete seit der Mitte des 15. Jahrhundert die Entstehung eines ständigen Gesandtenwesens und der Diplomatie – die als eine »Kunst des Geheimen« galt – dieser Entwicklung Vorschub.154 Die Geschichte der komplexen Entwicklung und Konjunktur der Kryptographie 150 Preto, Servizi segreti, S. 318–320. 151 Rolf Köhn, Dimensionen und Funktionen des Öffentlichen und Privaten in der mittelalterlichen Korrespondenz, in: Gert Melville/Peter von Moos (Hg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne, Köln etc. 1998, S. 309–357, hier v.a. S. 317–319. 152 David Kahn, The Codebreakers. The Story of Secret Writing, New York 1996, Kap. 3, v. a. S. 108. 153 Peter Pesic, Secrets, Symbols, and Systems. Parallels between Cryptanalysis and Algebra, 1580–1700, in: Isis 88 (1997), S. 674–692, hier S. 675. 154 Heidrun Kugeler, »Ehrenhafte Spione«. Geheimnis, Verstellung und Offenheit in der Diplomatie des 17. Jahrhunderts, in: Claudia Benthien/Steffen Martus (Hg.), Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, Tübingen 2006, S. 127–148, hier S. 139, S. 147. Siehe auch die eher episodisch gehaltene Übersicht bei James Westfall Thompson/Saul K. Padover, Secret Diplomacy. Espionage and Cryptography 1500–1815, New York 1963, v. a. S. 253–263; sowie allgemein Garrett Mattingly, Renaissance Diplomacy, London 1973. Kryptographie
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im 15. und 16. Jahrhundert kann inzwischen als gut erforscht gelten.155 Namentlich die Beiträge des italienischen Humanisten Leon Battista Alberti sowie des deutschen Abtes Johannes Trithemius sind ausführlich untersucht worden. Dagegen ist in der kryptologischen Forschung oft übersehen worden, daß die Konjunktur der Kryptographie im 16. Jahrhundert ebenfalls Juden auf den Plan rief, und dies sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Die Verschlüsselung von Briefen läßt sich als Praxis schon vor dem 16. Jahrhundert im Judentum nachweisen. Das Schreiben von Briefen spielte unter Juden bereits im Mittelalter sowie vor allem in der Renaissance eine besondere Rolle.156 Briefe gewährleisteten die Kommunikation einer Bevölkerungsgruppe, deren Mitglieder über zahlreiche Territorien zerstreut lebten. Der Fähigkeit zum Schreiben und Lesen kam im Judentum – schon aus religiösen Gründen – große Bedeutung und Wertschätzung zu. Denn Wissen war nicht zuletzt eine religiöse Kategorie. Wer zu schreiben vermochte, war daher in der Lage, das kostbare Gut »Wissen« nicht nur mündlich in einem beschränkten Kreis weiterzugeben, sondern es auch über große Distanzen hinweg mit Interessierten zu teilen.157 Zudem wurde das Wissen von politischen Entwicklungen und geschäftlichen Angelegenheiten ebenfalls in Briefen übermittelt. Für jeden Brief galt freilich, daß das in ihm enthaltene Wissen – ob religiös oder geschäftlich – schon beim Transport buchstäblich ›aus der Hand gegeben‹ wurde. Dies gilt natürlich auch für familiäre Korrespondenz. Bezeichnend ist ein zufällig erhaltener Privatbrief des Juden Secharja aus Prag an seine Schwester Bela in Wien aus dem Jahre 1619, in der die Bedeutung des (in diesem Fall verloren gegangenen) Chiffrenschlüssels thematisiert wird. Darin heißt es: »[S]onst, libe schwester, wis, das ich habe die [Geheim-]sprache [im judendeutschen Original hier: ʯʥʹʬ ʹʠʣ] verloren […] drum schik mir es mit imanten 155 Einschlägig sind: F. Wagner, Studien zu einer Lehre von der Geheimschrift, in: Archivalische Zeitschrift 11 (1886), S. 156–189; 12 (1887), S. 1–29; 13 (1888), S. 8–44; Aloys Meister, Die Anfänge der modernen diplomatischen Geheimschrift. Beiträge zur Geschichte der italienischen Kryptographie des XV. Jahrhunderts, Paderborn 1902; ders., Die Geheimschrift im Dienste der päpstlichen Kurie. Von ihren Anfängen bis zum Ende des XVI. Jahrhunderts, Paderborn 1906; sowie Kahn, Codebreakers, v. a. Kap 3 und 4.; siehe jetzt auch Dejanirah Couto, Spying in the Ottoman Empire. Sixteenth-Century Encrypted Correspondence, in: Francisco Bethencourt/Florike Egmond (Hg.), Correspondence and Cultural Exchange in Early Modern Europe, Cambridge etc. 2007, S. 274–312; sowie Horst Kranz/Walter Oberschelp, Mechanisches Memorieren und Chiffrieren um 1430. Johannes Fontanas »Tractatus de instrumentis artis memorie«, Stuttgart 2009. Die Terminologie der vorliegenden Studie orientiert sich an dem Glossar mit »kryptologischen Grundbegriffen« bei Gerhard F. Strasser, Lingua Universalis. Kryptologie und Theorie der Universalsprachen im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 1988, S. 16–18. 156 Robert Bonfil, Jewish Life in Renaissance Italy, Berkeley 1994, darin das Kapitel »The Importance of Letter Writing«, S. 234–237. Siehe auch einige der Beiträge bei Sophia Menache (Hg.), Communication in the Jewish Diaspora. The Pre-Modern World, Leiden etc. 1995. 157 Yosef Ofer, Methods of Encoding in Samuel de Archevolti’s Arugat ha-Bosem, in: European Journal of Jewish Studies 2 (2008), S. 45–63, hier S. 55.
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gewis wieder her die [Geheim-]sprache, den man kann nit also ales teisch iber feld schreiben.«158 Es ist nicht bekannt, welcher konkreten Verschlüsselungsmethode sich Secharja im Briefverkehr mit seiner Schwester bediente. Unter den italienischen Juden waren jedenfalls bereits seit Beginn der Renaissance verschiedene Methoden zur Verschlüsselung von Nachrichten im Umlauf.159 Die ersten gedruckten Werke von Juden zur Kryptographie datieren ins 16. Jahrhundert. Abramo Colorni legte mit seiner auf italienisch verfaßten Scotographia (Prag 1593), von der weiter unten noch ausführlich die Rede sein soll, sogar ein bedeutendes kryptographisches Werk des späten 16. Jahrhunderts vor. Auch Rabbiner finden sich im Kreis der jüdischen Kryptographen. Dies gilt zum Beispiel für Abraham Menachem Porto (1520–nach 1594), der später als ein angesehener Rabbiner in Verona wirkte.160 Sein kryptographisches Traktat Zafnat Paneach wurde 1555 in Italien gedruckt und basiert, wie der junge Autor andeutet, zum Teil auf der Methode eines christlichen Autors.161 Weitaus ehrgeizigere Ansprüche hatte der namhafte italienische Rabbiner Samuel Archevolti (ca. 1530–1611). In seiner hebräischen Grammatik mit dem Titel Arugat ha-Bosem (Venedig 1602; Nachdruck Amsterdam 1730) behandelt das 30. Kapitel insgesamt achtzehn verschiedene kryptographische Methoden, für die Archevolti zudem eine konzise hebräische Terminologie vorschlägt. Unter diesen Methoden finden sich neben einigen Rezepten für Geheimtinten und weiteren Anleitungen zum ›unsichtbaren Schreiben‹ vor allem Verfahren zur Chiffrierung durch bildliche Zeichen, Buchstaben und Zahlen. Darüber hinaus verortete er die Ursprünge und Vorläufer der zeitgenössischen Kryptographie im Talmud.162 Der sephardische Kaufmann Chayyim Saruk entwarf als Agent der Serenissima um 1570 ein eigenes (und eigenwilliges) handschriftliches Codebuch, auf das weiter unten noch genauer eingegangen werden soll.163 Mit Geheimtinten wiederum 158 Jüdische Privatbriefe aus dem Jahre 1619, hg. von Alfred Landau und Bernhard Wachstein, Wien etc. 1911, S. 60. 159 Moses A. Shulvass, The Jews in the World of the Renaissance, Leiden 1973, S. 175; Umberto Cassuto, Gli ebrei a Firenze nell’età del Rinascimento, Florenz 1918, S. 226. 160 Zur seiner Biographie vgl. Tovia Preschel/Abraham David, Lemma Porto, Abraham Menahem, in: EJ, Bd. 16, S. 406. Siehe auch Isaiah Sonne, Avnei Bonim le-Toldot ha-Yehudim be-Verona (hebr.: Bausteine zur Geschichte der Juden in Verona), in: Kobez al Jad 3 (1940), S. 145–183, hier v. a. S. 147. 161 Vgl. Giulio Busi, Il succo dei favi. Influssi italiani nella letteratura ebraica del Rinascimento, in: Ders., L’enigma dell’ebraico nel Rinascimento, Turin 2007, S. 47–56, hier S. 53, Anm. 30; siehe auch Sonne, Avnei Bonim le-Toldot ha-Yehudim be-Verona, S. 177. Nach Busis Recherchen hat sich nur ein einziges Exemplar des Buches erhalten. Es befindet sich in der Biblioteca Palatina in Parma und konnte von mir nicht eingesehen werden. 162 Ofer, Methods of Encoding, S. 56–57. 163 Siehe Kapitel III. Kryptographie
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beschäftigte sich der Kabbalist Chayyim Vital in seinem bereits erwähnten Buch der Geheimnisse (nach 1610).164 Auch in den Shiltei ha-Gibborim (1612) des Mantuaner Arztes Abraham Portaleone finden sich drei Anleitungen zum Übermitteln wichtiger Botschaften in Kriegszeiten. Darunter ist eine Methode, die es ermöglicht, auf Kleidungsstücken, die mit Fruchtsaft beschriftet werden, die Botschaft durch Erhitzen zum Vorschein zu bringen.165 Auch wenn solche Experimente aus heutiger Sicht dilettantisch anmuten, galten sie vielen Zeitgenossen als vielversprechend.166 Selbst der venezianische Bailo (Konsul) in Konstantinopel ›chiffrierte‹ im Krieg von 1570 seine Depeschen an die Serenissima mit Zitronensaft.167 Bereits Jahrzehnte zuvor (1525) honorierte der venezianische Rat der Zehn einen Juden namens Marco Rafael, der einen »modo de scriver occulto« angeboten hatte. Diese Methode basierte ebenfalls auf der Verwendung einer speziellen Geheimtinte. Die auf diese Weise verschlüsselte Botschaft konnte nur durch das Auftragen eines »certo liquore« sichtbar gemacht werden.168 Auch soll Marco Rafael eine Tinte entwickelt haben, die erst wieder sichtbar wurde, wenn man das Papier entweder erwärmte oder ins Wasser hielt. An derlei Rezepturen mangelte es, wie gesagt, in der damaligen Zeit nicht, dennoch müssen die Eigenschaften dieser speziellen Tinte in den Augen der Venezianer besonders überzeugend gewesen sein. Immerhin gewährte die Republik dem jüdischen Erfinder für mehrere Jahre eine Pension.169 Offenbar erhielt er sogar eine Anstellung in der Chiffrenkanzlei der Serenissima.170 Zudem wirkte er als ›Praeceptor‹ der hebräischen Sprache. So lernte beispielsweise der italienische Militäringenieur Mario Savorgnano bei Rafael die hebräische Sprache.171 Venedig war allerdings nicht der einzige Ort, an dem Rafaels Dienste begehrt waren. Ende der 1520er Jahre gelang es dem englischen König Heinrich VIII., den jüdischen Experten nach London abzuwerben. Die Berufung nach England dürfte ein entscheidender Grund sein, weshalb Rafael zum Christentum konvertierte.172 In den englischen Quellen ist jedenfalls fortan von ihm als ›jüdischem Renegaten‹ die Rede. Am Hofe Heinrichs VIII. war für ungetaufte Juden schwerlich Platz, was jedoch nicht bedeutet, daß deswegen genuin jüdisches (Geheim-)Wissen abgelehnt wurde. Im Gegenteil, Rafael erhielt gemein164 Bos, Hayyim Vital’s »Practical Kabbalah and Alchemy«, S. 99. 165 Abraham ben David Portaleone, Die Heldenschilde [1612], ins Deutsche übers. und komm. von Gianfranco Miletto, 2 Bde., Frankfurt am Main 2002, Kap. 42, S. 389. 166 Giovan Battista Della Porta, Magiae naturalis sive de miraculis rerum naturalium libri IIII, Neapel: Cancer 1558, S. 62–64. Siehe auch die Studie von Kristie Macrakis, Ancient Imprints. Fear and the Origins of Secret Writing, in: Endeavour 33 (2009), S. 24–28. 167 Preto, Servizi segreti, S. 251. 168 Ebd., S. 281. 169 Calendar of State Papers [Venice], Bd. 4, Dok. 658. 170 Ebd., S. xxvi. 171 Ebd. 172 Ebd., Dok. 658
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sam mit dem in Venedig lebenden, bedeutenden jüdischen Arzt Jacob Mantino vom englischen Hof den brisanten Auftrag, aus ›jüdischer Sicht‹ ein (möglichst positives) Gutachten zur Legitimität der berüchtigten Scheidung Heinrichs VIII. von seiner ersten Frau vorzulegen.173 Rafael erfüllte diesen Auftrag offenbar zur vollen Zufriedenheit des Hofes in London.174 Augenscheinlich genoß »Dom. Marco Raphael« am Hof eine privilegierte Stellung. So wurde er beispielsweise mit diplomatischen Verhandlungen beauftragt175, außerdem pflegte er nach wie vor Kontakte in die Serenissima sowie zu den Botschaftern am englischen Hof.176 Rafael war angesehen genug, um 1531 dem in London zu Besuch weilenden Militäringenieur Mario Savorgnano – seinem früheren Hebräisch-Studenten – zwei königliche Räte als Führer durch die Schlösser und die Raritäten-Sammlung Heinrichs VIII. vermitteln zu können.177 Auf welche Weise Juden wie Marco Rafael ihre Geheimtinten herstellten, läßt sich heute im einzelnen nur schwer rekonstruieren. Zwar wird die Herstellung von Geheimtinten bereits im Talmud explizit erwähnt.178 Objektiv gesehen dürften sich allerdings die in der Frühen Neuzeit auf jüdischer Seite durchgeführten Experimente mit Geheimtinten kaum von entsprechenden Verfahren unterschieden haben, die ein Zeitgenosse beispielsweise den einschlägigen Werken von Agricola, Cardano und Della Porta entnehmen konnte.179 Auch das anspruchsvolle kryptographische System Colornis war nicht konkurrenzlos; ein zeitgenössischer Interessent hätte ohne größere Schwierigkeiten einige nicht minder ausgefeilte Methoden bei christlichen Autoren finden können. Dennoch deutet manches darauf hin, daß auf christlicher Seite die Annahme verbreitet war, Juden seien besonders befähigt zur Kryptographie. Bereits die Priester in den Zeiten des biblischen Tempels sowie die Autoritäten des Talmuds wurden von Juden wie Christen verschiedentlich zu Hütern kryptologischen Wissens stilisiert.180 Vor allem aber kommt eine große Bedeutung der christlichen Rezeption der Kabbala und hier
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Ebd., S. xxvi. Ebd., Dok. 715; Dok. 682; Dok. 864. Ebd., Dok. 726. Ebd., Dok. 715; Dok. 864. Ebd., Dok. 682. Vgl. Textstellen und Kommentar bei Gerd A. Wewers, Geheimnis und Geheimhaltung im rabbinischen Judentum, Berlin etc. 1975, S. 24. 179 Kottek, Jews between Profane and Sacred Science, S. 112. 180 Noel L. Brann, Trithemius and Magical Theology. A Chapter in the Controversy over Occult Studies in Early Modern Europe, Albany 1999, S. 205. Für die jüdische Seite sind hier Archevoltis Arugat ha-Bosem (Venedig 1602) und Portaleones Shiltei ha-Gibborim (Mantua 1612) zu nennen. Kryptographie
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speziell gematrischer Methoden zu.181 Die intensive Beschäftigung der Kabbalisten mit der Umstellung von Buchstaben und mit ›numerologischen Geheimnissen‹ (G. Scholem) faszinierte zahlreiche christliche Gelehrte in der Frühen Neuzeit.182 Es ist kein Zufall, daß beispielsweise der französische Hofmann und Mathematiker Blaise de Vigenère (1523–1596) nicht nur ein eminenter Autor auf dem Gebiet der Kryptographie, sondern auch einer der führenden christlichen Kabbalisten seiner Zeit war.183 Auf christlicher Seite war allgemein die Vorstellung weit verbreitet, daß die hebräische Schrift eine intrinsisch okkulte Dimension aufweise und sich aufgrund dieser Eigenschaft beispielsweise auch zur Universalsprache eigne – eine Idee, die namentlich im 17. Jahrhundert Gelehrte in fast ganz Europa beschäftigte und die oftmals nicht von kryptographischen Theorien zu trennen war.184 Es spricht also manches dafür, daß den Juden schon aufgrund ihrer Vertrautheit mit der hebräischen Sprache und ihres angeblichen Wissens um deren okkultem Potential ein spezielles Talent zur Kryptographie unterstellt wurde. Der Verweis auf die Assoziationen mit der Gematria und die Faszination für die angeblich verborgenen Potentiale der hebräischen Sprache allein genügt jedoch nicht. Ein weiteres, für die Entwicklung kryptographischer Methoden und Theorien durch Juden nicht minder relevantes Phänomen dürfte die in der gesamten Epoche bemerkenswerte Bedeutung von Juden als Spione sein. Diesem Phänomen wendet sich das nächste Kapitel zu. Für die Praxis der Spionage war kryptographisches Wissen begreiflicherweise überaus nützlich. Entsprechend faßten beispielsweise levantinische Juden, die in der strategisch bedeutsamen Republik Ragusa (Dubrovnik) als Spione für Venedig, aber auch für Spanien operierten, ihre Depeschen und Berichte oft chiffriert ab.185 Auch innerhalb Italiens betätigten sich Juden als Spione und Informationsbeschaffer zwischen rivalisierenden Staaten und Höfen. Häufig wurden sie dabei mit Chiffrenschlüsseln ausgestattet.186
181 Elisabeth von Samsonow, Die Hehler des Sinns. Zum Verhältnis von Kabbala und Secret Service, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Geheimnis und Öffentlichkeit (= Schleier und Schwelle, Bd. 1), München 1997, S. 280–290, hier S. 283; Kahn, Codebreakers, S. 91–92. 182 Gershom Scholem, Lemma Kabbalah, in: EJ, S. 597. 183 Godfrey Edmond Silverman, Lemma Vigenère, Blaise de, in: EJ, Bd. 20, S. 525. Siehe dazu auch François Secret, Les kabbalistes chrétiens de la Renaissance, Paris 1964, S. 203–207. 184 Strasser, Lingua Universalis; vgl. auch David Katz, Philo-Semitism and the Readmission of the Jews to England 1603–1655, Oxford 1982, darin v. a. das Kapitel »Babel Revers’d. The Search for a Universal Language and the Glorification of Hebrew« (S. 43–88) sowie S. 233. 185 Burdelez, Role of Ragusan Jews, S. 193. 186 Siehe z. B. Ballettis Erwähnung eines gewissen Laudadio Levi, der in den Diensten der Gonzaga stand, allerdings leichtsinnig von seinem Schlüssel (zifara) erzählte und deshalb im Gefängnis landete. Vgl. Balletti, Ebrei e gli Estensi, S. 164.
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Spionage und Informationsbeschaffung Mit der zunehmenden Bereitschaft christlicher Obrigkeiten, Juden als Spione und Informationsbeschaffer zu beschäftigen, ist ein Punkt angesprochen, der ebenfalls nicht unwesentlich mit der Ausformung der Theorie der Staatsarkana in der Frühen Neuzeit zusammenhängt. Es gilt freilich auch hier festzustellen, daß vollkommen losgelöst von den realen, in den Quellen greifbaren Aktivitäten bereits a priori auf christlicher Seite ein tiefverwurzelter und generalisierender Topos vom jüdischen Spion existierte, der im modernen Antisemitismus fortlebt.187 Es ist aufschlußreich, daß in der Frühen Neuzeit namentlich in argot-artigen Sprachen wie dem Rotwelschen und Jenischen der Akt des Ausspionierens (im Vorfeld einer kriminellen Tat) oft mit dem aus dem Hebräischen entlehnten Begriff »(aus-)baldowern« bezeichnet wurde.188 Die vermeintlichen oder wahren Aktivitäten jüdischer Spione beflügelten die Phantasie christlicher Zeitgenossen. Es lohnte sich daher – schon aus kommerzieller Perspektive – einem Buch den andeutungsvollen Titel The Jewish Spy zu geben, wie dies der englische Verleger der Lettres juives (1735–1737) des Philosophen Jean-Baptiste de Boyer d’Argens tat.189 Zwar handelte es sich bei diesem Werk keineswegs um eine Enthüllung aus der Welt der Spionage, sondern vielmehr um eine frühaufklärerische, teilweise durchaus philosemitische Abhandlung in Form eines frei erfundenen Briefwechsels zwischen jüdischen Korrespondenten.190 Der reißerische Titel aber scheint der Nachfrage nicht geschadet zu haben, eher im Gegenteil: The Jewish Spy erlebte in England jedenfalls binnen weniger Jahre mehrere Auflagen.191 Die zeitgenössischen Phantasmen über jüdische Spione dürfen den Blick des Historikers aber nicht dafür verstellen, daß es für christliche Obrigkeiten in manchen Situationen auch weitere, ganz konkrete Motive geben konnte, Juden
187 Jerzy Jedlicki, Die entartete Welt. Die Kritiker der Moderne, ihre Ängste und Urteile, Frankfurt am Main 2007, S. 217. 188 Gerhard Fritz, »Eine Rotte von allerhandt rauberischem Gesindt«. Öffentliche Sicherheit in Südwestdeutschland vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Alten Reiches, Ostfildern 2004, S. 361–364. 189 Jean-Baptiste de Boyer d’Argens, The Jewish Spy. Being a philosophical, historical and critical correspondence by letters which lately pass’d between certain Jews in Turkey, Italy, France, 5 Bde., London: Browne & Hett 1739/1740. 190 Zum Autor und seiner Stellung zum Judentum siehe jetzt auch Jonathan I. Israel, Philosophy, Deism, and the Early Jewish Enlightenment (1655–1740), in: Yosef Kaplan (Hg.), The Dutch Intersection. The Jews and the Netherlands in Modern History, Leiden 2008, S. 173–202, hier v. a. S. 176–177. 191 Zu erwähnen sind beispielsweise die Neuauflagen in London (1744 sowie 1765/1766) sowie in Dublin (1753). Spionage und Informationsbeschaffung
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geheimdienstliche Aufgaben zuzutrauen.192 Vor allem für die jüdischen Spione im Mittelmeerraum, die für die gesamte Epoche nachweisbar sind193, gilt, daß viele von ihnen aufgrund ihrer häufig hauptberuflich ausgeübten kaufmännischen Tätigkeit permanent zwischen Italien, Balkan und osmanischem Reich pendelten und somit für die zeitnahe Beschaffung aktueller Informationen prädestiniert waren. Es ist bezeichnend, daß in der Frühen Neuzeit die bedeutendsten jüdischen Konsuln der levantinischen und ponentinischen ›Nation‹ in Spionagetätigkeiten, zumeist für die Republik Venedig, verwickelt waren.194 In Böhmen griff man schon im 15. Jahrhundert auf einen nicht zuletzt im Orient bewanderten Juden als Informationsbeschaffer zurück: Es handelt sich um den jüdischen Arzt Feifel, der 1417 durch König Wenzel in Prag von allen spezifisch jüdischen Abgaben befreit wurde. Denn der König schätzte diesen »Landfarer und wundarczt von der heiligen state von Jerusalem« nicht nur wegen seiner medizinischen Dienste, sondern ebenfalls wegen der Beschaffung von geheimen Informationen (»getrewen dinst in ercztnei und auch heimliche botschaft«).195 Im 16. Jahrhundert wußten auch die Habsburger genau, daß man »nothwendig dergleichen leüth zu Ofen, Griechisch Weisßenburg und Sophia halten muesß, durch welche offtmahls guette, zuverläsßliche nachrichten einlangen«.196 Umgekehrt sind Juden jedoch auch als Spione des osmanischen Reiches nachweisbar, wenngleich hervorgehoben werden muß, daß das Ausmaß dieser Tätigkeit von christlichen Zeitgenossen erheblich überschätzt bzw. übertrieben dargestellt wurde.197 Und freilich waren die Methoden jüdischer Informationsbeschaffer keineswegs per se origineller als die ihrer christlichen Kollegen. So ließ ein polnischer Jude namens Giacob Levi die venezianische Obrigkeit 1617 wissen, der einfachste Weg zur Beschaffung von Informationen aus Triest bestünde darin, einen in Lumpen gekleideten Informanten in die Stadt zu schicken. Dieser solle auf dem Marktplatz und in den beliebtesten Tavernen
192 Zumal die Beschaffung von geheimen Informationen keineswegs einzig in die Zuständigkeit von Diplomaten fiel, vgl. Kugeler, Ehrenhafte Spione, S. 128. 193 Couto, Spying in the Ottoman Empire, S. 293. 194 Dazu demnächst Daniel Jütte, The Jewish Consuls in the Mediterranean and Holy Roman Empire during the Early Modern Period. A Study in Economic and Diplomatic Networks (1500–1800), in: Andreas Gestrich/Margrit Schulte Beerbühl (Hg.), Cosmopolitan Networks in Commerce and Society 1660–1914 (im Druck). 195 Treue, Zur Geschichte jüdischer Ärzte, S. 188. 196 So der Hofkriegsrat an die Hofkammer in einem Schreiben aus dem Jahre 1681, zitiert nach Reinhard Buchberger, Zwischen Kreuz und Halbmond. Jüdische Spione im Zeitalter der Türkenkriege, in: Nicht in einem Bett. Juden und Christen in Mittelalter und Frühneuzeit (= Juden in Mitteleuropa, Jahresheft 2005), S. 66–71, hier S. 69. 197 Cooperman, Trade and Settlement, S. 69. Zur Überschätzung Preto, Servizi segreti, S. 481–485.
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so tun, als ob er bettle. Denn an diesen Orten erfahre man am einfachsten, was in einer Stadt vor sich gehe.198 Gewiß war also mehr Phantasie als Realität im Spiel, wenn der bewährte venezianische Spion Giovanni Cattaneo 1785 behauptete, daß die Juden ›die beste Rasse für Spione‹ seien.199 Zumindest aber muß man im Zusammenhang mit dieser Äußerung des geheimdienstlichen ›Veteranen‹ Cattaneo in Rechnung stellen, daß die Serenissima in der Frühen Neuzeit in der Tat Juden als Spitzel sogar innerhalb der venezianischen Gesellschaft beschäftigte.200 Das Ausspionieren war jedoch nicht die einzige Aufgabe, die von Juden im Rahmen geheimdienstlicher Aktivitäten übernommen wurde. Dies gilt auch über Italien hinaus. Ein Beispiel hierfür bietet ein – in den Quellen namentlich nicht genannter – Jude, der in den 1740er Jahren in der »Geheimen Expedition« des Grafen Heinrich von Brühl angestellt war. Bei dieser »Expedition« handelte es sich um den ebenso effizienten wie skrupellosen Geheimdienst des bedeutenden sächsischen Premierministers. Der jüdische Mitarbeiter war in diesem Zusammenhang mit der Fälschung von Siegeln betraut, wie sie im Rahmen der Interzeption von Briefen notwendig wurde.201 Es läßt sich nicht pauschal sagen, welche Motive Juden zur Spionage bzw. zur Beschaffung sensibler Informationen bewegten. Ökonomisch-pragmatische Anreize dürften in der Regel ideologische Motive überwogen haben.202 Die These des Historikers Paolo Preto, wonach die bemerkenswerte Bereitschaft venezianischer Juden, für das Spitzel- und Spionagesystem der Serenissima zu arbeiten, mit der Furcht vor möglichen Repressalien im Falle einer Verweigerung, somit also aus Einschüchterung und vorauseilendem Gehorsam resultierte, trifft gewiß nicht für die Mehrheit der jüdischen Spione und Informationsbeschaffer zu.203 Denn der Weg zur Spionage war in der Frühen Neuzeit oft graduell.204 Das Phänomen jüdischer Residenten, Agenten und Avisenschreiber, das europaweit anzutreffen war,205 mußte zwar nicht, konnte aber Schnittmengen mit der Praxis der Spionage erzeugen. Auch unter den Hofjuden mit ihren weitreichenden Handels- und
198 Filippo de Vivo, Information and Communication in Venice. Rethinking Early Modern Politics, Oxford 2007, S. 90. 199 Preto, Servizi segreti, S. 481. 200 Ebd., S. 484. 201 Ich verdanke diesen Hinweis Frau Dr. Anne-Simone Knöfel (Gotha), die zur Zeit die Geschichte der »Geheimen Expedition« des Grafen Brühl erforscht. 202 Vgl. auch Buchberger, Zwischen Kreuz und Halbmond, S. 71. 203 Preto, Servizi segreti, S. 484. 204 Vgl. auch Peter Burke, Early Modern Venice as a Center of Information and Communication, in: John Martin/Dennis Romano (Hg.), Venice Reconsidered. The History and Civilization of an Italian City-State (1297–1797), Baltimore etc. 2000, S. 389–419, hier S. 393. 205 Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism 1550–1750, Oxford 1985, S. 136–137. Spionage und Informationsbeschaffung
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Kommunikationsnetzen lassen sich die Beschaffung von sensiblen Informationen ebenso nachweisen wie Agentendienste.206 Generell ist es sinnvoll, frühneuzeitliche Spionage und Beschaffung sensibler Daten weniger als Ergebnis einer vertikalen Befehlsausführung zu sehen, sondern eher als ein relativ flexibles System der Zirkulation von Informationen, in dem Geheimnisse für Gegenleistungen eingetauscht werden konnten. So gelang es beispielsweise dem Innsbrucker Juden Salman von Hals (Salman Teublein) 1415 durch Preisgabe einer nicht näher beschriebenen »kunst« Herzog Friedrich IV. von Tirol zur Freilassung eines gefangenen Juden zu bewegen.207 Der in Kreta beheimatete Kaufmann David Mavrogonato, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts für die Venezianer wichtige Spionagedienste im osmanischen Reich leistete, erhielt im Gegenzug nicht nur Honorare und persönliche Privilegien, sondern konnte auch Zusagen für die jüdische Gemeinde auf seiner Heimatinsel aushandeln.208 Der Jude Manuello Dellavolta, ein Untertan der Este, erinnerte 1562 den Governatore von Reggio an die im zurückliegenden Krieg beschafften Informationen und bat im Gegenzug um einen Geleitbrief.209 Dies erinnert an den Fall des Wiener Hofjuden Lebl Höschl (gest. 1681), der 1670 wie alle Wiener Juden aus der Donaumetropole vertrieben wurde. Höschl übersiedelte daraufhin nach Ofen und nahm einen regen Handel mit geheimen Informationen auf. Es waren seine wertvollen Berichte über die Entwicklungen auf osmanischer Seite, die maßgeblich dazu beitrugen, daß ihm als einem der ersten Juden nach der Vertreibung schon bald wieder die Erlaubnis für Handelsaufenthalte in Wien gewährt wurde. Interessanterweise verfaßte er seine erhaltenen, verschlüsselten Briefe an den Hofkriegsrat in hebräischer und jiddischer Sprache. Es muß also angenommen werden, daß die habsburgische Behörde auf ihrer Gehaltsliste Mitarbeiter hatte (wohl Juden oder Konvertiten), die Botschaften in diesen Sprachen kompetent entschlüsseln konnten.210 Zumindest in Venedig war es jedoch nicht nur die Obrigkeit selbst, die sich in sensiblen Fragen und bei der Informationsbeschaffung gerne der Dienste von Juden bediente. Zahlreiche Berichte von Venedig-Reisenden heben ausdrücklich hervor, wie begehrt unter den venezianischen Nobili die Dienste von Juden für 206 Selma Stern, Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert, aus dem Englischen übertr., komm. und hg. von Marina Sassenberg, Tübingen 2001 [11950], S. 11. 207 GJ, III, 1, S. 584; Mentgen, Jewish Alchemists, S. 346–347. 208 Jacoby, Un agent juif, passim. 209 Balletti, Ebrei e gli Estensi, S. 163. 210 Buchberger, Zwischen Kreuz und Halbmond, S. 69–70. Speziell zu Höschl siehe auch ders., Lebl Höschl von Wien und Ofen. Kaufmann, Hofjude und Spion des Kaisers, in: Sabine Hödl/Peter Rauscher/Barbara Staudinger (Hg.), Hofjuden und Landjuden. Jüdische Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin etc. 2004, S. 217–250.
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die Wahrung oder Beschaffung von Geheimnissen waren. Der anonyme Verfasser einer Relatione della città e republica di Venetia aus dem Jahr 1672 war einer der ersten, der dieses Phänomen eingehender beschrieb. Da es den Juden zu eigen sei, mit Geheimnissen umgehen zu können (»essendo proprio dell’Ebreo d’esser segreto«), verzichte kein Nobile in der Stadt darauf, Juden mit verschiedensten Aufgaben zu betrauen, die Diskretion und Geheimhaltung erforderten.211 Der jüdische Konvertit Giulio Morosini, gegenüber dessen Schilderungen generell eine gewisse Vorsicht angebracht ist, behauptete sogar (1683), es gebe zwischen jüdischen Kaufleuten und christlichen Nobili ein solches Vertrauen, daß letztere den Juden manchmal sogar den Schlüssel zu ihren Häusern überlassen würden.212 In denselben Jahren beschrieb auch der französische Reisende Limojon de SaintDidier, daß Juden in der Serenissima nicht zuletzt als Personen geschätzt seien, die ein Geheimnis hüten könnten, was ihnen zahlreiche Aufträge der Aristokratie einbringe.213 Der englische Reisende John Clenche bestätigte wenige Jahre später diesen Eindruck und gab an, daß nahezu jeder Nobile in Venedig einen Juden als sog. »confidente« beschäftige.214 Worin genau die Aufgaben eines confidente bestanden, darüber schweigen die Reisenden bedauerlicherweise. Auch der französische Reisende Maximilian Misson konnte einige Jahre später (1688) lediglich berichten, daß die Juden fast keinen Auftrag ablehnen würden.215 Und noch Johann Jacob Schudt kolportiert im frühen 18. Jahrhundert, daß »zu Venedig jede ade211 »[…] essendo proprio dell’Ebreo d’esser segreto, non è nobile in questa città, che non habbia un Ebreo confidente, che lo serve in diverse occorrenze, nè Ebreo, che non habbia un Gentilhuomo Procuratore, anzi in molte case non si tiene allo Ebreo la portiera.« Zitiert nach Lamanskij, Secrets d’état de Venise, S. 702. Bei der Originalquelle handelt es sich um N. N., Relatione della città e republica di Venetia. Nella quale sono descritti li principii di sua edificatione, avanzamenti, acquisti, e perdite fatte, governo, riti, costumi, dominio, forze, erario, adherenze con prencipi, e diferenze con gl’elettori dell’ imperio per causa di precedenza, Colonia 1672. 212 »[H]anno gran familiarità gli Ebrei mercanti e riguardevoli con i Christiani nobili […].« Giulio Morosini, Via della fede (1683), zitiert nach Benjamin Ravid, Between the Myth of Venice and the Lachrymose Conception of Jewish History. The Case of the Jews of Venice, in: Bernard D. Cooperman/Barbara Garvin (Hg.), The Jews of Italy. Memory and Identity, Bethesda/Maryland 2000, S. 151–192, hier S. 164. 213 »[A]s they [the Jews] are esteem’d to be Men of Secrecy, so this good Quality gets them many Protectors among the Nobility, who have divers ways of employing them.« Alexandre-Toussaint Limojon de Saint-Didier, The City and Republick of Venice (1672–1674, engl. Ausgabe 1699), hier zitiert nach Benjamin Ravid, Travel Accounts of the Jews of Venice and their Ghetto, in: Stanley Nash (Hg.), Between History and Literature. Studies in Honor of Isaac Barzilay, Tel Aviv 1997, S. 118–150, hier S. 131. 214 »These [the Jews] for their reputed secrecy are very much cherished by the nobility, there not being one but has his Jew for his confident, nor Jew without his protector.« John Clenche, A Tour in France and Italy, Made by an English Gentleman (1675) zitiert nach Ravid, Travel Accounts of the Jews of Venice and their Ghetto, S. 130. 215 »They [the Jews] are generally a Sort of People that never refuse any Kind of Employment, and are made Use of on several Occasions; especially by the Nobles, who are very great Support to Spionage und Informationsbeschaffung
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liche Familie / ihren vertrauten und Confidenten Juden [habe] / denen man die geheimsten Affairen der Familien anvertrauet«.216 Es ist schwer zu unterscheiden, wo bei solchen Berichten über jüdische confidenti Realität in Phantasmagorie übergeht. Für Venedig zumindest treffen die Schilderungen im Kern offenbar zu. In den 1630er Jahren hatten enge Beziehungen von Juden und venezianischen Nobili zu einem Justizskandal mit mehreren Todesurteilen geführt. Eine Reihe von Juden und Nobili wurden für schuldig befunden, gemeinsam geheime Umtriebe, darunter etwa die Zahlung von Bestechungsgeldern, vereinbart zu haben.217 Wir wissen zudem, daß es – zum Argwohn der Obrigkeit und speziell der Inquisitoren – auch unter den Juden im Ghetto regelmäßig zur Bildung von kleinen Gruppen kam, in denen aktuelle – darunter auch sensible – Informationen unter den Mitgliedern ausgetauscht wurden. Gewiß kam diesen Gruppen, wie Filippo de Vivo vermutet hat, ein gewisser Unterhaltungsfaktor im Zeitalter vor den Massenmedien zu. Doch waren diese Gruppen wohl oft mehr als nur eine Form frühneuzeitlicher Geselligkeit. Immerhin wurden sie, auch von den eigenen Mitgliedern, als »bozzoli« bezeichnet, also mit dem italienischen Wort für den Kokon der Seidenraupe. Es war nicht zuletzt dieses ›Gespinst‹ des Informationsaustausches, das bei Außenstehenden Argwohn erwecken konnte, ob begründet oder nicht.218 Es liegt in der Natur der Tätigkeit, daß sich heute nur schwer sagen läßt, worin genau im einzelnen die Aufgaben jener jüdischen confidenti lagen, von denen zahlreiche Venedig-Reisende im 17. Jahrhundert sprechen. Denn ihre Tätigkeit war, wie schon der Name zum Ausdruck bringt, der Geheimhaltung verpflichtet. Der Begriff confidente wurde in Venedig häufig auch für Spione sowie für die Spitzel der Republik verwendet.219 De facto handelte es sich um einen Euphemismus: Die eigene Leute bezeichnete man als confidenti, als Spione hingegen in der Regel die Informationsbeschaffer des Gegners.220 Interessanterweise läßt sich die Bezeichnung confidente auch im zeitgenössischen innerjüdischen Kontext nachweisen. So wurden in jüdischen Gemeinden Norditaliens offizielle deputati confidenti bzw. confidenti ernannt, meist insgesamt
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them.« Maximilian Misson, A New Voyage to Italy (1688, engl. Ausgabe 1739), hier zitiert nach Ravid, Travel Accounts of the Jews of Venice and their Ghetto, S. 133. Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten, IV. Buch, Kap. 16, S. 226; siehe auch VI. Buch, Kap. 10, S. 160. Schudts Quelle war hierfür offenbar die Histoire des religions de tous les royaumes du monde (1676) von Jean Jovet. Gaetano Cozzi, Giustizia ›contaminata‹. Vicende giudiziarie di nobili ed ebrei nella Venezia del Seicento, Venedig 1996. De Vivo, Information and Communication, S. 92–93. Preto, Servizi segreti, S. 43. De Vivo, Information and Communication, S. 74. Facetten der Ökonomie des Geheimen
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drei an der Zahl, darunter fast immer der Rabbiner.221 Diese Vertrauensmänner führten mit Mitgliedern der Gemeinde diskrete Gespräche über die jeweilige Steuerlast und Spendenbereitschaft. Dafür war Einsicht in das Finanzgebaren der jeweiligen Gemeindemitglieder erforderlich, was die Notwendigkeit der Geheimhaltung noch verstärkte. Denn das Bekanntwerden von (negativen) Details über individuelle Vermögensverhältnisse konnte im innerjüdischen Wirtschaftsleben und vor allem im Kreditgeschäft, in dem gegenseitiges Vertrauen von großer Bedeutung war, in erheblichem Maße geschäfts- und rufschädigend wirken. Dies galt freilich auch nördlich der Alpen, wenngleich dort die Steuerschätzer der jüdischen Gemeinden nicht mit dem Begriff confidenti bezeichnet wurden. Zur Geheimhaltung waren gleichwohl auch sie angehalten, wie aus der zeitgenössischen Übersetzung einer rabbinischen Verordnung (1603) hervorgeht: »Und diejenige, so ahn Enden und Ohrten verordtnett seindt, solche Anlag zu machen, sollen eines jeden Anlag, so viell muglich in der Geheim [ʭʩʬʲʤʬ] halten und nitt offenbahren.«222
Zivile und militärische Technologie Der technologische Sektor wies in der Frühen Neuzeit eine sehr viel größere Nähe zur Ökonomie des Geheimen auf, als dies auf den ersten Blick vermutet werden könnte. Das Aufkommen von Patenten in der Frühen Neuzeit widerspricht dieser Feststellung nicht. So hat der Wissenschaftshistoriker Mario Biagioli die überzeugende Ansicht vertreten, daß die frühneuzeitliche Patentierung von Technologien eher der Privilegierung als dem Schutz von geistigem Eigentum diente. Das Ziel von Patenterteilungen war demnach in erster Linie die Gründung von Manufakturen, die Herstellung von Maschinen (im frühneuzeitlichen Wortsinn) sowie der Transfer von Technologie und geschulten spezialisierten Arbeitskräften über geographische und politische Grenzen hinweg.223 Frühneuzeitliche Patente waren also kein Vertrag zwischen Erfinder und Gesellschaft. Im Unterschied zu heutigen Patenten stand daher auch nicht die Zugänglichkeit des Wissens im Mittelpunkt – eher im Gegenteil. Technologische Patente, die heute aufgrund 221 Balletti, Ebrei e gli Estensi, S. 127–129. 222 Eric Zimmer, Jewish Synods in Germany during the Late Middle Ages (1286–1603), New York 1978, Quellenanhang, S. 156. 223 Mario Biagioli, From Prints to Patents. Living on Instruments in Early Modern Europe, in: History of Science 44 (2006), S. 139–186, hier S. 167. Zur Geschichte des Patentwesens in der Frühen Neuzeit siehe auch Maximilian Frumkin, Early History of Patents for Invention, in: Transactions of the Newcomen Society for the Study of the History of Engineering and Technology 26 (1947–1949), S. 47–56. Zivile und militärische Technologie
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der Gewährleistung staatlichen Patentschutzes öffentlich einsehbar sind, bildeten in der Frühen Neuzeit keineswegs per definitionem eine Gattung öffentlichen Wissens.224 In den meisten Fällen wurden die Patente an einem – in dieser Beziehung führenden – Ort wie Venedig daher auch nicht gedruckt, sondern nur vom Senat im Namen des Dogen für den Erfinder ausgestellt.225 Die Gewährung eines Patents bedeutete somit keineswegs, daß der Erfinder sein Geheimnis preisgegeben oder gar publik machen mußte, vielmehr konnte die Patentierung sogar zu einer noch stärken Unzugänglichkeit des betreffenden Wissens führen, als dies durch ursprüngliche Geheimhaltung der Fall gewesen wäre.226 Strenge Geheimhaltung blieb generell auch im 17. Jahrhundert ein hervorstechendes Merkmal und Anliegen vieler Erfinder und Ingenieure.227 Dies gilt ebenfalls für die Zeit vor dem Aufkommen von Patenten, insbesondere mit Blick auf den Beruf des Ingenieurs, der sich im 12. Jahrhundert auszuformen begann und von den Zeitgenossen von Anfang an nicht selten mit der Figur des Magus in Verbindung gebracht wurde.228 Nicht wenige Ingenieure selbst hüllten ihren Anspruch auf Naturbeherrschung und Allmacht in eine Rhetorik, die an den Gestus und die Sprache des Magus erinnerte.229 »The Renaissance philosopherengineer, skilled in all aspects of the Vitruvian arts such as military technology, architecture and garden and theatre design, came to be widely regarded as a natural magician par excellence.«230 Es war das namensgebende ingenio, das in den Augen der Zeitgenossen den Ingenieur befähigte, die Natur so uneingeschränkt zu beherr224 Mario Biagioli, Patent Republic. Representing Inventions, Constructing Rights and Authors, in: Social Research 73 (2006), S. 1129–1172, hier v. a. S. 1137–1138. 225 Berveglieri, Inventori stranieri, S. 20. 226 Biagioli, From Prints to Patents, S. 157. 227 Marika Keblusek, Keeping It Secret. The Identity and Status of an Early Modern Inventor, in: History of Science 43 (2005), S. 37–56; William Eamon, Science and the Secrets of Nature. Books of Secrets in Medieval and Early Modern Culture, Princeton 1994, S. 88. 228 William Eamon, Technology as Magic in the Late Middle Ages and the Renaissance, in: Janus 70 (1983), S. 171–212, hier v. a. S. 186. 229 Zur Geschichte des Ingenieursberufs siehe Paolo Galluzzi, Renaissance Engineers. From Brunelleschi to Leonardo da Vinci, Florenz 1996; ders. (Hg.), Leonardo da Vinci. Engineer and Architect, Florenz 1987; William Barclay Parsons, Engineers and Engineering in the Renaissance, Cambridge/Mass., London 1968 [11939]; Bertrand Gille, Engineers of the Renaissance, Cambridge/ Mass. 1966; Alessandro Biral/Paolo Morachiello (Hg.), Immagini dell’ingegnere tra Quattro e Settecento. Filosofo, Soldato, Politecnico, Mailand 1985; Anthony Grafton, Leon Battista Alberti. Baumeister der Renaissance, Berlin 2002; Manlio Brusatin, La macchina come soggetto d’arte, in: Gianni Micheli (Hg.), Scienza e tecnica nella culture e nella società dal Rinascimento a oggi (= Storia d’Italia, Annali 3), Turin 1980, S. 31–77; K.-H. Ludwig, Lemma Ingenieur, in: LexMA, Bd. 5, Sp. 417–418. 230 Penelope Gouk, Natural Philosophy and Natural Magic, in: Eliška Fučíková (Hg.), Rudolf II and Prague. The Court and the City, London etc. 1997, S. 231–237, hier, S. 235 [Hervorhebung im Original]. Vgl. auch Eamon, Technology as Magic.
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schen und zu manipulieren, wie dies sonst nur dem Magus möglich war.231 Zudem sahen militärische Ingenieure wie der berühmte Mariano di Jacopo aus Siena, genannt Taccola (1382–ca. 1453), eine ihrer Aufgaben auch darin, als Auguren des Herrschers aufzutreten, vor allem wenn es darum ging, etwa unter Verwendung der Astrologie, den günstigsten Zeitpunkt für einen Krieg festzulegen.232 Die Figur des Ingenieurs war mithin in der Ökonomie des Geheimen fest verankert. Vor dem hier umrissenen Hintergrund müssen auch die Aktivitäten von Juden im frühneuzeitlichen Technologiesektor und -transfer gesehen werden. Es wäre unangemessen, das Phänomen von im technologischen Sektor aktiven Juden für das (idealisierende) Narrativ vom ›Beitrag‹ der Juden zur Wissenschaft und Technik zu reklamieren. Es empfiehlt sich vielmehr, die technologische Aktivität von frühneuzeitlichen Juden in den Kontext der gesamtgesellschaftlichen Ökonomie des Geheimen und der von ihr geschaffenen Strukturen zu stellen. Technologisches Wissen unterlag immerhin nicht nur – wie bereits erwähnt – aufgrund des Fehlens eines wirksamen Schutzes geistigen Eigentums beträchtlicher Geheimhaltung. Es wies vielmehr oft auch eine explizite Nähe zur Sphäre der Staatsarkana auf. Namentlich das technologische Wissen von Ingenieuren, Architekten und Erfindern war auf enge Weise mit der Formierung des frühmodernen Staates verbunden bzw. durch dessen Aufträge teilweise überhaupt erst generiert worden.233 Solches Wissen diente häufig unmittelbar der Stabilisierung, dem Ausbau sowie dem aggrandissement von Herrschaft und war schon aus diesen Gründen oft kein frei flottierendes Wissen. Das Pfund, mit dem Ingenieure, Festungsarchitekten und Erfinder gegenüber Obrigkeiten und speziell Höfen wuchern konnten, war eine Expertise, die jenem Phänomen nahe kommt, das Michel Foucault »MachtWissen« genannt hat.234 231 Galluzzi, Renaissance Engineers, S. 26. 232 Grafton, Leon Battista Alberti, S. 119. Siehe allgemein auch Lynn White, Medical Astrologers and Late Medieval Technology, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 6 (1975), S. 295–308. 233 William Eamon, Court, Academy, and Printing House. Patronage and Scientific Careers in Late Renaissance Italy, in: Bruce T. Moran (Hg.), Patronage and Institutions. Science, Technology, and Medicine at the European Court 1500–1750, Rochester 1991, S. 25–50, hier S. 31; Bruce T. Moran, The Alchemical World of the German Court. Occult Philosophy and Chemical Medicine in the Circle of Moritz of Hessen (1572–1632), Stuttgart 1991, S. 173; Pamela O. Long, Power, Patronage, and the Authorship of Ars. From Mechanical Know-how to Mechanical Knowledge in the Last Scribal Age, in: Isis 88 (1997), S. 1–41, hier S. 40. 234 Für Foucaults Untersuchungen zur Kopplung von Wissen und Macht beim Werden des modernen Staates siehe v. a. Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978, hg. von Michel Sennelart, 2 Bde., Frankfurt am Main 2004, hier Bd. 1. Für eine prägnante allgemeine Annäherung an das Phänomen siehe auch ders., Theorien und Institutionen des Strafvollzugs [1972], in: Schriften in vier Bänden [Dits et Ecrits], hg. von Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main 2005, 4 Bde., hier Bd. 2, S. 486–490. Zivile und militärische Technologie
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Die hier vorangestellten Bemerkungen gelten naturgemäß auch für jüdische Technologiekundige, Ingenieure und Erfinder. Die Bedeutung von Strategien der Geheimhaltung ist in der Tat unter diesen Gruppen beträchtlich, wie bereits von dem Historiker Shlomo Simonsohn angemerkt wurde, der als einer der wenigen Forscher bisher explizit, wenn auch eher beiläufig auf die beträchtliche Zahl von jüdischen Erfindern und Ingenieuren im frühneuzeitlichen Italien hingewiesen hat.235 Es ist an dieser Stelle also zunächst geboten, das breite Spektrum der von Juden angebotenen, praktizierten und vermittelten Technologien zu umreißen und mit einigen Beispielen zu illustrieren. Eine erschöpfende Darstellung kann hier – wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln – nicht geleistet werden. Die auch quantitative Bedeutung von Juden für die Entwicklung oder den Transfer von Technologie dürfte aber bereits dadurch deutlich werden, daß Juden in der Liste jener ›Nationen‹, die zwischen 1478 und 1788 in der Republik Venedig ein Patent erhielten, sich mit mindestens 27 solcher brevetti an dritter Stelle und damit gleich hinter Franzosen (57) und Deutschen (44) befinden.236 Die historische Forschung hat sich dieses Phänomens, wie gesagt, bisher allenfalls pointillistisch angenommen. Systematische Studien zur Geschichte jüdischer Ingenieure und Erfinder im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit fehlen bisher völlig. Auch aus diesem Grund kann zum Beispiel über den Ausbildungsweg und die innerjüdischen Arbeitsmöglichkeiten jüdischer Ingenieure und Technologiekundiger vielfach nur gemutmaßt werden. Ob funktionalistische Erklärungen in diesem Zusammenhang nützlich sind, wonach sich beispielsweise die Expertise jüdischer Ingenieure aus der religiösen Vorschrift zum Bau von rituellen Tauchbädern entwickelt habe, ist zweifelhaft und sei dahingestellt.237 Eher schon dürfte die Erfahrung von Juden beim Abbau von Bodenschätzen eine Rolle gespielt haben. Die Anlage und der Betrieb von Minen durch Juden ist für Italien und das Heilige Römische Reich bereits um die Mitte des 15. Jahrhundert dokumentiert und wird in der Frühen
235 Shlomo Simonsohn, Considerazioni introduttive, in: Gaetano Cozzi (Hg.), Gli ebrei a Venezia (secoli XIV–XVIII). Atti del convegno internazionale organizzato dall’Istituto di storia della società e dello stato veneziano della Fondazione Giorgio Cini, Mailand 1987, S. 323–332, hier S. 328. Erwähnungen dieser Thematik – am Beispiel der Toskana – auch bei Cooperman, Trade and Settlement, 185–194; außerdem Roth, Jews in the Renaissance, v. a. S. 237; sowie Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 19–20. Für Juden als technische Experten im deutschsprachigen Raum des Spätmittelalters siehe jetzt auch die knappen Bemerkungen von Michael Toch, Economic Activities of German Jews in the Middle Ages, in: Ders. (Hg.), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen, München 2008, S. 181–210, S. 208. 236 Berveglieri, Inventori stranieri, S. 42. 237 Yakov M. Rabkin, Interfacce multiple. Scienza contemporanea ed esperienza ebraica, in: Antonio Di Meo (Hg.), Cultura ebraica e cultura scientifica in Italia, Rom 1994, S. 3–27, hier S. 5.
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Neuzeit auch für das osmanische Reich verschiedentlich erwähnt.238 Vor allem aber ist anzunehmen, daß unter Juden die Wahl des Ingenieursberufs von jenen Erwerbsmöglichkeiten und Patronagestrukturen befördert wurde, die sich insbesondere an Höfen sowie in größeren Städten zunehmend für diese Experten boten. Die in dieser Epoche oszillierende, Wandlungen unterworfene Typologie des Ingenieurs könnte sich dabei ebenso als Vorteil für Juden erwiesen haben wie die weitgehend fehlende zünftische Organisation in diesem Berufsfeld. Zudem dürften in manchen Fällen die erwähnten Assoziationen des Ingenieurs mit der Figur des Magus, mit der Juden oftmals ohnehin in Verbindung gebracht wurden, hineingespielt haben. Letzteres freilich konnte – wie abschließend ausgeführt werden soll – auch zum genuinen Risiko für Juden in diesen Berufen werden. Bereits für das Spätmittelalter gibt es im deutschsprachigen Raum Hinweise darauf, daß Juden als Experten auf technischem Gebiet auftraten und gefragt waren.239 Jüdische Mühlenbauer sind in Aschkenas im späten 15. Jahrhundert verschiedentlich nachweisbar.240 1431 beschäftigte der Nürnberger Rat einen jüdischen Kanalisationsexperten, der möglicherweise mit dem jüdischen Brunneningenieur Josep von Ulm identisch ist, der 1462 in Stuttgart starb.241 Ein jüdischer Ingenieur namens Sammel von Kassel wurde in Montanangelegenheiten im 15. Jahrhundert von einem Nürnberger Patrizier nach Goslar gesandt.242 Erheblich günstiger ist die Quellenüberlieferung allerdings für Italien. Schon um die Mitte des 15. Jahrhundert beschäftigte der venezianische Senat einen jüdischen Ingenieur namens Salomone, der sich auf hydraulische Konstruktionen spezialisierte, wie sie in der Lagunenstadt naturgemäß stets begehrt waren. Zudem soll sich »maestro Salomon
238 Robert S. Lopez/Irving W. Raymond, Medieval Trade in the Mediterranean World. Illustrative Documents, Translated with Introductions and Notes, New York 1955, Dok. 49, (Siena, 1445); The Jews in Sicily, bearb. von Shlomo Simonsohn, 9 Bde., Leiden etc. 1997–2006, hier Bd. 7, Dok. 4999 (Sizilien 1487); Bd. 8, Dok. 5306 (Sizilien 1490); Jews in Piedmont (bearb. R. Segre), Bd. 1, Dok. 1141 (Savoyen 1573); GJ, III, 1, S. 606 (Goslar, 15. Jh.); ebd., III, 3, S. 2146 (von einem Juden geleitete Bleiwerke im Herzogtum Berg 1516); Paul Grunebaum, Les juifs d’Orient d’après les géographes et les voyageurs, in: Revue des études juives 27 (1893), S. 121–135, hier S. 125 (allg. zum osmanischen Reich). 239 Toch, Activities of German Jews, S. 208; GJ, III, 3, S. 2146. 240 Siehe zum Beispiel für die Reichstadt Frankfurt: Regesten I (Andernacht), Dok. 2997 (Ein Jude, der sich mit Mühlen auskennt, soll beim Rat vorsprechen; 1498); Dok. 3264. (Ein Jude bietet dem Rat an, eine Mühle zu bauen; 1502); Dok. 3854. (Erwähnung eines jüdischen Mühlenmachers; 1513) und Dok 3858 (Der Rat verhandelt mit dem Juden Schmul über den Bau einer Mühle; 1513). Der Nürnberger Rat wiederum engagierte 1426 einen jüdischen Mühlenmeister, vgl. GJ, III, 3, S. 2146. 241 GJ, III, 3, S. 2146. 242 GJ, III, 1, S. 606. Zivile und militärische Technologie
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Giudeo« um die Umleitung der Brenta nach Chioggia gekümmert haben.243 Die Expertise von Juden in Fragen der Bebauung der Lagune sowie der Erhaltung ihrer Wasserhygiene wird auch von venezianischen Autoren des 16. Jahrhunderts erwähnt.244 Es verwundert daher nicht, daß 1554 dem Juden Graziadio Mantino die Erlaubnis erteilt wurde, eine Methode zur Meerwasserentsalzung in der Serenissma einzuführen.245 Einige Jahrzehnte später (1634) erhielt mit dem Unternehmer Daniel Israel Perez ein Jude in Venedig ein Patent, um die von ihm erfundene, offenbar mobile Anlage zur Trockenlegung von Sümpfen und Morast zu betreiben.246 Diese Episode bezeugt nicht nur die noch im 17. Jahrhundert fortwährende Betätigung von Juden als Ingenieure, sondern ebenfalls die unverminderte Notwendigkeit der Geheimhaltung. Denn bereits wenige Monate nach der Gewährung des Patents wandte sich Perez erneut an die Obrigkeit und bat um speziellen Schutz für seine Anlage, die aus Platzgründen außerhalb der Stadt aufgebaut worden und somit für allzu viele Schaulustige sichtbar sei.247 Der Senat entsprach der Bitte, zumal die Geheimhaltung des Unternehmens auch im Interesse der Republik lag, wie sich bald darauf herausstellte.248 Denn bereits wenige Woche nach der Eingabe empfahlen die Provveditori all’Arsenal dem Dogen, die Anlage des Juden zum Abpumpen von Wasser und Schlamm im Arsenal zu verwenden. Nachdem weitere Behörden ihre Einwilligung gegeben hatten, konnte der jüdische Erfinder seine Arbeiten fortan im nicht nur für Juden fast völlig unzugänglichen Arsenal aufnehmen.249 Über den Erfolg des Vorhabens und das weitere Schicksal des Erfinders ist nichts bekannt. Von der prinzipiellen Seriosität seines Unternehmens zeugt aber nicht zuletzt, daß dem Erfinder Perez auch die Genehmigung erteilt wurde, von ihm entwickelte wasserbetriebene Mahlmaschinen sowie Pumpsysteme in Dalmatien einzuführen.250 Auch im Herzogtum Mantua erhielt »Dottor Daniele Israele Perez hebreo« zu dieser Zeit ein Privileg zur Einführung seiner Bewässerungs- und Pumpmaschinen.251
243 Leone Luzzatto, Ricordi storici, in: Il Vessillo israelitico 54 (1906), S. 530–532, hier S. 531; Cecil Roth, Abramo Colorni, geniale inventore mantovano, in: Rassegna mensile di Israel 9 (1934), S. 147–158, hier S. 147. 244 Olivieri, Il medico ebreo, S. 451. S. 456. 245 Preto, Servizi segreti, S. 159. 246 Privileg des Senats vom 12. August 1634, ASV, Senato Terra, filza 373. 247 »Ho fabricato l’edificio fuori della Città, sebene in luoco ritirato, però per necessità a molti aperto, et palese«. Eingabe des Daniel Israel Perez vom 15. Januar 1635, ASV, Senato Terra, filza 373. 248 Beschluß des Senats vom 9. Mai 1635, ASV, Senato Terra, filza 373. 249 Gutachten an den Dogen vom 2. März 1635 und vom 15. März 1635, ASV, Senato Terra, filza 373. 250 Berveglieri, Inventori stranieri, S. 115–116. 251 ASMn, AG, Liber dei decreti, Bd. 56, fol. 242v. Dieses Privileg vom 15. April 1636 ist ausgestellt für seine »inventione facile per portar acque da fiumi a campi, e levarle«.
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Nicht nur in Venedig und seinem Territorium waren die Dienste jüdischer Ingenieure begehrt. In Süditalien sind jüdische »maestri de arte mechanica« ebenfalls nachweisbar.252 Auch Leonello d’Este in Ferrara engagierte bereits 1444 den schon erwähnten jüdischen Ingenieur Salomon (»nostro Inzignero Magistro Salomone Iudio«).253 Im späten 16. Jahrhundert erhielt wiederum in Ferrara ein gewisser Josef Levi den offiziellen Auftrag der herzoglichen Kammer, Festungs- und vermutlich auch Schanzarbeiten im Territorium auszuführen.254 In Mailand (und zuvor in Ferrara) offerierte bereits 1437 ein Jude namens Isaac von Noyon, der auch als »Magister Achino« bekannt war, seine Dienste, darunter den Bau einer Brücke über den Po.255 Das Vertrauen Francesco Sforzas (1401–1466) genoß außerdem der jüdische Militäringenieur Abramo da Cremona, der damit betraut war, militärisches Gerät für Festungen in Cremona und Matignano her- und bereitzustellen.256 Ebenfalls in Diensten des Herzogs von Mailand war in den 1450er Jahren ein jüdischer Ingenieur (»ducalis ingeniarius«) namens Simon (Samuel).257 Es handelt sich bei ihm allerdings wohl nicht um den erst einige Jahrzehnte später in Mailand nachweisbaren jüdischen Ingenieur Simone Bettini, der sich 1486 auch um Aufträge aus dem Hause Este bewarb.258 Im von den Gonzaga regierten Mantua erhielt 1592 ein Jude namens Daniel Pasciuto, der auch unter seinem Beinamen ›Der Prophet‹ bekannt war, ein auf fünfundzwanzig Jahre ausgelegtes Privileg für seine mechanische Erfindung zum Be- und Ausladen von Schiffen.259 Der Markgraf von Monferrat wiederum beschäftigte bereits in den 1470er Jahren einen jüdischen Ingenieur (»Luppo ebreo inginero«).260 Besonders bemerkenswert ist der weiter unten noch ausführlich darzustellende Fall des Ferrareser Hofingenieurs Abramo Colorni. Die von ihm erfundene Arke-
252 Shulvass, Jews in the World of the Renaissance, S. 146. 253 Balletti, Ebrei e gli Estensi, S. 54. 254 Aron di Leone Leoni, Alcuni esempi di quotidiana imprenditorialità tra Ferrara, Ancona e Venezia nel XVI secolo, in: Zakhor. Rivista di storia degli ebrei d’Italia 4 (2000), S. 57–114, S. 91; ders., Per una storia della nazione tedesca di Ferrara nel Cinquecento, in: Rassegna mensile di Israel 62 (1996), S. 137–166, hier S. 156; 255 Roth, Jews in the Renaissance, S. 237. Zu diesem »Isach de Noyone ebreo« siehe auch The Jews in the Duchy of Milan, bearb. von Shlomo Simonsohn, 4 Bde., Jerusalem 1982–1986, hier Bd. 1, Dok. 18. Bei diesem Dokument handelt es sich um die Diffamierung des Ingenieurs durch einen christlichen Zeitgenossen. Es bleibt fraglich, inwieweit der dort geäußerte Vorwurf zutrifft, Isaac sei ein Betrüger. 256 Carlo Bonetti, Gli ebrei a Cremona 1278–1630, Cremona 1917 [ND Sala Bolognese 1982], S. 11. 257 Jews in the Duchy of Milan (bearb. S. Simonsohn), Bd. 1, Dok. 332; 404; 418. 258 Giuseppe Campori, Gli architetti e gl’ingegneri civili e militari degli Estensi dal secolo XIII al XVI, Modena 1882, S. 43. 259 Shlomo Simonsohn, History of the Jews in the Duchy of Mantua, Jerusalem 1977, S. 270. 260 Jews in the Duchy of Milan (bearb. S. Simonsohn), Bd. 1, Dok. 1344. Zivile und militärische Technologie
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buse soll angeblich mehrfaches Feuern ohne Nachladen erlaubt haben. Colorni war, wie wir gesehen haben, nicht der einzige militärtechnisch versierte jüdische Ingenieur. Dieses Phänomen kann ein Anstoß sein, um eine im Fach jüdische Geschichte nach wie vor verbreitete Vorstellung zu revidieren, nämlich die Annahme, Juden hätten – bis auf wenige Ausnahmen – in der Vormoderne keine Waffen tragen und benützen, geschweige denn feilbieten und herstellen dürfen. Zwar hat Moses Ginsburger im Jahr 1929 eine erste Sondierung zu diesem Thema vorgelegt – aber eher im Sinne einer Sammlung ungewöhnlicher Ausnahmen.261 Methodisch differenzierter ist eine Studie David Biales aus den 1980er Jahren, in der das Narrativ von der Wehrlosigkeit frühneuzeitlicher Juden, das sich in hohem Maße auf normative Quellen (darunter Verbote des Waffentragens) stützt, kritisiert wird.262 Seitdem sind einige weitere Versuche zu einer differenzierten Sicht auf das Phänomen Juden und Waffen unternommen worden.263 Sie betreffen aber hauptsächlich das Tragen von Waffen im Alltag. Die Frage nach der Waffenproduktion bleibt dabei fast immer ausgespart.264 Sie ist jedoch keineswegs abwegig. Zwar waren Berufe wie der des Büchsenmeisters in der Regel zünftisch organisiert, dennoch existierten auf diesen Gebieten offenbar Nischen für Juden abseits der christlichen Zünfte. In Frankfurt am Main stellte ein Jude namens Kipspan bereits 1350 Brücken und Wagengestelle her. Dieser Ingenieur, der über knapp ein Vierteljahrhundert hinweg in den Akten der Stadt erwähnt wird, trat auch als Hersteller von Geschützen und Waffen hervor. Pulver und Köcher finden sich ebenfalls in seiner Produktpalette.265 Für Kipspan gab es in Frankfurt offenbar genug Aufträge, um über Jahrzehnte hinweg in der Stadt zu bleiben. Einige Jahrzehnte später (1454) interessierte sich der Rat der Stadt Frankfurt erneut für einen (diesmal namentlich nicht genannten) jüdischen Sprengmeister und dessen »fremde Kunst«. Dieser Ingenieur, von dem die Stadt durch Vermittlung eines örtlichen Juden erfahren hatte, warb beispielsweise damit, Türme brechen zu können.266 Der Göttinger Rat wiederum kaufte 1486 ein Geschütz, das ein jüdischer Büchsenmacher namens Moyses aus Mühlhausen hergestellt hatte.267 Doch kam es auch vor, daß jüdische Ingenieure und Technologiekundige aus dem deutschsprachigen Raum ihr know-how über die Alpen exportierten. Dies gilt beispielsweise für den jüdischen Arzt Abralino de Colonia (»Magistro Abralino 261 Moses Ginsburger, Les juifs et l’art militaire au moyen-âge, in: Révue des études juives 88 (1929), S. 156–166. 262 David Biale, Power and Powerlessness in Jewish History, New York 1986, hier S. 72–77. 263 Siehe vor allem das entsprechende Themenheft der Zeitschrift Aschkenas 13 (2003). 264 So etwa bei Stefan Litt, Juden und Waffen im 16. und 17. Jahrhundert – Anmerkungen zu einem Alltagsphänomen, in: Aschkenas 13 (2003), S. 83–92. 265 Ginsburger, Les juifs et l’art militaire, S. 160. 266 Regesten I (Andernacht), Dok. 1039. 267 GJ, III, 3, S. 2146.
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ebreo medico de Colonia«), dessen Familie offenkundig einen rheinländischen Hintergrund hatte. In den italienischen Quellen wird er in der Tat als »inzignero ebreo thodesco« [sic] bezeichnet.268 Erstmals trat Abralino 1442 an den Herzog von Mailand heran und unterbreitete ihm verschiedene ebenso ehrgeizige wie geheime Projekte (»inzegni secreto [sic]«).269 Darunter war beispielsweise das Vorhaben, eine Brücke270 zu errichten, der Bau von Kanonen (bombarde), die mehrere Schüsse auf einmal ermöglichen sollten, die Konstruktion von Maschinen zum Angreifen von Befestigungen, die Herstellung von Pulver sowie eine Reihe weiterer militärtechnischer Projekte. Die Vorschläge waren offenbar überzeugend, und der Herzog lud den aschkenasischen Militäringenieur an seinen Hof ein. Das Bild von der Präsenz jüdischer Bombarden, Militäringenieure und Büchsenmeister gewinnt noch stärker an Konturen, wenn man einen Blick über das Heilige Römische Reich und Norditalien hinaus wirft. So sind auch in Polen spätestens ab dem 16. Jahrhundert Juden als Büchsenmeister nachweisbar.271 In Rom verzeichnet bereits die Descriptio urbis aus den Jahren 1526/1527 einen jüdischen Büchsenmeister – und es könnte weitere gegeben haben, immerhin enthält die Quelle nicht einmal für ein Viertel der insgesamt knapp 1.750 römischen Juden eine Berufsangabe.272 In hohem Maße ausgeprägt war das hier skizzierte Phänomen jedoch – bis zu den großen Vertreibungswellen – insbesondere im iberischen Raum und Einflußgebiet. Am Hof von Navarra war ein Jude namens Samuel Ravatoso um 1430 verantwortlich für die Artillerie des Königs.273 Im spanischen Sizilien finden sich weitere Beispiele. Der jüdische Schmied »Magister Siminto« erhielt in den 1420er Jahren vom Vizekönig von Sizilien den Auftrag zur Umrüstung von Kanonen für den Gebrauch auf hoher See (»pro aptando tres bonbardas castri ad marem«).274 Bereits wenig später, im Jahr 1441, läßt sich ein Jude aus Messina namens Abraham de Ragusa als Artillerieexperte (balistarius) in Diensten des Königs Alfonso von Aragon und Sizilien nachweisen.275 Besonders 268 Der Nachname Colonia verweist unter italienischen Juden nicht notwendigerweise auf eine Herkunft aus Köln. Vielmehr kann er sich auch auf Cologna Veneta beziehen (siehe hierzu Vittore Colorni, Cognomi ebraici italiani a base toponomastica straniera, in: Ders., Judaica Minora. Saggi sulla storia dell’ebraismo italiano dall’antichità all’età moderna. Nuove Ricerche, Mailand 1991, S. 65–83, hier S. 72). Im vorliegenden Fall dürfte jedoch die ausdrückliche Bezeichnung als »ebreo thodesco« für eine Herkunft aus Köln am Rhein sprechen. 269 Jews in the Duchy of Milan (bearb. S. Simonsohn), Bd. 1, Dok. 1042. 270 »Uno ponte suso laqua che non se trovera havere se non uno chiodo«. Ebd. 271 Wischnitzer, A History of Jewish Crafts, S. 212. 272 Léon Poliakov, Jewish Bankers and the Holy See. From the Thirteenth to the Seventeenth Century, London etc. 1977, S. 114. 273 Gilles Veinstein, Note sur les transferts technologiques de séfarades dans l’empire ottoman, in: Roland Goetschel (Hg.), 1492. L’expulsion des Juifs d’Espagne, Paris 1995, S. 83–92, hier S. 90. 274 Jews in Sicily, (bearb. S. Simonsohn), Bd. 4, Dok. 2274. 275 Ebd., Bd. 5, Dok. 2656. Zivile und militärische Technologie
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bemerkenswert ist einige Jahrzehnte später der Fall des Juden Gauyu (Gaiuczu) Conti in Catania. Die Obrigkeit der sizilianischen Stadt beschäftigte ihn offenbar seit den 1460er Jahren für fast ein Vierteljahrhundert als Militäringenieur, Pulverproduzenten und Verteidigungsexperten.276 Nachdem Conti aus dem Dienst ausgeschieden oder verstorben war, bekleidete weiterhin ein Jude dieses Amt.277 Es handelte sich dabei um Gauyu (Gaudiu) lu Presti, dessen Ansehen beträchtlich gewesen sein muß. Denn der jüdische Militärexperte wurde nicht nur durch den Vizekönig von allen Steuern freigestellt.278 Vielmehr war er in Catania auch damit betraut, die Feuerwerke für das Fest der Stadtheiligen zu organisieren!279 Vereinzelt hat es in Italien in dieser Epoche wohl auch jüdische Waffenschmiede gegeben. In diesem Beruf wirkte beispielsweise Salomone da Sesso (1465–1519), der sich im Laufe seiner Karriere für die Taufe entschied und den Namen Ercole de’ Fideli annahm. Berühmtheit erlangte das von ihm geschmiedete Schwert Cesare Borgias.280 Insgesamt sticht jedoch unter den Juden vor allem der Anteil der Büchsenmeister und Hersteller von Bombarden hervor. Ein gewichtiger Grund für die Betätigung von Juden in der Herstellung von Feuerwaffen dürfte die Nähe zum Gebiet der Salpeter- und Pulverherstellung darstellen, auf dem – wie noch auszuführen sein wird – für die gesamte Epoche eine kontinuierliche Präsenz von Juden dokumentiert ist und auf dem sich beispielsweise auch Abramo Colorni später beträchtliches Renommee erwerben sollte.281 Jüdische Autoren der Frühen Neuzeit zögerten nicht, das militärtechnische Wissen ihrer Gegenwart bereits für das Volk Israel in biblischer Zeit zu reklamieren und die Bibel regelrecht zu einem »Handbuch der Kriegskunst« umzufunktionieren.282 Auch unter Christen war bei276 Eine Quelle aus dem Jahr 1467 spricht von ihm als »mastru di artiglirii zoe pulviri, bombardi et altri magisterii« vgl. ebd., Bd. 6, Dok. 3698. Noch 1482 wird er im Schriftwechsel der Obrigkeit als sehr nützlich für »lu armamentu per larti et speculacioni di ingegnu ki teni« bezeichnet. Bd. 7, Dok. 4637 sowie Dok. 4578 (für das Jahr 1481). 277 Sein Aufgabenbereich wird im Jahre 1481 umrissen als »mastru bombardiere a rafinari salinitru, gubernari, mectiri in ordini li bombardi, spingardi, passavolanti et quilli parari et sparari«. Ebd., Bd. 7, Dok. 4578. Ein weiterer, namentlich ungenannter jüdischer »mastru di artigliaria« aus dieser Zeit wird in derselben Quelle erwähnt. 278 Ebd., Bd. 8, Dok. 5241. 279 Ebd., Bd. 7, Dok. 5201. 280 Wischnitzer, A History of Jewish Crafts, S. 143. 281 Siehe dazu weiter unten. 282 »La natione hebrea […] fù celebre appresso tutte le genti a lei coetanee in quanto al maneggio dell’Arme«, so beispielsweise Simone Luzzatto, Discorso circa il stato de gl’hebrei. Et in particolar dimoranti nell’inclita città di Venetia, Venedig: Calleoni 1638 [ND Bologna 1976], fol. 73v. Siehe auch vergleichbare Ausführungen bei Portaleone, Heldenschilde, v. a. Kap. 40–43. Zu Portaleone auch Gianfranco Miletto, Die Bibel als Handbuch der Kriegskunst nach der Interpretation Abraham ben David Portaleones, in: Giuseppe Veltri/Annette Winkelmann (Hg.), An der Schwelle zur Moderne. Juden in der Renaissance, Leiden etc. 2003, S. 78–89
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spielsweise die Vorstellung verbreitet, Moses habe in Ägypten verschiedene Arten von Kriegsgerät erfunden.283 Begünstigend auf die Glaubwürdigkeit jüdischer Waffenhersteller dürfte sich allerdings vor allem die auf christlicher wie muslimischer Seite verbreitete, oft verzerrte Vorstellung von der Bedeutung von Juden für den Transfer von (vor allem militärischer) Technologie ausgewirkt haben – darauf wird noch zurückzukommen sein. Von einer verzerrten Erwartungshaltung erfahren wir beispielsweise aus einer Episode im osmanischen Reich im Jahr 1552. Einer Gruppe von Juden wurde damals in besonderem Maße eine waffentechnologische Kompetenz zugetraut. Auf obrigkeitliche Weisung hin sollten sie daher in Syrien Arkebusen herstellen, doch geht aus dem Schriftverkehr mit dem Hof des Sultans in Konstantinopel hervor, daß diese Juden mit der Aufgabe überfordert waren.284 Weniger technisches Wissen war nötig, um Waffen oder militärische Technologie lediglich zu verkaufen. Auch hier lassen sich zahlreiche Beispiele für die jüdische Seite beibringen. Sie reichen von den kontinentenübergreifenden Geschäften sephardischer Kaufleute285 bis hin zu kleinen Geschäften im Alltag, wie sie bereits für das frühe 15. Jahrhundert286 belegt sind. Die bedeutendsten Abnehmer der von jüdischen Kaufleuten angebotenen Waffen und mitunter auch von Rüstungen dürften insgesamt die Höfe und Obrigkeiten gewesen sein. Dies gilt nicht zuletzt auch für den deutschsprachigen Raum. Im heutigen Niedersachsen boten 1537 zwei Juden einem Adligen zu Moritzberg ein geheimnisvolles eisernes Instrument an, das dieser jedoch keinem Menschen zeigen dürfe. Geheimhaltung hatte hier also höchste Priorität, und entsprechend schweigsam sind leider die diesbezüglichen Quellen.287 Für Niedersachsen lassen sich jedoch auf jüdischer Seite weitere Schnittmengen zwischen einer »dominierenden Stellung« im Handel mit Metallen und dem Geschäft mit Waffen, Munition und Chemikalien zur Munitionsherstellung finden.288 Im Kurfürstentum Sachsen boten Juden in der Mitte des 16. 283 Felix Fabri, Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem, hg. von Konrad Dietrich Hassler, 3 Bde., Stuttgart 1843, hier Bd. 3, S. 187. 284 Veinstein, Transferts technologiques, S. 91. 285 So z. B. Samuel Pallache, der in den 1630er Jahren von den Niederlanden aus Waffen nach Marokko lieferte. Vgl. zu ihm jetzt Mercedes García-Arenal/Gerard Wiegers, A Man of Three Worlds. Samuel Pallache, a Moroccan Jew in Catholic and Protestant Europe, Baltimore etc. 2003, v. a. S. 73. 286 Vgl. z. B. eine Quelle aus Ferrara aus dem Jahr 1408, die von einem Juden berichtet, der »certi arnesi ed armi« an einen Christen verkaufte. Der Kaufpreis betrug 96 Lire. Vgl. Presenza ebraica a Ferrara. Testimonianze archivistiche fino al 1492, bearb. von Adriano Franceschini, Florenz 2007, Dok. 150. Für das spätmittelalterliche Aschkenas siehe Toch, Economic Activities of German Jews, S. 208. 287 Ries, Jüdisches Leben in Niedersachsen, S. 407. Ich danke Frau Dr. Ries für weitere Auskünfte zu dieser Quelle. 288 Ebd., S. 405. Zivile und militärische Technologie
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Jahrhundert eine Vorrichtung zum Werfen von Feuer und Kugeln sowie Teile für Feuerwaffen und Luftdruckbüchsen an.289 1569 beauftragte der Markgraf von Baden den Juden Jacob von Pforzheim mit dem Ankauf von Rüstungen.290 Vereinzelt treten auch Magistrate von Städten als Käufer auf, so in Hildesheim im Jahr 1441 beim Verkauf von Arkebusen durch den Juden Samuel.291 Die Belieferung größerer Truppenverbände durch Juden kam offenbar bereits vor dem 16. Jahrhundert vereinzelt vor.292 Im 17. Jahrhundert gewinnen solche Aktivitäten allerdings erheblich Bedeutung. Die Historikerin Selma Stern hat in der zunehmenden Bedeutung stehender Heere einen maßgeblichen Grund dafür gesehen, daß – wie sie es nannte – »jüdische Kriegskommissare« auf den Plan zu treten begannen.293 Der Historiker Jonathan Israel hingegen hat die These vertreten, daß sich vor allem der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) als Weichenstellung erwies.294 Die im Verlauf dieses Krieges auf allen Seiten enorme Nachfrage nach Schießpulver und Waffen habe für die zwischen den konfessionellen Fronten agierenden jüdischen Heereslieferanten bisher ungekannte Chancen geboten. Den Höhepunkt des Phänomens der jüdischen Heereslieferanten sieht Israel um 1700. Ein besonders anschauliches Beispiel bietet die Biographie Samuel Oppenheimers (1630–1703), der heute als einer der wichtigsten Vertreter des voll ausgebildeten Hofjudentums gilt.295 Oppenheimer hatte seine Karriere im Dienste der Habsburger als Kriegsfaktor begonnen. Ansehen erwarb er sich insbesondere im Jahr 1683, als er den kaiserlichen Truppen im Krieg gegen die Türken außer dem dringend benötigten Proviant auch »Handgranaten und Pulver, Lunten, Pistolen und Karabiner auf Schiffen und Flößen die Donau hinab und auf Wagen und Pferden entlang den Landstraßen«296 lieferte. Oppenheimer stand in kaiserlichen Diensten, jedoch finden wir vergleichbare Fälle seit dem 17. Jahrhundert auch unter den Fürsten des Reiches. Nicht immer ging es auf der landesherrlichen Ebene um 289 Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, hg. von Stefi JerschWenzel und Reinhard Rürup, 5 Bde., München etc. 1996–2000, hier Bd. 4, S. 229. 290 Ginsburger, Les juifs et l’art militaire, S. 165. 291 Ebd., S. 162. Siehe auch S. 160 für den vergleichbaren, weiter oben bereits erwähnten Fall des Juden Kipspan in Frankfurt am Main (Mitte 14. Jahrhundert). 292 Vgl. z. B. das Vorhaben des Geldverleihers Vitale Sacerdote 1573 dem Herzog von Savoyen Waffen (»morrioni e archibusi«) für die Soldaten in Nizza zu liefern. Siehe Jews in Piedmont (bearb. R. Segre), Bd. 1, Dok. 1104. 293 Stern, Der Hofjude, Kap. 1 (»Der Kriegskommissar«). 294 Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism 1550–1750, Oxford 1985, hier Kap. 6. Zur Bedeutung von Pulverlieferung für die Herausbildung des Hofjudentums vgl. auch GarcíaArenal/Wiegers, A Man of Three Worlds, S. 130. 295 Stern, Der Hofjude, S. 18–29; Simon Schwarzfuchs, Les Juifs de Cour, in: Shmuel Trigano (Hg.), La société juive à travers l’histoire, 4 Bde, Paris 1993, hier Bd. 3, S. 383–405, hier v. a. S. 390; Israel, European Jewry, S. 124–126. 296 Stern, Der Hofjude, S. 23.
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so große Mengen und Beträge wie bei Oppenheimer. Gemeinsam hingegen ist den allermeisten jüdischen Heereslieferanten, daß sie ihre geographisch oft weit ausgedehnten Operationen nach Möglichkeit selbst leiteten und dabei Unterlieferanten und Agenten auf enge Weise an sich banden.297 Die bisherigen Ausführungen in diesem Kapitel haben sich vor allem mit dem militärischen Sektor beschäftigt. Es muß daher an dieser Stelle nochmals angemerkt werden, daß sich jüdische Erfinder und Ingenieure keineswegs lediglich auf diesen Bereich konzentrierten. Quellenmäßig ungewöhnlich gut dokumentiert ist zum Beispiel das Vorhaben des Krakauer Juden Mendel Isaak im ausgehenden 16. Jahrhundert, eine Brücke über die Donau bei Wien zu bauen.298 Über Mendels Herkunft ist wenig bekannt, möglicherweise ist er identisch mit dem zeitgenössischen Vorsteher der Krakauer Judenschaft namens Mendel Sax.299 Jedenfalls hatte der Erfinder Mendel Isaak nach eigener Aussage bereits für den polnischen König Stephan Báthory Brücken und Pontonkonstruktionen gebaut, bevor er 1589 an Kaiser Rudolf II. herantrat.300 Die Hofkammer war dem Vorhaben, das in der Tat eine höchst notwendige Infrastrukturmaßnahme für die Stadt Wien darstellte, nicht abgeneigt. Nachdem der Supplikant »ettwas weitleufftiger mündtlich vernomben worden« war, kam die Hofkammer in einem Gutachten 1589 zu dem Ergebnis, daß »man abnemen mues, das er dergleichen Sachen nicht unerfarn« sei.301 Mendel präzisierte daraufhin sein Projekt und unterbreitete dem Kaiser einen Vorschlag für eine 30.000 Taler kostende, »gesenkte« (stabile) Brücke, deren bauliche Form er durch ein Modell vorführte. Auch eine auf Schwimmkörpern ruhende Brücke (Pontonbrücke) wurde erwogen.302 Mendels Expertise als Ingenieur hatte ihren Schwerpunkt zwar auf zivilem Gebiet. Dennoch hatte er keinen Anlaß, sein Wissen einer breiten Öffentlichkeit oder in diesem Fall wenigstens der Wiener Obrigkeit bekannt zu machen. Die Verhandlungen führte er nur mit den Beamten des Kaisers, seine Eingaben richtete er direkt an Rudolf II. Mißtrauen erweckte dies keineswegs. Denn daß 297 Ebd., S. 29. 298 Ignaz Schwarz, Ein Wiener Donaubrückenprojekt aus dem XVI. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich 12 (1913), S. 78–100; N. Gelber, An umbakanter briv fun Mendl Itskhok fun Kroke tsum keyzer Rudolf II (jidd.), in: Yivo Bleter 11 (1937), S. 401–405. 299 Schwarz, Ein Wiener Donaubrückenprojekt, S. 80. 300 Eingabe des Mendel Isaak an Kaiser Rudolf II., 4. Juli 1589: »[W]eiln ich der Sachen wohl kundt bin unnd solche Arbeit dem verstorbenen König Batory in Poln hab machen lassen, nemblich Schiff unnd Weegbrugkenn in Reussen und Mosscaw auf grosse fliessende Wasser, da er Krieg mit dem Moscowidter gefueret hat, so wollte ich mich dessen auch annehmen unnd solche Arbeiter mir, wie ich wohl weiss, zuewegen bringen […] und sie wohl underweisen«. Abgedruckt ebd., Dok. 1. 301 Gutachten der Hofkammer vom 1. Juli 1589, ebd., Dok. 2. 302 Eingabe des Mendel Isaak an Kaiser Rudolf II. [Ende 1589], ebd., Dok. 7 Zivile und militärische Technologie
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Mendel etwas von Geheimnissen verstand, wußte man in Prag. Im zurückliegenden Konflikt zwischen Polen und den Habsburgern (1588/1589) hatte Mendel eine wichtige Rolle als Bote und Spion gespielt. Später vertrauten die Habsburger ihm als Emissär im Rahmen ihrer Heiratspolitik und -diplomatie.303 Im Unterschied zu den zahlreichen Projekten, die dem Prager Hof in Eingaben vorgeschlagen wurden und oftmals kaum einer ersten Prüfung standhielten, vermochte Mendels Brückenvorhaben zu überzeugen. Die entsprechenden Verhandlungen zwischen Mendel und dem Hof zogen sich über zwei Jahre hin. Rudolf II. war interessiert, allerdings verschleppten die vom Kaiser mit der Angelegenheit betrauten Kommissare die Entscheidung. Letztlich dürfte das teure Vorhaben versandet sein,304 wozu vermutlich auch der heraufziehende ›Lange Türkenkrieg‹ (ab 1593) beitrug. Ob die Kunde von diesem Rückschlag für den jüdischen Ingenieur sich in jüdischen Kreisen verbreitete, läßt sich nicht sagen. Jedenfalls war Isaak Mendel mit seinen Vorhaben offenbar keine Ausnahme unter den zeitgenössischen Juden. Zur selben Zeit bewarb sich gemeinsam mit einem christlichen Geschäftspartner ein gewisser, in den Quellen als »Hofjude« firmierender Leobel Mirowitz beim Kaiser um die Erlaubnis zur (verbesserten) Schiffbarmachung von Flüssen im Reich, darunter der Elbe. Inwieweit die Realisierung dieses ehrgeizigen Projekts, das beträchtliches technologisches know-how erfordert hätte, am Hof erwogen wurde, ist nicht bekannt.305 Der spanische König Philipp II. wiederum bekundete ausgerechnet inmitten der von ihm angeordneten Vertreibung der Juden aus der spanischen Lombardei in den 1590er Jahren Interesse an einem Geheimnis zur Meerwasserentsalzung, das von einem lombardischen Juden angeboten worden war.306 In denselben Jahren beschäftigte man sich am spanischen Hof mit den hydraulischen Erfindungen eines gewissen Kalonimos aus Lodi, dem der König ein Privileg gewährte.307 Dieser Kalonimos ist, wie sich zeigen läßt, identisch mit dem Juden Clemente Pavia aus Lodi, der 1595 von den Gonzaga zu Mantua ein Privileg für seine Erfindung zur Felderbewässerung erhielt.308 Er war ordinierter
303 Dies geht aus Dokumenten hervor, die N. Gelber 1937 veröffentlichte. Vgl. Gelber, An umbakanter briv. 304 Schwarz, Ein Wiener Donaubrückenprojekt, S. 84. 305 ÖStA, Hofkammerarchiv, Verschiedene Vorschläge, Nr. 81 [1589]. 306 Renate Segre, Gli ebrei lombardi nell’età spagnola. Storia di un’espulsione (= Memorie dell’accademia delle scienze di Torino, ser. IV, Bd. 28), Turin 1973, S. 93; siehe auch Jews in the Duchy of Milan (bearb. S. Simonsohn), Bd. 3, Dok. 4118. 307 Segre, Ebrei lombardi, S. 87. 308 Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 270.
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Rabbiner309, Geldverleiher310 und Erfinder. Zwei seiner Brüder widmeten sich ebenfalls der Entwicklung und Vermarktung von technischen Innovationen. Der Bruder Sansone Pavia hatte beispielsweise eine Methode zum Waschen von Reis erfunden (1588). Bekanntheit erlangten die Brüder jedoch vor allem durch die besagten »invenzione delle acque«, die im Kern um die Entwicklung einer neuartigen Wasserpumpe kreisten. Von der Pumpe haben sich detaillierte technische Zeichnungen erhalten; vieles spricht dafür, daß die Erfindung realisierbar und funktionstüchtig war. So gibt es Belege, daß in der Lombardei, wo die Erfindung seit 1594 patentiert war, christliche Kunden – darunter auch ein Adliger – die von den jüdischen Brüdern entwickelte Pumpe für die Bewässerung eigener Ländereien anschafften.311 Ein großer Anteil der von Juden patentierten Technologien und Erfindungen betraf darüber hinaus den Textilsektor.312 Auch chemische Verfahren wurden mitunter patentiert.313 So erhielten die Piemonteser Juden Fortunio Lattis und Isac Grechetto 1608 in der Toskana ein Privileg, das ihnen die Extraktion von verschiedenen Mineralsalzen aus Sumpfland und die Herstellung von Vitriol erlaubte.314 Bereits 1515 informierte der Kardinal Giulio de’ Medici seinen Cousin Lorenzo in Florenz über eine Gruppe von Juden, die mit Geheimnissen zur Herstellung von Salpeter und Vitriol nach Rom gekommen waren (»certi giudei maestri di salnitri, e’ quali hanno certi nuovi modi secreti, molto belli et varii«).315 Der Kardinal maß der Angelegenheit große Bedeutung bei, er versprach sich beträchtlichen ökonomischen Nutzen von diesen Geheimnissen.316 Er empfahl daher eine Einladung dieser mutmaßlich sephardischen317 Juden nach Pisa, wo sie ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen sollten.318 In Venedig wiederum war
309 So beiläufig Bonfil, Rabbis and Jewish Communities, S. 122 (nach dem unveröffentlichten Pinkas Kehilla kedosha be-Casale [Casale Monferrato]). 310 Siehe dazu auch weiter unten im Schlußkapitel. Diese Aktivitäten lassen sich für das Jahr erstmals 1592 nachweisen, vgl. Vittore Colorni, La corrispondenza fra nomi ebraici e nomi locali nella prassi dell’ebraismo italiano, in: Ders., Judaica Minora. Saggi sulla storia dell’ebraismo italiano dall’antichità all’età moderna, Mailand 1983, S. 681–826, hier S. 685. 311 Jews in the Duchy of Milan (bearb. S. Simonsohn), Bd. 3, Dok. 4255; 4257; 4310; 4316; 4414. 312 Für die Toskana: Cooperman, Trade and Settlement, S. 185–194, für Mantua: Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 270, S. 280, für Venedig: Berveglieri, Inventori stranieri, v. a. S. 88–89 313 Die Herstellung von Salpeter wird in einem eigenen Kapitel weiter unten behandelt. 314 Cooperman, Trade and Settlement, S. 190–191. 315 Cassuto, Ebrei a Firenze, S. 194 sowie Dok. 59; 60. 316 »Et mi pare che ad ogni modo doviate tirarli al servitio vostro, perchè simile occasione non si trovono ogni giorno«. Zitiert nach ebd., Dok. 59. 317 Wischnitzer, A History of Jewish Crafts, S. 143. 318 »[N]e facessi qualche prova, et se havessino come dicono qualche secreto intrattenerli«. Zitiert nach Cassuto, Ebrei a Firenze, Dok. 60. Zivile und militärische Technologie
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es die bereits verschiedentlich erwähnte jüdische Familie Sarfatti, die aufgrund eines Privilegs die Herstellung von Sublimat und einer Reihe weiterer chemischer Substanzen über mehrere Generationen hinweg und auf der Grundlage spezieller Geheimnisse betrieb. Schließlich bleibt zu erwähnen, daß selbst fragwürdige technologische Geheimnisse und Erfindungen von Juden Chancen auf eine Patentierung hatten. So wandten sich in der schweren Hungerskrise von 1590 gleich drei verschiedene Juden in Eingaben an die venezianische Obrigkeit und boten wunderliche Geheimnisse zur Vermehrung von Mehl an. Den ersten Anlauf unternahm ein gewisser Salamon Navarro, dessen »secreto mirabile« eine Steigerung der Mehlmenge um fünfundzwanzig Prozent in Aussicht stellte. Navarro ließ keinen Zweifel daran, daß er sich auf dem Gebiet der Arkana gründlich auskenne und auf der Suche nach lukrativen Geheimnissen bereits die Welt durchreist habe.319 Dies war freilich ein beliebter rhetorischer Topos,320 und überdies war Navarro keineswegs konkurrenzlos. Ein gewisser Salomon da Bassano pries bereits wenige Wochen später ein spezielles, nicht minder geheimnisvolles Mehl an, durch das sich die Brotmenge ebenfalls erheblich steigern ließe.321 Um dieselbe Zeit trat auch ein Jude namens Simon di Roman auf den Plan, der sich sogar erbot, der Serenissima ein Geheimnis zur Steigerung der Brotmenge um fünfzig Prozent zu verkaufen.322 Im Unterschied zu seinen Konkurrenten, die lediglich um eine Gratifikation in Höhe von 500 Dukaten und ein Privileg für ihre geheimes Wissen gebeten hatten, wird beim letztgenannten Simon di Roman auch der fließende Übergang zwischen dem Handel mit Geheimnissen und traditionellen Formen des jüdischen Wirtschaftslebens besonders gut sichtbar. Denn Simon war weniger an einem einmaligen Honorar für sein Geheimnis gelegen als vielmehr an einer obrigkeitlichen Erlaubnis, im Gegenzug drei sensarie (Makler- und Mittlergeschäfte) in Venedig zu betreiben.323 Die venezianische Obrigkeit suchte zu dieser Zeit in der Tat fieberhaft nach einem Ausweg aus der Hungerskrise und es ist bezeichnend, daß auch der zyprio319 »[H]avendo io per acquistare molti secreti peregrinato il mondo, et anco speso del mio havere, e la miglior parte de miei anni […]«. Eingabe des Salamon Navarro vom 11. Dezember 1590, ASV, Senato Terra, filza 119. Vermutlich handelt es sich bei diesem Geheimniskundigen um Salamon di Lazzaro Navarro, einen Juden aus Livorno, der in den 1590er Jahren mit dem weiter unten erwähnten jüdischen Erfinder Maggino di Gabrielli kooperierte und primär in der Textilherstellung tätig war – was einmal mehr verdeutlichen würde, daß Figuren wie Salamon Navarro nicht voreilig als Scharlatane abgestempelt werden sollten. Zum Livorneser Salamon vgl. Dora Liscia Bemporad, Maggino di Gabriello »Hebreo Venetiano«. I dialoghi sopra l’utili sue inventioni circa la seta, Florenz 2010, S. 26, S. 96, S. 262. 320 Siehe vergleichbare Beispiele bei Gentilcore, Medical Charlatanism, S. 362. 321 Eingabe des Salomon da Bassano vom 6. Februar 1591, ASV, Senato Terra, filza 119. 322 Eingabe des Simon di Roman vom 6. Februar 1591, ASV, Senato Terra, filza 119. 323 Zum Beruf der sensali (venezianisch: sanseri), die weit über den Güterhandel hinaus als Makler auftraten vgl. de Vivo, Information and Communication, S. 108–109.
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tische Alchemist Marco Bragadino, der gesellschaftlich wie geographisch aus der Peripherie des venezianischen Territoriums stammte, zur selben Zeit mit der Serenissima über märchenhafte Getreidelieferungen aus Bayern verhandelte.324 Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, daß die venezianischen Behörden die geheimnisvollen Angebote der jüdischen Erfinder zur wundersamen Brotvermehrung ebenfalls ernstnahmen. Das Problem des Hungers und speziell des Brotmangels war, wie der Historiker Piero Camporesi verdeutlicht hat, eines der drängendsten der Frühen Neuzeit.325 So nahm der angesehene Giovan Battista Della Porta zur selben Zeit Geheimnisse zur Herstellung von Brot in die erweiterte Neuauflage seiner Magia naturalis auf.326 Der venezianische Senat war sogar bereit, demjenigen, der gewissermaßen ein Patentrezept gegen die Hungersnot liefern könne, eine monatliche Rente in Höhe von hundert Dukaten zu gewähren. Doch hatten die für den Getreidemarkt zuständigen Provveditori alla biave diese Belohnung an drei Bedingungen geknüpft. So mußte das Geheimnis bisher unbekannt und unbeschrieben sein, sodann vollständig gegenüber der Obrigkeit ›enthüllt‹ (palesato) und schließlich von Ärzten für gesundheitlich unbedenklich erklärt werden.327 Ob die drei erfinderischen Juden, deren Spur sich verliert, bereit oder in der Lage waren, sich diesen Bedingungen zu stellen, ist nicht bekannt. Dies gilt auch für die vier nichtjüdischen Petenten, die zur selben Zeit und in derselben Sache bei der venezianischen Obrigkeit vorstellig wurden.328 Interessanterweise entschieden sich unter letzteren jedoch manche für die Anonymität. Es ist daher um so bemerkenswerter, daß die jüdischen Petenten ausnahmslos weder ihre Namen noch ihre Religion verschwiegen. Dies läßt Spekulationen darüber zu, ob die Betonung der jüdischen Herkunft die Glaubwürdigkeit des wundersamen Anerbietens nicht sogar verstärkte. Denn auf christlicher Seite war – wie bereits erwähnt wurde – wenig Phantasie nötig, um Juden Kenntnisse solcher, ans Magische grenzenden Geheimnisse zuzutrauen. Aber auch jenseits solcher abenteuerlicher Erfindungen war die Juden zugeschriebene Expertise bei der Entwicklung von Technologien bzw. ihrem Transfer beträchtlich. Dies war – wie einige der bisher angeführten Beispiele gezeigt haben – mitunter nicht unbegründet. Die Vorstellung von einer solchen technologischen Expertise der Juden darf jedenfalls in ihrer Bedeutung für die Wiederansiedlung von Juden im Italien des 16. Jahrhundert nicht unterschätzt werden. 324 Ivo Striedinger, Der Goldmacher Marco Bragadino. Archivkundliche Studie zur Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts, München 1928, S. 108. 325 Piero Camporesi, Il pane selvaggio, Bologna 21983. 326 Giovan Battista Della Porta, Magiae naturalis libri XX, Neapel: Salvianum 1589, S. 93–96. 327 Vgl. etwa das Gutachten der Provveditori e sopraproveditori alla biave vom 11. Februar 1591, ASV, Senato Terra, filza 119. 328 Alle Eingaben in ASV, Senato Terra, filza 119. Zivile und militärische Technologie
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So versprach sich der toskanische Großherzog Ferdinando in den 1590er Jahren von seiner Einladung an levantinische Kaufleute nicht nur einen Aufschwung des Levantehandels in Livorno, sondern auch einen technologischen Innovationsschub für sein Territorium.329 Vor allem sephardische Juden genossen in Italien den Ruf, technologisches Wissen einführen oder beschaffen zu können, und manche sephardische Biographie in Italien deutet in der Tat darauf hin, daß diese Annahme Entsprechungen in der Realität hatte.330 In der Mitte des 17. Jahrhunderts hatte der Herzog von Savoyen die iberischen Juden nicht zuletzt in ihrer Eigenschaft als ›Erfinder‹ ins Land ziehen wollen.331 Es wäre dabei voreilig anzunehmen, technisches Wissen sei unter frühneuzeitlichen Juden nur auf die kleine Gruppe der professionellen Ingenieure beschränkt gewesen. Aufschlußreich ist ein erhaltener hebräischer Privatbrief eines italienischen Juden aus dem späten 16. Jahrhundert, in dem eine (vermutlich christliche) Hochzeit geschildert wird, bei der die Gäste mit aufwendigen Wasserspielen und Maschinen unterhalten wurden. Der jüdische Briefschreiber erörtert darin den Antrieb und die Mechanik dieser Attraktionen.332 Auch der jüdische Arzt Joseph Salomon Delmedigo ging in seinem Werk namentlich auf hydraulische Maschinen ein, als er auf die Verdienste von Ingenieuren zu sprechen kam.333 Daß speziell jüdische Ingenieure auch mit ans Absurde grenzenden Allmachtsphantasien in Verbindung gebracht werden konnten und ihnen die böswillige Anwendung ihres technologischen Wissens gegen Christen vorgeworfen wurde, bezeugt eines der bedeutendsten englischen Bühnenstücke des späten 16. Jahrhunderts. In Christopher Marlowes Der Jude von Malta (um 1589/1590) übt die fanatische jüdische Hauptfigur explizit auch den Beruf des Ingenieurs aus.334 Die Literaturwissenschaft hat die mittelalterlichen Traditionsstränge der Judenfeindschaft Marlowes inzwischen deutlich herausgearbeitet335, sich jedoch fast
329 Cooperman, Trade and Settlement, S. 1. 330 Cecil Roth, A Note on the Astronomers of the Vecinho Family, in: Ders., Gleanings. Essays in Jewish History, Letters and Art, New York 1967, S. 174–178. 331 Israel, European Jewry, S. 180. 332 Isaiah Sonne, Shemona Michtavim mi-Ferrara min ha-Me’a ha-shesh essre, (hebr.: Acht Briefe aus Ferrara aus dem 16. Jahrhundert), in: Zion. A Quarterly for Research in Jewish History 14 (1952), S. 148–156, hier S. 145. 333 Joseph Salomon Delmedigo, Sefer Matzref la-Chochma, Jerusalem o. D. [um 1980; erstmals Basel 1629], Kap. 7, S. 49. 334 »Being young I studied Physicke, and began / to practise first upon the Italian; / […] And after that was I an Engineere, / and in the warres ‚twixt France and Germanie, / Under pretence of helping Charles the fifth, / Slew friend and enemy with my strategems.« Marlowe, The Jew of Malta, hg. von R. Gill, II, 3. 335 Arthur Freeman, A Source for the ›Jew of Malta‹, in: Notes and Queries 207 (1962), S. 139–141.
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Facetten der Ökonomie des Geheimen
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überhaupt nicht mit der bemerkenswerten Entscheidung des Autors beschäftigt, den jüdischen Protagonisten als Ingenieur auftreten zu lassen. Diese Entscheidung Marlowes läßt sich nicht auf den Einfluß der judenfeindlichen Literatur des Mittelalters zurückführen. Vielmehr muß dieses Detail der Handlung vor dem Hintergrund von Diskursen im 16. Jahrhunderts über die Rolle von Juden im frühneuzeitlichen Technologietransfer gesehen werden.336 In der Tat wurde in Marlowes Epoche von christlichen Autoren die Meinung vertreten, sephardische Juden hätten bei ihrer Niederlassung im osmanischen Reich dem türkischen Erzfeind sensible europäische Waffentechnologie und militärische Geheimnisse preisgegeben. Einschlägig waren in diesem Zusammenhang die Quatre premiers livres des navigations des französischen Hofgeographen Nicolas de Nicolay (1517– 1583), in denen der Autor genau diesen Vorwurf erhob.337 Die Abhandlung wurde mehrfach aufgelegt und in die großen europäischen Sprachen übersetzt. Historiker haben Nicolays Behauptung später allzu unkritisch Glauben geschenkt.338 Dies mag zusammenhängen, daß auch jüdische Autoren des 16. Jahrhunderts ähnliche Behauptungen aufstellten (wenngleich aus ganz anderen Gründen als Nicolay). Jüdischen Autoren wie Eliya Capsali und Joseph ha-Cohen ging es darum das Ansehen ihrer Religion zu steigern, wenn sie behaupteten, daß die schmählich aus Spanien vertriebenen Juden »so geschickte Arbeiter in der Anfertigung von Kanonen, Bogen und grobem Geschütz, von Schwertern, Schilden und Lanzen« seien.339
336 Ethel Seaton nimmt an, daß Marlowe schon durch seine geheimdienstlichen Aktivitäten über die Situation und das Milieu der sephardischen (Krypto-)Juden am elizabethanischen Hof und auf dem Kontinent gut informiert war. Siehe Ethel Seaton, Fresh Sources for Marlowe, in: Review of English Studies 5 (1929), S. 385–401. Bawcutt sieht in der Figur des Barabas teilweise sogar ein Portrait des berühmten sephardischen Juden Joseph Nasi, des Herzogs von Naxos. Vgl. N. W. Bawcutt, Introduction, in: Christopher Marlowe, The Jew of Malta, hg. von N. W. Bawcutt, Manchester 1978, S. 1–57, hier S. 5–9. 337 Da mir die französische Ausgabe nicht zugänglich war, zitiere ich aus der italienischen Ausgabe: Nicolas de Nicolay, Le navigationi et viaggi fatti nella Turchia di Nicolo de Nicolai […] Cameriere, & Geografo ordinario del Re di Francia, Venedig: Ziletti 1580 [erstmals frz. als Les quatre premiers livres des navigations et peregrinations orientales, Lyon 1568], Buch IV, Kap. 16, S. 142: »I quali [die marrani, Anm. D. J.] con gran pregiudicio, & danno della Christianità, hanno insegnate al Turco molte inventioni, artificij, & machine di guerra; come il fare l’artegliaria gli archibugi, la polve da cannone, le palle e l’altre arme.« 338 Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, 10 Bde., Berlin 1927, hier Bd. 6, S. 19; Werner J. Cahnman, Role and Significance of the Jewish Artisan Class [Introduction], in: Mark Wischnitzer, A History of Jewish Crafts and Guilds, New York 1965, S. xiii–xxvii, hier S. xxii. 339 Joseph ha-Cohen, Emek habacha von R. Joseph ha Cohen, aus dem Hebr. ins Dt. übertragen von M. Wiener, Leipzig 1858, S. 121; Gábor Ágoston, Guns for the Sultan. Military Power and the Weapons Industry in the Ottoman Empire, Cambridge 2005, S. 45. Zivile und militärische Technologie
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Die jüngere Forschung geht demgegenüber davon aus, daß der Vorwurf Nicolays im Kern nicht haltbar ist.340 Einen massiven Transfer von militärischer Technologie durch sepharadische Juden hat es nicht gegeben. Dabei wäre es aber zu einfach, die Motive für die gegen die sephardischen Juden erhobenen Vorwürfe lediglich aus der offenkundigen Judenfeindschaft des Autors abzuleiten.341 Vielmehr muß in Rechnung gestellt werden, daß christliche Autoren wie Nicolay in ihrer Kritik zwar von Sepharden sprachen, aber implizit auch das heikle Thema der christlichen Deserteure im osmanischen Reich berührten und kaschierten. Zudem boten solche Vorwürfe französischen Autoren wie Nicolay die Möglichkeit, auf subtile Weise den Rivalen Spanien zu kritisieren, dessen Politik der Judenvertreibung diese behauptete Entwicklung überhaupt erst verursacht hatte.342 Zwar ist es richtig, daß die osmanischen Sultane im 16. Jahrhundert verschiedentlich militärische Experten aus anderen Ländern – darunter neben christlichen Renegaten auch Juden – in Dienst nahmen.343 So sind jüdische Schmiede und Metallurgen in der zentralen Geschützgießerei (Tophane-i Amire) in Konstantinopel nachweisbar. In dieser Gießerei arbeiteten beispielsweise in den 1510er Jahren dreizehn jüdische und sieben ursprünglich christliche Spezialisten. Bei schätzungsweise insgesamt sechzig Mitarbeitern der Tophane-i Amire beträgt der Anteil der Juden somit knapp zwanzig Prozent.344 In den Jahren 1517/1518 waren die jüdischen Kollegen an der Herstellung von zweiundzwanzig großen, mehrere Meter langen Kanonen für den Sultan beteiligt.345 Ob Nicolay freilich von all diesen Dingen wußte, ist mehr als fraglich. Das Gebiet der Waffenherstellung unterlag im osmanischen Reich ebenso wie in Europa einer strengen Geheimhaltung, und in der Tat wurde auch in Konstantinopel das für die Produktion notwendige metallurgische und militärische Wissen – einem Geheimwissen gleich – lediglich vom Meister an den Schüler weitergegeben.346 Wahrscheinlich ist dagegen, daß Vorwürfe wie diejenigen Nicolays eher insofern auch einen verzerrten realen Kern hatten, als damit die Kunde von der Tätigkeit von Juden als Textillieferanten für die in Europa gefürchteten Truppen der Janitscharen aufgegriffen wurde. Diese – angesichts der dominierenden Stellung 340 Ágoston, Guns for the Sultan, S. 45; Veinstein, Transferts technologiques, S. 89; Jonathan I. Israel, Diasporas within a Diaspora. Jews, Crypto-Jews and the World Maritime Empires (1540–1740), Leiden etc. 2002, S. 53–54; ablehnend ist auch Cooperman, Trade and Settlement, S. 54. Weniger skeptisch äußert sich dagegen Thomas F. Glick, Moriscos and Marranos as Agents of Technological Diffusion, in: History of Technology 17 (1995), S. 113–125. 341 Diese Judenfeindschaft Nicolays in seinen Navigationi et viaggi ist zum Beispiel unübersehbar in Buch IV, Kap. 16, S. 145. 342 Veinstein, Transferts technologiques, 89. 343 Ágoston, Guns for the Sultan, S. 42–46. 344 Ebd., S. 45–46. 345 Ebd., S. 65. 346 Ebd. S. 46.
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von Juden in der osmanischen Textilindustrie – eigentlich kaum überraschenden Geschäfte konnten in den Augen europäischer Reisender den Eindruck erweckten, Juden seien im großen Stil und auch auf technologischem Gebiet als Lieferanten des türkischen Heeres tätig.347 Auch das Auftreten des Abenteurers David Reuveni in Europa in den 1520er Jahren könnte solche Gerüchte verbreitet haben. Reuveni, dessen Herkunft bis heute umstritten ist, erregte damals nicht zuletzt Aufsehen mit seiner Behauptung, er sei in seiner Eigenschaft als Kriegsminister des in der Wüste Chabor regierenden jüdischen Königs Joseph nach Europa gekommen, um Waffen und Militärexperten für das Heer des Königs zu beschaffen.348
Das Einhorn: Juden als Vermittler von Geheimnissen der Natur Die in diesem Kapitel angestrebte Überblicksdarstellung zu den Aktivitäten von Juden auf verschiedenen Gebieten der frühneuzeitlichen Ökonomie des Geheimen soll mit einem knappen Exkurs beschlossen werden, in dem das Augenmerk der Rolle von Juden als Beschaffer, Händler und Kenner jenes Objektes gilt, in dem die Zeitgenossen eines der begehrtesten Geheimnisse der Natur sahen. Die Rede ist vom legendären Einhorn. Der italienische Gelehrte Andrea Bacci übertrieb keineswegs, wenn er in seiner 1573 veröffentlichten Abhandlung L’alicorno das Einhorn den Inbegriff für die Geheimnisse der Natur nannte.349 Zeitgenossen wie Bacci waren sich einig in der Ansicht, daß sich bisher keine Epoche so sehr für das seltene Tier interessiert habe wie die eigene.350 Das Horn (ital. alicorno) des sagenhaften Tieres (ital. unicorno) vorweisen zu können, stellte die Krönung jeder fürstlichen und privaten Kunstkammer dar.351 Doch weckte nicht nur die Seltenheit des Einhorns die Begehrlichkeit europäischer Sammler. Nicht wenige Zeitgenossen schrieben dem eigentlichen Horn auch magische Eigenschaften zu.352 Vor allem aber galt das Horn als überaus kostbare Medizin, zumal als ein
347 Benjamin Braude, The Rise and Fall of Salonica Woolens 1500–1650. Technology Transfer and Western Competition, in: Alisa Meyuhas Ginio (Hg.), Jews, Christians, and Muslims in the Mediterranean World after 1492, London etc. 1992, S. 216–236, hier S. 232. 348 Sippur David ha-Reuveni, hg. von A. Z. Aescoly. 349 Andrea Bacci, L’alicorno. Discorso dell’eccellente medico, et filosofo M. Andrea Bacci nel quale si tratta della natura dell’Alicorno, & delle sue virtù Eccellentißime, Florenz: Marescotti 1573, S. 18. 350 Ebd., S. 51. 351 Die klassische Studie zur Geschichte der Einhorn-Vorstellungen ist: Odell Shepard, The Lore of the Unicorn, London 21967. Siehe auch Flora Manzonetto, Storia di un alicorno tra Venezia e Istanbul, Venedig 1989; sowie Lorraine Daston/Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, 1150–1750, Frankfurt am Main 2002, v. a. S. 85, S. 88. 352 Manzonetto, Storia di un alicorno, S. 75–78. Das Einhorn: Juden als Vermittler von Geheimnissen der Natur
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seine Wirkung kaum je verfehlendes Antidot.353 Auch zu Talismanen wurde es verarbeitet.354 Freilich gelang es nur wenigen Fürsten und Privatsammlern, eines ganzen Hornes habhaft zu werden. Es nimmt daher nicht wunder, daß das Kunstkammerinventar Kaiser Rudolfs II. aus den Jahren 1607–1611 unter den abertausenden beschriebenen Objekten an erster Stelle »1 Einhorn, gantzer lenge« führt.355 Die Republik Venedig hatte sogar drei solcher Hörner an sich gebracht – manche davon unter politisch delikaten Umständen – und bewahrte diese Trophäen im Staatsschatz auf.356 Auch das Einhorn der Gonzaga lagerte in der herzoglichen Schatzkammer und wurde in Reisebeschreibungen oft erwähnt.357 Ungeheure Summen wurden für angebliche Hörner des Einhorns bezahlt. Bereits unter Papst Clemens VII. wurde ein Horn für 27.000 Dukaten verkauft. Der venezianische Senat erbot sich 1611 sogar – wenn auch vergeblich –, das Horn aus der Sammlung Augusts I. von Sachsen für die stolze Summe von 100.000 fiorini d’oro zu erwerben.358 Weitaus einfacher war es hingegen, kleinere Mengen von alicorno zu erstehen. Allerdings hatte auch dies seinen Preis: Denn selbst pulverisiertes oder in Stücken dargebotenes alicorno wurde in der Frühen Neuzeit für Summen verkauft, die zehnmal höher waren als der Preis, den dieselbe Ware erzielt hätte, wenn sie ganz aus Gold gewesen wäre.359 Der Nachfrage tat dies keinen Abbruch. Am Mantuaner Hof beispielsweise war man der Ansicht, daß für das Allheilmittel Einhorn im Unterschied zu Juwelen sogar außergewöhnlich hohe Preise angemessen seien. Immerhin könne – so das Argument eines Hofbeamten im Jahr 1591 – das tierische Allheilmittel jederzeit Leben retten, wohingegen etwa Edelsteine nur das Auge erfreuten.360 Das Tier, für das solche sagenhaften Summen bezahlt wurden, existierte natürlich damals so wenig wie heute. Damit ist auch die Frage angesprochen, worum es sich dann eigentlich bei den viel bewunderten Hörnern in den Kunst- und Schatzkammern handelte. Die Forschung geht davon aus, daß die meist aus dem Orient nach 353 Bacci, L’alicorno, S. 71, S. 75; siehe auch Shepard, Lore of the Unicorn, v. a. S. 119. 354 Hermann Güntert, Lemma Einhorn, in: HdA, Bd. 2, Sp. 708–712, hier Sp. 709. 355 Das Inventar wird eröffnet mit der Kategorie »Allerley köstliche Hörner und Gebain«. Vgl. Das Kunstkammerinventar Kaiser Rudolfs II., 1607–1611, hg. von Rotraud Bauer und Herbert Haupt (= Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen in Wien 72 [1976]), S. 4. 356 Manzonetto, Storia di un alicorno. 357 Raffaela Morselli, »Il più grande edificio principesco del mondo«. Storia e fortuna delle collezioni ducali da Guglielmo Gonzaga al sacco di Mantova, in: Gonzaga/Elenco dei beni, S. 35–173, hier S. 131. 358 Dario A. Franchini et al., La scienza a corte. Collezionismo eclettico, natura e immagine a Mantova fra Rinascimento e Manierismo, Rom 1979, S. 118. 359 Shepard, Lore of the Unicorn, S. 114. 360 Gonzaga/Venedig II, Dok. 116.
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Europa exportierten Hörner in Wahrheit überwiegend von Narwalen, seltener auch von Elefanten stammten.361 Daß die meisten dieser spitzen Prestigeobjekte aus Asien nach Europa gelangt waren, weckte dabei unter fürstlichen Sammlern wie in gelehrten Kreisen kaum Mißtrauen. Asien, vor allem Indien, galt in der europäischen Imagination bereits seit der Antike als natürlicher Lebensraum des seltenen Tieres.362 Es kann daher nicht verwundern, daß Juden aufgrund des ihnen zugeschriebenen Wissens über den Orient, aber auch aufgrund ihrer bis nach Indien reichenden Handelsbeziehungen als gefragte Experten mit Blick auf das Einhorn galten. Namentlich Höfe waren es, die sich in der Regel an Juden wandten, wenn es darum ging ›Geheimnisse der Levante‹ – wie es damals hieß363 – zu enthüllen. In der Tat begegnen Juden in den Quellen dieser Zeit nicht zuletzt als Lieferanten exotischer Tiere aus der Levante und Nordafrika. So beauftragte der Mantuaner Hof im späten 16. Jahrhundert den jüdischen Juwelier David Cervi mit der Beschaffung von Luchsen aus dem Orient.364 1662 überbrachte ein Jude namens Angelo (Mordechai Baruch) Lima im Auftrag des Bey von Tripolis (im heutigen Libyen) eine Reihe von lebenden exotischen Tieren dem Großherzog der Toskana. Darunter war ein Löwe, vier Antilopen und sieben Affen (ital. maimoni, vermutlich Meerkatzen).365 Bei dem jüdischen Überbringer dürfte es sich um ein Mitglied der jüdischen Kaufmanns- und Konsulsfamilie Lima handeln.366 Es kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen, daß es – wie m. W. bisher von der Forschung übersehen worden ist – kein geringer als der mächtige sephardische Kaufmann Salomon Abenaes war, der dem toskanischen Großherzog Cosimo I. einen Becher aus Einhorn schenkte, den er selbst wiederum durch den König von Narsinghgarh (»Re di Narsinga in India«) erhalten haben wollte.367 Dieses seltene Geschenk war mehr als nur eine kostbare Preziose, vielmehr galt das Trinken aus einem solchen Becher bereits bei Ärzten der Antike als wundersames Heilmittel.368 Wenn wir heute auch berechtigte Zweifel an der Wirkung ebenso wie am Material dieses Gefäßes haben dürfen, so sollte allerdings nicht übersehen werden, daß die Quelle des Bechers und des vermeintlichen Einhorns 361 Manzonetto, Storia di un alicorno, S. 7. 362 Shepard, Lore of the Unicorn, v. a. S. 30. Güntert, Lemma Einhorn, in: HdA, Sp. 710; Daston/Park, Wunder, S. 31, S. 88. 363 »Segreti di Levante«. So zum Beispiel in einem Schreiben des Mantuaner Korrespondenten in Ancona an Herzog Vincenzo Gonzaga aus dem Jahr 1592, siehe Gonzaga/Rom, Dok. 164. 364 Die Rede ist von »lupi cervieri di levante«. Siehe Gonzaga/Venedig II, Dok. 25; 26; 27. 365 Reggiep Bey aus Tripolis an Ferdinando II de’ Medici, ASF, Medico del principato, 1082, fol. 645, 10.5.1662. Ich entnehme diese Quelle dem digitalen Medici Archive Project [www.medici.org], Document ID 17814. 366 Siehe hierzu demnächst Jütte, The Jewish Consuls. 367 Bacci, L’alicorno, S. 55. 368 H. Brandenburg, Lemma Einhorn, in: RAC, Bd. 4, Sp. 840–862, hier Sp. 841, Sp. 843; vgl. auch Shepard, Lore of the Unicorn, S. 136. Das Einhorn: Juden als Vermittler von Geheimnissen der Natur
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nach damaligen Maßstäben sehr glaubwürdig war. Die Herkunft des Geschenks aus Indien war unzweifelhaft. Denn Salomon Abenaes (1520–1603), der unter dem Namen Alvaro Mendes in eine portugiesische Converso-Familie geboren wurde und 1585 im osmanischen Reich offiziell zum jüdischen Glauben zurückkehrte, hatte in der Tat ein Vermögen durch den Abbau von Diamanten im indischen Fürstentum Narsinghgarh verdient.369 Sein Reichtum war bereits zu Lebzeiten legendär, dem osmanischen Sultan soll er beispielsweise 30.000 Gulden für das Privileg des Handkusses gezahlt haben.370 Abenaes war einer der mächtigsten Juden am osmanischen Hof und wurde zum Herzog von Mytilini (in der Ägäis) ernannt. Der jüdische Kaufmann und Diplomat gilt als einer der wichtigsten Architekten der politischen Annäherung zwischen England und dem osmanischen Reich im späten 16. Jahrhundert. Er war es bezeichnenderweise auch, der die Kunde von der Niederlage der spanischen Armada 1588 als erster der Regierung des osmanischen Reiches überbrachte.371 Manches spricht dafür, daß Juden, zumal solch gut vernetzten Kaufleuten wie Abenaes, nicht nur die Fähigkeit zugetraut wurde, das begehrte Horn herbeizuschaffen. Vielmehr wurde ihnen zudem ein spezielles Wissen über das seltene Tier zugeschrieben. Solch eine Expertise wurde Juden auch in der medizinischen Literatur zugetraut.372 Zu dieser Reputation mag beigetragen haben, daß das Einhorn insbesondere in der patristischen Literatur verschiedentlich mit den Juden verglichen wurde, da diese nur an eine göttliche Person glaubten und eine einzigartige Stellung beanspruchten.373 Vor allem aber dürfte von Bedeutung gewesen sein, daß die Bibel ein als Re’em (ʭʠʸ) bezeichnetes Tier kennt, das im Judentum und auch im Christentum später nicht selten als Einhorn identifiziert wurde.374 Einer nachbi369 Vgl. Cecil Roth, Lemma Abenaes, Solomon, in: EJ, Bd. 1, S. 249–250; siehe auch Lucien Wolf, Jews in Elizabethan England, in: Transactions of the Jewish Historical Society of England, 11 (1928), S. 1–91, hier v. a. S. 24–29. 370 Pullan, The Jews of Europe, S. 186. 371 Roth, Lemma Abenaes, in: EJ, S. 249–250. 372 Vgl. dazu auch Shepard, Lore of the Unicorn, S. 118. 373 Dazu Brandenburg, Lemma Einhorn, in: RCA, Sp. 849–851. 374 Siehe z. B. Num 23:22; Deut 33:17; Ps 22:22; Ps 29:6, Ps 92:11. Hiob 39:9–12. Zu nachbiblischen Quellen zum Re’em und seiner Größe vgl auch Louis Ginzberg, Legends of the Jews, 2 Bde., Philadelphia 2003 [11909–1938]. Der Begriff Re’em wird heute von Bibelwissenschaftlern eher mit einem wilden Büffel bzw. Wildstier identifiziert. Das hellenistische Judentum tendierte noch dazu, den Re’em mit einem Nashorn zu identifizieren. Auch in der Vulgata wurde der Begriff nicht nur als »unicornis«, sondern auch als »rhinoceros« wiedergegeben. Im Laufe der Jahrhunderte gewann die Deutung als Einhorn allerdings auf jüdischer wie christlicher Seite immer mehr an Glaubwürdigkeit. Auch Luther sieht im Re’em generell ein Einhorn. Vgl. Güntert, Lemma Einhorn, in: HdA, Sp. 711; Brandenburg, Lemma Einhorn, in: RCA, Sp. 845–846.
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blischen Legende zufolge soll bereits der Stamm Manasse mit einer Fahne, auf der ein Einhorn abgebildet war, durch die Wüste gezogen sein.375 Nach weit verbreiteter Auffassung konnten die Juden als diejenige Gruppe gelten, deren Wissen um die geheimnisvolle Existenz des Einhorns am ältesten war. Schlägt man etwa Baccis Buch über das Einhorn auf, so finden sich auch aus diesem Grund detaillierte Ausführungen des christlichen Mediziners zum Einhorn in der chaldäischen und hebräischen Sprache und Literatur.376 Es ist interessant, daß ein heute nicht mehr identifizierbarer zeitgenössischer Leser, der ansonsten keine Anstreichungen im Text hinterließ, ausschließlich jene Zeilen in Baccis einschlägigem Werk anstrich, die sich mit dem Einhorn im Judentum und speziell im Sefer Josippon beschäftigten.377 Allerdings mußten Baccis Leser, zumal seine jüdischen, nicht erst zum Sefer Josippon oder zum Talmud378 greifen, um sich über die jüdische Sicht auf das wundersame Tier zu informieren. Bildliche Darstellungen des Einhorns finden sich in zahlreichen illuminierten jüdischen Handschriften seit dem Mittelalter. Namentlich in hebräischen Bestiarien aus dem aschkenasischen Raum war die Darstellung von Einhörnern sehr beliebt.379 Darunter ist auch das Motiv der Jagd auf das wehrlose Einhorn. Solche Darstellungen existierten ebenfalls in der christlichen Ikonographie und symbolisierten dort in der Regel die Passion Jesu. Es ist daher behauptet worden, daß die Verwendung eines solchermaßen theologisch aufgeladenen Motivs in jüdischen Handschriften eine ikonographische Inversion implizierte, durch die das Einhorn unter umgekehrten Vorzeichen zum Symbol für eine jüdische Leidensgeschichte umdeutet wurde. Dies schließt nicht aus, daß das Einhorn, dessen Darstellung sich in der jüdischen Ikonographie bis ins 19. Jahrhundert nachweisen läßt, auch ein Symbol für das messianische Zeitalter sein konnte.380 Dies dürfte allerdings nicht der Grund sein, weshalb in der Frankfurter Judengasse bereits im 16. Jahrhundert gleich zwei Häuser nach Einhörnern benannt wurden (Haus zum Einhorn und Haus zum Goldnen Einhorn).381 Zu erwähnen ist im vorliegenden Zusammenhang schließlich, daß sich auch eine Reihe prominenter jüdischer Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts in schrift375 376 377 378
Ginzberg, Legends, Bd. 1, S. 688. Bacci, L’alicorno, S. 31. Exemplar der Houghton Library, Harvard University [Signatur: 525.73.I86]. Talmudische Erörterungen zu (Fabel-)Wesen mit einem Horn: Vgl. v. a. BT, Shabbat 28b sowie Avoda Zara 8a. 379 Thérèse Metzger/Mendel Metzger, Jewish Life in the Middle Ages. Illuminated Hebrew Manuscripts of the Thirteenth to the Sixteenth Centuries, Fribourg 1982, S. 26–27. 380 Elliott Horowitz, Odd Couples. The Eagle and the Hare, the Lion and the Unicorn, in: Jewish Studies Quarterly 11 (2004), S. 243–258, hier S. 250. 381 Regesten II (Andernacht), Dok. 2908; 3510; 3578. Das Einhorn: Juden als Vermittler von Geheimnissen der Natur
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lichen Äußerungen mit dem legendären Tier beschäftigten. Der angesehene jüdische Arzt David de Pomis beschrieb das Einhorn im medizinischen Kontext und stellte eine aufwendige Prozedur zur Unterscheidung zwischen echten und falschen alicorno-Präparaten vor.382 Seine renommierten Kollegen Amatus Lusitanus, Abraham Portaleone und Isaac Cardoso äußerten sich ebenfalls über das geheimnisvolle Tier.383 Selbst rabbinische Autoritäten widmeten sich dem Einhorn und seinen Fähigkeiten. So erwähnte im 16. Jahrhundert der im osmanischen Reich beheimatete Rabbiner Moses Trani in einem Responsum, das wenig später bereits in Italien gedruckt zirkulierte, den Nutzen von aus Einhorn (ʥʰʸʥʷʩʬʠ) hergestellten Bechern für die Vorbeugung von Krankheiten.384 Einzigartig im jüdischen Schrifttum sind die ausführlichen Abschnitte, die der Arzt und Kabbalist Abraham Yagel (1553–ca. 1623) in seinem unveröffentlicht gebliebenen Werk Beit Ya’ar ha-Levanon dem Einhorn widmete. Auch er identifizierte das Tier mit dem mehrdeutigen biblischen Re’em, unter dem er sich sowohl das Einhorn wie auch das Nashorn vorstellte. Grund für die detaillierten Ausführungen Yagels war nicht zuletzt das Interesse an der Thematik von seiten des Auftraggebers, des reichen jüdischen Geldverleihers Salomon Fano aus Lugo.385 Möglicherweise war Salomon Fano auf der Suche nach wirtschaftlich verwertbaren Informationen über das seltene Tier. Denn ein frühneuzeitlicher Jude mußte nicht notwendigerweise Arzt sein, um mit dem Verkauf von alicorno Geld zu verdienen. So führte etwa der jüdische Kunst- und Pulverhändler Simone Colorni, Sohn des vielleicht prominentesten jüdischen professore de’ secreti Abramo Colorni, mit beträchtlichem Erfolg angebliches Einhorn in seiner ›Produktpalette‹. Als beispielsweise der Agent der Gonzaga am Kaiserhof in Prag, Aderbale Manerbio, von aufreibenden Dienstpflichtungen ermattet, im Jahr 1608 zusammenbrach, war es die sofortige Verabreichung von Colornis alicorno-Pulver, die dem Diplomaten bereits wenige Minuten später zu Kräften verhalf.386 Yagels Bemerkungen über den medizinischen Nutzen des Horns beruhten vermutlich auf vergleichbaren Erfahrungen, die der Autor selbst in seiner ärztli382 David de Pomis, Tzemach David. Dittionario novo hebraico molto copioso, decciarato in tre lingue. Con bellissime annotationi, e con l’indice latine, e volgare, de tutti li suoi significati, Venedig: Gara 1587, S. 20, S. 190. Siehe auch Shepard, Lore of the Unicorn, S. 117. 383 David B. Ruderman, Unicorns, Great Beasts and the Marvelous Variety of Things in Nature in the Thought of Abraham b. Hananiah Yagel, in: Isadore Twersky/Bernard Septimus (Hg.), Jewish Thought in the Seventeenth Century, Cambridge/Mass. 1987, S. 343–364, hier v. a. S. 352. Portaleones Ausführungen liegen seit kurzem in einer umsichtig kommentierten deutschen Ausgabe vor: Portaleone, Heldenschilde, Kap. 53. 384 Hirsch Jakob Zimmels, Magicians, Theologians and Doctors. Studies in Folk-medicine and Folklore as Reflected in the Rabbinical Responsa (12th–19th Centuries), London 1952, S. 230. 385 Ruderman, Unicorns, Great Beasts and the Marvelous Variety of Things. 386 Gonzaga/Prag, Dok. 1080
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Facetten der Ökonomie des Geheimen
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chen Praxis gesammelt hatte. Der jüdische Arzt ging ausführlich auf die Eignung des Horns als Antidot sowie – je nach Anwendung – auch als Gift ein. Darüber hinaus vermochte er sogar, den medizinischen Nutzen von Blut, Zähnen, Haut und Nägeln des Einhorns zu beschreiben. Für Yagel war das Einhorn aber nicht nur aus medizinischer Sicht von Bedeutung, er überhöhte das durch seine biblische Erwähnung geadelte Tier auch zu einem Symbol für die Größe und Majestät des jüdischen Volkes.387 Yagel war dabei nicht der einzige jüdische Zeitgenosse, der annahm, daß mit dem 16. Jahrhundert eine Epoche eingetreten sei, die mehr denn je Möglichkeiten bot, die Geheimnisse der Natur – par excellence verkörpert durch das Einhorn – zu erforschen. Das Korpus jüdischen Wissens, zumal die Tora, galt in diesem Zusammenhang als einzig den Juden voll zugängliche, gottgegebene Ressource von Wissen und Geheimnissen. Die Geheimnisse der Natur – ausgehend von der Tora – zu erforschen, bedeutete damit auch, den Ruhm Gottes zu mehren.388 Yagel leistete mit seinen Ausführungen zum Einhorn letztlich auch einen Beitrag zur theologischen Legitimation der im Alltag nicht zu übersehenden intensiven Beschäftigung von Juden in der frühneuzeitlichen Ökonomie der Geheimnisse.
387 Ruderman, Unicorns, Great Beasts and the Marvelous Variety of Things, S. 347. Es ist vielleicht ein Indiz für die Tradition einer heroischen Deutung des Einhorns unter Juden (wenngleich gewiß nicht mehr im Sinne Yagels), daß sich noch im 19. Jahrhundert eine Darstellung des Tieres im Familienwappen der europaweit agierenden Bankiersfamilie Familie Rothschild findet. Vgl. Horowitz, Odd Couples, S. 251. 388 Ruderman, Unicorns, Great Beasts and the Marvelous Variety of Things, S. 355. Das Einhorn: Juden als Vermittler von Geheimnissen der Natur
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III. Kapitel Zwischenräume: Die Magie
In den bisherigen Ausführungen zum Spektrum jüdischer Dienstleistungen und Aktivitäten in der Ökonomie des Geheimen hat offenkundig die Magie gefehlt. Im Unterschied zur Alchemie oder zum technologischen Wissen muß ihre Bedeutung für die Lebenswelt des frühneuzeitlichen Judentums nicht erst herausgearbeitet werden. Denn eine Reihe von Studien haben sich inzwischen mit Konzepten und der Praxis der Magie im vormodernen Judentum beschäftigt.1 Dabei ist deutlich geworden, daß Magie durch die gesamte Epoche der Renaissance hinweg ein existentes und manchmal sogar prominentes Phänomen im jüdischen (wie natürlich auch christlichen) Alltag darstellte. Solche Interessen finden sich keineswegs vornehmlich an den Rändern der jüdischen Gemeinschaft, wie mitunter behauptet worden ist.2 Vielmehr beschäftigten sich auch Vertreter der ökonomischen und geistigen Elite des Judentums zumindest auf theoretischer Ebene mit der Magie und priesen sie gelegentlich als vornehmste menschliche Kunst.3 Für Yochanan 1
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Für die Spätantike vgl. Giuseppe Veltri, Magie und Halakha. Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen Judentum, Tübingen 1997; Ludwig Blau, Das altjüdische Zauberwesen, Berlin 21914; siehe auch die Literaturliste bei David B. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, New Haven etc. 1995, S. 380–382. Für die Frühe Neuzeit vgl. Moshe Idel, The Magical and Neoplatonic Interpretations of the Kabbalah in the Renaissance, in: David B. Ruderman (Hg.), Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, New York etc. 1992, S. 107–169; ders., Jewish Magic from the Renaissance Period to Early Modern Hasidism, in: Jacob Neusner/Ernest S. Frerichs/Paul Virgil McCracken Flesher (Hg.), Religion, Science, and Magic in Concert and in Conflict, New York etc. 1989, S. 82–117; außerdem David B. Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science. The Cultural Universe of a Sixteenth-Century Jewish Physician, Cambridge/Mass. etc. 1988; sowie Karl Erich Grözinger/Joseph Dan (Hg.), Myticism, Magic and Kabbalah in Ashkenazi Judaism, Berlin etc. 1995; Karl Erich Grözinger, Jüdische Wundermänner in Deutschland, in: Ders. (Hg.), Judentum im deutschen Sprachraum, Frankfurt am Main 1991, S. 190–221. Yacov Guggenheim, Meeting on the Road. Encounters Between German Jews and Christians on the Margins of Society, in: R. Po-chia Hsia/Hartmut Lehmann (Hg.), In and Out of the Ghetto. JewishGentile Relations in Late Medieval and Early Modern Germany, Cambridge 1995, S. 125–136, hier S. 134–136. Idel, Jewish Magic, S. 86. Zwischenräume: Die Magie
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Alemanno, den jüdischen Weggefährten Picos, stellte die Magie sogar die höchste Form menschlichen Handelns dar, weshalb er sie auch in das Curriculum der Studien integriert wissen wollte.4 In den Augen der christlichen Zeitgenossen galten Juden spätestens seit dem Mittelalter auf dem Gebiet der Magie ohnehin als unbestritten kompetent.5 Selbst in Ländern, in denen gar keine Juden (mehr) lebten, hielt sich die Assoziation von Juden mit der Zauberei hartnäckig.6 Man hielt die Juden für ›natürliche Hüter des magischen Wissens‹7 – eine Vorstellung, die in der Renaissance durch das Interesse von Intellektuellen wie Pico an den Geheimnissen (angeblich) jüdischer Magie noch verstärkt und gewissermaßen nobilitiert wurde.8 Die Motive hinter der Faszination frühneuzeitlicher Juden für die Magie dürften sich im großen und ganzen nicht von denjenigen auf christlicher Seite unterschieden haben.9 In einer Gesellschaft, die in ungleich höherem Maße als die heutige mit Unwägbarkeiten und Risiken konfrontiert war, lockte die Magie Juden wie Christen mit der Aussicht, krisenhafte Situationen überwinden bzw. vermeiden zu
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Ebd., S. 85; siehe auch Richard Kieckhefer, Did Magic Have a Renaissance? An Historiographic Question Revisited, in: Charles Burnett/W.F. Ryan (Hg.), Magic and the Classical Tradition, London etc. 2006, S. 199–212, hier S. 210. Joshua Trachtenberg, The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Anti-Semitism, Philadelphia 1983 [11943], passim; ders., Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion, New York 1939, Kap. 1; R. Po-chia Hsia, The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany, New Haven etc. 1988, v. a. S. 6. Federico Barbierato, Nella stanza dei circoli. Clavicula Salomonis e libri di magia a Venezia nei secoli XVII e XVIII, Mailand 2002, v. a. S. 305; Richard Kieckhefer, Forbidden Rites. A Necromancer’s Manual of the Fifteenth Century, Stroud etc. 1997, S. 115; Moritz Güdemann, Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit, 3 Bde., Wien 1880–1888, hier Bd. 3, S. 153–155; Will-Erich Peuckert, Lemma Jude, Jüdin, in: HdA, Bd. 4, Sp. 808–833, hier Sp. 811–817. Für England vgl. David S. Katz, Philo-Semitism and the Readmission of the Jews to England 1603–1655, Oxford 1982, S. 4. Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Sciences, 8 Bde., New York etc. 1964–1966, hier Bd. 1, S. 450–461. Zur unter Juden wie Christen verbreiteten Deutung von Moses als einem hermetischen Magus vgl. Moshe Idel, Hermeticism and Judaism, in: Ingrid Merkel/Allen Debus (Hg.), Hermeticism and the Renaissance. Intellectual History and the Occult in Early Modern Europe, London etc. 1998, S. 59–76, hier S. 67. Eugenio Garin, L’umanesimo italiano e la cultura ebraica, in: Corrado Vivanti (Hg.), Gli ebrei in Italia (= Storia d’Italia, Annali 11), 2 Bde., Turin 1996–1997, hier Bd. 1, S. 361–383. Die allgemeine Forschungsliteratur zur Magie in der Frühen Neuzeit ist kaum mehr zu überschauen. Eine weiterführende bibliographische Übersicht findet sich bei Cesare Vasoli (Hg.), Magia e scienza nella civiltà umanistica, Bologna 1976, S. 295–303. Als Standardwerk gilt nach wie vor Thorndike, A History of Magic and Experimental Sciences. Zwischenräume: Die Magie
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können.10 Die Magie, namentlich in der Variante der magia naturalis, wurde von vielen Zeitgenossen nicht als esoterische Praxis, sondern als probate Technologie zur Bewältigung alltäglicher Probleme gesehen.11 Jedoch ist diese funktionalistische Erklärung von Magie, die wesentlich auf den polnischen Anthropologen Bronisław Malinowski zurückgeht12, allein nicht ausreichend, um das Interesse an der Magie auf jüdischer Seite befriedigend zu deuten. Denn Magie war nicht nur eine Option zur Bewältigung konkreter Herausforderungen des Alltags, sie bot zumindest für Juden auch ein idealisiertes Substitut für die der Minderheit weitgehend versperrte Möglichkeit direkten politischen Handelns. Bezeichnenderweise war unter Juden die Ansicht weit verbreitet, daß mit den Mitteln der Magie auch die christliche Judenfeindschaft oder sogar das Christentum schlechthin bekämpft werden könnten.13 Messianische Märtyrer wie der portugiesische Jude Salomon Molcho (ca. 1500–1532) oder der Pseudo-Messias Shabbetai Tzevi (1626–1676) wurden im Judentum nicht selten mit magischen Fähigkeiten in Verbindung gebracht, die ihnen angeblich erlaubten, der Unterdrückung und Demütigung der Juden durch Christen ein Ende zu bereiten.14 Auch die Faszination für Wunderrabbis und die Vorstellung von einem auf magische oder kabbalistische Weise erschaffenen Golem sind in diesem Zusammenhang zu nennen.15 Auf christlicher Seite war ohnehin die Meinung verbreitet, die Juden würden sich zur Erreichung politischer Ziele der Magie bedienen. Bereits die (in der Frühen Neuzeit im Druck erschienenen) Annalen von Hirsau verzeichnen für das Jahr 1059, daß die Juden zu Trier durch Zauberei ihre Vertreibung verhindert hätten.16 Kann an dieser Stelle aufgrund der guten Forschungslage darauf verzichtet werden, die Bedeutung der Magie im Alltag frühneuzeitlicher Juden detailliert nachweisen 10 11
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Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth- and Seventeenth-Century England, London 1973, v. a. S. 761–762. William Eamon, Technology as Magic in the Late Middle Ages and the Renaissance, in: Janus 70 (1983), S. 171–212, hier S. 197. Zur magia naturalis im allgemeinen vgl. Will-Erich Peuckert, Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der magia naturalis im 16. bis 18. Jahrhundert, Berlin 1967; siehe jetzt auch Kocku von Stuckrad, Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens, München 2004, S. 100–113. Bronisław Malinowski, Magie, Wissenschaft und Religion, Frankfurt am Main 1973 [11948]. Idel, Jewish Magic, S. 98. Ebd. Zum Golem-Mythos siehe v. a. Moshe Idel, Der Golem. Jüdische magische und mystische Traditionen des künstlichen Anthropoiden, Frankfurt am Main 2007. Demnach habe ein gewisser Rabbiner Moses eine Wachsfigur des Bischofs zum Schmelzen gebracht, woraufhin der Bischof verstorben sei. Vgl. Noel L. Brann, Trithemius and Magical Theology. A Chapter in the Controversy over Occult Studies in Early Modern Europe, Albany 1999, S. 58. Ähnlich gelagerte Legende wurden – allerdings unter positiven Vorzeichen – beispielsweise im populären jiddischen Ma’assebuch (erstmals 1602) tradiert, siehe Das Ma’assebuch, hg. von Ulf Diederichs, München 2003. Zwischenräume: Die Magie
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zu müssen, so soll dafür am Beispiel der Beschäftigung mit Magie ein Aspekt herausgearbeitet werden, der aufschlußreiche Einblicke in die alltägliche Dynamik, aber auch die Attraktivität der Ökonomie der Geheimnisse gewährt. Gemeint ist die Bedeutung der Magie für die Generierung bemerkenswerter und ungewöhnlicher Zwischenräume zwischen christlicher Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minorität.17 Die Praxis der Magie schuf nicht selten Nischen für intensive und vertrauensvolle Kontakte zwischen Juden und Christen. Offiziell hatte diese Praxis nicht zu existieren. So bekräftigte etwa der venezianische Rabbiner Leon Modena, der sich selbst mit der Alchemie beschäftigte und mit dem Verkauf von Geheimnisbüchern ein Zubrot verdiente, in seiner für christliche Leser konzipierten Einführung in das Judentum, daß die Juden »es für eine große Sünde [halten], dem Wahrsagen, Hellsehen oder Kartenlegen, der Geomantie, der Chiromantie oder ähnlicher Wahrsagerei Glauben zu schenken. […] Und noch viel mehr gilt das für jede Art der Nekromantie, Magie, Taschenspielertricks, Theurgie, Beschwörung von Teufeln oder Engeln, Antwortsuchen bei Toten oder ähnliches […]«.18 Von obrigkeitlich-kirchlicher Seite wurde jüdische Magie offiziell ohnehin nicht geduldet. Die Polemik von Kirche und Obrigkeit gegen jüdische Zauberei ist der Forschung bekannt und in den Quellen gut dokumentiert. Es genügt in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß beispielsweise 1598 in Rom ergänzend zum Verbot alltäglicher Tätigkeiten wie Singen, Tanzen und Musizieren den Juden unter Androhung von Galeeren- und Geldstrafen ausdrücklich untersagt wurde, für die Christen »zu zaubern und zu hexen, ihnen wahrzusagen«.19 Außerhalb des Kirchenstaates war es für die Kirche freilich schwieriger, gegen die angebliche jüdische Magie vorzugehen. Juden konnten – soweit sie nicht judaisierten – eigentlich nicht der geistlichen Gerichtsbarkeit unterworfen werden. In der kirchlichen Lehrmeinung bildete sich jedoch allmählich die Auffassung heraus, daß die Kirche in Fällen von Gotteslästerung durch Juden sowie bei deren Verwicklung in Magie einschreiten könne, zumal wenn Christen betroffen waren.20 Namentlich die Akten italienischer Inquisitoren offenbaren aber, daß der Kampf gegen magische 17
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Zur Theorie des ›Zwischenraums‹, die maßgeblich auf dem Gebiet der post-colonial studies entwickelt wurde, vgl. v. a. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000 [London 1 1993]. Einen Versuch, dieses Konzept auf das Gebiet der frühneuzeitlichen jüdischen Geschichte anzuwenden, unternahm die Konferenz »Interstizi. Culture ebraico-cristiane a Venezia e nei domini veneziani tra basso medioevo e prima epoca moderna«, die vom 5. bis zum 7. September 2007 in Venedig stattfand und vom dortigen Deutschen Studienzentrum sowie von der Universität Ca’ Foscari organisiert wurde. Ein Tagungsband ist in Vorbereitung. Leon Modena, Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche [Historia de riti hebraici], hg., ins Deutsche übers. und eingeleitet von Rafael Arnold, Wiesbaden 2007, S. 176. Hermann Vogelstein/Paul Rieger, Geschichte der Juden in Rom, 2 Bde., Berlin 1895, hier Bd. 2, S. 185. Brian Pullan, The Jews of Europe and the Inquisition of Venice 1550–1670, Oxford 1983, S. 73, S. 77. Zwischenräume: Die Magie
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Praktiken zwischen Juden und Christen in der Realität ein oftmals aussichtsloses Unterfangen war. Auch ein Blick in die Kunstgeschichte deutet in diese Richtung: So schuf beispielsweise der italienische Maler Pietro della Vecchia (1603–1678) im 17. Jahrhundert realistische Genrebilder, auf denen jüdische Zeitgenossen zu sehen waren, die unter den Augen eines staunenden christlichen Publikums okkulte Künste darboten.21 Es ist zutreffend bemerkt worden, daß die Alchemie – und die Magie ließe sich hier hinzunehmen – den involvierten Juden durchaus erlaubte, eine gegenüber Christen überlegene Position einzunehmen, etwa wenn der jüdische Alchemist zum begehrten Meister christlicher Adepten wurde.22 Es wäre jedoch falsch, sich die von der Magie oder auch der Alchemie generierten zwischenmenschlichen Kontakte immer als vertikale Hierarchie zwischen einem Magus bzw. Meister und seinen Kunden vorzustellen. Vielmehr liegt das Faszinierende des Phänomens genau darin, daß die Magie nicht nur geographische Grenzen23 oder soziale Unterschiede24 innerhalb der christlichen Gesellschaft überwand, sondern auch Juden und Christen oftmals auf gleicher Augenhöhe zusammenführte und somit Konstellationen herbeiführte, die ansonsten im Alltag kaum je hätten zustande kommen können. So unterhielt etwa der angesehene venezianische Mathematiker, Humanist und Edelmann Francesco Barozzi (1537–1604) in den 1580er Jahren intensiven Kontakt zu einem jüdischen Knaben im Ghetto. Barozzi, der eine Leidenschaft für das Okkulte hegte und sich außer Geisterbeschwörungen auch Experimenten mit Tierblut und magischen Texten verschrieb, beschäftigte den jüdischen Heranwachsenden zeitweise sogar als einen Assistenten und Ideengeber. Der Junge war nicht zuletzt deswegen unverzichtbar geworden, weil er für Barozzi mit einem Geist (ingenio) zu kommunizieren pflegte. Erst als die Vorgänge der Inquisition kolportiert wurden, nahm die ungewöhnliche Kooperation ein jähes Ende. Barozzi wurde verhaftet und für einige Monate ins Gefängnis geschickt.25 Nicht weniger aufschlußreich ist der Fall, der sich im selben Jahr (1587) in Venedig ereignete. Bei ihrer Befragung durch die Inquisition schilderte die christliche Arztwitwe Valeria Brugnaleschi ausführlich ihren bisherigen Lebensweg. Sie hatte über mehrere Jahre hinweg in einer Schule für jüdische Mädchen im Ghetto gearbeitet und schließlich sogar begonnen, ganz in das segregierte jüdi21 22 23
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Professor Martin Mulsow (Erfurt/Gotha) teilt mir freundlicherweise mit, daß er gegenwärtig eine Studie zu Pietro della Vecchia vorbereitet. Raphael Patai, The Jewish Alchemists. A History and Source Book, Princeton 1994, S. 523. Borchardt vergleicht die sprach- und staatenübergreifende Faszination für die Magie in der Renaissance sogar mit dem Phänomen des Humanismus. Vgl. Frank L. Borchardt, The Magus as Renaissance Man, in: The Sixteenth Century Journal 21 (1990), S. 57–76. Dies ist sehr anschaulich gezeigt worden von Barbierato, Nella stanza dei circoli, z. B. S. 289. Ebd., S. 113–115. Zwischenräume: Die Magie
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sche Viertel umzuziehen. Ihre Einstellung zum Judentum wurde in dieser Zeit immer positiver, und sie fing an, einige der christlichen Dogmen abzulehnen. Als Valeria Brugnaleschi im fortgeschritteneren Alter wieder aus dem Ghetto zu ihrer Tochter umzog, brachen ihre Kontakte ins Ghetto keineswegs ab. Vielmehr lud sie fortan einen Juden aus dem Ghetto in ihre Wohnung ein, der ihr die Zukunft weissagte und eine Reihe magischer Rituale durchführte. Die Inquisition deckte diese Aktivitäten schließlich auf, die Witwe und ihre Tochter wurden öffentlich ausgepeitscht und für mehrere Jahre aus der Stadt verbannt.26 Doch dürften selbst harsche Strafen wie diese kaum dazu geführt haben, daß Christen und Juden sich davon abwandten, in ihren eigenen Wänden weiterhin gemeinsam magische Rituale zu vollziehen. Auch in Reggio beklagte sich 1631 der Bischof im Zusammenhang mit einer Kampagne gegen jüdische Bücher darüber, daß die Juden von einigen einflußreichen Persönlichkeiten (»persone grandi«) geschützt würden, was in der Stadt zu allerlei Hexenwerk (»stregarie«) führe.27 Der Historiker Federico Barbierato hat einen faszinierenden venezianischen Fall aus derselben Zeit beschrieben, in dem sich sogar mehrere Juden und Christen gemeinsam wiederholt zu magischen Ritualen trafen.28 Das venezianische Ghetto – eine Art Insel inmitten des urbanen Raums – war von Mauern und Wasser umgeben, an seinen Toren waren Wächter postiert. Offiziell war das Betreten und Verlassen nur tagsüber und nur unter Auflagen erlaubt. Bis 1797 blieb es so. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat das venezianische Ghetto vor diesem Hintergrund als einen Ort beschrieben, an dem die Segregation von Minderheiten in Zeiten der Moderne bereits vorweggenommen wurde. In Sennetts Sicht war das venezianische Ghetto ein »städtisches Kondom«.29 Die hier angeführten Quellen sprechen allerdings nicht für diese Ansicht. Denn das Ghetto von Venedig blieb – entgegen der Intention der Obrigkeit – bis ins 18. Jahrhundert hinein einer der bedeutendsten Marktplätze Europas für okkulte, magische und alchemische Informationen.30 Bis in den deutschen Aberglauben und in den Märchenschatz hinein verbreiteten sich Geschichten über jüdische Zauberer aus Venedig.31 Christen, namentlich Reisende, gingen gezielt ins Ghetto, 26
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Ausführlich v. a. Marisa Milani, Indovini ebrei e streghe cristiane nella Venezia dell’ultimo ’500, in: Lares 53 (1987), S. 207–213; siehe auch Pullan, The Jews of Europe, S. 161; Pier Cesare Ioly Zorattini, Jews, Crypto-Jews and the Inquisition, in: Robert C. Davis/Benjamin Ravid (Hg.), The Jews of Early Modern Venice, Baltimore etc. 2001, S. 97–116, hier S. 114. Andrea Balletti, Gli ebrei e gli Estensi, Reggio Emilia 21930 [ND Bologna 1969], S. 141. Barbierato, Nella stanza dei circoli, S. 313–327. Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995, S. 269–314, hier S. 288. Ebd., S. 305; Milani, Indovini ebrei, S. 211. So existierte eine Tradition, in der die Rübezahl-Figur als ein jüdischer Zauberer aus Venedig galt. Vgl. Peuckert, Lemma Jude, Jüdin, in: HdA, Sp. 812. Zwischenräume: Die Magie
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um dort Arkana und magisches Wissen zu erwerben.32 Auch der jüdische Friedhof auf dem Lido wurde immer wieder Schauplatz magischer Ritualen von Christen. Kräutern, die dort gesammelt wurden, schrieb man magische Qualitäten zu.33 Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, daß sich mancher Bewohner des Ghettos in der Tat auf den Verkauf oder die Bereitstellung von okkultem Wissen spezialisierte. Ein weißbärtiger Jude namens Caliman führte in den 1590er Jahren in den Häusern venezianischer Aristokraten Zauberstücke mit Spielkarten vor und verdiente sich ein Zubrot mit dem Verkauf von Aphrodisiaka.34 1686 wurde ein venezianischer Jude namens Joel Abram Coniano von der Inquisition verhaftet, weil er Bücher von Trithemius, Agrippa sowie Pseudo-Albertus Magnus an Christen verkauft hatte.35 Auch bei Leon Modena, dem berühmten Rabbiner des Ghettos, konnte man Geheimnisbücher erwerben. Der Rabbiner führte in seiner Autobiographie den Handel mit Arkana sowie den Verkauf entsprechender Bücher sogar freimütig als zwei von insgesamt 26 Tätigkeiten auf, die er in seinem Leben ausgeübt hatte.36 Damit war er keine Ausnahme. Es gab angeblich ordinierte Rabbiner, bei denen Christen sich in die Geheimnisse chemischer Experimente einführen lassen konnten. So soll sich ein Rabbiner namens Isaac, der an der italienischen Synagoge des venezianischen Ghettos angestellt war, in den 1650er Jahren mit okkulten und alchemischen Tätigkeiten ein Zubrot verdient haben, indem er beispielsweise seinen christlichen und jüdischen Kunden anbot, durch Magie Diebe aufzuspüren.37 Unter allen Dienstleistungen war es aber vor allem das Geschäft mit der berüchtigten Clavicula Salomonis – einem Kompendium magischer Praktiken, von dem weiter unten noch ausführlich die Rede sein wird –, das in den italienischen Ghetti, namentlich in Venedig, blühte.38 Unschwer erhältlich waren im Ghetto ebenfalls die (oftmals vermeintlichen) Werke von Pietro d’Abano und Ramon Llull.39 Auch über Venedig hinaus verdienten sich jüdische Schreiber schon im 15. Jahrhundert ein Zubrot mit der Kompilation medizinischer, kabbalistischer und magischer Geheimnisse.40 Manches was hier bisher über das Ghetto in Venedig 32 33 34 35 36
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Barbierato, Nella stanza dei circoli, S. 304. Milani, Indovini ebrei, S. 212. Ebd., S. 210. Barbierato, Nella stanza dei circoli, S. 309. The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi. Leon Modena’s Life of Judah, hg. von Mark R. Cohen, Princeton 1988, S. 162. In seinem Nachlaß fanden sich dreizehn Bücher und Handschriften mit okkultem Inhalt. Vgl. Howard E. Adelman, Leon Modena. The Autobiography and the Man, in: ebd., S. 19–49, hier S. 40–41. Pullan, The Jews of Europe, S. 90. Barbierato, Nella stanza dei circoli; Albano Biondi, Gli ebrei e l’inquisizione negli stati estensi, in: Michele Luzzati (Hg.), L’inquisizione e gli ebrei in Italia, Rom 1994, S. 265–285, hier S. 277, S. 284. Barbierato, Nella stanza dei circoli, S. 309. Umberto Cassuto, Gli ebrei a Firenze nell’età del Rinascimento, Florenz 1918, S. 273. Zwischenräume: Die Magie
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gesagt wurde, dürfte sich für den deutschsprachigen Raum auf die Judengasse in der Reichsstadt Frankfurt übertragen lassen – man denke nur an Goethes Beschreibung dieses segregierten Wohngebiets, in das er sich als Heranwachsender voller Neugier mehrfach »hineinwagte«.41 Schon im Jahr 1488 jedoch hatten sich zwei Mitglieder des Frankfurter Rats in die Judengasse begeben, um die »ebentuerlich kunst und monster« eines dortigen Bewohners zu besichtigten.42 Doch läßt sich nur von den eingangs erwähnten genuinen Zwischenräumen sprechen, wenn auch umgekehrt auf dem Gebiet der Magie die Inanspruchnahme christlicher Dienste durch Juden nachweisbar ist. Hier besteht noch weiterer Forschungsbedarf.43 Das bisher greifbare Material deutet aber in der Tat darauf hin, daß Juden auf verschiedenen Ebenen ebenfalls als aktive Konsumenten christlicher Magie auftraten. Die Rezeption Agrippas unter den Kabbalisten ist in diesem Zusammenhang ein erwähnenswertes Beispiel.44 Nicht zuletzt waren viele jüdische Ärzte in der ars magica der christlichen Seite bewandert.45 Die christliche Secreta-Literatur sowie das hermetische Schrifttum wurden von jüdischen Autoren ebenfalls rege rezipiert.46 Auf alltagsgeschichtlicher Ebene lassen sich ebenfalls Beispiele beibringen. So waren beispielsweise in Venedig jüdische Kaufleute unter den Kunden der angeblichen Zauberin namens Maddalena greca, die sich auf die Behandlung von Steinleiden und Syphilis, aber auch eine Reihe magischer Praktiken spezialisiert hatte.47 Auch außerhalb der Serenissima lassen sich christliche Zauberinnen nachweisen, deren Dienste nicht zuletzt von Juden in Anspruch genommen wurden. Besonders bemerkenswert ist das Beispiel der 41 42 43
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Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: Werke [Hamburger Ausgabe], hg. von Erich Trunz, 14 Bde., München 1998, hier Bd. 9, S. 149–150. Regesten I (Andernacht), Dok. 2405. Worum genau es sich handelt, sagt die Quelle leider nicht. Dies gilt auch für die jüdische Mystik. Vgl. Moshe Idel, Le passage de l’intelligence. L’influence intellectuelle des juifs, in: Shmuel Trigano (Hg.), La société juive à travers l’histoire, Paris 1993, Bd. 3, S. 155–176, hier v. a. S. 168–175. Moshe Idel, Differing Conceptions of Kabbalah in the Early 17th Century, in: Isadore Twersky/ Bernard Septimus (Hg.), Jewish Thought in the Seventeenth Century, Cambridge/Mass. 1987, S. 137–200, hier S. 168. Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science, Cambridge/Mass. etc. 1988; Hava Tirosh-Samuelson, Theology of Nature in Sixteenth-Century Italian Jewish Philosophy, in: Science in Context 10 (1997), S. 529–570, hier S. 559; eine Fallstudie über den angesehenen sephardischen Juden Giuseppe Attias (1672–1739) in Livorno, in dessen Bibliothek sich zahlreiche magische Schriften von christlichen Autoren befanden, jetzt bei Lucia Frattarelli Fischer, Vivere fuori dal Ghetto. Ebrei a Pisa e Livorno (secoli XVI–XVIII), Turin 2008, S. 319. Moshe Idel, Hermeticism and Judaism, in: Ingrid Merkel/Allen Debus (Hg.), Hermeticism and the Renaissance. Intellectual History and the Occult in Early Modern Europe, London etc. 1998, S. 59–76; siehe auch Samuel S. Kottek, Jews between Profane and Sacred Science in Renaissance Italy. The Case of Abraham Portaleone, in: Jürgen Helm/Annette Winkelmann (Hg.), Religious Confessions and the Sciences in the Sixteenth Century, Leiden 2001, S. 108–118, hier S. 115. Barbierato, Nella stanza dei circoli, S. 283. Zwischenräume: Die Magie
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Zauberin Giacomoa la Mantilara, die um 1600 in dem kleinen Ort Bondeno in der Emilia-Romagna wirkte und Christen wie Juden aus dem ganzen Umland anzog.48 Die hier vorgestellten Beispiele verdeutlichen die Existenz von Zwischenräumen und gewähren Einblick in eine facettenreichen Kultur der Interaktion zwischen Juden und Christen auf dem Gebiet der Magie. Die offiziell sowohl von christlicher Obrigkeit als auch von namhaften Rabbinern bekämpfte Praxis der Magie hat in der Frühen Neuzeit nicht nur vielerorts existiert, sondern auch eine – wenngleich keineswegs risikoarme – sozial und ökonomisch bedeutsame Kontaktzone für Juden und Christen generiert. Die hier aufgestellte These vom durch Geheimwissen erzeugten Zwischenraum läßt sich, wie die vorangegangenen Abschnitte schon andeuteten, auf die Kabbala49, aber auch auf Gebiete wie die Alchemie und die Astrologie ausweiten. So verdankte beispielsweise der junge Tommaso Campanella (1568–1639) seine ersten Unterweisungen in der Astrologie und in den okkulten Wissenschaften – darunter die Magie – einem in etwa gleichaltrigen jüdischen Rabbiner namens Abraham, zu dem sich eine Freundschaft entwickelte. Abraham sagt dem jungen Dominikanermönch ein außergewöhnliches Schicksal vorher (womit er in der Tat nicht falsch lag). Es ist zurecht über den nachhaltigen Einfluß dieser Begegnung auf das Denken des späteren Utopisten Campanella spekuliert worden. Bereits den Zeitgenossen – speziell den Oberen des Ordens – blieb der enge Austausch zwischen Rabbiner und Mönch nicht verborgen, was offenbar maßgeblich dazu beitrug, daß Campanella schließlich seine Heimat Kalabrien verließ (gemeinsam mit Abraham, wie manche kolportieren).50 Einige Jahre später führte in Venedig der Rabbinersohn Mordechai Modena seine bereits weiter oben erwähnten alchemischen Experimente, für die er eigens Räumlichkeiten im Ghetto gefunden hatte und die ihm später (1617) das Leben kosten sollten, ausgerechnet gemeinsam mit einem katholischen Priester durch.51 Geheimes, um prophetische Rhetorik angereichertes Wissen erlaubte es wiederum einem Juden namens Abraham Sasson im Jahre 1596 gegenüber dem Hof der Este verschiedentlich mit dem ungewöhnlichen Titel eines »minimo teologo hebreo« aufzutreten. Die Glaubwürdigkeit seiner Zukunftsvorhersagen, die nicht zuletzt den Verlauf des Türkenkriegs betrafen, untermauerte er dabei mit dem Einschub hebräischer
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Ariel Toaff, Il prestigiatore di Dio. Avventure e miracoli di un alchimista ebreo nelle corti del Rinascimento, Mailand 2010. S. 236–237. Zur Kabbala als Kontaktzone für Juden und Christen vgl. die prägnanten Bemerkungen bei David B. Ruderman, Jewish Enlightenment in an English Key. Anglo-Jewry’s Construction of Modern Jewish Thought, Princeton etc. 2000, S. 160 (mit weiterführender Literatur). Jean Delumeau, Le mystère Campanella, Paris 2008, S. 47–48, S. 53. The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi, hg. von M. Cohen, S. 108–109. Zwischenräume: Die Magie
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Wörter und Zitate.52 In Florenz wiederum erhielt der toskanische Jude Benedetto Blanis, der eine Expertise auf dem Gebiet der Arkana vorweisen konnte, zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine prestigeträchtige Anstellung im Hofstaat der Medici. Blanis war fortan nicht nur damit beschäftigt, die Bibliothek der Medici zu ordnen und mit arkanem Schrifttum zu beliefern, sondern unterhielt am Hof auch Kontakte zu Gelehrten aus den Gebieten verschiedenster Geheimwissenschaften.53 Was hier für die namentlich durch Magie und Alchemie generierten Zwischenräume festgestellt wurde, läßt sich also womöglich auch insgesamt auf die Ökonomie des Geheimen übertragen. Bezeichnend ist eine berühmte Episode aus dem Leben des Prager Rabbiners Juda Löw ben Bezalel (ca. 1520–1609), gen. Maharal, der auch als angeblicher Schöpfer des Golems bekannt ist. Im Jahre 1592 soll es auf der Prager Karlsbrücke zu einer legendenumrankten, bis heute geheimnisvollen Begegnung zwischen Kaiser Rudolf II. und dem Rabbiner gekommen sein. Die Quellen geben keinen Hinweis darauf, ob der Maharal, der von Historikern mitunter zum jüdischen Humanisten überhöht worden ist,54 vom Kaiser aufgrund seiner wissenschaftlich-›humanistischen‹ Bildung aufgesucht wurde. Auch deutet nichts darauf hin, daß das die Zusammenkunft im Geiste jener toleranten Gesinnung stattfand, die Rudolf II. gerne zugeschrieben wird. Vielmehr geht aus einem zeitgenössischen Bericht, den der Schwiegersohn Löws hinterließ, lediglich hervor, daß der Kaiser die Begegnung mit dem ›Hohen Rabbi‹ von Prag herbeiführte, um sich mit ihm im Gespräch über verschiedene Geheimnisse auszutauschen.55 Es war also auch in diesem Fall die Sphäre des Geheimen, die einen bemerkenswerten Zwischenraum generierte, zumal ein anderer zeitgenössischer Chronist und Schüler des Maharal hervorhebt, daß Kaiser und Rabbiner unter
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ASMo, ASE, Ebrei, b. 23b. Insgesamt sind in diesem Büschel drei, nicht näher datierte Schreiben Sassons an den Hof erhalten. Federico Barbierato, Nella stanza dei circoli. Clavicula Salomonis e libri di magia a Venezia nei secoli XVII e XVIII, Mailand 2002, S. 172. Siehe auch die zahlreichen Quellen zu Blanis, die im digitalen Medici Archive Project bereitgestellt sind [www.medici.org]. Siehe Tirosh-Samuelson, Theology of Nature, S. 550 (mit Beispielen). Zu diesem knappen Bericht des Isaac Katz vgl. Noah J. Efron, Common Goods. Jewish and Christian Householder Cultures in Early Modern Prague, in: Diane Wolfthal (Hg.), Peace and Negotiation. Strategies for Coexistence in the Middle Ages and the Renaissance, Turnhout 2000, S. 233–255, hier S. 236; Giuseppe Veltri, Yehuda Löw oder: der hohe Rabbi von Prag als Philosoph des Judentums, in: Gerald Hartung/Wolf Peter Klein (Hg.), Zwischen Narretei und Weisheit. Biographische Skizzen und Konturen alter Gelehrsamkeit, Hildesheim etc. 1997, S. 192–218, hier S. 205. Zwischenräume: Die Magie
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diesen Vorzeichen ein Gespräch auf Augenhöhe geführt hätten, »wie ein Mann mit seinem Freunde redet« (Ex 33:11).56 Generell konnte das angebliche oder auch nur vermeintliche Wissen um Geheimnisse Juden schnell in die höchsten Kreise führen oder deren Interesse wecken. So bemühte sich auch Erzherzog Maximilian, der Bruder Kaiser Rudolfs II., im Jahre 1603 in einem eigenhändigen Schreiben darum, den Kontakt zu einem geheimnisvollen Juden aus Jerusalem herzustellen, der sich »nit gegen iederman offenbarn« wollte. Was aus dieser Kontaktaufnahme wurde, läßt sich nicht mehr ermitteln. Angesichts der nachweislichen okkulten Interessen des Erzherzogs spricht manches dafür, daß in diesem Fall Alchemie im Spiel war.57 Gut dokumentiert ist dagegen die Geschichte David Reuvenis einige Jahrzehnte zuvor. Der jüdische Abenteurer erregte im Europa der 1520er Jahre bei seinem geheimnisvollen Auftreten als jüdischer Gesandter aus der Wüste großes Aufsehen und gewann nicht zuletzt durch die Rede von Geheimnissen (Sodot) das Interesse führender Herrscher, darunter des Papstes und des Königs von Portugal. Überhaupt waren Geheimnisse für Reuvenis self-fashioning – auch gegenüber Juden – von zentraler Bedeutung.58 Die bisherigen Ausführungen und namentlich das Bild des Kaisers und des Rabbiners auf der Karlsbrücke erlauben es, an die von Barbara Stollberg-Rilinger für die »politisch-soziale Kultur« der vormodernen Gesellschaft geäußerte Annahme anzuknüpfen, wonach »das Geheimnis Kommunikation nicht verhindert, sondern vielmehr organisiert, strukturiert, ja überhaupt ermöglicht, indem es Grenzen von Kommunikations- und Handlungsräumen stiftet.«59 Festzuhalten ist dabei aber, daß das Geheimnis nicht nur im statischen Sinne die Grenzen von Kommu56
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David Gans, Tzemach David, hg. von Mordechai Breuer, Jerusalem 1983, S. 145: ʸʿʸʤʮ ʯʥʠʢʤ ʺʠ ʥʩʬʠ ʠʸʷʥ ʧʬʹ ʥʺʮʠʥ ʥʣʱʧ ʡʥʸʡ ʤʿʸʩ ʱʥʴʬʥʣʥʸ ʬʬʥʤʮʤ ʬʥʣʢʤ ʸʥʠʮʤ ʸʹʩʤ ʸʱʩʷʤ ʥʰʩʰʥʣʠ« ʺʥʫʩʠʥ ʺʥʤʮʥ. ʥʤʲʸ ʬʠ ʹʩʠ ʸʡʣʩ ʸʹʠʫ ʤʴ ʬʠ ʤʴ ʥʮʲ ʸʡʣʥ ʺʥʷʧʥʹʥ ʺʥʴʩ ʭʩʰʴ ʸʡʱʡ ʥʬʡʷʥ ʬʠʬʶʡ ʸʡ ʠʥʥʩʬ »[…] ʭʤ ʭʩʮʬʲʰʥ ʭʩʮʥʺʧ ʭʩʮʥʺʱ ʭʩʸʡʣʤ Erzherzog Maximilian an Philipp Lang, 14. Juli 1603. HHStA, Familienarchiv, Lang-Akten, Karton 1, fol. 22r: »[…] Des Jerusalemitanischen Juden [sowie eines weiteren Unbekannten] wußten wir zwar wol, auch wo sie anzutrefen, weil sie aber so hoch an uns begert, sie nit lautbar zumachen, Sie sich auch nit gegen iederman offenbarn wöllen, So haben wir ihnen auch in der Still zu halten verheißen, da aber Irer Mt und C. gefellig, Durch uns mit ihnen tractiren zulassen, wollten wir wege suchen, das ihrer Mt und C. gnedigstem Willen ein benuegen geschehen solte.« Im weiteren Verlauf des Briefes ist von Antimon die Rede. Zu den okkulten Interessen des Erzherzogs vgl. allgemein Robert J.W. Evans, Rudolf II and his World. A Study in Intellectual History, 1576–1612, London 1997 [11973], S. 62. Sippur David ha-Reuveni, hg. von Aaron Zeev Aescoly, Jerusalem 21993, z. B. S. 22, S. 42, S. 67. Barbara Stollberg-Rilinger, Das Verschwinden des Geheimnisses. Einleitende Bemerkungen, in: Gisela Engel/Brita Rang/Klaus Reichert/Heike Wunder (Hg.), Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne (= Zeitsprünge 6 [2002]), Frankfurt am Main 2002, S. 229–233, hier S. 229. Zwischenräume: Die Magie
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nikationsräumen stiftet, sondern auch Grenzüberschreitungen ermöglicht bzw. dynamische, wenngleich mitunter nur zeitweilig existierende Zwischenräume generiert. Es sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, daß die Sphäre des Geheimen sogar Anhaltspunkte für die Existenz eines Phänomens aufweist, das sich in frühneuzeitlichen Quellen, die christlich-jüdische Beziehungen dokumentieren, ansonsten kaum je konkret fassen läßt. Gemeint ist die Begegnung im Zeichen der Ironie. Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls das handschriftlich geführte Codebuch des sephardischen Kaufmanns Chayyim Saruk aus Thessaloniki zu sehen, das dieser 1570 anlegte. In diesem Jahr entsandte der venezianische Rat der Zehn den jüdischen Kaufmann als Agenten in das osmanische Reich, von wo aus Saruk Informationen über den mit der Serenissima in einen Krieg verwickelten Feind liefern sollte. Saruk und Venedig einigten sich für die delikate Mission auf eine damals populäre Chiffriermethode, die von den Zeitgenossen »in parabula« genannt wurde und ein hohes Maß an individueller Ausgestaltung ermöglichte.60 In einem fast 20seitigen, bis heute erhaltenen Heft hielt Saruk all jene heiklen Worte (vor allem für Personen, Orte, Waffen und Waren) fest, die er früher oder später in den formal an seine Familie in Venedig adressierten Briefen würde benützen müssen. Diese Begriffe – in der kryptographischen Fachsprache »Klartext« genannt – wurden nun von Saruk durch unauffällige Codeworte substituiert. Die venezianischen Behörden sollten Saruks Briefe abfangen und unter Benutzung des von Saruk entworfenen Schlüssels die entscheidenden Informationen aus dem Text wieder zum Vorschein bringen. Die Liste der zu verschlüsselnden Worte wurde dem jüdischen Agenten vermutlich von der Serenissima übergeben, die Wahl der Codewörter blieb dagegen dem Kaufmann und seinem Gespür für Ironie überlassen. Auf diese Weise wurden etwa aus Tributzahlungen Almosen (limosina per poveretti) und aus dem Papst ausgerechnet ein Rabbiner (rav).61 Eine weitere Episode aus der Ökonomie des Geheimen läßt sich beisteuern, in der – für die christlich-jüdischen Beziehungen dieser Zeit ungewöhnlich genug – eine Facette jener Kultur des Schalks greifbar wird, die für die Frühe Neuzeit 60
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Zur Geschichte dieser Methode vgl. Dejanirah Couto, Spying in the Ottoman Empire. SixteenthCentury Encrypted Correspondence, in: Francisco Bethencourt/Florike Egmond (Hg.), Correspondence and Cultural Exchange in Early Modern Europe, Cambridge etc. 2007, S. 274–312, hier S. 292–294; Peter Burke, Early Modern Venice as a Center of Information and Communication, in: John Martin/Dennis Romano (Hg.), Venice Reconsidered. The History and Civilization of an Italian City-State (1297–1797), Baltimore etc. 2000, S. 389–419, hier S. 394. Mitunter wurde diese Methode auch als »Praxis der Decknamen des Cicero« bezeichnet, da Cicero als erster solche Substitutionen in seinen Briefen verwendet haben soll. Vgl. Gerhard F. Strasser, Lingua Universalis. Kryptologie und Theorie der Universalsprachen im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 1988, S. 23–25. Alle Angaben nach Benjamin Arbel, Trading Nations. Jews and Venetians in the Early Modern Eastern Mediterranean, Leiden etc. 1995, S. 151. Zwischenräume: Die Magie
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namentlich von Michael Bachtin beschrieben worden ist.62 Als Beispiel dient hier die Begegnung zwischen einem jüdischen Magus und dem Krainer Adligen Johann Weichard Valvasor (1641–1693), die in gewisser Weise Züge einer commedia dell’arte trug. Das Zusammentreffen, das Valvasor später ausführlich beschrieb, ereignete sich im Jahr 1679.63 Damals weilte der adlige Polyhistor und Topograph, der einige Jahre später für seine hydrologischen Forschungen in die Londoner Royal Society aufgenommen werden sollte, in Venedig. Im Ghetto traf er einen Juden mit einem »magischen Spiegel, der aber nur aus Glas ware«. Der Jude pries explizit dieses »secretum« an. Wenn man den Spiegel für drei Tage vergrabe und unter Zaubersprüchen wieder ausgrabe, dann sterbe derjenige, »welcher alsdann drein schauet / […] des gähen [sic] Todes«. Valvasor war von diesem »Mord=Spiegel« beeindruckt und bat um eine Vorführung weiterer Kunststücke. Der Jude bedeckte daraufhin den Spiegel und fragte, was der adlige Kunde in dem Spiegel sehen wolle. Valvasor wünschte sich insgeheim, sein Schloß Wagensberg zu sehen, sagte dann aber doch »scherzweise« einen sinnlosen Satz »auf Crainerisch / damit es der Jude nicht verstehn solle«. Nachdem Valvasor also die Worte »Zherna farba Kos Iove« (zu deutsch: »Schwartze Farbe / Bocks-Hoden«) gesprochen hatte, geschah allerdings nichts: »Als er hierauf den Spiegel aufmachte; bekam ich gar nichts darinn zu sehen.« Der Jude bat den adligen Kunden deshalb, er solle ihn künftig nicht mehr »veriren / sondern einen gewissen Anblick fordern«. Valvasor entsprach der Bitte und wünschte sich »in Crainerischer Sprache«, sein Schloß zu sehen: »Gleich alsobald er nur den Vorhang weggeruckt / erblickte ich darauf mein Schloß Wagensberg / in dem Spiegel / recht eigendlich.« Der zuvor noch zu Scherzen aufgelegte Valvasor wurde daraufhin furchtsam, witterte ein Werk des Teufels und lehnte das Angebot des Juden zu einem weiteren Versuch ab.64
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Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt am Main 1987. Johann Weichard Valvasor, Die Ehre dess Hertzogthums Crain, Laybach/Nürnberg 1689 [Faksimile München 1971], 3. Teil, Buch XI, S. 93–94. Zu Juden und Zauberspiegeln siehe auch weiter unten. Zwischenräume: Die Magie
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IV. Kapitel Geheimnisse und Geschäfte: Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
Die Bedeutung der Ökonomie des Geheimen ist für das frühneuzeitliche Judentum nicht nur aus kulturgeschichtlicher Sicht beträchtlich. Eine nicht minder wichtige Herausforderung für den Historiker liegt – wie eingangs bereits angedeutet wurde – darin, die eminente ökonomisch-merkantile Dimension des Phänomens herauszuarbeiten. Hierbei kann bis zu einem gewissen Grade an jüngere Forschungen aus der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte anknüpft werden. So hat die neuere Forschung beispielsweise überzeugend verdeutlicht, daß die Alchemie in der Frühen Neuzeit als eine Technologie galt, die in den Augen ihrer Mäzene und Adepten – vor allem an Höfen – als ein probates Mittel zur Lösung wirtschaftlicher Herausforderungen und Probleme gesehen wurde.1 Einige Fürsten kleinerer Territorien, namentlich in Italien, erhofften sich, mittels der Alchemie Vorteile gegenüber den dominierenden europäischen Großmächten zu erlangen.2 Denn die Alchemie lockte frühabsolutistisch gesonnene Territorialherrscher, die sich in der Rolle des ›fürstlichen Unternehmers‹3 sahen, mit dem kühnen Versprechen einer massiven Aufbesserung der Staatsfinanzen, vor allem durch die erfolgreiche Transmutation unedler Metalle zum begehrten Gold. Die Alchemie war nicht die einzige arkane Wissensquelle, die in der Frühen Neuzeit Einfluß auf politisches und ökonomisches Handeln sowie die damit ver-
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Pamela H. Smith, The Business of Alchemy. Science and Culture in the Holy Roman Empire, Princeton 1994; Tara Nummedal, Alchemy and Authority in the Holy Roman Empire, Chicago etc. 2008, v. a. S. 13, S. 73; dies., Practical Alchemy and Commercial Exchange in the Holy Roman Empire, in: Pamela H. Smith/Paula Findlen (Hg.), Merchants and Marvels. Commerce, Science and Art in Early Modern Europe, New York etc. 2002, S. 201–222; Ulrike Krampl, Diplomaten, Kaufleute und ein Mann ›obskurer‹ Herkunft. Alchemie und ihre Netzwerke im Paris des frühen 18. Jahrhunderts, in: Arne Karsten/Hillard von Thiessen (Hg.), Nützliche Netzwerke und korrupte Seilschaften, Göttingen 2006, S. 137–162, hier v. a. S. 156. Vgl. Ivo Striedinger, Der Goldmacher Marco Bragadino. Archivkundliche Studie zur Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts, München 1928, v. a. S. 19. Fritz Redlich, Der deutsche fürstliche Unternehmer. Eine typische Erscheinung des 16. Jahrhunderts, in: Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmerbiographie 1 (1958), S. 17–32. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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bundene Rhetorik hatte. Auch die Magie bot unternehmerisches Potential.4 Die Historikerin Lyndal Roper hat darauf hingewiesen, daß »die Überschneidungen zwischen den mentalen Welten des Frühkapitalismus (von dem wir annehmen, er sei rational gewesen) und der Zauberei« größer waren als gemeinhin angenommen.5 Schließlich bleibt anzumerken, daß auch Entscheidungen zu politischen und dynastischen Weichenstellungen oft durch den Rekurs auf esoterisches Wissen, etwa aus der Astrologie, abgesichert wurden.6 Die Vorstellung von der wundersamen Mehrung des Kapitals durch die Transmutation faszinierte jedoch nicht nur Höfe. Auch gewöhnliche Untertanen ebenso wie angesehene Kaufleute experimentierten bis ins 18. Jahrhundert hinein mit der Alchemie, die ihnen nicht zuletzt die Aussicht auf Kontakte zu und Aufträge aus den höchsten adligen Kreisen bot.7 Zwar boten sich hier immer wieder Chancen für gewiefte Betrüger, gleichwohl glaubten viele Untertanen und Unternehmer genauso hoffnungsvoll wie unerschütterlich an die Versprechungen der Alchemie. Bezeichnend ist der Fall des erfolgreichen Leipziger Seiden-, Juwelen- und Bleihändlers Heinrich Cramer von Clausburg, der ohne betrügerische Absicht mit dem sächsischen Kurfürsten intensive Verhandlungen über den Verkauf des Steins der Weisen sowie über die Preisgabe einer Reihe alchemischer Rezepte führte.8 Jenseits solcher auf unmittelbaren und spektakulären Erfolg abzielender alchemischer Vorhaben finden sich auch Beispiele für eine konzeptionelle Verflechtung von alchemischer und ökonomischer Sphäre, namentlich im Fall des Alchemisten und Wirtschaftstheoretikers Johann Joachim Becher und seines Wirkens am Wiener Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.9 Die Alchemie wies nicht nur bei Becher auf der Ebene ihrer Rhetorik eine Affinität zur ökonomischen
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Simon During, Modern Enchantments. The Cultural Power of Secular Magic, Cambridge/Mass. 2002, S. 1. Lyndal Roper, Bedrohte Männlichkeit. Kapitalismus und Magie in der Frühen Neuzeit, in: Dies., Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1995, S. 127–146, hier S. 131. Helmuth Grössing/Franz Stuhlhofer, Versuch einer Deutung der Rolle der Astrologie in den persönlichen und politischen Entscheidungen einiger Habsburger des Spätmittelalters, in: Anzeiger der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 17 (1980), S. 267–283; Henri Stierlin, Astrologie und Herrschaft. Von Platon bis Newton, Frankfurt am Main 1988; Anthony Grafton, Girolamo Cardano oder: der gelehrte Astrologe, in: Gerald Hartung/Wolf Peter Klein (Hg.), Zwischen Narretei und Weisheit. Biographische Skizzen und Konturen alter Gelehrsamkeit, Hildesheim etc. 1997, S. 179–191, hier v. a. S. 183; ders., Cardano’s Cosmos. The Worlds and Works of a Renaissance Astrologer, Cambridge/Mass. 1999. Nummedal, Alchemy and Authority, S. 73; Krampl, Diplomaten, Kaufleute und ein Mann ›obskurer‹ Herkunft, passim. Nummedal, Alchemy and Authority, S. 73, S. 91–94. Smith, The Business of Alchemy. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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Agenda des Frühmerkantilismus auf. In der Praxis war die Expertise von Kennern der ›Praktischen Alchemie‹ in einigen, für die Ausformung des frühmodernen Territorialstaates entscheidenden Wirtschaftssektoren oft unverzichtbar, etwa im Bergbau, der Metallurgie sowie der Pulverherstellung. Mit diesen einleitenden Bemerkungen ist der gesamtgesellschaftliche Hintergrund umrissen, vor dem die komplexen Verschränkungen des jüdischen Wirtschaftslebens und der Ökonomie des Geheimen in der Frühen Neuzeit herausgearbeitet werden können. Bereits die Tatsache, daß namhafte Hofjuden kabbalistische Interessen bezeugten,10 läßt Zweifel an der Vorstellung aufkommen, die jüdische Wirtschaftselite der Frühen Neuzeit sei durchweg einem rationalen Denken verpflichtet gewesen. Auch genügt es offenkundig nicht, beispielsweise die beträchtlichen alchemischen Aktivitäten von Juden vor allem mit medizinischen Interessen zu erklären11 – denn die ökonomischen Aspekte bleiben auf diese Weise ausgeblendet. Zahlreiche Quellen legen nahe, daß der Handel mit Geheimnissen oftmals auf komplexe und enge Weise mit den merkantilen und finanzwirtschaftlichen Aktivitäten frühneuzeitlicher Juden verwoben war. Jüdische Geheimniskundige, namentlich Alchemisten, unterscheiden sich in dieser Beziehung keineswegs von jüdischen Ärzten, für die sich ebenfalls beträchtliche unternehmerische und verschiedentlich auch politische Aktivitäten nachweisen lassen.12 Einige der soeben erwähnten Aspekte lassen sich bereits anhand der Biographie des jüdischen Münzmeisters Lippold veranschaulichen, der in den 1550er Jahren zum Schatullenverwalter des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. (reg. 1535–1571) aufstieg. Lippold trat zuerst durch Silberlieferungen an den Hof hervor, die im Zusammenhang mit seinem Amt als Münzmeister zu sehen sind. Das Amt des Münzmeisters, das zahlreiche Hofjuden innehatten, war ohne ein Wissen über Metallurgie kaum auszuüben – ein Wissen, das sich in der Frühen Neuzeit oftmals nicht trennscharf von der Alchemie scheiden ließ.13 Auch dies könnte den Eindruck verstärkt haben, daß die jüdische Minderheit, deren Aktivitäten im Geld- und Metallhandel, teilweise auch im Münzwesen beträchtlich waren, für die 10
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Selma Stern, Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert, aus dem Englischen übertr., komm. und hg. von Marina Sassenberg, Tübingen 2001 [11950], S. 229–230. So beispielsweise bei Raphael Patai, The Jewish Alchemists. A History and Source Book, Princeton 1994, z. B. S. 5, S. 520. Es sei hier pars pro toto auf die Biographie des in Udine geborenen Arztes Salomo Ashkenazi (ca. 1520–1602) verwiesen, der als Arzt zunächst in die Dienste des polnischen Königs und dann des osmanischen Sultans trat. Ashkenazi, der mehrere Schiffe erwarb, baute neben seiner medizinischen und diplomatischen Tätigkeit ein weitverzweigtes Handelsnetz auf, das von Kreta über Italien bis Polen reichte. Vgl. Benjamin Arbel, Trading Nations. Jews and Venetians in the Early Modern Eastern Mediterranean, Leiden etc. 1995, S. 78–86. Nummedal, Alchemy and Authority, S. 86–89. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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Praxis der Alchemie prädestiniert sei.14 In den Rechnungsbüchern des jüdischen Münzmeisters Lippold finden sich jedenfalls Posten, die von der Anschaffung von alchemischen Gerätschaften für den Kurfürsten Zeugnis ablegen.15 Inwieweit Lippold selbst aus freien Stücken in alchemische Aktivitäten involviert war, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Lippolds späteres Bekenntnis, daß sich in seinem Haus ein magisches Buch befinde, das »etliche stucken von der Allchamey« enthalte, muß bezweifelt werden.16 Diese Aussage war nach dem Tod des Kurfürsten und dem damit besiegelten Sturz des Hofjuden unter Folter erpresst worden und trug zu jenem Todesurteil bei, das 1573 auf grausame Weise vollstreckt wurde. Während Lippold sich bei seinen nachweisbaren Lieferungen alchemischer Apparaturen und Materialien möglicherweise noch nolens volens von der kurfürstlichen Leidenschaft für die Alchemie leiten ließ, so findet sich wenige Jahre später im Herzogtum Savoyen ein Beispiel für weitaus mehr Eigeninitative auf jüdischer Seite bei der Bereitstellung alchemischen und okkulten Wissens für einen Hof. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht einer der angesehensten und ökonomisch potentesten Juden Norditaliens, der Geldverleiher Vitale Sacerdote.17 Der in Alessandria beheimatete Sacerdote genoß hohes Ansehen bei der christlichen Obrigkeit in der spanischen Lombardei, aber auch unter seinen jüdischen Glaubensgenossen, als deren Vorsteher er fungierte. Nicht nur seiner wirtschaftlichen Stellung wurde Respekt gezollt, sondern ebenfalls seiner Kompetenz im Umgang mit Geheimnissen verschiedenster Art. In den 1560er Jahren – also vor der Vertreibung der meisten Juden aus der spanischen Lombardei – hatte Sacerdote bei verschiedenen Gelegenheiten geheime Missionen (»commissione secreta«) für die spanische Obrigkeit unternommen, teilweise sogar auf höchsten Befehl Philipps II.18 So wurde Sacerdote in den 1560er Jahren ins Reich und nach Zürich gesandt, zwischen 1569 und 1570 führte er im Piemont eine Mission aus.19 1572 wiederum vertrat er im Herzogtum Savoyen mit Diskretion die Interessen vertriebener jüdischer Glaubensgenossen. Sacerdote konnte in diesem Zusammenhang den Herzog von Savoyen für die Idee eines Freihafens in der Nähe von Nizza gewinnen, zu dessen Besiedlung sephardische Kaufleute eingeladen
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Vgl. ähnlich Patai, Jewish Alchemists, S. 174. A. Ackermann, Münzmeister Lippold. Ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte des Mittelalters, in: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 7 (1909), S. 1–112, hier S. 11. Siehe ebd. die Urgicht Lippolds, S. 93 (Quelle 7). Renate Segre, Gli ebrei lombardi nell’età spagnola. Storia di un’espulsione (= Memorie dell’accademia delle scienze di Torino, ser. IV, Bd. 28), Turin 1973, v. a. S. 24. The Jews in the Duchy of Milan, bearb. von Shlomo Simonsohn, 4 Bde., Jerusalem 1982–1986, hier Bd. 1, S. xxxi; Bd. 2, Dok. 3135. Ebd., Bd. 3, Dok. 3622. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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werden sollten.20 Im Gegenzug für die Gewährung wirtschaftlicher Privilegien und einer weitgehenden Religionsfreiheit sollten die Juden den Ort zu einem bedeutenden Handelszentrum ausbauen und somit den Erzfeind Venedig in weitaus empfindlicherer Weise treffen, als dies durch militärische Unternehmungen möglich gewesen wäre.21 In der Tat sprach der Herzog noch im selben Jahr eine Einladung an die jüdischen Kaufleute aus. Auch wenn der Plan bereits wenig später aufgrund des Widerstandes Spaniens und des Papstes scheiterte, markierte die in diesem Zusammenhang ausgearbeitete Charta einen Meilenstein in der Geschichte sephardischer Siedlung in Italien und blieb nicht ohne Einfluß auf die Entstehung der sog. Livornina – die Privilegien von Livorno – knapp zwei Jahrzehnte später. Sacerdote war ohne Zweifel einer der entscheidenden Ideengeber hinter den Kulissen der Politik des savoyischen Herzogs gegenüber den Juden. Bemerkenswert dabei ist, daß er sich sein Ansehen am Hofe jedoch nicht nur durch seine ökonomische Stellung erworben hatte. Vielmehr hatte Sacerdote auch durch verschiedentliche Lieferungen alchemischer Rezepte sowie exotischer Objekte die Gunst des Herzogs gewonnen. Sacerdote soll sogar ein sagenumwobenes Nashorn für die herzoglichen Tiergehege nach Savoyen gebracht haben.22 Man wird das Spektrum der von Sacerdote bereitgestellten Wissensgüter und Objekte mithin unter dem Begriff der secreta naturae subsumieren können. Darüber hinaus lieferte Vitale Sacerdote Hinweise auf verborgene Edelmetallvorkommen und bot Waffen an.23 Der Fall Sacerdote verdeutlicht eindrücklich, daß das Anbieten von Geheimnissen einen handfesten Aktivposten für die Herstellung und Pflege von Kontakten zur Obrigkeit und speziell zu Höfen darstellte, selbst für einen finanzstarken Geldverleiher. Interessanterweise blieb der Sohn Vitale Sacerdotes, Simone, der Politik des Vaters treu. Simone Sacerdote war einer der letzten Juden, der nach dem endgültigen Beschluß der spanischen Krone, die Juden aus der spanischen Lombardei zu vertreiben, mit Philipp II. in Kontakt zu bleiben vermochte. Am spanischen Hof wurden Simone die langjährigen Verdienste im Bereich der Spionage und bei der Enttarnung ausländischer Spione ausdrücklich zugute gehalten.24 Darüber hinaus schätze man in Spanien sein Talent, technologische Geheimnisse zu vermitteln und feilzubieten. So stellte Simone Sacerdote 1591 der spanischen Krone
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Cecil Roth, Joseph Nasi, Duke of Naxos, and the Counts of Savoy, in: Jewish Quarterly Review 57 (1967), S. 460–472; zusammenfassend zu den Ereignissen in Savoyen auch The Jews in Piedmont, bearb. von Renata Segre, 3 Bde., Jerusalem 1986–1990, hier Bd. 1, S. liv–lvi. Roth, Joseph Nasi, S. 467. Ebd. Jews in Piedmont (bearb. R. Segre), Bd. 1, Dok. 1104; 1141. Jews in the Duchy of Milan (bearb. S. Simonsohn), Bd. 3, Dok. 3903; 4087. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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die Erfindung eines jüdischen Glaubensbruders vor, mittels derer sich Meerwasser entsalzen lasse.25 Die politische Relevanz, die solchen technologischen Projekten beigemessen wurde, ist – wie weiter oben bereits erwähnt wurde – nicht zu unterschätzen. Dies belegt ebenfalls der Fall der drei Brüder Pavia aus Lodi. Die drei jüdischen Erfinder, die ihr Geheimnis für eine pumpenbetriebene Erfindung in den 1590er Jahren ebenfalls mit der spanischen Krone geteilt hatten, zählten zu den wenigen Juden in der spanischen Lombardei, die der Vertreibung in diesen Jahren entgingen.26 Auch in dieser Familie sind dabei die Grenzen zwischen dem Wissen um (technologische) Geheimnisse und der ökonomischen Sphäre fließend. Im Geldgeschäft war zumindest einer der Brüder bereits seit den 1590er Jahren tätig. Als sie 1604 in Lodi gemeinsam ein Angebot für den Bau einer neuen, nicht genauer beschriebenen Maschine, die den Bürgern nützlich sei, unterbreiteten, verbanden sie dieses Projekt mit dem Vorschlag, ein Geldleihgeschäft zu eröffnen.27 Geheimnisse konnten, wie wir gesehen haben, eine starke Währung im Kontakt zur Obrigkeit und zum Herrscher selbst darstellen. Im Prag des von Arkana aller Art faszinierten Kaisers Rudolf II. war dies allemal kein Geheimnis. In der Tat zögerten Prager Juden nicht, dem Kaiser geheimnisvolle Objekte zu schenken. Der in der Kunstgeschichte viel diskutierte Prager Choschen, der mit magischen Formeln und Engeln verziert ist, dürfte beispielsweise ein Geschenk Mordechai Meyzls sein, des wohlhabendsten und vermutlich einflußreichsten Juden im Prag Rudolfs II.28 Belegt wiederum ist, daß Meyzl dem Kaiser für die stattliche Summe von fast 3.000 Gulden einen kostbaren »sophierstain« lieferte.29 Auch im Umkreis mittelgroßer Höfe, wie dem zu Mantua, lassen sich eine Reihe von Indizien für eine auf jüdischer Seite bemerkenswerte Verzahnung okkulter Aktitiväten und merkantiler Praxis feststellen. Dies gilt etwa für Levi di Vita, einen der führenden Juwelenlieferanten des Gonzaga-Hofes. Levi di Vita nannte sich selbst zwar einen jüdischen Juwelier (»hebreo gioiellero«), zögerte aber nicht, auch die Vermittlung von Geheimnissen an den Hof anzubieten und somit die Gunst und Aufmerksamkeit der Gonzaga zu erlangen. So offerierte er 1604 aus Prag seine Dienste für 25 26 27 28
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Ebd., Bd. 3, Dok. 4118; Segre, Ebrei lombardi, S. 93. Segre, Ebrei lombardi, S. 87. Jews in the Duchy of Milan (bearb. S. Simonsohn), Bd. 3, Dok. 4414. Richard I. Cohen/Vivian B. Mann, Melding Worlds. Court Jews and the Arts of the Baroque, in: Dies. (Hg.), From Court Jews to the Rothschilds. Art, Patronage, and Power 1600–1800, München 1996, S. 97–123, hier S. 111. Siehe auch S. 181 (Katalogteil). Es dürfte sich um einen Saphir handeln – ein Edelstein, der mit dem biblischen Begriff sapir in Verbindung gebracht wurde und daher von einem besonderen Nimbus umgeben war. Die Zahlungsanweisung bei: Herbert Haupt, Kaiser Rudolf II. Kunst, Kultur und Wissenschaft im Spiegel der Hoffinanz (1596–1612), in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 10 (2008), S. 229–399, hier Dok. 1734. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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den Ankauf eines chemischen Geheimnisses (»secreto vero, reale, per distinger l’oro et ridurlo in olio«).30 Ein Jahr später bereits offerierte er eine alchemische Schrift, die zur Transmutation anleiten sollte. Das Pikante daran war, daß es sich bei dem argwöhnischen Eigentümer des Codex um Kaiser Rudolf II. höchstselbst handelte, der diesen Verkauf kaum gebilligt haben dürfte.31 Auch der ebenfalls vom Mantuaner Hof als Edelsteinlieferant in Anspruch genommene David Cervi hütete Geheimnisse, deren Preisgabe ihm die Gunst des Hofes versprach. So vermittelte Cervi 1591 einen deutschen Ingenieur an den Hof, der viele Geheimnisse in der Militärtechnik und Pulverherstellung (»molti secreti per conto di polvere«) vorweisen konnte und sich vor allem durch seine angeblich alles zerstörenden Geschütze einen Ruf erworben hatte.32 In Venedig wiederum widmete sich der angesehene Arzt David de Pomis – von Historikern mitunter zum ›noblen Idealisten‹33 oder zum »plus grand médecin israélite en Italie au XVIe siècle«34 überhöht – keineswegs nur dem hehren Studium der Medizin, sondern trat zudem als Experte auf dem Gebiet der Alchemie auf. Als er beispielsweise 1593 aus Altersgründen eine Einladung des toskanischen Großherzogs Ferdinando I. nach Pisa nicht annehmen wollte, sandte er ein von ihm selbst angeblich seit mehreren Jahren erprobtes Rezept zur Herstellung von aurum potabile an den Fürsten.35 De Pomis begegnet zur selben Zeit in den Quellen ebenfalls als Lieferant seltener Kostbarkeiten an die Gonzaga.36 Solche arkanen Geschäfte mit Höfen waren nicht notwendigerweise auf einzelne Personen beschränkt, sie ließen sich auch in einem größeren Rahmen betreiben. Erwähnt werden sollte in diesem Zusammenhang eine im 17. Jahrhundert in Casale Monferrato angesiedelte, primär auf Geldgeschäfte und Armeelieferungen spezialisierte jüdische Handelskompanie, die neben Krediten und militärischen Gebrauchsgütern auch chemische Substanzen wie Mangan oder aber das Pulver
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Gonzaga/Prag, Dok. 1005. Ebd., Dok. 1008; 1012; 1026 Gonzaga/Venedig II, Dok. 126. Es könnte sich um den Ingenieur namens Giovanni Sigismondo Fristh [sic] handeln, dessen Ankunft in Mantua kurz darauf gemeldet wird. Siehe ebd., Dok. 131. Zu diesem Ingenieur konnten keine weiteren Informationen ermittelt werden. »Noble idealist«, so bei Harry Friedenwald, The Jews and Medicine, 2 Bde., Jerusalem 1967 [11944], Bd. 1, S. 53. Ladislao Münster, L’Enarratio brevis de senum affectibus de David de Pomis, le plus grand médecin israélite en Italie au XVIe siècle, in: Gad Freudenthal/Samuel Kottek (Hg.), Mélanges d’histoire de la médecine hébraïque. Etudes choisies de la Revue d’histoire de la médecine hébraïque (1948–1985), Leiden 2003, S. 161–181. Lucia Frattarelli Fischer, Vivere fuori dal Ghetto. Ebrei a Pisa e Livorno (secoli XVI–XVIII), Turin 2008, S. 90, Anm. 102. Gonzaga/Venedig II, Dok. 182; 185; 186; 210. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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der Spanischen Fliege im Angebot hatte.37 Während das Mangan beispielsweise in der vielerorts wie ein Staatsarkanum gehüteten Glasherstellung Verwendung gefunden haben dürfte, war das Pulver der Spanischen Fliege (Kanthariden) als Gift38, aber auch als Potenzmittel begehrt. Von der Aura des Geheimnisvollen, da schwer zu Beschaffenden waren beide Stoffe umgeben. Diese Aura des Geheimen wurde auch von jüdischen Unternehmern mitunter selbst dann beschworen, wenn das angebotene Wissen oder Vorhaben eigentlich keiner Geheimhaltung bedurfte. So beharrte der jüdische Bankier Iseppe Prospero Levi aus Mantua auf einer »audienza secreta«, als er dem Kaiser in den 1650er Jahren verschiedende, plausible Vorschläge zur Steigerung der Staatseinnahmen unterbreitete, darunter Mauterhöhungen sowie Aufschläge auf verschiedene Lebensmittel (Öl, Fisch, Getreide).39 Solche Vorschläge schwebten vermutlich auch dem römischen Juden Salomon Gionattavo vor, als er 1609 dem Herzog von Modena ein ›Geheimnis‹ zur Aufbesserung der Staatsfinanzen anbot. Worum genau es sich bei diesem Geheimnis handelt, geben die erhaltenen Briefe allerdings nicht preis.40 Ein anschauliches Beispiel für die meisten der bisher genannten Aspekte der Verschränkung zwischen merkantiler Agenda und Ökonomie des Geheimen im frühneuzeitlichen Judentum bietet die Biographie des jüdischen Unternehmers und Erfinders Maggino Gabrielli, die hier ausführlicher dargestellt werden soll.41 Der 1561 in Padua geborene Maggino, ein italienischer Jude, erhielt bereits im Alter von kaum mehr als zwanzig Jahren im Rom Sixtus’ V. Patente für verschiedene Erfindungen. Namentlich galt Maggino als Experte auf dem Gebiet
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Attilio Milano, Un’azienda di banchieri e provveditori ebrei alla corte dei Gonzaga Nevers nel Seicento, in: Rassegna mensile di Israel 28 (1962), S. 180–202. Girolamo Cardano, De venenis libri tres, in: Opera omnia, 10 Bde., Lyon 1663 [Faksimile Stuttgart– Bad Cannstatt 1966], Bd. 7, S. 275–355, hier S. 313. Auch Lewin weist darauf hin, daß Kanthariden bereits in der Vormoderne als Gift benützt wurden. Dazu und zur Sicht der modernen Medizin: Louis Lewin, Gifte und Vergiftung (= Handbuch der Toxikologie), Berlin 41929, S. 986–989. ÖStA, Hofkammerarchiv, Verschiedene Vorschläge, Nr. 122. Einige Informationen zu Levi als Bankier in Mantua bei Shlomo Simonsohn, History of the Jews in the Duchy of Mantua, Jerusalem 1977, S. 232, S. 790–791. »[S]ecreto d’avere modo et via de fare Agumentare ogn[’]anno un utile che rendera tanto che sarà Bastante per tutti li spesi del suo stato«. ASMo, ASE, Invenzioni, progetti, scoperte, b. 1 (2 Eingaben o. D. [1609]). Alle Angaben hierzu sind im weiteren – soweit nicht anders angegeben – entnommen aus: Daniel Jütte, Handel, Wissenstransfer und Netzwerke. Eine Fallstudie zu Grenzen und Möglichkeiten unternehmerischen Handelns unter Juden zwischen Reich, Italien und Levante um 1600, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 95 (2008), S. 263–290 (mit weiterführender Literatur bis 2008). Zu Maggino siehe jetzt auch Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 91–131 sowie Dora Liscia Bemporad, Maggino di Gabriello »Hebreo Venetiano«. I dialoghi sopra l’utili sue inventioni circa la seta, Florenz 2010. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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der Glas- und Seidenherstellung. Der jüdische Erfinder beherrschte die Balance zwischen Geheimhaltung und öffentlichem self-fashioning meisterhaft.42 Dies war um so notwendiger, als sich Maggino mit seinen Aktivitäten auf dem Sektor der Glasherstellung in einem massiv von Geheimhaltung geprägten Industriezweig bewegte, der in der Frühen Neuzeit auch Berührungspunkte zur ›Praktischen Alchemie‹ aufwies.43 Das Wissen um Techniken und Materialien der Glasherstellung wurde vor allem in Magginos Heimatstadt Venedig in der Frühen Neuzeit wie ein Staatsarkanum gehütet, Verrat entsprechend drakonisch bestraft. Der Text des gedruckten Privilegs zur Glasherstellung, das Maggino 1588 vom Papst erhielt und das in ganz Rom angeschlagen wurde, wirft daher in seinen technischen Ausführungen bezeichnenderweise mehr Fragen als Antworten auf.44 Der Erfinder selbst sprach von einem ›sehr vornehmen Geheimnis‹ (»secreto molto nobile«).45 Es handelte sich gleichwohl um ein seriöses Unternehmen, was nicht zuletzt daraus hervorgeht, daß der jüdische Erfinder bereits wenig später zu einem der führenden Glaslieferanten für eine Reihe von Prestigebauten des Papstes, darunter für den Lateranpalast, aufstieg.46 Jahre später sollte er sich sogar auf die Herstellung von Glasperlen für die Rosenkränze katholischer Gläubiger spezialisieren.47 Auch auf dem Gebiet der Seidenherstellung galt es für Maggino, auf dem schmalen Grat zwischen Geheimhaltung und Preisgabe seines technologischen Wissens zu wandeln. In seinen gedruckten Dialoghi sopra l’utili sue inventioni circa la seta (1588) schildert Maggino die von ihm erfundene Methode für die Seidenraupenzucht ebenso ausführlich wie andeutungsvoll.48 Die beigegebenen, qualitativ hochwertigen Illustrationen, in denen der jüdische Erfinder an bühnenartig dargestellten, höfischen Schauplätzen einem staunenden Publikum seine Methode vorstellt, wecken Assoziationen zum Gestus des Magus.49 Magginos Behauptung, er entledige sich mit der Veröffentlichung seiner Geheimnisse einer Bürde, sollte ebenso vorsichtig bewertet werden wie das vom Autor in diesem Zusammenhang vorgebrachte Bekenntnis, er gebe seine Geheimnisse zur Verbesserung der
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Evelyn Lincoln, The Jew and the Worms. Portraits and Patronage in a Sixteenth-Century How-To Manual, in: Word & Image 19 (2003), S. 86–99, hier v. a. S. 92. Vgl. v. a. die gesammelten Beiträge zu dieser Thematik bei Wilhelm Ganzenmüller, Beiträge zur Geschichte der Technologie und der Alchemie, Weinheim/Bergstr. 1956. ASR, Collezione dei bandi, v. 7 Maggino di Gabrielli, Dialoghi di M. Magino Gabrielli hebreo venetiano sopra l’utili sue inventioni circa la seta. Ne’ quali anche si dimostrano in vaghe Figure Historiati tutti gl’essercitij, & instrumenti, che nell’Arte della Seta si ricercano, Rom: Gigliotti 1588, S. 2. Jütte, Handel, Wissenstransfer und Netzwerke, S. 272–273. Frattarelli Fischer, Vivere fuori dal Ghetto, S. 98. Maggino di Gabrielli, Dialoghi. Lincoln, The Jew and the Worms, S. 96. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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Welt preis.50 In beiden Fällen handelte es sich um einschlägige, eher floskelhafte Topoi der Secreta-Literatur. Zwar war Magginos Werk als Handlungsanleitung konzipiert, de facto aber lassen Text und Abbildungen an Deutlichkeit vermissen. Es fragt sich, ob die Dialoghi tatsächlich einer uneingeschränkten Preisgabe der Geheimnisse ihres Autors dienten oder nicht vielmehr eine aufwendig gestaltete Werbeschrift darstellten. Wer die Technologie des jüdischen Erfinders anwenden wollte, mußte jedenfalls die dafür notwendigen Utensilien und Instrumente bezeichnenderweise bei den damit von Maggino betrauten Händlern erwerben. Magginos Werk bietet also ein an die weiter oben bereits erwähnten usus et fabrica-Bücher erinnerndes Beispiel dafür, wie sich mit der Ankündigung, Geheimnisse zu enthüllen, ein Markt und somit eine Nachfrage generieren ließen. Auch als nach dem Tode des Papstes (1590) für Maggino kein Bleiben mehr in Rom war, erwies sich seine mutmaßliche Kompetenz im Umgang mit Geheimnissen als Aktivposten. Die Medici, die Maggino 1591 zum Konsul der Juden von Pisa und Livorno beriefen, vertrauten dem jüdischen Erfinder bezeichnenderweise nicht zuletzt die Ausführung einer heiklen politischen Mission in die Levante an. Nachdem Magginos ehrgeizige Karriere als Konsul der Juden in Pisa und Livorno nach einigen Jahren wegen Differenzen mit den örtlichen Judenschaften scheiterte, entschied sich der Unternehmer dafür, den Anlauf zur Gründung einer Levantehandelskompanie im Heiligen Römischen Reich zu wagen. In Lothringen, Kurtrier und Württemberg baute er Niederlassungen für seine Levantekompanie auf. Ein solches Vorhaben war ohne Patronage und die Privilegien frühabsolutistisch gesonnener Territorialherren nicht zu verwirklichen. Dies dürfte ein Grund dafür gewesen sein, daß Maggino sich anschickte, beispielsweise die Gunst des leidenschaftlich der Alchemie verschriebenen württembergischen Herzogs durch das Anbieten von Geheimnissen zu gewinnen. So bot der jüdische Konsul an, dem Herzog einen in der Goldmacherei kundigen Alchemisten zu vermitteln.51 Maggino, der inzwischen in Württemberg die Herstellung von venezianischem Glas und Spiegeln wieder aufzunehmen gedachte, zögerte zudem nicht, mit Blick auf sein eigenes technologisches Wissen eine Rhetorik zu verwenden, die deutlich an die unter Alchemisten verbreitete Rede vom Wissen des Adepten als Geschenk Gottes (donum Dei) erinnerte.52 Schließlich bleibt zu erwähnen, daß der Kontakt Magginos und seiner jüdischen Handelskompanie zum württembergischen Her-
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Die Rede von seinen Geheimnissen ist in der Abhandlung ubiquitär. Siehe z. B. das Widmungsschreiben an den Papst [o. S.], ferner S. 7, S. 11, S. 12, S. 16, S. 17, S. 59, S. 61, S. 64, S. 67, S. 83, S. 90, S. 91. Maggino an Friedrich I., 31. März 1598, HStAS, A 56 Bü 10, fol. 20r. »[M]ir von Gott gegebne Kunst, die Ich […] niemahls geoffenbaret.« Maggino an Friedrich I., 15. Juni 1598, HStAS, A 56 Bü 10, fol. 38r. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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zog offenbar nicht zuletzt durch den damals einzigen Juden am Stuttgarter Hof, den Hofalchemisten Abramo Colorni, hergestellt wurde.53 Die bisherigen Beispiele in diesem Kapitel haben sich überwiegend der Bedeutung von Geheimnissen in den Beziehungen von Juden zu Höfen gewidmet. Es sollte allerdings nicht übersehen werden, daß der Handel mit Geheimnissen sowohl für sozial schwache Juden als auch abseits der Höfe ein einträgliches Geschäft darstellte. Dies läßt sich am Beispiel der Biographie des italienischen Juden Isaac Sanguineti veranschaulichen.54 Sanguineti verdiente sich im Herzogtum der Este im frühen 17. Jahrhundert ein Zubrot durch die Vermittlung von magischen Geheimnissen (»secreti magici«) und von esoterischen Werken wie der berüchtigten Clavicula Salomonis. Eine seiner Spezialitäten soll dabei die Beschwörung Liliths gewesen sein. Obwohl Sanguineti zwischen 1598 und 1621 verschiedentlich von der Inquisition verhaftet wurde, blieb er dennoch seinem ›Metier‹ über die Jahre hinweg treu.55 Es ist nicht plausibel, dahinter eine mangelnde Abschrekkungswirkung der Strafen oder eine indolente Ahndung durch die Inquisition zu vermuten. So gab in einem Prozeß gegen Sanguineti ein jüdischer Zeuge zu Protokoll, daß er und seine Glaubensgenossen Angst vor der Inquisition hätten.56 Die fortdauernden Aktivitäten Sanguinetis sprechen also dafür, daß der Handel mit Geheimnissen und die Praxis der Magie – wenngleich auf bescheidener Ebene – für Sanguineti als Geschäftszweig aussichtsreich genug waren, um eine mögliche Bestrafung durch die Inquisition zu riskieren. Es muß ebenfalls bemerkt werden, daß die Ökonomie des Geheimen und speziell die Sphäre der Alchemie und des Okkulten auch jüdischen Konvertiten Erwerbschancen und eine Möglichkeit zur Profilierung bot. In den Augen vieler Zeitgenossen büßte der Konvertit durch die Abkehr vom jüdischen Glauben keineswegs seine Arkankompetenz ein. Auf den Marktplätzen waren solche Vorstellungen allemal verbreitet. In der Tat verwiesen jüdische Konvertiten, die sich als umherreisende Scharlatane ihren Lebensunterhalt verdienten und einen neuen, christlichen Namen angenommen hatten, mitunter explizit auf ihre jüdische Herkunft oder beeindruckten ihr Publikum sogar mit Darbietungen in hebräischer Sprache. Dies dürfte der Kirche genauso sehr mißfallen haben wie die Tatsache, 53
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Daniel Jütte, Abramo Colorni, jüdischer Hofalchemist Herzog Friedrichs I., und die hebräische Handelskompanie des Maggino Gabrielli in Württemberg am Ende des 16. Jahrhunderts. Ein biographischer und methodologischer Beitrag zur jüdischen Wissenschaftsgeschichte, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, 15 (2005), S. 435–498, hier S. 456–460. Albano Biondi, Gli ebrei e l’inquisizione negli stati estensi, in: Michele Luzzati (Hg.), L’inquisizione e gli ebrei in Italia, Rom 1994, S. 265–285. Ebd., S. 277, S. 284. »Noi […] hebrei quando sentiamo nominare il Santo Ufficio habiamo paura«. Zitiert nach ebd., S. 276. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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daß einige solcher Neophyten mit Produkten wie einem Balsamo vitale dell’ebreo fatto christiano oder einem Balsamo dell’ebreo fatto christiano vor den Augen der Bevölkerung reüssierten. Denn hier wurde der Versuch der Konvertiten augenfällig, sich den Nimbus der jüdischen Arkankompetenz auch nach der Taufe zunutze zu machen.57 Ein konvertierter Jude war höchstwahrscheinlich auch Giovanni Battista Isacchi aus Reggio (Lebensdaten unbekannt).58 1579 veröffentlichte er ein Buch, in dem er seine technologischen Erfindungen (inventioni) sowie verschiedene Geheimnisse (»varij secreti & utili avisi«) preiszugeben versprach, die überwiegend militärischer Natur waren.59 Zwar ist der Band mit Illustrationen versehen, jedoch bleibt vieles eher angedeutet als erklärt. Für Isacchis Buch gilt somit auch, was bereits weiter oben mit Blick auf die Funktion von gedruckter Secreta-Literatur gesagt wurde: Ihr Hauptzweck war oftmals weniger die konkrete Handlungsanleitung als vielmehr das Werben um bzw. der Dankerweis für die Übernahme in ein Patronage-Verhältnis. Isacchi zumindest genoß ausweislich seines Buches offenbar das Vertrauen einer Reihe illustrer adliger Patrone und Höflinge: Jedes Geheimnis hat einen eigenen Widmungsträger. Es ist anzunehmen, daß Isacchis mutmaßlich jüdische Herkunft dabei als vorteilhaft für seine Kompetenz auf dem Gebiet arkanen Wissens gesehen wurde. Aufschlußreich für den hier skizzierten Zusammenhang ist schließlich auch die Biographie des Konvertiten Josias Markus (1527–1599), der nach dem Studium in Wittenberg zunächst zum Weimarer Rat berufen wurde.60 Bald darauf wurde er zum Vizekanzler des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel ernannt. Dieser Karrieresprung verdankte sich dem Betreiben des betrügerischen Alchemisten Philipp Sömmering, der in den 1570er Jahren die Gunst des dortigen Herzogs gewonnen hatte. Es läßt sich nicht mehr rekonstruieren, inwieweit Josias Markus tatsächlich in die alchemischen Aktivitäten des Sömmering-Kreises involviert war; 57 58
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David Gentilcore, Medical Charlatanism in Early Modern Italy, S. 298, S. 329. Mit Gewißheit, aber leider ohne Nachweis wird dies auch behauptet von C. A. Stonehill, The Jewish Contribution to Civilization, Birmingham 1940, S. 93. Weitere Informationen zu Isacchi konnte ich nicht finden. Inwieweit er mit dem Künstler und Handwerker Giovanni Battista Isacchi identisch ist, der sich um 1597 in Reggio nachweisen läßt, vermag ich nicht zu sagen. Zu diesem Künstler vgl. G. Battista Venturi, Notizie da aggiugnersi alle biografie degli artisti reggiani […], in: Atti e memorie delle deputazioni di storia patria per le provincie modenesi […], ser. III, 2 (1884), S. 34; siehe auch Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler (Thieme/Becker), Leipzig 1926, Bd. 19, S. 240. Inventioni di Gio. Battista Isacchi da Reggio nelle quali si manifestano varij secreti & utili avisi a persone di guerra e per i tempi di piacere, Parma: Viotto 1579. Alle Angaben zu diesem Fall nach Albert Rhamm, Die betrüglichen Goldmacher am Hofe des Herzogs Julius von Braunschweig. Nach den Proceßakten dargestellt, Wolfenbüttel 1883, hier v. a. S. 19, S. 75. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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eine Vertrauensbasis zwischen dem konvertierten Vizekanzler und dem Alchemisten muß jedoch existiert haben. Die zwischen ihnen getroffene Vereinbarung war für Sömmering wie für Markus vorteilhaft. Der Alchemist hatte mit der Berufung des getauften Juden ein größeres Revirement in der Regierung initiiert und bei dieser Gelegenheit einige seiner schärfsten Kritiker am Hofe ausgeschaltet. Für Markus wiederum eröffnete sich in Wolfenbüttel die Möglichkeit zu einem Karrieresprung, der ihm ansonsten womöglich verwehrt geblieben wäre, zumal er von seiner Umwelt offenbar nach wie vor mit dem Judentum in Verbindung gebracht wurde. In den von Selbstzufriedenheit kündenden »Famosreimen«, die damals in dem Alchemistenkreis um Sömmering gedichtet und nach der Verhaftung des Betrügers beschlagnahmt wurden, ist dieser Zusammenhang deutlich auf den Punkt gebracht. Dort heißt es – in einer vom Herausgeber im 19. Jahrhundert geglätteten Transkription – über die vom Alchemisten Sömmering eingeleiteten Entlassungen am Hof: »An ihre Stätte genommen hätten, die sonst keinen Dienst nit haben muchten, Judens Genossen und dergleichen die keinem Laster dürfen weichen.«61
Diese Zeilen waren eine unverhohlene Anspielung auf Josias Markus, wie Sömmering selbst später in einer Vernehmung zugab. Angeblich hatten drei von Sömmerings Kollegen diese Strophe gedichtet. Das Opfer des Spotts konnte sich allerdings kaum mehr revanchieren. Markus entging zwar dem Schicksal Sömmerings, der auf grausame Weise öffentlich hingerichtet wurde. Bereits mit der Verhaftung des Alchemisten war allerdings auch der politische Sturz des Vizekanzlers besiegelt. Damit sind die Risiken angesprochen, die Konvertiten, vor allem aber Juden, drohen konnten, die ihr politisches und wirtschaftliches Schicksal allzu eng an den Erfolg alchemischer Unternehmungen knüpften oder die mit betrügerischer Alchemie assoziiert wurden. Generell galt die Alchemie in den Augen vieler Kirchenmänner und auch mancher Humanisten als ein Ärgernis, wenn nicht sogar als ein gefährliches Laster, das zur Selbstüberhebung und zum Betrug führte. Bereits Dante hatte nicht von ungefähr die Alchemisten gemeinsam mit den Fälschern in die untersten Regionen der Hölle verbannt.62 Solche Polemik gegen die Alchemie bildete in der Frühen Neuzeit allerdings oft nur einen Anlaß oder Vorwand, um allgemeine Kritik an gesellschaftlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Fehlentwicklungen zu üben. Die Figur des betrügerischen Alchemisten, die heute die 61 62
Zitiert nach ebd., S. 117. Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, Frankfurt am Main 1974, Inferno, Canto 29. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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Vorstellung von der Alchemie maßgeblich prägt, ist zu nicht unwesentlichen Teilen ein Konstrukt dieser Kritik.63 Die Situation jüdischer Alchemisten konnte, zumal vor dem hier skizzierten Hintergrund, schnell prekär werden. Insbesondere die oftmals beträchtliche Nähe zwischen der ökonomisch-merkantilen Agenda und den alchemischen Aktivitäten von Juden blieb christlichen Zeitgenossen nicht verborgen und konnte ihrerseits zum Ausgangspunkt für Phantasmen auf christlicher Seite werden. Es ist aufschlußreich, daß kein geringerer als Martin Luther in einem Atemzug vor (Hof-)Juden und Alchemisten warnte.64 In einem Brief an den brandenburgischen Kurfürsten mahnte der Reformator zu großer Vorsicht vor beiden Gruppen, deren Aktivitäten am Hofe nur zu »Tücke« und »Trug« führen würden.65 Das Schreiben des Reformators ist sogar als eine ausdrückliche Warnung vor »jüdischen Alchemisten« am brandenburgischen Hof gedeutet worden.66 Zwar dürfte diese konkrete Deutung zu weit führen. Auf einer übergeordneten Ebene fielen die Figur des Juden und des Alchemisten für Luther aber durchaus überein; in jedem Fall weist seine Warnung vor beiden Gruppen eine politische Dimension auf. Denn die Alchemie wird in Luthers drastischer Warnung zu einer Facette im Spektrum irdischer Verderbtheit und konkret zum Teil jenes Gesamtkomplexes betrügerischer Aktivität, den der Reformator vor allem in seinen späten Jahren nicht zuletzt mit jüdischem (Wirtschafts-)Leben assoziierte. Luthers Tirade gegen die Juden am brandenburgischen Hof hatte ihre Wurzeln also nicht nur in den theologischen Motiven, die in der notorischen Judenfeindschaft des Reformators eine wichtige Rolle spielen.67 Die Verkopplung von Judenfeindschaft und Alchemiekritik bildete vielmehr einen eigenständigen Diskurs, wie wir sehen werden. Es ist bereits weiter oben erwähnt worden, daß alchemische Aktivitäten frühneuzeitlicher Juden mitunter eine Nähe zu den Gebieten der Münzprägung und -verbesserung bzw. allgemein zur Metallurgie aufwiesen. Dies war natürlich kein spezifisch jüdisches Phänomen, sondern hing wesentlich mit der Natur der 63 64 65 66 67
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Nummedal, Alchemy and Authority, v. a. S. 62. Zu Luthers insgesamt kritischem Verhältnis zur Alchemie vgl. Erich Klingner, Luther und der deutsche Volksaberglaube, Berlin 1912, S. 109–111. Luther an Joachim II. von Brandenburg, 9. März 1545, in: Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], Weimar 1883 ff., hier Bd. 11, S. 49–52. Richard Liechtenstein, Ein eigenhändiger Brief Dr. Martin Luthers an den Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg, in: Allgemeine Zeitung des Judentums vom 17. August 1906 (Nr. 33), S. 392. Eine Vielzahl von Studien hat sich inzwischen der Judenfeindschaft Luthers gewidmet, die sich im Laufe seines Lebens verschärfte. Es sei hier pars pro toto auf die einschlägige Studie von Oberman verwiesen: Heiko A. Oberman, Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation, Berlin 1981, hier v. a. Kap. 3. Weiterführende Literatur auch bei Joseph Elijah Heller/B. Mordechai Ansbacher, Lemma Luther, Martin, in: EJ, Bd. 13, S. 271–272. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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Metallurgie in der Frühen Neuzeit zusammen. Zwischen Metallurgie, Münzwesen und alchemischem Wissen gab es in dieser Epoche fließende Übergänge.68 Das Münzwesen galt zudem als eines der zentralen Staatsgeheimnisse dieser Zeit,69 die Fähigkeit zum Umgang mit und zur Bewahrung von Geheimnissen war daher unverzichtbar. Für das Amt des Münzmeisters, mit dem nicht wenige (Hof-)Juden in der Frühen Neuzeit de facto betraut wurden, war also eine wie auch immer geartete Expertise auf dem Gebiet der Metalle in der Regel unverzichtbar.70 Dieses Wissen war niemals nur auf christliche Handwerker oder Zünfte beschänkt. Vielmehr ist die Betätigung von Juden in der Metallurgie bereits im christlichen Europa des Mittelalters nachweisbar.71 Im Heiligen Römischen Reich ist in der Frühen Neuzeit unter Juden sogar der Beruf des Eisenhüttenleiters nachweisbar.72 Überdies bildete der Handel mit Eisen, Kupfer und Altmetallen in der gesamten Vormoderne einen festen Bestandteil des jüdischen Wirtschaftslebens.73 Eine wichtige Rolle spielten zudem sog. »Münzjuden« im Zusammenhang mit Goldund Silberlieferungen.74 Die spezifische Rolle von Juden für den Handel und die Verarbeitung von Metallen erklärt die alchemischen Interessen manch eines jüdischen Adepten, bildete aber auch den Ausgangspunkt für eine generalisierende Polemik auf christlicher Seite. In der Perspektive der christlichen Judenfeindschaft wurden fließende Übergänge zwischen metallurgischem und alchemischem Wissen ins Negative gewendet und zu einer genuinen Gefahr stilisiert. Namentlich galt dies, wenn mit dem Münzwesen ein Sektor ›betroffen‹ war, der entscheidende Bedeutung für die Integrität des Staates und die Handlungsfähigkeit der Obrigkeit hatte, an der nicht zuletzt Luther viel gelegen war. Bezeichnenderweise wurde den Juden noch im 18. Jahrhundert vorgeworfen, daß »sie aller Orten/wo Gold und Geld zu machen ist/ 68
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Speziell zu Zusammenhängen zwischen Alchemie und Münzwesen siehe auch Wolf-Dieter Müller-Jahncke/Joachim Telle, Numismatik und Alchemie. Mitteilungen zu Münzen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Christoph Meinel (Hg.), Die Alchemie in der europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, Wiesbaden 1986, S. 229–275, hier v. a. S. 229–230, S. 261. Hellmut G. Haasis, Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer, Reinbek 1998, S. 128, S. 132. Zu Juden als Münzmeister im Mittelalter siehe jetzt Markus J. Wenninger, Juden als Münzmeister, Zollpächter und fürstliche Finanzbeamte im mittelalterlichen Aschkenas, in: Michael Toch (Hg.), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen, München 2008, S. 121–138. Diese Studie erwähnt am Rande auch die Situation in der Frühen Neuzeit, siehe S. 135, S. 137. Zur Bedeutung von Münzgeschäften und -lieferungen für die frühneuzeitlichen Hofjuden siehe v. a. Stern, Der Hofjude, Kap. 6. M.G. Sandri/Paolo Alazraki, Arte e vita ebraica a Venezia 1516–1797, Florenz 1971, S. 17. J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001, S. 96. Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism 1550–1750, Oxford 1985, S. 172. Selma Stern, Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und zur jüdischen Geschichte, München 1929 [ND München 1973], S. 116–117. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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sich herbey machen/als haben sie so gar auch ins Goldmachen und die Alchimie sich eingemischet«.75 Von dieser Annahme war der Weg nicht mehr weit zum generalisierenden Vergleich zwischen dem betrügerischen Alchemisten, der in das System der Elemente und der Metalle eingreift, und dem böswilligen Hofjuden bzw. Münzmeister, der angeblich den wirtschaftlichen Kreislauf und speziell die Zirkulation der Edelmetalle und der Münzen zu manipulieren versucht. Auch vor dem Hintergrund dieser Analogie muß die Gefährlichkeit gesehen werden, die den Hofjuden im allgemeinen und den jüdischen Münzmeistern im besonderen von christlicher Seite oftmals zugeschrieben wurde. Münzmanipulation war ein zentraler Vorwurf gegen die frühneuzeitlichen Hof- und Münzjuden.76 Zwar ist es wahr, daß einige Hofjuden in Aktivitäten in Zusammenhang mit der Abwertung und Manipulation von Edelmetallen und Münzen verwickelt waren, auf christlicher Seite jedoch übersah man gerne, daß solch kriminelle Handlungen den Hofjuden von ihren fürstlichen Arbeitgebern nicht selten ausdrücklich zugebilligt oder sogar schlichtweg oktroyiert wurden.77 Soweit solche fürstlichen Vorgaben fehlten, war eine Reihe von jüdischen Münzmeistern aus eigenem Antrieb freilich weniger an der Ab- als vielmehr an der Aufwertung der verarbeiteten Metalle interessiert (wofür die Alchemie sich unzweifelhaft anbot). Dies gilt beispielsweise im späten 16. Jahrhundert für einen norddeutschen Juden namens Gottschalk, der anbot, sein alchemisches Wissen für die Münzprägung zu verwenden. Gottschalk, der in eine einflußreiche und wohlhabende jüdische Familie geboren wurde, war kein durchreisender Glücksritter.78 Sein Vater Phibes von Hannover hatte die Münze in Wunstorf gepachtet und war in risikoreiche Geldgeschäfte mit christlichen Partnern, darunter auch mit dem Herzog von Calenberg, involviert. Beim Tod des Vaters 1579/1580 erbte der Sohn
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Johann Jacob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten […] Was sich Curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahrhunderten mit denen in alle IV. Theile der Welt sonderlich durch Teutschland zerstreuten Juden zugetragen […], Frankfurt am Main/Leipzig 1714 [ND Berlin 1922, 4 Bde.], VI. Buch, Kap. 18, S. 210. Michael Goer, »Gelt ist also ein kostlich Werth«. Monetäre Thematik, kommunikative Funktion und Gestaltungsmittel illustrierter Flugblätter im 30jährigen Krieg, Diss. Tübingen 1981, v. a. S. 126–130; S. 136–139; S. 146–158. Siehe auch Barbara Gerber, Jud Süß. Aufstieg und Fall im frühen 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung, Hamburg 1990, S. 68–69, S. 93, S. 96, S. 359. Mordechai Breuer, Die Hofjuden, in: Michael A. Meyer/Michael Brenner (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, 4 Bde., München 2000, hier Bd. 1, S. 106–125, hier S. 111; Rainer Gömmel, Hofjuden und Wirtschaft im Merkantilismus, in: Rotraud Ries/J. Friedrich Battenberg (Hg.), Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 59–65, hier S. 62; siehe auch Stern, Der Hofjude, S. 157–158. Zum Reichtum seines Großvaters und der Familie vgl. Rotraud Ries, Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert, Hannover 1994, S. 417–418. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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Gottschalk die Schulden.79 Dies könnte ein Anreiz für Gottschalk gewesen sein, die Beschäftigung mit der Wunder versprechenden Alchemie zu intensivieren. Schon einige Jahre zuvor hatte er den Bergbaumeister Lazarus Ercker in der Kunst unterwiesen, aus schlechtem Gold Dukaten von höchster Qualität herzustellen.80 Dabei ging es offenkundig darum, mit den Mitteln der Alchemie die Qualität des Edelmetalls für die Münzprägung zu verbessern. Obgleich diese Experimente – aus heutiger Sicht – notwendigerweise scheitern mußten, sollte dem Adepten Gottschalk nicht kurzerhand eine solide metallurgische und chemische Expertise abgesprochen werden. So wurde er 1582 als »diener« des Herzogs Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel beauftragt, Verhandlungen über den Verkauf von Blei, Vitriol und Schwefel in Emden zu führen. Vermutlich in diesem Zusammenhang sind auch Gottschalks nachweisbare Geschäfte mit Waffen, Munition, Salpeter und Chemikalien zur Munitionsherstellung zu sehen.81 Erst als die finanziellen Schwierigkeiten Gottschalks und seiner Familie in Niedersachsen offenbar zu massiv wurden, übersiedelte er nach Prag.82 In Böhmen wiederum ließ ihn sein metallurgisch-alchemisches Wissen rasch zu einem begehrten Experten für die Herren von Rosenberg werden, deren bekanntester Vertreter – Peter Wok von Rosenberg (1539–1611) – selbst ein bedeutender Förderer der Alchemie war.83 Einige Jahrzehnte später (1606) führte im Erzstift Trier ein jüdischer Geldverleiher und Händler namens Feivelmann auf einer Burg alchemische Experimente offenbar im Zusammenhang mit einem an ihn ergangenen Auftrag zur Münzprägung durch. Feivelmann hatte sich zu diesem Zweck christliche Mitstreiter gesucht, darunter den Burggrafen selbst. Als die Experimente aus unbekannten Gründen abgebrochen wurden, kam es zu einem Zerwürfnis zwischen den Partnern. Der Streit wurde schließlich vor Gericht ausgetragen – interessanterweise ging es dabei jedoch nur um die Rückzahlung der von einem der christlichen Partner in die Experimente investierten Geldbeträge. Die alchemischen Experimente an sich waren kein Stein des Anstoßes vor Gericht.84 Nicht immer endete es für Juden so glimpflich, wenn Alchemie und Münzprägung eine reale oder imaginierte Verbindung eingingen. So wurden 1572 zwei 79 80 81 82 83
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Ebd., S. 119. Nummedal, Alchemy and Authority, S. 102–103. Ries, Jüdisches Leben in Niedersachsen, S. 405. Ebd., S. 120. Zur Geschichte dieser Adelsfamilie sowie deren naturwissenschaftlich-alchemischen Interessen siehe Annemarie Enneper, Lemma Rosenberg, in: NDB, Bd. 22, S. 57–58; siehe auch Robert J.W. Evans, Rudolf II and his World. A Study in Intellectual History, 1576–1612, London 1997 [11973], S. 140–143. Andreas Göller, Abhängigkeit und Chance – jüdisches Leben im Umfeld des Trierer Stiftsadels. Feivelmann von St. Paulin und die Familie Kratz von Scharfenstein, in: Jörg R. Müller (Hg.), Beziehungsnetze aschkenasischer Juden während des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Hannover 2008, S. 275–288, S. 280–286. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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Juden in Marburg bei der Obrigkeit angezeigt und einem peinlichen Verhör unterzogen, weil sie angeblich an den Umtrieben einer Gruppe von Alchemisten und Falschmünzern beteiligt waren.85 Damit kehren wir noch einmal zur Frage der Risiken zurück, die das Dreieck von Alchemie, Metallurgie und Münzprägung für Juden barg. Ein eindrückliches Beispiel, das hier genauer skizziert werden soll, liefert die Biographie des Joseph Süß Oppenheimer (1698–1738), des vermutlich bekanntesten deutschen Hofjuden überhaupt.86 Die Geschichte, die hier von Interesse ist, nahm ihren Lauf in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, die sich damals seit Jahrzehnten in einer desaströsen Finanzlage befand. Die Inkompetenz des regierenden Landgrafen Ernst Ludwig (reg. 1678–1739) bei der Bewältigung der Finanzprobleme war offenkundig. Allein die Schulden der Kabinettskasse betrugen in den 1720er Jahren zwei Millionen Gulden.87 Der Landgraf suchte – wie zahlreiche Herrscher vor ihm – sein Heil in der Anstellung von Alchemisten, von denen er sich die wundersame Herstellung großer Mengen an Gold versprach. Ernst Ludwig war jedes Mittel recht, damit er »fürstlich leben und des continuirlichen Klagens und Mangels enthoben bleibe«.88 Auch einige Vertraute des Herzogs waren in die alchemischen Bestrebungen verwickelt, doch fehlte es am Hof gleichwohl nicht an Gegnern der Experimente. Bereits 1728 hatte der Geheime Rat den regierenden Landgrafen Ernst Ludwig in ungewöhnlich scharfen Worten dazu aufgefordert, »vor allen dingen sich der wie heimliches Feuer und Kohlen um sich fressenden Alchimistischer Laboranten gänzlich abzutun« und überdies keine Schatzsucher mehr am Hof zu empfangen.89 In diesem Zusammenhang wurden einige der jüdischen Finanziers des Hofes mit den alchemischen Experimenten am Hof in Verbindung gebracht.90 Es läßt sich nicht rekonstruieren, ob diese Vorwürfe gegen die landgräflichen Hofjuden tatsächlich zutrafen. Wie wir in diesem Kapitel bereits gesehen haben, 85 86 87
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Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg, bearb. von Uta Löwenstein, 3 Bde., Wiesbaden 1989, hier Bd. 2, Dok. 2121. Zu seiner Biographie siehe v. a. Stern, Jud Süß; Haasis, Joseph Süß Oppenheimer. Zu seiner Wirkung auf die Zeitgenossen siehe Gerber, Jud Süß. Jürgen Rainer Wolf, Joseph Süß Oppenheimer (»Jud Süß«) und die Darmstädter Goldmünzprägung unter Landgraf Ernst Ludwig, in: Numismatisches Nachrichtenblatt 30 (1981), S. 93–106, hier S. 94; siehe auch ders., Joseph Süß Oppenheimer (»Jud Süß«) und die Darmstädter Goldmünze. Ein Beitrag zur hessen-darmstädtischen Finanzpolitik unter Landgraf Ernst Ludwig, in: Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, hg. von der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1983, S. 214–261. Wolf, Joseph Süß Oppenheimer [1981], S. 94. Wolf, Joseph Süß Oppenheimer [1983], S. 223. Ebd., S. 223. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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kam es immer wieder vor, daß Mitglieder der jüdischen – wie natürlich auch der christlichen – Wirtschaftselite in solche arkanen Unternehmungen verwickelt waren. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der gegen die jüdischen Finanziers erhobenen Vorwürfe bieten die Ereignisse dieser Jahre einen höchst aufschlußreichen Einblick in die Genese der Vorstellung vom Hofjuden als Alchemisten. Dies wird im weiteren Verlauf der Geschichte deutlich; hier tritt nun Oppenheimer auf den Plan. Denn fünf Jahre später, im Jahr 1732, begann der Landgraf erstmals das Projekt der »Aufrichtung einer Gold-Müntz-Fabrique« zu lancieren.91 Hinter dieser Bezeichnung verbarg sich der Versuch, die Ausprägung von Münzen aufzunehmen, die einen geringeren Edelmetallgehalt aufwiesen als durch den Kaiser vorgeschrieben. Einige führende Territorien des Reiches, darunter Kurbayern und Württemberg, hatten solche Münzen bereits in Umlauf gebracht. In Hessen-Darmstadt war es Joseph Süß Oppenheimer, der gemeinsam mit einem christlichen Rat des Landgrafen das Projekt ins Gespräch gebracht hatte.92 Zumindest auf seiten des Landgrafen stießen die Initiatoren dabei auf wenig Skrupel. Im September 1733 nahm die neue Münze den Betrieb auf.93 Dies war fraglos ein gefährliches Projekt. Denn solche Münzmanipulationen waren durch die Reichsverfassung verboten und konnten für den Landesherrn letztlich zum Verlust des Münzrechts führen. Es kann daher nicht verwundern, daß die gesamte Unternehmung von der Bemühung um Geheimhaltung gekennzeichnet war. Zunächst einmal galt es, die maßgebliche Beteiligung Oppenheimers an der Beschaffung des Goldes für die minderwertigen Münzen geheimzuhalten. Auch sollte von vornherein verhindert werden, daß in der Bevölkerung Mutmaßungen über den illegalen Charakter der Ausmünzung aufkamen. Diese Prämissen »prägten« buchstäblich auch das Aussehen des 1733 in Umlauf gebrachten Ernest d’Or. Auf der Vorderseite gibt sich die Goldmünze konventionell und zeigt ein Portrait des Landgrafen Ernst Ludwig. Auf der Rückseite jedoch war die bezeichnende Umschrift »OCCULTA PATEBVNT« zu lesen (zu dt.: Geheimnisse werden offenbar).94 Damit sollte der Öffentlichkeit vorgegaukelt werden, daß das Gold für die Ausprägung der Münzen durch alchemische Experimente hergestellt worden sei.95 Allerdings konnten die Manipulationen langfristig nicht 91 92 93 94 95
Ebd., S. 226. Ebd., S. 228. Ebd., S. 239 Eine erhaltene Münze befindet sich heute beispielsweise im Hessischen Landesmuseum Darmstadt, Inv.-Nr. 18090. Siehe die Abbildung bei Wolf, Joseph Süß Oppenheimer [1981], S. 98. Ebd., S. 102. Ich kann Wolfs Vermutung, es habe sich bei der Umschrift um eine alchemische Anspielung gehandelt, nun erhärten. Das Motto occulta patebunt ist – so meine These – ein Zitat aus einer Hermes Trismegistos zugeschriebenen Äußerung zum Stein der Weisen, wie sie noch im 18. Jahrhundert kolportiert wird, z. B. in einer mehrfach aufgelegten und übersetzten alchemischen Schrift des Franzosen Alexandre-Toussaint Limojon de Saint-Didier. Dort heißt es: »Eben dieser Philosophus [Hermes Trismegistos, Anm. D. J.] bemercket auf eine noch absonDie ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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verschleiert werden, und bereits 1737 mußte die Ausmünzung auf kaiserlichen Druck wieder eingestellt werden. Zwar gab man sich am Hof auch nach dieser Affäre alle Mühe, die Ereignisse zu vertuschen (die entsprechenden Archivakten wurden sogar versiegelt), wir wissen aber, daß einige Untertanen dennoch – zumindest vage – über die Unternehmung im Bild waren – zumal angesichts der Tatsache, daß die juristische Untersuchung der Ereignisse sich über Jahre hinzog und geschädigte Mitglieder des Hofes sogar noch fast ein Jahrhundert (!) später vor Gericht um Kompensation klagten.96 Für Oppenheimer wäre es vielleicht sogar günstiger gewesen, wenn damals die ganze Wahrheit bekannt geworden wäre. Denn je mehr über die Hintergründe der Ereignisse ans Tageslicht gekommen wäre, desto deutlicher wäre geworden, daß die Beschaffung des Goldes – in diesem Fall durch Oppenheimer – in Wahrheit gar nicht alchemischer Natur war, wie die Umschrift der Münze nahelegte. Es deutet manches darauf hin, daß die Assoziation mit der Alchemie an dem Hofjuden haften blieb, wie sein weiterer Lebensweg verdeutlicht. Oppenheimer wurde nach dem Intermezzo in Darmstadt vom württembergischen Herzog Karl Alexander (reg. 1733–1737) nach Stuttgart berufen. Auch in Württemberg betätigte sich Oppenheimer in der Münze, deren Pächter er de facto war. Es kam hier erneut zu Manipulationen des Münzfußes, wenngleich sich die ganze Unternehmung wirtschaftlich gesehen für Oppenheimer nur in minimaler Weise als rentabel erwies.97 Darüber hinaus unternahm der jüdische »Geheime Finanzrat« gegen den erbitterten Widerstand der herzöglichen Räte zahlreiche Versuche zur Reform der Wirtschaft des Landes sowie zur Steigerung der herzoglichen Einnahmen. All diese Maßnahmen und Projekte sind in der Forschung bereits verschiedentlich eingehend untersucht worden und teilweise gewürdigt worden. Hingegen ist nicht ausreichend hervorgehoben worden, daß eine entscheidende Kompetenz des Hofjuden nicht zuletzt in seiner Fähigkeit zur Geheimhaltung und in seinem Wissen von Geheimnissen lag. Oppenheimer selbst sprach beispielsweise von den »Geheimnissen der Münz«.98 Auch in der von großem Vertrauen und einem nahezu freundschaftlichen Ton geprägten Korrespondenz zwischen Herzog und Hofjude ist immer wieder von Geheimnissen und Geheimnisvollem die Rede. So schrieb der württembergische
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derlichere Art und Weise dieses wunderbaren Steines Gebuhrt / wenn er saget: Rex ab igne veniet, ac conjugio gaudebit, & occulta patebunt [Hervorhebung D. J.]. Er ist ein König mit Ehren gekrönet / der im Feuer gebohren wird / der an der Vereinigung mit ihm zugegegeben Braut ein Gefallen hat. Und das ist eben diese Vereinigung / welche / was zuvor verborgen gewesen / offenbar machet.« Siehe [Alexandre-Toussaint Limojon de Saint-Didier], Der Hermetische Triumph Oder der Siegende Philosophische Stein. Ein Tractat völliger und verständlicher eingerichtet als einer iemals bißher gewesen, Leipzig/Görlitz: Laurentio 1707, hier S. 201. Wolf, Joseph Süß Oppenheimer [1983], S. 254. Stern, Jud Süß, Kap. 8; Haasis, Joseph Süß Oppenheimer, S. 126–151. Haasis, Joseph Süß Oppenheimer, S. 131. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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Herzog (»Dein geneigter Carl Alexander«) in den 1730er Jahren in einem Handschreiben an seinen Hofjuden Oppenheimer: »Du must Dich auch nicht lange auffhalten, dann ich Dir waß vertrauen kann, welches [ich] nicht schreiben mag, du wirst dich vortrefflich verwundern, diesen Brieff zeige niemand, wer es auch ist […]«.99 Vermutlich spielte der Herzog hier auf ein Geschäft mit Edelsteinen an. Diskretion und Geheimhaltung waren jedenfalls allemal gefragt, wenn es um die zahlreichen Aufträge an den Hofjuden zur Beschaffung von Juwelen ging, zumal die Leidenschaft des Herzogs für die kostbaren Steine möglicherweise im Zusammenhang mit alchemischen und astrologischen Interessen stand.100 Ganz unabhängig davon blühten unter den Untertanen die Gerüchte über angebliche okkulte und kabbalistische Künste des »Geheimen Finanzrats«. Die öffentliche Meinung sprach »von einem Horoskop, durch das er dem Prinzen Karl Alexander die württembergische Herzogskrone prophezeite, sie schrieb seine gebieterische Stellung seinen magischen Künsten, die standhafte Liebe des Herzogs zu dem Juden einem kabbalistischen Geheimnis zu«.101 Als der Herzog 1737 überraschend starb, war Oppenheimer seinen Gegnern am Hof schutzlos ausgeliefert. Bereits ein Jahr später wurde er öffentlich an einem eisernen Galgen vor den Toren Stuttgarts hingerichtet. Der Prozeß und die Exekution, die heute von Historikern als Justizmord gesehen wird, können inzwischen als gründlich erforscht gelten.102 Doch eine Frage, die sich eigentlich aufdrängt, ist bisher nicht thematisiert worden: Weshalb starb Oppenheimer am eisernen Galgen von Stuttgart, dem mit zwölf Metern höchsten Galgen im ganzen Heiligen Römischen Reich? Diese Frage kann m. E. erst im Kontext des vorangegangenen Exkurses zur realen und angeblichen Arkankompetenz von Hofjuden sowie speziell zur realen und imaginierten Nähe zwischen Hofjuden und Alchemisten beantwortet werden. Erst vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum sich in einer Reihe von zeitgenössischen Darstellungen, in denen die Exekution des württembergischen Hofjuden Oppenheimer gezeigt oder beschrieben werden, ausgerechnet jene Ereignisse erwähnt finden, die fast 150 Jahre zuvor zur Aufstellung und erstmaligen Benutzung ebendieses eisernen Galgens geführt hatten. Gemeint ist die grausame Exekution des Alchemisten Jörg Honauer, der im Jahr 1597 wegen seines nicht 99 Hzg. Karl Alexander an Oppenheimer, undatiertes Schreiben [vermutlich 1734/1735], zitiert nach Gudrun Emberger/Robert Kretzschmar (Hg.), Die Quellen sprechen lassen. Der Kriminalprozess gegen Joseph Süß Oppenheimer 1737/1738, Stuttgart 2009, S. 55, Quelle 12 (mit Abbildung auf S. 56). Siehe zu dieser Quelle auch ebd., S. 115. 100 Stern, Jud Süß, S. 106; S. 142. 101 Ebd., S. 14. 102 Siehe dazu jetzt (mit weiterführenden Literaturangaben): Emberger/Kretzschmar, Die Quellen sprechen lassen, passim. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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gehaltenen Versprechens, dem württembergischen Herzog durch Transmutation abertausende Golddukaten aus Eisen herzustellen, hingerichtet wurde. Der Galgen, der ein Gewicht von über einer Tonne hatte, war aus eben jenem Eisen gefertigt, das der Herzog in großen Mengen für die Experimente nach Stuttgart hatte schaffen lassen.103 Am Tag der Hinrichtung erwies der württembergische Herzog dem verurteilten Alchemisten zunächst einen ›Gnadendienst‹, indem er ihm nicht die rechte Hand, sondern nur einige Finger abhacken ließ. Sodann wurde Honauer am Galgen aufgehängt, wo er – zynischerweise in ein goldenes Gewand gekleidet – »mit großer qual gantz jämmerlich verschmachten und sein leben […] enden müssen«.104 Daß Joseph Süß Oppenheimer 1738 vor den Augen von knapp 20.000 Zuschauern an demselben Galgen hingerichtet wurde, war kein lokalhistorischer ›Zufall‹. Vielmehr wurde dadurch eine typologische Analogie hergestellt, die bisher nicht untersucht worden ist.105 Der Hofjude galt demnach in den Augen seiner Gegner nicht zuletzt als ein betrügerischer Alchemist, der manipulierend in das monetäre System und in die Zirkulation der Edelmetalle eingegriffen hatte. Zwar wurde Oppenheimer offiziell ›nur‹ wegen Hochverrats verurteilt, bis zuletzt aber hatte das Gericht auch über eine Verurteilung wegen Münzfälschung beraten.106 Fortan wurde in zahlreichen Pamphleten und Flugblättern die durch die Art der Hinrichtung vorgegebene Analogie zwischen Hofjude und Hofalchemist hergestellt.107 So
103 Nummedal, Alchemy and Authority, S. 156. 104 So ein zeitgenössischer Bericht, zitiert nach Hans-Georg Hofacker, … ›sonderliche hohe Künste und vortreffliche Geheimnis‹. Alchemie am Hof Herzog Friedrichs I. von Württemberg 1593–1608, Stuttgart 1993, S. 23. 105 Dabei wird die Vorgeschichte um Honauer in den einschlägigen Studien durchaus erwähnt, siehe z. B. Stern, Jud Süß, S. 175; Curt Elwenspoek, Jud Süß Oppenheimer. Der große Finanzier und galante Abenteurer des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1926, S. 169. Zum Ablauf der Hinrichtung Oppenheimers siehe allgemein v. a. Haasis, Joseph Süß Oppenheimer, S. 441–448. Gerber erwähnt in ihrem maßgeblichen Werk zur Rezeptionsgeschichte des Falls Oppenheimer zwar an zwei Stellen die Vorgeschichte des Galgens (Jud Süß, S. 261, 477), wertet die Figur des Alchemisten aber lediglich als »Zwischenglied zwischen dem Gaunertum des Hofes und dem Gauner- und Räubertum der Straße« (S. 477). Sie übersieht damit, daß die Analogie Hofjude/Alchemist einen eigenständigen zeitgenössischen Diskurs bildet, der – wie oben ausgeführt – schon bei Luther greifbar ist. 106 Haasis, Joseph Süß Oppenheimer, S. 389–391. 107 Allein bei Gerber (Jud Süß, v. a. S. 477) sind sieben zeitgenössische Pamphlete oder Flugschriften (ohne sämtliche Nachdrucke) nachgewiesen, die Honauer und Süß vergleichen. Es handelt sich um: 1) N. N., Curieuser [sic] Nachrichten aus dem Reich der Beschnittenen, Tl. 2 [Frankfurt am Main/ Leipzig 1738], S. 77, Tl. 4 [Nürnberg 1738], S. 64–69. 2) N. N., Ausführliche Beschreibung des Eisernen Galgens […], o. O. u. J. [1738]. 3) N. N., Wahrhaffte Vorstellung und Ausführliche Beschreibung des Eisernen Galgens, o. O. u. J. [1738].
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heißt es in der Textkartusche eines anonymen illlustrierten Flugblattes von 1738, auf dem die Stationen Oppenheimers auf dem Weg zum Galgen sowie – in einer großen Ansicht – die Hinrichtung selbst dargestellt sind: »Der eiserne Galgen / an welchen er gehenckt / und in den Käficht eingeschlossen worden. Dieser Galgen wurde An. 1597 für einen sich ausgegebenen Goldmacher und Ertz-Betrüger erbauet / welcher auch den 12. April besagten Jahres würcklich daran gehenckt worden.«108 In einigen Flugblättern wurde die Gleichsetzung von Alchemist und Hofjude zudem in aller Deutlichkeit bildlich veranschaulicht. So zeigt ein ebenfalls anonymes Flugblatt von 1738 in der Mitte den Galgen, der links von einem Portrait des Hofjuden und rechts von einem Portrait des Alchemisten flankiert wird.109 In der Tat glichen sich die ungewöhnliche Exekution Oppenheimers und diejenige Honauers auch in der Realität bis ins Detail. Zwar zeigen Abbildungen des späten 16. Jahrhunderts Honauer nicht in einem Käfig am Galgen wie später den todgeweihten Oppenheimer. Ein zeitgenössischer Zeuge berichtet hingegen sehr wohl von einer solchen Maßnahme im Falle Honauers. Damit der Alchemist »lang hangen pleibe unndt von den Raben nit verzeret werde«, sei er »mit einem Eisengerembs oder keffig umbgeben« worden.110 Eine Reihe von Indizien sprechen dafür, daß die Richter bei der Entscheidungsfindung für die Art der Hinrichtung des Hofjuden also den lange zurückliegenden Fall des Hofalchemisten
4) N. N., Kurtze Erzaehlung von dem vonhero an dem Eisern Galgen gefangenen Goldmacher und dessen Anhang, o. O. u. J. [mit verschiedenen Nachdrucken]. 5) Johannes Andreas Mattsperger, Wahrhafftige Abbildung Des Bey Stuttgard erbauten eysenen Galgens […], Mahler am mittlern Lech o. J. 6) N. N., Eigentliche Abbildung und Beschreibung / wie der bekannte Jud / Joseph Süß Oppenheimer […], Kupferstich o. O. u. J. [Tafel 12]. 7) Elias Baeck, Wahrhaffte,und nach der Natur accurat Gezeichnete Abbildung, des Juden Süß […], Kupferstich Augsburg um 1738, [Tafel 8]. 8) Außerdem enthält eine Handschrift in der württembergischen Landesbibliothek [Süssiana, Cod. hist. fol. 348] ein fiktives Gespräch in der Unterwelt zwischen Honauer und Oppenheimer (Gerber, Jud Süß, S. 592). 108 N. N., Eigentliche Abbildung und Beschreibung / wie der bekannte Jud / Joseph Süß Oppenheimer […], Kupferstich o. O. u. J., abgebildet bei Emberger/Kretzschmar, Die Quellen sprechen lassen, S. 8 (siehe auch Gerber, Jud Süß, Tafel 12). 109 Das Bildnis des Alchemisten wird kommentiert mit den Worten: »Dieser hier abgebildete Georg Honauer auß Mähren gebürtig welcher sich vor einen großen Herrn ausgab so auß Eisen Gold machen wollte und […] Fridrich Hertzog zu Würtenberg umb etliche Millionen betrogen, wurde zu erst an diesem ihm neu aufgerichteten eisernen Galgen den 2. April 1597 aufgehängt.« Unbetitelter Kupferstich, o. O. u. J. [1738], zitiert nach Emberger/Kretzschmar, Die Quellen sprechen lassen, S. 9 (Abb., siehe auch Gerber, Jud Süß, Tafel 3). 110 Eduard Otto, Alchimisten und Goldmacher an deutschen Fürstenhöfen. Mitteilungen aus dem Thesaurus Pictuarum der Darmstädter Hofbibliothek, in: Zeitschrift für Kulturgeschichte 6 (1899), S. 46–66, hier S. 52. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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vor Augen hatten. Tatsächlich wissen wir, daß sich Oppenheimers Richter 1738 genaue Gedanken über die Exekutionsmethode machten, und die Vierteilung, das Lebendigverbranntwerden sowie die Hinrichtung durch das Schwert als Möglichkeiten wieder verwarfen.111 Die Ähnlichkeit der Exekutionen von Süß und Honauer war demnach wohl kein Zufall. Dies sticht um so mehr hervor, wenn man in Betracht zieht, daß der eiserne Galgen in den fast 150 Jahren, die zwischen den Ereignissen verstrichen waren, kaum je genutzt worden war. Vor der Hinrichtung Oppenheimers waren offenbar ausschließlich Alchemisten des 17. Jahrhunderts an diesem Galgen verendet. Daß die Richter den Hofjuden in genau dieser Tradition sahen, geht aus einem Gutachten des Sondergerichts hervor. Darin wurde für die Hinrichtung am eisernen Galgen plädiert, da »ältere exempla von dergleichen pestibus et turbatoribus Reipublicae nostrae, e.g. des Petri Mundani de Anno 1601 und Alchymisten Mühlenfels de anno 1604 vorhanden, der eiserne Galgen aber nicht umsonst gestifftet worden seyn möchte […]«.112 Wenn wir bedenken, welch große Aufmerksamkeit die Hinrichtung des »Jud Süß« unter den Zeitgenossen erfuhr und welche Flut von Druckschriften und Flugblättern im 18. Jahrhundert in ganz Europa hierzu erschien,113 läßt sich erahnen, welche Verbreitung die schon bei Luther greifbare Analogiebildung zwischen Hofjude und Alchemist durch Oppenheimers Hinrichtung endgültig erreichte. Diese Analogiebildung zwischen Alchemist und Hofjude blieb im übrigen nicht nur auf unmittelbare Zeitgenossen der Hinrichtung Oppenheimers beschränkt. Noch Ende des 18. Jahrhunderts griff der Historiker Friedrich Wilhelm Moser auf diesen Topos zurück und zog eine fragwürdige Parallele zwischen dem Hoffaktor »Jud Süß« und dem angeblichen »Cabinets-Juden« des 16. Jahrhunderts – also jenem württembergischen Hofalchemisten Abramo Colorni, dem wir im nächsten Kapitel noch ausführlich begegnen werden.114 Die verschiedenen Fragen, die im vorliegenden Kapitel angesprochen worden sind, lassen sich hier abschließend am Beispiel der deutschen Hofjudenfamilie Wahl wie unter einem Brennglas bündeln. Die Geschichte dieser Familie ist nicht nur ein 111 Stern, Jud Süß, S. 170. 112 Gutachten des Sondergerichts vom 9. Januar 1738, HStAS, A 48/14, Bü 12 [Hervorhebung D. J.]. Ich bin Frau Dr. Gudrun Emberger (Gotha), die mir diese unveröffentlichte Quelle mitteilte, zu herzlichem Dank verpflichtet. Bei den in der Quelle erwähnten Alchemisten handelt es sich um Petrus Montanus und Hans Heinrich von Mühlenfels, die – wie ihr Kollege Honauer – ebenfalls in der Regierungszeit Herzogs Friedrichs I. (reg. 1593–1608) hingerichtet wurden. Unerwähnt bleibt hier die Hinrichtung des Alchemisten Hans Heinrich Nüschler (1601). 113 Gerber, Jud Süß, v. a. S. 27–28. 114 Friedrich Wilhelm Moser, Der Fürst zwischen seinem Hofprediger und Cabinets-Juden, in: Patriotisches Archiv für Deutschland 9 (1788), S. 245–286, hier S. 249.
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Exempel par excellence für die beschriebene Verquickung zwischen einer arkanen und einer merkantilen Agenda noch im 18. Jahrhundert. Vielmehr veranschaulicht sie auch besonders eindrücklich, weshalb das Hofjudentum Berührungspunkte zur Ökonomie des Geheimen aufwies und weshalb diese Elite – aus christlicher Sicht – explizit mit der Alchemie in Verbindung gebracht werden konnte. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, daß es der Handel mit Arkana und die Expertise in der Alchemie waren, die dem Juden Herz Wahl Dessauer den Weg an den Hof von Christian IV. von Pfalz-Zweibrücken (reg. 1740–1775) ebneten.115 Konkret war es zu Beginn der Zusammenarbeit (1761) ein »arcanum« zur Herstellung von Gold, das der Pfalzgraf vom Hofjuden begehrte. Für die Preisgabe des Geheimnisses wurden Herz Wahl insgesamt 120.000 Gulden sowie die Aufnahme in pfalz-zweibrückische Dienste zugesagt. War dies nur eine bizarre Episode und Herz Wahl lediglich ein gewiefter Schwindler? Es lohnt ein genauerer Blick auf das Geschäft, die involvierten Partner und die Nachgeschichte. Herz Wahl war – dies vorweg – mitnichten ein jüdischer Hasardeur oder gar umherreisender Betrüger. Vielmehr hatte er bereits Mitte des 18. Jahrhunderts die Ernennung zum hessisch-darmstädtischen Hof- und Kammeragenten erreicht. Was die familiäre Herkunft betrifft, spricht sogar manches dafür, daß Herz Wahl ein Onkel von Moses Mendelssohn war. Unzweifelhaft jedenfalls ist, daß Wahl als frommer Jude lebte und daher auch als bereits arrivierter Hofjude an jüdischen Feiertagen Arbeit und Dienste für den Pfalzgrafen ruhen ließ. »[I]ch will als Jud Jud bleiben in meiner niedrige demuth«, schrieb Wahl in einer Eingabe an seinen fürstlichen Arbeitgeber.116 Herz Wahl und später sein Sohn waren keine zweifelhaften Parvenüs, die mit Gleichgültigkeit auf das Schicksal ihrer Glaubensbrüder blickten. Vielmehr nutzten sie verschiedentlich ihre herausgehobene Stellung und ihren Einfluß, um Verbesserungen für die Juden des Territoriums zu erreichen. Der Pfalzgraf, zu dessen Hofjuden Wahl in den 1760er Jahren aufsteigen sollte, war seinerseits weder naiver Schwärmgeist noch leichtes Opfer für Betrügereien. Christian IV. – selbst in der Alchemie versiert – verkörperte vielmehr den »Prototyp des aufgeklärten Herrschers« und war »ohne Zweifel bedeutendster Zweibrücker Fürst des 18. Jahrhunderts«.117 Die Reform und Intensivierung der Wirtschaft in 115 Alle Angaben zur bisher kaum untersuchten Geschichte der Hofjudenfamilie Wahl entnehme ich im weiteren – sofern nicht anders angegeben – der vorzüglichen Studie, die Dieter Blinn vorgelegt hat. Nachstehend werden lediglich Zitate eigens mit Seitenangabe nachgewiesen. Siehe Dieter Blinn, »Man will ja nichts als Ihnen zu dienen, und das bisgen Ehre« – Die Hofjuden Herz und Saul Wahl im Fürstentum Pfalz-Zweibrücken, in: Rotraud Ries/J. Friedrich Battenberg (Hg.), Hofjuden – Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 307–331. 116 Zitiert nach ebd., S. 319. 117 Ebd., S. 325. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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seinem Territorium war eine der Prioritäten des Pfalzgrafen. Einen Hofjuden als Ratgeber heranzuziehen, war also aus fürstlicher Sicht nicht abwegig. Dennoch spricht vieles dafür, daß Wahl zunächst allein aufgrund seiner Expertise in der Alchemie in die Dienste des Fürsten aufgenommen wurde. Dies ist allerdings nur auf den ersten Blick ein Paradoxon. Denn viele von Wahls alchemischen Vorhaben und Arkana hatten eine eminent ökonomische Dimension. Überdies hielten – und dies war anfangs entscheidend – Wahls Experimente, das, was sie versprachen. So erwies sich das ursprüngliche »arcanum« zur Herstellung von Gold offenbar in der Tat als vielversprechend – auf welche Weise auch immer. Um Betrug muß es sich nicht notwendigerweise gehandelt haben. Vielmehr wissen wir aus der Sicht der heutigen Chemie, daß das Gelingen einer Transmutation auch mit (damals noch nicht identifizierbaren) Goldrückständen im Ausgangsmaterial zusammenhängen konnte.118 Nachdem Wahl Proben seines Könnens abgelegt hatte, honorierte der Pfalzgraf ihn jedenfalls mit beträchtlichen Summen und erteilte ihm weitreichende Privilegien. Außer Titel und Besoldung wurden dem künftigen Hofjuden eine allzeitige Befreiung von Schutzgeld und Leibzoll, Freizügigkeit, freie Religionsausübung, Bevorzugung bei Hofgeschäften sowie ein privilegium fori gewährt. Auf welch wundersame Weise Wahl dem Pfalzgrafen das in Aussicht gestellte Gold verschaffte, läßt sich im einzelnen nicht mehr rekonstruieren. Wahl beschäftigte sich ernsthaft mit der Lehre vom Stein der Weisen, immerhin zieht sich »durch Saul Wahls gesamte Amtszeit die Beschäftigung mit Edelmetallproduktion, -augmentation und -transmutation auf alchimistischem Wege«.119 Fragen werfen auch Wahls Versuche auf, aus Rheinsand Gold zu gewinnen. Der Ruf des Hofjuden auf diesem Gebiet verbreitete sich bis zum Kurfürsten von Mainz, der ihm Genehmigung und Auftrag zum Bau einer selbst erfundenen Goldwaschapparatur an den Rheinufern erteilte. Es ist nicht auszuschließen, daß auch bei dieser Unternehmung Alchemie im Spiel war. Jedenfalls erinnern Wahls Bemühungen an die Experimente des Alchemisten und Wirtschaftstheoretikers Johann Joachim Becher zur Goldgewinnung durch das Schmelzen von Meeressand in den 1670er Jahren, für die sich übrigens auch Bechers Zeitgenosse Leibniz rege interessierte.120 Allerdings galt Wahls experimenteller Ehrgeiz nicht nur der eigentlichen Transmutation. Er unternahm vielmehr auch (metallurgische) Versuche mit Erzen, Kies und Silber. Schauplatz dieser Experimente war Homburg. In dieser 118 Nummedal, Alchemy and Authority, S. 104–109. 119 Ebd., S. 312. 120 Vgl. dazu Gerald Hartung, Johann Joachim Becher oder: Die Projekte und Konzepte eines närrischen Gelehrten, in: Ders./Wolf Peter Klein (Hg.), Zwischen Narretei und Weisheit. Biographische Skizzen und Konturen alter Gelehrsamkeit, Hildesheim etc. 1997, S. 262–287, hier S. 276–284.
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Stadt, in der eine jüdische Gemeinde existierte, hatte der Pfalzgraf für seinen Hofjuden im Amtshaus eigens ein Laboratorium einrichten lassen. Doch viel Zeit blieb Wahl nicht mehr, um die Räumlichkeiten zu nutzen. Bereits 1764 starb er. Amt und Titel des Pfalz-Zweibrückischen Hof- und Kammeragents gingen nahtlos auf seinen Sohn Saul über, der überdies die Faszination des Vaters für die Alchemie teilte. Auch Saul Wahl experimentierte anfänglich im Homburger Amtshaus, später dann – nach seinem Umzug (1770) – in Zweibrücken, wo ebenfalls ein Laboratorium für ihn eingerichtet wurde. Der junge Hofjude war jedoch in der Residenzstadt nicht der einzige Alchemist in fürstlichen Diensten. Christian IV. förderte freigiebig die Alchemie an seinem Hof, und vieles deutet darauf hin, daß der jüdische Adept bald Neid und Ablehnung – namentlich unter den christlichen Alchemisten – auf sich zog. Wahl wehrte sich, indem er seine Reputation und Überlegenheit hervorzuheben versuchte. Nicht ohne eine gewisse Eitelkeit versah er seine Briefe an den Pfalzgrafen mit einem ganz besonderen Siegel und merkte an: »[S]olange ich dieses siegel führen darff alls ein recipirter rosen Creützer, so lange bin ich in mich über zeigt, das ich auch ein chymicus bin.«121 Was es in der Realität mit der rosenkreuzerischen Affiliation auf sich hatte, bleibt Wahls Geheimnis. Zumindest ist nachweisbar, daß er Kontakte zu Alchemisten in Frankreich, aber auch freimaurerischen Kreisen unterhielt. Das Theoretisieren oder das Zeremonielle war aber offenbar nicht Wahls Sache. Gegenüber dem Pfalzgrafen pries er sich selbst vielmehr als einen praktischen Experten und als einen Menschen, »der profesion von der handlung machet und es gelernet, der nicht mit der feder das handlen verrichten kann«.122 Wahl verlor in der Tat bei seinen alchemischen Aktivitäten und seiner Beschäftigung mit Arkana selten die wirtschaftlichen Implikationen aus dem Auge. Sein geheimes Wissen war aufs engste verbunden mit seiner ökonomischen Agenda. Die metallurgischen Experimente beispielsweise waren kaum zu trennen von Wahls Rolle im Münzhandel, von seinem Monopol im Silberhandel und der ihm obliegenden Aufgabe, die fürstliche Münze mit diesem Edelmetall zu beliefern. Überdies erstreckte sich Wahls unternehmerischer Ehrgeiz auf Gebiete, die keine oder nur geringe Berührungspunkte mit der Alchemie aufwiesen. Der Hofjude teilte die Ansicht seines fürstlichen Patrons, daß das gesamte Wirtschaftssystem des Territoriums reformiert und im kameralistischen Sinne umgestaltet werden müsse. So unterbreitete Wahl dem Pfalzgrafen beispielsweise Vorschläge zur Errichtung von Manufakturen für Textilien. Außerdem waren Tabakfabriken, Eisenwerke, Keramikmanufakturen sowie die Fabrikation von Pfeifenköpfen vorgesehen. Die Gründung einer Pfandbank und einer Lotterie wurden angestrebt. 121 Zitiert nach ebd., S. 312. 122 Zitiert nach ebd., S. 315. Die ökonomische Dimension der Arkankompetenz
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Einige dieser Vorhaben konnten offenbar realisiert werden. Eine von Wahl initiierte Perlenzucht in Zweibrücken florierte nachweislich sogar. Seine chemischen Experimente zur Farbherstellung brachten ebenfalls vielversprechende Resultate. Der Hofjude erhielt für eine von ihm hergestellte Farbe sogar ein Monopol. Wahl experimentierte zudem mit verbesserten Anbaumethoden und Dünger, vor allem bei Gerste, Flachs und Hanf. Es gibt also keinen Grund, zwischen einer arkanen und einer ›seriösen‹ merkantilen Agenda des Hofjuden Wahl kategorisch zu unterscheiden. Vielmehr ist die Tatsache bezeichnend, daß Wahl dem Pfalzgrafen die Quintessenz seiner wirtschaftspolitischen Ziele in Form einer Liste mit »Arcana« unterbreitete, die unter diesem Titel knapp hundert verschiedene Projekte – darunter aus den Gebieten Ökonomie, Kameralia und Policey – enthält. Wahl sah sich selbst offenbar in erster Linie als ein Unternehmer, der mit Geheimnissen handelte, auch wenn diese im einzelnen die verschiedensten Ausprägungen annehmen und ganz unterschiedliche Gebiete betreffen konnten. Die Rede von den Geheimnissen war dabei weit mehr als nur eine geschickte Werbestrategie. Vielmehr war sie für Wahls wirtschaftliche Geschicke unabdingbar. Denn angesichts der Intrigen am Hof und der Obstruktion aus den Reihen der Zweibrücker Beamtenschaft war die Beschaffung von Geheimnissen – seien sie fiktiv oder real – für Wahl entscheidend, um die Gunst des Pfalzgrafen zu behalten, der seinerseits ganz in der Tradition fürstlicher Arkanpolitik stand. Dabei deutet alles darauf hin, daß Saul Wahl selbst – wie bereits sein Vater – an den Nutzen von Arkana und an die Berechtigung einer Ökonomie des Geheimen glaubte. Ansonsten hätte er kaum an diesem Geschäftsmodell festgehalten, noch lange nachdem er bereits die fürstliche Gunst verloren hatte. Denn mit dem plötzlichen Tod des Pfalzgrafen (1775) war – wie bei so vielen Hofjuden der Frühen Neuzeit – der Niedergang Wahls besiegelt. Seine fast zehnjährige Karriere fand ein jähes Ende. Der einstige Günstling wurde angeklagt und ausgewiesen. Mit seiner Familie zog Wahl daraufhin nach Pirmasens, wo er vermutlich 1791 völlig verarmt starb. Doch – wie erwähnt – ist es bezeichnend, daß Wahl auch nach dem Sturz sein Heil oder zumindest seine Nische in der Ökonomie des Geheimen suchte. So unternahm er bis zu seinem Tode Anstrengungen, den neuen Pfalzgrafen für arkane Projekte und alchemisch-chemische Vorhaben zu begeistern, darunter beispielsweise eine »grose wissenschaft […] schriften vom papier so abzuwischen«, daß das Papier unbeeinträchtigt bleibe.123 Doch der neue Fürst reagierte abweisend. Mit dem Beispiel der Familie Wahl sind wir bis kurz vor die Schwelle zum 19. Jahrhundert vorgedrungen. Noch war die Epoche der Ökonomie des Geheimen nicht ganz abgelaufen. Wir werden im nächsten Kapitel zunächst in ihre Blüte123 Zitiert nach ebd., S. 330.
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zeit – das 16. Jahrhundert – zurückkehren, um eine Reihe der in den bisherigen Kapiteln angesprochenen Aspekte an einem Einzelbeispiel zu vertiefen und zu illustrieren. Im Schlußkapitel gilt es dann nicht zuletzt zu der Frage zurückkehren, welche Entwicklung die Ökonomie des Geheimen nach 1800 nahm und was dies für den gesellschaftlichen Status des Geheimnisses insgesamt bedeutete.
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V. Kapitel Ein jüdischer professore de’ secreti
Abramo Colorni – eine Vorbemerkung Wenn Historiker biographische Forschung betreiben oder gar eine Biographie schreiben, dann wird oft über den Protagonisten oder die Protagonistin der Untersuchung behauptet, er oder sie sei zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Auch Abramo Colorni, um den es in diesem Teil gehen soll, ist in Vergessenheit geraten, fast gänzlich sogar. In maßgeblichen Werken zur Geschichte der Juden kommt er ebensowenig vor wie in einschlägigen Darstellungen zur frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte. Wir haben es allerdings in diesem Fall weniger mit einer Frage von Recht oder Unrecht zu tun (wenn wir solche Kategorien überhaupt benützen möchten). Schließlich kann es nicht überraschen, daß Colorni bisher kaum oder nur in impressionistischer Weise das Interesse von Historikern geweckt hat. Denn ob sich nun ein Historiker aus dem Fach jüdische Geschichte oder ein allgemeiner Wissenschaftshistoriker dem Fall Colorni zuwendet: Aus dem Kontext der jüdischen Geschichte läßt sich die Biographie wohl kaum ganz lösen. Genau dies ist ein beträchtliches Problem: Bei näherer Beschäftigung entzieht sich Colornis Karriere jeder voreiligen Einordnung in tradierte und teilweise nach wie vor einflußreiche Deutungen der jüdischen Geschichte in der Frühen Neuzeit. Colornis Biographie läßt sich beispielsweise nicht entlang gängiger, beinahe zur Floskel erstarrter Begriffspaare wie Integration und Ausgrenzung darstellen. Colorni war kein Proto-Maskil1, der die jüdische Lebenswelt – in der er tief verankert war – zu reformieren oder gar hinter sich zu lassen versuchte. Ebensowenig kann seine Biographie allein aus dem jüdischen Kontext heraus verstanden werden. Man mache die Probe aufs Exempel: Colorni war ein gläubiger Jude, der an den Höfen der bedeutendsten christlichen Herrscher seiner Zeit diente; er war mit einem katholischen Geistlichen befreundet und bot zur selben Zeit Sprengkörper an, mit denen man nicht zuletzt eine ganze Schar von Kirchenbesuchern auf ein-
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Der hebräische Begriff Maskil ist die Bezeichnung für jüdische Aufklärer des 18. Jahrhunderts. Abramo Colorni – eine Vorbemerkung
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mal töten könne; er zitierte freimütig aus den Kirchenvätern und widersetzte sich doch allen Aufforderungen zur Taufe; er erregte öffentliches Aufsehen und war gleichwohl fest in der Ökonomie des Geheimen verankert. Wie also kann man sich der Biographie eines Mannes annähern, der im Laufe seines Lebens – um nur einige Berufe und Kompetenzen zu nennen – als Ingenieur, Mathematiker, Chiromant, Kryptograph, Alchemist, Erfinder, Magus und Händler hervortrat? Das Urteil der wenigen Historiker, die sich bislang mit Colorni beschäftigt haben, oszilliert jedenfalls oftmals zwischen zwei extremen Polen: Hier das Etikett des »Scharlatans«, dort das Bild eines »jüdischen Leonardo«. Wir werden auf solche Urteile der Nachwelt und die historiographischen Fragen, die sie aufwerfen, am Ende dieses Kapitels zurückkommen. Zunächst aber ist das Ziel ein bescheidenes: Colornis vielschichtige Biographie soll hier buchstäblich Schicht für Schicht analysiert werden, wobei durchgehend sowohl der allgemeine jüdische wie auch christliche Kontext berücksichtigt werden muß. Nach den Ausführungen der vorangegangenen Kapitel, in denen versucht wurde, eine systematisierende Übersicht über die Ökonomie des Geheimen und einige ihrer Ausprägungen zu geben, gilt das Augenmerk in diesem Teil – gewissermaßen wie unter dem Mikroskop – einer Biographie, die in besonderer Weise Aufschluß zu geben vermag über die konkreten Chancen und Herausforderungen für Juden, die in der Ökonomie des Geheimen agierten. Wir werden an einigen Stellen fragen, was sich hinter den Geheimnissen, die Colorni anbot, tatsächlich verborgen haben könnte. In erster Linie aber richtet sich unser Blick auf die Frage, auf welche Weise Colorni seine Geheimnisse und damit sich selbst in Szene setzte.
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Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit. Lehrjahre Abramo Colorni wurde um 1544 vermutlich in Mantua geboren.2 Er entstammte einer jüdischen Familie mit offenbar deutschen Wurzeln, die sich in Italien seit 2
Die ersten Bemühungen um eine Erforschung von Colornis Leben und Werk unternahm der Ferrareser Rabbiner Giuseppe Jarè. Eine biographische Miniatur, die er aus Anlaß einer Hochzeit verfaßte, erschien Mitte der 1870er Jahre in kleiner Auflage: Giuseppe Jarè, Abramo Colorni. Ingegnero mantovano del secolo XVI. Cenni con documenti inediti, Mantua 1874. Anfang der 1890er Jahre griff Jarè die Biographie Colornis nochmals auf, nachdem er kontinuierlich neue Quellen, vor allem italienischer Provenienz, zusammengetragen hatte. Seine 60seitige Studie, die neben einer kurzen biographischen Skizze aus einem sehr ergiebigen Anhang mit Dokumenten besteht und auch die bereits 1874 veröffentlichten Quellen bringt, erschien als Separatdruck und in den Atti della deputazione ferrarese di storia patria 3 (1891), S. 257–317. Ich benutze den Separatdruck: Giuseppe Jarè, Abramo Colorni. Ingegnere di Alfonso d’Este. Nuove ricerche, Ferrara 1891. Die Paginierung dieses Separatdrucks [S. 5–60] weicht von der Fassung der Atti ab. Da die bei Jarè abgedruckten Dokumente nachstehend jedoch prinzipiell mit der jeweiligen Datierung zitiert werden, fällt diese Abweichung nicht ins Gewicht. Archivquellen, die in der Studie von 1891 abgedruckt wurden, werden im weiteren – auch wenn mir das Original vorlag – in der Regel nach Jarè zitiert. Umgekehrt bedeutet nachstehend ein Zitat unter Angabe der Archivsignatur, daß die entsprechende Quelle Jarè unbekannt war. Der Historiker Cecil Roth veröffentlichte seine in den 1920er Jahren entstandene Miniatur zu Colorni, die sich ganz überwiegend auf Jarès Forschungen stützt, 1953 wieder: Cecil Roth, The Amazing Abraham Colorni, in: Ders., Personalities and Events in Jewish History, Philadelphia 1953, S. 296–304 [ders, Abramo Colorni, geniale inventore mantovano, in: Rassegna mensile di Israel 9 (1934), S. 147–158]. Ein knappes Biogramm findet sich überdies bei Shlomo Simonsohn, History of the Jews in the Duchy of Mantua, Jerusalem 1977, S. 704–705. Siehe außerdem Vittore Colorni, Genealogia della famiglia Colorni 1477–1977, in: Ders., Judaica Minora, Saggi sulla storia dell’ebraismo italiano dall’antichità all’età moderna, Mailand 1983, S. 637–660, hier v. a. S. 644–645. Die Jewish Encyclopedia (New York 1901–1906) enthält einen von I. Broydé verfaßten Eintrag über Colorni (Bd. 4, S. 179). Im 1930 in Berlin erschienenen fünften Band der Encyclopaedia Judaica zeichnete Umberto Cassuto für den Eintrag über Colorni verantwortlich (Sp. 632). Die Universal Jewish Encyclopedia (New York 1941) enthält ebenfalls ein Lemma zu Colorni, allerdings läßt sich der Verfasser nicht mehr identifizieren (Bd. 3, S. 305–306). Hingegen gibt es sowohl im Jüdischen Lexikon (Berlin 1928–1934) als auch in der ersten und zweiten Ausgabe der einschlägigen Encyclopaedia Judaica [EJ] (1971 bzw. 2007) keinen Eintrag zu Colorni. Einen guten Überblick bietet hingegen der von Carlo Colombero verfaßte Eintrag Colorni im DBI, Bd. 27, S. 466–468. Nichts Neues bringt: Joseph Adler, Abraham Colorni. An Uncommon Jew in the Italian Renaissance, in: Midstream. A Monthly Jewish Review 32 (1996), S. 16–18. Im März 2010 erschien Ariel Toaffs Il prestigiatore di Dio. Avventure e miracoli di un alchimista ebreo nelle corti del Rinascimento, Mailand 2010. Obwohl mir diese Studie somit erst unmittelbar vor Abschluß der vorliegenden Arbeit bekannt wurde, konnte sie noch berücksichtigt werden. Toaffs Buch ist eine eher populärwissenschaftliche Biographie Colornis, die einige neue, wenngleich teils recht spekulative Thesen präsentiert. Toaff stützt sich in beträchtlichem Maße auf die von Jarè kompilierten Quellen und auf die zwei Colorni-Handschriften der HAB Wolfenbüttel. Zahlreiche der für die vorliegende Studie ausgewerteten italienischen Archivquellen – etwa aus den Hausarchiven der Gonzaga, Este und der Medici – werden von Toaff nicht erwähnt. Ebenfalls wurden Quellen aus Habsburger Archiven – wie sie weiter unten erstmals verwendet werden – von ihm nicht berücksichtigt. Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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1477 nachweisen läßt und deren Nachfahren auch heute noch in Mantua leben.3 Sein Vater Salomone, der in der Seidenherstellung tätig war,4 zählte zu den angesehensten Juden im Herzogtum der Gonzaga. Er befand sich beispielsweise 1563 unter den Mitgliedern einer jüdischen Deputation, die beim Konzil von Trient die Verbrennung hebräischer Bücher abwenden sollte.5 Der Sohn Abramo entstammte der ersten Ehe des Vaters mit einer gewissen Gentile. Nach deren Tod heiratete Salomone die ebenfalls verwitwete Diamante.6 Wenig wissen wir darüber, wann und auf welche Weise Abramo Colorni die mannigfaltigen Interessen und Qualifikationen entwickelte, mit denen er später beruflich reüssieren sollte. Zumindest ist überliefert, daß er sich schon in seiner Kindheit mit den mechanischen Künsten beschäftigte.7 Zudem wird berichtet, daß Colorni von seinen Eltern vielseitig erzogen wurde.8 Sogar das Fechten soll Colorni beherrscht haben, und dies meisterhaft. Es ist dabei nicht abwegig zu vermuten, daß Colorni den Umgang mit Schwert und Degen in jüdischen Kreisen erlernte. Zwar war Juden damals das Tragen von Waffen – zumindest auf dem Papier – häufig untersagt. Doch gab es in dieser Epoche durchaus jüdische Berufs- und
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Zuletzt sei hingewiesen auf meinen Aufsatz Abramo Colorni, jüdischer Hofalchemist Herzog Friedrichs I., und die hebräische Handelskompanie des Maggino Gabrielli in Württemberg am Ende des 16. Jahrhunderts. Ein biographischer und methodologischer Beitrag zur jüdischen Wissenschaftsgeschichte, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden, 15 (2005), S. 435–498. Dieser Aufsatz wurde in einer erweiterten Fassung 2007 als Magisterarbeit an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg angenommen: Daniel Jütte, Der jüdische Alchemist Abramo Colorni. Ein Beitrag zur jüdischen Wissenschaftsgeschichte im 16. Jahrhundert. Mit einem Exkurs zu den Aktivitäten der hebräischen Handelskompanie des Maggino Gabrielli in Rom und Württemberg [Typoskript]. In der hier vorliegenden Studie sind einige kleinere Absätze und Fußnoten aus meinen bisherigen Veröffentlichungen zu Colorni übernommen worden. Auch aufgrund der erwähnten neuen Quellenfunde ist allerdings anzumerken, daß die in dieser Dissertation vorgelegte Darstellung und Einschätzung der Biographie Colornis meine bisherigen Forschungen zu Colorni ablöst. Zu den prominentesten Mitglieder der Familie im 20. Jahrhundert zählt der vor wenigen Jahren verstorbene Rechtshistoriker Vittore Colorni (1912–2005), der auch bedeutende Studien zur Geschichte des italienischen Judentums vorgelegt hat. Vittore Colorni war es auch, der den Stammbaum seiner eigenen Familie seit dem 15. Jahrhundert auf mustergültige Weise rekonstruiert hat. Siehe V. Colorni, Genealogia della famiglia Colorni. Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 264, Anm. 211. Ebd. S. 416. Zu finanziellen Streitigkeiten zwischen Stiefmutter und Abramo nach dem Tod des Vaters vgl. ASMn, Archivio notarile, b. 1250 bis, 170/171; sowie: Registrazioni notarili, a. 1577, fol. 740v–741v. » […] nella honorata scienza delle mecaniche, alle quali sin da pueritia sete stato sempre particolarmente inclinato«, so Tomaso Garzoni, La piazza universale di tutte le professioni del mondo [Ausg. 1589], hg. von Giovanni Battista Bronzini, 2 Bde. Florenz 1996, hier Bd. 1, S. 20. Garzoni berichtete, Colorni sei »disciplinato per la nativa cura de’ parenti al par d’ogn’altro soggetto politico e civile«. Ebd., S. 18. Ein jüdischer professore de’ secreti
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Schaufechter, wenngleich dies heute kaum mehr bekannt ist.9 Unabhängig davon spricht allerdings manches dafür, daß Colorni Teile seiner breiten praktischen und intellektuellen Ausbildung auch durch nichtjüdische Lehrer erhielt. »Einige besonders Wissbegierige studieren Philosophie, und manche auch eine der schönen Künste«, schrieb der Rabbiner Leon Modena einige Jahrzehnte später über die Juden Italiens – und dachte dabei vielleicht nicht zuletzt an den namhaften Zeitgenossen Colorni.10 Es gibt, wie bereits angedeutet, bis heute keine umfassende Biographie Colornis, obgleich der Ferrareser Rabbiner Giuseppe Jarè im späten 19. Jahrhundert in zwei verdienstvollen Veröffentlichungen eine Reihe von Quellen zum Leben des jüdischen Ingenieurs und Alchemisten zugänglich machte. Viele Fragen zu Colornis Leben – darunter diejenige nach dem Ausbildungsweg – ließen sich heute leichter beantworten, wenn jene Biographie auffindbar wäre, die der katholische Kirchenmann Tomaso Garzoni in den 1580er Jahren über den jüdischen Zeitgenossen verfaßt haben soll.11 Da die Handschrift dieser Biographie, die offenbar nie gedruckt wurde, jedoch als verschollen gelten muß, bleiben einige zentrale Fragen, namentlich zur Jugend Colornis, weiterhin offen. Unscharf ist nicht zuletzt auch das Bild vom Äußeren Colornis. Kein bildliche Darstellung Colornis hat sich erhalten, und auch aus den überlieferten schriftlichen Quellen lassen sich kaum Rückschlüsse auf sein Aussehen ziehen. Eher schon ist es möglich, sich eine Vorstellung davon zu verschaffen, welche Sprachen Colorni beherrschte. Italienisch war seine Muttersprache. Colorni war zweifellos ein Kenner der italienischen Literatur, der Zitate aus Dantes Göttlicher Komödie in seine Werke einflocht und Ariost verehrte (»divino Ariosto«).12 Die Verwurzelung Colornis in der Lebenswelt Italiens war tief. Noch am Kaiserhof in Prag wollte er übrigens ausdrücklich nicht auf die italienische Kochkunst verzichten.13 Alle erhaltenen Werke und Briefe Colornis sind in italienischer Sprache verfaßt. Jedoch war er auch im Hebräischen versiert. Dies geht nicht zuletzt aus jener Liste hervor, in der er – wie alle Mantuaner Juden – auf Befehl der Inquisition im Jahr 1595 die in seinem Haus befindlichen Bücher aufführen mußte.14 Da diese Quelle 9
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Zu einigen Quellen, die in dieser Epoche Juden als Fechter erwähnen, siehe Markus J. Wenninger, Von jüdischen Rittern und anderen waffentragenden Juden im mittelalterlichen Deutschland, in: Aschkenas 13 (2003), S. 35–82, hier S. 52. Leon Modena, Jüdische Riten, Sitten und Gebräuche [Orig. als Historia de riti hebraici], hg., ins Deutsche übers. und eingeleitet von Rafael Arnold, Wiesbaden 2007, S. 169. Siehe dazu ausführlich weiter unten. So zum Beispiel an verschiedenen Stellen von Colornis Euthimetria. Colorni aus Prag an Alfonso II. d’Este, 30. August 1588 (J-1891, S. 27). Diese Liste lag dem Historiker Shlomo Simonsohn in den 1950er Jahren noch vor. Vgl. Shlomo Simonsohn, Sefarim ve-Sifriyot shel Yehudei Mantova 1595 (hebr.: Bücher und Bibliotheken der Mantuaner Juden im Jahr 1595), in: Kiryat Sefer 37 (1961/1962), S. 103–122. Simonsohn teilt leider Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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heute nicht mehr auffindbar ist, kommt einer erhaltenen zweiten Bücherliste aus dem Jahre 1605 um so größere Bedeutung zu.15 Zwar war Colorni bereits sechs Jahre tot, als die Inquisition damals die Buchbestände der Mantuaner Juden erneut unter die Lupe nahm. Doch können wir davon ausgehe, daß es sich bei zahlreichen der Bücher, die sich nun im Besitz seines einzigen Sohnes befanden, um Bände aus dem Nachlaß Abramos handelte. Auf dieser Liste wird ganz überwiegend jüdisches Schrifttum in hebräischer Sprache aufgeführt, darunter religiöse ebenso wie erzählende Literatur. Unzweifelhaft beherrschte Colorni zudem das Lateinische, einige seiner Werke wollte er bereits zu Lebzeiten in dieser Sprache drucken lassen (in einem Fall gelang dies). Ob er auch die griechische Sprache meisterte, bleibt offen. Allemal kannte und zitierte er jedenfalls die Werke der großen Autoren der griechischrömischen Antike und sogar die Schriften einiger Kirchenväter und christlicher Theologen.16 Ob Colorni auch der deutschen Sprache kundig war, läßt sich nicht mit Gewißheit beantworten. Jedenfalls hatte er als Erwachsener während seines knapp neunjährigen Aufenthalts in Prag Gelegenheit, Kenntnisse des Deutschen und vielleicht auch des Tschechischen zu erwerben. Einige Stellen seiner in Prag verfaßten und gedruckten Scotographia deuten darauf ebenso hin wie der allgemeine Anspruch dieses kryptographischen Werkes, nicht zuletzt den Bedürfnissen deutsch- und tschechischsprachiger Briefschreiber Rechnung zu tragen.17 Neben den ungefähr fünfundzwanzig überlieferten, teils unveröffentlichten Briefen und Eingaben Colornis sind heute seine Werke eine der wichtigsten Quellen für biographische Informationen. Es haben sich drei (von insgesamt mindestens sechs) Abhandlungen Colornis erhalten. Im einzelnen handelt es sich dabei um eine Abhandlung aus dem Gebiet der Ingenieurskunst (Euthimetria), eine Schrift zur Chiromantie (Chirofisionomia) sowie das bereits erwähnte kryptographische Lehrbuch (Scotographia). Letzteres ist das einzige Werk Colornis, das jemals im Druck erschien. All die hier genannten Abhandlungen, von denen weiter unten noch genauer die Rede sein wird, verdienen eine eingehende Untersuchung. Eine solche Erforschung von Colornis Werken aber fehlt bisher nahezu gänzlich. Um den Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht zu sprengen, kann eine solche
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nur in knappen Worten die Existenz des Dokuments mit, das offenbar nur hebräische Religionsschriften aufführte. Bedauerlicherweise konnte ich trotz intensiver Bemühungen diese Liste Abramo Colornis in den Beständen des Archivio israelitico di Mantova nicht ausfindig machen. Allgemein zum Wert der Mantuaner Buchlisten als Quellen siehe Shiffra Baruchson-Arbib, La culture livresque des juifs d’Italie à la fin de la Renaissance, Paris 2001. AIM, filza 9, Nr. 125. Eine buchstabengetreue Edition dieser Liste ist abgedruckt bei Jütte, Abramo Colorni, jüdischer Hofalchemist, S. 496–498. Für Beispiele siehe weiter unten das Kapitel zu Colornis Chirofisionomia. Vgl. einige Wortbeispiele in deutscher und tschechischer Sprache (»lingua Boema«) in der Scotographia overo, scienza di scrivere oscuro, facilissima & sicurissima, per qual si voglia lingua […], Prag: Sciuman 1593, I, 1. Ein jüdischer professore de’ secreti
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Annäherung auch in der vorliegenden Untersuchung nur in eingeschränktem Maß geleistet werden. Vornehmliches Ziel ist es hier, Colornis Werke in den biographischen Zusammenhang einzuordnen und sie zudem als Zeugnisse für sein self-fashioning – zumal in der Rolle eines professore de’ secreti – zu untersuchen.18 Über die Fülle der technischen Details – seien sie aus der Astrologie (wie in der Chirofisionomia) oder aus dem Ingenieurswesen (wie in der Euthimetria) – bleibt daher im einzelnen noch manches zu sagen.19 Für Abramo Colornis ›Lehrjahre‹ waren zwei Städte von entscheidender Bedeutung: die Heimatstadt Mantua und Ferrara, der Ort seiner späteren Anstellung. Zeitlebens sollte er immer wieder an diese beiden Orte zurückkehren, und den in diesen Städten regierenden Herrscherfamilien erwies er über Jahrzehnte hinweg treue Dienste. Bei diesen Patronen handelte es sich um die Gonzaga in Mantua und die Este in Ferrara.20 Wenngleich Spannungen und Rivalitäten mitunter offen zutage traten, waren zwischen diesen benachbarten Dynastien die Gemeinsamkeiten, die nicht zuletzt auf einer geschickten Heiratspolitik beruhten, nicht zu übersehen.21 Gemeinsamkeiten gab es ebenfalls in der Politik gegenüber den Juden, die sowohl bei den Gonzaga als auch bei den Este in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von Pragmatismus und – um einen mit Vorsicht zu benützenden Begriff zu wählen – von relativer ›Toleranz‹ geprägt war.22 Zwar kam es immer wieder zu Willkürmaßnahmen und gegenreformatorischer Symbolpolitik, im 18
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Ich knüpfe hier auch an Eleazar Gutwirth an, der unlängst angeregt hat, bei der Untersuchung von Juden an Höfen Aspekte des self-fashioning stärker zu berücksichtigen. Eleazar Gutwirth, Jews and Courts. An Introduction, in: Jewish History 21 (2007), S. 1–13, hier S. 5. Herr Alessandro Janovitz vom Politecnico di Milano teilt mir freundlicherweise mit, daß er beabsichtigt eine Studie zur technik- und mathematikgeschichtlichen Stellung von Colornis Euthimetria und Scotographia zu verfassen. Siehe weiter unten ausführlich zu Colornis Beziehungen zu diesen Höfen. Ein Vergleich zwischen dem Hof der Este und dem der Gonzaga findet sich bei Gianni Venturi, Mantova e Ferrara: Due corti al tramonto. Un esempio di geografia cultura, in: Raffaella Morselli (Hg.), Gonzaga. La celeste galeria, Mailand 2002, Bd. 1, S. 213–229. Speziell zur Heiratspolitik und deren Implikationen für die Sammlungsbestrebungen siehe Raffaella Morselli, Este e Gonzaga. »Piccolo« e grande collezionismo di due famiglie amiche tra Cinquecento e Seicento, in: Jadranka Bentini (Hg.), Sovrane passioni. Studi sul collezionismo estense, Mailand 1998, S. 37–90. Zu Mantua siehe die nach wie vor grundlegende Studie von Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua. Zum Herzogtum Ferrara siehe Andrea Balletti, Gli ebrei e gli Estensi, Reggio-Emilia 2 1930 [ND Bologna 1969]. Für einen Überblick zu Ferrara vgl. auch Maria Giuseppina Muzzarelli, Ferrara, ovvero un porto placido e sicuro tra XV e XVI secolo, in: Euride Fregni/Mauro Perani (Hg.), Vita e cultura ebraica nello stato estense, Nonantola 1993, S. 235–257; siehe außerdem Presenza ebraica a Ferrara. Testimonianze archivistiche fino al 1492, bearb. von Adriano Franceschini, Florenz 2007; Abramo Pesaro, Memorie storiche sulla comunità israelitica ferrarese, Ferrara 1878 [ND Sala Bolognese 1986]; Aron di Leone Leoni, Per una storia della nazione tedesca di Ferrara nel Cinquecento, in: Rassegna mensile di Israel 62 (1996), S. 137–166. Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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großen und ganzen jedoch waren die Lebensbedingungen für Juden wie Colorni in diesen Herzogtümern günstig. Zur Segregation der Juden in eigens eingerichteten Ghetti kam es in beiden Fällen erst nach der Jahrhundertwende (1612 in Mantua; 1624 in Ferrara, das zu diesem Zeitpunkt bereits an den Kirchenstaat zurückgefallen war). Ein beträchtliches Maß an Entfaltungsfreiheit herrschte für die jüdischen Untertanen im späten 16. Jahrhundert auf ökonomischem Gebiet. In Mantua beispielsweise ermöglichte die verhältnismäßig pragmatische Judenpolitik der GonzagaHerzöge, die erst in der zweiten Hälfte der Herrschaft Vincenzo Gonzagas (reg. 1587–1612) allmählich ein Ende fand, den Juden, weit über ›angestammte‹ Berufe in der Geldwirtschaft oder im Handel hinaus tätig zu werden.23 Insgesamt lebten um 1600 fast 3000 Juden im Herzogtum. Mantua selbst verfügte zur Zeit Abramo Colornis über ein blühendes jüdisches Leben – und profitierte davon: Am Hofe finden wir neben zahlreichen jüdischen Lieferanten ebenfalls den berühmten Musiker und Komponisten Salamone Rossi, aber auch den Theaterdirektor und Autor Leone de’ Sommi.24 Letzterer entstammte der angesehenen Familie Portaleone, deren Mitglieder sich weit über die Grenzen der Stadt hinaus hauptsächlich als Ärzte einen Namen machten. In den 1560er Jahren wurde in Mantua sogar die Errichtung einer jüdischen Hochschule mit weltlichen Unterrichtsfächern geplant.25 Einen der Initiatoren dieses Projekts, den Rabbiner David Provenzali (1506–?), hat Colorni nachweislich gekannt.26 Darüber hinaus war Mantua auch ein Zentrum kabbalistischer Aktivitäten.27 Im benachbarten Herzogtum der Este herrschte ebenfalls ein Klima relativer Aufgeschlossenheit. Unter der Herrschaft der Este hatten sich seit Beginn des 16. Jahrhunderts immer wieder aus Spanien vertriebene Juden – darunter sogenannte Marranen – im Herzogtum niedergelassen. Zwar kam es – insbesondere unter päpstlichem Druck – im Laufe des 16. Jahrhundert verschiedentlich zu einzelnen 23 24
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Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 196–317. Don Harrán, Salamone Rossi. Jewish Musician in Late Renaissance Mantua, Oxford 2003; Donald Beecher, Leone de’ Sommi and Jewish Theatre in Renaissance Mantua, in: Renaissance and Reformation 17 (1993), S. 5–19; Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 656–677. Dazu jetzt v. a. Gianfranco Miletto, The Teaching Program of David ben Abraham and his Son Abraham Provenzali in its Historical-Cultural Context, in: David B. Ruderman/Giuseppe Veltri (Hg.), Cultural Intermediaries. Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, Philadelphia 2004, S. 126–148. ASMn, AN, b. 1250 bis, 170/171. David Provenzali wird hier im Zusammenhang mit der Erbschaftsregelung erwähnt, die Colorni und dessen Stiefmutter nach dem Tode des Vaters 1577 vereinbarten. Aus diesen Dokumenten geht auch hervor, daß Provenzalis Todesjahr, das in der Forschung bisher ungeklärt ist, in die Zeit nach 1577 fallen muß. Giulio Busi, Il laboratorio cabbalistico mantovano, in: Ders., L’enigma dell’ebraico nel Rinascimento, Turin 2007, S. 99–128. Ein jüdischer professore de’ secreti
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obrigkeitlichen Aktionen gegen Marranen. Insgesamt aber blieb Ferrara mit seinen zeitweise zehn Synagogen eine der angesehensten jüdischen Gemeinden Italiens. Im späten 16. Jahrhundert lebten über 2000 Juden im Herzogtum. Auch in den ländlichen Gebieten und in den kleineren Orten der Territorien der Gonzaga und der Este gab es nennenswerte jüdische Siedlungen, woran noch heute nicht zuletzt die Druckorte hebräischer Bücher aus dieser Epoche erinnern. In solchen kleineren Siedlungszentren waren es oft Juden, denen das Geld- und Kreditgeschäft oblag. Jedoch finden sich ebenfalls Juden, die mit den natürlichen Produkten der Region handelten, an denen die Landschaft des Po-Deltas bis heute reich ist.28 Überhaupt prägte der mächtige Fluß den Lebensrhythmus und die Wirtschaft in den Territorien der Este und Gonzaga in beträchtlichem Maße. Die Poebene brachte jedoch immer wieder auch Probleme für Herrscher und Untertanen mit sich, so zum Beispiel Überschwemmungen und Verlandungen. Namentlich die Este-Herzöge sahen sich von jeher mit der Frage konfrontiert, wie sich ein Territorium regieren lasse, dessen natürliche Gestalt sich unentwegt wandelte und buchstäblich ›im Fluß‹ befand. Es war dies ein wichtiger Grund, weshalb vor allem am Hof der Este ein kontinuierlicher Bedarf nach Ingenieuren herrschte.29 An den Höfen zu Mantua und Ferrara wurden in der Frühen Neuzeit zahllose Ingenieure und Baumeister beschäftigt.30 Einige von ihnen gelangten bereits zu Lebzeiten zu großer Berühmtheit, darunter Leon Battista Alberti (1404–1472) und Giovanni Battista Aleotti (1546–1636). Ingenieuren winkte neben einer Anstellungsmöglichkeit nicht zuletzt Prestige am Hof. Der Beruf des Ingenieurs war für Juden wie Colorni zudem deshalb reizvoll, weil der Ausbildungsweg in der Regel weder streng festgelegt war noch notwendigerweise über die Universitäten führte. Vielmehr spielte Patronage durch die Höfe eine wichtige Rolle. In den vorangegangenen Kapiteln sind bereits eine Reihe von Beispielen für die Tätigkeit von Juden als zivile oder militärische Ingenieure seit dem Spätmittelalter beigebracht worden. Auch Colorni schlug diesen Weg ein, doch er selbst hat sich weder in seinen erhaltenen Briefen noch in seinen Werken zu Ort und Art seiner Ausbildung geäußert. Zumindest gibt es einige Hinweise darauf, daß er von Beginn an eine möglichst breite Allgemeinbildung anstrebte. In einigen Abschnitten seiner Chirofisionomia erwähnt er, daß er als junger Mann an der Universität von Ferrara die Anatomie-Vorlesungen des christlichen Medizin28 29
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Eine Quelle aus dem Jahr 1601 dokumentiert beispielsweise den Handel von Juden mit Salz aus den Salinen von Cervia. Siehe Gonzaga/Prag, Dok. 819 Anthony Grafton, Leon Battista Alberti. Baumeister der Renaissance, Berlin 2002, S. 321. Ausführlich zu den ehrgeizigen Bau- und Landschaftsprojekten Alfonsos II.: Francesco Ceccarelli, La città di Alcina. Architettura e politica alle foci del Po nel tardo Cinquecento, Bologna 1998. Für Ferrara liegt heute im ASMo, ASE ein thematisch angelegter, umfangreicher Bestand Ingegneri vor. Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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professors Antonio Maria Parolini (gest. 1588) besucht habe, den er sehr schätzte.31 Parolini, der für fast drei Jahrzehnte (1559–1587) an der Universität lehrte, hatte als Autor einer Abhandlung über die Pest Bekanntheit erlangt und diente neben seiner Professur als Protomedico für das gesamte Territorium.32 Es war vermutlich Parolini, bei dem Colorni jenen beträchtlichen Grundstock an medizinischem Wissen erwarb, der später in einige seiner eigenen Werke und Projekte einfloß.33 In der Tat wurde Colorni später gelegentlich auch als »Medico e philosopho clarissimo« bezeichnet.34 Jedoch deutet nichts darauf hin, daß Colorni ein ordentliches Medizinstudium absolviert hat oder den Beruf des Arztes anstrebte. Es ist dabei wichtig hervorzuheben, daß es in Colornis Jugend in Ferrara für einen Juden keine unüberwindbaren formalen Hürden für einen Studienabschluß in Medizin gegeben hätte. Padua galt gemeinhin als die einzige italienische Universität, an der Juden in dieser Zeit vergleichsweise uneingeschränkt studieren konnten (wenngleich auch hier lediglich das Fach Medizin). Es hat ebenfalls in Ferrara in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert immerhin ungefähr ein dutzend Abschlüsse von jüdischen Studenten im Fach Medizin gegeben.35 Die Universität war offiziell nicht verantwortlich für die Verleihung dieser Doktorwürden. Vielmehr wurde die Titelverleihung durch ein externes, eigens gebildetes Komitee aus einer Handvoll Universitätsdozenten durchgeführt. Diese Praxis hatte sich von Anfang an in einer rechtlichen Grauzone bewegt und stand spätestens seit dem Tridentinum in offenem Widerspruch zur kirchlichen Rechtsauffassung. Dennoch konnte sich diese Ausnahmeregelung offenbar bis 31
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»[S]ovente […] ho sentito disputare all’eccelente medico et filosofo raro veramente nella età nostra, il signor Antonio Maria Parolinni [sic], leggendo l’anatomia qui nel studio di Ferrara«. Chirofisionimia, fol. 37v. Weitere Erwähnungen Parolinis als Lehrer finden sich auf fol. 144v. und 195r. Der Nachname begegnet auch in der Variante Parolari. Parolinis Pesttraktat ist bibliographisch nachweisbar unter dem Titel Trattato della peste dell’ eccellentissimo Antonio Maria Parolini medico Ferrarese. Diviso in tre parti, nella prima si tratta della natura, cause, e segni della peste. Nella seconda del preservarsi dalla peste. Nella terza della curatione d’esta […], Ferrara: Suzzi 1630. Zur Biographie siehe Giuseppe Pardi, Lo studio di Ferrara nei secoli XV e XVI, Ferrara 1903 [ND Bologna 1972], S. 163; Ferrante Borsetti Ferranti Bolani, Historia almi Ferrariae gymnasii, 2 Bde., Ferrara: Pomatelli 1735, hier Bd. 2, S. 183–184; Luigi Ughi, Dizionario storico degli uomini illustri ferraresi, Ferrara 1804, S. 98–99. Dies gilt namentlich für die Chirofisionomia. So in einem Schreiben Friedrichs I. von Württemberg an Vincenzo Gonzaga, 30. Januar 1597, ASMn, AG, b. 517. Ich danke Gianfranco Miletto für diesen Hinweis. Adriano Franceschini, Privilegi dottorali concessi ad ebrei a Ferrara nel sec. XVI, in: Ders., Spigolature archivistiche prime (= Atti e memorie della deputazione provinciale ferrarese di storia patria, III. ser., Bd. 19 [1975]), S. 163–194. Zu Einzelfällen jüdischer Studenten in Ferrara vor 1559 vgl. Vittore Colorni, Spigolature su Obadià Sforno. La sua laurea a Ferrara e la quasi ignota edizione della sua opera »Or ’amim« nella versione latina, in: Ders., Judaica Minora. Saggi sulla storia dell’ebraismo italiano dall’antichità all’età moderna, Mailand 1983, S. 461–472. Ein jüdischer professore de’ secreti
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mindestens in die 1580er Jahre behaupten und war somit zum Zeitpunkt von Colornis Studien – die wahrscheinlich in die späten 1560er Jahre zu datieren sind – noch in Kraft. Colorni jedenfalls hätte bei seinem christlichen Lehrer Parolini mit Unterstützung für eine Promotion rechnen können. Denn Parolini war in der Tat mehrfach Mitglied der erwähnten Spezialkommission zur Verleihung der Doktorwürde an jüdische Studenten.36 Der Medizinprofessor war zudem auch sonst offenbar verhältnismäßig aufgeschlossen gegenüber jüdischen Studenten. Dies belegt das Beispiel Rafael Miramis (genaue Lebensdaten unbekannt), der ebenfalls zu Parolinis jüdischen Schülern zählte und später übrigens zu einem ausgesprochenen Bewunderer Colornis werden sollte.37 Mirami, der in den 1580er Jahren als Arzt in Ferrara wirkte, erwähnt den christlichen Lehrer Parolini voller Lob, wenngleich unklar bleibt, ob Mirami tatsächlich in Ferrara promoviert hat.38 Parolini war es jedenfalls, der den jüdischen Bewunderer Mirami nicht zuletzt auch zu mathematischen Forschungen ermunterte.39 An solchen außerfachlichen Anregungen und einer Erkundung verschiedenster Wissensgebiete war offenbar auch Colorni gelegen, vielleicht sogar mehr als an der Erlangung einer Doktorwürde im Fach Medizin. In der Tat wurden an der Universität von Ferrara eine Reihe verschiedener Fächer angeboten, für die sich Colorni interessiert haben könnte. Dies gilt vor allem für die noch jungen Fächer Botanik und Naturgeschichte. Ferrara war erst die fünfte Universität in Italien, die im 16. Jahrhundert eine Professur für Naturgeschichte eingerichtet hatte. Im Umfeld dieses Faches bildete sich ein Kreis von Forschern und Sammlern, die ein ausgeprägtes Interesse für die Geheimnisse der Natur teilten.40 Der berühmte sephardische Arzt Amatus Lusitanus (1511–1568) hatte bereits in der Mitte des 16. Jahrhunderts jedem, der Botanik und Medizin studieren wolle, empfohlen, nach Ferrara zu ziehen.41 Amatus Lusitanus wußte wovon er sprach: immerhin hatte er von 1540 bis 1547 als Kryptojude in Ferrara gelebt und dort zeitweise auch an der Universität gelehrt (zum Judentum sollte er erst Jahre später im osmanischen Reich offiziell zurückkehren). Womöglich hatte Colorni diese Worte des angesehenen sephardischen Arztes im Hinterkopf, als er selbst an die Universität Ferrara kam. Vielleicht wußte er zudem, daß Gaspare Gabrieli, der erste Professor für medizi36 37 38
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Franceschini, Privilegi dottorali. Zu seiner Biographie siehe weiter unten. »[C]olendissimo Precettore Eccellentissimo Filosofo & Medico il Sig. Antonio Maria Parolini«, so Mirami im Widmungsschreiben (o. S.) seiner Compendiosa Introduttione alla prima parte della specularia, cioè della Scienza de gli specchi […], Ferrara: Rossi & Tortorino 1582. Widmungsschreiben ebd., o. S. Paula Findlen, The Formation of a Scientific Community. Natural History in Sixteenth-Century Italy, in: Anthony Grafton/Nancy Siraisi (Hg.), Natural Particulars. Nature and the Disciplines in Renaissance Europe, Cambridge/Mass. etc. 1999, S. 369–400, hier S. 370. Paula Findlen, Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientifc Culture in Early Modern Italy, Berkeley etc. 1994, S. 252. Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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nische Botanik in Ferrara, 1543 emphatisch verkündet hatte, die Geschichte der Natur verdiene es, von Menschen aller Schichten studiert zu werden.42 Es sollte allerdings auch erwähnt werden, daß die Universität in Ferrara keineswegs nur ein Ort hehrer geistiger Studien war. Vielmehr bot die Universität eine Reihe von konkreten Möglichkeiten, um Kontakte zur Welt des Hofes zu knüpfen. Wenn Colorni beispielsweise die Vorlesungen in Naturphilosophie (filosofia naturale) belegte, dann dürfte er unausweichlich Antonio Montecatini, dem profiliertesten Professor in diesem Fach, begegnet sein. Montecatini, der fast vier Jahrzehnte in Ferrara lehrte (1563–1599) und einer der am besten bezahlten Professoren der Universität war, unterhielt glänzende Kontakte an den Hof der Este. Der Herzog beschäftigte ihn als Berater, ernannte ihn zeitweise zum Botschafter und betraute ihn immer wieder mit heiklen politischen Missionen.43 Der Kontakt zu einer solchen Persönlichkeit wie Montecatini, gar ein Patronageverhältnis, war eine vielversprechende Aussicht. Bezeichnenderweise widmete der bereits erwähnte jüdische Naturforscher Rafael Mirami – der ungefähr zur selben Zeit wie Colorni in Ferrara die Universität besucht haben muß – später sein einziges gedrucktes Buch dem besagten Antonio Montecatini.44 Langfristig entschied sich Mirami für den Berufsweg des Arztes, Colorni hingegen sah seine Zukunft offenbar von Anfang an am Hof. Darauf deutet nicht zuletzt die früheste mir bisher bekannt gewordene Quelle zu Colorni hin. Sie reicht in die frühen 1570er Jahre zurück und ist bislang in der Colorni-Forschung übersehen worden. Es handelt sich um ein Schreiben Colornis an Francesco Gonzaga (1519–1577), den Grafen von Novellara, das in jedem Fall in oder vor das Jahr 1572 zu datieren ist.45 Dieser Brief ist aus verschiedenen Gründen ein Schlüsseldokument. Erstens belegt er definitiv, daß Colorni bereits in den 1570er Jahren von den Gonzaga – genauer gesagt: von der Nebenlinie der Familie in Novellara – gefördert wurde, also einige Jahre bevor er offiziell in die Dienste der Este eintrat.46 Zum zweiten geht aus dem Brief hervor, daß schon der junge Colorni ein Renommee weit über 42 43 44 45
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Ebd., S. 9. Pardi, Lo studio di Ferrara, S. 164–165. Mirami, Compendiosa Introduttione, o. S. Colorni an Francesco Gonzaga, o. O. u. D. [vor dem 9. Oktober 1572], ASF, Mediceo del Principato, 580, fol. 80r–v. Auch als Dok. 44 in der Quellensammlung Collezionismo mediceo – Cosimo I, Francesco I e il Cardinale Ferdinando. Documenti 1540–1587, hg. von Paola Barocchi/Giovanna Gaeta Bertelà, Modena 1993. Zur genauen Affiliation Colornis mit den Gonzaga von Novellara habe ich bisher keine Informationen finden können. Keine Auskunft gibt in dieser Beziehung Simona Bodo/Caterina Tonini (Hg.), Archivi per il collezionismo dei Gonzaga di Novellara, Modena 1997. Es ist dennoch vorstellbar, daß Colorni ein offizielles Amt, etwa als Hofingenieur, bekleidete. Für die fraglichen Jahre (1570er) ist immerhin auch ein jüdischer Hofarzt am Hofe von Novellara nachweisbar. Vgl. Gabriele Fabbrici, Alcune considerazioni sulle fonti documentarie e sulla storia delle comunità Ein jüdischer professore de’ secreti
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die Grenzen Mantuas genoß. Denn in dem Brief werden namentlich Aufträge des Herzogs von Nevers – ebenfalls ein Sproß der Familie Gonzaga – erwähnt. Das Schreiben selbst wiederum befindet sich heute in Florenz, wohin es 1572 zusammen mit einem Empfehlungsschreiben des Grafen an die Medici gelangt war.47 Der dritte Grund für die Bedeutung des Dokuments aber ist der wichtigste, er betrifft die Selbstdarstellung Colornis. Der damals knapp 30jährigen Colorni zeigt sich in dem Schreiben als bereits voll ausgebildeter, professionell agierender Ingenieur und Erfinder, der auf Bitten seines adligen Patrons eine Agenda mit ehrgeizigen Projekten entwirft. Colornis Schreiben, das in neun Punkte gegliedert ist, bietet somit eine Art Katalog der Dienstleistungen und Erfindungen des jüdischen Experten. Zu den Vorschlägen, die Colorni im einzelnen unterbreitet, zählt die Herstellung von Waffen – darunter solche mit ›vielen Schüssen‹ (»molti tiri«) –, das Experimentieren (»isperimentare«) mit Artillerietechnik, die Konstruktion von bereits als Modellen vorgeführten Kriegsmaschinen sowie von Brücken über Flüsse und Festungsgräben, die Herstellung von Leitern zum Erklimmen von Festungsmauern, eine ebenfalls bereits im Modell realisierte Apparatur zum Graben von Kanälen sowie eine Erfindung, um Bewegungsabläufe zu vereinfachen (»per facilitar moti«). Außerdem ist die Rede von einer Wasseruhr sowie von einer Kranapparatur zum Anheben von Wasser und schweren Gewichten. Nicht nur in formaler Hinsicht erinnert das Schreiben an den berühmten Brief Leonardo da Vincis an Lodovico Sforza (1482), in dem verschiedene »Geheimnisse« in Aussicht gestellt wurden. Auch inhaltlich ähneln sich die Dokumente. Leonardo hatte beispielsweise ebenfalls von Brücken, Geschützen, Belagerungsleitern und Maschinen gesprochen, mit der sich jede denkbare Festung einnehmen lasse.48 Colorni dürfte den Brief Leonardos freilich nicht gekannt haben, aber die Ähnlichkeiten sind ein Indiz dafür, wie sehr der junge Jude aus Mantua schon die Rhetorik und die Selbstdarstellung eines professionellen Ingenieurs beherrschte. Sein ›Angebotskatalog‹ von 1572 zeigt Colorni bereits als einen typischen (Militär-) Ingenieur der Renaissance. Denn die Expertise beim Bau, der Weiterentwicklung sowie der Erfindung von militärischem Kriegsgerät zählte zu den Kernkompeten-
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ebraiche di Modena e Carpi (secoli XIV–XVIII), in: Franco Bonilauri/Vincenza Maugeri (Hg.), Le comunità ebraiche a Modena e a Carpi. Dal medioevo all’età contemporanea, Florenz 1999, S. 51–65, hier S. 51. Francesco Gonzaga an Francesco de’ Medici, 9. Oktober 1572. Dieses Empfehlungsschreiben befindet sich ebenfalls in ASF, Mediceo del Principato, 580, hier fol. 79r–v. Ein orthographisch etwas geglätteter Abdruck findet sich bei Collezionismo mediceo in der Anm. zu Dok. 44. Ob Leonardos Brief Entwurf blieb, wird von der Forschung bis heute diskutiert. Ausführlich zu diesem Dokument vgl. Bertrand Gille, Engineers of the Renaissance, Cambridge/Mass. 1966, S. 124–126. Für Skizzen der entsprechenden Brücken in Leonardos sog. Codex Atlanticus vgl. Paolo Galluzzi, Renaissance Engineers. From Brunelleschi to Leonardo da Vinci, Florenz 1996, S. 58 sowie Abb. 52. Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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zen zahlreicher italienischer Renaissance-Ingenieure.49 Dieses Wissen verschaffte namentlich italienischen Ingenieuren Aufträge und Berufungen aus ganz Europa.50 Militärisches know-how war ein wichtiges, jedoch nicht das einzige Merkmal, das den Berufsstand des Ingenieurs, wie er sich maßgeblich im Italien der Renaissance ausgeformt hatte, charakterisierte. Das Bild des Ingenieurs in der Gesellschaft trug lange Zeit recht heterogene Züge. Vom Magus bis hin zum Künstler reichte das Spektrum des Erscheinungsbildes.51 »Wie der Magus, so war auch der Ingenieur eine Gestalt, die große Macht besaß und häufig im Zentrum erbitterter Kontroversen stand«, resümiert Anthony Grafton.52 In der Tat teilten einige Ingenieure mit den Magi nicht zuletzt die Begeisterung für kühne, übernatürlich scheinende Projekte. Große Anerkennung – dies wußte auch Colorni – winkte jedenfalls meist nicht denjenigen Ingenieuren, die lediglich als solide Spezialisten hervortraten. Vielmehr wurde den Alleskönnern und ›Lieferanten von Wundern‹, die mit Effekten nicht sparten, beträchtliche Ehre zuteil. Treffend hat Grafton am Beispiel Leonardos ausgeführt, daß »dem Renaissancekünstler die Malerei gegenüber dem Erfinden von Kriegsfahrzeugen, die sich selbst fortbewegten, oder dem Herstellen von Kanonen, die nicht zerplatzen, nicht unbedingt als höhere oder wichtigere Kunstfertigkeit« galt.53 Colorni war mit den Werken berühmter christlicher Ingenieure der Renaissance vertraut. Die Werke von Alberti und Tartaglia inspirierten ihn nachweislich.54 Auch dürfte er namentlich die Schriften von Taccola – dem »Archimedes von Siena« – sowie von Conrad Kyeser gut gekannt haben.55 Aus Colornis hier vorgestelltem Brief an den Grafen von Novellara geht überdies eindeutig hervor, daß der Hof von Ferrara nicht der erste Wirkungsort des jüdischen Ingenieurs war.56 Angesichts ebenfalls bisher unbekannter Dokumente aus
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Dazu jetzt auch Andrea Bernardoni, Le artiglierie come oggetto di riflessione scientifica degli ingegneri del Rinascimento, in: Quaderni storici 130 (2009), S. 35–65. Siehe v. a. Marino Viganò (Hg.), Architetti e ingegneri militari italiani all’estero dal XV al XVIII secolo, 2 Bde., Livorno 1994/1999. Siehe ausführlich das Kapitel zu Technologie weiter oben. Anthony Grafton, Der Magus und seine Geschichte(n), in: Ders./Moshe Idel (Hg.), Der Magus. Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen, Berlin 2001, S. 1–26, hier S. 21. Ebd., S. 22. Dies geht deutlich aus Colornis Euthimetria hervor. Zur Verbreitung von Kyesers Bellifortis weit über den deutschsprachigen Raum hinaus vgl. Laszlo Makkai, De Taccola à Veranzio. L’ingénieur de la Renaissance en Hongrie, in: Histoire économique du monde méditerranéen 1450–1650. Mélanges en l’honneur de Fernand Braudel, 2 Bde., Toulouse 1973, Bd. 1, S. 337–347, hier v. a. S. 339. Auch Garzoni gibt an, Colorni habe bereits vor seiner Anstellung in Ferrara in den Diensten mehrerer Fürsten gestanden: »Ecco che voi havete servito molti principi […].« Siehe Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 19 Ein jüdischer professore de’ secreti
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dem Este-Archiv muß zudem auch die ältere Ansicht, Colorni sei erst 1579 – nach der Heirat des Herzogs von Ferrara, Alfonso II. d’Este, mit Margherita Gonzaga – nach Ferrara gelangt, korrigiert werden. Einem unveröffentlichten Brief Colornis aus späterer Zeit läßt sich vielmehr entnehmen, daß der Mantuaner Jude bereits 1576 in die Dienste des Hauses Este eintrat.57 Der damals regierende Herzog Alfonso II. d’Este (1533–1559–1597) war ein Fürst ganz in der Tradition der italienischen Renaissance. Er galt als ehrgeizig und prunkliebend, gelehrt und hochmütig.58 Heute ist der Herzog, zu dessen Hofstaat knapp 500 Personen zählten,59 nicht zuletzt als Patron des Dichters Torquato Tasso in Erinnerung, der mehrere Jahre in Ferrara verbrachte. Ingesamt konnte der Hof von Ferrara unter Alfonso auf Jahrzehnte künstlerischer und intellektueller Entfaltung zurückblikken.60 Alfonso sollte allerdings – wie noch zu sehen sein wird – der letzte Herzog sein, unter dem der alte Glanz des Este-Hofes andauerte. Colorni führte spätestens seit 1582 offiziell den Titel Ingegniero del Serenissimo di Ferarra.61 Wie bereits erwähnt, gab es am Hof von Ferrara in der Frühen Neuzeit einen konstanten Bedarf für Ingenieure. Mit welchen Aufgaben war also der jüdische Ingenieur am Hof der Este betraut? Es ist spekuliert worden, daß Colorni an der Gestaltung des Palazzo della Mesola mitwirkte, den der Herzog damals erbauen ließ. In der Reichweite des Palastes sollte auch ein Zentrum für den internationalen Fernhandel geschaffen werden. In diesem Zusammenhang gab es Pläne, nicht zuletzt jüdische Kaufleute vor Ort anzusiedeln. Bis auf den Bau des (heute noch erhaltenen) Palastes sind die kühnen Projekte aber letztlich nie realisiert
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Colorni aus Stuttgart an Aderbale Manerbio, 5. Januar 1598, ASMn, AG, b. 475, fol. 527r–534r. Vgl. etwa Casimir von Chledowski, Der Hof von Ferrara, München 1919, S. 310–335. Marco Cattini/Marzio Romani, Le corti parallele. Per una tipologia delle corti padane dal XIII al XVI secolo, in: Giuseppe Papagno/Amedeo Quondam (Hg.), La corte e lo spazio. Ferrara estense, 3 Bde., Rom 1982, Bd. 1, S. 47–82, hier S. 72. Zum Hof von Ferrara unter Alfonso vgl. Chledowski, Der Hof von Ferrara, v. a. S. 310–335; Angelo Solerti, Ferrara e la corte estense nella seconda metà del secolo decimosesto, Città di Castello 1891; Jadranka Bentini/Luigi Spezzaferro (Hg.), L’impresa di Alfonso II. Saggi e documenti sulla produzione artistica a Ferrara nel secondo Cinquecento, Bologna 1987. Zum Aufbau des Hofes und zur Prosopographie siehe jetzt Guido Guerzoni, The Administration of the Este Courts in the XV–XVII Century, in: I saperi nelle corti (= Micrologus. Natura, Scienze e Società Medievali 16 [2008]), S. 537–567. Allgemein zur Entwicklung des Hofes und des Territoriums seit der Renaissance siehe Jadranka Bentini (Hg.), Gli Este a Ferrara. Una corte nel Rinascimento, Mailand 2004; sowie Giuseppe Papagno/Amedeo Quondam (Hg.), La corte e lo spazio. Ferrara estense, 3 Bde., Rom 1982. Vgl. Mirami, Compendiosa Introduttione, Vorrede, o. S. Vgl. auch die Anrede, die Garzoni einige Jahre später in der Piazza universale (S. 16) benutzt: »A M[aestro] Abramo Colorni Mantoano di natione Hebreo, ingegniero del Serenissimo di Ferrara.« Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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worden. Es ist zwar möglich, daß Colorni in das Mesola-Projekt involviert war.62 Gleichwohl ist es wahrscheinlich, daß es von Anfang an mehrere unterschiedliche Gründe für das Interesse des Herzogs an Colorni gab. Zunächst einmal beschäftigte sich Alfonso intensiv mit der Alchemie63 – ein Gebiet, auf dem Colorni ebenfalls Kenntnisse vorweisen konnte (um hier schon einmal vorzugreifen). Außerdem ist es vorstellbar, daß Colorni aufgrund seines ingenieurtechnischen Wissens für die Maschinentechnik und die Bühneneffekte der aufwendigen Theateraufführungen am Hof herangezogen wurde. In Colornis Geburtsstadt Mantua war die jüdische Gemeinde im 16. Jahrhundert sogar traditionell mit der Organisation von Theateraufführungen am Hof betraut – bis hin zur Bereitstellung von Schauspielern und zur künstlerischen Ausgestaltung. Mindestens ein Cousin Colornis hat nach 1600 nachweislich an diesen Theateraufführungen mitgewirkt.64 Es ist also nicht abwegig, dies auch für den am Hof gern gesehenen Abramo Colorni zu vermuten. Nicht zuletzt genoß Abramo Colorni einen Ruf als Händler kostbarer antiker Antiquitäten.65 Die Berufsbezeichnung antiquario umfaßte dabei oft mehr als nur das Handeln mit antiken Objekten. Nicht selten waren die ›Antiquare‹ damals auch
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Diese Vermutung einer Verbindung Colornis zum Mesola-Projekt erstmals bei Amico Ricci, Storia dell’architettura in Italia, Modena 1859, Bd. 3, S. 176. Siehe ebenfalls J-1874, S. 7. D’Arco bezeichnet Colorni – ohne nähere Nachweise – sogar als Architekten: Carlo d’Arco, Delle arti e degli artefici di Mantova. Notizie raccolte ed illustrate con disegni e con documenti, 2 Bde., Mantua 1857, hier Bd. 2, S. 180. Ich schließe nicht aus, daß Colorni tatsächlich in Bauvorhaben involviert war. Keinesfalls aber war dies seine Hauptdomäne: Auch aus diesem Grund bevorzuge ich für Colorni in dieser Epoche die Berufsbezeichnung des Ingenieurs. Siehe jetzt auch Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 82–85. Allgemein zum Mesola-Projekt vgl. Ceccarelli, La città di Alcina, passim. Chledowski, Der Hof von Ferrara, S. 310. Zudem gab es am Este-Hof auch ein traditionelles Interesse an der Astrologie. Siehe dazu Cesare Vasoli, Gli astri e la corte. L’astrologia a Ferrara nell’età ariostesca, in: Ders., La cultura delle corti, Florenz 1980, S. 129–158. Claudia Burattelli, Gli ebrei di Mantova e il teatro di corte, in: Dies., Spettacoli di corte a Mantova tra Cinque e Seicento, Florenz 1999, S. 141–188, hier S. 157. Es handelt sich um ein Familienmitglied namens Salomone Colorni. Ich identifiziere ihn als Cousin Abramos aufgrund der Indizien bei V. Colorni, Genealogia della famiglia Colorni, S. 648 (dort jedoch keine Erwähnung der Beteiligung an den Theateraufführungen). Colornis Expertise auf diesem Gebiet wurde auch am Hof von Savoyen geschätzt, wo 1581 von Geschäften mit »alcune medaglie« die Rede ist. Siehe ein Schreiben Jakobs II. von SavoyenNemours an Alfonso II. d’Este, 4. Mai 1581 (J-1891, S. 22). Ob Colorni auch Münzen aus dem jüdischen Altertum (oder solche, die man dafür hielt) anbot, ist nicht bekannt, aber angesichts des zeitgenössischen Interesses für »jüdische Münzen« vorstellbar. Zu diesem Interesse in der damaligen Zeit vgl. z. B. David Jaffé, Peiresc – Wissenschaftlicher Betrieb in einem RaritätenKabinett, in: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994, S. 302–322, hier v. a. S. 309. Ein jüdischer professore de’ secreti
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verantwortlich für die notwendigen ›archäologischen‹ Grabungen.66 Vielleicht hat Colorni in diesem Zusammenhang in der Tat Gelegenheit gehabt, einige der ihm zugeschriebenen Hebeapparaturen und Grabungsmaschinen zu erproben. Wie auch immer Colorni an die antiken Relikte gelangte, in Ferrara soll er jedenfalls ein mit solchen Kostbarkeiten angefülltes studio unterhalten haben und zudem als Autor einer – heute verschollenen – Abhandlung über Antiquitäten hervorgetreten sein.67 Es ist leicht vorstellbar, daß die Este auf Colornis Dienste als ›Antiquar‹ zurückgriffen. Immerhin hegten zahlreiche Mitglieder der herzoglichen Familie eine Leidenschaft für das Sammeln von Statuen, Büsten, Münzen und Medaillen, was einige Spötter damals sogar veranlaßte, von der ›antiken Krankheit‹ der Este zu sprechen.68 Überdies bleibt zu erwähnen, daß im Ferrara der 1570er Jahre Ingenieure wie Colorni aufgrund eines ebenso außergewöhnlichen wie unvorhersehbaren Ereignisses mehr denn je gefragt waren. Denn 1570 hatte sich ein schweres Erdbeben ereignet, das im Herzogtum massive Schäden anrichtete. Auch auf jüdischer Seite sind eine Reihe von Berichten in hebräischer Sprache erhalten, in denen diese Naturkatastrophe beschrieben wird.69 Es ist gut möglich, daß Colorni ein Augenzeuge des Erdbebens war (die Familie seiner Ehefrau lebte zu dieser Zeit in Ferrara). In jedem Fall könnte Colornis Expertise als Ingenieur bei der Beseitigung der Schäden ebenso gefragt gewesen sein wie beim Wiederaufbau, der sich noch über Jahre hinzog. Auch hier könnten sich Colornis Krankonstruktionen und Hebemaschinen bewährt haben, von denen bereits die Zeitgenossen berichteten und die uns weiter unten noch genauer beschäftigen werden.
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Barbara Furlotti, Ambasciatori, nobili, religiosi, mercanti e artisti. Alcune considerazioni sugli intermediari d’arte gonzagheschi, in: Raffaella Morselli (Hg.), Gonzaga. La celeste galeria, Mailand 2002, Bd. 1, S. 319–328, hier S. 324. Garzoni spricht von den »anticaglie, delle quali è ripieno compitamente in Ferrara lo studio vostro sì raro«, vgl. Piazza universale, Bd. 1, S. 20. Siehe zudem ebd. Bd. 2, S. 1115 (Discorso 148). Auch der bedeutende, aber angefeindete jüdische Gelehrte Azaria de’ Rossi, der Autor des Me’or Einayim, war übrigens ein Liebhaber von antiken Münzen, die er sich von einem jüdischen Gönner in Mantua vorführen ließ. Vgl. Moses A. Shulvass, The Jews in the World of the Renaissance, Leiden 1973, S. 188. Es ist nicht auszuschließen, daß Colorni auch solche jüdischen Kreise belieferte. Chledowski, Der Hof von Ferrara, S. 423. Zur umfangreichen Antikensammlung der Este vgl. auch Elena Corradini, Le raccolte estensi di antichità. Primi contributi documentari, in: Jadranka Bentini/Luigi Spezzaferro (Hg.), L’impresa di Alfonso II. Saggi e documenti sulla produzione artistica a Ferrara nel secondo Cinquecento, Bologna 1987, S. 163–192. Diese gründliche Studie, die vor allem von den Skulpturen und Büsten in den herzoglichen Sammlungen handelt, widmet sich allerdings überwiegend dem dritten Viertel des 16. Jahrhunderts. Colorni wird – vielleicht auch aufgrund dieses zeitlichen Fokus – nicht erwähnt. Giulio Busi, The Seismic History of Italy in the Hebrew Sources, in: Annali di Geofisica 38 (1995), S. 473–478, hier S. 475–476. Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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Ganz besonders begehrt aber dürfte in Ferrara Colornis Wissen auf militärischem Gebiet gewesen sein. Der Schriftsteller Tomaso Garzoni berichtet in der 1587 erschienenen, zweiten Auflage seiner Piazza universale bewundernd von den militärischen Erfindungen des jüdischen Hofingenieurs der Este. Darunter seien Waffen, Gerüste zur Reinigung von tiefen Mauergräben, Leitern, mit denen man ›bis auf den Turm von Babel‹ gelange, sowie Laufgräben, mit denen man ganze Regimenter in Sicherheit bringen könne. Zu den Erfindungen des jüdischen Ingenieurs zählten demnach auch Boote von leichtem Gewicht, Anlagen, um Wasser und schwere Gewichte in die Höhe zu schaffen, sowie Apparate, um die Drehung von Mühlrädern zu erleichtern.70 Vor allem aber war Garzoni des Lobes voll für jene von Colorni entwickelten Arkebusen, die – einmal geladen – aus einem Lauf mehrere Schüsse hintereinander abfeuern konnten.71 Diese Erfindung hat Colorni im 20. Jahrhundert vereinzelt den zweifelhaften Nachruhm eingetragen, der Vater des modernen Maschinengewehrs zu sein.72 Von solchen fragwürdigen Urteilen einmal abgesehen, sollte zunächst die Frage nach den realen Anhaltspunkten für diese Erfindung Colornis gestellt werden. Daß Garzoni hier offenbar keineswegs übertrieb, geht aus zeitgenössischen Quellen hervor, die – unabhängig vom Autor der Piazza universale – berichten, Herzog Alfonso habe dem Papst seine Sammlung solcher Arkebusen und Musketen vorgeführt.73 Colorni selbst hat sich dieser Erfindung gerühmt.74 In jüngerer Zeit sind weitere Indizien dafür erbracht worden, daß Colornis Entwürfe für Handfeuerwaffen realisiert wurden.75 Festzuhalten ist dabei allerdings, daß Colornis Projekt in der damaligen Zeit keineswegs ganz ungewöhnlich war. Selbst mehrläufige Feuerwaffen waren um 1600 bereits bekannt, wenngleich meist nicht sehr praktikabel.76 Schon der deutsche Ingenieur Conrad Kyeser hatte sich in seiner Fragment gebliebenen, aber viel 70 71 72 73 74 75
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Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 19–20. »[A]rcobusi, che da una canna sola sparano quattro, o cinque arcobusate a un tratto«, so Garzoni, ebd., S. 20. Max Grunwald, Die Juden als Erfinder und Entdecker, in: Ost und West 9 (1913), S. 755–756. Vgl. J-1891, S. 8. Secreto particolare für Friedrich I. von Württemberg [ca. 1597], HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 11. Colombero, Lemma Colorni, S. 467. Besonderes Gewicht kommt in diesem Zusammenhang einer Bemerkung des mit dem Este-Hof gut vertrauten Zeitgenossen Alessandro Tassoni zu, der Colorni nachweislich kannte. In seinen Pensieri (1612) erwähnt Tassoni einen namentlich nicht genannten »[A]rchitetto del duca Alfonso II di Ferrara, il quale fece due mila archibugi che, caricati una volta sola, fanno dieci tiri seguiti a colpo sicuro.« Siehe Alessandro Tassoni, Pensieri e scritti preparatori, hg. von Pietro Puliatti, Modena 1986, Buch X, Kap. 26, S. 934. Jan Paul Niederkorn, Wunderwaffen für die Türkenabwehr. Herzog Alfonso II. von Ferrara und der »Lange Türkenkrieg« Kaiser Rudolfs II., in: Römische Historische Mitteilungen 29 (1987), S. 338–349, hier S. 348. Colombero (Lemma Colorni, S. 467) weist darauf hin, daß bereits in den 1570er Jahren auch in Mailand vergleichbare Versuche unternommen wurden. Ein jüdischer professore de’ secreti
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rezipierten Abhandlung Bellifortis (1405), in der sich auch – bis heute rätselhafte – Entwürfe einer Rakete finden, mit solchen Waffen beschäftigt.77 Einige Jahrzehnte später skizzierte in Italien Leonardo da Vinci Geschütze, die es ermöglichen sollten, aus mehreren Rohren zu schießen.78 Zu Lebzeiten Colornis beschäftigte sich beispielsweise der Ingenieur Giovanni Battista Isacchi aus Reggio – vermutlich ein getaufter Jude – ebenfalls mit solchen Erfindungen.79 Colorni nahm sich also eines Vorhabens an, das bereits den Ehrgeiz verschiedener Ingenieure und Büchsenmeister geweckt hatte. Die große Herausforderung dabei war nicht die theoretische Konstruktion eines solchen Geschützes. Entscheidend war vielmehr, die Kriegstauglichkeit und Belastbarkeit der Waffe in der Praxis zu gewährleisten und die Gefahren einer Explosion zu minimieren. So wurde mit sog. Streurohren, die mehrere Kugeln aus einem Lauf abfeuerten, zwar bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts auf dem Schlachtfeld experimentiert. Das Buch von kaiserlichen Kriegsrechten (1552) aber gibt einen anschaulichen Bericht, von den Defiziten und Grenzen solcher Waffen. Demnach lädt man in der Theorie »solliche Büchsen […] mit vilen Handbüchsen Kugeln, etwa zwölff oder fünfftzehn auf einmal, und werden also in einer Besatzung gar füglich gebraucht unter die stürmenden, sonderlich in streigwehren [sic]«. Doch in der Praxis »kann mans nit in die weite brauchen; aber in der nähe zerstreuwt es sich und thut großen Schaden.«80 Solche ›Kollateralschäden‹ dürften den Herzog von Ferrara allerdings nicht davon abgehalten haben, in die Entwicklung dieser Waffen zu investieren. Alfonso II. war ein ausgesprochener Waffenliebhaber, wenngleich es ihm zeitlebens an kriegerischen Anlässen mangelte, um sein militärisches Arsenal in der Praxis zu erproben. Der Herzog rief führende Metallurgen, Waffenschmiede und Ingenieure an seinen Hof, er gab neuartige Geschütze in Auftrag und experimentierte mit innovativen Gefechtsaufstellungen.81 Einige unter Alfonso seit den 1560er Jahren entwickelte Waffen, darunter vor allem Musketen, erwiesen sich sogar als wirtschaftlich rentable Exportartikel und wurden beispielsweise von den Venezianern und vom Kaiser angekauft.82 Die Bemühungen des Herzogs auf militärtechnischem Gebiet hingen jedoch 77 78 79
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Lynn White, Medical Astrologers and Late Medieval Technology, in: Viator. Medieval and Renaissance Studies 6 (1975), S. 295–308, hier S. 303. Vgl. Leonardos Skizzen im Codex Atlanticus, fol. 56v-a, abgebildet bei William Barclay Parsons, Engineers and Engineering in the Renaissance, Cambridge/Mass. etc. 1968 [11939], S. 60. Giovanni Battista Isacchi da Reggio, Inventioni di Gio. Battista Isacchi da Reggio nelle quali si manifestano varij secreti & utili avisi a persone di guerra e per i tempi di piacere, Parma: Viotto 1579. Zitiert nach Max Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften, vornehmlich in Deutschland, 3 Bde., München etc. 1889, hier Bd. 1, S. 663. Solerti, Ferrara e la corte estense, S. 19. Niederkorn, Wunderwaffen für die Türkenabwehr, S. 346. Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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nicht nur mit fürstlicher Liebhaberei zusammen. Sie sollten vor allem in den letzten Lebensjahren Alfonsos auch Teil der fieberhaften Bemühungen des Herzogs um die Erhaltung der Dynastie werden. Denn spätestens seit den 1590er Jahren war absehbar, daß Alfonso auch in dritter Ehe nicht den so dringend benötigten männlichen Erben würde zeugen können. Es galt daher, für den (illegitimen) Vetter Cesare d’Este (1552–1628) die Belehnung mit Ferrara vom Papst zu erreichen. Dagegen hing die Belehnung mit Modena und Reggio sowie einigen weiteren kleinen Territorien vom Kaiser ab. Gegen hohe Zahlungen konnte Alfonso im Jahr 1594 den damaligen Kaiser Rudolf II. zumindest in der letzteren Frage auf seine Seite ziehen. Hingegen gelang es dem Herzog weder mit Geld noch mit Worten, den Kaiser dazu zu bewegen, Druck auf den Papst hinsichtlich der Belehnung mit Ferrara auszuüben. Es war daher kein Zufall, daß Alfonso immer wieder versuchte, die Unterstützung des Kaisers durch die Aussicht auf Truppen und die Führung einer Kampagne gegen die Türken zu gewinnen. Auch diese Verhandlungen verliefen jedoch zäh und kamen verschiedentlich ins Stocken. 1596 ließ der Herzog durch einen Gesandten die Verhandlungen mit dem Kaiserhof wieder aufnehmen und bot dem Kaiser nunmehr auch bisher unbekannte Waffentechnologie an. Der Kaiser bekundete Interesse, mußte sich aber per Revers zu völliger Geheimhaltung über diese Technologie verpflichten.83 Die entsprechenden Quellen sind daher ausgesprochen schweigsam. Offenbar verhandelte man über eine Art Arkebusen und Musketen, »die sich den gebräuchlichen gegenüber durch eine drei- bis vierfache Feuergeschwindigkeit auszeichneten und außerdem im Gebrauch zuverlässiger«84 waren. Sie zeichneten sich zudem durch ein bisher unbekanntes Luntenschloß aus, das es erlaubte, sie auch für die Kavallerie zu verwenden.85 Ob sich Colorni – Ingenieur des Ferrareser Herzogs und zu dieser Zeit seit acht Jahren in dessen Auftrag am Kaiserhof – hinter diesem Projekt verbarg oder zumindest involviert war, läßt sich bisher nicht sagen. Ganz abwegig ist diese Vermutung jedenfalls nicht. Die Faszination des jüdischen Erfinders für die Entwicklung von Waffen und martialischem Kriegsgerät hielt jedenfalls bis an das Lebensende an. Noch kurz vor dem Tod Alfonsos II. (1597) stellte er dem Herzog militärische Erfindungen in Aussicht.86 Daß Colorni seine Angebotspalette dabei über die Jahre hinweg weiterzuentwickeln versuchte, belegen seine für die 1590er Jahre nachweisbaren Experimente mit auf giftigen Substanzen beruhenden, ›chemischen‹ Waffen.87 83 84 85 86 87
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Ebd., S. 346–347. Ebd., S. 347. Ebd. Er spricht von »machine et Inventionj […] pertinenti alla guerra«. Siehe seine Provisioni et ordini da osservarsi nel negotio de salnitri in ASMo, ASE, Ingegneri, b. 2. Memoriale di Abraam Colorni [undatiert, für Cesare d’Este], ASMo, ASE, Ingegneri, b. 2. Diese Eingabe ist unveröffentlicht. Siehe zu diesem Vorhabena außerdem ein undatiertes Schreiben Abramo Colornis an Cesare d’Este sowie ein undatiertes Memoriale Colornis für die Republik Ein jüdischer professore de’ secreti
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Angesichts der bisher skizzierten Bandbreite an Diensten, die Colorni bereits in jungen Jahren vorweisen konnte, verwundert es nicht, daß seine Expertise und seine Projekte an verschiedenen Höfen geschätzt wurden und auf Interesse stießen. Für 1581 ist beispielsweise nachweisbar, daß sich Messer Abraam auf Empfehlung der Este am Hofe des Herzogs von Savoyen-Nemours in der Nähe von Turin aufhielt, wo ein explizites Interesse an seinen ›Geheimnissen‹ bestand.88 Bereits 1572 hatte in Novellara Graf Francesco Gonzaga, wie wir gesehen haben, gegenüber den Medici nicht mit Lob für den jüdischen Ingenieur gespart (»di così bel cervello«).89 Auf Interesse stießen Colornis Projekte für ›wundersame Sachen‹ (»cose miracolose«) auch 1584 in der spanischen Lombardei. Leider berichten die dortigen Quellen nicht, worum genau es sich bei den Projekten in Mailand handelte und was daraus wurde.90 In Venedig wiederum wurde Colorni in den 1580er Jahren erlaubt, einen schwarzen anstatt des obligatorischen gelben Judenhutes zu tragen. Außerdem stand dem Gast aus Ferrara in der Serenissima das für Juden seltene Vorrecht zu, für eine Nacht außerhalb des Ghettos wohnen zu dürfen.91 Solche Ausnahmegenehmigungen wurden in der Regel fast nur aus gesundheitlichen Gründen oder an Ärzte vergeben, die zu einer Visite bei einem christlichen Patienten gerufen wurden.92 Die Ausnahmegenehmigung für Colorni spricht also für das Ansehen, das er bei den venezianischen Behörden genoß und das möglicherweise durch Empfehlungsschreiben des Ferrareser Hofes noch verstärkt wurde. Colorni war für die venezianische Obrigkeit im späten 16. Jahrhundert durchaus kein Unbekannter. Seit den 1580er Jahren trat er verschiedentlich mit Projekten an die Serenissima heran. Diese Eingaben kreisten überwiegend um militärische Technologie und Geheimschriften.93 Es läßt sich auch hier nicht rekonstruieren,
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Venedig, abgedruckt bei J-1891, S. 48–49. Zu solchen Waffen in der Frühen Neuzeit siehe auch weiter oben das Kapitel zu Juden und Giften. »[H]o provato di sapere da lui un segreto«, so Jakob II. von Savoyen-Nemours an Alfonso II. d’Este, 4. Mai 1581 (J-1891, S. 22). Francesco Gonzaga an Francesco de’ Medici, 9. Oktober 1572, ASF, Mediceo del Principato, 580, fol. 79r. The Jews in the Duchy of Milan, bearb. von Shlomo Simonsohn, 4 Bde., Jerusalem 1982–1986, hier Bd. 3, Dok. 3896; Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 251. Er durfte seine Herberge jedoch nicht nach der Uhrzeit verlassen, zu der das Ghetto geschlossen wurde. Siehe die »licentia à Abram Colorni hebreo ferrarese« vom 12. Februar 1587, ASV, Ufficiali al Cattaver, b. 243, fol. 65r. Benjamin Ravid, New Light on the Ghetti of Venice, in: Daniel Carpi et al. (Hg.), Shlomo Simonsohn Jubilee Volume. Studies on the History of the Jews in the Middle Ages and Renaissance Period, Tel Aviv 1993, S. 149–176, hier v. a. S. 161. Siehe ein nicht näher datiertes Schreiben Colornis in Sachen Scotographia an den venezianischen Botschafter in Prag [Dezember 1591] bei J-1891, S. 33–34 sowie ein gänzlich undatiertes Memoriale zu Waffentechnologie ebd., S. 49. Bei meinen eigenen Recherchen in Wien fand sich zudem ein bisher unbekanntes Exposé Colornis zu »alcune inventioni, et stratageme di molto valore in Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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was aus diesen Vorhaben im einzelnen wurde. Colornis Kompetenz im Umgang mit Geheimnissen wurde auf venezianischer Seite jedenfalls geschätzt.94 Auch vor diesem Hintergrund muß seine Befreiung von den demütigenden Kleidungs- und Wohnvorschriften für Juden gesehen werden. Es ist bezeichnend, daß einige Jahrzehnte später eine solche Ausnahmegenehmigung erneut an einen Juden vergeben wurde, der dezidiert in der Ökonomie des Geheimen operierte. Gemeint ist der weiter oben bereits erwähnte jüdische Chemikalienproduzent Gioseffo Sarfatti (Nacaman), von dessen »secreti« sich die Serenissima ebenfalls viel versprach.95 Im Umkreis der Höfe von Mantua und Ferrara genoß Colorni ohnehin großes Ansehen. So sind beispielsweise Gedichte auf Colorni aus der Feder einheimischer christlicher Zeitgenossen ebenso überliefert wie das Lob durch den namhaften zeitgenössischen Schriftsteller Alessandro Tassoni (1556–1635).96 Den größten Lobredner und Bewunderer hatte Colorni jedoch ausgerechnet in dem bereits kurz erwähnten Kirchenmann Tomaso Garzoni (1549–1589): Ein an Colorni gerichtetes Sonett in der Piazza universale legt hiervon ebenso Zeugnis ab wie ein langer, dem Werk vorangestellter Brief an den jüdischen Ingenieur.97 Über Garzonis Leben ist nicht allzu viel bekannt. Der Kanoniker aus Bagnacavallo, einem kleinen Ort unweit von Ferrara, ist vor allem als Schriftsteller in Erinnerung geblieben. Sein Hauptwerk, die Piazza universale, war eine Art Enzyklopädie der Berufswelt des späten 16. Jahrhunderts.98 Erstmals erschien das
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tempo di guerra«. Dieses Dokument und das darauf Bezug nehmende Schreiben Colornis vom 21. November 1592 handeln v. a. von Geheimschriften sowie von der Pulver- und Salpeterherstellung. Siehe HHStA, Staatenabteilung, Italien, Venedig, Dispacci di Germania 19, fol. 316r–321r. So leitete der nach Prag entsandte venezianische Botschafter Giovanni Dolfin, der ein erklärter Skeptiker der ›wundersamen Künste‹ (»scienze miracolose«) am rudolfinischen Kaiserhof war, mehrfach geheimnisvolle Eingaben Colornis zur Prüfung an die venezianische Obrigkeit weiter. Siehe v. a. ein Schreiben Dolfins vom 8. Dezember 1592 in HHStA, Staatenabteilung, Italien, Venedig, Dispacci di Germania 19, fol. 316r. Vgl. auch ein Schreiben Dolfins vom 10. Dezember 1591 bei J-1891, S. 33. Siehe das Kapitel zu Alchemie. Vgl. die Vorreden zu Colornis unveröffentlichter Euthimetria (Hs. Wolfenbüttel). Unter den (von mir nicht näher identifizierten) Verfassern von Lobgedichten auf das Werk und seinen Autor sind Francesco Zorli, Francesco Maselli sowie ein gewisser »Signor Cinthio«. Siehe auch Tassoni, Pensieri, Buch X, Kap. 18, S. 892. Zu Colornis Erwähnung im Werk Tassonis siehe auch weiter unten. Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 16–22 Zum Œuvre Garzonis siehe den nützlichen Überblick bei Paolo Cherchi, Enciclopedismo. Politica della riscrittura: Tommaso Garzoni, Pisa 1980; vgl. auch den ohne Herausgeberangabe erschienenen Band Tomaso Garzoni. Uno zingaro in convento, Ravenna 1990; sowie Italo Michele Battafarano (Hg.), Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit, Bern etc. 1991. Speziell zur Piazza universale siehe jetzt vor allem George W. McClure, The Culture of Profession in Late Renaissance Italy, Toronto etc. 2004; Massimiliano Rossi, Strukturelle Ein jüdischer professore de’ secreti
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Werk 1585, seit der zweiten Auflage 1587 enthielt es die Vorrede und das Gedicht an Colorni. Das dickleibige, jedoch oft unterhaltsame Opus bot im wahrsten Sinne des Wortes ein universales Tableau. Es handelte – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – von Geistlichen und Prostituierten ebenso wie von Handwerkern und Ganoven. Ein solches Kompendium war damals einzigartig. Es kann nicht verwundern, daß die Piazza binnen weniger Jahre zu einem regelrechten ›Bestseller‹ in ganz Europa werden sollte. Allein für Italien lassen sich bis ins 17. Jahrhundert über zwanzig Auflagen nachweisen.99 Im deutschsprachigen Raum wurde die Piazza zu einem der einflußreichsten italienischen Bücher dieser Epoche.100 Im 17. Jahrhundert benützten manche Schulen das Werk sogar als Lehrstoff.101 Zwar enthielten nicht mehr alle postumen Ausgaben und Übersetzungen des Werkes die Vorrede an Colorni, da einige Verleger und Übersetzer das monumentale Werk generell um alle persönlichen Einlassungen Garzonis kürzten.102 Dennoch kursierten ältere Ausgaben mit der Vorrede an Colorni weiterhin und erfuhren somit eine Rezeption. Die Wirkung von Garzonis Lobrede auf Colorni sollte daher nicht unterschätzt werden. Noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts griffen, wie noch auszuführen sein wird, italienische Dichter ebenso wie ein bedeutender niederländischer Rabbiner auf Garzonis Eloge zurück, um sich dem Phänomen Colorni anzunähern. Colornis Name zähle zu den berühmtesten in Italien, schrieb Garzoni voller Enthusiasmus über den jüdischen Zeitgenossen.103 Was veranlaßte einen katholischen Geistlichen im Zeitalter der Gegenreformation zu einer solchen Lobrede auf einen Juden? Diese Frage läßt sich nicht mit letzter Gewißheit beantworten. Zunächst einmal war es nicht abwegig, in einer auf Universalität abzielenden Gesamtschau der damaligen Berufswelt mit einer Eloge auf den jüdischen Zeitge-
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Eigenschaften und Modelle in der moralischen Enzyklopädie des Tommaso Garzoni (1549–1589), in: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994, S. 349–370; Lore Kimmel, »La Piazza Universale di tutte le professioni del Mondo« (1585) von Thomaso [sic] Garzoni und die spanische Übersetzung und Umarbeitung in »Plaza Universal de todas ciencias y artes« (1615) von Christóbal Suarez de Figueroa, Inaugural-Diss. Ludwig-Maximilans-Universität München, München 1968. Bronzini geht im Nachwort zu der hier benützten Edition der Piazza universale von mindestens 15 italienischen Ausgaben bis zum Jahr 1665 aus, S. 1195–1231. Rossi zählt 25 italienische Ausgaben bis ins Jahr 1675. Siehe Rossi, Strukturelle Eigenschaften, S. 349. Kimmel nennt 27 italienische Auflagen (offenbar für das gesamte 17. Jahrhundert), siehe Kimmel, La Piazza Universale, S. 1. Italo Michele Battafarano, L’opera di Tomaso Garzoni nella cultura tedesca, in: Tomaso Garzoni. Uno zingaro in convento, Ravenna 1990, S. 35–79. Vgl. auch Kimmel, die deutsche Ausgaben für die Jahre 1619, 1626, 1641 sowie 1659 nachweist (allesamt gedruckt in Frankfurt am Main). Kimmel, La Piazza Universale, S. 2. Battafarano, L’opera di Tomaso Garzoni. Vgl. Kimmel, La Piazza Universale, S. 68. »[Il] vostro nome celebre hormai per tutte le parti d’Italia.« Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 17. Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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nossen Colorni zu beginnen – einem Zeitgenossen, der in der Tat ein Universalist par excellence war. In jedem Fall war Garzonis Panegyrik auf »maestro Abramo carissimo«104 nicht ohne Hintersinn. Denn durch die gesamte Eloge auf Colorni zog sich als Leitmotiv die Aufforderung zur Taufe.105 Es ist daher vermutet worden, daß dieser an prominenter Stelle im Werk plazierte Bekehrungsversuch ein Gegengewicht zu einigen aus kirchlicher Sicht fragwürdigen Stellen des Werkes bildete.106 Diese These ist plausibel, dennoch würde es zu kurz greifen, hinter Garzonis Lobesrede nur rhetorisches Kalkül zu vermuten. Immerhin deutet vieles darauf hin, daß zwischen dem Kanoniker aus Bagnacavallo und dem Mantuaner Juden auch ein – vorsichtig gesprochen – freundschaftliches Band existierte. Der Kontakt zu Colorni könnte sich zunächst über Garzonis vorsichtiges und ambivalentes Interesse an der Kabbala ergeben haben.107 Briefe, die zwischen Colorni und Garzoni gewechselt wurden, existieren in der Tat, wobei ein Schreiben des Kirchenmannes mit der Schlußfloskel ›Ich küsse Ihre Hand‹ (»le bascio la mano«) endet, die gegenüber Juden durchaus ungewöhnlich war.108 Auch in der Piazza universale sprach Garzoni ausdrücklich von seiner »affettione« für Colorni.109 Garzoni soll sogar eine Vita Colornis verfaßt oder zumindest vorbereitet haben, die jedoch nicht gedruckt wurde und deren Handschrift – falls sie existiert hat – heute als verschollen gelten muß.110 Gleichwohl ist die Piazza universale nicht die einzige Quelle zu Colorni in Garzonis erhaltenem Œuvre. Bereits in seiner Sinagoga de gl’ignoranti (1589) kündigt Garzoni an, in seinem nächsten, der Magie gewidmeten Buch auf Colorni in seiner Eigenschaft als Magus eingehen zu wollen.111 Mit diesem projektierten Buch war der Serraglio de gli stupori del mondo (1613) gemeint, eine umfangreiche Abhandlung über die Welt der Wunder und der Magie. In der Tat löste der Autor seine Ankündigung ein und widmete in dem postum erschienenen Werk dem jüdischen Zeitgenossen Colorni erneut einen schmeichelhaften Abschnitt.
104 Ebd., S. 18. 105 Ebd., v. a. S. 17–19. Auch in seiner Vorrede zu Colornis Chirofisionomia (Hs. Wolfenbüttel, o. S.) spielt Garzoni auf eine mögliche Taufe und die »via della salute« an. 106 So die Interpretation von George W. McClure, The Culture of Profession, S. 83. 107 Siehe zum Beispiel Garzonis ausführliches Kapitel »De’ cabalisti« (Discorso 29) in der Piazza universale. 108 Risposta alla soprascritta lettera fatta dal molto Reverendo Padre Predicatore Don Tomaso da Bagnacavallo [1588] als Vorrede zur Chirofisionomia (Hs. Wolfenbüttel, o. S.). 109 Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 17. 110 Dies geht aus einer der gedruckten Randbemerkungen hervor, die sich erstmals in der zweiten Ausgabe der Piazza universale finden (1587). Erwähnt wird hierbei eine Vita Colornis aus Garzonis Feder, in der »tutte queste cose sono esplicate meglio«. Piazza universale, Anhang, Bd. 2, S. 1205. 111 Tomaso Garzoni, La sinagoga de gl’ignoranti, Venedig: Somasco 1589, S. 202.
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Und wie stand es um Colornis Ruf unter den jüdischen Zeitgenossen? Der jüdische Arzt und Mathematiker Rafael Mirami aus Ferrara äußerte, wie bereits erwähnt, explizit seine Wertschätzung für Colorni, den er einen »raro ingeniero [sic] della età nostra« nannte.112 Mit dieser Wertschätzung war Mirami nicht alleine, wie wir auch weiter unten noch sehen werden. Als besonders aufschlußreich erweist sich in diesem Kontext eine Rekonstruktion der Familienverhältnisse. Lange Zeit wurde angenommen, daß die früheste Nachricht über Abramos Ehe mit einer gewissen Violante aus dem Jahre 1577 datiert.113 Aus dieser Ehe gingen nachweislich mindestens zwei Kinder hervor. In den Quellen begegnet vor allem der Sohn Simone, von dem weiter unten noch ausführlich die Rede sein soll. Über die Tochter namens Colomba ist hingegen nur Bruchstückhaftes bekannt. Sie heiratete einen Geldverleiher namens Gabriele Fattorino, der allerdings in jungen Jahren starb. Colomba blieb mit vier minderjährigen Kindern zurück und lebte später offenbar zeitweise wieder im Haus ihrer Eltern.114 Über die Herkunft von Colornis Gattin wußten ältere Studien gar nichts zu sagen; auch die entsprechenden Mantuaner Akten schweigen diesbezüglich. Der entscheidende Mosaikstein kommt in diesem Fall aus der Toskana.115 In dortigen Quellen läßt sich nachweisen, daß Violante eine der Töchter des bedeutenden Geldverleihers und angesehenen Gelehrten Vitale (Yechiel) Nissim da Pisa war. Sie wurde mit einer relativ bescheidenen Mitgift von 300 Scudi Mitte der 1560er Jahre an »Abramo di Salomone Colorni« nach Mantua verheiratet.116 Es kann dies nur unser Ingenieur Abramo Colorni sein.117 Über die Ehegattin ist dadurch zwar nach wie vor nur wenig gesagt, um so mehr aber wissen wir über den illustren Schwiegervater Yechiel Nissim da Pisa (ca. 1493–1574). Er ist heute auch als Autor einer Abhandlung über das Geldleihgeschäft bekannt. Der sehr wohlhabende Yechiel profilierte sich darüber hinaus als ein vielseitig gebildeter Gelehrter, der zeitlebens und auf zahlreichen Gebieten Werke verfaßte.118 Vor allem widmete er sich religiösen und kabbalistischen 112 113 114 115
Mirami, Compendiosa Introduttione, S. 45. V. Colorni, Genealogia della famiglia Colorni, S. 645, Anm. 37. Siehe die Archivfunde von Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 33–34. Ich habe darauf erstmals hingewiesen in meiner Studie Abramo Colorni, jüdischer Hofalchemist, S. 448–450. 116 Michele Luzzati, La casa dell’ebreo. Saggi sugli ebrei a Pisa e in Toscana nel Medioevo e nel Rinascimento, Pisa 1985, S. 257, Anm. 114. 117 Vgl. die Frage in kommenden Möglichkeiten bei V. Colorni, Genealogia della famiglia Colorni, S. 650. Ich habe diesen Nachweis erstmals in meiner Studie Abramo Colorni, jüdischer Hofalchemist geführt (S. 448–450). 118 Zu ihm jetzt auch Alessandro Guetta, Religious Life and Jewish Erudition in Pisa, S. 86–108. Die Forschung zu Yechiel ist beträchtlich. Für weiterführende Literatur vgl. auch Michele Luzzati, Prestito ebraico e studenti ebrei all’università di Pisa, in: Ders., La casa dell’ebreo. Saggi sugli ebrei a Pisa e in Toscana nel Medioevo e nel Rinascimento, Pisa 1985, S. 108–124, hier S. 118. Zu den Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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Fragen, wobei er philosophische Auffassungen und ihre Vertreter teilweise scharf kritisierte. Die Gastfreundschaft, die er in den 1520er Jahren in der Toskana dem David Reuveni, einem mysteriösen jüdischen Gesandten aus der Wüste Chabor, gewährte, ist gut dokumentiert.119 Unter finanziellen Gesichtspunkten dürfte für die Familie da Pisa ein Mitglied der Familie Colorni – wie aus den finanziellen Konditionen der Heirat ersichtlich wird120 – eine eher »mäßige« Partie gewesen sein. Es bleibt also die Frage, ob das Prestige Abramo Colornis für die Heiratsentscheidung den Ausschlag gab. In der Tat haben wir gesehen, daß Colornis Ruf wenig später bis an den Hof der Medici drang. War der Schwiegervater Yechiel Nissim da Pisa, der große Kabbalist, fasziniert von den vielseitigen Talenten Colornis in der Ökonomie des Geheimen? Ebenfalls wäre zu untersuchen, ob es einen Zusammenhang zwischen Colornis Kontakten nach Ferrara und den späten Lebensjahren Yechiels gibt. Denn Yechiel hatte die Toskana Ende der 1560er Jahre wegen der dort verschärften Gesetzgebung für jüdische Geldverleiher verlassen und lebte bis zu seinem Tod um 1574 in Ferrara. Die mit der Heirat besiegelte Beziehung zwischen einer der reichsten jüdischen Familien der Toskana und den Colornis zu Mantua verdient eine nähere Erforschung. Ebenfalls bleibt es ein Desiderat zu erfahren, inwieweit Yechiel Nissim da Pisa intellektuellen Einfluß auf die Laufbahn des jungen Abramo Colorni ausübte. Anzunehmen ist allemal, daß Colorni die bedeutende Bibliothek seines Schwiegervaters kannte.121 Die verwandtschaftlichen Bande in die Toskana erklären jedenfalls, weshalb Colorni zumindest in den 1570er Jahren immer wieder längere Zeiträume in Florenz verbrachte. Dies geht aus einer Episode hervor, die zudem darauf hindeutet, daß sich Colorni mit seiner Expertise in der toskanischen Judenschaft nicht nur Freunde machte. Ausgangspunkt der fraglichen Ereignisse war ein Streit, der sich Familienverhältnissen: Menachem E. Artom/Aron Leoni, Lemma Pisa, da (family), in: EJ, Bd. 16, S. 184–185. sowie David Kaufmann, Ein Jahrhundert aus der Geschichte der Familie Jechiel von Pisas, in: Gesammelte Schriften von David Kaufmann, hg. von Markus Brann, 3 Bde., Frankfurt am Main 1910, hier Bd. 2, S. 257–276. 119 Sippur David ha-Reuveni, hg. von Aaron Zeev Aescoly, Jerusalem 21993. 120 Vgl. Stefanie B. Siegmund, The Medici State and the Ghetto of Florence. The Construction of an Early Modern Jewish Community, Stanford 2006, S. 356. Siegmund zählt die Familie da Pisa zur finanziellen »super elite« unter den damaligen toskanischen Juden. Bei Heiraten von Mitgliedern der Familie da Pisa betrug die Mitgift in der Regel mehr als 1.000 scudi, erreichte also ungefähr die beim lokalen Adel üblichen Größenordnungen. 121 Aus diesen Beständen tätigte nach Yechiels Tod zum Beispiel der bedeutende Azaria de’ Rossi einige Erwerbungen. Vgl. David Kaufmann, Zur Geschichte der Kämpfe Asarja deï Rossis, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Markus Brann, 3 Bde., Frankfurt am Main 1910, hier, Bd. 3, S. 83–95, hier S. 86.
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1575 in dem erst wenige Jahre zuvor errichteten Ghetto zu Florenz ereignete.122 Damals wurde ein Badehaus, das wohl auch als Mikve dienen sollte, im Ghetto gebaut.123 Colorni übte – wohl aus seiner Sicht als Ingenieur – Kritik an der Ausführung dieses Bauvorhabens und zog sich damit den Unmut des Ghettovorstehers Giuseppe Ursi (Iosef d’Orso Tedesco) zu. Es kam unter den Augen von Bewohnern des Ghettos zu einem hitzigen Streit. In dessen Verlauf bezeichnete Colorni den Ghettovorsteher als einen ›schändlichen Mann und Sodomiten, der mit seiner eigenen Tochter geschlafen habe‹ (»che era un vituperoso et un soddomito et che haveva usato et dormito col sua figliuola«). Daraufhin veranlaßte Ursi die Verhaftung Colornis und zog vor Gericht. Im Oktober 1575 entschieden die Richter, daß der Mantuaner Jude für ein Jahr aus der Stadt Florenz verbannt werde. Doch so eindeutig wie die Schimpfworte Colornis war die Schuldfrage bei näherer Betrachtung offenbar doch nicht. Bereits im Januar 1576 wurde der Bann gegen den jüdischen Ingenieur wieder aufgehoben, nunmehr wandte sich Colorni seinerseits an das Gericht und beklagte sich darüber, daß Ursi und dessen Freunde ihm das Leben schwermachten. Wir wissen nicht, wie der Fall ausging. Unbestreitbar ist, daß Colorni mit seinen überaus ehrrührigen Beschimpfungen zu einer Eskalation des Streits beigetragen hatte. Eigentliche Ursache war wohl eher die Unfähigkeit des Ghettovorstehers Ursi, mit der vom Ingenieur Colorni geäußerten und sachlich vermutlich fundierten Kritik an den Bauarbeiten umzugehen. Es wäre dies nicht die einzige Charakterschwäche Ursis: Er steht in dem Verdacht, wenige Jahre zuvor die Juden in Perugia bestohlen zu haben.124 Langfristig geschadet hat der Streit dem Ansehen Colornis jedenfalls nicht – weder unter Juden noch unter Christen. Und daß er deswegen eine kurze Zeit im Gefängnis verbrachte, konnte ihm – wie wir noch sehen werden – später sogar noch als Vorteil angerechnet werden.
122 Alle Angaben hier nach Siegmund, The Medici State, S. 280; S. 215. In den von Siegmund zitierten Quellen (Gerichtsakten) ist lediglich von einem »Abramo di Salamone da Mantova« die Rede. Ich danke Frau Professor Siegmund (New York) für eine entsprechende Auskunft. Daß es sich tatsächlich um Abramo Colorni handelt, geht indes aus einem Vermerk in den Akten der Nove conservatori del Contado hervor (ASF, Nove conservatori del Contado, filza 16, fol. 12). Dort ist im diesbezüglichen Kontext die Rede von »Abramo da colorna [sic] hebreo«. Mein herzlicher Dank für die Mitteilung dieser Quelle gilt Frau Dr. Lucia Frattarelli Fischer (Livorno). 123 In den Quellen ist die Rede von einem »bagno comune ordinato nel ghetto delli hebrei«. Vgl. ebd., S. 515. 124 Vgl. ebd., S. 367. Geheime Projekte, öffentliche Berühmtheit
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Mit Geheimnissen rechnen. Mathematik, Mechanik und Meßkunst Colornis Ruf hatte sich, wie wir sahen, schon in jungen Jahren an Höfen in ganz Italien verbreitet. Wie war dies möglich? Eine bereits angedeutete Erklärung ist, daß Colorni einige der von ihm angebotenen Maschinen und Erfindungen in der Praxis tatsächlich zu realisieren vermochte. Schon 1572 hatte Francesco Gonzaga in einem Schreiben an die Medici die Funktionstüchtigkeit und den praktischen Nutzen einiger Erfindungen Colornis hervorgehoben. Er bezog sich dabei namentlich auf Waffen und Brückenkonstruktionen.125 Es gibt insbesondere Indizien für die Herstellung der von Colorni ersonnenen kunstvollen Stichwaffen.126 Ob dies ebenfalls für die Kriegsmaschinen zutrifft, bleibt offen. Weniger ehrgeizig und daher wohl auch leichter zu realisieren waren jedenfalls die zur friedlichen Nutzung gedachten Maschinen des Erfinders Colorni. So entwarf er für den von der Gicht geplagten Herzog von Savoyen-Nemours bequeme Gefährte (möglicherweise in der Art des heutigen Rollstuhls).127 Colorni zählte nicht zu jenen frühneuzeitlichen Erfindern, deren Maschinen einzig durch Kühnheit zu bestechen versuchten und daher lediglich in prachtvollen Foliobänden zu bestaunen waren. Zu letzeren Werken zählten damals die sog. Maschinenbücher, die in der Frühen Neuzeit ein beliebtes Genre bildeten.128 Sie zeigten in großem Detail die abenteuerlichsten Erfindungen und martialischsten Kriegsgeräte, bekümmerten sich aber oftmals kaum um deren Praxistauglichkeit.129 Colorni hat mit der Euthimetria ebenfalls eine Art Maschinenbuch verfaßt, jedoch erst in den 1580er Jahren. Colorni war zwar in mancher Hinsicht ein ›Projektemacher‹ und Maschinenmeister im frühneuzeitlichen Sinn, aber er hatte sich – auf welchem Weg auch immer – bereits früh das technische know-how angeeignet, um einen Teil seiner 125 Francesco Gonzaga an Francesco de’ Medici, 9. Oktober 1572, ASF, Mediceo del Principato, 580, fol. 79r–v. 126 Ebd. ist die Rede von »spiedi e spade secrete«. Garzoni erwähnt über ein Jahrzehnt später Colornis »cortelli damaschini col marizzo perfettissimo di vostra inventione«. Piazza universale, Bd. 1, S. 21. In der Tat läßt sich nachweisen, daß Colorni einige Jahre später (1598) eine Sendung mit solchen Waffen an den Kaiserhof schickte. Siehe ein Schreiben Colornis aus Stuttgart an Aderbale Manerbio in Prag, 8. Februar 1598, ASMn, AG, b. 475, fol. 436r–438r. 127 Jakob II. von Savoyen-Nemours an Alfonso II. d’Este, 4. Mai 1581 (J-1891, S. 22). 128 Ein Klassiker ist beispielsweise Fausto Veranzio, Machinae novae Fausti Verantii Siceni cum declaratione Latina, Italica, Hispanica, Gallica et Germanica, Venedig 1595 [Faksimile Zagreb 1993]. Zur Ingenieurskunst in der Frühen Neuzeit vgl. auch weiter oben das Kapitel zu ziviler und militärischer Technologie. 129 Eberhard Knobloch (Hg.), L’art de la guerre. Machines et stratagèmes de Taccola, ingénieur de la Renaissance, Paris 1992, S. 207 (Kommentarteil). Sehr kritisch zur Realisierbarkeit vieler mechanischer Erfindungen ist auch Gille, Engineers of the Renaissance, S. 12.
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Projekte tatsächlich zu realisieren. Vielleicht war dies einer der Gründe, weshalb ein gewisser Sinn für das Realisierbare das – bisher fast vollkommen unerforschte – Maschinenbuch Colornis, die Euthimetria, prägte.130 Ganz seiner Zeit verpflichtet ist Colorni zwar, wenn er in der Einleitung von wundersamen Maschinen (»meravigliose machine«), Bauten (»edefitij«) und Instrumenten (»instromenti«) schwärmt. Einschränkend stellt er aber fest, daß solche Projekte ohne profunde Kenntnisse der Mathematik phantastische Entwürfe bleiben müssen. Den Handwerken und Künsten, namentlich den edlen Berufen des Ingenieurs und Maschinenmeisters (»nobilissime professioni«), drohe gar der Ruin, wenn sie auf eine Fundierung durch die Mathematik verzichteten.131 Fraglos waren solche Topoi Teil einer damals verbreiteten Rhetorik. Colorni befand sich mit seinem Plädoyer ganz auf einer Linie mit all jenen, die eine stärkere Mathematisierung des Ingenieursberufs forderten. So definierte beispielsweise einige Jahrzehnte später der deutsche Festungsbaumeister und Autor Johann Faulhaber (1580–1635) in seiner Ingenieurs Schul (1633) den idealen Ingenieur als »ein[en] Bevöstigungs vnd Kriegs Bawmeister, der ein scharpff Ingenium hat [und] in Arithmeticis schier eine vollkommene Experienz, auch in Geometria, Mathematica und Mechanica eine lang practicirte erfahrung / so wol in Artillerie und Büchsenmeisterey aufs wenigst eine Theoretische Wissenschaft haben [muß]«.132 All dies trifft auf Colorni augenscheinlich zu – wenngleich er die Rolle des Magus deswegen nie abgelegt hat. Colorni beließ es in der Euthimetria nicht bei den hier erwähnten Absichtserklärungen. Wie in der Einleitung angekündigt, zieht sich die Mathematik als roter Faden durch die ganze Abhandlung. Weniger in theoretischer Manier – das hatte Colorni vermutlich in seinen heute verschollenen Tavole mathematiche geleistet133 – als vielmehr in Form der praktischen Nutzanwendung. Es fällt jedenfalls auf, daß fast alle der von Colorni in der Euthimetria vorgestellten Erfindungen um Fragen der mathematischen Erfaßbarkeit der Wirklichkeit und speziell um das Messen kreisen. Bereits der Titel des Werkes weckt Assoziationen mit der Mathematik. Colorni bot sein Wissen über Maschinen nicht in Form eines theatrums dar, sondern entschied sich bei der Titelgebung mit dem Wort Euthimetria für einen seltenen Begriff, der in der Frühen Neuzeit vereinzelt als Bezeichnung für die
130 Zur Überlieferung der Hs. Wolfenbüttel siehe weiter unten. Die m. W. bisher einzigen inhaltlichen Annäherungen an das Werk sind die Ausführungen von Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 54–62, sowie die knappe Skizze bei Eileen Reeves, Galileo’s Glassworks. The Telescope and the Mirror, Cambridge/Mass. 2008, S. 86–88. 131 Euthimetria, fol. 12v. 132 Zitiert nach Ulrich Troitzsch, Erfinder, Forscher und Projektemacher. Der Aufstieg der praktischen Wissenschaften, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln etc. 2004, S. 439–464, hier S. 444. 133 Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 21. Mit Geheimnissen rechnen
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Wissenschaft von den (geraden) Linien verwendet wurde.134 Nicht zuletzt durch die Wahl des Titels weist Colornis Abhandlung Berührungspunkte beispielsweise mit der zu dieser Zeit noch unveröffentlichten Schrift Operatione della linea des Girolamo Cardano auf.135 Ausführlich stellt der jüdische Ingenieur im Verlauf der Abhandlung verschiedene Instrumente zum Messen vor und entwickelt eine Technik zur Messung von Entfernungen mittels Spiegeln.136 Darüber hinaus greift er ein Projekt auf, mit dem sich bereits Vitruv und Alberti beschäftigt hatten. Es handelt sich um einen mechanischen Wegmesser, in diesem Fall ein Gerät, das die zurückgelegte Strecke einer Kutsche mißt.137 Die Konstruktion eines solchen Hodometers bedurfte gründlicher Kenntnisse der Mechanik.138 Daß Colorni dieses Wissen zu Recht für sich beanspruchen und sein Vorhaben in der Tat realisieren konnte, geht aus einem Zeugnis hervor, das wir dem Zeitgenossen Alessandro Tassoni (1556–1635) verdanken. Der in Modena geborene Tassoni erwarb sich großes Ansehen als Schriftsteller, Diplomat und Sekretär verschiedener Fürsten und Kardinäle. Daß er über die Tätigkeiten des jüdischen Hofingenieurs im Bilde war, hängt wohl vor allem mit seinen Beziehungen zur Herzogsfamilie Este zusammen: Glaubhaft jedenfalls wußte Tassoni in seinen vielfach aufgelegten Pensieri (1612) zu berichten, daß Colorni Kutschen mit Wegmessern konstruiert habe.139 Die einzige erhaltene Handschrift von Colornis Euthimetria befindet sich heute in Wolfenbüttel.140 Dieses Exemplar, über dessen Provenienz nichts bekannt ist, dürfte zu beträchtlichen Teilen ein Autograph sein. Es handelt sich um eine vorläufige und fragmentarische Fassung, die noch nicht ins reine geschrieben ist und zahlreiche handschriftliche Ergänzungen und Streichungen enthält. Mit der Einteilung der Kapitel experimentierte der Autor ebenfalls noch, zudem feh134 Aquilino Bonavilla/Marco Aurelio Marchi, Dizionario etimologico di tutti i vocaboli usati nelle scienze, arti e mestieri che traggono origine dal greco, Mailand 1820. Dort heißt es 1820 im Lemma Eutimetria/Euthimetria (Bd. 3, S. 248): »Nome che alcuni geometri danno a quella parte della geometria che risguarda semplicemente le linee rette.« 135 Girolamo Cardano, Operatione della linea, in: Opera omnia, 10 Bde., Lyon 1663 [Faksimile Stuttgart–Bad Cannstatt 1966], Bd. 4, S. 602–620. 136 Euthimetria, 4. Buch. 137 Ebd., 1. Buch, Tl. 1–2. 138 Zur Funktionsweise vormoderner Hodometer vgl. jetzt auch Wolfgang Bürger, Physikalische Unterhaltungen, in: Spektrum der Wissenschaft 2 (2004), S. 102–103 (mit Abbildungen). 139 »Questi strumenti da mostrare in una carrozza da campagna quante miglia si fanno e che tempo ci corre Abram Colornio [sic] ebreo ha professato di saperli fare a’ di nostri«, so Tassoni, Pensieri, Buch X, Kap. 18, S. 892. 140 Euthimetria / d’Abramo Colorni Hebreo Mantovano / Ridotta in facilissima pratica, et divisa in sei libri. HAB Wolfenbüttel, Cod.-Guelf. 14.8. Aug. 4°. Die Hs. beginnt mit einigen Sonetten verschiedener italienischer Dichter sowie einem Inhaltsverzeichnis. Vgl. auch Otto von Heinemann, Die Handschriften der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, II. Abt., Bd. 4, Wolfenbüttel 1900, S. 182.
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len auf den insgesamt 215 Blättern einige der Kupferstiche, die als Illustrationen beigegeben werden sollten. Es bleibt unklar, weshalb die Euthimetria niemals gedruckt wurde. Ein entsprechendes Druckprivileg hatte Colorni bereits 1580 von den Gonzaga erhalten.141 Über ein Jahrzehnt später erteilten ihm auch die Medici in der Toskana eine entsprechende Erlaubnis.142 Colornis Euthimetria – von der auch eine lateinische Fassung existiert haben muß143 – wäre eine Bereicherung auf dem Markt für gedruckte Maschinenbücher gewesen. Zudem gab es insbesondere für die verschiedenen (Meß-)Instrumente, die Colorni vorstellte, eine handfeste Nachfrage – sei es in der Schiffahrt oder in der Kartographie.144 Auch der Abschnitt über die Messung mit Spiegeln hätte in einem Zeitalter, das von der technischen Nutzbarkeit von Produkten der Glasindustrie fasziniert war, mit vielen Interessenten rechnen können.145 Bezeichnenderweise war der Naturforscher und Philosoph Giovanni Battista Hodierna (1597–1660), der einige Jahrzehnte später sogar von einem ›kristallenen Jahrhundert‹ (»secolo cristallino«) sprach, mit Colornis Namen vertraut.146 In der Tat entsprachen insbesondere Colornis ausführliche Beschreibungen zu Spiegeln im späten 16. Jahrhundert ganz den (experimentellen) Interessen der Zeit. Die Euthimetria wies in den entsprechenden Abschnitten auffallende Berührungspunkte zu den Experimenten auf, die beispielsweise Galileo, Della Porta und der Engländer Thomas Digges um die Wende zum 1600 mit Linsen und Spiegeln durchführten und die letztlich zur Erfindung des Teleskops beitrugen. Es ist daher – zu Recht – sogar darüber spekuliert worden, ob Galileo mit der Euthimetria vertraut war.147 Im Unterschied zur Euthimetria ist die erwähnte, zur selben Zeit von Colorni verfaßte Abhandlung mit dem Titel Tavole mathematiche ganz verlorengegangen.148 Es handelt sich möglicherweise um dasselbe Werk, das in den 1590er Jahren bei 141 142 143 144
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Vgl. das Privileg des Herzogs Guglielmo Gonzaga aus dem Jahr 1580 (J-1891, S. 21). ASF, Pratica segreta, filza 73, fol. 155r–v; sowie filza 189, fol. 189r–v [1592]. Notiz [Colornis?] o. O. u. D. [1592], ASF, Auditore delle riformagioni, filza 18, fol. 954r. Zur Wissenschaft des Messens und zur damit verwandten Kartographie in der Frühen Neuzeit vgl. Jim Bennett, The Mechanical Arts, in: Katharine Park/Lorraine Daston (Hg.), Early Modern Science (= The Cambridge History of Science, Bd. 3), Cambridge 2006, S. 673–695, hier S. 686–693. Siehe auch die wohlwollenden Bemerkungen über die Euthimetria in Miramis Compendiosa Introduttione alla prima parte della specularia (1582), v. a. S. 45. Zum Interesse der Zeitgenossen an optischen Instrumenten, vor allem zum Zwecke der Distanzenmessung, siehe jetzt v. a. Reeves, Galileo’s Glassworks. Denn er besaß ein Exemplar von Miramis Compendiosa Introduttione. Vgl. Mario Pavone, Introduzione al pensiero di Giovanni Battista Hodierna. Filosofo, matematico e astronomo dei primi Gattopardi, 2 Bde., Modica 1981/1982, hier Bd. 2, S. 373. Eileen Reeves, Occult Sympathies and Antipathies. The Case of Early Modern Magnetism, in: Wolfgang Detel/Claus Zittel (Hg.), Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit. Ideals and Cultures of Knowledge in Early Modern Europe, Berlin 2002, S. 97–114, hier S. 103. Die »profondissime Tavole Mathematiche« werden nur von Garzoni erwähnt (Piazza universale, Bd. 1, S. 21). Mit Geheimnissen rechnen
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den Vorbereitungen einer Art Gesamtausgabe von Colornis Werken als Arithmetica bezeichnet wurde. Über den Inhalt dieser Arithmetica ist leider wenig mehr bekannt, als daß Colorni sich darum bemühte, sie in Prag drucken zu lassen. Wir wissen lediglich, daß es sich um ein Werk mit verschiedenen ›Regeln‹ sowie einer Einführung in den jüdischen Kalender handelte (»un libretto di Arismetica [sic] con regole, et uso hebraico«).149 Ebenfalls verschollen ist eine Schrift Colornis, die sich mit verschiedenen Instrumenten beschäftigte, deren Anwendungsgebiete von der Meßtechnik über die Ermittlung von Perspektive bis hin zur Astrologie sowie zur Herstellung von Uhren (horologij) reichte.150 Nur eine einzige Quelle erwähnt dieses Werk, dessen Titel nicht erhalten ist und das in den 1590er Jahren in Venedig auf lateinisch und italienisch gedruckt werden sollte.151 Es könnte mit Blick auf den weiteren Lebensweg Colornis vermutet werden, daß die gescheiterten Versuche, die Euthimetria sowie die weiteren Schriften zur Mathematik und Ingenieurskunst drucken zu lassen, den jüdischen Ingenieur dazu veranlaßten, sich von der ›exakten Wissenschaft‹ abzuwenden und sich eher ›esoterischen‹ Gebieten zu widmen.152 Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Colornis Biographie ist nicht die Geschichte eines ›Abstiegs‹ von der ›Wissenschaft‹ zur Scharlatanerie. Beide Begriffe sind in diesem Zusammenhang irreführend. Sucht man nach einem roten Faden in Colornis Biographie, dann ist es vielmehr seine Expertise in der Ökonomie des Geheimen. Mit letzterer war der Beruf des Ingenieurs – wie bereits erwähnt – allgemein auf enge Weise verbunden. Die Rede von der Mathematik in den frühen Werken Colornis darf darüber nicht hinwegtäuschen. Der Rekurs auf die Mathematik untermauerte zwar den Anspruch der praktischen Realisierbarkeit der eigenen Projekte und Erfindungen. Er implizierte aber keineswegs, daß Colornis Wissen deswegen notwendigerweise von Offenheit geprägt war. Die Mathematik selbst war in dieser Zeit keine a priori offene Wissenschaft, und auch ihre Gegenstände lagen nicht immer offen zutage.153 Bereits Girolamo Cardano – seines Zeichens selbst ausge149 Gutachten des mit der Prüfung betrauten toskanischen Beamten, 27. Februar 1592, ASF, Auditore delle riformagioni, filza 18, fol. 953r. 150 »[…] instrumenti, che oltre all’operationi sopradette sono atti a ciascun effetto pertinente alla Prospettiva, astrologia, et alla fabrica delli horologij solari«, heißt es in dem erwähnten Gutachten. ASF, Auditore delle riformagioni, filza 18, fol. 953r. 151 Notiz [Colornis?] o. O. u. D. [1592], ASF, Auditore delle riformagioni, filza 18, fol. 954r. 152 So hat beispielsweise Steinschneider versucht, den jungen Colorni explizit für die »Mathematik bei den Juden« zu reklamieren. Siehe Moritz Steinschneider, Mathematik bei den Juden, in: MGWJ 1 (1905), S. 88–99, 2 (1905), S. 193; 3 (1905), S. 300–301. 153 J. Peter Zetterberg, The Mistaking of »the Mathematicks« for Magic in Tudor and Stuart England, in: The Sixteenth Century Journal 11 (1980), S. 83–97; Herbert Breger, Mathematik und Religion in der frühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 18 (1995) S. 151–160; Hans Holländer, Mathesis und Magie. Täuschungsbedarf und Erkenntnisfortschritt im 18. Jahrhundert, in: Brigitte
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wiesener Mathematiker – hatte einige Jahrzehnte zuvor von den Geheimnissen der Geometrie und der Arithmetik gesprochen (»de Geometricis secretis [et] de secretis Arithmeticis«).154 Colorni selbst merkte an, daß sich zwar an der Oberfläche Linien (»linee«), Zahlen (»numeri«) und Proportionen (»proportione«) von jedermann messen ließen. Ihre Regeln aber waren geheim (»secreto«).155 Der Mathematiker Colorni war also jemand, der die geheimen Gründe für das Zusammenwirken von Zahlen, Linien und Proportionen kannte. Gewiß war auch hier ein Quantum Rhetorik im Spiel. Jedoch handelte es sich bei Colorni keineswegs um den einzigen (Teilzeit-)Mathematiker in dieser Zeit, der solche Strategien anwandte, um den Wert des eigenen Wissens hervorzuheben und zu steigern. Dies hing zunächst einmal mit dem relativ geringen Sozialprestige des Mathematikers in der Frühen Neuzeit zusammen. Zahlreiche Mathematiker waren darauf angewiesen, ihr Geld in Berufen wie dem des Landvermessers zu verdienen.156 Im England des 16. Jahrhunderts – und wohl nicht nur dort – konnte es sogar vorkommen, daß die Mathematik sogar mit kriminellen und häretischen Aktivitäten in Verbindung gebracht wurde.157 Noch der englische Mathematiker John Wallis erinnerte sich in seiner Autobiographie daran, daß im frühen 18. Jahrhundert seine Disziplin bei vielen Zeitgenossen nicht als akademische Disziplin gegolten habe, sondern als ein ›mechanisches Gewerbe‹, wie es auch von Händlern, Matrosen und Zimmerleuten ausgeübt werde.158 Eine Anstellung im militärischen Sektor bot vor diesem Hintergrund für Mathematiker meist noch am ehesten Ansehen und gute Verdienstmöglichkeiten.159 Es ist die These vertreten worden, die von vielen frühneuzeitlichen Mathematikern bemühte Rhetorik sei ihrerseits mitverantwortlich dafür gewesen, daß die Mathematik mit der Magie in Verbindung gebracht wurde. In der Tat warben zahlreiche Mathematiker mit spektakulären Versprechungen für ihre Diszplin bei einem Publikum, dem es oft an den elementarsten Grundkenntnissen fehlte.160
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Felderer/Ernst Strouhal (Hg.), Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst, Wien 2007, S. 33–54; siehe auch Allen G. Debus, Chemistry, Alchemy and the New Philosophy, 1550–1700. Studies in the History of Science and Medicine, London 1987, Kap. 4, v. a. S. 7–12. Girolamo Cardano, De secretis, in: Opera omnia, 10 Bde., Lyon 1663 [Faksimile Stuttgart–Bad Cannstatt 1966], Bd. 2, S. 537–551, S. 543. Euthimetria, fol. 12v. Mario Biagioli, The Social Status of Italian Mathematicians 1450–1600, in: History of Science 27 (1989), S. 41–95, hier S. 47. Eric H. Ash, Power, Knowledge, and Expertise in Elizabethan England, Baltimore etc. 2004, S. 179. Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001, S. 105. Biagioli, Social Status, v. a. S. 46; Mary J. Voss, Between the Cannon and the Book. Mathematicians and Military Culture in Sixteenth-Century Italy, Ph.D. thesis Johns Hopkins University 1994 [unveröffentlicht]. Zetterberg, The Mistaking of »the Mathematicks«, S. 86, S. 91. Mit Geheimnissen rechnen
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Doch handelte es sich bei der Notwendigkeit zur Profilierung und zur Erzeugung von Aufmerksamkeit nicht um den einzigen Grund, weshalb manche Mathematiker, das eigene Wissen als exklusiv oder arkan präsentierten (und vermarkteten). Immerhin war die Mathematik in der Realität auf enge und wechselseitige Weise mit der Praxis der frühneuzeitlichen Astrologie verbunden. Zudem ließ sich mathematisches Wissen für religiöse und mystische Zwecke fruchtbar machen, darunter nicht zuletzt für die Berechnung des Jüngsten Tages.161 Es gab eine Reihe von Vertretern des Faches, die an einen tieferen, intrinsischen Zusammenhang zwischen Mathematik und der Sphäre des Geheimen glaubten. Ein bekanntes Beispiel ist in diesem Zusammenhang John Dee (1527–1608). Der Engländer hielt sich in den 1580er Jahren – teilweise zur selben Zeit wie Colorni – am Prager Hof auf. Dee war Mathematiker, Astrologe und Magus, zeitweise auch Berater Königin Elisabeths I. – und galt als »Erzmagus« Englands. In Dees intellektuellem Kosmos gab es fließende Übergänge zwischen handfester mathematischer Expertise und einer ausgeprägten Faszination für das Okkulte.162 Darüber hinaus fehlte es im Zeitalter Dees nicht an mathematischen Laien, die bereits a priori das Wissen von den Zahlen für übernatürlich und voller Geheimnisse hielten, es mit scholastischer Spitzfindigkeit oder mit den mystischen Lehren der Kabbala assoziierten.163 Wie deutlich geworden ist, war das Bedeutungsspektrum des Wortes ›Mathematik‹ sehr viel breiter als in der heutigen Zeit. Es umfaßte neben den traditionellen Disziplinen Arithmetik und Geometrie eine Reihe von – auch okkulten – Künsten und Methoden, deren kleinster gemeinsamer Nenner ein mitunter vager Rekurs auf Zahlen und geometrische Formen war. Für einen bedeutenden Mathematiker wie Dee beispielsweise reichte dieses Spektrum von der Musik und Astrologie über die Herstellung von Wasserpumpen bis hin zur Herstellung von wundersamen ›Maschinen‹. Einige Zeitgenossen vermuteten zudem, die Mathematik könne es ermöglichen, durch die Lüfte zu fliegen oder über das Wasser zu laufen.164 Die Stellung des Mathematikers in der Wissenskultur der Frühen Zeit war also ambivalent. Sie oszillierte zwischen akademischem Anspruch und Ökonomie des Geheimen.165 Diese Spannung läßt sich auch für Colornis Euthimetria feststellen. Das in ihr ausgebreitete Wissen läßt sich in der Praxis zwar teilweise anwenden, doch ist die Abhandlung insgesamt keineswegs eine alle Geheimnisse offenbarende Gebrauchsanweisung. Dieses Phänomen ist nicht untypisch für die Werke bedeu-
161 Breger, Mathematik und Religion. 162 Eine nützliche Einführung ist Deborah E. Harkness, John Dee’s Conversations with Angels. Cabala, Alchemy, and the End of Nature, Cambridge 1999. 163 Ash, Power, Knowledge, and Expertise, S. 179. 164 Zetterberg, The Mistaking of »the Mathematicks«, S. 87–90. 165 Ebd.; siehe auch Holländer, Mathesis und Magie, v. a. S. 35.
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tender frühneuzeitlicher Mathematiker und Ingenieure.166 Daß auch Leonardo da Vinci seine mechanischen Erfindungen als Geheimnisse vermarktete, ja teilweise sogar in einer Art Geheimschrift beschrieb, ist weiter oben bereits erwähnt worden. Es besteht mithin kein Widerspruch zwischen Colornis profundem mathematischen Wissen und seiner Tätigkeit als professore de’ secreti. Es wäre zudem unzutreffend zu behaupten, Colorni sei zunächst Mathematiker gewesen und erst später zum professore de’ secreti ›herabgesunken‹. Für viele Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts ebenso wie für Colorni waren beide Berufe miteinander vereinbar. Für Colorni selbst blieb die Mathematik zeitlebens eine von mehreren Kompetenzen im mannigfaltigen Spektrum seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Ökonomie des Geheimen.167 Der Erwartungshaltung seiner christlichen Umwelt dürfte dies ohnehin entsprochen haben. Zwar mußte Colorni als Mathematiker an den kunstsinnigen Höfen der Gonzaga und Este wohl kaum mit Vorwürfen der (schwarzen) Magie rechnen. Aber stellte es sich genauso dar, wenn er sich außerhalb des Hofes bewegte? Noch Mitte des 17. Jahrhunderts klagte immerhin ein angesehener englischer Mathematiker darüber, der Zauberei beschuldigt worden zu sein, als er auf dem Land die Höhe eines Kirchturms messen wollte.168 Wir haben keinen Hinweis darauf, daß Colorni vom Tragen des obligatorischen Judenabzeichens befreit war (mit Ausnahme des venezianischen Territoriums). Es läßt sich also leicht vorstellen, daß auch der jüdische Mathematiker/Ingenieur argwöhnische Blicke aus der Bevölkerung auf sich zog, wenn er – mit seinen Instrumenten ausgerüstet – auf dem Land in der Öffentlichkeit Experimente zur Messung von Distanzen und Gebäudehöhen durchführte. Doch auch in einer Stadt wie Ferrara dürfte es für beträchtliches Aufsehen gesorgt haben, wenn – wofür es Hinweise gibt – der jüdische Ingenieur ausgerechnet vom Turm der Kathedrale aus seine meßtechnischen Versuche vornahm.169
Divination und Distinktion Colorni war, wie wir bereits gesehen haben, kein humanistischer Gelehrter, der danach strebte, seine Tage überwiegend in der Abgeschiedenheit seiner Stube 166 Vgl. v a. Carlo M. Cipolla, The Diffusion of Innovations in Early Modern Europe, in: Comparative Studies in Society and History 14 (1972), S. 46–52. Zu dieser Thematik siehe auch weiter oben das Kapitel zu ziviler und militärischer Technologie. 167 Mathematische Ausführungen finden sich zum Beispiel 1593 auch in seinem kryptographischen Lehrbuch Scotographia, wo sie nicht zuletzt zur Legitimierung der ›Dunkelschrift‹ dienen. Siehe dazu weiter unten. 168 Zetterberg, The Mistaking of »the Mathematicks«, S. 85. 169 Vgl. eine Andeutung Colornis über das Messen vom »torre del Domo di Ferrara« aus. Euthimetria, fol 198v. Divination und Distinktion
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oder in der Bibliothek zu verbringen. Vielmehr war es der Hof, der Colornis Wirkungsfeld und Bühne bildete. Eine Reihe von Details, darunter seine geschliffenen Briefe an Fürsten sowie seine von Garzoni gerühmten Fechtkünste, verdeutlichen Colornis Vertrautheit mit der Welt und den Konventionen der Höfe. Es dürfte keine Seltenheit gewesen sein, daß Colorni von seinen Patronen auch auf Reisen oder kürzere Aufenthalte außerhalb der jeweiligen Residenz mitgenommen wurde. So wissen wir, daß er sich um 1586 in Schloß von Marmirolo aufhielt, wo der Herzog von Mantua, Vincenzo Gonzaga, hin und wieder Stunden der Muße und der Vergnügungen verbrachte. Es kam durchaus vor, daß Juden als Gäste in die Gesellschaft des Herzogs hinzugebeten wurden. Gelegentlich spielten beispielsweise jüdische (Hof-)Musiker für den Herzog auf,170 manchmal nahmen wohl auch in Mantua Juden am Glücksspiel bei Hof teil.171 Weshalb jedoch Colorni damals in Marmirolo weilte, läßt sich nicht sagen – vielleicht war er von den Este ausgeliehen worden, um als Ingenieur Umbauten leiten. Es war nicht ungewöhnlich, daß Experten und Gelehrte, die in fürstlichen Diensten standen, an den Banketten und Vergnügungen des Hofes teilnahmen oder teilnehmen mußten. Auch der Zeitgenosse Galileo konnte sich solcher Verpflichtungen am Hofe der Medici nicht entledigen. Wie Mario Biagioli gezeigt hat, waren solche Ereignisse für Gelehrte und Experten wie Galileo allerdings nicht ohne Risiko. Es konnte vorkommen, daß ihnen in heiterer Runde spontan die Beantwortung einer schwierigen Frage aufgegeben wurde oder sie Auskünfte geben sollten, die sie nicht auf Anhieb erteilen konnten. Entziehen konnte sich der Gelehrte kaum, wollte er sein Patronageverhältnis nicht gefährden. Biagioli hat solche Situationen daher treffend als »dangerous performances« bezeichnet.172 In solchen spezifischen Rahmenbedingungen von höfischer Patronage sieht Biagioli einen der Gründe, weshalb selbst beim heute oft zum Heroen der Wissenschaft überhöhten Hofmathematiker Galileo bei genauer Betrachtung ein gewisser »lack of system« ins Auge steche.173 In einer schwierigen Situation befand sich jedenfalls auch Colorni, als er in Marmirolo von Herzog Vincenzo Gonzaga die Aufforderung erhielt, sich schriftlich zur Kunst des Handlesens zu äußern.174 Zuvor hatten seine angeblich im Scherz vorgeführten Kenntnisse der Chiromantie das Staunen der Hofgesell-
170 Harrán, Salamone Rossi, passim. Siehe auch Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 669–677. 171 Angelo Solerti, Ferrara e la corte estense nella seconda metà del secolo decimosesto, Città di Castello 1891, S. 54–55. 172 Mario Biagioli, Galileo, Courtier. The Practice of Science in the Culture of Absolutism, Chicago 1993, S. 163. 173 Ebd., S. 167. 174 »[M]ia opinione nell’arte di riguardare i segni della mano.« Chirofisionomia, Widmungsschreiben an Vincenzo I. Gonzaga, o. S.
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schaft erregt.175 Der Tag endete mit dem herzoglichen Auftrag, ein Kompendium über die Chiromantie und die damit verwandte Physiognomik zu schreiben. Colorni selbst hat später im Vorwort seines Chirofisionomia betitelten Werkes einen anschaulichen Rückblick auf diese Ereignisse in Marmirolo hinterlassen, aus dem unschwer zu entnehmen ist, daß ihm dieser Auftrag zu diesem Zeitpunkt wenig willkommen, aber eine Ausführung nicht zu vermeiden war. Raffiniert spielt Colorni auf den eigenen Vornamen an, wenn er sich in dieser Situation mit dem biblischen Patriarchen Abraham vergleicht, der sich sogar dann dem Befehl des Herrn beugte, als es darum ging, den eigenen Sohn zu opfern.176 Es dürfte eine Reihe von Gründen gegeben haben, weshalb der herzogliche Auftrag Colorni so unwillkommen war. Möglicherweise hielt er ihn von wichtigeren, selbst entworfenen Projekten oder Dienstpflichten als Hofingenieur ab. Außerdem hielt die Chiromantie in der Praxis handfeste Gefahren bereit. Denn ein Chiromant durfte – wollte er glaubwürdig sein – nicht nur positive Schlüsse aus den Eigenschaften der Handlinien ziehen. Lieferte er allerdings allzu unerfreuliche Vorhersagen, konnte er schnell den Zorn seiner Kunden zu spüren bekommen. Es war in der Frühen Neuzeit nicht ungewöhnlich, daß verärgerte Fürsten ihre Chiromanten drakonisch bestraften.177 Vermutlich war bei Colornis Zurückhaltung jedoch vor allem die Befürchtung im Spiel, als Autor mit einem Gebiet in Verbindung gebracht zu werden, das von vielen Scharlatanen bevölkert und erst kurz zuvor vom ›eisernen Papst‹ Sixtus V. (reg. 1585–1590) ausdrücklich verboten worden war. In seiner Constitutio contra exercentes astrologiae iudiciariae artem und in der Bulle Coeli et terrae creator (1586) hatte der Papst einer Reihe divinatorischer Praktiken den Kampf angesagt.178 Nicht nur im Kirchenstaat selbst führte dies bald zu öffentlichen Strafaktionen.179 Es ist vor diesem Hintergrund bezeichnend, daß Colorni hervorhob, sich mit der Chiromantie nur in der Jugend beschäftigt zu haben, also zu einer Zeit, als die
175 Ebd.: »[I]n quel giorno nel quale ritrovandomi io nella sua corte in famigliare collegio con alcuni de suoi gentil’ huomini alla presenza di Vostra Altezza in Marmiruolo [sic!] mentre andavamo come per ischerzo a guisa di Chiromanti i segni della mano considerando, io sembrassi per aventura di essere di cotal professione intendente, onde se indusse l’Altezza Vostra di farmi quel commandamento.« 176 Ebd.: »[H]o imitato l’obedienza del Santissimo Abram.« 177 Gino Sabattini, Bibliografia di opere antiche e moderne di chiromanzia e sulla chiromanzia, Reggio Emilia 1946, S. 20. 178 Giovanni Aquilecchia, »In facie prudentis relucet sapientia«. Appunti sulla letteratura metoposcopica tra Cinque e Seicento, in: Maurizio Torrini (Hg.), Giovan Battista Della Porta nell’Europa del suo tempo, Neapel 1990, S. 199–228, hier S. 212. 179 J.A.F. Orbaan, La Roma di Sisto V negli Avvisi, in: Archivio della R. società romana di storia patria 33 (1910), S. 277–312, hier S. 297. Divination und Distinktion
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entsprechenden Schriften noch nicht verboten waren.180 Colorni sprach zudem von einer Materie, die außerhalb seiner beruflichen Kompetenz liege (»materie lontane dalla mia professione«).181 Gleichwohl haben wir gesehen, daß er entsprechende Vorführungen am Hofe durchaus nicht scheute. Auch deutet manches darauf hin, daß Colorni – entgegen aller Beteuerungen – sich noch als Erwachsener privat mit solchen ›Künsten‹ beschäftigt hat. Sein Zaudern bei der Abfassung einer entsprechenden Abhandlung hat nicht mit einer generellen Skepsis gegenüber der Materie zu tun, sondern mit der Frage, wie sich eine solche Thematik auf unverfängliche Weise darstellen lasse. Was letzteres betrifft, waren Colornis Sorgen durchaus berechtigt. In der Tat sollte es ihm nicht gelingen, eine unverfängliche Chiromantie zu entwerfen. Es kann jedenfalls vor diesem Hintergrund nicht erstaunen, daß Colorni seinem Auftragswerk, dessen erste Niederschrift in die Jahre 1586/1587 datiert werden muß,182 einen Briefwechsel mit dem Kirchenmann Tomaso Garzoni voranstellte. Garzoni war nicht nur ein Gesprächspartner und Bewunderer des jüdischen Erfinders. Mit dem Namen Garzoni verband sich auch die Autorität eines Kirchenmannes. Davon konnte Colorni sich eine Legitimitierung für sein Unterfangen versprechen. In der Tat pries Garzoni in einem zur Vorrede umfunktionierten Brief die Abhandlung Colornis emphatisch und bescheinigte ihr die Konformität mit den Lehren der Theologie und der Philosophie. Auch in seiner Piazza universale lobte der Kirchenmann Garzoni den Einsatz des jüdischen Autors gegen den ›Aberglauben‹ in der Physiognomik und der Chiromantie.183 Im Gegenzug nahm sich Garzoni die Freiheit, den jüdischen Autor – in der Vorrede zur Chirofisionomia ebenso wie bereits in der Piazza universale – zur Taufe aufzufordern, um ihn vollends auf den Weg des Heils (»via della salute«) zu führen.184 Allerdings zeigte sich nicht jeder katholische Geistliche von Garzonis Argumenten zugunsten der Chirofisionomia überzeugt. Der Bischof von Ascoli Satriano (Apulien), dem Colornis Chirofisionomia 1595 in die Hände fiel, äußerte gegenüber Herzog Vincenzo in Mantua deutlich seine Bedenken gegenüber der Abhandlung.185 180 »[N]on erano ancor dannati e prohibiti i libri.« Chirofisionomia, Widmungsschreiben an Vincenzo I. Gonzaga, o. S. 181 Ebd. 182 Denn in der zweiten Ausgabe der Piazza universale (1587) erwähnt Garzoni die Chirofisionomia bereits. Vgl. Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 21. 183 Ebd. Dieses Urteil liegt auf einer Linie mit der Kritik, die Garzoni bereits einige Jahre zuvor über die in seinen Augen unseriösen Scharlatane auf dem Gebiet der Chiromantie und der Metoposkopie geäußert hatte: Tomaso Garzoni, Il teatro de’ vari e diversi cervelli mondani, Venedig: Zanfretti 1583, S. 108r–v. 184 Garzoni, Vorrede zur Chirofisionomia, o. S. 185 Bischof Ferdinando Davila an Vincenzo I. Gonzaga, 1. Dezember 1595, ASMn, AG, b. 1527, fol. 482r–484v. Colorni wird in diesem Schreiben nicht namentlich genannt. Daß es sich bei dem »Ebbreo in Praga« dennoch um ihn handelt, geht aus dem Kontext eindeutig hervor. Ein teil-
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Die Sanktionen gegen die Chiromantie waren die Reaktion der Kirche auf einen namentlich in Italien weitverbreiteten Glauben an den Nutzen solcher divinatorischen Praktiken, die im 16. und 17. Jahrhundert eine Hochkonjunktur erlebten.186 Zahlreiche Drucke und Handschriften zur Physiognomik und Chiromantie kursierten auf dem Markt. Das Interesse für ein Wissen, das nach Ansicht seiner Verfechter erlauben sollte, Charakter und Zukunft eines Menschen aus seinen körperlichen Merkmalen zu ›lesen‹, war durchaus nicht neu – die Geschichte solcher Künste reicht bis in die Antike zurück. Immer wieder wurden auch die biblischen Beschreibungen über die Bedeutung der körperlichen Beschaffenheit für die Auswahl der Priester als Beispiel für das Alter der Lehre von der Physiognomik angeführt. In der Praxis der frühneuzeitlichen Physiognomik richtete sich der Blick der Zeitgenossen in der Regel jedoch nicht in die Vergangenheit. Vielmehr versprach man sich von der Deutung der Charakteristika von Händen (Chiromantie), Stirn (Metoposkopie) sowie dem Körperbau im allgemeinen und dem Gesicht im besonderen (Physiognomik) Aussagen über die Zukunft. Hier aber begann insbesondere für die katholische Kirche das Problem. Die Auskünfte, die sich die Menschen der Frühen Neuzeit von solchen Künsten erhofften, waren oft sehr konkret. Viele Käufer physiognomischer Literatur waren – wie aus zeitgenössischen Anstreichungen hervorgeht – beispielsweise auf der Suche nach Prognosen oder Informationen über die eigene Fruchtbarkeit oder diejenige der Partnerin.187 Mitunter notierte man sich den Namen von Bekannten und Verwandten am Rand, wenn deren körperliche Merkmale vor dem Hintergrund einer Textstelle oder Abbildung plötzlich in neuem Licht erschienen.188 Fraglos war hier auch Aberglauben im Spiel, doch bedeutet dies keineswegs, daß solche Künste nur in der ›Volkskultur‹ verbreitet waren. Im Gegenteil: Es gab im späten 16. Jahrhundert nicht wenige Gelehrte, die zugunsten der Physiognomik und verwandter Künste argumentierten. Der praktische Nutzen und die theoretische Kohärenz dieser Künste wurden dabei oft durch komplexe Bezüge zu Disziplinen wie der Astrologie konstruiert bzw. untermauert.189 Der Historiker Keith Thomas resümiert in diesem Sinn: »Lore of this kind was taken seriously by many Renaissance intellectuals, however debased its practice at the village level
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weiser Abdruck auch bei Gonzaga/Venedig II, Dok. 302, jedoch wird Colorni hier nicht von der Herausgeberin identifiziert. Zu diesem Phänomen vgl. Martin Porter, Windows of the Soul. Physiognomy in European Culture 1470–1780, Oxford etc. 2005; Sabattini, Bibliografia; Angus G. Clarke, Metoposcopy. An Art to Find the Mind’s Construction in the Forehead, in: Patrick Curry (Hg.), Astrology, Science and Society. Historical Essays, Woodbridge usw. 1987, S. 171–195; Aquilecchia, In facie. Porter, Windows of the Soul, S. 269. Ebd., Kap. 6. Siehe z. B. Clarke, Metoposcopy. Divination und Distinktion
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may have been.«190 Die Faszination für die Physiognomik und die Chiromantie zog sich in der Realität quer durch alle Schichten der Gesellschaft191– und findet sich natürlich auch in der zeitgenössischen Judenschaft. Es ist ein Mythos, daß Juden von jeher und zumal in dieser Epoche divinatorische Praktiken gemieden hätten. Ein Mythos mit beträchtlichen Implikationen: So begründete etwa Walter Benjamin seine Vorstellung vom Zeit- und Geschichtsbewußtsein der Juden mit der unzutreffenden These, daß es den Juden »bekanntlich untersagt [war], der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich den [sic!] Wahrsagern Auskunft holen.«192 Die Quellen legen das Gegenteil nahe.193 Es gibt heute zahlreiche Hinweise darauf, daß frühneuzeitliche Juden mit der physiognomischen und allgemein der divinatorischen Literatur der Zeit vertraut waren.194 Die Chiromantie (hebr.: Chochmat ha-Yad) und die Metoposkopie (Chochmat ha-Parzuf) galten in der Praxis sogar als häufig von Juden (sowie übrigens auch Zigeunern) ausgeübtes Betätigungsfeld.195 Ein vermutlich in der Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenes Gemälde des italienischen Malers Pietro della Vecchia (1602–1678) zeigt beispielsweise anschaulich, wie ein jüdischer Chiromant vor erstauntem Volk seine Dienste anbietet.196 Ein solcher Anblick bot sich vermutlich auch den katholischen Geistlichen, die 1575 in Cremona im Rahmen einer bischöflichen Visitation von einem populären jüdischen Chiromanten erfuhren, der für Christen die Zukunft vorhersagte und auch Dienste als Astrologe anbot, obgleich er wußte, daß dies verboten war.197 Im innerjüdischen Kontext gab es 190 Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth- and Seventeenth-Century England, London 1973, S. 283. 191 Für das Beispiel eines katholischen Priesters, bei dem die Inquisition physiognomische Literatur beschlagnahmte vgl. Federico Barbierato, Nella stanza dei circoli. Clavicula Salomonis e libri di magia a Venezia nei secoli XVII e XVIII, S. 172. Zu einem lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts, der ein enthusiastischer Chiromant war, siehe Anne-Charlott Trepp, Von der Glückseligkeit alles zu wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main etc. 2009, S. 107. 192 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: [Ders.], Illuminationen, Frankfurt am Main 1977, S. 251–261, hier S. 261. 193 Dies war durchaus bereits zu Benjamins Zeiten bekannt. So hatte bereits Ludwig Blau darauf hingewiesen, daß von einem pauschalen Verbot der Wahrsagerei im Judentum keine Rede sein könne. Siehe Ludwig Blau, Das altjüdische Zauberwesen, Berlin 21914, S. 3. 194 Moshe Idel, Differing Conceptions of Kabbalah in the Early 17th Century, in: Isadore Twersky/ Bernard Septimus (Hg.), Jewish Thought in the Seventeenth Century, Cambridge/Mass. 1987, S. 137–200, hier S. 170; David B. Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science. The Cultural Universe of a Sixteenth-Century Jewish Physician, Cambridge/Mass. etc. 1988, S. 132–135. 195 Vgl. zur hebräischen Terminologie Gershom Scholem, Lemma Chiromancy, in: EJ, Bd. 4, S. 652– 654. 196 Heute im Palazzo Chiericati in Vicenza (siehe Titelbild). 197 Jews in the Duchy of Milan (bearb. S. Simonsohn), Bd. 3, Dok. 3663.
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ebenfalls ein großes Interesse an diesen ›Künsten‹. In der frühen jüdischen Mystik galten die Chiromantie und Physiognomik sowohl als Gegenstand geheimen Wissens als auch als »Kriterium für die Zulassung der Novizen«.198 Bereits der im Mittelalter entstandene Zohar weist geschlossene Abschnitte über Physiognomik und Chiromantie auf.199 Zu Lebzeiten Colornis erfreuten sich diese Künste im kabbalistischen Kontext vor allem bei den Anhängern Isaak Lurias (1534–1572) beträchtlicher Beliebtheit. Der berühmte Kabbalist selbst soll ein Meister auf diesem Gebiet gewesen sein.200 Der bereits mehrfach erwähnte venezianische Rabbiner Leon Modena (1571–1648) bediente sich ebenfalls gelegentlich der Kunst des Handlesens.201 Nicht minder fasziniert von der Physiognomik und Chiromantie zeigte sich der jüdische Zeitgenosse Joseph Salomon Delmedigo – ein namhafter Arzt und Student Galileos.202 Noch im späten 18. Jahrhundert veröffentlichte der sephardische Kaufmann David Attias aus Livorno einen Trakat zur Physiognomik in seinem auf ladino verfaßten Werk La Güerta de Oro (1778).203 Auch Abramo Colorni glaubte prinzipiell an den Nutzen der Chiromantie. Nur war seine Neigung, sich zu dieser Thematik schriftlich zu äußern, weniger ausgeprägt. Doch waren solche Aufträge in Patronagestrukturen an der Tagesordnung – der ungleich bekanntere Zeitgenosse Galileo hatte sich, wie wir gesehen haben, am Hof der Medici ebenfalls damit abzufinden. Es wäre aus Sicht des Historikers freilich falsch, die Werke, die aus solchen höfischen Aufträgen hervorgegangen sind, in erster Linie als marginale oder leidige Pflichtübungen zu betrachten. Ein kluger Höfling – und zu dieser Gruppe zählte Galileo ebenso wie Colorni – konnte sie immerhin dazu nutzen, um geschicktes self-fashioning zu betreiben.204 Colorni wußte, daß die Erfüllung des herzoglichen Wunsches unumgänglich war, wollte er nicht in Ungnade fallen. Daher nutzte er die Gelegenheit, um sich auf diese Weise einmal mehr als ein versierter professore de’ secreti zu profilieren und – im Umkehrschluß – seine Abgrenzung von der Gruppe der Scharlatane unter Beweis zu stellen. 198 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt am Main 1980 [11957], S. 52. 199 Ebd., S. 176. 200 Scholem, Lemma Chiromancy, in: EJ, S. 653. 201 The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi, Leon Modena’s ›Life of Judah‹, hg. von Mark R. Cohen, Princeton 1988, S. 111; Leo Modenas Briefe und Schriftstücke. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Italien und zur Geschichte des hebräischen Privatstils, hg. von Ludwig Blau, Straßburg 1907, S. 83. 202 Isaac Barzilay, Yoseph Shlomo Delmedigo (Yashar of Candia). His Life, Works and Times, Leiden 1974, S. 261. 203 Matthias B. Lehmann, A Livornese ›Port Jew‹ and the Sephardim of the Ottoman Empire, in: Jewish Social Studies 11 (2005), S. 51–76, hier S. 63; zu Attias auch Asher Salah, La république des lettres. Rabbins, écrivains et médecins juifs en Italie au XVIIIe siècle, Leiden etc. 2007, S. 49. 204 Dies hat Biagioli in seiner einschlägigen Studie verdeutlicht: Biagioli, Galileo, Courtier, v. a. S. 5. Divination und Distinktion
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Bevor wir auf diesen Aspekt zurückkommen, muß zunächst ein Blick auf den Inhalt des Werkes geworfen werden.205 Denn die Abhandlung ist bislang kaum untersucht worden.206 Colorni unterteilte die umfangreiche Chirofisionomia in drei Bücher. Die titelgebende Wortschöpfung legt nahe, die Schrift handle auch von der Physiognomik. Dies aber ist im großen und ganzen nicht der Fall. »Chirofisionomia« fungiert bei Colorni als ein Oberbegriff für die Wissenschaft von den Zeichen der Hand (»scientia della mano«).207 Auffallenderweise begegnet diese eigenwillige Wortschöpfung in der Frühen Neuzeit m. W. nur noch im Zusammenhang mit Della Portas nahezu gleichnamigem, postum erschienenen Werk Della Chirofisonomia [sic!] (1677).208 Vieles deutet darauf hin, daß Colornis Werk im 16. Jahrhundert außerhalb des Mantuaner Hofes zirkulierte, beispielsweise am Kaiserhof in Prag.209 Möglicherweise gelangte das Werk also auch in die Hände Della Portas in Neapel, der seine erwähnte Abhandlung wenige Jahre später zu Papier brachte. Della Porta selbst bezeichnete das eigene Werk in seiner Korrespondenz allerdings nicht mit dem Begriff der Chirofis[i]onomia, sondern mit den Arbeitstiteln Chironomia und Chiromantia.210 Erst als diese Schrift 1677 postum herausgegeben wurde, 205 Nova Chirofisionomia / e censura contra tutte le superstitiose vanità che in tali suggetti sono state da molti trattate, nella quale si mostra et insegna, quello che più veramente et ragionamente per fondamenti cavati dalla / Theologia, Filosofia, e Medicina credere si possa o debba, e tutto chiaramente e utilmente Opera d’Abramo Colorni Hebreo Mantovano. HAB Wolfenbüttel, Cod.-Guelf. 4.9. Aug. 4°. Über Provenienz dieser Hs. ist nichts bekannt. Vgl. Heinemann, Handschriften der herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel, II, 4, S. 123; A. Lewinsky, Alcuni manoscritti italiani nella biblioteca ducale di Wolfenbüttel, in: Rivista israelitica 1 (1904), S. 236–237. Eine weitere Hs. der Chirofisionomia befindet sich in der Sammlung David Kaufmann, die heute Teil der Bibliothek der ungarischen Akademie der Wissenschaft (Budapest) ist. Das Budapester Exemplar konnte im Rahmen dieser Studie nicht herangezogen werden. Es wurde jedoch um die Wende zum 20. Jahrhundert von Jarè eingesehen und in einer Miszelle beschrieben. Siehe dazu Giuseppe Jarè, La chiriofisionomia [sic!] di Abramo Colorni, in: Rivista Israelitica 2 (1905), S. 25–28. Die Budapester Hs. enthält demnach im Anschluß an den Brief Garzonis einige Gedichte des Claudius Ancantherus, der als Arzt am rudolfinischen Kaiserhof nachweisbar ist. Dies könnte auf eine Prager Provenienz der Hs. hindeuten. Zu der Budapester Hs. siehe auch Max Weisz, Katalog der hebräischen Handschriften und Bücher des Professors Dr. David Kaufmann s. A., Frankfurt am Main 1906, Nr. 257. 206 Siehe lediglich die kursorischen Angaben bei Jarè, La chiriofisionomia; sowie jetzt auch Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 72–82. Da die Chirofisionomia nie gedruckt erschien, fehlt das Werk in Sabattinis einschlägiger Bibliographie des gedruckten chiromantischen Schrifttums. 207 Chirofisionomia, fol. 24v. 208 Giovan Battista Della Porta, Della Chirofisonomia, overo, di quella parte della humana fisonomia che si appartiene alla mano, libri due, Neapel: Bulifon 1677. 209 Zur Verbreitung siehe auch das bereits erwähnte Schreiben des Bischofs Ferdinando Davila an Vincenzo I. Gonzaga, 1. Dezember 1595, ASMn, AG, b. 1527, fol. 482r–484v. 210 Oreste Trabucco, Lo sconosciuto autografo della Chirofisonomia di G. B. Della Porta, in: Bruniana & Campanelliana 1 (1995), S. 273–295, hier S. 283.
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erhielt sie den Titel Chirofisonomia.211 Als Vorbild für diesen in der einschlägigen Literatur ungewöhnlichen Titel kommt nur Colornis unveröffentlicht gebliebene Schrift aus den 1580er Jahren in Frage. Wie der Herausgeber Della Portas fast ein Jahrhundert später von ihr erfuhr, ist unklar. Um einen Zufall dürfte es sich jedoch nicht handeln; es lohnt sich auch deswegen, weiter unten nochmals genauer auf den Vergleich von Colorni und Della Porta zurückzukommen. Colornis Chirofisionomia wurde zwar nie gedruckt, es gab allerdings bereits kurz nach der Niederschrift entsprechende Anregungen und Inititativen.212 Anfang der 1590er Jahre bemühte sich Colorni sogar, die Abhandlung in Prag im Rahmen einer Art Gesamtausgabe seiner Werke zu veröffentlichen. Dieses Vorhaben scheiterte, doch haben zumindest mehrere zeitgenössische Abschriften kursiert, von denen heute lediglich zwei erhalten sind. Obgleich das umfangreiche Werk zahlreiche kommentierte Federzeichnungen von Handflächen und deren Linien enthält, ist – wie so oft bei frühneuzeitlicher Literatur zur Physiognomik und Chiromantie – der Inhalt und die Argumentation vieler Kapitel heute nicht immer leicht nachzuvollziehen. Denn einige der zentralen Thesen der Abhandlung (wie der Chiromantie im allgemeinen) ergeben nur dann einen Sinn, wenn man die zugrundeliegenden komplexen astrologischen Prämissen kennt und akzeptiert. Dunkel bleibt selbst manche Stelle des dritten Buches, in dem der »Chirometro« vorgestellt wird, ein von Colorni auf mathematischer Basis konstruiertes Instrument zur Vermessung der Hand. Ob der herzogliche Widmungsträger, Vincenzo Gonzaga, aus dem Auftragswerk jedenfalls die erhoffte Einsicht in die Materie der Chiromantie schöpfen konnte, bleibt offen. Einige Stellen deuten zumindest darauf hin, daß Colorni die Interessen und Vorlieben seines adligen Patrons bei der Niederschrift nicht aus den Augen verlor, so beispielsweise in einem Abschnitt über Ursachen für die Impotenz – ein Gebrechen, das den Mantuaner Herzog zeitweise plagte und sogar zu politisch peinlichen Situationen führte.213 Bemerkenswert ist die Chirofisionomia heute vor allem deswegen, weil sie unter allen erhaltenen Werken Colornis den wohl größten Einblick in den intellektuellen Kosmos des Autors erlaubt. Obgleich Colorni im Widmungsschreiben damit kokettiert, daß er auf diesem Gebiet eigentlich nicht kompetent sei, präsentiert sich die voluminöse Chirofisionomia als Demonstration des Wissens eines enzyklopädisch gebildeten professore de’ secreti. Bereits der Untertitel kündigt an, daß der Autor sein Wissen aus den Gebieten der Theologie, Philosophie und 211 Ebd., S. 282. 212 Das zumindest berichtet Colorni in einem zur Vorrede umfunktionierten Brief an den »Molto Reverendo Padre Predicatore Don Tomaso [Garzoni] da Bagnacavallo Canonico Regollare«, Chirofisionomia, o. S. 213 Chirofisionomia, fol. 213r–214r. Auf die politischen Wirrungen um die Potenz des Herzogs geht an verschiedenenen Stellen ein: Maria Bellonci, Segreti dei Gonzaga, Mailand 31966. Divination und Distinktion
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Medizin unter Beweis stellen werde. Im Werk selbst wird dies durch eine Fülle von Zitaten verschiedenster Provenienz untermauert. Die Bandbreite reicht von den Koryphäen der antiken Medizin (Hippokrates, Galen) und Philosophie (Aristoteles, Plato) über das pseudo-aristotelische Secretum secretorum bis hin zu den Renaissance-Autoren Ficino und Ariost (»divino Ariosto«). Weitere Autoren, die genannt werden, sind zum Beispiel Solon, Vegetius, Marcus Terentius Varro sowie Avicenna. Auffallend ist vor allem die Vertrautheit des jüdischen Autors mit der christlichen Theologie. Namentlich nimmt er Bezug auf Augustinus’ Civitas Dei, Thomas von Aquins Summa contra Gentiles sowie die Schriften des Isidor von Sevilla. Eine solche Kenntnis der christlichen Theologie ist für einen Juden des 16. Jahrhunderts ungewöhnlich, selbst wenn man bedenkt, daß einige jüdische Intellektuelle im Italien des 15. und 16. Jahrhunderts aufgeschlossene Rezipienten der Literatur christlicher Autoren waren.214 Damit soll nicht gesagt werden, daß Colornis Fall gänzlich beispiellos war. So läßt sich eine Beschäftigung mit Augustinus zum Beispiel auch bei dem bedeutenden jüdischen Gelehrten Azaria de’ Rossi (ca. 1511–1578) nachweisen, der mit seinem Werk Me’or Einayim 1573 eine Kontroverse unter den Rabbinern Italiens auslöste.215 Colorni auf intellektuellem Gebiet in der Gesellschaft de’ Rossis zu finden, dürfte allerdings überraschend für jene Historiker sein, die sich bisher leicht damit taten, Colorni als Scharlatan zu bezeichnen. Auf welche Weise sich Colorni mit dem christlichen Schrifttum vertraut machte, bleibt einstweilen offen. Vermutlich konnte er auf diesem Gebiet den mit ihm befreundeten Kirchenmann Garzoni um Rat fragen. Jedoch ist nicht auszuschließen, daß Colorni auch Kontakt zu einem der berühmtesten Theologen der damaligen Zeit, dem Venezianer Paolo Sarpi (1552–1623), unterhielt. Sarpi hatte in den späten 1560er und frühen 1570er Jahren einige Studien- und Arbeitsjahre in Mantua verbracht. In dieser Zeit lernte er auch bei den örtlichen Juden die hebräische Sprache.216 Sarpi, der sich später als Berater der Republik Venedig mit dem Papst anlegen sollte (Interdikt 1606/1607) und der Sympathien für die protestantische Sache nicht verhehlte, war Juden gegenüber relativ offen
214 Dazu jetzt auch David B. Ruderman, Introduction, in: Ders./Giuseppe Veltri (Hg.), Cultural Intermediaries. Jewish Intermediaries. Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, Philadelphia 2004, S. 1–23. Siehe auch Simonsohn, Sefarim ve-Sifriyot; sowie Baruchson-Arbib, La culture livresque. 215 Vgl. dazu Joanna Weinberg, The Beautiful Soul. Azariah de’ Rossi’s Search for Truth, in: David B. Ruderman/Giuseppe Veltri (Hg.), Cultural Intermediaries. Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, Philadelphia 2004, S. 109–126. 216 Luisa Cozzi, La formazione culturale e religiosa e la maturazione filosofica e politco-giuridica nei ›Pensieri‹ di Paolo Sarpi, in: Paolo Sarpi, Pensieri naturali, metafisici e matematici, hg. von Luisa Cozzi, Mailand etc. 1996, S. xxv–lxxxviii, hier xxxiv.
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eingestellt. So ist seine freundschaftliche Bekanntschaft mit dem venezianischen Rabbiner Leon Modena nachweisbar.217 Ein Kontakt Sarpis zu Colorni wiederum könnte nicht nur aus den gemeinsamen Jahren in Mantua herrühren, sondern auch mit Sarpis beträchtlichem Interesse an Fragen der Optik und speziell der Nutzanwendung von Spiegeln zusammenhängen.218 Auf letzterem Gebiet galt Colorni damals als ein führender Kopf. Doch kehren wir noch einmal auf die Frage nach den Quellen von Colornis Chirofisionomia zurück. Das innerjüdische Schrifttum jedenfalls hat Colorni – bis auf das Alte Testament – in der Chirofisionomia nicht zitiert. Maimonides (»Rabi Moisè d’egitto«) wird zwar erwähnt, allerdings in seiner Eigenschaft als medizinische Autorität. Vereinzelt bezieht sich Colorni zudem auf den jüdischen Arzt und Schriftsteller Leone Ebreo (Yehuda Abravanel; ca. 1460–1521) und dessen Dialoghi d’amore (erstmals 1535 veröffentlicht), aber auch dies dürfte weniger mit dem Judentum des Verfassers als vielmehr mit der Wertschätzung eines einschlägigen Werkes der (platonischen) Renaissance-Philosophie zusammenhängen. Wo Colorni hingegen die Bibel heranzieht, um seine Thesen zu untermauern, vertritt er Ansichten, die auf eine Vertrautheit mit der Kabbala hindeuten. Dies gilt beispielsweise für Colornis Deutung, der Prophet Jesaja sei einer der ersten Physiognomen (»Fisionomico«) gewesen. Colorni beruft sich hier auf einen Vers, der belegen soll, daß der Prophet Jesaja die Sünden der Menschen in deren Angesicht habe sehen können.219 Diese Ansicht liegt auf einer Linie mit den Deutungen ebendieses Jesaja-Verses, die wir in der jüdischen Mystik bereits seit dem 3. Jahrhundert n.d.Z. finden.220 Die Fülle der in der Chirofisionomia zitierten Autoren darf nicht den Blick dafür verstellen, daß Colorni eindeutige Präferenzen an den Tag legt, die ihn als einen Anhänger der medizinischen Lehren der Antike ausweisen. Seine Vorstellungen vom Körper des Menschen und von der Medizin sind stark aristotelisch-galenisch geprägt. Konkret wird die Physiognomik des Aristoteles (in Wahrheit eine pseudoaristotelische Schrift) als Standardwerk von unerreichter Wahrheit und Umsicht
217 Ebd., S. xlviii. 218 Reeves, Galileo’s Glassworks, S. 89. 219 Jes 3:9. In der Vulgata (auf die sich Colorni bezieht) heißt es: »[A]gnitio vultus eorum respondit eis et peccatum suum quasi Sodomae praedicaverunt nec absconderunt vae animae eorum quoniam reddita sunt eis mala«. Dazu Colorni: »Il Profetta Isaia […] mostra d’esser Fisionomico et di vedere i peccati de gli huomini sculti nel viso loro quando dice nel capo 3o.« Chirofisionomia, fol. 23r. 220 Scholem, Die jüdische Mystik, S. 52. Divination und Distinktion
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gepriesen.221 Bei der Deutung der Gestirne gilt ihm Ptolemäus als ›Fürst der Astrologen‹ und als ›wahrer Beobachter‹ der Phänomene am Himmel.222 Damit sind bereits zwei zentrale inhaltliche Bezugspunkte bezeichnet, zwischen denen sich Colornis Chirofisionomia bewegt. Namentlich astrologische Argumente ziehen sich durch das gesamte Werk. Denn wie viele seiner christlichen Zeitgenossen ging auch der jüdische Autor davon aus, daß es eine aussagekräftige Chiromantie ohne Astrologie nicht geben könne. Die von Mensch zu Mensch verschiedene Gestalt der Sektoren und Linien der Handfläche sei das Ergebnis des Einflusses spezifischer planetarer Konstellationen auf das Individuum.223 Verantwortlich dafür sei letztlich der Wille Gottes. Der Schöpfer habe jeden Menschen mit äußerlichen, wenngleich nicht immer auf den ersten Blick sichtbaren Zeichen versehen. Diese Zeichen erlauben es in Colornis Augen, den Platz zu ermitteln, den das jeweilige Individuum in der Gesellschaft einzunehmen vermag. Platos Vorstellung vom idealen Staat, auf die hier explizit Bezug genommen wird, lasse sich nur verwirklichen, wenn zweifelsfrei festgestellt werden könne, wer beispielsweise zum Dienst an der Waffe, zur Wahrung der Gesetze oder zur Ausübung der Künste und Handwerke befähigt sei. Hier könne die Deutung der äußerlichen Charakteristika des Körpers und speziell der Hand sich als nützlich erweisen.224 Colorni knüpfte also an den antiken Diskurs über den idealen Staat an, mit dem sich auch im 16. Jahrhundert Gelehrte intensiv beschäftigten. Seine Theorie war für die Zeitgenossen weder abstrus noch eine anachronistische Reverenz an Plato. Colornis von biologischem Determinismus geprägter Entwurf eines idealen Gemeinwesens erinnert beispielsweise an die Vorstellungen, die wenige Jahre später Campanella in seinem utopischen Sonnenstaat propagieren sollte.225 Auch der jüdische Zeitgenosse und Arzt Abraham Portaleone räsonnierte um 1600 darüber, welche »Bedeutung ein von seiner Figur oder von seinem norma-
221 Chirofisionomia, fol. 29v. Auch der jüdische Zeitgenosse, Arzt und Enzyklopädist Abraham Portaleone schätzte dieses Werk. Vgl. Abraham ben David Portaleone, Die Heldenschilde [1612], aus dem Hebräischen ins Deutsche übers. und komm. von Gianfranco Miletto, 2 Bde., Frankfurt am Main 2002, hier Bd. 1, S. 352. 222 »Tholomeo Prencipe delli Astrologhi et vero osservatore dei moti celesti.« Chirofisionomia, fol. 221v. 223 Siehe ebd., v. a. Kap. 11, fol. 64v–72v. 224 Ebd., fol. 40v: »[C]onveniente ancora che la natura […] prendesse estrema cura della sua conservatione dandoli segni, et inditij di quelle cose che nel corso della vita sono per occorergli et di più ornandola di qualche insegne et imprese dalle quali si possa conoscere la sua naturale inclinatione a questo o a questo offitio, a questa o a quella arte, perche come si potrebbe formare la bene ordinata republica di Platone, se non havessimo segni da conoscere quali siano atti a maneggiar l’armi, amministrare le leggi, et esercitar l’arti?« Vgl. auch fol. 37v. 225 Tommaso Campanella, Sonnenstaat, in: Klaus J. Heinisch (Hg.), Der utopische Staat, Reinbek 1960, S. 216–265.
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len Zustand abweichendes Glied in der geistigen Veranlagung hat«.226 Den Ausgangspunkt bildeten dabei für Portaleone, der die einschlägige physiognomische Literatur gut kannte, die biblischen Ausführungen im Buch Levitikus (Kap. 21) über die körperliche Beschaffenheit der Priester.227 Colorni billigt dem gelehrten Chiromanten, wie wir gesehen haben, eine große gesellschaftliche Verantwortung zu. Auch deshalb mahnt er ihn zur Umsicht und warnt vor voreiligen Schlüssen. Es genüge nicht, das Urteil auf ein oder zwei Merkmale der Hand zu stützen. Vielmehr müßten Einsichten aus der Philosophie, der Medizin und der Astrologie berücksichtigt werden.228 Damit ist ein maßgebliches Kriterium für die in Colornis Lehre zentrale Unterscheidung zwischen einer ›natürlichen‹ und einer ›falschen‹ Chiromantie benannt. Bereits als Jugendlicher habe er zwischen dem Typus des »buon Fisionomo naturale« und den betrügerischen Vertretern dieses Metiers zu unterscheiden gelernt.229 Mit letzteren sind explizit die im 16. Jahrhundert populären Autoren Tricasso230, Cocles231 und Pseudo-Geber232 gemeint, deren Werke voller Aberglauben und daher zu Recht verboten seien (womit sich Colorni auf den römischen Index bezog).233 Colorni lehnt es ab, aus der Deutung der Handlinien, aber auch aus der Astrologie selbst allzu konkrete oder triviale Vorhersagen abzuleiten. Fragen wie diejenige nach dem Zeitpunkt einer Geburt, der Jungfräulichkeit einer Frau, der Geburt eines ›Monsters‹ oder dem Eintritt einer Erbschaft könnten in der Regel nicht beantwortet werden. Jedoch geht auch Colorni prinzipiell davon aus, daß 226 Portaleone, Heldenschilde, Bd. 1, S. 352. 227 Ebd., Kap. 38. 228 »[…] che non si deve scioccamente essere pronto in giudicare d’un effetto o d’un accidente solamente per un segno o due che nella mano appaiono, ma conviene essere diligente investigatore di tutti i fonti de i quali ne sono insegnati dalla filosofia, parte dalla medicina, parte dall’Astrologia.« Chirofisionomia, fol. 107r. 229 Ebd., Widmungsschreiben an Vincenzo I. Gonzaga, o. S. 230 Siehe z. B. Patricio Tricasso, Tricassi Cerasariensis Mantuani enarratio pulcherrima principorum Chyromantiae. […] Eiusdem Tricassi Mantuani opus chyromanticum absolutißimum […], Nürnberg: Montanum & Neuberum 1560. 231 Es handelt sich um Bartolomeo della Rocca, gen. Cocles. Namentlich das Werk dieses Autors sprach Käufer in allen Teilen der Gesellschaft an. Dies bezeugen nicht zuletzt Ausgaben mit höchst unterschiedlicher Ausstattung. Eine kleinformatige Ausgabe für nicht allzu betuchte Käufer ist etwa: Barptolomaei [sic] Coclitis Bononiensis naturalis philosophiae ac medicinae doctoris physiognomiae & chiromantiae compendium, Straßburg: Machaeropeum 1555. Eine aufwendig gestaltete Großausgabe ist hingegen: Bartholomei Coclitis Chyromantie ac physionomie Anastasis, Bologna: de Benedictis 1517. 232 Colorni schreibt »Algebre«. Gemeint ist vermutlich: De la geomantia / dell’eccel. filosofo Gioanni [sic] Geber […] con una brevissima chiromantica phisionomia, Venedig: Rapirio 1552 (von mir nicht eingesehen). Vgl. Sabattini, Bibliografia, S. 45. 233 Chirofisionomia, fol. 9v. Divination und Distinktion
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sich mittels Astrologie und »Fisionomia« die Zukunft auf wirkliche und erlaubte Weise prognostizieren lasse (»realmente et lecitamente«).234 Die Chirofisionomia ist also – wie bereits der Untertitel unmißverständlich vor Augen führt – eine Kampfansage gegen den Aberglauben sowie ein Plädoyer für eine gelehrt-systematische Chiromantie. Doch ist das Werk deswegen keineswegs eine Absage an die Ökonomie des Geheimen. Über die Chiromantie und die Physiognomik zu schreiben, hieß im 16. Jahrhundert vielmehr, einen Beitrag zur Secreta-Literatur zu leisten.235 Colornis weitschweifiges Werk ist heute nicht in erster Linie wegen der ›technischen‹ Ausführungen aufschlußreich. Vielmehr verdient es das Augenmerk als Zeugnis für den Versuch eines jüdischen Autors, die Rolle eines ›gelehrten‹ professore de’ secreti für sich zu beanspruchen und zu legitimieren. Colornis Judentum spielt in der Abhandlung auch deswegen keine große Rolle, weil es für sein eigentliches Anliegen unwesentlich ist. Es gab keine Notwendigkeit zu untermauern, daß er mit den Geheimnissen der Natur vertraut war (dafür wäre der Verweis auf sein Judentum zweifellos nützlich gewesen). Seine persönliche Kompetenz auf diesem Gebiet mußte schon deswegen nicht nachgewiesen werden, weil sie die Prämisse des gesamten Werkes bildete und letztlich überhaupt erst zu dem Auftrag der Niederschrift geführt hatte. Colorni konnte die Chirofisionomia also dazu nutzen, seine Rolle in der Ökonomie des Geheimen genauer zu definieren. Er entwirft von sich das Bild eines gelehrten professore de’ secreti, der einen ›wissenschaftlichen‹ oder zumindest systematischen Anspruch mit der Preisgabe seiner Geheimnisse verbindet. Colorni sieht sich in der Pflicht, Physiognomik, Chiromantie und Astrologie gegen jene ›unwürdigen Subjekte‹ zu verteidigen, die lediglich den Aberglauben befördern würden und den Titel eines »scientiato« nicht verdient hätten.236 Es ist müßig darauf hinzuweisen, daß aus heutiger Sicht die Chirofisionomia genauso ›unwissenschaftlich‹ und esoterisch ist wie die Lehren eines Tricasso oder Cocles, die von Colorni so scharf kritisiert wurden.237 Was Colorni damals wie heute von solchen Autoren unterscheidet und ihn dafür in die Nähe Della Portas rückt, ist allein der Gestus und die Rhetorik. Della Porta war im 16. Jahrhundert (und noch bis in die Zeit Lavaters) ein vielgelesener Vertreter der gelehrten Physiognomik. In einer Reihe von Schriften 234 Davon handelt ebd. das zweite Kapitel, v. a. fol. 14v–24v. 235 Porter, Windows of the Soul, S. 96. 236 Physiognomik, Chiromantie und Astrologie sollten »non debb’essere in tutto probata nè in tutto dannata se non per quelle superstitioni et vanità che hanno inserto alcuni indegni veramente del nome di scientiati«. Chirofisionomia, fol. 21r. 237 Bei genauer Betrachtung weist die Chirofisionomia sogar inhaltliche Ähnlichkeiten namentlich zum Werk Tricassos auf, das Colorni verschiedentlich kritisierte. Vgl. [Tricasso], Tricassi Cerasariensis Mantuani enarratio pulcherrima.
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propagierte er eine ›wissenschaftlich‹ betriebene und systematisierte Physiognomik, die Merkmale des gesamten Körpers – bis hin zum Bauchnabel – berücksichtigen und sich dabei auch auf Analogien aus dem Tierreich stützen sollte.238 Della Porta wandte sich – ebenso wie Colorni – entschieden gegen die Verfälschung und den Mißbrauch der in seinen Augen vornehmen Kunst der Physiognomik und Chiromantie durch umherreisende Scharlatane. Solche (angeblich) betrügerischen Praktiken, für die der Aberglauben der unteren Schichten verantwortlich gemacht wurde, lehnten Della Porta und Colorni rigoros ab. Della Porta sparte bezeichnenderweise nicht mit Kritik an denselben Autoren einschlägiger chiromantischer Lehrbücher, von denen sich auch Colorni abzusetzen versuchte. Wir wissen zwar nicht, auf welche Weise Colornis Werk im späten 17. Jahrhundert dem Herausgeber von Della Portas Chirofisonomia bekannt wurde. Die Entlehnung der Wortschöpfung aus dem Titel der gleichgesinnten Abhandlung Colornis eignete sich jedenfalls auf den ersten Blick zur explizit angestrebten Abgrenzung vom Begriff der »Chiromantie«, der in den Augen des Herausgebers allzu starke Assoziationen mit dem Treiben betrügerischer Chiromanten aufwies.239 Eine Verwissenschaftlichung der Physiognomik im allgemeinen und der Chiromantie im besonderen – dieses Ziel teilten der adlige Katholik aus Neapel und der jüdische professore de’ secreti aus Mantua. Auch Francis Bacon schätzte einige Jahre später eine gelehrte Physiognomik positiv ein.240 Die Berufung auf antike Autoritäten war dabei in diesem Diskurs ein klassischer Topos.241 Colornis Kritik an der in der Praxis oftmals mangelnden oder verlorengegangenen Wissenschaftlichkeit dieser Künste erlaubte ihm, sein Selbstverständnis als seriöser Erforscher der Geheimnisse der Natur zu demonstrieren und sein Wissen auf den bereits im Untertitel der Schrift genannten Gebieten der »Theologia, Filosofia e Medicina« unter Beweis zu stellen. Es ist also – wie wir skizziert haben – augenfällig, daß Colorni und Della Porta einige zentrale Intentionen und Ziele auf dem Gebiet der Chiromantie teilten. Gemeinsam war den Autoren allerdings auch das Schicksal ihrer entsprechenden Werke. Wir haben zwar gesehen, daß beide keinen Hehl aus ihrer Verachtung für die umherreisenden Chiromanten machten und sich dafür den Anstrich der 238 Giovan Battista Della Porta, De hum. physiognomonia [sic!], Vico Equense: Cacchium 1576. 239 Della Porta, Della Chirofisonomia, S. 5 [Vorwort des Herausgebers]. Es gibt im erst kürzlich bekannt gewordenen Autograph dieser Abhandlung Della Portas keinen Hinweis darauf, daß der Autor selbst beabsichtigte, seinem Werk den Titel Chirofisonomia zu geben. Vgl. Trabucco, Lo sconosciuto autografo della Chirofisonomia, v. a. S. 282. 240 Porter, Windows of the Soul, S. 169. 241 Siehe allgemein William Eamon, Science and the Secrets of Nature. Books of Secrets in Medieval and Early Modern Culture, Princeton 1994, S. 214. Della Porta behauptete sogar: »Doctrina mea non est, sed veterum scriptorum studiis nobilitata«. Siehe Della Porta, De hum. Physiognomonia, Widmungsschreiben an den Kardinal d’Este, o. S. Divination und Distinktion
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gelehrten »scientia« zu geben versuchten (Della Porta schrieb sogar auf lateinisch). De facto aber bewegten sich sowohl Colorni wie auch Della Porta in ihren chiromantischen Schriften auf dünnem Eis. Denn überall dort, wo die Inquisition Macht und Einfluß hatte, reichten solche Bekundungen nicht aus. Im Fall Colornis ist besonders deutlich, daß er nicht die Absicht zeigte, die astrologisch-divinatorische Fundierung der Chiromantie gänzlich zu verwerfen. Der Standpunkt der katholischen Kirche war freilich eindeutig: Eine astrologisch inspirierte Chiromantie war verboten.242 Es steht außer Frage, daß Colorni in Schwierigkeiten mit der Inquisition geraten wäre, wenn er seine Chirofisionomia in Italien gedruckt hätte.243 Es ist also gewiß kein Zufall, daß das Werk in den frühen 1590er Jahren in Prag – unter der Herrschaft Rudolfs II. – erscheinen sollte.244 Della Porta wiederum hatte sich in denselben Jahren in Italien nicht zuletzt mit seinen physiognomischen Schriften den Argwohn der Inquisition zugezogen, den er nur durch Textrevisionen beschwichtigen konnte. Als er offenbar um 1600 die Abfassung seines chiromantischen Werkes in Angriff nahm, hatte er diese Erfahrungen noch deutlich vor Augen. Er wußte, daß nur eine über den deskriptiven Anspruch nicht hinausgehende Chiromantie für die Kirche akzeptabel war.245 Della Porta versuchte daher, in verschiedenen Etappen der Überarbeitung die anfangs noch enthaltenen Bezüge zur Astrologie so gut wie möglich zu tilgen und dafür die Bezüge zur aristotelischen Tradition und zur (Humoral-)Medizin zu stärken.246 Doch gelang ihm dies nicht restlos, und damit dürfte es zusammenhängen, daß sein Traktat zu Lebzeiten ungedruckt blieb. Erst in der über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod erschienenen italienischen Ausgabe sind problematische Passagen durch Streichungen des Herausgebers größtenteils beseitigt, so daß Della Portas nachgelassenes Werk zu einem vielrezipierten Beispiel für eine deskriptive Chiromantie auf Basis von »natürlichen Prinzipien« werden konnte.247 Colorni glaubte – wie in diesem Kapitel deutlich geworden ist – ebenso wie Della Porta prinzipiell an die Legitimität divinatorischer Praktiken und übrigens auch an die Möglichkeiten einer magia naturalis. Aber er wollte solche Künste als 242 »Chiromantia astrologica prorsus vana & illicita, scientiae nomen non meretur«, so Martin del Rio, Disquisitionum magicarum libri sex, quibus continetur accurata curiosarum artium et vanarum superstitionum confutatio […], Lyon: Pillehotte 1612, III. Buch, Kap. 3, S. 263. 243 So urteilte 1595 der Bischof Ferdinando Davila in einem Schreiben an Vincenzo I. Gonzaga, 1. Dezember 1595, ASMn, AG, b. 1527, fol. 482r–484v. 244 Siehe dazu weiter unten. 245 Vgl. Del Rio, Disquisitionum magicarum: »Physica Chiromantia licita est, & physiognomiae pars, & ideo de illa idem quod de hac iudicium. […] Ratio est, quia per lineas & partes manus, considerat ipsam corporis temperiem, & ex temperie corporis probabiliter indagat animae propensiones, hanc probat artem Aristoteles.« (III. Buch, Kap. 3, S. 263). 246 Trabucco, Lo sconosciuto autografo della Chirofisonomia, S. 284–288. 247 Ebd., S. 291–295.
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»scienza«248 auf ein solides Fundament gründen. Ein wichtiger Baustein war für ihn hierbei die Mathematik – man sollte nicht vergessen, daß die Chirofisionomia eine Anleitung zum Bau eines Instruments zur exakten Vermessung der Hand enthält. Diese Auffassung hatte Colorni bereits einige Jahre zuvor in seiner Euthimetria formuliert, als er seine Vision einer magia naturalis entwarf, deren Fundament das Wissen von den Proportionen, Zahlen und Gewichten sei: »tutta la magia naturale sarebbe un’ fumo quando non havesse il fondamento delle proportionji dei numeri e delle linee, et dei pesi.«249 Zwar war der hier vorgetragene Anspruch auf Seriosität durchaus ein Topos im damaligen gelehrten Diskurs über die magia naturalis und ihre Legitimität. Aber aus christlicher wie vor allem auch aus jüdischer Sicht dürfte Colornis Rede von Proportionen, Zahlen und Gewichten noch mehr impliziert haben. Immerhin wird hier – wenig verhüllt – auf den berühmten Vers aus dem apokryphen, dem König Salomo zugeschriebenen Buch der Weisheit angespielt, wo es über Gott heißt: »[D]u hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.«250 Es handelte sich dabei um einen Vers, der im christlichen Europa eine beträchtliche Rolle bei der Ausformung des theologischen und künstlerischen ordo-Denkens gespielt hatte.251 Doch darin mußten sich für einen jüdischen Zeitgenossen die mit diesem Vers verbundenen Assoziationen nicht erschöpfen. Es lohnt jedenfalls zu der Frage zurückzukehren, ob es in Colornis self-fashioning auch Elemente gegeben hat, die genuin jüdisch waren. Gewiß, Colorni kannte die großen griechisch-römischen Autoritäten der Antike (namentlich Aristoteles und Vitruv) und zitierte sie oft. Offenkundig war er auch mit dem Neoplatonismus und jenem Phänomen vertraut, das im 20. Jahrhundert als die »hermetische Tradition« bezeichnet werden sollte. Aber waren es zuvorderst die erwähnten antiken Autoritäten, war es gar Hermes Trismegistos, in deren Tradition Colorni sich sah, wenn er seine kühne Maschinen entwarf, die Zukunft vorhersagte und sein Publikum mit ›natürlicher Magie‹ beeindruckte? Wohl eher nicht: Das Vorbild dürfte vielmehr Salomo heißen, wie das nächste Kapitel zeigen wird.
248 Zu Della Portas scienza-Begriff vgl. Sergius Kodera, Der Magus und die Stripperinnen. Giambattista della Portas indiskrete Renaissancemagie, in: Brigitte Felderer/Ernst Strouhal (Hg.), Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst, Wien etc. 2007, S. 55–77, passim. 249 Euthimetria, fol. 12v. 250 Weish 11:21. Auch Garzoni griff diesen Vers auf und bescheinigte den Erfindungen Colornis auf der harmonischen Trias von proportione, peso und misura zu beruhen. Piazza universale, Bd. 1, S. 20. 251 Paul von Naredi-Rainer, Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln 1982, S. 20. Divination und Distinktion
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Der Magus und sein Kosmos Worauf gründete Colornis bereits in jungen Jahren erreichte Reputation? Es lohnt sich an dieser Stelle, noch einmal zu dieser Frage zurückzukehren, die wir bereits aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet haben, zu deren abschließender Beantwortung uns aber noch ein wichtiger Aspekt fehlt. Als Kronzeuge tritt hier Tomaso Garzoni auf, dem die ausführlichste Beschreibung Colornis aus dieser Zeit zu verdanken ist. Der Kirchenmann sparte, wie wir bereits gesehen haben, nicht mit Lob an den Leistungen Colornis als Ingenieur, Erfinder und Mathematiker. Doch nicht minder emphatisch war seine Wertschätzung für den Magus Colorni. So berichtet der Autor in der Piazza universale ausführlich über Colornis magische Fähigkeiten sowie dessen wundersame Kunststücke.252 Garzonis Faszination für diese Fertigkeiten Colornis hielt auch nach der Veröffentlichung der Piazza universale an. Kurz vor seinem Tod entschloß sich der Kirchenmann, eine Enzyklopädie der Magie und des Wundersamen zu schreiben. Das Werk, das erst nach Garzonis Tod gedruckt wurde, war in barocker Manier konzipiert.253 Allerdings bildeten diesmal weder eine Theaterbühne noch eine Piazza den allegorischen Schauplatz des Werkes. Vielmehr stellte sich Garzoni die Sphäre der Magie und des Wundersamen als einen serraglio vor, als einen imposanten Palast mit zahllosen Räumen und verwinkelten Gängen. In diesem Gebäude gab es auch einen ›Saal des Bedeutsamen‹ (»L’appartamento prestigioso«). Es war ebendieser Raum, in dem auch Colorni Erwähnung finden sollte; und dies in illustrer Gesellschaft. Bereits vorab hatte Garzoni angekündigt, daß dem jüdischen Zeitgenossen ein Platz im Kreise von – um nur einige zu nennen – Plato, Plotin, Roger Bacon und Pietro d’Abano gebühre.254 In der Tat ist es beeindruckend, was Garzoni über Colornis Fähigkeiten als Magus zu berichten wußte. Garzoni erinnerte sich, wie Colorni vor den Augen erstaunter Zuschauer aus Nüssen wunschgemäß Juwelen und Perlen gezaubert habe.255 Der Kirchenmann gab an, selbst Augenzeuge solcher Vorführungen gewesen zu sein.256 Detailliert schilderte Garzoni, wie Colorni mit solchen Kunststücken beispielsweise einen jungen Spanier und einen Prälaten in Ferrara zum Staunen brachte.257 Auf Colornis Geheiß sollen zudem gemalte Tiere zu fliegen begonnen haben. Goldketten verwandelten sich angeblich in lebende Schlangen.258 Außer252 Garzoni, Piazza universale, S. 21–22. 253 Tomaso Garzoni, Il serraglio de gli stupori del mondo (con le aggiunte del fratello Bartolomeo Garzoni) [1613], hg. von Paolo Cherchi, Faenza 2004. 254 Garzoni, La sinagoga de gl’ignoranti, S. 202. 255 Garzoni, Il serraglio de gli stupori, S. 226. 256 »[C]ome è parso più mesi sono agli occhi miei«, so Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 21 257 Garzoni, Il serraglio de gli stupori, S. 226. 258 Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 21.
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dem bildeten verschiedene Kunststücke mit Spielkarten bei allen Vorführungen offenbar ein Grundrepertoire Colornis.259 Wir wissen nicht, ob Colorni seine Künste ebenfalls in jüdischen Kreisen vorgeführt hat. Abwegig ist die Vermutung nicht. Denn auch in der jüdischen Welt, in der Colorni aufwuchs, gab es eine beträchtliche Faszination für die Magie.260 Der Arzt und Gelehrte Abraham Yagel, ein Zeitgenosse Colornis, äußerte sogar explizit seine Wertschätzung für das magische Potential von Spielkarten, wie es sich auch Colorni verschiedentlich zunutze machte.261 Zwar war bekannt, daß die Bibel die Zauberei scharf verurteilt hatte, aber in der rabbinischen Tradition wurde – vergleichbar der Unterscheidung zwischen schwarzer und weißer Magie – durchaus differenziert.262 Ein Verbrechen des Zauberers lag nach weitverbreiteter Ansicht erst vor, wenn er einen physischen Schaden verursacht hatte. Die Täuschung des Auges stellte hingegen für sich genommen noch keine Zauberei da.263 Entsprechend waren Strafen für Gaukler im Judentum unüblich.264 Mit der Ausbreitung der Kabbala in der Frühen Neuzeit nahm die Rolle der Magie im jüdischen Alltag und Denken der Frühen Neuzeit eine ganz neue Dimension an. Jüdische Naturkundige und Kabbalisten wie Yochanan Alemanno und Abraham Yagel befürworteten ausdrücklich die »noble Disziplin« der Magie und nahmen an, daß die Schriften des Judentums sie dazu anleiten könnten.265 Auch Colornis Schwiegervater, Yechiel Nissim da Pisa, stand der Magie durchaus nicht skeptisch gegenüber.266 Namentlich im deutschsprachigen Raum und in Osteuropa wirkten zudem zahlreiche Wunderrabbis.267 Auf das frühneuzeitliche Judentum 259 Garzoni, Il serraglio de gli stupori, S. 225. 260 Siehe dazu auch weiter oben das Kapitel zur Magie. 261 A Valley of Vision. The Heavenly Journey of Abraham ben Hananiah Yagel, hg. und ins Englische übers. von David B. Ruderman, Philadelphia 1990, S. 39, S. 92. Das Kartenspiel war allgemein in der Renaissance von größter Beliebtheit, nicht zuletzt unter den italienischen Juden. Vgl. z. B. Shulvass, Jews in the World of the Renaissance, S. 178. 262 Blau, Das altjüdische Zauberwesen; Giuseppe Veltri, Magie und Halakha. Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen Judentum. Tübingen 1997; siehe auch Trachtenberg, der darauf hinweist, daß für einige Rabbiner die ›Methode‹ der Magie mehr zählte als das Ergebnis: Joshua Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion, New York 1939, v. a. S. 19–22. 263 Blau, Das altjüdische Zauberwesen, S. 3. 264 Ebd., S. 20. 265 Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science, S. 101. 266 Zu der Verwandtschaftbeziehung siehe weiter oben ausführlich. Zu Yechiels Interesse an der Magie vgl. Alessandro Guetta, Religious Life and Jewish Erudition in Pisa. Yehiel Nissim da Pisa and the Crisis of Aristotelism, in: David B. Ruderman/Giuseppe Veltri (Hg.), Cultural Intermediaries. Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, Philadelphia 2004, S. 86–108, hier S. 93–94. 267 Karl Erich Grözinger, Jüdische Wundermänner in Deutschland, in: Ders. (Hg.), Judentum im deutschen Sprachraum, Frankfurt am Main 1991, S. 190–221. Der Magus und sein Kosmos
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scheint zuzutreffen, was Keith Thomas in seiner einschlägigen Studie über das Verhältnis zwischen Religion und Magie in den christlichen Konfessionen in der Frühen Neuzeit festgestellt hat: Demnach waren Magie und Religion in der Frühen Neuzeit keine gegensätzlichen oder unvereinbaren Konfigurationen. Magische Komponenten erhielten sich in der Religion, und umgekehrt wies die Praxis der Magie religiöse Merkmale auf.268 Verweilen wir aber zunächst noch für einen Augenblick bei einer schlichten Frage zur ›handwerklichen‹ Seite von Colornis Magie: Wo hatte er seine Kunststücke, die von großer Virtuosität gewesen sein müssen, erlernt? Möglichkeiten gab es viele, denn das späte 16. Jahrhundert war eine Blütezeit für Kunststücke wie diese.269 1584 erschien beispielsweise in Lyon Jean Prévosts La Première Partie des subtiles et plaisantes inventions, das sogar als das erste »do-it-yourself«-Buch für magische Kunststücke bezeichnet worden ist.270 Es ist jedoch nicht plausibel, daß Colorni sein magisches Repertoire vorwiegend oder gar ausschließlich aus dem Studium von Büchern schöpfte. Vielmehr ist anzunehmen, daß Colorni – zumal an den Höfen der Gonzaga und der Este – bereits früh Gelegenheit hatte, der eigentlichen Vorführung von Zauberstücken beizuwohnen. Als ein direkter Lehrmeister für den jungen Colorni kommt insbesondere der Zeitgenosse Girolamo Scotto (Hieronymus Scotus) in Frage, der in Italien in den 1570er Jahren vor allem mit seinen Kartentricks Aufsehen erregt hatte. Es gibt Indizien dafür, daß Colorni weitere Kunststücke Scottos kannte und sich von ihnen inspirieren ließ.271 Scotto, dessen Lebensdaten unbekannt sind und der dem Historiker unter verschiedenen Namen begegnet, kann bis heute als eine der mysteriösesten Figuren
268 »[I]t would be wrong to regard magic and religion as two opposed and incompatible systems of belief. There were magical elements surviving in religion, and there were religious facets to the practice of magic«, so Thomas, Religion and the Decline of Magic, S. 318. 269 Simon During, Modern Enchantments. The Cultural Power of Secular Magic, Cambridge/Mass. 2002, S. 79. 270 Ebd., S. 75; Noel Daniel (Hg.), Magic. 1400s–1950s, Köln etc. 2009, S. 133. 271 Colorni aus Prag an Alfonso II. d’Este, 29. November 1588 (J-1891, S. 30): »[Kaiser Rudolf II.] mi vene a dire che lo Scotto facea vedere certe imagine in un specchio et che ciò gli parea cosa molto miracolosa, onde io risposi che mi dava l’animo di trovare più bella via di quella.« Über Scottos Kunststücke mit Zauberspiegeln siehe A. Bechtold, Hieronymus Scotus, in: Archiv für Medaillen- und Plaketten-Kunde 4 (1923/1924), S. 103–118, hier S. 110. Toaff hingegen neigt dazu, den hier von Colorni erwähnten »Scotto« mit dem in den späten 1580er Jahren ebenfalls am Prager Hof wirkenden englischen Alchemisten Edward Kelley zu identifizieren, vgl. Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 159. Angesichts der Tatsache, daß Girolamo Scotto – im Unterschied zu Kelley – an den damaligen italienischen Höfen ein fester Begriff war, halte ich es allerdings für plausibel, daß Colorni nicht den Engländer, sondern den Landsmann meint. Zu Colornis eigenen Zauberspiegeln für Rudolf II. siehe weiter unten.
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in der Geschichte der frühneuzeitlichen Magie gelten.272 Der wohl in Piacenza geborene Magus konnte am Ende seines Lebens auf eine europaweite Karriere zurückblicken, die ihn von italienischen Höfen in die Dienste der Markgrafen von Ansbach, des Bischofs von Würzburg sowie des Erzbischofs von Köln geführt hatte. Diese Anstellungen verdankte Scotto nicht zuletzt auch seinen Fähigkeiten als Diplomat. Nach einem – freilich nicht sehr diplomatischen – Ehebruch mit der Gattin eines deutschen Fürsten wurde Scottos Lage heikel. Ob er sich in dieser Situation auf magische Weise unsichtbar machen konnte – eine Fähigkeit, die viele Zeitgenossen ihm zutrauten – ist eher fraglich. Sein Leben beschloß er vermutlich als marodierender kaiserlicher Feldoberst in Pommern und Schweden. Es gab mehrere Konstellationen, bei denen sich die Wege Scottos und Colornis gekreuzt haben könnten. Der junge Jude könnte dem berühmten Zeitgenossen bereits in den 1570er Jahren in Italien begegnet sein. Auf diese Weise hatte beispielsweise der nachmals selbst legendenumrankte Alchemist Marco Bragadino seinen Meister Scotto kennengelernt.273 Scotto trat damals an verschiedenen italienischen Höfen sowie in Venedig auf. 1574 ist er beispielsweise in der Korrespondenz des Hofes von Novellara erwähnt, also genau jenes Seitenzweigs der Familie Gonzaga, der zu dieser Zeit auch Colorni förderte.274 Ansonsten kommen vor allem Colornis Prager Jahre in Frage. In dieser Zeit weilte auch Scotto periodisch am Kaiserhof und erregte mit seiner Magie und seinem bombastischen Auftreten beträchtliches Aufsehen. Scotto könnte ein, wenngleich nicht der einzige Lehrmeister Colornis gewesen sein. Die Frage, bei wem Colorni gewissermaßen das Handwerkszeug der Magie erlernte, wird sich also vermutlich nie mit letzter Gewißheit beantworten lassen. Eher schon gilt dies für die zentrale Frage nach Colornis Verständnis der Magie und der Rolle des Magus. Wir haben bereits gesehen, daß Colorni bemüht war, sich als ein gelehrter professore de’ secreti zu profilieren, daß er – beispielsweise im Zusammenhang mit der Chiromantie – eine systematische und wissenschaftliche magia naturalis propagierte und dem ›Aberglauben‹ den Kampf ansagte. Wie paßt nun ein solcher Anspruch zu einem Colorni, der vor den Augen staunender Zuschauer Edelsteine hervorzauberte und das Blatt einer verborgenen Spielkarte zu erraten vermochte? Dies ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Immerhin findet sich auch bei Della Porta, dem Prototyp des gelehrten professore de’ secreti, dasselbe Phänomen. In der Tat lassen sich einige der Kunststücke, mit 272 Die vorliegende biographische Skizze stützt sich – soweit nicht anders angegeben – auf die bislang überzeugendste biographische Untersuchung von Bechtold, Hieronymus Scotus. 273 Ivo Striedinger, Der Goldmacher Marco Bragadino. Archivkundliche Studie zur Kulturgeschichte des 16. Jahrhunderts, München 1928, S. 279. 274 Pier de Nolhac/Angelo Solerti, Il viaggio di Enrico III in Italia, re di Francia […], Rom 1890, S. 236. Der Magus und sein Kosmos
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denen Colorni für Aufsehen sorgte, dem Repertoire der magia naturalis zuweisen, wie es durch die Rezeption von Della Portas gleichnamiger Schrift aus den 1550er Jahren maßgeblich popularisiert worden war. Nimmt man die Definition der magia naturalis als Maßstab, die Caspar Schott (1608–1666) – ein Jesuit und Bewunderer Athanasius Kirchers – um die Mitte des 17. Jahrhunderts prägen sollte, dann konnte Colorni zweifellos als ein mustergültiger Vertreter der magia naturalis gelten. Demnach war die natürliche Magie die ›höchste Vollkommenheit der natürlichen Weisheit und Gipfel der geheimen Wissenschaften‹ sowie die ›Fähigkeit, wunderliche und ungebräuchliche Dinge auf eine geheime Weise zu vollbringen‹.275 Wo aber verlief für die Zeitgenossen die Grenze zwischen legitimer magia naturalis und schwarzer Magie? Von großer Bedeutung war hier die explizite Absage an den Schadenzauber sowie an die Beschwörung des Teufels und seiner Heerscharen.276 Gleichwohl läßt sich eine pauschale Antwort auf die Frage nicht geben. Noch im 17. Jahrhundert konnten auch eher harmlose Kunststücke, wie sie nicht zuletzt Colorni gerne vorführte, Verdacht erregen. Mitunter führte selbst die Vorführung von Taschenspielertricks zur Exkommunikation durch die Inquisition.277 Was heute lediglich als Bühnenzauber gelten würde, mußte damals zwar nicht, konnte aber den Verdacht des Verbotenen erregen. In der christlichen Welt hing die Legitimität des Magus – so scheint es – letztlich in hohem Maße von der gebrauchten Rhetorik ab. Scotto beispielsweise galt weithin als Nigromant, Della Porta hingegen den meisten Zeitgenossen nicht. Wie bereits Marsilio Ficino im 15. Jahrhundert, bemühten sich Della Porta und seine Apologeten, die eigenen Interessen an der Magie als Teil einer umfassenden Beschäftigung mit den Geheimnissen der Natur darzustellen, gewissermaßen als eine Erforschung verborgener Potentiale der Natur und als eine ›scienza‹ sui generis.278 Die Kunst des umsichtigen self-fashioning zählte mithin zu den vielen Talenten, die der Vertreter einer gelehrten magia naturalis beherrschen mußte. 275 »[…] summam creatae ac naturalis sapientiae perfectionem, ac veluti supremum arcanarum scientiarium apicem, hoc est, facultatem res miras & inusitatas, ratione quadam occulta & aliis ignota, perficiendi«, so Caspar Schott, Magia universalis naturae et artis, sive recondita naturalium & artificialium rerum scientia […], Bd. 1 [Optica], Würzburg: Schönwetter 1657 [1658], S. 10. 276 Richard Kieckhefer, Did Magic Have a Renaissance? An Historiographic Question Revisited, in: Charles Burnett/W.F. Ryan (Hg.), Magic and the Classical Tradition, London etc. 2006, S. 199–212, hier S. 207. Vgl. auch Kodera, Der Magus und die Stripperinnen, S. 60; Will-Erich Peuckert, Gabalia. Ein Versuch zur Geschichte der magia naturalis im 16. bis 18. Jahrhundert, Berlin 1967; Paolo Rossi, Introduzione, in: Ders., La magia naturale nel Rinascimento. Testi di Agrippa, Cardano, Fludd, Turin 1989, S. 7–36. 277 Dan Burton/David Grandy, Magic, Mystery and Science. The Occult in Western Civilization, Bloomington 2004, S. 39. 278 Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 209.
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Colorni jedenfalls legte viel Wert auf die Feststellung, daß es sich bei seinen Kunststücken um natürliche Magie handelte. Vielleicht aus diesem Grund hatte Colorni seinem christlichen Bewunderer Garzoni Einblick ›hinter die Kulissen‹ erlaubt. Garzoni wußte stolz zu berichten, daß der jüdische Magus ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit die natürlichen Geheimnisse hinter einigen seiner Kunststücke entdeckt habe.279 Dabei sei Colorni stets der sogenannten ›weißen Magie‹ treu geblieben, bekräftigte der Kirchenmann. Bereits in der Piazza universale hatte Garzoni verkündet, daß die Magie des jüdischen Magus »pura naturale« sei.280 Mehr noch, Colorni zähle zu denjenigen, die das Wissen der magia naturalis umfassend durchdrungen hätten.281 Colorni mußte ein solches Urteil aus der Feder Garzonis sehr willkommen sein, wenn er den christlichen Freund nicht sogar explizit darum gebeten hat. Denn die schwarz auf weiß gedruckte Bescheinigung durch einen Kirchenmann, daß es sich bei den Kunststücken nicht um schwarze Magie handelte, konnte den jüdischen Magus vor mancher Unannehmlichkeit – namentlich seitens der Inquisition – bewahren. Colorni hatte in der Tat Grund zu vermeiden, als Jude in der breiteren Öffentlichkeit mit schwarzer Magie in Verbindung gebracht zu werden. Ohnehin galten Juden in ihrer nichtjüdischen Umgebung oft per definitionem als Menschen, die über magische Fähigkeiten verfügten.282 Wie schnell vor diesem Hintergrund konkrete Vorwürfe aufkommen konnten, läßt sich schon durch einen kurzen Blick in Colornis eigene Zeit veranschaulichen. Im Jahre 1599 wurde beispielsweise zwei Juden in Wien vorgeworfen, eine Herde von tausend Stück Vieh durch Magie verendet haben zu lassen.283 In Frankreich wurde wenig später sogar ein so renommierter jüdischer (Hof-)Arzt portugiesischer Herkunft wie Eliahu Montalto (gest. 1616) wegen Magie und Hexerei angeklagt.284 Und ein Jahr nach Colornis Tod versammelten sich seine ehemaligen Förderer – die Herzogsfamilie Gonzaga – sowie hunderte Schaulustige in Mantua um jenen Scheiterhaufen
279 »Et perche io gli hò dato la parola di tacere i modi, sol posso dire in generale, che quasi tutte queste sono industrie di mani meschiate con accortezza d’ingegno, & con audacia di animo, & di parole, e ingaggi suppositij destratamente operati, iquali son mirabili, perche s’ignorano i modi […]«, so Garzoni, Il serraglio de gli stupori, S. 226. 280 Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 21. 281 Ebd.: »[Q]uello che possede la natural magia compitamente.« 282 Vgl. auch R. Po-Chia Hsia, The Myth of Ritual Murder. Jews and Magic in Reformation Germany, New Haven etc. 1988, S. 6. 283 Joshua Trachtenberg, The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Anti-Semitism, Philadelphia 1983 [11943], S. 72. 284 Augusto d’Esaguy, Commentaires à la vie et à l’œuvre du Dr. Elie Montalto, in: Gad Freudenthal/ Samuel Kottek (Hg.), Mélanges d’histoire de la médecine hébraïque. Etudes choisies de la Revue d’histoire de la médecine hébraïque (1948–1985), Leiden 2003, S. 223–235, hier S. 227. Der Magus und sein Kosmos
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herum, auf dem eine betagte Jüdin wegen des Vorwurfs der Zauberei bei lebendigem Leib verbrannt wurde.285 Auch Colorni konnte – ob er wollte oder nicht – kaum vermeiden, daß ihm als Jude eine spezielle Kompetenz in der Nigromantie zugeschrieben wurde. So ereilte ihn – offenbar in den späten 1580er Jahren – ein Auftrag des Herzogs von Mantua, die Clavicula Salomonis, einen der geheimnisumwittertsten Texte der Frühen Neuzeit ins Italienische zu übersetzen. Bei der Clavicula Salomonis handelt es sich um ein Korpus von dem König Salomo zugeschriebenen »nigromantisch-astromagischen Werken«.286 Bei nüchterner Betrachtung wäre es eigentlich angemessener, im Plural von den Claviculae Salomonis zu sprechen, denn eine einheitliche Textund Überlieferungstradition hat es nicht gegeben.287 In öffentlichen Bibliotheken in Nordamerika und Europa sind heute allein 122 Handschriften mit dem Titel Clavicula Salomonis bekannt, die in lateinischer Schrift geschrieben sind – und würde man Archive hinzunehmen, dürften es noch erheblich mehr sein.288 Die ersten erhaltenen lateinischen Handschriften datieren ins frühe 14. Jahrhundert. Vor allem aber verdichtet sich diese Textradition im 16. Jahrhundert.289 Hiervon zu unterscheiden sind die griechischen Handschriften der Clavicula, bei denen es sich um späte byzantinische Handschriften des 15. Jahrhunderts handelt. Mittelalterliche Handschriften der Clavicula sind so gut wie gar nicht erhalten, denn die meisten dürften der Zerstörungswut der Obrigkeit und vor allem Kirche, in deren Augen das Werk als überaus gefährlich galt, zum Opfer gefallen sein.290 Es kursierten schon früh Geschichten vom Mißbrauch der Clavicula; so weiß beispielsweise die Legende von einem gewissen jüdischen Zauberer namens Aaron, der im 12. Jahrhundert als Berater des Kaisers von Byzanz gewirkt und dabei ganze Legionen von bösen Geistern befehligt haben soll.291 Es kann also nicht wundern, daß namhafte Prediger wie zum Beispiel Bernardino da Siena ausdrücklich gegen
285 Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 33. 286 Reimund Leicht, Astrologumena Judaica. Untersuchungen zur Geschichte der astrologischen Literatur der Juden, Tübingen 2006, S. 355 sowie allgemein zur Clavicula Salomonis, v. a. S. 343–356. 287 Zu Verbreitung und Wirkung dieses Textkorpus in der Frühen Neuzeit siehe jetzt die vorzügliche Studie von Barbierato, Nella stanza dei circoli, passim. Speziell zur Verbreitung im deutschsprachigen Raum siehe die – allerdings recht knappen – Ausführungen bei Heimo Reinitzer/Gisela Kornrumpf, Lemma Salomonische Schriften [C], in: VerfLex, Bd. 11, Sp. 1367–1368. 288 Robert Mathiesen, The Key of Solomon. Towards a Typology of the Manuscripts, in: Societas Magica Newsletter 17 (2007), S. 1–9. 289 Ebd., S. 3. 290 Jean Patrice Boudet/Julien Véronèse, Le secret dans la magie rituelle médiévale, in: Il segreto (= Micrologus. Natura, scienze e società medievali 14 [2006]), S. 101–150, hier S. 106. 291 Reeves, Occult Sympathies and Antipathies, S. 103.
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die Clavicula agitierten (»non istudiare la Clavicola di Salamone«).292 Solche Warnungen taten der Beliebtheit des Werkes jedoch keinen Abbruch. Im Venedig der Frühen Neuzeit beispielsweise war die Clavicula die vermutlich gefragteste magische Schrift ihrer Zeit – und diejenige, die zu den meisten Vernehmungen bei der Inquisition führte.293 Auch in den höchsten adligen Kreisen existierte europaweit ein Interesse an dem Werk.294 Es kann also nicht verwundern, daß die Clavicula schon bei der ersten Index-Veröffentlichung der katholischen Kirche auf der berüchtigten Liste aufgeführt wurde.295 Doch selbst die Wirkung dieses Verbots hielt sich in Grenzen. Sogar die Aufklärung konnte im 18. Jahrhundert der Beliebtheit des Werkes kaum etwas anhaben. Noch Anfang des 18. Jahrhunderts fällte Georg von Welling in seinem Opus mago-cabbalisticum et theologicum (entstanden 1708–21), mit dem sich auch Goethe beschäftigte, ein harsches Urteil über »dergleichen teuflische Schriften und Bücher, darunter die so genannte Claviculae Salomonis [sic!] nicht die geringste sei«.296 Voltaire wiederum spottete über die Clavicula.297 Dennoch erlebte die Clavicula vor allem im Frankreich des 18. Jahrhunderts eine Hochkonjunktur.298 Manches spricht dafür, daß der Urtext – wenn dieser Begriff angesichts des heterogenen Charakters der Clavicula überhaupt angemessen ist – in der Spätantike in griechischer Sprache verfaßt wurde.299 Dies schließt nicht aus, daß Einflüsse jüdischer Magie aus der Epoche des Hellenismus und aus der Spätantike in die Urversion(en) des Werkes eingeflossen sind. Die rituellen und parareligiösen Elemente des Textes deuten in der Tat darauf hin.300 Auch Abschnitte aus dem hebräischen Zauberbuch Sefer Raziel fanden ihren Weg in Handschriften der Clavicula.301 Dennoch ist die Clavicula Salomonis keineswegs ein ungetrübtes Zeugnis
292 So in einer Predigt in Siena 1425. Zitiert nach Nirit Ben-Aryeh Debby, Renaissance Florence in the Rhetoric of Two Popular Preachers. Giovanni Dominici (1356–1419) and Bernardino da Siena (1380–1444), Turnhout 2001, S. 102. 293 Barbierato, Nella stanza dei circoli, S. 6. 294 Boudet/Véronèse, Le secret dans la magie rituelle, S. 109; Susanna Åkerman, Queen Christina’s Latin Sefer-ha-Raziel Manuscript, in: Allison P. Coudert/Sarah Hutton/Richard H. Popkin/ Gordon M. Weiner (Hg.), Judaeo-Christian Intellectual Culture in the Seventeenth Century. A Celebration of the Library of Narcissus Marsh (1638–1713), Dordrecht etc. 1999, S. 13–25. 295 Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Sciences, 8 Bde., New York etc. 1964–1966, hier Bd. 6, S. 147; Barbierato, Nella stanza dei circoli, S. 37. 296 Zitiert nach Hermann Kopp, Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte, 2 Bde., Heidelberg 1886 [ND Hildesheim 1962], hier Bd. 2, S. 244. 297 Reeves, Occult Sympathies and Antipathies, S. 108. 298 Mathiesen, The Key of Solomon, S. 3. 299 Ebd. 300 Boudet/Véronèse, Le secret dans la magie rituelle, S. 102. 301 Åkerman, Queen Christina’s Latin Sefer-ha-Raziel Manuscript, v. a. S. 21. Der Magus und sein Kosmos
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jüdischer Magie dieser Epochen. Vielmehr ist das Werk auch von Vorstellungen der hermetischen Magie geprägt, vor allem in seinen astrologischen Teilen.302 Außerdem haben sich im Laufe des Mittelalters in einer Reihe von Varianten der Clavicula Salomonis Elemente der magischen Literatur byzantinischer, arabischer und lateinischer Provenienz abgelagert.303 Dennoch ist bis ins 20. Jahrhundert hinein angenommen worden, daß eine hebräische Urversion der Clavicula existiert haben könnte. Dies hing vor allem mit der Vorstellung zusammen, daß ein Text, dessen Autorschaft dem biblischen König Salomo zugeschrieben wurde, ursprünglich auf hebräisch verfaßt worden sein müsse.304 Auf den Titelblättern zahlreicher italienischer und französischer Handschriften der Clavicula aus der Frühen Neuzeit findet sich daher die Angabe, der Text sei ursprünglich – unter dem Titel Mafteach Shelomo – in hebräischer Sprache geschrieben und erst später ins Italienische übersetzt worden.305 Ebendiese Übersetzung ist es, mit der in vielen Handschriften seit dem späten 16. Jahrhundert Abramo Colorni in Verbindung gebracht wird. In Wirklichkeit verlief der Transferprozeß wohl umgekehrt. Die frühesten erhaltenen hebräischen Handschriften der Clavicula werden heute in das 17. Jahrhundert datiert und sind entweder aus dem Italienischen oder dem Lateinischen übersetzt worden.306 Möglicherweise kursierten vereinzelt auch schon im 16. Jahrhundert hebräische Fassungen der Clavicula.307 Auf jeden Fall markiert die Verbreitung von Colornis ›Übersetzung‹ seit den 1590er Jahren einen Wendepunkt in der Wirkungsgeschichte der Clavicula.308 Diese Version, die mit dem Nimbus der Übersetzung aus der Originalsprache (zumal durch einen Juden) versehen war, stieg auch weit über Italien hinaus zu einer der Standardversionen des Werkes auf.309 Es ist – wie gesehen – nicht auszuschließen, daß Colorni für seine Übertragung 302 303 304 305 306
Boudet/Véronèse, Le secret dans la magie rituelle, S. 102. Leicht, Astrologumena Judaica, S. 343. Mathiesen, The Key of Solomon, S. 5. Ebd., S. 3. Leicht, Astrologumena Judaica, S. 355; Mathiesen, The Key of Solomon, S. 6; Boudet/Véronèse, Le secret dans la magie rituelle, S. 106; Claudia Rohrbacher-Sticker, Mafteah Shelomoh. A New Acquisition of the British Library, in: Jewish Studies Quarterly 1 (1993/1994), S. 263–270; dies., A Hebrew Manuscript of Clavicula Salomonis, in: The British Library Journal 21 (1995), S. 128–136; Moritz Steinschneider, Die hebräischen Übersetzungen des Mittelalters und die Juden als Dolmetscher, Berlin 1893 [ND Graz 1956], S. 938. Im Jahr 1914 veröffentlichte Hermann Gollancz – allerdings mit nicht ganz zutreffenden Vorannahmen – das Faksimile einer offenbar aus dem 17. Jahrhundert stammenden hebräischen Hs. der Clavicula Salomonis: Hermann Gollancz, Sepher Maphteah Shelomo. An Exact Facsimile of an Original Book of Magic in Hebrew, London etc. 1914. 307 Rohrbacher-Sticker, Mafteah Shelomoh, S. 265. 308 Barbierato, Nella stanza dei circoli, S. 41. 309 Ebd., S. 42.
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ins Italienische tatsächlich eine heute verschollene hebräische Fassung zugrunde gelegt hat.310 Eine solche Vorlage konnte zwar bisher nicht aufgefunden werden, sie dürfte gleichwohl zeitgenössisch und ihrerseits aus dem Lateinischen übersetzt gewesen sein. Nachweisbar ist zumindest, daß ein relativ altes lateinisches Exemplar der Clavicula in Mantua in der Bibliothek Francesco Gonzagas (1407) vorhanden war.311 Es ist möglich, daß nicht zuletzt dieses Exemplar aus der Bibliothek des Vorfahren fast zwei Jahrhunderte später das Interesse des Herzogs Vincenzo I. geweckt und zum Auftrag an Colorni geführt hat, einen noch älteren hebräischen (Ur-)text aufzufinden und ins Italienische zu übertragen. Das Übersetzungsprojekt dürfte dabei mehr gewesen sein als nur die Kombination von einem »für die Renaissance typischen Bedürfnis nach dem (hebräischen) Urtext beim Herzog von Mantua mit philologischer Scharlatanerie seitens Abramo Colorni«.312 Daß es sich seitens Colorni um Scharlatanerie handelte, ist jedenfalls leichter behauptet als erwiesen. Zunächst einmal ist nicht auszuschließen, daß Colorni – ebenso wie seine Zeitgenossen und sein Auftraggeber – von der Existenz einer hebräischen Urfassung tatsächlich überzeugt war. Über die Qualität des von Colorni – auf welche Weise auch immer – erstellten Textes läßt sich zudem nichts sagen, da bisher keine der erhaltenen italienischen Handschriften als Originalexemplar seiner Übersetzung identifiziert werden konnte. Die vielen unter seinem Namen kursierenden Abschriften erlauben keine apodiktischen Rückschlüsse auf die (philologischen) Qualitäten von Colornis Original. So gibt es beispielsweise unübersehbare Unterschiede zwischen allen drei französischen Handschriften der Clavicula Salomonis (17./18. Jh.), die sich heute in der Londoner British Library befinden und die angeblich allesamt auf der Colorni zugeschriebenen italienischen Übersetzung beruhen.313 Es bleibt die Frage, weshalb Colorni einen herzoglichen Auftrag annahm, der ihn unzweifelhaft in das Fahrwasser der Nigromantie führte. Wie bereits im Falle der Chirofisionomia dürfte dies auch mit den Erfordernissen des Patronage-Verhältnisses zu erklären sein, das Colorni mit Vincenzo Gonzaga geknüpft hatte und noch zu vertiefen gedachte. Vermutlich konnte Colorni, selbst wenn er gewollt hätte, 310 Leicht, Astrologumena Judaica, S. 344. 311 Siehe das Inventar bei Pia Girolla, La biblioteca di Francesco Gonzaga secondo l’inventario del 1407, in: Atti e memorie della Reale accademia virgiliana di Mantova, nuova ser. 14–16 (1923), S. 30–72, hier S. 68. 312 Leicht, Astrologumena Judaica, S. 344. 313 British Library London, King’s 288: La Clavicule de Salomon / Roi des Hebreux traduite de l’Hebreux / en Italien par Abraham Colorno / par ordre de S.A.S. de Mantoue / mise nouvellement en françois; Sloane Ms. 3091: La Clavicule de Salomon / Roy des Hebreux / Traduite en Italien par/l’ordre de son A. Seren.me de Mantouë / Et mise Nouvellement en Françoiz; Harley Ms. 3981: La Clavicule de Salomon Roy des Hebreux / Traduite de la Langue Hébraique en Italien / Par Abraham Colorno, par l’ordre de Son Altesse Serenissime de Mantoue et mis nouvellement en Francois [sic]. Der Magus und sein Kosmos
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diese Aufgabe nicht ablehnen. Doch ist es nicht auszuschließen, daß Colorni in dem Auftrag zudem eine Chance sah, wie hier zu zeigen sein wird. Der Historiker Richard Kieckhefer hat vermutet, daß die salomonische Zauberliteratur unter Juden nicht in erster Linie wegen eines Interesses an Schadenzauber rezipiert wurde. Vielmehr sieht er einen entscheidenden Grund für die Beschäftigung mit diesem Textkorpus in einer »quest of knowledge through magical means«.314 Colorni zumindest warb ausweislich der erhaltenen Quellen zu keinem Zeitpunkt seiner Karriere damit, seine Ziele mittels schwarzer Magie zu erreichen. Das schließt nicht aus, daß er die Clavicula Salomonis als einen Ideengeber und Steinbruch für Kunststücke nutzte, die er – aus dem nigromantischen Kontext herausgelöst – in sein ›Repertoire‹ als professore de’ secreti aufnahm. Bei der Lektüre erhaltener Abschriften der Clavicula in der Colorni zugeschriebenen Fassung fällt auf, daß der Übersetzer bei seiner Arbeit beispielsweise Anregungen für das Geheimnis des disprigionare (Ausbrechen) erhalten haben könnte – ein Geheimnis, auf das Colorni wenig später in einer politisch höchst brisanten Situation zurückkommen sollte, wie wir bald sehen werden. Vor allem aber eröffnete sich für Colorni durch eine Übersetzung der Clavicula die Chance, den Abglanz der ehrwürdigen salomonischen Tradition auf sich zu lenken. Das war sowohl am Hof von Mantua als auch von Ferrara vorteilhaft, denn auch an letzterem existierte ein reges Interesse an der salomonischen Zauberliteratur.315 Die Assoziation mit dem legendären biblischen König erlaubte es einem Juden, eine genuine Rolle für sich in der Ökonomie des Geheimen zu beanspruchen. Die Clavicula war in der Tat letztlich eine Überhöhung des Königs Salomo zum Magus.316 Salomo wurde hier zu einer Art jüdischer Hermes Trismegistos stilisiert. Es wäre daher nicht überraschend, wenn sich die Beobachtung erhärten ließe, daß in Clavicula-Manuskripten der ›Colorni-Version‹ der hermetische Charakter des Werkes in den Hintergrund tritt.317 Colorni war mit der Faszination für den biblischen König Salomo nicht alleine unter seinen jüdischen wie christlichen Zeitgenossen. Der weise König der Juden, der den Tempel erbaut hatte und dem übernatürliche Kräfte zugeschrieben wurden, galt vor allem zeitgenössischen Juden als eine Lichtgestalt, deren Wissen – auch auf dem Gebiet der Naturforschung – älter war als das aller heidnisch-christ-
314 Richard Kieckhefer, Forbidden Rites. A Necromancer’s Manual of the Fifteenth Century, Stroud etc. 1997, S. 122. 315 Vgl. eine Sammlung von Clavicula-Manuskripten und weiterer (salomonischer) Zauberliteratur im Fondo Astronomia, Astrologia, Magia des ASMo, ASE, hier b. 5 und 6. 316 Pablo A. Torijano, Solomon the Esoteric King. From King to Magus, Development of a Tradition, Leiden etc. 2002, S. 230. 317 So Sebastiano Gentile/Carlos Gilly, Marsilio Ficino e il ritorno di Ermete Trismegisto, Florenz 1999, S. 228.
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lichen Autoritäten.318 Unter Berufung auf verschiedene Bibelstellen wurde von christlicher wie jüdischer Seite sogar behauptet, daß der König die Geheimnisse der Alchemie und Physiognomik gemeistert habe.319 Nicht minder eminent war die Autorität Salomos als Zauberer – auch jenseits der Clavicula Salomonis-Literatur.320 Von jüdischer Seite wurde mitunter sogar behauptet, Salomo habe ein ›Buch der Geheimnisse der Natur‹ verfaßt.321 Die Vorstellung von der Versiertheit Salomos im Umgang mit Geheimnissen war dabei auch im populären jüdischen Schrifttum verbreitet. So enthält das mehrfach aufgelegte und unter frühneuzeitlichen Juden sehr beliebte jiddische Ma’assebuch (erstmals gedruckt: Basel 1602) eine Geschichte vom König Salomo, der einem seiner Schüler drei Weisheiten mit auf den (Lebens-)Weg gibt. Die dritte und letzte dieser Weisheiten ist der Rat, einer Frau niemals die eigenen Geheimnisse zu verraten. Diese Weisheit wird der Schüler Jahre später nicht beherzigen, was – in einer etwas verwickelten Geschichte – fast zu seiner Verurteilung zum Tode führt. Erst sein Gnadengesuch beim König Salomo bringt eine Wendung und den Freispruch, wobei der weise König abermals zur Vorsicht beim Umgang mit Geheimnissen – selbst im häuslichen Kontext – mahnt (»dein Geheimnis offenbare nie deinem Weib«).322 Die eigenen wissenschaftlichen wie auch magischen Aktivitäten auf den König Salomo zurückzuführen, bedeutete für Juden also immer auch, sie zu nobilitieren und gegen christliche Polemik in Schutz zu nehmen.323 Mehr noch, der Rekurs auf Salomo erlaubte es Juden, eine genuin jüdische prisca sapientia für sich in Anspruch zu nehmen. Eine Figur wie Hermes Trismegistos mußte neben dem weisen König wie ein Epigone wirken. Auch Colorni nutzte – so meine These – den Nimbus der salomonischen Tradition für sich. Diese Tradition erlaubte es ihm, die Rollen des Juden, Gelehrten, Ingenieurs, Alchemisten und Magus zu harmonisieren und zusammenzuführen. Das Ergebnis war ein self-fashioning als jüdischer professore de’ secreti, der – wie einst König Salomo – alle Geheimnisse 318 Siehe dazu jetzt v. a. Gianfranco Miletto, Glauben und Wissen im Zeitalter der Reformation. Der salomonische Tempel bei Abraham ben David Portaleone (1542–1612), Berlin etc. 2004. 319 1 Chr 22:14 und 29:2; 2 Chr 1:15; 1 Kön 10:2. Siehe dazu auch Suler, Lemma Alchemy, in: EJ, Bd. 1, S. 599–603, hier S. 600; Louis Ginzberg, Legends of the Jews, 2 Bde., Philadelphia 2003 [11909–1938], hier Bd. 2, S. 977, Anm. 3. 320 Torijano, Solomon the Esoteric King; Trachtenberg, The Devil and the Jews, S. 63–64. 321 So der Rabbiner Jacob ben David Provenzali (Lebensdaten unbekannt) in einem Brief aus dem Jahre 1490, siehe Raphael Patai, The Jewish Alchemists. A History and Source Book, Princeton 1994, S. 337. Ob der Briefschreiber selbst glaubte, was er behauptete, ist umstritten. Siehe die Bemerkungen zu dieser viele Fragen aufwerfenden Quelle bei Gershom Scholem, Alchemie und Kabbala, in: Ders., Judaica IV, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1984, S. 19–128, hier S. 72–73. 322 Das Ma’assebuch, hg. von Ulf Diederichs, München 2003, S. 558–564. Das Zitat findet sich auf S. 563. 323 Dazu jetzt grundlegend Miletto, Glauben und Wissen. Der Magus und sein Kosmos
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der Natur zu kennen anstrebte. Eine solche Verortung dürfte Colorni nicht nur im innerjüdischen Kontext Legitimität verliehen haben. Auch nach außen hin war es vorteilhaft, Assoziationen mit der salomonischen Tradition zu wecken. Denn auf christlicher Seite war – wie erwähnt – der Ruf Salomos als einer der größten Geheimniskundigen ebenfalls unbestritten. Die einschlägigen Bibelverse über diejenigen, »bei denen das Geheimnis des HERRN ist«, wurden noch im 18. Jahrhundert in erster Linie auf Salomo bezogen.324 In England etwa breitete sich im 16. und 17. Jahrhundert – ausgehend von puritanischen Kreisen – eine regelrechte Bewunderung für den biblischen König aus, bei der Salomo zum Vorbild für die Erforschung der Natur und ihrer Geheimnisse erhoben wurde.325 Es ist kein Zufall, daß Francis Bacon (1561–1626) in seiner vielrezipierten Gesellschaftsund Wissenschaftsutopie New Atlantis die zentrale Institution des Inselstaats als »Haus Salomons« bezeichnete.326 Diese Bezeichnung rührt zwar in Bacons Narrativ eigentlich von einer fiktiven Figur, dem Inselkönig Solamona. Unmißverständlich aber spielte der Lordkanzler hier auf den biblischen König an. Das Haus Salomons sollte eindeutig mit dem biblischen König in Verbindung gebracht werden.327 Salomo galt nicht nur in den Augen Bacons als ein König, dessen Reich und Reichtum auf dem Fundament seiner technologischen und wissenschaftlichen Expertise gegründet waren.328 Zudem wurde in der Frühen Neuzeit der Tempel Salomos zu einer wirkmächtigen Wissensmetapher und zum idealisierten Ort für die Idee universalen ebenso wie arkanen Wissens.329 Es ist vor dem hier skizzierten Hintergrund also auffallend, wenn Colorni später seine eigene Scotographia mit einem Vergleich zwischen dem rudolfinischen Kaiserhof und dem salomonischen Tempel eröffnet. Der von Zeitgenossen sonst 324 Vgl. Ps 25:14: »Das Geheimnis des HERRN ist vnter denen die jn füchten / Vnd seinen Bund lesst er sie wissen.« (Luther 1545). In den meisten modernen Bibel-Ausgaben fällt das Wort »Geheimnis« weg. Im hebräischen Original ist es allerdings enthalten (sod). Auch in der Vulgata heißt es: »Secretum Domini timentibus eum et pactum suum ostendet eis.« Ähnlich verhält es sich mit Spr 3:32: »Denn der HERR hat grewel an dem Abtrünnigen / vnd sein Geheimnis ist bey den Fromen.« (Luther 1545) Zur frühneuzeitlichen Deutung dieser Verse, bei der Salomo par excellence als in dieses »Geheimnis« eingeweiht galt, vgl. das Lemma Geheimnis des HErrn, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon [Zedler], Bd. 10, Sp. 609. 325 Jim Bennett/Scott Mandelbrote (Hg.), The Garden, the Ark, the Tower, the Temple. Biblical Metaphors of Knowledge in Early Modern Europe, Oxford 1998, v. a. S. 135–156, S. 144. Charles Webster, The Great Instauration. Science, Medicine and Reform 1626–1660, London 1975, S. 327. 326 Zu dem Haus Salomos und Bacons Utopie siehe ausführlich weiter unten (Kapitel VI). 327 Bennett/Mandelbrote, The Garden, S. 144. 328 So Webster, The Great Instauration, S. 327. 329 Siehe dazu allgemein Paul von Naredi-Rainer, Salomos Tempel und das Abendland. Monumentale Folgen historischer Irrtümer, Köln 1994; Helen Rosenau, Vision of the Temple. The Image of the Temple of Jerusalem in Judaism and Christianity, London 1979; Bennett/Mandelbrote 1998, The Garden, v. a. S. 135–156; speziell zur jüdischen Tradition Miletto, Glaube und Wissen.
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oft als »Hermes Trismegistos Germaniae«330 beschriebene Habsburger wird in Colornis Augen zu einem Erben des Königs Salomo – und Colorni selbst somit zu einem Mitarbeiter am Projekt der Wiedererlangung des salomonischen Wissens.331 Nicht minder aufschlußreich ist, daß Colorni in demselben Werk seine kryptographische Methode insbesondere an einem Spruch Salomos demonstriert.332 Daß dieser Spruch ein Lob desjenigen ist, der ein Geheimnis zu hüten weiß, verrät wohl manches über Colornis Idealbild eines salomonischen professore de’ secreti.
Arcana imperii – Imperium arcanorum. Der Kaiserhof Rudolfs II. Das Jahr 1588 bildet eine Zäsur in Colornis Biographie. Es markiert den Beginn seiner fast ein Jahrzehnt währenden Tätigkeit im (Macht-)Zentrum des Heiligen Römischen Reichs. Colornis Wirken nördlich der Alpen war – wie zu zeigen sein wird – durch all diese Jahre hindurch auf enge Weise mit den politischen und militärischen Zeitläuften verbunden. Dies gilt bereits für seine Berufung an den Kaiserhof. Sie erreichte ihn, nicht zufällig, in einer Krisenstunde des Hauses Habsburg. Im Streit um die polnische Krone war der Habsburger Erzherzog Maximilian, ein Bruder Kaiser Rudolfs II., dem schwedischen Prinzen Sigismund Wasa 1588 unterlegen: Maximilian wurde vom Sieger gefangen genommen. Die Gefangennahme des Erzherzogs war politisch ebenso wie persönlich ein schwerer Schlag für den ohnehin wankelmütigen Kaiser. Die Ereignisse um Maximilian hätten den Kaiser sehr betrübt (»greatly troubled the mind of the Emperor«), berichtete in diesen Monaten beispielsweise ein Informant an den englischen Hof.333 Erst später sollte sich herausstellen, daß das Schicksal des Erzherzogs nicht so dramatisch war, wie man damals befürchtet hatte. Denn Maximilian war von den polnischen Truppen keineswegs in Ketten gelegt worden. Vielmehr wurde er in einer ländlichen Gegend unter Hausarrest gestellt, konnte sich aber auf dem Grund und Boden frei bewegen und sogar dem »Waidwerk« nachgehen. Selbst den Karneval durfte er in seiner Gefangenschaft feiern.334 330 M.E.H.N. Mout, Hermes Trismegistos Germaniae. Rudolf II en de arcane wetenschappen, in: Leids Kunsthistorisch Jaarboek 1 (1982), S. 161–189. 331 Scotographia, Widmungsschreiben an den Kaiser, o. S. 332 Siehe dazu ausführlich weiter unten. 333 Stephen Powle an Sir Francis Walsingham, 20. Februar 1588 (Venedig), in: Calendar of State Papers [Foreign], Bd. 21/1, S. 514. Auch am spanischen Hof Philipps II. war man bestürzt über die Gefangennahme Maximilians. Vgl. Hans Khevenhüller, kaiserlicher Botschafter bei Philipp II. Geheimes Tagebuch 1548–1605, hg. von Georg Khevenhüller-Metsch, Graz 1971, S. 167. 334 Nuntiaturberichte aus Deutschland nebst ergänzenden Aktenstücken, 1585 (1584)–1590, II. Abt./2, bearb. von Joseph Schweizer, Paderborn 1912, S. lxvii. Arcana imperii – Imperium arcanorum
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Im Reich begannen derweil die fieberhaften Bemühungen, den hochadligen Gefangenen zu befreien. Der Kaiser erbat Unterstützung bei verschiedenen europäischen Fürsten, darunter auch beim Herzog von Ferrara.335 Der Erzherzog sollte nach dem Willen des Kaisers zwar so schnell wie möglich befreit werden, jedoch sollte dies auf friedliche Weise geschehen. Einem Vertrauten Alfonsos II. d’Este am Prager Kaiserhofe fiel schließlich ein, daß der Herzog von Ferrara einen Juden in Diensten halte, den man mit dieser schwierigen Aufgabe betrauen könne. Ganz abwegig war dieser Einfall nicht. Denn dem jüdischen Hofingenieur Colorni eilte der Ruf voraus, aus jedem Gefängnis ausbrechen zu können.336 Bereits Garzoni hatte dieses angebliche Talent Colorni ein Jahr zuvor in der Piazza universale in einer dramatischen Beschreibung erwähnt und damit diese Reputation wohl erheblich verbreitet.337 Colorni selbst hatte die Fähigkeit des disprigionare für sich in Anspruch genommen.338 Anregungen dazu könnte er auch aus seiner Übersetzung der Clavicula Salomonis erhalten haben. Denn in zeitgenössischen Handschriften dieses Werkes – darunter auch in hebräischen Fassungen339 – kommen magische Instruktionen zum Ausbrechen aus Gefängnissen vor. In der jüdischen magischen Literatur (und ebenso in der christlichen) finden sich immer wieder entsprechende Anleitungen.340 In jedem Fall wurde Colornis Behauptung von seinen Zeitgenossen ernst genommen. Am Hof von Ferrara rechnete man bereits stolz mit dem Dank des Kaisers und begann »con ogni segretezza« mit den Vorbereitungen für die Mission des jüdischen Hofingenieurs. Colorni sollte vorläufig sogar die Nähe zu polnischen Handelsleuten meiden. In Prag traf er schließlich im Mai 1588 ein.341
335 Ebd., S. cviii. 336 »[U]n giudeo che si dicea saper trarre di prigione quasi miracolosamente«, heißt es in einer Weisung Alfonsos II. an seinen Botschafter am kaiserlichen Hof, Ascanio Giraldini, 29. März 1588 (J-1891, S. 23). Dieses Dokument befindet sich als Estratto sopra il disprigionatore per opera d’Abraham Colorno [1588] auch in ASMo, ASE, Ingegneri, b. 2. 337 Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 19. Dort ist sehr theatralisch die Rede von den Kerkern »dalle quali con tanta facilità, rompendo i ferri, spezzando le porte, disserrando i gangheri, sbuccando i parieti, et portando via chatene, et ceppi, vi liberate a vostro piacere«. 338 »L’hebreo che pretende saper disprigionare«, so Ascanio Giraldini an Alfonso II. d’Este, 19. April 1588 (J-1891, S. 25). 339 Rohrbacher-Sticker, A Hebrew Manuscript, S. 132. 340 Für ein Beispiel aus dem jüdischen Schrifttum vgl. Gerrit Bos, Hayyim Vital’s »Practical Kabbalah and Alchemy«. A 17th Century Book of Secrets, in: Journal of Jewish Thought and Philosophy 4 (1994), S. 55–112, hier S. 67. 341 Ascanio Giraldini an Alfonso II. d’Este, 10. Mai 1588 (J-1891, S. 25). Toaffs Behauptung, Colorni sei erst im Mai 1589 in Prag eingetroffen, ist abwegig. Vgl. Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 137, S. 252.
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Die knapp neun Jahre, die Colorni insgesamt am Kaiserhof in Prag verbringen sollte, zählen bisher zu den Abschnitten in seinem Leben, über die am wenigsten bekannt ist. Die einschlägigen, in moderner Edition vorliegenden zeitgenössischen Zeugnisse über den Prager Hof schweigen über Colorni.342 In historischen Studien über den Hof Rudolfs II. fehlt der jüdische Höfling fast gänzlich. Umgekehrt hat keiner der Historiker, die sich bisher mit Colornis gesamter Biographie beschäftigt haben, jemals Quellen aus Habsburger Archiven herangezogen. Dies ist um so fragwürdiger, weil Colorni – wie zu zeigen sein wird – in seinen Prager Jahren in mancherlei Hinsicht den Zenit seiner Karriere erreichen sollte. Mehr noch, Colorni stieg in seinen ersten Jahren in Prag zu einem der Favoriten des Kaisers unter den zahlreichen Alchemisten und Geheimniskundigen auf dem Hradschin auf. Daß Colorni in den kaiserlichen Hofstaatsverzeichnissen dieser Jahre durchweg unerwähnt bleibt, hat dabei nichts zu bedeuten. Immerhin fehlen die meisten von Rudolfs zeitweise fast fünfzig Alchemisten in dieser Quelle, da ihre Arbeit aus der privaten Kasse des Kaisers finanziert wurde.343 Hingegen fehlt es durchaus nicht an archivalischen Quellen zu Colorni in den Akten der kaiserlichen Hofkammer. Diese Quellen sind für die vorliegende Studie erstmals herangezogen und ausgewertet worden.344 Außerdem sind in italienischen Archiven eine Reihe bisher unbekannter Originalschreiben Colornis aus Prag aufgetaucht. Zwar beklagte sich Colorni in diesen 342 Ergebnislos bleibt zum Beispiel die Suche in: The Diaries of John Dee, hg. von Edward Fenton, Oxfordshire 1988; Documenti della vita di Giordano Bruno, hg. von Vincenzo Spampanato, Florenz 1933; Francesco Pucci, Lettere, documenti e testimonianze, hg. von Luigi Firpo und Renato Piattoli, 2 Bde., Florenz 1955/1959; Mikuláš Dačický z Heslova, Paměti, hg. von Ant. Rezek, 2 Bde., Prag 1878–1880. 343 Jaroslava Hausenblasová, Der Hof Kaiser Rudolfs II. Eine Edition der Hofstaatsverzeichnisse 1576–1612, Prag 2002, S. 97; Jürgen Zimmer, Praga caput regni. Kulturaustausch zur Zeit Kaiser Rudolfs II, in: Marina Dmitrieva/Karen Lambrecht (Hg.), Krakau, Prag und Wien. Funktionen von Metropolen im frühmodernen Staat, Stuttgart 2000, S. 283–297, hier S. 289. Die Zahl der fünfzig Alchemisten nennt ein Schreiben (1603) des Mantuaner Residenten Aderbale Manerbio an Vincenzo I. Gonzaga, siehe Gonzaga/Prag, Dok. 945. 344 Mein herzlicher Dank gilt Herrn Manfred Staudinger, einem der besten Kenner der Bestände aus rudolfinischer Zeit. Sein Rat und sein Internetportal www.documenta.rudolphina.org waren eine wichtige Unterstützung bei meiner Suche nach den Nadeln im Heuhaufen. Ebenfalls hilfreich war die Regestensammlung von Lydia Gröbl/Herbert Haupt, Kaiser Rudolf II. Kunst, Kultur und Wissenschaft im Spiegel der Hoffinanz, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 8/9 (2006/2007), S. 207–353; sowie 10 (2008), S. 229–399. Es spricht im übrigen vieles dafür, daß sich noch weitere Dokumente zu Colorni in den Akten der Hofkammer finden lassen. Die Überlieferungsgeschichte der Akten des rudolfinischen Hofes ist allerdings ungünstig für eine systematische Untersuchung. Im 20. Jahrhundert wurden diese Bestände zweimal (jeweils nach den Weltkriegen) aus ihrem ursprünglichen Überlieferungszusammenhang gerissen. Die Akten sind daher heute auf verschiedene Archive in Wien und Prag verteilt. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchungen mußte auf eingehende Recherchen in Prag verzichtet werden, nachdem erste Stichproben im tschechischen Nationalarchiv und im Archiv der Prager Burg vergeblich Arcana imperii – Imperium arcanorum
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Briefen verschiedentlich über die Trennung von seiner in Italien verbliebenen Familie. Doch ebenso ist unübersehbar, daß Colorni die Wirkungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume, die sich ihm am Kaiserhof boten, sehr wohl zu schätzen wußte. Der Hof Rudolfs II. bildete damals einen einzigartigen intellektuellen und künstlerischen Kosmos.345 Um 1600 gab es allein 124 fest am Hof angestellte Künstler und Handwerker, darunter die berühmten Maler Giuseppe Arcimboldo und Hans von Aachen. Insgesamt umfaßte der Hofstaat des Kaisers fast tausend Personen.346 Prag war damals nicht zuletzt ein Zentrum für geheime Wissenschaften und Künste aller Art. Kaiser Rudolf II. (1552–1576–1612), der in Europa auch unter dem Beinamen »Hermes Trismegistos Germaniae« bekannt war, hatte diese Entwicklung initiiert und aktiv befördert.347 Zwar gab es auch unter den böhmischen Magnaten großzügige Gönner der okkulten Wissenschaften, darunter namentlich Peter Wok von Rosenberg (1539–1611), der zahlreiche Alchemisten beschäftigte und eine weithin bekannte Sammlung von Curiosa anlegte.348 Unübertroffen blieb gleichwohl die Anziehungskraft, die der Hof Rudolfs II. auf Geheimniskundige und Naturforscher aus ganz Europa ausübte. Die Leidenschaft des schwermütigen und exzentrischen Habsburgers für die okkulten Wissenschaften – namentlich für die Alchemie – war bereits den Zeitgenossen weithin bekannt. Die ältere Forschung hat die Leidenschaft Rudolfs II. für die Alchemie und für die okkulten Wissenschaften als eine Charakterschwäche des Kaisers und die
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geblieben waren. Ich danke Frau Dr. Lenka Matušiková (Nationalarchiv Prag) und Herrn Dr. Martin Halata (Archiv der Prager Burg) für ihre Unterstützung bei der Sondierung der Prager Bestände. Es liegt dazu inzwischen eine große Menge an Studien vor. Klassisch ist Robert J.W. Evans, Rudolf II and his World. A Study in Intellectual History, 1576–1612, London 1997 [11973]. Außerdem: Hausenblasová, Der Hof Kaiser Rudolfs II.; Zimmer, Praga caput regni; Lubomír Konečný (Hg.), Rudolf II, Prague and the World. Papers from the International Conference Prague, 2–4 September 1997, Prag 1998; Eliška Fučíková (Hg.), Rudolf II and Prague. The Court and the City, London etc. 1997; dies. (Hg.), Prag um 1600. Beiträge zur Kunst und Kultur am Hofe Rudolfs II., Freren 1988; Thomas DaCosta Kaufmann, L’école de Prague. La peinture à la cour de Rodolphe II, Paris 1985; ders., The Mastery of Nature. Aspects of Art, Science, and Humanism in the Renaissance, Princeton 1993; Hugh Trevor-Roper, Princes and Artists. Patronage and Ideology at Four Habsburg Courts (1517–1633), London 1976, S. 85–125. Zimmer, Praga caput regni, S. 289–290. Zu den arkanen Aktivitäten siehe insbesondere Evans, Rudolf II. and his World, v. a. Kap. 6 und 7; Mout, Hermes Trismegistos Germaniae; Penelope Gouk, Natural Philosophy and Natural Magic, in: Eliška Fučíková (Hg.), Rudolf II and Prague. The Court and the City, London etc. 1997, S. 231–237. Włodzimierz Hubicki, Rudolf II. und die Alchimisten, in: Actes du IX congrès international d’histoire des sciences, Barcelona 1960, S. 296–302. Eher populärwissenschaftlich gehalten ist Peter Marshall, The Magic Circle of Rudolf II. Alchemy and Astrology in Renaissance Prague, New York 2006. Weitere Adepten aus dem böhmischen Adel nennt Julian Paulus, Lemma Rudolph II., in: LexAlch, S. 309–310, hier S. 309. Ein jüdischer professore de’ secreti
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Aktivitäten am Prager Hof als wissenschaftlichen Holzweg betrachtet.349 Mittlerweile tendieren Historiker dazu, die Forschungen und Experimente am Prager Hof als Ausdruck für das auch politisch konnotierte Streben des Kaisers nach universalem Wissen und der Herstellung einer idealen Gesellschaftsordnung zu sehen. Die Übergänge zwischen Politik, Kunst und okkulter Sphäre waren unter der Herrschaft Rudolfs II. besonders fließend.350 Namentlich die Alchemie spielte am Kaiserhof dabei die Rolle einer »language of mediation« (Pamela H. Smith).351 In der Praxis und Rhetorik der Alchemie wurden die konfessionellen Differenzen zwischen Adepten unterschiedlichster Herkunft nicht selten neutralisiert. Überhaupt traten angesichts von Rudolfs ebenso ehrgeizigem wie weitgespanntem Wissensdrang konfessionelle Aspekte in den Hintergrund. Zwar wurden die obersten Ämter am Hof im wesentlichen von Katholiken bekleidet. Der Kreis der Gelehrten, Künstler und Handwerker aber war eine konfessionell heterogene Gesellschaft.352 Viele der berühmtesten Alchemisten, Astrologen und Magi der Zeit weilten für kurze oder längere Zeit auf der Prager Burg und bemühten sich um die Patronage des Kaisers. Besonders bekannt sind bis heute vor allem die Aufenthalte des englischen Mathematikers und Magus John Dee, der Mitte der 1580er Jahre gemeinsam mit dem betrügerischen Alchemisten Edward Kelley am Kaiserhof weilte. Auch der hermetische Philosoph Giordano Bruno stellte sich am Hofe Rudolfs vor. Mit Michael Maier (1569–1622), Oswald Croll (1560–1609) und Michael Sendivogius (1566–1636) waren einige der prominentesten Alchemisten des späten 16. Jahrhunderts in Prag versammelt. Einige namhafte nichtjüdische Kabbalisten trugen wiederum zur Beschäftigung mit der hebräischen Mystik am Hof bei.353 Doch auch Naturforscher, die heute oft für die Anfänge der modernen Naturwissenschaft reklamiert werden, wirkten am Hof Rudolfs II. Die bekanntesten Namen in diesem Zusammenhang sind Tycho Brahe (1546–1601) und Johannes Kepler (1571–1630). Der dänische Astronom weilte von 1599 bis zu seinem Tod in Prag, Kepler wiederum bekleidete das Amt des Hofmathematikers von 1600 bis 1612. Kepler kann Colorni in Prag also nicht (mehr) kennengelernt haben, da der jüdische Alchemist bereits 1597 seinen Abschied vom Hof Rudolfs II. genommen hatte. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, daß Kepler mit dem Namen des Juden aus
349 Einschlägig für diese Sicht ist die zudem mit Fehlern behaftete Studie von Henry Carrington Bolton, The Follies of Science at the Court of Rudolph II, 1576–1612, Milwaukee 1904. 350 Evans, Rudolf II. and his World, v. a. S. 74. 351 Pamela H. Smith, Alchemy as a Language of Mediation at the Habsburg Court, in: Isis 85 (1994), S. 1–25; siehe auch Trevor-Roper, Princes and Artists, S. 99. 352 Hausenblasová, Der Hof Kaiser Rudolfs II., S. 114–118; Trevor-Roper, Princes and Artists, S. 99. 353 Zu den Interessen an der Kabbala vgl. v. a. Evans, Rudolf II. and his World, S. 90–91, S. 236–239. Arcana imperii – Imperium arcanorum
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Ferrara vertraut war, wenn auch eher im Zusammenhang mit Colornis späterem Eintritt in württembergische Dienste (1597–1599).354 Doch kehren wir an dieser Stelle zurück zur Chronologie der Ereignisse. Colornis erste Wochen in Prag waren mühselig und frustrierend. Der Kaiser ließ mehrere Wochen verstreichen, bevor er den Juden empfing, von dem behauptet wurde, er könne auf wundersame Weise Gefangene befreien. Colorni, der die Tragweite seines kühnen Angebots mittlerweile erahnt haben dürfte und dessen in Mantua verbliebener Familie zusehends das Geld ausging, erkrankte zudem schwer.355 In Prag, wo er einstweilen auf die finanzielle Unterstützung des Ferrareser Gesandten angewiesen war, erregte seine Ankunft offenbar mehr Aufsehen, als den auf Geheimhaltung bedachten Diplomaten am kaiserlichen Hof recht war.356 Erst im Juli 1588 kam es schließlich zu einer Audienz Colornis bei Rudolf II., die sich zum Erstaunen des Hofstaates fast drei Stunden hinzog. Colorni gelang während des Gespräches mit dem Kaiser das vielleicht größte Kunststück: Anstatt Rudolf die in Aussicht gestellten, aber in der Praxis kaum realisierbaren Pläne zu einer Befreiung Maximilians vorzustellen, begann Colorni dem Kaiser Geschichten vom Glücksspiel bis hin zur Herstellung von Arkebusen zu erzählen. Colornis Ausführungen verfehlten nicht ihre Wirkung auf den Kaiser, dessen Faszination für Arkana und Wundersames nahezu unbegrenzt war. Konsterniert meldete der Botschafter nach Ferrara, das Gespräch habe ›über Spiele, Arkebusen und ähnliche Dinge‹ gekreist, ohne daß ein Wort über die Befreiungsaktion gefallen sei (»senza parlar punto dello sprigionare«).357 Der Kaiser fand gleichwohl Gefallen an den Versprechungen des italienischen Juden (»mostra di haver gusto della persona«)358 – und behielt Colorni fortan für acht Jahre an seinem Hofe. Colorni hatte offenbar sein Bestes gegeben, um von dem eigentlichen Grund für die Entsendung nach Prag abzulenken. Allerdings kamen ihm hierbei auch die Zeitläufte zugute. Denn es zeichnete sich bereit ab, daß die Verhandlungen zwischen der kaiserlichen und der polnischen Seite zu einer friedlichen Freilassung des Erzherzogs führen würden. Mit dem sog. Pazifikationstraktat wurde dieses Ziel in der Tat im Frühjahr 1589 schließlich erreicht. Colorni hinter die feindlichen Linien zu schicken, hätte im Sommer des Jahres 1588 also eher ein unnötiges Risiko 354 In jedem Fall war Kepler, der damals in Graz lebte, über die Alchemistenkreise am Hofe seiner württembergischen Heimat auch durch Briefe im Bilde. Vgl. einen Brief seines Tübinger Professors Martin Crusius vom 3. April 1597, in: Johannes Kepler, Gesammelte Werke, Bd. 13, München 1945, S. 121. Crusius beschäftigte sich zur selben Zeit in seinem Tagebuch verschiedentlich mit der Causa Colorni am Stuttgarter Hof (siehe dazu ausführlich weiter unten). 355 Ascanio Giraldini an Alfonso II. d’Este, 21. Juni 1588 (J-1891, S. 26). 356 Ascanio Giraldini an Alfonso II d’Este, 7. Juni 1588 (J-1891, S. 26). 357 Ascanio Giraldini an Alfonso II. d’Este, 19. Juli 1588 (J-1891, S. 26). 358 Ascanio Giraldini an Alfonso II. d’Este, 9. August 1588 (J-1891, S. 27).
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für die Verhandlungen bedeutet. So realistisch war auch der Kaiser (obgleich es gut vorstellbar ist, daß er dem Ruf Colornis als disprigionatore prinzipiell Glauben schenkte). In jedem Fall hatte die Entscheidung gegen einen Einsatz nichts mit der Tatsache zu tun, daß Colorni Jude war. Denn die Habsburger zögerten bei Bedarf keineswegs, Juden in ihr militärisches und politisch-diplomatisches Vorgehen einzubinden. Bezeichnenderweise war ein polnischer Jude – der sich, wie Colorni, ebenfalls als Ingenieur hervorgetan hatte – an den erwähnten Verhandlungen zur Freilassung des Erzherzogs beteiligt.359 Colorni hatte allen Grund, sich beglückt über die Wendung seiner Mission und über die kaiserliche Gunst zu zeigen.360 Bereits im August 1588 ließ Kaiser Rudolf dem jüdischen Ingenieur mietfrei ein Haus zuweisen.361 In dieser »comoda Casa« – offenbar in der Prager Altstadt gelegen – war auch für das leibliche Wohl Colornis gesorgt. Zufrieden berichtete Colorni in die Heimat, daß ihm ein jüdisches Ehepaar mit Italienischkenntnissen vom Kaiser zugeteilt worden sei, um nicht zuletzt die Küche auf heimische Weise zu führen (»mi debbano governare alla italiana«). Zudem war eine Wachmannschaft abgestellt worden, damit der in exponierter und privilegierter Stellung lebende Jude nicht belästigt werde.362 Der vielseitige Ankömmling aus Ferrara konnte dem Kaiser eine Reihe verschiedener Dienste anbieten. Darunter war offenbar auch der Ankauf von Juwelen. Wir wissen jedenfalls, daß Rudolf mehrere tausend Taler aufbrachte »zur bezallung des von Abraham, Juden, erkauften orientalischen diamants«.363 Der teure Edelstein zählte zu einer Reihe von »zu Venedig [durch Abraham] erkauften wahren«. Die Rechnung wollte der Kaiser übrigens ausgerechnet von jenem Geld bezahlen, das er durch Geldstrafen gegen angesehene Juden des Reiches einzunehmen gedachte. Die Vermutung, daß es sich bei dem in diesen Quellen genannten Juden 359 Es handelt sich um Mendel Isaak aus Krakau bzw. Wien, von dessen Donaubrückenprojekt weiter oben bereits die Rede war (siehe das Kapitel zu Technologie). Zu Mendels Diensten für die Habsburger siehe N. Gelber, An umbakanter briv fun Mendl Itskhok fun Kroke tsum keyzer Rudolf II (jidd.), in: Yivo Bleter 11 (1937), S. 401–405, Vgl. auch den ebd. abgedruckten Brief Mendels an den Kaiser zur Lage in Polen vom 16. Januar 1589, S. 404–405. 360 »L’Hebreo nostro se ne sta qui allegramente«, berichtet Ascanio Giraldini an Alfonso II. d’Este am 9. August 1588 (J-1891, S. 27). 361 Ascanio Giraldini an Alfonso II. d’Este, 30. August 1588 (J-1891, S. 27) 362 Colorni an Alfonso II. d’Este, 28. November 1588 (J-1891, S. 28). 363 HHStA, Familienakten, Karton 103, fol. 267r: Undatiertes und ungezeichnetes Gutachten »welcher gestalt [der Kaiser] zur bezallung des von Abraham Juden Erkaufften Orientalischen Diamants und anderer zu Venedig erkaufften Wahren etlich dausent daller innerhalb vierzehntagen erhöblich und billich zu wegen bringen lassen khan«. Siehe auch: Urkunden und Regesten aus dem k.u.k. Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, hg. von Hans von Voltelini, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 15 (1894), S. 49–179, hier Dok. 12602. Arcana imperii – Imperium arcanorum
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Abraham um Colorni handelte, wird gestützt durch italienische Dokumente, die belegen, daß Colornis Sohn Simone sich in den späten 1580er Jahren in der Tat im Zusammenhang mit Juwelengeschäften in Venedig aufhielt.364 Vor allem aber verlangte der Kaiser von Abramo Colorni laufend neue Erfindungen und Kunststücke. Zunächst hatten Entdeckungen auf mathematischem Gebiet und die Nutzanwendung von Spiegeln den Kaiser begeistert. Dann verlagerte man sich auf Fragen der Waffenherstellung, schließlich kreisten die Audienzen wieder um allerlei Kartenspiele und Kunststücke. Doch auch an Colornis Schriften und an dessen Entwicklung einer Sonnenuhr soll der Herrscher Gefallen gefunden haben.365 Colorni entwarf sogar ein Kästchen mit Spiegeln, in denen man angeblich lebende oder verstorbene Familienangehörige sehen konnte. War damit die Grenze zum Scharlatanismus, gar zum Betrug überschritten? Um diese Frage zu beantworten, muß erörtert werden, was es mit diesem Zauberspiegel auf sich gehabt haben könnte. Manches spricht dafür, daß es sich um Effekte handelte, die durch eine Art Vexierspiegel erzeugt wurden, oder aber um Anamorphosen, die mit einem zylindrischen Spiegel entzerrt wurden. Solche Spiegel befanden sich beispielsweise auch im berühmten, 1631 fertiggestellten ›Kunstschrank‹ des schwedischen Königs Gustav Adolf.366 Im Schrifttum aus dem Bereich der magia naturalis erfreuten sich Anleitungen zur Herstellung oder Verwendung solcher Spiegel beträchtlicher Beliebtheit.367 Letztlich ist es jedoch für den Historiker müßig rekonstruieren zu wollen, mit Hilfe welcher Technik Colorni hier dem Auge Rudolfs II. übernatürliche ›Einsichten‹ verschaffte. Entscheidend ist vielmehr, daß der (kaiserliche) Betrachter und vielleicht auch der Erfinder selbst an das glaubten, was sie zu sehen vermeinten. Evidenz wurde in diesem Zusammenhang nicht nur durch das erzeugt, was man real im Spiegel sehen konnte, sondern auch durch die Berufung auf die lange Tradition der Zauberspiegel im okkulten Schrifttum.368 Es war damals die Ansicht verbreitet, Zauberspiegel hätten bereits in
364 Simone Colorni an den Conte Marcello Donato, 17. Juni 1588, ASMn, AG, b 1520, fol. 792r. Siehe auch Gonzaga/Venedig II, Dok. 13. 365 Colorni an Alfonso II. d’Este, 28. November 1588 sowie 29. November 1588 (J-1891, S. 27–31). 366 Hans-Olof Boström, Philipp Hainhofer. Seine Kunstkammer und seine Kunstschränke, in: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994, S. 555–580, hier S. 570. 367 Einschlägig sind in diesem Zusammenhang verschiedene Kapitel bei Giovan Battista Della Porta, Magiae naturalis sive de miraculis rerum naturalium libri IIII, Neapel: Cancer 1558. Siehe auch die Ausführungen bei Giambattista Birelli, Alchimia Nova. Das ist die güldene Kunst oder aller Künsten Gebärerin […] Von allerley alchimistischen vnnd metallischen Geschäfften, Wässern vnnd Oelen […], Frankfurt am Main: Hoffman 1603 [Florenz 11601], IX. Buch, Kap. 39–44. 368 Zur Konstruktion und Relativität von Evidenz im allgemeinen in dieser Epoche siehe v. a. Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago etc. 1994.
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der Antike und sogar in biblischer Zeit existiert.369 Im 16. Jahrhundert existierten verschiedene Theorien zu Zauberspiegeln und zur Spiegelschau. Namentlich das paracelsische und pseudoparacelsische Schrifttum war eine einschlägige Quelle etwa für die Frage, wie man in Spiegeln Ereignisse in weiter Ferne sehen könne (im örtlichen wie zeitlichen Sinn).370 Der Blick in den Zauberspiegel war also a priori überlagert von Assoziationen und Erwartungen. Zu diesem Vorwissen zählte bei vielen Zeitgenossen nicht zuletzt die Meinung, daß Juden zum Umgang mit Zauberspiegeln in besonderem Maße geeignet seien. Noch nach 1700 wurde die ins Spätmittelalter zurückreichende Legende von Rabbi Simeon zu Mainz tradiert, in dessen Haus Spiegel gehangen haben sollen »darinnen er alles sehen können / was geschehen ist und noch geschehen soll«.371 Im Ghetto von Venedig (und vermutlich nicht nur dort) verdienten sich in der Frühen Neuzeit Juden sogar den Unterhalt damit, daß sie allerlei Künste mit magischen Spiegeln anboten. Der adlige Reisende Johann Weichard Valvasor hat eine anschauliche Schilderung einer Befragung eines »magischen Spiegel[s], der aber nur aus Glas ware« hinterlassen, die sich um 1679 im venezianischen Ghetto ereignete.372 Der hier umrissene Kontext erlaubt es, die Glaubwürdigkeit solcher Kunsstücke Colornis – die heute nur noch als Budenzauber belächelt würden – zu ermessen. Dem Kaiser jedenfalls sollen die diversen Erfindungen Colornis »sommamente« gefallen haben.373 Er bedankte sich persönlich beim Herzog von Ferrara für die Ergötzlichkeiten (»oblectamentum«), die ihm Colornis Aufenthalt am Hof bereite.374 369 Für Beispiele der literarischen Erwähnung von Zauberspiegeln vgl. Francesco Santi, Per una storia degli specchi magici, in: Il segreto (= Micrologus. Natura, scienze e società medievali 14 [2006]), S. 237–257, hier v. a. S. 238–240. 370 Peuckert, Gabalia, S. 205–216; Santi, Per una storia, S. 245. 371 So Schudt unter Berufung auf das »Masseh-Buch«, siehe Johann Jacob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten […] Was sich Curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahrhunderten mit denen in alle IV. Theile der Welt sonderlich durch Teutschland zerstreuten Juden zugetragen […], Frankfurt am Main/Leipzig 1714 [ND Berlin 1922, 4 Bde.]. Die entsprechende Erzählung findet sich in der Tat im Ma’assebuch, S. 517–524, hier S. 517. 372 Siehe dazu weiter oben das Kapitel zur Magie als Zwischenraum. Weitere Beispiele für Zauberspiegel in der magischen Literatur frühneuzeitlicher Juden auch bei Max Grunwald, Aus Hausapotheke und Hexenküche, in: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde 3 (1900), S. 1–87, hier S. 83. Aus technischer Perspektive beschrieb Delmedigo – ein jüdischer Student Galileos – in hebräischer Sprache verschiedene Arten von Spiegeln. Vgl. Barzilay, Yoseph Shlomo Delmedigo, S. 145. Einige Jahre zuvor (1582) hatte der jüdische Arzt Rafael Mirami eine einschlägige Einführung in die ›Spiegelkunst‹ veröffentlicht, die weiter oben bereits erwähnte Compendiosa Introduttione alla prima parte della specularia, cioè della Scienza de gli specchi. 373 Colorni an Alfonso II. d’Este, 29. November 1588 (J-1891, S. 31). 374 Rudolf II. an Alfonso II. d’Este, 21. September 1589. Dieses Dankschreiben hat sich offenbar im Original nicht erhalten (jedenfalls weder im Archiv in Wien noch in Modena) und ist auch Jarè unbekannt geblieben. Es findet sich abgedruckt in: Divi Rudolphi imperatoris, Caesaris Augusti Arcana imperii – Imperium arcanorum
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In Ferrara dürfte man diese Worte des Kaisers mit Genugtuung aufgenommen und mit der Dankbarkeit Rudolfs auch politische Hoffnungen verbunden haben. Denn es wäre kurzsichtig, die Entsendung Colornis nach Prag lediglich mit der Gefangennahme des Erzherzogs in Verbindung zu bringen. Zwar war der Herzog von Ferrara offenbar tatsächlich davon überzeugt, daß Colorni den Bruder des Kaisers auf geheimnisvolle Weise aus der Gefangenschaft hätte befreien können. Die Entsendung des jüdischen Höflings war aber keine rein altruistische Geste. Handfeste politische Motive waren augenscheinlich im Spiel. Zunächst einmal war es vorteilhaft für Alfonso II., einen weiteren Vertrauensmann am Kaiserhof zu haben. Der Herzog von Ferrara hegte damals ehrgeizige Pläne – weit über den Horizont seines Territoriums hinaus. So bereitete er zur selben Zeit eine Kandidatur um die polnische Krone vor.375 Jenseits solcher politischer Abenteuer war die Erhaltung guter Kontakte ins Reich und namentlich zum Kaiser in diesen Jahren zunehmend eine politische Frage von höchster Bedeutung für den Herzog von Ferrara. Wie bereits erwähnt, zeichnete sich damals ab, daß Alfonso auch in dritter Ehe kinderlos und somit ohne leiblichen Erben bleiben würde. Zwar galt in Ferrara eine Erbregelung zugunsten des illegitimen Vetters Don Cesare d’Este als rechtlich möglich und dynastisch akzeptabel, doch fand eine solche Lösung in Rom keine Billigung. Der Papst drohte offen mit dem Heimfall des Lehens Ferrara an den Kirchenstaat, sollte Alfonso ohne leiblichen männlichen Erben versterben. In der Tat sollte genau dieser Fall beim Tod Alfonsos 1597 eintreten – und bereits ein Jahr später zur Zerschlagung des Territoriums der Este führen. In den 1580er und frühen 1590er Jahren war der Ausgang der Ereignisse freilich noch offen. Am Hof von Ferrara bemühte man sich fieberhaft, den Kaiser auf die eigene Seite zu ziehen und damit die Argumentation des Papstes zu schwächen. Beträchtliche Geldbeträge und namhafte Sondergesandte wurden von Ferrara nach Prag geschickt.376 Auch bisher unbekannte Waffentechnologie wurde – wie weiter oben bereits ausgeführt – dem Kaiser in Aussicht gestellt.377 Jedes Jahr erhielten der Kaiser und der Erzherzog zudem Sendungen aus Ferrara mit luxuriösen oder raren Geschenken an, darunter auch seltene Pflanzen und exotische Speisen.378
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epistolae ineditae desumptae ex codice manu exarato caesaeo classis jur. civ. LXXVII […], hg. von Bernardino Comite de Pace, Wien: Kurzböck 1771, S. 131. Chledowski, Der Hof von Ferrara, S. 312–314; Danuta Quirini Popławska, Aus den polnischhabsburgisch-toskanischen Verbindungen. Die Prager Episode des Jahres 1589, in: Eliška Fučíková (Hg.), Prag um 1600. Beiträge zur Kunst und Kultur am Hofe Rudolfs II., Freren 1988, S. 254–260, hier v. a. S. 255. Vgl. Nuntiaturberichte aus Deutschland nebst ergänzenden Aktenstücken, 1589–1592. II. Abt./3, bearb. von Josef [sic] Schweizer, Paderborn 1919, S. 414. Siehe dazu ausführlich weiter oben. Chledowski, Der Hof von Ferrara, S. 312. Ein jüdischer professore de’ secreti
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Die Bemühungen Alfonsos, der in seinen letzten Lebensjahren nur noch schwarze Kleider trug, waren in politischen Kreisen in ganz Europa bekannt.379 Den jüdischen Hofingenieur Colorni nach Prag zu schicken, war also ein geschickter Schachzug des Herzogs, zumal zu ebendiesem Zeitpunkt die Verhandlungen über die Belehnung mit Modena und Reggio unter den Habsburgern wieder einmal im Gespräch war.380 Obgleich Colorni offenbar nie eine offizielle Stellung am Prager Hof innehatte, so sollte es ihm in der Tat in relativ kurzer Zeit gelingen, das Vertrauen Rudolfs zu gewinnen und somit einen unmittelbaren Zugang zum Kaiser aufzubauen. Für den Hof in Ferrara war dies um so wichtiger, als die offiziellen Gesandten des Herzogs in Prag immer wieder mit erheblichen Problemen konfrontiert waren, überhaupt einen Kontakt zum schwermütigen Kaiser herzustellen. Bezeichnend ist der Fall des Ferrareser Gesandten Graf Guido Calcagnino, der sich 1592 während seiner Prager Mission darüber beklagte, wie schwer es für ihn – einen Adligen – sei, beim Kaiser vorgelassen zu werden.381 Die Nähe zum Kaiser ließ den jüdischen Ingenieur also für den Hof in Ferrara zu einem vielversprechenden Interessenvertreter und Kontaktmann werden. Dies erklärt nicht zuletzt, weshalb – von kaiserlichen Gratifikationen abgesehen – die Besoldung Colornis in den Prager Jahren weiterhin eine Angelegenheit des Ferrareser Hofes blieb. Auch die Gonzaga in Mantua, die zur selben Zeit ebenfalls aus konkreten politischen Gründen um die Gunst des Kaisers bedacht waren, dürften sich von ihrem einstigen Höfling Colorni Informationen erhofft haben. Vincenzo Gonzaga war damals in einen erbitterten Territorialstreit um Castel Goffredo verwickelt und bemühte sich um die Parteinahme des Kaisers. Von August bis Oktober 1595 weilte der Herzog sogar selbst mit einer großen Delegation in Prag, darunter befand sich auch sein berühmter Hofkapellmeister Claudio Monteverdi.382 Vincenzos Versuche, die Beziehungen zum Kaiserhof zu intensivieren, trafen sich mit Colornis seit der Mitte der 1590er Jahre zunehmendem Wunsch, langfristig wieder in die Dienste der Gonzaga einzutreten und somit deren Gunst zu erlangen. Es kann daher nicht verwundern, daß sich in der Korrespondenz zwischen dem Botschafter
379 Vgl. z. B. List and Analysis of of State Papers, Foreign Series [Elizabeth I.], Bd. 3, hg. von Richard Bruce Wernham, London 1980, S. 431. 380 Hans Khevenhüller, […] Geheimes Tagebuch 1548–1605, S. 167. 381 Nuntiaturberichte aus Deutschland, II/3, S. 556. 382 Jürgen Zimmer, Die Gonzaga und der Prager Hof Kaiser Rudolf II. Historischer Überblick, in: Lubomír Konečný (Hg.), Rudolf II, Prague and the World. Papers from the International Conference Prague, 2–4 September 1997, Prag 1998, S. 16–23, hier S. 18; ders., Die Gonzaga und der Prager Hof Kaiser Rudolf II. Kunsthistorische Fragmente, in: Umĕní 46 (1998), S. 207–221, hier S. 210. Arcana imperii – Imperium arcanorum
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der Gonzaga in Prag und dem Hof in Mantua immer wieder Erwähnungen ebenso wie Originalschreiben des jüdischen Höflings finden.383 Colorni war also während der Prager Jahre für seinen Dienstherrn in Ferrara ebenso wie für seine einstigen Patrone, die Gonzaga, ein vielversprechender Kontaktmann. Er profitierte dabei nicht nur von seiner Nähe zum Kaiser, sondern auch von seinen Kontakten zum engsten Umfeld Rudolfs. Colorni war – wie noch zu zeigen sein wird – am Prager Hof gut vernetzt. Zudem haben wir bereits gesehen, daß Juden in der Regel bereits a priori eine gewisse Befähigung für eine solche Rolle zugetraut wurde. Denn an Höfen diesseits und jenseits der Alpen waren Juden oftmals begehrt für Situationen und Missionen, die der Diskretion oder gar der Geheimhaltung bedurften. Es ist kein Zufall, daß Vincenzo Gonzaga fast zur selben Zeit (1587) seinen jüdischen Hofschauspieler Leone de’ Sommi zu einem von drei Agenten ernannte, die unter strengster Geheimhaltung die Möglichkeit einer Bewerbung des Herzogs um die polnische Krone sondieren sollten.384 Sieht man einmal ab von solchen allgemeinen Vorstellungen hinsichtlich der (diplomatischen) Arkankompetenz von Juden, bleibt freilich die Frage, wen genau Colorni am Prager Hof kannte. Am wichtigsten war natürlich die Nähe zum Kaiser selbst. Sie war namentlich in den ersten Jahren des Aufenthalts beträchtlich, wie wir weiter unten noch genauer sehen werden. Offenbar nahm der persönliche Kontakt zwischen Rudolf II. und Colorni erst durch den Ausbruch des Langen Türkenkriegs (1593) und die damit einhergehenden, zunehmenden militärischen und politischen Verpflichtungen des Kaisers etwas ab.385 Jedoch konnte Colorni auch zu diesem Zeitpunkt nach wie vor auf Kontakte zu Personen aus dem engsten Kreis des Herrschers zurückgreifen. Der venezianische Botschafter, der die alchemischen und okkulten Aktivitäten am Kaiserhof eigentlich skeptisch beäugte,386 war dem Juden aus Ferrara wohlgesinnt und berichtete in die Heimat, daß Colorni am Hofe sehr geschätzt werde (»molto estimato qui in Corte«).387 Mit dem Oberhofmeister und Oberkämmerer Wolfgang Rumpf388, dem damals einflußreichsten Rat des Kaisers, pflegte Colorni ausweislich seiner Briefe ebenso Kontakte wie mit einem namentlich nicht genannten Leibarzt am Kaiserhof. Bei letzterem dürfte es sich entweder um den ebenfalls in Mantua aufgewachsenen jüdischen Arzt 383 Diese Korrespondenz befindet sich heute im Archivio Gonzaga des ASMn. 384 Cecil Roth, Un consorzio ebraico mantovano e l’elezione al trono di Polonia nel 1587, in: Rassegna mensile di Israel 28 (1962), S. 494–499. Zur Geheimhaltung der Mission siehe v. a. S. 498. 385 Zu diesem Krieg und seinen Herausforderungen für den Kaiser v. a. Jan Paul Niederkorn, Die europäischen Mächte und der »Lange Türkenkrieg« Kaiser Rudolfs II. (1593–1606), Wien 1993. 386 »[I]o che veramente mi rendo dificile a creder a questa corte d’huomini, quali professano scienze miracolose«, so der Botschafter Giovanni Dolfin an den Dogen, 8. Dezember 1592, HHStA, Staatenabteilung, Italien, Venedig, Dispacci di Germania 19, fol. 317r. 387 Ebd. 388 Zu Rumpf vgl. Hausenblasová, Der Hof Kaiser Rudolfs II., S. 67.
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Moses Lucerna389 oder um den christlichen Historiographen und Arzt Claudius Ancantherus (geb. ca. 1550) handeln. Letzterer jedenfalls hat in diesen Jahren auch einleitende Gedichte für die nur im Manuskript zirkulierende Chirofisionomia Colornis verfaßte.390 Außerdem läßt sich aus Colornis erhaltenen Briefen immer wieder auf seine guten Kontakte zum Kreis der italienischen Botschafter am Kaiserhof schließen.391 Colorni selbst sprach verschiedentlich insgesamt von ›Freunden‹ (»tutti gl’amici«), die er nach seinem Weggang aus Prag am Kaiserhof zurückgelassen habe.392 Wie verhielt es sich aber mit Colornis Stellung zur Prager Judenschaft? Erstaunlicherweise ist Colorni in den zahlreichen historischen Studien über die bedeutende jüdische Gemeinde Prags an der Schwelle zum 16. Jahrhundert bislang nahezu unerwähnt geblieben. Nichts ist über seine Kontakte zur Prager Judenschaft bekannt, die damals ein bedeutendes geistiges Zentrum des mitteleuropäischen Judentums bildete. In der Stadt befand sich zu dieser Zeit die größte jüdische Gemeinde im Alten Reich. Die Zahl der Juden in Prag um 1600 wird heute auf ungefähr 3.000 geschätzt. In den ersten Jahrzehnten der Herrschaft Rudolfs II. hatte sich die ökonomische Situation der Juden in Prag und allgemein in Böhmen verbessert. Der Kaiser hatte den Juden die Erlaubnis erteilt, eine Reihe von Handwerken zu betreiben, darunter den Beruf des Gold- und Silberschmieds sowie den des Juweliers.393 Colornis Wirken in Prag fiel in die erste Hälfte der Regierungszeit Rudolfs II., die insgesamt von einer relativ moderaten Judenpolitik geprägt war und daher noch am ehesten die tradierte Bezeichnung eines ›Goldenen
389 Erzherzog Matthias verlieh dem »Medicinae et Philosophiae Doctor« Moses Lucerna 1595 den Titel eines Hofarztes. Siehe HHStA, Familienarchiv, Karton 99. Lucerna war aber offenbar nach seiner Ernennung durch Matthias überwiegend in Wien tätig. Zuvor hatte er einige Jahre als Leibarzt beim Administrator des Deutschen Ordens in Mergentheim gewirkt sowie als »welscher« Arzt im Judenviertel in Frankfurt am Main. Siehe Regesten I (Andernacht), Dok. 2103; 2196; 2206; 2223; 2252; 2392; 2394; 2408; 2526. Vgl. außerdem Wolfgang Treue, »Verehrt und angespien«. Zur Geschichte jüdischer Ärzte in Aschkenas von den Anfängen bis zur Akademisierung, in: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen 21 (2002), S. 139–203, S. 157, S. 160, S. 169–170. 390 Diese Gedichte befinden sich in der Budapester Chirifisionomia-Hs. aus der Sammlung Kaufmann. Vgl. Jarè, La Chiriofisionomia, S. 28. In der von mir eingesehenen Hs. Wolfenbüttel sind diese Gedichte nicht enthalten. 391 Zu nennen sind namentlich die Botschafter aus Mantua, Ferrara und Florenz. 392 Colorni an Aderbale Manerbio, 8. Februar 1598, ASMn, AG, b. 475, 436r–438r. Siehe ähnlich ein Schreiben Colornis an dens. [?], 29. März 1598, ebd. 486r–v. 393 Birgit E. Klein, Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Ernst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich, Hildesheim etc. 2003, S. 53–58. Zur Situation der Prager Juden unter Rudolf II. siehe auch Evans, Rudolf II. and his World, S. 236–242. Arcana imperii – Imperium arcanorum
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Zeitalters‹ für die Prager Juden verdient.394 Spätestens durch die Beschlagnahmung des Vermögens des verstorbenen Hofjuden Mordechai Meyzl (1528–1601) sowie durch die Ereignisse im Zusammenhang mit der angeblichen »Frankfurter Rabbinerverschwörung« (1603) sollte das Verhältnis zwischen Kaiser und Judenschaft jedoch Risse erhalten.395 Eine ökonomische Spitzenstellung innerhalb der böhmischen Judenschaft nahm während Colornis Prager Jahren der erwähnte aschkenasische Jude Mordechai Meyzl ein. Dieser führende jüdische Bankier Prags trat auch als Kunstlieferant für Rudolf II. hervor. Manches deutet darauf hin, daß Meyzl zudem an der Lieferung des sog. Prager Choschen – eine wertvolle Medaille mit magischen Inschriften – an den Kaiser beteiligt war.396 In Prag erinnert bis heute die nach Meyzl benannte Synagoge an den vielseitigen Hofjuden, der sich nicht zuletzt als Mäzen in jüdischen Angelegenheiten einen Namen gemacht hatte. In der böhmischen Hauptstadt hielten sich im späten 16. Jahrhundert auch eine Reihe italienischer Juden auf. Die meisten von ihnen waren Kaufleute, die ihr Geld im Gewürz- und Luxuswarenhandel sowie im Handel mit Edelmetallen verdienten.397 Die bekanntesten Vertreter dieser Gruppe waren die Brüder Jacob und Samuel Bassevi. Sie lebten seit den 1590er Jahren in Böhmen und sollten im Laufe der Jahre als Großkaufleute ein Vermögen verdienen. Im Dreißigjährigen Krieg stieg einer der Brüder, Jacob Bassevi, zudem ins Münzgeschäft ein und wurde schließlich in den 1620er Jahren von Kaiser Ferdinand II. geadelt (woraufhin er den Namen Jacob von Treuenberg führte).398 Zu den geistigen Oberhäuptern der jüdischen Gemeinde zu Prag zählte im späten 16. Jahrhundert der berühmte ›Hohe Rabbi‹ Juda Löw ben Bezalel (gen. Maharal, ca. 1525–1609), der angebliche Schöpfer des legendären Golem.399 Es ist 394 Abwägend zu dieser Epochenbezeichnung zuletzt auch Giuseppe Veltri, »Ohne Recht und Gerechtigkeit«. Rudolf II. und sein Bankier Markus Meyzl, in: Ders./Annette Winkelmann (Hg.), An der Schwelle zur Moderne. Juden in der Renaissance, Leiden etc. 2003, S. 233–255. 395 Klein, Wohltat und Hochverrat; Veltri, »Ohne Recht und Gerechtigkeit«. 396 Richard I. Cohen/Vivian B. Mann, Melding Worlds. Court Jews and the Arts of the Baroque, in: Dies. (Hg.), From Court Jews to the Rothschilds. Art, Patronage, and Power 1600–1800, München 1996, S. 97–123, hier S. 111. Siehe auch S. 181 (Katalogteil). 397 Josef Janáček, Les Italiens à Prague à l’époque précédant la bataille de la Montagne Blanche (1526– 1620), in: Historica. Les sciences historiques en Tchécoslovaquie 23 (1983), S. 5–45, hier S. 21. 398 Noah J. Efron, Common Goods. Jewish and Christian Householder Cultures in Early Modern Prague, in: Diane Wolfthal (Hg.), Peace and Negotiation. Strategies for Coexistence in the Middle Ages and the Renaissance, Turnhout 2000, S. 233–255, hier S. 246; Ruth Kestenberg-Gladstein, Lemma Bassevi of Treuenberg (Treuenburg), Jacob, in: EJ, Bd. 3, S. 208–209. 399 Byron L. Sherwin, Mystical Theology and Social Dissent. The Life and Works of Judah Loew of Prague, London etc. 1982 ; Giuseppe Veltri, Yehuda Löw oder: der hohe Rabbi von Prag als Philosoph des Judentums, in: Gerald Hartung/Wolf Peter Klein (Hg.), Zwischen Narretei und Weisheit.
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nicht auszuschließen, daß es Kontakte zwischen dem Maharal und dem jüdischen Geheimniskundigen aus Mantua gab. Denn Rabbi Juda Löw und später auch sein Schüler, der Chronist und Astronom David Gans (1541–1613), waren für naturwissenschaftliche und astronomische Forschung als Ergänzung zur rabbinischen Ausbildung durchaus aufgeschlossen.400 Im Februar 1592 kam es zwischen Rabbi Löw und Kaiser Rudolf sogar zu einem legendenumrankten, geheimgehaltenen Gespräch401 – und die Spekulation ist reizvoll, ob der jüdische Hofalchemist beim Zustandekommen dieser Begegnung seine Finger im Spiel hatte. Der ›Hohe Rabbi von Prag‹ war über die wissenschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit im Bilde: Von der kopernikanischen Wende wußte er offenbar frühzeitig, lehnte allerdings – wie später auch sein astronomisch versierter Schüler Gans – diese mit der Bibel im Konflikt stehende Lehre aus theologischen Gründen ab. Wissenschaft war in den Augen des Maharal und seines Kreises so lange zulässig und begrüßenswert, wie sie die Grundfeste der Heiligen Schriften nicht in Frage stellte. Denn als »ultimative Erklärung des Kosmos« akzeptierte er die praktischen Wissenschaften wie Medizin und Astrologie trotz aller Faszination nicht.402 Löw faßte seine Einstellung in das Bild, wonach der Mensch durch das Erforschen der irdischen Phänomene, eine Leiter hinaufsteige, die letztlich zur umfassenden Weisheit der Tora führe. Colorni, dessen Haus sich zwar in der Altstadt, aber möglicherweise außerhalb des jüdischen Viertels befand,403 mußte jedoch nicht erst Kontakte zur Prager Judenschaft knüpfen, um Glaubensbrüdern täglich zu begegnen. Denn er war nicht Biographische Skizzen und Konturen alter Gelehrsamkeit, Hildesheim etc. 1997, S. 192–218. 400 David B. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, New Haven etc. 1995, S. 10–11; S. 54–99. Nützlich, allerdings zur Harmonisierung tendierend sind ferner: Noah J. Efron, Irenism and Natural Philosophy in Rudolfine Prague. The Case of David Gans, in: Science in Context 10 (1997), S. 627–649; ders., ›Our forefathers did not tell us‹. Jews and Natural Philosophy in Rudolfine Prague, in: Endeavour 26 (2002), S. 15–18; André Neher, Jewish Thought and the Scientific Revolution of the Sixteenth Century. David Gans (1541–1613) and his Times, Oxford 1986. 401 Siehe dazu ausführlich weiter oben das Kapitel zu Magie als Zwischenraum. 402 Giuseppe Veltri, Jüdische Einstellungen zu den Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert. Das Prinzip der praktisch-empirischen Anwendbarkeit, in: Gerd Biegel/Michael Graetz (Hg.), Judentum zwischen Tradition und Moderne, Heidelberg 2002, S. 149–159; Sherwin, Mystical Theology, S. 180–182. 403 Ein Prager Jude namens Salomon, der 1598 in Württemberg in eine Vernehmung geriet und zur Vergangenheit Colornis befragt wurde, gab an: »Er were ein armer Schuelmaister, habe sich vor der Zeith zu Brag enthalltten, aber jezo ettliche Monat nicht allda gewesen, und habe er den […] ußgetrettenen Italienischen Juden wol khannth, denn derselbig hatte zu Brag Inn einem kleinen Häußlin, usserhalb der Judenschafft, gewohnet«. Der Obervogt zu Göppingen an Friedrich I. von Württemberg, 5. September 1599, HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 12. Die weiteren Ausführungen des befragten Juden schildern Colorni – in wenig schmeichelhaften Worten – als Außenseiter, der sich zudem in Prag nicht in der Synagoge gezeigt hätte. Die Zuverlässigkeit dieser Behauptungen Arcana imperii – Imperium arcanorum
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der einzige Jude am Kaiserhof, wie wir sehen werden. Zunächst muß allerdings erwähnt werden, daß es Mitglieder des Hofes gab, die jüdische Vorfahren gehabt hatten oder zum Christentum konvertiert waren.404 Dies galt etwa für den Ferrareser Botschafter Ascanio Giraldini, der für Colorni vor allem in den ersten Monaten am Kaiserhof ein wichtiger Ansprechpartner war. Es handelte sich bei Giraldini um einen als junger Mann zum Christentum konvertierten Rabbinersohn, dessen jüdische Herkunft in höfischen Kreisen jedoch bekannt war.405 Als Konvertit wurde verschiedentlich – wenngleich grundlos – auch der Höfling Philipp Lang bezeichnet, dem nach 1603 ein rasanter Aufstieg zum Kammerdiener des Kaisers und damit zu einem der mächtigsten Männer am Prager Hof gelang. Lang war nachweislich in die alchemischen und magischen Aktivitäten am Hofe verwickelt. Nach seinem Sturz wurde ihm vorgeworfen, mit dem Sigillum Salomonis, einem magischen Buch, und hebräisch beschriebenen Zetteln hantiert zu haben.406 Eindeutig nicht getauft war hingegen der zeitweise am rudolfinischen Kaiserhof wirkende und in Prag geborene jüdische Metallurg und Bergbaumeister Joachim Gans (Gaunse), der übrigens nicht mit dem bereits erwähnten jüdischen Astronomen David Gans verwandt war. Joachim Gans wanderte in den frühen 1580er Jahren nach England aus, nachdem ihn die dortige Society of Mines Royal angeworben hatte. Bald schon erwarb er sich auf der Insel den Ruf eines geschätzten »Minerall man«. 1585 schloß er sich einer zweijährigen Expedition nach Nordamerika unter der Führung Sir Walter Raleighs an. Gans zählte zu den ersten Siedlern ist allerdings fraglich: Die Aussagen wurden nicht aus freien Stücken gemacht und sollten wohl eher von vornherein der Erwartungshaltung der württembergischen Beamten entsprechen. Siehe zu dieser Quelle auch ausführlicher weiter unten. 404 Evans, Rudolf II. and his World, S. 241. 405 Über Giraldini, der von Alfonso mit heiklen diplomatischen Missionen betraut wurde (darunter 1574 mit den Verhandlungen um die polnische Krone), ist nur Bruchstückhaftes bekannt. Er wurde in Siena geboren, seine Taufe datiert in die 1550er Jahre. Allerdings ist noch 1579 ist in einem Schriftstück des Ferrareser Hofes die Rede von »Ascanio, che è stato ebreo«. Vgl. Solerti, Ferrara e la corte estense, S. 46. Der von den Este geförderte Dichter Torquato Tasso äußerte sich ebenfalls in diesem Sinne über Giraldini. Siehe dazu Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 138. Es kursierte auch das Wort, Giraldini sei ›als Jude in Siena geboren und als Esel in Ferrara getauft‹. Siehe Chledowski, Der Hof von Ferrara S. 328. Vgl. dagegen – abweichend zum Taufort – den Titel eines Pamphlets, auf das Solerti (Ferrara e la corte estense, S. 46) hinweist: Orationi di M. Ascanio Geraldini detto già Abram Hebreo nel battezarsi egli e M. Jacomo suo padre: già Rabi Josep Arli, al […] Cardinale Savello, et al popolo di Macerata, Macerata 1553. Dieses Pamphlet ist für mich bibliographisch nicht nachweisbar. 406 Siehe die materialreiche, allerdings tendenziöse Studie von Friedrich Hurter, Philipp Lang. Kammerdiener Kaiser Rudolphs II. Eine Criminal-Geschichte aus dem Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts. Aus archivalischen Acten […]. Schaffhausen 1851, S. 210. Die Prozeßakten sowie die beschlagnahmten Briefschaften Langs befinden sich heute im HHStA, Familienarchiv, LangAkten, Kartons 1–8.
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in der nordamerikanischen Kolonie Roanoke (im heutigen Virginia), wo er das Vorkommen von Bodenschätzen untersuchte.407 Colorni dürfte Gans in Prag nicht mehr kennengelernt haben, allerdings zeigt das Beispiel des jüdischen Metallurgen bereits, daß die Beschäftigung von Juden am Kaiserhof nicht ungewöhnlich war. So berichtet auch der englische Mathematiker und ›Erzmagus‹ John Dee Mitte der 1580er Jahre in seinen Tagebüchern vom Einfluß einiger – namentlich nicht genannter – Juden auf Kaiser Rudolf II.408 Am Prager Hof finden sich Juden besonders in jenen Stellungen, die von einer dezidiert arkanen Aura geprägt waren. Erwähnung verdient in diesem Kontext namentlich Colornis Zeitgenosse Mardochaeus de Nelle, dessen Herkunft, Lebensdaten und Karriere bis zum heutigen Tage geheimnisvoll bleiben. Es existiert keinerlei tiefergehende biographische Studie zu dem Mann, der als Chronist und Panegyriker der alchemischen Experimente am rudolfinischen Hofe wirkte.409 Zudem kursiert sein Name in verschiedenen Varianten, darunter »Martinus de Delle«, »Mardochaeus de Delle« sowie »Mordechai de Nello« bzw. »de Nelle«.410 Bei der Form »Delle« dürfte es sich um eine möglicherweise durch Kopistenfehler in Umlauf gebrachte Verballhornung handeln. Hingegen ist der Name »Nelle« – im vorliegenden Fall ein Patronym – unter italienischen Juden vereinzelt nachweisbar und leitet sich entweder von »Netanel« oder von »Leonello« (was dann dem hebr. Arye entspräche) ab.411 Die Frage nach der Namensgebung ist allerdings nicht die einzige problematische in dieser Biographie. Der Alchemiehistoriker Joachim 407 Alle Angaben zu Gans hier nach Lewis S. Feuer, Francis Bacon and the Jews. Who was the Jew in the New Atlantis?, in: Jewish Historical Studies. Transactions of the Jewish Historical Society of England 29 (1982–1986), S. 1–25, passim. Siehe auch Efron, ›Our forefathers did not tell us‹, S. 16. 408 Im Tagebuch heißt es am 28. Februar 1585: »Then Mr. Kelly told me, that Emericus had told him, that the Emperour had been all day yesterday very melancholick, and would speak with no body. And that he knew of my journey in a moment when it was, and that by the Jews, & specially by the Doctor his son, that had gone about to get me the four horses, & laboured very much with himself (unasked) to perswade me that the Emperour his first and chief understanding of it was by the Jews, &c. Hereupon (being now night) he went home.« Ich zitiere hier aus: Meric Casaubon, A true & faithful relation of what passed for many yeers between Dr. John Dee […] and some spirits tending […] to a general alteration of most states and kingdomes in the world: his private conferences with Rodolphe, Emperor of Germany, Stephen, K. of Poland […], London: Maxwell 1659, S. 382. Siehe auch The Diaries of John Dee, S. 173. 409 Siehe einstweilen v. a. Evans, Rudolf II. and his World, S. 209; Scholem, Alchemie und Kabbala, S. 74–76; John Ferguson, Bibliotheca Chemica. A Catalogue of the Alchemical, Chemical and Pharmaceutical Books in the Collection of the late James Young of Kelly and Durris, 2 Bde., Glasgow 1906 [ND Hildesheim 1974], hier Bd. 1, S. 204, S. 306; Bd. 2, S. 231. 410 Evans, Rudolf II. and his World, S. 209. 411 Vittore Colorni, La corrispondenza fra nomi ebraici e nomi locali nella prassi dell’ebraismo italiano, in: Ders., Judaica Minora. Saggi sulla storia dell’ebraismo italiano dall’antichità all’età moderna, Mailand 1983, S. 805. Unbegründet ist wohl Evans Annahme, daß »Delle« der Alchemisten- und »Nelle« der Familienname war (Rudolf II. and his World, S. 209). Arcana imperii – Imperium arcanorum
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Telle bezeichnet Nelle als einen »Rabbi [und] weitgehend in historiographisches Dunkel gehüllte[n] Alchemicaverfasser«.412 Nelles in Knittelversen verfaßte Dichtung über die Schicksale namhafter Alchemisten ist als Ganzes offenbar nicht erhalten und existiert heute lediglich in fragmentarischen Abschriften.413 Diese Dichtung enthielt auch Lobreden auf Alchemisten früherer Zeiten. So preist Nelle sein Vorbild Paracelsus als einen Kenner »von verborgenen, Hohen, Geheimen Sachen / Dafür das Hertz Einem im Leibe muß lachen«.414 Darüber hinaus wurde Nelle nach seinem Tod – möglicherweise zutreffend – die Autorschaft verschiedener alchemischer Werke zugeschrieben. Dies gilt beispielsweise für einen Paracelsus-Kommentar,415 einen Discursus de Universali,416 eine Schmelzkunst und Philosophische Meditationen417 sowie eine – nur im Manuskript erhaltene – Anleitung zur Durchführung einer Sublimation.418 In einigen der erwähnten Drucke des 17. und 18. Jahrhunderts wird behauptet, Nelle sei in Vitri (?) bei Mailand geboren worden.419 Die Wahrheit dieser Behauptung läßt sich nicht mehr überprüfen. Dies gilt ebenfalls für die offenbar im 19. Jahrhundert erstmals aufgekommene Vermutung, Nelle sei eigentlich ein polnischer Jude gewesen.420 Die Spekulationen über eine mögliche Taufe dürften dagegen unbegründet sein.421 Es kann auch an dieser Stelle keine endgültige Antwort auf die Frage nach 412 Joachim Telle (Hg.), Paracelsus im Gedicht. Theophrastus von Hohenheim in der Poesie des 16. bis 21. Jahrhunderts, Hürtgenwald 2008, S. 267. 413 Gedruckte Fragmente von Nelles Reimdichtung finden sich beispielsweise bei: Keren Happuch, Posaunen Eliae des Künstlers / oder Teutsches Fegfeuer der Scheide-Kunst / Worinnen nebst den Neu-gierigisten und grössesten Geheimnüssen für Augen gestellet […], Hamburg: Libernickel 1702, S. 73–74, S. 105–107. 414 Zitiert nach Telle (Hg.), Paracelsus im Gedicht, S. 78. Diese Teiledition (S. 77–78; Anhang S. 267) beruht auf einer Hs. die sich heute in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek befindet (Cod. alch. 651, Bl. 47–65). Es handelt sich offenbar um eine Abschrift des Alchemisten Benedictus Nicolaus Petraeus. 415 Evans, Rudolf II. and his World, S. 209. 416 Als Teil von: Centrum Naturae Concentratum. Oder: Ein Tractat von dem wiedergebohrenen Saltz. Insgesamt und eigendlich genandt: Der Weisen Stein / In Arabischen geschrieben von Ali Puli, einem asiatischen Mohren [1682], in: Quadratum alchymisticum: Das ist: Vier auserlesene rare Tractätgen vom Stein der Weisen, Hamburg: Liebezeit 1705, hier S. 39–48. 417 Karl Falkenstein, Beschreibung der Königlichen Öffentlichen Bibliothek zu Dresden, Dresden 1839, S. 413. 418 Es handelt sich um ein alchemisches Manuskript (17. Jh.) aus der Bibliothek des bischöflichen Seminars von Tournai (Séminaire Cod. 138). Vgl. Catalogues des manuscrits conservés à Tournai (= Catalogue général des manuscrits des bibliothèques de Belgique, Bd. 6), hg. von Paul Faider und Pierre van Sint Jan, Gembloux 1950, S. 287. 419 Ferguson, Bibliotheca Chemica, Bd. 1, S. 306. Scholem, Alchemie und Kabbala, S. 74. 420 Die Theorie, Nelle sei ein polnischer Jude namens Minelle gewesen, geht – ohne nähere Begründung – offenbar auf den bedeutenden Judaisten David Kaufmann zurück. Vgl. Jarè, Chiriofisionomia, S. 28. Siehe auch Roth, Abramo Colorni, geniale inventore, S. 157. 421 Skeptisch zur Taufe auch Scholem, Alchemie und Kabbala, S. 76.
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Nelles Herkunft gegeben werden. Zwar läßt sich im Prager Zollbuch von 1597 verschiedentlich ein Jude namens »Martino l’Italien« finden,422 dieser muß aber nicht notwendigerweise identisch mit Mardochaeus (Martin) sein. Eindeutig widerlegen läßt sich hingegen die im 18. Jahrhundert verbreitete Meinung, Nelle sei ein Kammerdiener Rudolfs II. gewesen.423 Nelle ist vielmehr – wie die allermeisten Alchemisten des Kaisers – in den Prager Hofstaatsverzeichnissen nicht nachweisbar. Seine Besoldung dürfte aus den privaten Schatullen des Kaisers geflossen sein. Inwieweit Nelle auf der Prager Burg selbst in die alchemischen Experimente, die er besang, involviert war, läßt sich nicht mit letzter Gewißheit beantworten. In einer nach 1600 entstandenen alchemischen Handschrift heißt es andeutungsvoll über Nelle: »Diser Judt ist kein kindt in Chimicis gewesen.«424 Daß Nelle, dessen Sohn sich angeblich ebenfalls der Alchemie gewidmet haben soll,425 ein erfahrener Alchemist war, ist also nicht abwegig. Darauf deutet auch die womöglich früheste erhaltene Quelle zu Nelle hin. Es handelt sich um eine Beschreibung des Bergwerks im schlesischen Reichenstein (Złoty Stok) im Jahr 1567. In diesem Zusammenhang ist die Rede von Nelle als »Schmelzer«, der »das Erz per lixivia traktirte, welchen Prozess er ex elementis Theophrasti Paracelsi genommen, auch einen besonderen commentarium darüber geschrieben«.426 Es spricht viel dafür, diese Aktivitäten in Reichenstein mit einer Patronage durch die von der Alchemie faszinierte böhmische Magnatenfamilie Rosenberg in Verbindung zu bringen, die in diesem schlesischen Ort in der Tat ein Bergwerk und verschiedene Laboratorien betrieb.427 Einige Jahre später (1573) ist der geheimniskundige Jude dann in Krakau nachweisbar.428 Schließlich führte ihn sein Weg an den Hof Augusts I. von Sachsen, wo er den Kurfürsten zum Erlernen der hebräischen Sprache bewegt haben soll.429 Aus dieser Dresdner Zeit ist eine Handschrift für das sächsische Fürstenhaus erhalten, die möglicherweise als einzige erhaltene autographe Abhandlung Nelles gelten muß. Es handelt sich um ein in die 1570er oder 1580er Jahre zu datierendes Manuskript mit der Aufschrift »Prophezeihung [sic] eines Juden zu Churfürst
422 Die Quelle befindet sich heute im Stadtarchiv Prag. Für eine Beschreibung siehe Janáček, Les Italiens à Prague, S. 21. 423 So Keren Happuch, Posaunen Eliae des Künstlers, S. 73–74, S. 105–107. 424 Zitiert nach Evans, Rudolf II. and his World, S. 209. 425 Ebd. 426 M[arcus] Brann, Geschichte der Juden in Schlesien (= Jahres-Bericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung, Heft 5), Breslau 1910, S. 154. 427 Zur Familie Rosenberg und Reichenstein vgl. Evans, Rudolf II. and his World, S. 216. 428 »Mardocheus Nelle, Judaeus, wonnedt zu Crakkauw in pollenn anno 1573.« Zitiert nach Scholem, Alchemie und Kabbala, S. 75. 429 Falkenstein, Beschreibung, S. 10. Arcana imperii – Imperium arcanorum
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Augusti Zeiten, welcher ad marginem seine Anmerkungen dazu gesetzt hat«.430 Der Autor bezeichnet sich darin als »Ich Mardochäus de Nelle Rabbi«. Die Abhandlung selbst ist in zwei Teile gegliedert. Den ersten Teil bildet die besagte Prophezeiung, daran schließt sich eine alchemische Schrift über das »Rothgüldenerz« an. Die Prophezeiung wurde eigens für Kurfürst August I. (reg. 1553–1586) verfaßt, der sich selbst mit den okkulten Wissenschaften und der Alchemie beschäftigte. Die Zukunftsprognose, die sich nicht zuletzt biblischer Bilder und Begriffe bedient, wurde vom Kurfürsten mit wohlwollenden Marginalien versehen. Der Kurfürst notierte am Rand, daß er das Werk des »Mardochäi Rabbi de Nellens« für wahrhaftig befunden und über der Abhandlung insgesamt 41 Wochen verbracht habe. Colorni war – wie dieser Abriß verdeutlicht hat – also keineswegs der einzige Jude am Kaiserhof, der in die experimentellen Aktivitäten auf der Prager Burg involviert war. Den Zeitgenossen (zumindest den gut informierten) blieb dieses Phänomen nicht verborgen. Ein wichtiges Zeugnis hierfür bietet ein ›Roman‹ mit dem Titel Euphormionis Lusinini Satyricon, den der schottische Schriftsteller und Zeitgenosse John Barclay (1582–1621) zwischen 1605 bis 1607 veröffentlichte.431 Diese in lateinischer Sprache verfaßte Satire wurde zu einem der beliebtesten belletristischen Prosawerke des frühen 17. Jahrhunderts. Nahezu fünfzig Auflagen des Buches lassen sich bis ins 18. Jahrhundert nachweisen.432 Zwar war das Werk von klassischen Vorbildern beeinflußt – darunter namentlich dem Satyricon des Petronius –, gleichwohl hatte Barclay viele der Themen und Motive für seine Satire unmittelbar aus der eigenen Gegenwart geschöpft.433 Barclay war ein schottischer Katholik, der viel durch Europa reiste und seine Ausbildung und Wanderjahre namentlich in Frankreich, Italien und England verbracht hatte. Auch über das zeitgenössische Prag war der Autor im Bilde. Denn sein Werk, das von den Lehrund Wanderjahren des fiktiven Ich-Erzählers Euphormio handelt, ist nicht zuletzt ein Schlüsselroman über den Hof Kaiser Rudolfs II., der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch regierte. In einem Einschub beschreibt Euphormio einen Besuch am Hofe des Königs von Theben namens Aquilius. Daß sich hinter den Thebanern die Deutschen und hinter dem fiktiven Herrscher Aquilius niemand 430 Die Handschrift wurde in den 1880er Jahren in einem Dresdener Archiv gefunden und in einer Veröffentlichung teilweise transkribiert bzw. beschrieben. Ausgerechnet der alchemische Teil wurde vom Herausgeber Ulrich Schneider jedoch nicht abgedruckt, da angeblich »der in ihr aufgewendete alchemystische und cabbalistische Bombast […] doch nur Unsinn [!] ergiebt«. Siehe Ulrich Schneider, Eine merkwürdige Prophezeihung [sic], in: Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst 11 (1881), S. 369–376. Das Zitat findet sich auf S. 370. 431 John Barclay, Euphormionis Lusinini Satyricon, hg. von David A. Fleming, Nieuwkoop 1973. 432 Ebd., S. ix und Appendix A. 433 Ebd., S. xvi.
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geringeres als Rudolf II. verbarg, war unter den Zeitgenossen weithin bekannt.434 Barclays Charakterisierung der Aquilius-Figur orientierte sich dabei im Kern an der Prager Realität, wenngleich die Satire ihrerseits bald selbst zur beispiellosen Legendenbildung um Kaiser Rudolf II. beitragen sollte.435 Bei Barclay erscheint der Kaiser als ein vollkommen in eine phantastische Welt versunkener Eigenbrötler.436 Selbst den Höflingen gelingt es nicht, zu ihm vorzudringen. Lediglich Künstler und Alchemisten finden Zugang zum Herrscher. Der Ich-Erzähler schafft es schließlich dank der Vermittlung des hochgestellten Hofmannes Trifartitus437 zum Herrscher Aquilius vorzudringen und dessen Geheimnisse zu entdecken (»secreta […] patebunt«).438 Die Privatgemächer, in denen Aquilius zurückgezogen die meiste Zeit verbringt, sind angefüllt mit wundersamen Objekten, Globen und (überwiegend erotischen) Gemälden. Wenn sich der Herrscher nicht in diesen Räumlichkeiten aufhält, verbringt er seine Zeit in den von ihm eingerichteten alchemischen Laboratorien.439 Dort hantieren zahlreiche Alchemisten unter den Augen des Besuchers mit Öfen, Gefäßen und experimentellen Apparaten. In dieser verwirrenden Szenerie ragt jedoch eine Person hervor. Es ist dies ausgerechnet ein Jude (»Hebraeus«). Bei diesem – in ein eindrucksvolles Gewand gekleideten – Juden handelt es sich, wie der Besucher erfährt, um den Vorsteher aller experimentellen Aktivitäten am Hof und damit auch um einen der mächtigsten Vertrauten des Königs.440 Handelt es sich bei dem besagten »Hebraeus« um ein Portrait Colornis oder Nelles? Diese Vermutung ist reizvoll, zumal ein moderner Herausgeber des Satyricon in der Tat davon ausgeht, daß der fiktiven Figur als Vorbild ein realer jüdischer Alchemist/Berater Rudolfs zugrunde gelegen haben muß.441 Bei genauerer Betrachtung ist es jedoch schwierig, die Figur des »Hebraeus« mit einem einzigen historischen Vorbild zu identifizieren. Dieser Eindruck verstärkt sich bei einem 434 Die historischen Vorbilder für die Figuren der Satire sind ebd. im Appendix B (S. 359–378) größtenteils aufgrund zeitgenössischer Hinweise und Werkschlüssel identifiziert. 435 Trevor-Roper, Princes and Artists, S. 121. 436 »Illis Aquilius per internuncios imperat; ipse plusquam Assyriorum Principum solitudine inclusus, otiosam majestatem ineptissima gravitate damnavit.« Barclay, Euphormionis Lusinini Satyricon, S. 318. 437 Barclay meinte offenbar den historisch belegbaren Landgrafen Georg Ludwig von Leuchtenberg, vgl. ebd., Appendix B, S. 375. 438 Ebd., S. 320. 439 »[C]ontulit se in scientiarium amabilem locum«. Ebd., S. 330. 440 »Nec mora, nescio quis linteo purissimo praecinctus, ad Aquilium intravit, vitroque purissimo exiguum liquorem hilarissima fronte ostendit. Aquilius, quicquid erat, crepitu manuum collaudans, examinare coepit ad lucem, & cum homine suavissime loqui. Cum a Trifartito quaererem, quisnam esset tam illustris familiaritatis homo? Hebraeus, inquit, Aquilianis artibus praefectus, quo nemo gratiosior in regia vivit.« Ebd., S. 328. 441 »Any trusted Jewish advisor-alchemist of Rudolf will do«, so Fleming, ebd., Appendix B, S. 369. Arcana imperii – Imperium arcanorum
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Blick in die erhaltenen sog. Werkschlüssel. Es handelt sich dabei um gedruckte Konkordanzen, die im 17. Jahrhundert erschienen und in denen versucht wurde, die zahlreichen Protagonisten des populären Werkes mit realen historischen Vorbildern zu identifizieren. Die Tatsache, daß die Figur des Hebraeus in solchen Werkschlüsseln mit Namen wie Mersel, Wenzel und Senc in Verbindung gebracht wird,442 deutet eher auf verschiedene Einflüsse bei der Ausgestaltung der Romanfigur hin. Hinter dem Namen »Mersel« dürfte sich m. E. beispielsweise eine Assoziation mit dem weiter oben bereits erwähnten angesehenen rudolfinischen Hofjuden Meyzl verbergen. Außerdem trug die Figur des Hebraeus wohl auch Züge des bereits erwähnten kaiserlichen Kammerdieners Philipp Lang,443 von dem bis ins 20. Jahrhundert hinein vermutet wurde, er sei ein getaufter Jude gewesen. Wie wir gesehen haben, kamen und kommen als Vorbild also verschiedene Personen in Frage, und es ist wahrscheinlich, daß letztlich die Züge mehrerer realer Zeitgenossen – darunter vielleicht Colorni – in Barclays Darstellung der Figur des Hebraeus eingeflossen sind. Die Vorstellung, daß Juden erheblichen Einfluß auf den wankelmütigen Kaiser ausübten, beschäftigte übrigens keineswegs nur die Phantasie Barclays. So kursierte unter Zeitgenossen die Fama, daß »über das Deutsche Reich neben dem römischen Kaiser der König der Juden«444 herrsche. Auch angesichts solcher Vorstellungen dürfte Colorni um die Risiken gewußt haben, die einem Juden wie überhaupt jedem Höfling drohten, der sein Schicksal zu eng an die Gunst des Kaisers knüpfte. Denn Intrigen waren am Prager Hof keine Seltenheit: Rudolfs Regierungszeit sah mehrfach den jähen Sturz von Günstlingen, die zuvor kometenhaft aufgestiegen waren. In den politischen Höhen, in denen sich Colorni in Prag bewegte, war die Luft dünn. Der ›welsche Jude‹, der die Gunst des Kaisers erlangt hatte, hatte zweifellos Neider und Feinde. In der Tat geriet Colorni im Jahre 1589 in den Strudel von Ereignissen, die weit über Prag hinaus an den großen europäischen Höfen Wellen schlagen sollten und auf dem Hradschin selbst zu einem Skandal führten. Diese Episode ist in der älteren Geschichtsschreibung mitunter als die »Lothringische Rede an Sixtus V.« bezeichnet worden. Die Rolle Colornis darin aber ist bis heute gänzlich übersehen worden. Es ist daher notwendig, an dieser Stelle den Verlauf der Affäre zunächst zu skizzierren. Auslöser für die Ereignisse war ein ausführliches Schreiben eines Gesandten des Herzogs von Lothringen an Papst Sixtus V. Das Schriftstück wurde dem Kaiser zugespielt, der auf den Inhalt empört reagierte. Denn die ›Rede‹ an den
442 Ebd., Appendix B, S. 369 443 Dies nimmt der Herausgeber Fleming an, ebd., Appendix B, S. 369. 444 Stieve, Lemma Lang, Philipp, in: ADB, Bd. 17, S. 617–618, hier, S. 617. Stieve bezieht dieses Gerücht auf den bereits erwähnten, angeblich getauften Kammerdiener Philipp Lang.
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Papst enthielt massive Vorwürfe gegen den Kaiser und das Haus Habsburg.445 Den Habsburgern wurde vor allem vorgeworfen, gegen die Interessen des Papstes zu handeln. Das »famos Libell« gipfelte in der Aufforderung an den Papst, die Herrschaft über das Heilige Römische Reich an den Herzog von Lothringen zu übertragen. Ein wichtiges Argument bildeten dabei die Charakterschwächen Rudolfs II. Dem Kaiser wurde vorgeworfen, keinen Respekt für den katholischen Glauben aufzubringen, Häretikern Schutz zu gewähren und kaum zur Beichte zu gehen. Außerdem diskreditiere sich der Kaiser durch seine übermäßige Beschäftigung mit Frauen und Magie sowie durch seinen Umgang mit – einem jüdischen Zauberer.446 Daß damit eindeutig Colorni gemeint war, geht aus einer Depesche hervor, die ein Mantuaner Gesandter unter dem Eindruck der Ereignisse in die Heimat schickte. Kein Tag vergehe, an dem der Kaiser nicht viele Stunden mit diesem Juden aus Ferrara verbringe, der seinerseits ein ›Doktor der Magie‹ sei – so faßte der Mantuaner Gesandte die besagte Stelle der ›Lothringischen Rede‹ zusammen.447 Es kann sich als nur um Colorni handeln. Der entrüstete Kaiser ließ im Zuge der Ermittlungen nach dem Autor der brisanten Schrift zahlreiche seiner Räte und Höflinge vernehmen. Im Verlauf der Untersuchung stellte sich schließlich heraus, daß es sich bei dem Schreiben um eine Fälschung handelte, die dazu dienen sollte, Zwietracht zwischen dem Kaiser und den katholischen Fürsten, namentlich dem Herzog von Lothringen, zu stiften.448 Dies freilich wäre dem Fälscher, der nicht gefaßt werden konnte, beinahe gelungen. Aber auch nach der Aufklärung der Affäre blieb die Situation unübersichtlich. Die Herzöge von Lothringen und Bayern entschuldigten sich noch Monate später für die Mißlichkeiten, für die sie im Grunde keine Schuld trugen.449 Die Affäre um die ›Lothringische Rede‹ war zudem vermutlich ein Grund für eine längerfristige Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kaiser Rudolf II. und
445 Der lateinische Originaltext der Rede ist abgedruckt bei Nuntiaturberichte aus Deutschland, II/3, S. 77–78 (Fn. 3). 446 In dem Schreiben ist wörtlich die Rede von »ea infinita virginum et mulierum stupra et magicas incantantiones ac praestigia, quibus cum suo Iudaeo Halo dat operam, impatientes nonnumquam aures offendere« (zitiert nach ebd., S. 78). Die Bezeichnung »Halo« kann ich mir nicht restlos erklären. Die Identifkation dieses Juden mit Colorni bleibt dennoch unzweifelhaft (s. o.). Vielleicht liegt in der von den Herausgebern der Nuntiaturberichte herangezogenen Abschrift (aus vatikanischen Archiven) ein Schreibfehler vor (»Halo« anstelle »Italo«)? Letzteres ergäbe mehr Sinn und ist jedenfalls eine nachweisbare Variante des lateinischen Adj. »Italicus«). 447 »[V]ien à dire che non passa mai giorno che non consumi molt’hore con un hebreo mandatogli dal signor Duca di Ferrara, il qual hebreo è Dottore di quest’arte [die Magie, D.J.]«, so Giulio Strozzi an Vincenzo I. Gonzaga, Prag 14. November 1589, ASMn, AG, b. 464, fol. 268r (siehe auch Gonzaga/Prag, Dok. 338). 448 Gonzaga/Prag, Dok. 338; 360; 362. 449 Nuntiaturberichte aus Deutschland, II/3, S. 141. Arcana imperii – Imperium arcanorum
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Papst Sixtus V.450 Colorni selbst ging aus der Affäre offenbar unbeschadet hervor. Nichts deutet darauf hin, daß unter dem Eindruck der Ereignisse sein Ansehen beim Kaiser litt. Es blieb bei der Rückendeckung des Kaisers für jenes Projekt, das Colorni wenig später in Angriff nehmen und für das er ein Privileg Rudolfs II. erhalten sollte. Gemeint ist die Scotographia, die einzige jemals gedruckte Abhandlung Colornis, der wir uns nun zuwenden wollen.
Geheimnisse übermitteln Die Abhandlung mit dem Titel Scotographia, die 1593 in Prag beim Drucker Johann Schumann erschien, war ein ungewöhnliches Werk.451 Es handelt sich um ein in italienischer Sprache verfaßtes Buch, das in Böhmen gedruckt wurde. Auch das eigenwillige Querformat des Quartbandes fällt auf. Beim Öffnen des aufwendig gestalteten Bandes dürften die meisten Leser zunächst über Dutzende von Seiten mit kryptischen Reihen von Zahlen und Buchstaben gestaunt haben. Der griechische Kunsttitel selbst war mehrdeutig. Scotographia bedeutet zu deutsch »Dunkelschrift«. Sofort ersichtlich waren zumindest der Name und die Religion des Autors. »Abram Colorni Heb[reo] Mant[ovano]«, besagen die Lettern auf der Titelseite. Colorni war, wie wir weiter oben bereits gesehen haben, nicht der einzige Jude, der sich im 16. Jahrhundert intensiv mit der Verschlüsselung von Botschaften beschäftigte. Kryptographischen Abhandlungen galt vor allem in Italien eine große Nachfrage. Eine Fülle solcher Drucke gelangte seit dem 16. Jahrhundert auf den Markt.452 Colorni hatte auch daher Grund, auf den Erfolg seiner Scotographia zu spekulieren und entsprechenden Ehrgeiz auf die Herstellung des Werkes zu verwenden. Die einzige jemals von Colorni im Druck erschienene 450 Ebd., S. xxi. 451 Abramo Colorni, Scotographia overo, scienza di scrivere oscuro, facilissima & sicurissima, per qual si voglia lingua; le cui diverse inventioni divisi in tre libri, serviranno in più modi, & per Cifra & per Contracifra. Le quali, se ben saranno communi a tutti, potranno nondimeno usarsi da ogn’uno, senza pericolo d’essere inteso da altri, che dal proprio corrispondente. […] Con Privilegio di quasi tutti i Potentati Christiani. Prag: Giovani Sciuman 1593. Benützt wird hier das Exemplar der HAB Wolfenbüttel. Eingesehen wurde ebenfalls das Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München. Das Werk läßt sich in einer Reihe weiterer Bibliotheken und Sammlungen weltweit nachweisen. Besonders sei hingewiesen auf das Exemplar in der Mendelsohn Collection der University of Pennsylvania (vgl. Joseph S. Galland, An Historical and Analytical Bibliography of the Literature of Cryptology, Evanston/Illinois 1945, S. 45); sowie auf das Exemplar aus der Sammlung des Grafen Giacomo Manzoni (1816–1889), siehe Bibliotheca Manzoniana. Catalogue des livres […], Città di Castello 1892. S. 144. Zur kleineren Handausgabe siehe weiter unten. 452 Vgl. dazu das Kapitel zur Kryptographie weiter oben.
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Abhandlung widmete er niemandem geringeren als Kaiser Rudolf II. Wir können daher annehmen, daß der Kaiser das Werk zumindest in den Grundzügen bereits vor dem Druck gekannt hat. Zudem bemühte sich Colorni intensiv in Italien um die Verbreitung der Scotographia sowie um die Einholung der dafür nötigen Privilegien in führenden italienischen Territorien, darunter Mantua, Venedig und Florenz.453 Zudem wurde außer der herkömmlichen Quartausgabe auch eine kleinere, handliche Taschenausgabe im Duodezformat gedruckt.454 Eine umfassende Untersuchung der Scotographia steht bislang aus. Sie kann auch hier nur partiell geleistet werden. Das komplexe Werk fehlt in den einschlägigen modernen Studien zur Geschichte der Kryptographie.455 Dies ist um so fragwürdiger, als die Scotographia noch bis ins 18. Jahrhundert hinein rezipiert wurde. Bereits in den 1620er Jahren hatte der kunstsinnige Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg in seiner (unter dem Pseudonym Gustavus Selenus erschienenen) berühmten Abhandlung über die Kryptographie fast sechzig Seiten einer ausführlichen Darstellung der Scotographia gewidmet.456 Colorni ist somit nach dem Abt Trithemius derjenige Autor, dem im Werk des Selenus – das für Jahrzehnte »maßgebliche Kompendium auf diesem Gebiet« – der meiste
453 Mantua: Colorni an Guidobuon de Guidoboni, 10. November 1592 (J-1891, S. 35); Venedig: HHStA, Staatenabteilung, Italien, Venedig, Dispacci di Germania, Bd. 19, fol 316r–321r [1592]; sowie Giovanni Dolfin an den Dogen, 10. Dezember 1591 (J-1891, S. 33); Florenz: ASF, Pratica segreta, filza 73, fol. 155r–v; sowie filza 189, fol. 189r–v [1592]; sowie Auditore delle riformagioni, filza 18, fol. 953r–954r. 454 Zur Taschenausgabe (mit einer Abbildung) vgl. Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 172, S. 267. Zumindest in tschechischen Bibliotheken sollen sowohl die Quart- als auch die Duodezausgabe in lateinischer Sprache existieren. Mir selbst lag bisher kein lateinisches Exemplar vor. Ich entnehme diese Angabe der Studie von Petra Večeřová zu den Drucken der Schumannschen Offizin. Vgl. Večeřová, Šumanská tiskárna, S. 133–134, S. 166–167. 455 So kommt Colorni beispielsweise in David Kahns einschlägiger Geschichte der Kryptographie nicht vor: David Kahn, The Codebreakers. The Story of Secret Writing, New York 1996. Selbst Sacco erwähnt Colorni in seiner recht patriotischen Geschichte der Kryptographie im Italien des 16. und 17. Jahrhunderts nicht: Luigi Sacco, Un primato italiano. La crittografia nei secoli XV e XVI, Rom 1958. Eine kurze Erwähnung dafür bei Galland, Historical and Analytical Bibliography, S. 45. Die einzige inhaltliche Annäherung an die Scotographia, wenngleich in relativ knapper und nicht immer ganz akkurater Weise, ist bisher: Michele Sharon Jaffe, The Story of 0. Prostitutes and Other Good-for-nothings in the Renaissance. Cambridge/Mass. etc. 1999, S. 97–105. Eher kursorisch ist auch die Behandlung der Materie bei Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 168–174. Lediglich mit den typographischen Aspekten beschäftigt sich eine jüngere Studie zur Schumanschen Offizin: Petra Večeřová, Šumanská tiskárna (1585–1628), Prag 2002, S. 133–134, S. 166–167. 456 Gustavus Selenus, Cryptomenytices et cryptographiae libri IX in quibus planißima steganographiae à Johanne Trithemio […] olim conscripta, enodatio traditur […]. Lüneburg: Stern 1624, S. 185–245. Geheimnisse übermitteln
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Platz eingeräumt wird.457 Der Herzog ließ keinen Zweifel an seinem Lob für die Prämissen von Colornis Scotographia.458 Daß Colornis Werk zu dieser Zeit nicht nur im deutschsprachigen Raum und nicht nur von einem adligen Bibliophilen wie August zu Braunschweig-Lüneburg rezipiert wurde, beweist der Dank des Herzogs an den Schotten Thomas Seghetus459 (ca. 1569–1627). Es war dieser in europäischen Gelehrtenkreisen gut vernetzte Schüler von Justus Lipsius sowie Vertraute von Galileo und Kepler, der den Herzog mit dem Werk Colornis bekannt gemacht hatte.460 Noch ein knappes Jahrhundert nach dieser Episode erwähnt Zedlers epochales Universal-Lexicon Colorni explizit als Autor der Scotographia.461 Als Zielgruppe für seine Scotographia hatte Colorni in erster Linie Höfe im Blick. So hob er bereits eingangs hervor, daß die von ihm entwickelte Methode sich vor allem an die »agenti de Principi« wende.462 Sein Werk trage der Notwendigkeit Rechnung, die arcana imperii tatsächlich der Geheimhaltung zu unterwerfen.463 An seinen früheren Wirkungsstätten, Mantua und Ferrara, mußte Colorni in diesem Punkt kaum Überzeugungsarbeit leisten.464 Im Reich herrschte damals in Sachen Kryptographie allerdings noch beträchtlicher Nachholbedarf. Der Italiener Matteo Argenti, der in denselben Jahren (1591–1605) fünf Päpsten als Chiffrensekretär diente, kommentierte sarkastisch, daß die Deutschen abgefangene verschlüsselte Briefe üblicherweise eher verbrennen würden, als sich an
457 Gerhard F. Strasser, Die kryptographische Sammlung Herzog Augusts. Vom Quellenmaterial für seine ›Cryptomenytices‹ zu einem Schwerpunkt in seiner Bibliothek, in: Wolfenbütteler Beiträge 5 (1982), S. 83–121, hier S. 83. Zur Wirkung und Rezeption der herzoglichen Kryptographie bis ins 18. Jahrhundert siehe ders., Geheimschrift, in: Paul Raabe (Hg.), Sammler, Fürst, Gelehrter. Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg 1579–1666, Braunschweig 1979, S. 181–191, hier v. a. S. 182, S. 191. Siehe auch ders., The Noblest Cryptologist. Duke August the Younger of Brunswick-Luneburg (Gustavus Selenus) and his Cryptological Activities, in: Cryptologia 7 (1983), S. 193–217. 458 So sprach der Herzog beispielsweise von den »modi uti nec inelegantes, ità digni observatione non oscitanti: Quos Modos debemus Abramo Colorno Hebraeo Mantuano«. Siehe Selenus, Cryptomenytices et cryptographiae libri IX, S. 185. 459 Auch: Segethus, Seget. 460 Ebd., S. 185. Zu Seghetus Biographie vgl. Otakar Odlozilik, Thomas Seget. A Scottish Friend of Szymon Szymonowicz, in: Polish Review 11 (1966), S. 3–39; Antonio Favaro, Dall’Album amicorum di Tommaso Segett (= Scampoli galileiani, Nr. 5), in: Atti e memorie della accademia di scienze lettere ed arti in Padova 6 (1889), S. 57–62. 461 Lemma Colornus, in: Grosses vollständiges Universal-Lexicon [Zedler], Bd. 6, Sp. 758. 462 Scotographia, Instruktion zum Gebrauch des Bandes, o. S. 463 »[P]erche essendo questa inuentione trouata principalmente per benefitio delle cose di stato, et seruitio particolare de Principi«. Scotographia, Bii-v. 464 Siehe zum Beispiel die zeitgenössische, umfangreiche Sammlung von Chiffrenschlüsseln und hs. Traktaten in ASMn, AG, b. 423–425 [Cifre sciolte, cifre in libri].
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deren Dechiffrierung zu versuchen.465 Colorni hatte dieses Problem durchaus vor Augen. Bezeichnenderweise enthielt seine Scotographia nicht nur Anleitungen zum Verschlüsseln, sondern auch ein Kapitel, das von den Möglichkeiten der Kryptoanalyse – also des ›Codebrechens‹ – handelte (die eigene Methode war davon natürlich ausgenommen).466 In der Tat konnte man auf dem Gebiet der Kryptoanalyse am Hofe des Kaisers, dem das Werk zugeeignet war, noch einiges lernen.467 Es gibt weitere Hinweise darauf, daß Colorni beim Abfassen seines Werkes die Bedürfnisse von nichtitalienischen Höfen, darunter namentlich des Kaiserhofs, berücksichtigte. Ausdrücklich wurde eine Internationalität der Methode angestrebt, die es Korrespondenten in ganz Europa ermöglichen sollte, verschlüsselt zu schreiben.468 Colorni nahm daher auch solche lateinischen Buchstaben in sein kryptographisches System auf, die im Italienischen so gut wie nie benutzt werden, also die Buchstaben K, W, X und Y.469 Dies war eine umsichtige Entscheidung. Auch in Rom begann zur selben Zeit der päpstliche Chiffrensekretär, kryptographische Methoden zu entwickeln, in die bei Bedarf jene Buchstaben integriert werden konnten, die im Italienischen praktisch nicht vorkommen.470 Colorni seinerseits hielt sogar die Anwendung der eigenen Methode auf außereuropäische Sprachen für möglich (wenngleich er hierzu mehr Andeutungen machte, als konkrete Anleitungen gab).471 Freilich waren mit solchen vielversprechenden Ankündigungen allein noch keine Käufer zu gewinnen. Dies konnte nur gelingen, wenn der Autor vermochte, einen generellen Vorbehalt potentieller Käufer kryptographischer Literatur zu zerstreuen. Denn die Scotographia ist – wie ein Großteil der gedruckten krypto-
465 »Et in somma tutte quelle nationi sotto l’imperio e dominio di Polonia, Suetia, tedesche e simile, e con cantoni de Suizzeri trovo che in profession di cifre non hanno alcun senso ne valore perche come trovanno lettere di cifre le abrugiano e stracciano […]«, so Matteo Argenti in dem für seine Nachkommen geschriebenen Chiffrenbuch, das zu Lebzeiten nicht publiziert wurde. Zitiert nach Aloys Meister, Die Geheimschrift im Dienste der päpstlichen Kurie. Von ihren Anfängen bis zum Ende des XVI. Jahrhunderts, Paderborn 1906, S. 115. 466 Scotographia, I. Buch, Kap. 10 (»Discorso intorno à gl’avvertimenti, che sono atti per diciferare le cifre senza contracifra«). 467 Zumal italienische und französische Höfe zu dieser Zeit bereits eigene Dechiffrierspezialisten beschäftigten. Siehe hierzu z. B. Peter Pesic, Secrets, Symbols, and Systems. Parallels between Cryptanalysis and Algebra, 1580–1700, in: Isis 88 (1997), S. 674–692. 468 »Perche è di nostra intentione che questa fatica sia comune à ciascuna natione«. Scotographia, Biii-r/v. 469 Eine detaillierte Diskussion der Gründe und Implikationen seiner Entscheidung findet sich im I. Buch, Kap. 1. 470 Kahn, Codebreakers, S. 114. 471 Scotographia, Bii-v: »[…] proferrire ogni sorte di parole in qual si uoglia lingua, & non solo à quelle, che si scriuono con caratterj latini, ma nelle pellegrine, & barbare ancora.« Geheimnisse übermitteln
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graphischen Literatur dieser Zeit – zumindest auf den ersten Blick von einem (hermeneutischen) Widerspruch geprägt: Der Anspruch, eine für Dritte nicht entschlüsselbare Geheimschrift zu bieten, wird durch die Ver-»öffentlichung« der Methode, zumal im Medium des Drucks, gewissermaßen unterminiert. Wollte ein gedrucktes kryptographisches Werk also eine breite Käuferschaft erreichen, dann mußte (und muß) es zunächst eine überzeugende Antwort auf die Frage nach der Individualisierbarkeit der vorgestellten Methode bieten. Dies wußte auch Colorni.472 Welche Antwort Colorni auf diese Herausforderung fand, läßt sich am besten an einem konkreten Beispiel demonstrieren, das der Autor wählte, um seine Methode zu veranschaulichen.473 Ausgangspunkt – der sog. »Klartext« – ist der Psalmvers 119:3 (Vulgata). Aus den lateinischen Worten »Quid detur tibi, aut apponatur tibi, ad linguam dolosam«474 wird bei Colorni TSXGFY GHTPXA SKGHIN MIB MBSIMHSSC SKGHIN MZQ XKFFLTWPL GWYIXGWPL. Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, werden in einem ersten Schritt die Wörter des Verses in Gruppen von jeweils drei Buchstaben zerlegt. Ein solches Verfahren war im 16. Jahrhundert nicht unüblich und findet sich beispielsweise auch bei Cardano.475 Im vorliegenden Fall ist die erste zu verschlüsselnde Einheit die Buchstabengruppe »Qui«. Im fast fünfzigseitigen Anhang der Scotographia sind sämtliche möglichen Dreierkombinationen von Buchstaben in Tabellenform aufgelistet. Hier schlägt der Briefschreiber nun die Tafeln auf, auf denen sich die Tabellen mit jenen Dreiereinheiten befinden, die mit dem Buchstaben Q beginnen. Es existieren in Entsprechung zum Alphabet 24 solcher Tafelseiten – eine für jeden Buchstaben des Alphabets (man beachte, daß I = J und V = U ist). Um die Chiffriermethode zu individualisieren, haben sich die Korrespondenten zuvor darauf geeinigt, daß jeder der Anfangsbuchstaben, dem eine Tafelseite gewidmet ist, im internen Gebrauch durch einen der verbleibenden 23 Buchstaben des Alphabets substituiert wird. So wird beispielsweise der Buchstabe Q durch den (beliebig gewählten) Buchstaben T substituiert. In den Scotographia-Exemplaren der Korrespondenten sollen diese Substitutionen durch jeweils an den Rand der entsprechenden Tafel geklebte Zettelchen (»bollettini di carta pergamena«) vermerkt werden.476 Die Chiffre für die Worteinheit »Qui« wird im vorliegenden Beispiel also in jedem Fall mit dem Buchstaben T beginnen. Sie wird ergänzt durch die Buchstaben S und X, die Teil jenes – typographisch im Druck hervorgehobenen – Systems von Buchstaben sind, aus dem sich wie in einer Art Koordinatensystem der jeweilige 472 Ebd.: »[S]e ben sia data alla stampa, può ciascuno fuor di pericolo scriuere in uarie maniere à suoi confidenti.« 473 Ebd., I. Buch, Kap. 6. 474 »Was soll er dir antun, du falsche Zunge, und was dir noch geben?« 475 Kahn, Codebreakers, S. 145. 476 Scotographia, I. Buch, Kap. 3.
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Ort der ursprünglichen Buchstabeneinheit in den Tabellen ermitteln läßt. Aus »QUI« wird also TSX, und so fort – allerdings nur für die Korrespondenten, die sich ja zuvor auf den erwähnten gemeinsamen Schlüssel, den Colorni als Register (registro) bezeichnet, für die Substitution der Anfangsbuchstaben geeinigt haben.477 Colornis Scotographia ist so entworfen, daß nach einem ähnlichen Muster auch eine Chiffrierung durch Zahlengruppen möglich ist.478 Dies demonstriert Colorni am Beispiel eines Spruches Salomos (worauf wir noch zuückkehren werden): »Sapientes abscondunt scientiam, os autem stulti confusione proximum est.«479 Nach Bekunden des Autors war die eigene Methode ›wasserdicht‹.480 In der Tat handelt es sich um ein sog. polyalphabetisches Verfahren, also ein System, bei dem der jeweilige Buchstabe nie oder nur selten auf dieselbe Weise substituiert wird. Eine komplexe polyalphabetische Geheimschrift konnte von außenstehenden Zeitgenossen – im Unterschied zum modernen Kryptologen – in der Regel nicht entschlüsselt werden, es sei denn durch Bekanntwerden des zwischen den Korrespondenten vereinbarten Schlüssels. Solche polyalphabetischen Systeme begannen sich erst allmählich seit dem 15. Jahrhundert durchzusetzen. Colorni wußte jedoch, daß das von ihm entwickelte Verfahren anspruchsvoll und zeitintensiv war. Er empfahl daher, diese Methode vornehmlich für die Übermittlung von Informationen zu benützen, die aus politischen oder militärischen Gründen höchster Geheimhaltung bedurften. Für Kauf- oder Handelsleute sowie für all diejenigen, die aus beruflichen Gründen ein hohes Aufkommen an Briefverkehr hatten, bot die Scotographia hingegen eine Reihe weiterer, weniger aufwendiger Methoden.481 Zu diesem Zweck befanden sich im Anhang des Werkes beispielsweise zwei Chiffrierquadrate (quadrato) sowie zwei Chiffrierscheiben (ruota, ruoticella). Obgleich der Name nicht fällt, verdeutlichen die Chiffrierscheiben, daß Colorni allemal mit der Kryptographie Albertis vertraut war, der diese Technik im 15. Jahrhundert popularisiert hatte.482 Auch hatte sich Colorni offenkundig mit den einschlägigen kryptographischen Werken des Trithemius (Polygraphiae libri sex, 1518), Della Portas (De furtivis literarum notis, Neapel 1563) sowie Cardanos (Abschnitte in De subtilitate, 1550, sowie in De rerum varietate, 1557) beschäftigt.
477 Ebd., I. Buch, Kap. 6. 478 Ebd., I. Buch, Kap. 7 (»Modo d’occultare i ragionamenti, col mezzo de caratteri dell’abaco«). 479 Spr. 10:14: »Die Weisen halten mit ihrem Wissen zurück; aber der Toren Mund führt schnell zum Verderben.« Siehe Scotographia, fol. 8r. 480 Ebd., fol. 11v: »[D]ebba abbondantemente bastare in assicurarcj, che ingegno humano (ancorche sia fatto perito di queste nostre inventioni […]) non sarà mai bastante di scoprire li segreti, scritti di tal sorte, fuor che con la corrispondente contracifra.« 481 Ebd., fol. 13v: »[Q]uelli, che sono occupati, in varij negotij, [et] quelli […] che gli conviene scrivere molte lettere.« 482 Für weitere Einflüsse Albertis siehe Jaffe, The Story of 0, S. 99. Geheimnisse übermitteln
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Überhaupt zeigt sich in der Abhandlung, daß Colorni mit der zeitgenössischen kryptographischen Literatur in ihrer ganzen Breite gut vertraut war. Auch bei dem Titel handelt es sich vermutlich um eine Anspielung auf eines der berühmtesten Werke zur Kryptographie der damaligen Zeit. Die Rede ist von der bis heute von Legenden umrankten Steganographia des Abtes Johannes Trithemius (1462–1516). Das Werk des Abtes aus dem Klosters Sponheim zirkulierte über Jahrzehnte hinweg nur in Abschriften, bevor es im Jahr 1606 – also wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Scotographia – erstmals gedruckt wurde. Zahlreiche Historiker haben sich inzwischen mit der Abhandlung des Trithemius beschäftigt, die unter dem Schleier einer dunklen Sprache eine Reihe kohärenter kryptographischer Methoden enthielt. Ohne jeden Zweifel regte die Steganographia die Phantasie der Zeitgenossen an.483 Dies gilt zum Beispiel für die Aussage des Abtes, zwei Freunde könnten sich über jede beliebige Entfernung hinweg ohne weitere Hilfsmittel geheime Botschaften zusenden. Nicht zuletzt unter den Apologeten des Trithemius kursierten ähnliche kühne Theorien zur Schriftverschlüsselung. So finden sich Ideen zur Übermittlung geheimer Botschaften durch Mondstrahlen oder Spiegel.484 Im Anschluß an Della Porta wurde sogar die wechselseitige Injektion von Blut erwogen, um die Herstellung einer geheimen geistigen Verbindung zwischen Absender und Empfänger der geheimen Botschaft zu ermöglichen.485 Generell wurde damals zudem unterschieden zwischen der Übermittlung durch das Eintauchen des Schriftträgers in eine Flüssigkeit (genus hyphasmaticum) und der Verwendung einer unsichtbaren Tinte, die erst durch chemische Prozesse sichtbar gemacht werden könnte (genus aleoticum).486 Was Geheimtinten betrifft, so war Colorni für dieses Verfahren relativ aufgeschlossen. Er erwähnte in seiner Scotographia verschiedene Rezepte für solche Tinten. Hier könnte ein Einfluß Della Portas hineingespielt haben, der solche Methoden in seine weitverbreitete Magia naturalis aufgenommen hatte.487 Der jüdische Zeitgenosse Abraham Portaleone wiederum beschrieb wenige Jahre nach Colornis Tod in einer Abhandlung in hebräischer Sprache, wie beispielsweise bei Kleidungsstücken, die mit Fruchtsaft beschriftet werden, durch Erhitzen die Botschaft zum Vorschein kommt. Ebenfalls widmete er sich einer Methode, bei der die Nachricht mit dem milchartigen Saft von Feigen auf den Körper des Boten geschrieben und später durch das Auftragen von zerstoßener Holzkohle wieder 483 Noel L. Brann, Trithemius and Magical Theology. A Chapter in the Controversy over Occult Studies in Early Modern Europe, Albany 1999, v. a. S. 180. 484 Dazu (auch mit einer Abbildung): Wayne Shumaker, Natural Magic and Modern Science. Four Treatises 1590–1657, Binghamton 1989, S. 132. 485 F. Wagner, Studien zu einer Lehre von der Geheimschrift, in: Archivalische Zeitschrift 11 (1886), S. 156–189; 12 (1887), S. 1–29; 13 (1888), S. 8–44, hier 11 (1886), S. 184. 486 Ebd., S. 183. 487 Della Porta, Magiae naturalis [1558], S. 62–64; Wagner, Studien, hier (12) 1887, S. 19.
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sichtbar gemacht wird.488 Portaleones Ausführungen lassen erahnen, was Colorni vorgeschwebt haben dürfte, als er um 1597 dem württembergischen Herzog in einem »secreto particolare« die Vorzüge eines Verfahrens zur Nachrichtencodierung anpries, bei dem ein Bote eine geheime Mitteilung überbringen könne, die selbst dann nach außen hin unsichtbar bleibe, wenn der Bote bei seinem Weg durch feindliche Reihen gefaßt und entkleidet würde.489 Colorni dürfte überdies auch einige der exotischeren, weiter oben genannten Theorien gekannt haben. Wie aus dem Vorwort der Scotographia hervorgeht, war er in jedem Fall mit verschiedenen archaischen Methoden vertraut, die in der Antike angeblich zur Übermittlung geheimer Botschaften benützt worden sein sollen.490 Dazu zählte beispielsweise das Schreiben auf die Kopfhaut eines geschorenen Sklaven, dessen nachwachsendes Haar die Worte buchstäblich verdecken solle.491 Auch mit einer Methode zur Verschlüsselung mittels Musiknoten war Colorni vertraut.492 Colorni verschwieg seine Skepsis gegenüber manchen dieser Methoden nicht. Wie bereits in einigen seiner früheren Werke bekräftigte er auch in der Scotographia, daß ein großer Teil seiner Ausführungen auf einem mathematischen Fundament basierten.493 Mathematisch argumentierte Colorni nicht zuletzt dort, wo er die Unmöglichkeit einer Kryptoanalyse der von ihm erfundenen Chiffriermethode zu demonstrieren versuchte. Warum aber entschied sich Colorni dann für einen Titel, der augenscheinlich Assoziationen zu der von einer magischen Aura umgebenen Steganographia des Trithemius weckte?494 Es würde wohl zu kurz greifen, in dieser Entscheidung Colornis lediglich eine plakative ›Werbemaßnahme‹ zu sehen. Denn die »Verquickung von oft erstaunlich fortgeschrittener Kryptographie mit magia naturalis«
488 Portaleone, Heldenschilde, Kap. 42, S. 389 489 »Per mandar in un Campo o fortezza una lettera, che non sia trovata d’alcuno, ancora ch’il portator di essa passasse pel mezzo de gli inimici, e che fosse spogliato nudo […] ancor che fosse forzato a dirlo.« Undatiertes Secreto particolare für Friedrich I. von Württemberg [ca. 1597], HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 11. 490 Colorni könnte sie – wie später auch Gustavus Selenus – aus den wenige Jahre zuvor veröffentlichten, von Isaac Casaubon herausgegebenen Stratagematum libri octo des Polyaenus (Leiden 1589) entnommen haben. Vgl. zu dieser Quelle: Strasser, Die kryptographische Sammlung, S. 91. 491 Aus jüdischer Sicht wäre dies Methode wohl halachisch problematisch. Vgl. Lev. 19:28 (»Ihr sollt um eines Toten willen an eurem Leibe keine Einschnitte machen noch euch Zeichen einätzen«). 492 Scotographia, Bv. 493 Ebd., fol. 13v: »[…] fondato sopra fondamenti reali, fisici, & Mathematici.« 494 Es ist bezeichnend, daß der Bibliograph Julius Fürst den Titel von Colornis Werk noch im 19. Jahrhundert versehentlich mit Steganographia angab (Bibliotheca Judaica, 3 Bde. Leipzig 1849–1863 [ND Hildesheim 1960], hier Bd. 1, S. 184). Bereits De Rossi nennt in einem kurzen Eintrag über Colorni die Scotographia eine Steganographie: Giovanni Bernardo de Rossi, Historisches Wörterbuch der jüdischen Schriftsteller und ihrer Werke, Leipzig 1839/1846 [ND Amsterdam 1967], S. 85. Geheimnisse übermitteln
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ist im 16. Jahrhundert durchaus keine Ausnahme.495 Der von Colorni gewählte, anspielungsreiche Titel ist bezeichnend für die Komplexität der Scotographia. Zwar konnte zumindest die weiter oben skizzierte polyalphabetische Methode Colornis mit Recht den bereits im Titel formulierten Anspruch erheben, eine seriöse, auf logischen (und mathematischen) Prinzipien gründende »scienza« zu sein. Dennoch bedeutet dies für Colorni nicht, in der Scotographia auf Anspielungen und Assoziationen zu verzichten, die erlaubten, das Werk und den Autor mit der Sphäre der Ökonomie des Geheimen in Verbindung zu bringen. So spielt beispielsweise das italienische Verb »cavare«, das Colorni verschiedentlich für den Prozeß des Verschlüsselns wählt, im 16. Jahrhundert auch in alchemischen und metallurgischen Diskursen eine wichtige Rolle, wo es die Sublimation, also das Verdampfen von Stoffen bezeichnen kann.496 In der Tat erinnert der Prozeß des Chiffrierens bei Colorni mitunter an eine Art Alchemie der Worte (inbesondere im Sinne einer Sublimation). Vielleicht versuchte Colorni mit solchen Metaphern nicht zuletzt bei Alchemisten Interesse an seinem Werk zu wecken. Denn unter Alchemisten war die Chiffrierung von Rezepturen und (technischen) Geheimnissen weit verbreitet.497 Das Spiel mit alchemischen Schlagwörtern, wie es Colorni im Zusammenhang mit der Kryptographie betrieb, konnte aber ebenfalls Assoziationen wecken mit der auf christlicher Seite in dieser Zeit nachweisbaren Vorstellung, wonach Juden – speziell Kabbalisten – beim Umgang mit Schrift und Schriften angeblich die Kunst einer ›Alchemie der Worte‹ beherrschten.498 Dies führt uns letztlich zu der allgemeinen Frage, wie Colorni als Autor der Scotographia mit dem Topos von der jüdischen Arkankompetenz umgeht. Wie wir weiter oben bereits gesehen haben, wurde Juden in dieser Epoche eine Expertise auf dem Gebiet der Kryptographie zugesprochen, zumal man Zusammenhänge zwischen kryptographischem Wissen und den bei Kabbalisten populären Methoden der Gematria vermutete.499 Della Porta behauptete sogar, daß die Juden schon in älte-
495 Strasser, Die kryptographische Sammlung, S. 92. 496 Diese Beobachtung bei Jaffe, The Story of 0, S. 105. 497 Vgl. allgemein Manuel Bachmann/Thomas Hofmeier, Geheimnisse der Alchemie, Basel 1999, S. 11–13; Lawrence M. Principe, Robert Boyle’s Alchemical Secrecy. Codes, Ciphers and Concealment, in: Ambix 39 (1992), S. 63–74; Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 357. Zur Nähe zwischen Alchemie und Kryptographie im 16. Jahrhundert vgl. auch Brann, Trithemius and Magical Theology, S. 180. 498 Vgl. etwa die Äußerungen des englischen Zeitgenossen, Schriftstellers und Geistlichen John Donne (1572–1631) über die Kabbalisten: Sie seien »the Anatomists of words, and have a Theologicall Alchimy to draw soveraigne tinctures and spirits from plain and grosse literall matter, observe in every variety some great mystick signification«. Zitiert nach David S. Katz, PhiloSemitism and the Readmission of the Jews to England 1603–1655, Oxford 1982, S. 79. 499 Kahn, Codebreakers, S. 91–92.
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ster Zeit Methoden entwickelt hätten, um ihre Schriften geheimzuhalten.500 Auch der bereits erwähnte jüdische Arzt Abraham Portaleone widmete sich in seiner am salomonischen Tempel orientierten Enzyklopädie explizit der Kryptographie. Es kann also eigentlich nicht verwundern, wenn an mehreren Stellen von Colornis Scotographia die jüdische Herkunft des Verfassers erwähnt wird, und dies nicht nur dort, wo – wie auf dem Titelblatt – dieser Hinweis obligat war. Auch die Hebräischkenntnisse des Autors werden bereits im ersten Kapitel angesprochen.501 Gewissermaßen als Motto ist dem Buch zudem gleich zu Beginn ein Spruch Salomos (25:2) vorangestellt: »Gloria Dei est celare verbum, & gloria regum investigare sermonem« (»Es ist Gottes Ehre, eine Sache zu verbergen; aber der Könige Ehre ist es, eine Sache zu erforschen.«).502 Blättert man weiter, dann läßt sich zudem nicht übersehen, daß Colorni in der Scotographia ausschließlich Verse aus dem Psalter und den Sprüchen benützte, um seine kryptographische Methode zu demonstrieren, zumal solche, die um die Notwendigkeit von Geheimhaltung kreisen. Dies sticht um so mehr hervor, weil italienische Verfasser von Kryptographien in dieser Zeit häufig Verse von Petrarca, Dante oder Vergil als Beispiele für die Anwendung der jeweiligen Methode verwenden.503 Manchmal bemühten sich die Autoren kryptographischer Abhandlungen auch um Aufheiterung des Lesers durch den gewählten Beispielsatz. Della Porta etwa demonstrierte an einer Stelle seine Methode anhand des wenig dezenten, aber in der Tat verschlüsselungswürdigen Satzes »Puellam hodie amatam defloravi«.504 Umgekehrt entwickelte Trithemius sogar eine Methode (die sog. Ave-Maria-Methode), bei der christliche Gebete als Tarnung für den verschlüsselten Text dienten.505 In jedem Fall ist augenfällig, daß die Autoren frühneuzeitlicher Kryptographien ihre Beispiel- oder Tarnsätze mit Bedacht auswählten – entweder mit der Absicht, die eigene Belesenheit bzw. Frömmigkeit zu unterstreichen, oder um den Leser zu erheitern. Colornis Entscheidung, seine eigene Methode anhand von (anspielungsreichen) Versen aus dem Alten Testament und speziell aus den Sprüchen Salomos zu illustrieren, verdient also das Augenmerk des Forschers. Dies wird durch den Vergleich mit dem Rabbiner Samuel Archevolti (ca. 1530–1611) noch deutlicher. Dieser Zeitgenosse gab neun Jahre nach der Scotographia im Rahmen seiner hebräischen Grammatik Arugat ha-Bosem (Venedig 1602) eine ausführliche, wenngleich nicht bahnbrechende Einführung in verschiedene Methoden der 500 Giovan Battista Della Porta, De furtivis literarum notis vulgo de ziferis libri IIII, London: Wolphium 1591, S. 18. Ich beziehe mich hier auf die Londoner Ausgabe, die ein Raubdruck ist. 501 Scotographia, I. Buch, Kap. 1. 502 Das Motto findet sich gut sichtbar auf einer unpaginierten Seite, die zwischen Frontispiz und Widmungsschreiben eingerückt ist. 503 Jaffe, Story of 0, S. 108. 504 Della Porta, De furtivis literarum, S. 134. 505 Kahn, Codebreakers, S. 133. Geheimnisse übermitteln
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Kryptographie. Bei Archevolti, der die Anfänge der Kryptographie im Talmud verortete, begegnen wir ebenfalls expliziten Anspielungen und Bezugnahmen auf das Alte Testament. Dabei benutzt er Bibelverse nicht nur als Beispiel für einen zu chiffrierenden Klartext, sondern leitet – ebenso wie Colorni – auch die Legitimität der Kryptographie aus der Heiligen Schrift ab. So sieht er beispielsweise in der Weisheitsliteratur des Alten Testaments geradezu eine Aufforderung zur Chiffrierung von Wissen.506 Ein gewichtiger Unterschied zwischen den kryptographischen Ausführungen Colornis und Archevoltis sollte jedoch nicht übersehen werden: Colorni schrieb für ein christliches Publikum, Archevolti für ein jüdisches. Für Colornis christliche Leser war die prominente Verwendung von Zitaten aus dem Alten Testament in einem kryptographischen Werk ungewohnter als für Leser des hebräischen Schrifttums. Mehr noch als im Falle Archevoltis handelte es sich bei Colorni also um eine sichtbare, wenn nicht sogar programmatische Entscheidung. Ebendiese Entscheidung könnte ihrerseits, wie weiter oben bereits angedeutet wurde, im übertragenen Sinn eine Art Chiffrenschlüssel sein, um die intellektuelle Rolle und die salomonische Tradition, in der Colorni sich sah, zu ›entschlüsseln‹. Auf diesen Punkt wird am Schluß noch einmal zurückzukommen sein.
Explosives Wissen Im Frühjahr 1591 verbreitete sich an Höfen in ganz Europa die Nachricht von einem Unfall Kaiser Rudolfs II. während eines alchemischen Experiments. Offenbar hatte der Kaiser versucht, explosive Stoffe herzustellen. Dabei versengte Rudolf seinen Bart sowie die Augenbrauen und zog sich Verbrennungen im Gesicht zu.507 Der Kaiser war mit seinem Interesse an dieser (explosiven) Materie nicht allein am Hof. Vielmehr bildete namentlich die Gewinnung von Salpeter, die ihrerseits unverzichtbar war für die Herstellung von Pulver, am Prager Hof einen Schwerpunkt auf dem Gebiet der sog. ›Praktischen Alchemie‹. In Prag wurden damals bereits Versuche mit fortschrittlichen Kristallisationsöfen angestellt.508 Mit 506 Yosef Ofer, Methods of Encoding in Samuel de Archevolti’s Arugat ha-Bosem, in: European Journal of Jewish Studies 2 (2008), S. 45–63, hier S. 56. 507 Der päpstliche Nuntius berichtetete an die Kurie »che volendo l’imperatore far prova nella sua camera di certa inventione di polvere, prese in un subito il foco et offese leggiermente nel viso S. Mtà, facendole più danno in abbrugiar le ciglia et peli della barba che nella carne.« Schreiben vom 25. März 1591, in: Nuntiaturberichte aus Deutschland, II/3, S. 290. Siehe auch den Bericht des venezianischen Botschafters Giovanni Dolfin an den Dogen und Senat, Prag, 26. März 1591, in: Calendar of State Papers [Venice], Bd. 8, S. 535. Siehe ebenfalls Gonzaga/Prag, Dok. 388. 508 Hubicki, Rudolf II. und die Alchimisten, v. a. S. 299.
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dem Ausbruch des sog. »Langen Türkenkriegs« (1593–1606) und der steigenden Nachfrage nach Schießpulver gewannen Experimente auf diesem Gebiet zusätzlich an Bedeutung.509 Für Colorni, der in diesem Sektor – wie noch zu zeigen sein wird – bereits in Italien Erfahrung gesammelt und soeben den Druck der Scotographia abgeschlossen hatte, eröffnete sich 1593 also ein vielversprechendes Betätigungsfeld. Bevor jedoch Colornis Salpetergeschäfte und -experimente näher unter die Lupe genommen werden sollen, ist es notwendig, den Kontext für eine solche Untersuchung ausführlich zu umreißen. Denn Colorni war bei weitem nicht der einzige Jude in der Frühen Neuzeit, der sich Renommee auf diesem Gebiet erwarb. Das Phänomen der jüdischen Hersteller und Händler von Salpeter und Pulver, das bisher weitgehend unerforscht ist, weist dabei verschiedene Facetten auf. Es kann nicht allein wirtschafts- und sozialgeschichtlich erklärt werden. Vielmehr muß ebenfalls gefragt werden, warum Juden von seiten der Mehrheitsgesellschaft offenbar eine genuine Expertise in der Salpeter- und Pulverherstellung zugetraut wurde. In einem nächsten Schritt gilt es zu erörtern, ob und wieweit Juden realiter auf ein spezifisches Wissen zur Gewinnung von Salpeter zurückgreifen konnten. Nicht zuletzt muß dabei auch die historische Entwicklung der Salpeterindustrie in Europa selbst betrachtet werden, um die Handlungsspielräume und die Rolle der Juden auf diesem Gebiet überhaupt ausloten zu können. Erst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, läßt sich das Wirken von frühneuzeitlichen Juden wie Colorni in der Salpeterherstellung angemessen beschreiben. Zunächst ist es an dieser Stelle jedoch notwendig, einige Bemerkungen über das ›Felsensalz‹ (lat. sal petrae) voranzustellen. Zwar ist der Begriff Salpeter – eigentlich ein Trivialname für verschiedene Nitrate – bis heute geläufig. Von einer nennenswerten praktischen Bedeutung des auf natürliche Weise gewonnenen Salpeters im Alltag oder im Wirtschaftsleben kann heutzutage aber kaum mehr die Rede sein. In unserer Zeit sind synthetisch erzeugte Nitrate größenteils an diese Stelle getreten. Frühneuzeitliche Berufe wie die des Salitterers oder Salpeterers sind heute ausgestorben. Solche Bezeichnungen lassen allerdings noch die Bedeutung erahnen, die dem Salpeter in der vormodernen Wirtschaftswelt zukam. Eine umfassende Studie zur Salpeterproduktion im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit liegt bisher nicht vor.510 Salpeter wurde in der Frühen Neuzeit zu verschiedenen Zwecken gebraucht, darunter zum Düngen, zur Konservierung 509 Niederkorn, Die europäischen Mächte und der »Lange Türkenkrieg«. 510 So auch Kelly De Vries, Sites of Military Science and Technology, in: Katharine Park/Lorraine Daston (Hg.), Early Modern Science (= The Cambridge History of Science, Bd. 3), Cambridge 2006, S. 306–319, hier S. 311. Den besten Überblick gibt nach wie vor Ottomar Thieles Studie, die allerdings kulturgeschichtliche Fragen nur am Rande berührt und deren Fokus im wesentlichen auf Frankreich und Deutschland liegt: Salpeterwirtschaft und Salpeterpolitik. Eine volkswirtschaftliche Studie über das ehemalige europäische Salpeterwesen (Zeitschrift für die gesamte StaatswisExplosives Wissen
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von Lebensmitteln, gegen Pflanzenkrankheiten, in der Textilindustrie sowie in der Metallurgie und im Bergbau.511 Zu unterschiedlichen Zwecken verwendeten auch Alchemisten den Salpeter, wobei der Begriff in diesem Zusammenhang durchaus nicht immer einheitlich benutzt wurde.512 Das Wissen der Alchemisten um den Salpeter spielte nicht zuletzt auch in der Pulverproduktion eine Rolle.513 Damit ist der entscheidende, weiter oben bereits angedeutete Punkt genannt. Denn die größte Bedeutung des Salpeters in der Frühen Neuzeit lag in seinem Nutzen für die Herstellung von Schwarzpulver. In diesem Kontext bezeichnete der Begriff »Salpeter« das kristalline Ausgangsmaterial (KNO3) für die Herstellung von Schießpulver. Für eine ideale Mischung von Schießpulver war ein Anteil von 75 % Salpeter notwendig, der Rest entfiel auf Kohle (15 %) und Schwefel (10 %).514 Hieraus erklärt sich auch ein beträchtlicher Teil des Bedarfs an Salpeter in der Frühen Neuzeit. Er war unverzichtbar für die Herstellung von Pulver – und damit für die militärischen Ambitionen von Herrschern und Territorien. Die Salpeterherstellung war dementsprechend immer auch im Visier der Obrigkeit. Die Herstellung von Pulver, gar eine autarke Versorgungslage, war für viele Herrscher eine Frage des (militärischen) Überlebens. In einem kriegerischen Zeitalter wie der Frühen Neuzeit galt das Schießpulver – neben dem Buchdruck und dem Kompaß – bezeichnenderweise als eine der drei wichtigsten Erfindungen der Menschheit.515 In Europa wurde das ursprünglich in China erfundene Schießpulver im 13. Jahrhundert bekannt, wenngleich anfangs die waffentechnische Anwendung keine Rolle spielte. Mit der Verbreitung von Pulverwaffen im 14. Jahrhundert gewann das Schwarzpulver jedoch rasch eine eminente Bedeutung. Doch nicht nur die auf militärischem Sektor zunehmend steigende Nachfrage nach Pulver führte zu hohen Preisen für Salpeter. Schuld daran war auch die Abhängigkeit von Importen,
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senschaft, Ergänzungsheft 15), Tübingen 1905. Siehe auch das Lemma Salpeter von Rainer Leng im LexMA (Bd. 7, Sp. 1318) sowie das entsprechende Lemma von Lawrence Principe im LexAlch, S. 318–319. Siehe für weiterführende Literaturangaben auch die Anm. weiter unten. Vgl. die entsprechenden Abschnitte der wirtschaftspolitischen Agenda, die der englische Arzt und Naturforscher Benjamin Worsley (1618–1673) in den 1640er Jahren entwarf. Abgedruckt bei Webster, The Great Instauration, S. 539–546. Siehe auch Zbigniew Szydło, The Alchemy of Michael Sendivogius. His Central Nitre Theory, in: Ambix 40 (1993), S. 129–146, hier S. 130. Tara Nummedal, Alchemy and Authority in the Holy Roman Empire, Chicago etc. 2008, v. a. S. 139–141. Michael Horchler, Die Alchemie in der deutschen Literatur des Mittelalters. Ein Forschungsbericht über die deutsche alchemistische Fachliteratur des ausgehenden Mittelalters, Baden-Baden 2005, S. 273–274. Bert S. Hall, Weapons and Warfare in Renaissance Europe. Gunpowder, Technology, and Tactics, Baltimore 1997, S. 67. De Vries geht von einem Verhältnis von 75 % Salpeter sowie je 12,5 % Schwefel und Kohle aus (Sites of Military Science, S. 310). Paolo Rossi, Philosophy, Technology, and the Arts in the Early Modern Era, New York 1970, S. 82. Ein jüdischer professore de’ secreti
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die bis ins 15. Jahrhundert vor allem aus Indien kamen, wo beträchtliche natürliche Vorkommen existierten.516 Erst allmählich entwickelte sich auf europäischer Seite ein ausreichendes know-how bei der Herstellung von ›Kunstsalpeter‹, was die Importabhängigkeit reduzierte und die Preise für die begehrte Ressource sinken ließ.517 Entscheidend dafür war der Betrieb von sog. Salpetergärten im großen Stil. Dabei wurden Halden aus stickstoffhaltigen Substanzen (wie z. B. pflanzliche und tierische Abfälle sowie Exkremente) angelegt, die man mit Kalk, Ton oder Asche vermischte und immer wieder befeuchtete. Das Umwenden und Befeuchten der Halde beschleunigte den natürlichen Verwitterungsprozesses, in dessen Verlauf der organisch gebundene Stickstoff durch die Einwirkung von Bakterien zu Nitrat oxidierte. Der Rohsalpeter, der sich auf diese Weise auf der äußeren, der Luft zugewandten Schicht bildete, konnte abgetragen werden. Durch Sieden und mehrfache Umkristallisation wurde dieser zu reinem Salpeter geläutert und konnte in der Pulverherstellung Verwendung finden. Neben dieser Form der Salpeterherstellung gab es aber auch das Gewerbe der »Salpeterer«, die – oft im Auftrag der Obrigkeit – in Stallungen und Wohnungen der Untertanen nach Salpeter Ausschau hielten, der sich auf natürliche Weise vor allem an Wänden und unter Brettern gebildet hatte (sog. ›Mauersalpeter‹). Solche »Durchsuchungen« ganzer Häuser nach einem unscheinbaren Stoff führten aus Sicht der Untertanen dazu, daß die Salpeterer oft als ebenso unbeliebte wie ominöse Besucher angesehen wurden, die selbst vor Grundmauern und Gräbern keinen Halt machten.518 Überhaupt haftete eine Aura des Mysteriösen an dem ganzen Bereich der Pulverherstellung. In der Frühen Neuzeit war die Vorstellung weit verbreitet, daß »mit der unerklärlichen Treib- und Sprengkraft des Pulvers der Teufel zu tun haben müsse«.519 Vorwürfe der Hexerei blieben nicht aus. Bereits der Ausgangsstoff Salpeter war während der gesamten Frühen Neuzeit vom Nimbus des Mysteriösen umgeben. Zunächst einmal hatte dies mit der erwähnten Bedeutung des Salpeters in der zeitgenössischen Alchemie zu tun.520 Der Salpeter 516 Diesen Kontext umreißt anschaulich Jost Weyer, Graf Wolfgang II. von Hohenlohe und die Alchemie. Alchemistische Studien in Schloß Weikersheim 1587–1610, Sigmaringen 1992, v. a. S. 328–330. 517 Volker Schmidtchen, Bombarden, Befestigungen, Büchsenmeister. Von den ersten Mauerbrechern des Spätmittelalters zur Belagerungsartillerie der Renaissance. Eine Studie zur Entwicklung der Militärtechnik, Düsseldorf 1977, S. 162; Hall, Weapons and Warfare, S. 74; vgl. auch den Überblick bei De Vries, Weapons and Warfare Sites of Military Science, S. 310–312. 518 Thiele, Salpeterwirtschaft und Salpeterpolitik, S. 3, S. 199, 202. 519 Schmidtchen, Bombarden, S. 178; vgl. auch vgl. auch Dorothea Waley Singer, On a 16th Century Cartoon Concerning the Devilish Weapon of Gunpowder. Some Medieval Reactions to Guns and Gunpowder, in: Ambix 7 (1959), S. 25–33. 520 Allen G. Debus, Chemistry, Kap. 9, hier v. a. S. 46; Bruce T. Moran, Distilling Knowledge. Alchemy, Chemistry, and the Scientific Revolution, Cambridge/Mass. 2005, S. 38; Zbigniew Szydło, Water Which Does Not Wet Hands. The Alchemy of Michael Sendivogius, Warschau 1994. Explosives Wissen
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faszinierte zahlreiche Alchemisten wegen seiner verschiedenen Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten. Einige Alchemisten glaubten, bereits im hermetischen Schrifttum Hinweise auf die Bedeutung des Salpeters entdeckt zu habe.521 Namhafte Alchemisten vermuteten im Salpeter überdies einen Schlüssel zum Gelingen der Transmutation. Die Vorstellung vom mysteriösen ›natürlichen Wachstum‹ des Salpeters in der Natur sowie die geheimnisvolle Bedeutung dieser Substanz für die verheerende Wirkung des Schießpulvers trugen zun arkanen Nimbus des Salpeters bei.522 Die Bedeutung des Salpeters für die Alchemie ist daher nicht der einzige Grund, weshalb man den Bereich der Salpeterherstellung der Ökonomie des Geheimen zurechnen kann. Vielmehr muß berücksichtigt werden, daß auch die erwähnten militärischen Implikationen der Salpeterherstellung zu realer Geheimhaltung auf diesem Gebiet führten. Zahlreiche der einschlägigen frühneuzeitlichen Beschreibungen der Salpeterherstellung sind in der Tat auffallend vage.523 Bis ins 18. Jahrhundert hinein war die Rede von Geheimnissen in der Salpeterproduktion ebenso verbreitet wie die – obrigkeitliche – Sorge vor einem Verrat des entsprechenden know-hows; an manchen Orten führte dies sogar zur Vereidigung der Salpetersieder durch die Obrigkeit.524 Hier zeichnet sich also ein erster Berührungspunkt mit den Bedingungen jüdischer Existenz in der Frühen Neuzeit ab. Wir haben bereits gesehen: Juden spielten in der Ökonomie des Geheimen eine prominente Rolle – sowohl in der Realität wie auch in der Imagination. Es kann nicht verwundern, daß der religiösen Minderheit daher auch eine Kompetenz auf dem von einer arkanen Aura umgebenen Gebiet der Salpeter- und allgemein der Munitionsherstellung zugeschrieben wurde. Bezeichnend sind die emphatischen Empfehlungsschreiben, mit denen Kardinal Giulio de’ Medici im Jahr 1515 seinem Cousin Lorenzo de’ Medici von der Ankunft einer Gruppe von Juden berichtete, die eine Preisgabe verschiedener ›Geheimnisse‹ zur Salpeterherstellung angeboten hätten (»certi giudei maestri di salnitri, e’ quali hanno certi nuovi modi secreti, molto belli et varii«).525 Aufschlußreich ist auch der 521 Szydło, Water Which Does Not Wet Hands, S. xiv sowie ausführlich Kap. 6 und 7. Noch Johann Rudolph Glauber meinte (1604–1670), das hermetische Schrifttum enthalte eigentlich Ausführungen zum Salpeter. Siehe Debus, Chemistry, Kap. 9, S. 59. 522 William R. Newman, From Alchemy to »Chymistry«, in: Katharine Park/Lorraine Daston (Hg.), Early Modern Science (= The Cambridge History of Science, Bd. 3), Cambridge 2006, S. 497–517, hier S. 514. 523 Hall, Weapons and Warfare, S. 75. Dies gilt beispielsweise für Kyeser (ca. 1405), Biringuccio (1540), Agricola (1556) und Ercker (1574). 524 Thiele, Salpeterwirtschaft und Salpeterpolitik, S. 59–61, S. 108. 525 Das Schreiben vom 30. Juli 1515 sowie ein weiterer Empfehlungsbrief des Kardinals vom selben Tag sind abgedruckt bei Umberto Cassuto, Gli ebrei a Firenze nell’età del Rinascimento, Florenz 1918, Dok. 59; 60.
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Fall des Juden Moses Israel aus Thessaloniki, dessen Leben eines geheimnisvollen Charakters nicht entbehrt. Insgesamt dreimal (!) ließ der zwischen osmanischem Reich und Italien pendelnde Jude sich in den 1620er und 1630er Jahren taufen, bevor ihn die Inquisition in Venedig zu sieben Jahren Galeerenhaft verurteilte.526 Im vorliegenden Zusammenhang ist interessant, daß ihm bei seiner ersten Taufe im Gegenzug die Erlaubnis zur Herstellung von Schießpulver erteilt wurde – offenbar versprach man sich auf christlicher Seite für diesen Sektor konkreten Vorteil von einem Juden. Daß Juden zumindest in ihrer nichtjüdischen Umgebung noch bis ins 18. Jahrhundert eine Expertise auf diesem Gebiet zugetraut wurde, macht eine 1735 erstmals gedruckte, offenbar in Teilen weitaus ältere Schrift mit dem Titel Uraltes Chymisches Werck deutlich. Vom Herausgeber, einem gewissen Julius Gervasius, wurde das Werk als Produkt eines offenbar fiktiven Rabbiners namens Abraham Eleazar ausgegeben.527 Das Buch widmet sich ausführlich auch dem Salpeter und dessen Erhitzung – aus der wiederum Sauerstoff entsteht. Jüngst hat ein Wissenschaftshistoriker daher behauptet, »in Eleazar einen der frühen Entdecker des Sauerstoffs gefunden zu haben«.528 Unabhängig von solchen Behauptungen ist jedenfalls auffallend, daß ein Buch, in dem Experimente mit Salpeter eine derart wichtige Rolle spielen, noch im 18. Jahrhundert einem mutmaßlich fiktiven jüdischen Autor zugeschrieben wurde. Die skizzierte Assoziation der Salpeter- und Pulverindustrie mit der Ökonomie des Geheimen bildet den allgemeinen Hintergrund für die Annahme einer spezifischen Kompetenz von Juden auf dem hier untersuchten Gebiet. Darüber hinaus sind fünf Faktoren zu unterscheiden, die diese Annahme noch verstärkten. Erstens wurde, wie bereits erwähnt, den Juden oft ein Wissen um übernatürliche, zumal teuflische Dinge zugeschrieben. Dies leitet zum zweiten Punkt über, der ebenfalls um die Vorstellung von einer bereits ursprünglich auf jüdischer Seite vorhandenen Expertise kreist. Ausgangspunkt hierfür sind eine Reihe verschiedener Bibelverse. So heißt es bei Jeremia 2:22: »Und wenn du dich auch mit Lauge wüschest und nähmest viel Seife dazu, so bleibt doch der Schmutz deiner Schuld vor mir, spricht Gott der HERR.« Im Hebräischen steht für Lauge das Wort »Neter« (ʸʺʰ), das später von jüdischen wie christlichen Exegeten mit
526 Cecil Roth, Forced Baptisms in Italy, in: Ders., Gleanings. Essays in Jewish History, Letters and Art, New York 1967, S. 240–263, hier S. 243. 527 Patais Argumentation, wonach Abraham Eleazar tatsächlich ein Jude war, bleibt zweifelhaft. Siehe Patai, Jewish Alchemists, S. 238–257. 528 Hans-Werner Schütt, Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie, München 2000, S. 467. Explosives Wissen
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Salpeter in Verbindung gebracht wurde.529 Der christliche Naturforscher Johann Ludwig Hannemann, seines Zeichens Professor an der Holsteinischen Akademie in Kiel, sah im späten 17. Jahrhundert in der Bibel einen weiteren Beleg dafür, daß die Juden bereits in biblischer Zeit mit dem Salpeter und dem Schießpulver vertraut gewesen seien.530 Im 5. Buch Mose heißt es im 29. Kapitel, Vers 22: »All ihr Land hat er [der HERR] mit Schwefel und Salz verbrannt, dass es weder besät werden kann noch etwas wächst noch Kraut darin aufgeht, gleichwie Sodom und Gomorra, Adma und Zebojim zerstört sind, die der HERR in seinem Zorn und Grimm zerstört hat.« Deutungen wie diejenige Hannemanns wurden auch von jüdischer Seite vorgebracht. Die Vorstellung, daß das Volk Israel in biblischer Zeit auf ein hochentwickeltes militärisches Wissen sowie auf Feuerwaffen zurückgreifen konnte, war nicht zuletzt bei jüdischen Autoren beliebt.531 Binjamin Mussafia (1606–1675), ein sephardischer Arzt aus Hamburg und Leibarzt des dänischen Königs Christian IV., sah in den Juden der biblischen Zeit sogar die Erfinder des Schießpulvers.532 Der christliche Autor Johann Jacob Schudt ging ebenfalls davon aus, daß die Juden bereits zu biblischen Zeiten den Nutzen des Salpeters gekannt hätten, verzichtete aber nicht darauf, in diesem Zusammenhang auf den Topos vom foetor judaicus (den ›jüdischen Gestank‹) anzuspielen. Die Juden in biblischer Zeit mußten, so Schudt, »zu alten Zeiten […] mehr auff Reinlichkeit gesehen haben/dann sie sich mit Salpeter-Laugen/um allen Schmutz und Unrath auffs genaueste wegzunehmen/zu waschen pflegten/wie Jeremias zu erkennen gibt.«533 Schudt ging es hier nicht nur darum zu behaupten, die Juden hätten bereits zu biblischen Zeiten Salpeterlaugen für ihre Reinigungen benützt. Vielmehr verband er seine Beobachtungen zum Phänomen Salpeter mit der Absicht, den angeblichen »Juden-Gestanck« in der Neuzeit um so schärfer hervorzuheben. Dies war jedoch nicht die einzige Möglichkeit, den Vorwurf des foetor judaicus mit dem Phänomen Salpeter zusammenzubringen. Damit ist ein dritter Punkt angesprochen, der hier – aufgrund fehlender Vorstudien – nur zur Diskussion gestellt werden kann. Er bezieht sich auf die Assoziation der unangenehmen Gerüche, die in der Salpeterherstellung an der Tagesordnung waren, mit dem foetor judaicus. Es ist 529 Siehe zum Beispiel Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten, VI. Buch (Continuation), Kap. 20, S. 166. Vgl. auf jüdischer Seite David de Pomis, Tzemach David. Dittionario novo hebraico molto copioso, decciarato in tre lingue. Con bellissime annotationi, e con l’indice latine, e volgare, de tutti li suoi significati, Venedig: Gara 1587, S. 105–106. 530 So Schudt, der sich auf Hannemanns Ovum hermetico-paracelsico-trismegistum (1694) bezieht. Siehe Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten, hier Nr. 11 der Documenta und Schrifften, S. 335, 531 »La natione hebrea […] fù celebre appresso tutte le genti a lei coetanee in quanto al maneggio dell’Arme«, so Simone Luzzatto, Discorso circa il stato de gl’hebrei. Et in particolar dimoranti nell’inclita città di Venetia, Venedig: Calleoni 1638 [ND Bologna 1976], fol. 73v. Siehe auch Portaleone, Heldenschilde, Kap. 40–43. 532 Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten, hier Documenta und Schrifften, S. 335. 533 Ebd., VI. Buch (Continuation), Kap. 20, S. 166. Auch hier ist Jer 2:22 gemeint.
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bekannt, daß bei der Salpeterherstellung Fäkalien, Urin und Jauche verwendet wurden, was übrigens – mit Blick auf den Ammoniumgehalt – aus der Sicht der modernen Chemie Sinn ergibt.534 Die entsprechenden Gerüche waren freilich damals wie heute schwer zu ertragen. Es könnte dies ein Grund dafür sein, weshalb zur Demütigung der Juden beispielsweise im frühneuzeitlichen Prag ein großer »Salitterberg« in unmittelbarer Nähe zum jüdischen Wohnviertel angelegt wurde.535 Eine demütigende Absicht könnte auch die Antwort auf die bisher offene Frage sein, weshalb der Rat der Stadt Frankfurt im Jahr 1519 – unbeeindruckt von Protesten der Judenschaft – darauf insistierte, eine Pulvermühle ausgerechnet auf dem jüdischen Friedhof zu errichten (ein Vorhaben, das vermutlich auch die Salpetergewinnung vor Ort einschloss).536 Unabhängig von der Frage nach der Absicht finden sich jedenfalls Zeugnisse dafür, daß die Gerüche von Salpeterhaldenhalden mit dem angeblichen Gestank der Juden zusammengebracht wurden. Aufschlußreich ist hier ein Kupferstich aus dem Jahr 1750, der zeigt, wie der erwähnte Prager Salitterberg »geprendt ohne schaden und wie die Juden gelöscht«. Bezeichnenderweise ist auf der Darstellung ein Christ zu sehen, der hämisch zu einem Juden sagt: »Der berg stinckt als wie du von kerich, treck, und scherben so kumbt all unfladt zu, dir selbst deinem verderben, weill von falsch=heit betrug, du alles duest erwerben.«537 Der vierte Punkt knüpft an die These von den üblen Gerüchen an. Er betrifft die soziale Stellung der Salpetersiederei in der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Die Gewinnung von oder Suche nach Salpeter waren bei der Bevölkerung schlecht gelittene und oft physisch anspruchsvolle Tätigkeiten, die nicht zuletzt ein hohes Maß an Mobilität erforderten.538 Salpetersieder waren zudem in der Regel nicht zünftisch organisiert, sondern unterstanden vielerorts direkt den Landesherren, die vor allem im Laufe des 16. Jahrhunderts das Salpeterregal eingeführt und die Salpetergewinnung somit zu einem Hoheitsrecht gemacht hatten.539 Juden eröffnete sich hier also ein von Zunft- und sozialen Schranken relativ freies Betätigungsfeld, das beträchtliche ökonomische Chancen bot. Denn durch Salpetersieden ließ sich mit etwas Geschick viel Geld verdienen. Der italienische Bergbauspezialist und Metallurge Vannoccio Biringuccio (1480–1537) beispielsweise, der als Verfasser des einschlägigen Werkes De la pirotechnia (erstmals postum 1540, danach vier
534 Hall, Weapons and Warfare, S. 76. 535 Heinz Schreckenberg, Die Juden in der Kunst Europas. Ein historischer Bildatlas, Göttingen 1996, S. 335. 536 Regesten I (Andernacht), Dok. 4230 537 Schreckenberg, Juden in der Kunst Europas, S. 335 (mit Abbildung). 538 Webster, The Great Instauration, S. 377. 539 Thiele, Salpeterwirtschaft und Salpeterpolitik, Kap. 5 sowie v.a. S. 115, S. 198, S. 212. Explosives Wissen
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Auflagen im 16. Jahrhundert) Berühmtheit erlangen sollte, war durch ein Monopol in der Salpeterherstellung zu Reichtum gelangt.540 Schließlich ist ein fünfter und letzter Punkt zu nennen, um zu erklären, warum christliche Zeitgenossen die Salpeter- und Pulverherstellung Juden in besonderem Maße zutrauten. Es war dies die Annahme, daß die Juden den Christen im Grunde schlechterdings feindlich gesonnen seien: Denn der Vorwurf, die Juden hätten wichtige Militärtechnologie an das osmanische Reich geliefert, wurde im 16. Jahrhundert verschiedentlich erhoben, wie wir weiter oben bereits gezeigt haben.541 War bisher von Zuschreibungen und Mentalitäten die Rede, aufgrund derer Juden in Verbindung mit der Salpeterherstellung gebracht wurden oder werden konnten, so ist es nun notwendig, einen Blick darauf zu werfen, inwieweit es in der Realität auf diesem Gebiet tatsächlich ein spezifisches know-how auf jüdischer Seite gab. Diese Frage läßt sich nicht leicht beantworten, obgleich es zahlreiche Indizien dafür gibt, daß unter Juden das Wissen über die Herstellung von Salpeter verbreitet war. Dies gilt namentlich für Italien. Vor allem auf Sizilien hatten die Juden bis zu ihrer Vertreibung von der Insel im Jahre 1492 beim Handel und der Produktion von Salpeter offenbar eine Schlüsselstellung inne. Einige der jüdischen »Bombarden« und Ingenieure Siziliens, deren Kenntnisse in der Salpeter- und Pulverherstellung in den Quellen ausdrücklich hervorgehoben werden, sind weiter oben bereits erwähnt worden.542 Auch im Heiligen Römischen Reich sind vergleichbare Aktivitäten seit dem Spätmittelalter vereinzelt dokumentiert,543 wenngleich in den meisten Fällen – so auch für Osteuropa544 – die Quellen erst im 16. Jahrhundert gesprächiger werden.545 Im osmanischen Reich wiederum lassen sich um 1600 unter den insgesamt 54 Salpetersiedern des Sultans (kuherdjiledjyiân-i hâssa) immerhin drei Juden finden.546 Orientalische Juden waren es wiederum, die in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf Elba die Herstellung von Salpeter und Alaun
540 Moran, Distilling Knowledge, S. 39; zur Profitabilität der Salpeterindustrie vgl. auch De Vries, Sites of Military Science, S. 311. 541 Siehe dazu weiter oben das Kapitel zu Technologie. 542 Siehe dazu weiter oben das Kapitel zu Technologie. Zu Juden als Händler von Salpeter auf Sizilien siehe weiter unten. 543 Michael Toch, Economic Activities of German Jews in the Middle Ages, in: Ders. (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen, München 2008, S. 181–210, hier S. 208. 544 Siehe etwa zu jüdischen Pulverfabrikanten in Schlesien im späteren 16. Jahrhundert: Brann, Geschichte der Juden in Schlesien, S. 154. 545 Siehe zum Beispiel die aufschlussreiche Quelle zum jüdischen Pulvermacher Samuel von Wertheim (1588) bei Regesten I (Andernacht), Dok. 3031. 546 Gilles Veinstein, Note sur les transferts technologiques de séfarades dans l’empire ottoman, in: Roland Goetschel (Hg.), 1492. L’expulsion des juifs d’Espagne, Paris 1995, S. 83–92, hier S. 91.
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aufnahmen.547 Im Mittelmeerraum kursierten auch abseits der Höfe hebräische Anleitungen zur Salpeterherstellung.548 In den meisten Fällen aber dürfte dieses Wissen auf jüdischer Seite von der Mehrheitsgesellschaft übernommen worden sein oder sich jedenfalls davon nicht unterschieden haben. Es ist sehr fraglich, ob es tatsächlich ein griechischer Jude war, der – wie verschiedentlich behauptet worden ist – das Schießpulver im deutschsprachigen Raum eingeführt hat.549 Zwar ist schon aus der Zeit um 1500 eine Abhandlung in hebräischen Lettern zur Herstellung von Pulver überliefert, es handelt sich dabei jedoch um eine Abschrift des von einem christlichen Autor verfaßten sog. Feuerwerksbuch.550 Auch die relativ ausführliche Beschreibung des Salpeters, die der angesehene jüdische Arzt David de Pomis in seinem Lexikon Tzemach David (1587) gab, enthält nichts, was über das Wissen auf christlicher Seite hinausgeht.551 Eher von antiquarischem Interesse waren die Ausführungen des Mantuaner Arztes Abraham Portaleone, der in seinem enzyklopädischen Werk Shiltei ha-Gibborim (Die Heldenschilde) ein ganzes Kapitel den verschiedenen Arten von ›Salzen‹ und ihrer Verwendung seit biblischer Zeit widmete.552 Portaleone gibt dabei auch eine hebräische Anleitung zum Betreiben einer Salpetergrube.553 Ein halbes Jahrhundert später beschäftigte sich Spinoza ebenfalls intensiv mit Salpeter – jedoch vor allem als Reaktion auf die Experimente Boyles in England.554 Die Vorstellung von der spezifischen Kompetenz der Juden in der Salpeter- und Pulverherstellung war also überzogen, prägte aber die christliche Sicht auf diesen Wirtschaftszweig in beträchtlichem Maße. Dahinter läßt sich auch ein psychologisches Muster vermuten. Indem man den Juden eine spezifische, gar übernatürliche Expertise auf diesem Gebiet zuschrieb, ließen sich die geheimnisvollen, in den 547 Frattarelli Fischer, Vivere fuori dal Ghetto, S. 157. 548 Vgl. das Rezept des Kabbalisten Chayyim Vital in einem unveröffentlicht gebliebenen Manuskript (nach 1610). Siehe dazu Bos, Hayyim Vital’s »Practical Kabbalah and Alchemy«, S. 106. 549 Diese These stützt sich auf eine Augsburger Quelle aus dem Jahre 1353. Vgl. Samuel Krauss, Wer hat das Schießpulver nach Deutschland gebracht?, in: Neue jüdische Monatshefte 3 (1919), S. 250–253, hier S. 252; Moses Ginsburger, Les juifs et l’art militaire au moyen-âge, in: Révue des études juives 88 (1929), S. 156–166, hier S. 159. 550 Ginsburger, Les juifs et l’art militaire, S. 157; zum Feuerwerksbuch im allgemeinen vgl. auch Pamela O. Long, Openness, Secrecy, Authorship. Technical Arts and the Culture of Knowledge from Antiquity to the Renaissance, Baltimore 2001, S. 117–120. 551 De Pomis, Tzemach David, S. 105–106. 552 Portaleone, Heldenschilde, Bd. 2, Kap. 76. 553 Ebd., S. 661–662. 554 Vgl. Spinozas Briefe an Heinrich Oldenburg, den Sekretär der Royal Society in London, in: Baruch de Spinoza, Briefwechsel (= Sämtliche Werke, Bd. 6), hg. von Carl Gebhardt und Manfred Walther, zweite, ergänzte Aufl., Hamburg 1977, hier Nr. 6 (1662) und Nr. 13 (1663). Explosives Wissen
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Augen mancher Zeitgenossen sogar teuflischen Eigenschaften des Schießpulvers besser erklären. Diese These erhärtet sich, wenn man berücksichtigt, daß auch die in der Frühen Neuzeit weitverbreitete Legende von der Erfindung des Schießpulvers durch den Mönch Berthold Schwarz (Bertholdus niger) dieselbe Funktion erfüllte. Unabhängig von der Frage, ob es sich bei Schwarz um eine historische Persönlichkeit handelt (was umstritten ist), begegnet jedenfalls die Legende vom Mönch, der das Pulver in die Welt gebracht habe, im Zeitalter der Reformation nicht zuletzt im antiklerikal-protestantischen Schrifttum und eignete sich somit, um gegen das angebliche Zauberwesen in der katholischen Kirche zu polemisieren.555 Was die Juden betrifft, war ihr Wissen um die Herstellung von Salpeter in der Realität zwar gewiß größer als das der meisten Mönche. Dennoch gibt es objektiv gesehen wenig Grund zu der pauschalen Annahme, Juden seien auf dem Gebiet der Salpeterproduktion in technischer Hinsicht überdurchschnittlich fähig oder kompetent gewesen. Eher schon trifft dies auf den Handel mit der begehrten Ressource zu. Hier konnten jüdische Händler in der Tat von oft weitverzweigten Netzen und der Kenntnis mehrerer Sprachen profitieren. Beispiele für den Handel von Juden mit Salpeter und Pulver lassen sich aus dem ganzen europäischen Raum beibringen – und mitunter sogar darüber hinaus. So lieferte der portugiesische Jude Benjamin Cohen in den 1630er Jahren Schießpulver an die Führer (Scheichs) religiöser Bruderschaften im Gebiet des heutigen Marokko.556 Bereits um die Mitte des 15. Jahrhunderts erteilte der osmanische Sultan einem Juden den Autrag, Salpeter für die Pulverproduktion zu liefern.557 Die Schlüsselstellung von Juden im Salpeterhandel auf Sizilien im 15. Jahrhunderts ist bereits erwähnt worden.558 Ein sizilianischer Jude namens Iuda Faccas lieferte 1492 Salpeter für die Verteidigung Maltas gegen die Türken.559 Vergleichbare Quellen lassen sich auch für das Heilige Römische Reich bereits im 15. Jahrhundert finden. So befahl Kaiser Friedrich III. im Jahr 1486 den Juden im Reich, »in unserm swerem krieg wieder den Kuenig 555 Waley Singer, On a 16th Century Cartoon. 556 Mercedes García-Arenal/Gerard Wiegers, A Man of Three Worlds. Samuel Pallache, a Moroccan Jew in Catholic and Protestant Europe, Baltimore etc. 2003, S. 38. 557 Gilles Veinstein, Une communauté ottomane. Les juifs d’Avlonya (Valona) dans la deuxième moitié du XVIe siècle, in: Gaetano Cozzi (Hrsg.), Gli ebrei a Venezia (secoli XIV–XVIII), Mailand 1987, S. 781–828, hier S. 797, hier S. 797. 558 The Jews in Sicily, 9 Bde., bearb. von Shlomo Simonsohn, Leiden 1997–2006, z. B. Bd. 6, Dok. 3691 (Lieferung für den Vizekönig, 1466); Dok. 3708 (dito); Dok. 3839 (Ein Jude lädt 22 Fässer Salpeter auf Schiffe, Palermo 1469); Dok. 3906;. Bd. 8, Dok. 5306 (Ein Jude erhält 1490 die Erlaubnis im gesamten Königreich Sizilien nach Salpetervorkommen zu suchen); Dok. 5394 (Zwei Juden laden 1491 im Hafen von Palermo Salpeter zum Export auf venezianische Schiffe); Bd. 9. S. 5874–5875 (notariell abgewickelter Salpeterverkauf an eine christliche Privatperson, Palermo 1416); S. 5896 (Palermo 1444). 559 Ebd., Bd. 8, Dok. 5552,
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von Hungerrn« 400 Zentner Pulver zu liefern.560 Hinweise auf solche Lieferungen durch Juden, vor allem auf landesherrlicher Ebene, nehmen im 16. Jahrhundert noch zu.561 Die Reichsstadt Frankfurt wiederum kaufte bereits um die Mitte des 15. und auch im 16. Jahrhundert bei Juden Salpeter (über dessen Qualität sich der Rat übrigens ausdrücklich zufrieden zeigte).562 Es gab zudem auch innerjüdisch einen gewissen, wenngleich wohl nicht sehr großen Bedarf an Schießpulver. Im östlichen Polen war es unter Juden schon aus Furcht vor Pogromen üblich, daß in jedem Haushalt so viele Büchsen wie männliche Bewohner sowie ausreichend Pulver vorhanden sein sollten.563 Versuche, den Handel von Juden mit Salpeter und Pulver einzuschränken oder zu verbieten, finden sich zwar im deutschsprachigen Raum durchaus,564 führten aber kaum zu dem gewünschten Ergebnis – eher im Gegenteil. Das Pulvergeschäft sollte vielmehr zu einem Kerngeschäft der sog. Hofjuden werden. Wir haben weiter oben bereits gesehen, daß die Ausbildung stehender Heere ebenso wie der Dreißigjährige Krieg für diese Entwicklung eine wichtige Rolle spielten.565 Besonders steil verlief die Karriere des kaiserlichen Kriegsfaktors Samuel Oppenheimer (1630–1703), dessen Reputation nicht zuletzt darauf beruhte, daß er für die österreichische Armee große Mengen an Pulver aus Holland und Salpeter aus Böhmen beschaffte.566 Auch in protestantischen Gebieten bediente sich die Obrigkeit immer wieder der Hofjuden, um die Ausrüstung des Heeres zu organisieren und die 560 Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der Juden in Regensburg 1453–1738, bearb. von Raphael Straus, München 1960, Dok. 556. 561 Vgl. für Hessen z. B. Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Marburg, bearb. von Uta Löwenstein, 3 Bde, Wiesbaden 1989, hier Bd. 3, Dok. 3365; für Niedersachsen siehe Rotraud Ries, Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert, Hannover 1994, S. 405, S. 419. 562 Regesten I (Andernacht), Dok. 925; Dok. 3031. 563 David Biale, Power and Powerlessness in Jewish History, New York 1986, S. 74. 564 Zu nennen ist hier vor allem das Patent Kaiser Karls VI. vom 17. März 1727 (»Verschleiß des Pulvers und Salniters alla minuta allein denen befugten christlichen Handelsleuten« erlaubt, »folglich [sind] alle Juden hiervon gänzlich nicht allein unter der Contrabandirung, sondern auch nach Befund der Umstände unter Leib- und Lebensstraf« ausgeschlossen). Diese Verordnung wurde 1742 bekräftigt. Siehe Urkunden und Akten zur Geschichte der Juden in Wien, 2 Bde., hg. von Alfred F. Pribram, Wien 1918, hier Bd. 1, S. 320. Siehe auch ein Patent von 1807, wonach den Juden keine Erlaubnisscheine zur Erzeugung von Pulver und Salniter von dem K. K. Feldund Artillerie-Haupt-Zeugamte ausgefertigt werden dürfen. Ebd., Bd. 2, S. 134. Siehe auch ein Hofkammerdekret vom 12. Dezember 1832, in dem den Juden der Handel mit Salpeter aus der Lombardei verboten wird. Ebd., Bd. 2, S. 458. 565 Vgl. weiter oben das Kapitel zu Technologie. 566 Selma Stern, Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert, aus dem Englischen übertragen, kommentiert und hg. von Marina Sassenberg, Tübingen 2001 [11950], S. 18–29; Simon Schwarzfuchs, Les Juifs de Cour, in: Shmuel Explosives Wissen
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Belieferung mit Pulver zu gewährleisten.567 Namentlich Joseph Süß Oppenheimer (»Jud Süß«), der vermutlich berühmteste Hofjude des 18. Jahrhunderts, erwarb sich durch seine Expertise bei der Reform der Salpeter- und Pulverproduktion hohes Ansehen bei seinem Dienstherrn, dem württembergischen Herzog Karl Alexander. Süß erbot sich dabei auch, den Salpeter selbst zu produzieren. Die Reformvorschläge wurden teilweise realisiert.568 Es stellt sich – auch angesichts des in diesem Abschnitt angeführten Materials – die Frage, ob es im jüdischen Pulverhandel Kontinuitäten gab, die vor das 17. Jahrhunderts zurückreichen. Die durch den Dreißigjährigen Krieg bedingten strukturellen und politischen Umbrüche markieren zwar entscheidende Weichenstellungen für das Aufkommen jüdischer Heereslieferanten und speziell Pulverhändler, dieser Befund darf aber nicht übersehen lassen, daß es bereits seit dem späteren Mittelalter Vorläufertendenzen gibt. Eine dieser Vorgeschichten – hier aus dem 16. Jahrhundert – ist der Fall Colorni, zu dem es nun wieder zurückzukehren gilt. Im Frühjahr 1593 ist der erste Versuch Colornis nachweisbar, in großem Stil in Prag in die Salpeterproduktion einzusteigen.569 Die Initiative ging von Colorni aus und war nicht ohne unternehmerisches Risiko. Böhmen galt bereits damals als ein Zentrum der Salpeter- und Pulverproduktion, und das dort hergestellte Schießpulver genoß über das Reich hinaus einen guten Ruf.570 Colorni war also nicht ohne Konkurrenz, zumal in den Kreisen der Prager Alchemisten. Konkret bat Colorni die kaiserlichen Behörden um die Ausstellung eines Privilegs für von ihm entwickelte Methoden der Salpeter- und Pulverherstellung.571 Die mit der Prüfung des Vorschlags des »Wellischen Juden« beauftragten Hofbeamten
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Trigano (Hg.), La société juive à travers l’histoire, 4 Bde., Paris 1993, hier Bd. 3, S. 383–405, hier v. a. S. 390; Jonathan I. Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism 1550–1750, Oxford 1985, S. 124–126. Siehe auch Israel, European Jewry, S. 126–128. Selma Stern, Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und zur jüdischen Geschichte, München 1929 [ND München 1973], S. 52–56; Hellmut G. Haasis, Joseph Süß Oppenheimer, genannt Jud Süß. Finanzier, Freidenker, Justizopfer, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 153–154. Siehe auch die bei Stern abgedruckt Eingabe Oppenheimers an den Herzog [1734] in Sachen Salpeter- und Pulverwesen, Anhang Dok. 20. ÖStA, HKA, HFÖ Bd. 467-E, fol. 99r; Bd. 469-R, fol. 118r, fol. 130v. Vgl. auch ein Schreiben Colornis aus Prag an Vincenzo I. Gonzaga vom 12. Juli 1593. Darin erwähnt Colorni einige ›Geschäfte‹, die der Kaiser ihm auf dem Gebiet der Munitionsbeschaffung aufgetragen habe (»alcuni negotij, che per bisogno della monitione [il Imperatore] mi comandò«). ASMn, AG, b. 467, fol. 415r (= J-1891, S. 38). Im Vergleich zur Pulverproduktion in Straßburg, Nürnberg und Schweden galt: »[L]a polvere di Boemia è piu lustra e piu netta«, so Tommaso Contarini, Relazione di Germania [1596], in: Relazioni di ambasciatori veneti al senato, hg. von Luigi Firpo, Bd. 3, S. 212. ÖStA, HKA, HFÖ Bd. 469-R, fol. 161v. Ein jüdischer professore de’ secreti
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äußerten sich jedoch skeptisch.572 Der Kaiser beließ es somit dabei, den jüdischen Geheimniskundigen mit einem Geldbetrag zu honorieren.573 Colorni gab jedoch nicht nach und warb weiterhin beim Kaiser um Aufträge zur Pulverherstellung.574 Colornis Projekte existierten nicht nur auf dem Papier. Spätestens seit 1594 betrieb er in Prag in der Tat eine Salpeterhütte.575 Mittlerweile war der ›Lange Türkenkrieg‹ ins zweite Jahr gegangen, und der Pulverbedarf des Kaisers wuchs kontinuierlich.576 Aus dem osmanischen Reich trafen glaubhafte Meldungen über eine gewaltige Aufrüstung des türkischen Heeres ein. Der Kaiser mußte für den Sommer 1594 einen Reichstag ausschreiben, der die finanzielle und militärische Unterstützung seitens der Reichsfürsten gewährleisten sollte.577 Die kaiserlichen Behörden erließen ihrerseits Maßnahmen, um die Salpeterproduktion in Böhmen zu steigern.578 In dieser Situation wandte sich nun der Kaiser höchstselbst vom Reichstag in Regensburg aus an den jüdischen Alchemisten und forderte ihn auf, bald eine Probe seines Könnens vorzulegen.579 Im Gegenzug ordnete Rudolf an, daß Colorni mit dem»darzue bedürfftigen verlag« versehen werden solle.580 Im September 1594 konnte Colorni bereits zwei Zentner Salpeter aus eigener Produktion vorweisen, jedoch stellte die Qualität die kaiserlichen Beamten
572 ÖStA, HKA, HFÖ Bd. 467-E, fol. 99r; Bd. 469-R, fol. 161v. 573 Die Hofzahlamtsbücher erwähnen ein »gnaden gelt« in Höhe von 350 Talern. ÖStA, HKA, HFÖ, HZAB Bd. 44, fol. 452v. Dieses Gnadengeld liegt – zum Vergleich – über dem Betrag, den der Kaiser einige Jahre zuvor (1588) als Gratifikation an den Philosophen Giordano Bruno auszahlen ließ (300 Taler). Vgl. zu Brunos Aufenthalt am Prager Hof: Evans, Rudolf II and his World, S. 229–230. 574 ÖStA, HKA, HFÖ Bd. 475-E, fol. 19v. 575 Isaac Pfendler an die Hofkammer, 31.August 1594. ÖStA, HKA, HFÖ Rote Nr. 64. 576 »Es hat auch der Zeugwart vermelt, weil jezt die nott vorhanden und man des Salitters bedürfftig sei«, so Isaac Pfendler an die Hofkammer, 3. September 1594. ÖStA, HKA, HFÖ Rote Nr. 64. 577 Johannes Müller, Die Verdienste Zacharias Geizkoflers um die Beschaffung der Geldmittel für den Türkenkrieg Kaiser Rudolfs II., in: Mittheilungen des Instituts für Oesterreichische Geschichtsforschung 21 (1900), S. 251–304, v. a. S. 257. 578 Für manche Tage sind sogar mehr als eine Weisung bezüglich der Salpeterbeschaffung nachweisbar. So wurde beispielsweise am 16. August sowohl eine Anordnung »zu erkauffung des in Prag unndt den Stetten in Behaimb verhandenen salitters« erlassen als auch eine separate Instruktion an Isaac Pfendler zur »Erkauffung und Einlösung des Salitters«. Vgl. ÖStA, HKA, HFÖ Gedenkbücher [böhmische Reihe] Bd. 324. fol. 208v–209v. 579 Rudolf II. an die böhmische Kammer, 6. Juli 1594. ÖStA, HKA, HFÖ Gedenkbücher [böhmische Reihe] Bd. 324. fol. 184v–185r. Abgedruckt bei Gottlieb Bondy/Franz Dworsky, Zur Geschichte der Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien von 906 bis 1620, 2 Bde., Prag 1906, hier Bd. 2, Dok. 901. Darüber hinaus enthält das Werk von Bondy/Dworsky keine weiteren Quellen zu Colorni. 580 ÖStA, HKA, HFÖ Bd. 479-R, fol. 184r. Explosives Wissen
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noch nicht zufrieden.581 An der Quantität konnte dieses kritische Urteil in der Tat kaum liegen. Denn Colorni fuhr mit der Produktion fort, und auf höchster Ebene trafen schon kurz darauf Meldungen ein, »das der Judt ain guetten vorrath von Salitter hab«.582 Im Juristen Bartholomäus Petz, der am Reichshofrat amtierte, hatte Colorni offenbar einen Fürsprecher. Petz war in den 1580er Jahren Gesandtschaftssekretär in Konstantinopel und später kaiserlicher Orator im osmanischen Reich gewesen. Dieser weitgereiste kaiserliche Vertraute zeigte sich für die Unternehmungen Colornis relativ offen. Hingegen herrschte auf seiten der unteren kaiserlichen Beamten und im Umkreis des Zeugwarts wohl eine gewisse Abneigung gegen den »Salitter Judt«.583 In diesen Kreisen wurde Colorni nicht zuletzt übelgenommen, daß er den hergestellten Salpeter notfalls auf dem freien Markt verkaufen wollte. Colorni beharrte auch in Kriegszeiten auf dieser Möglichkeit, zumal er sich offenbar durch Anfangsinvestionen finanziell verschuldet hatte.584 »Truzig ist er jezt genug«, notierte ein kaiserlicher Beamter nach einem Gespräch mit Colorni, das im März 1595 mit einem Eklat geendet hatte.585 Schließlich schaltete sich der Kaiser ein und entschied zugunsten des ›welschen Juden‹. Zwar wurde es Colorni untersagt, seinen Salpeter außer Landes zu verkaufen; er sollte den begehrten Rohstoff aber künftig »auff der Camer Verlag machen und sein ordentlich privilegium drüber haben«.586 Die Kunde von der positiven Entwicklung bei der Salpeterherstellung Colornis in Prag gelangte rasch nach Italien. Bereits im Mai 1595 meldete ein herzoglicher Sekretär nach Mantua, daß Colorni auf dem Gebiet der Salpeterherstellung am Kaiserhof sehr geschätzt werde.587 Colorni selbst wußte um die Gunst der Stunde. Zwar hatte er in Prag erreicht, was er wollte, aber eben diese positive Entwicklung eröffnete ihrerseits weitere Möglichkeiten. Bereits seit längerem trug er sich mit dem Gedanken, wieder nach Italien und somit auch zu seiner Familie zurückzukehren. Das Salpeter- und Pulvergeschäft bot ihm nun ein Sprungbrett, denn 581 »Der Judt Abrahamb Colorni hat auch bei zwen Centner Salitter gemacht, Ich hab in gesehn Er gefelt mir aber sovil ich mich drauf verstehe nit sonders wol, dan er gar praun […] und schwarz welches anzaige gibt, dz er viel laug bei sich habe«, so Isaac Pfendler an die Hofkammer, 3. September 1594 ÖStA, HKA, HFÖ Rote Nr. 64. 582 ÖStA, HKA, HFÖ Bd. 484-E, fol. 28r. 583 Vgl. auch das Schreiben Colornis an Vincenzo I. Gonzaga vom 12. Juli 1593 (J-1891, S. 38). 584 Isaac Pfendler an die Hofkammer, 17. März 1595 [Vermerk]. ÖStA, HKA, HFÖ Rote Nr. 65. 585 Isaac Pfendler an die Hofkammer, 17. März 1595. ÖStA, HKA, HFÖ Rote Nr. 65. 586 Isaac Pfendler an die Hofkammer, 17. März 1595 [Vermerk]. ÖStA, HKA, HFÖ Rote Nr. 65. Das Privileg ist für mich nicht auffindbar. Ergebnislos blieb auch die Suche in HHStA, Reichshofrat, Gratialia und Feudalia. 587 »[N]on le taccio ch’egli qui è tenuto che vaglia qualche cosa, massime in suggetto de’ salnitri«, so Guido Avellani an den herzoglichen Rat Tullio Petrozzani, 9. Mai 1595. ASMn, AG, b. 469, fol. 155r–v (nur teilweise bei Gonzaga/Prag, Dok. 490).
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sowohl der Herzog von Mantua wie auch der Herzog von Ferrara spielten mit dem Gedanken, auf militärischem Gebiet in der ersten Reihe der europäischen Mächte zu agieren. Bezeichnenderweise waren Vincenzo I. Gonzaga und Alfonso II. d’Este auch die einzigen Fürsten Italiens, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kaiserlichen Bitten um militärische Unterstützung gegen die Türken entsprochen hatten. Vincenzo stellte sich in diesen Jahren sogar dreimal an die Spitze militärischer Kampagnen gegen die Türken (1595, 1597 und 1600). Es ist also kein Zufall, daß Colorni Grund dazu hatte, die Herzöge von Mantua und Ferrara für sein Verfahren zu interessieren, indem er beispielsweise von Prag aus Proben seines Salpeters nach Italien schickte.588 Ein ›Durchbruch‹ gelang Colorni schließlich am Hof der Este. Um 1597 handelte er – offenbar während eines Aufenthalts in Italien – mit dem herzoglichen Munitionsamt (Ducale Munitione) ein Privileg aus, das ihm mehr oder weniger eine Hegemoniestellung im Salpetergeschäft im Herzogtum Ferrara versprach.589 Da es sich hierbei um ein bisher gänzlich unbekanntes Kapitel in der Biographie Colornis handelt, ist ein genauerer Blick auf die einzelnen Vertragspunkte angebracht. Die herzogliche Munitione verpflichtete sich, dem jüdischen Experten vollausgestattete Produktionsgebäude in den drei Zentren des Herzogtums einzurichten (Ferrara, Modena, Reggio). Darüber hinaus sollte das Amt zunächst die laufenden Kosten übernehmen, darunter für den Sold der Mitarbeiter und für die Beschaffung von Brennholz. Colorni und seinen Mitarbeitern wurde die uneingeschränkte Erlaubnis erteilt, an allen öffentlichen und privaten Orten des Territoriums nach Vorkommen von (Mauer-)Salpeter zu suchen und diese ›abzubauen‹.590 Die bisherigen Salpeterer und Pulverhersteller waren angehalten, mit Colorni zusammenzuarbeiten.591 Verstöße gegen diese Anordnung sollten mit Geldstrafen geahndet werden. Im Gegenzug verpflichte sich Colorni jede Woche 400 Pfund Salpeter an die Munitione zu liefern.592 An auswärtige oder private Abnehmer sollte der jüdische Unternehmer lediglich mit ausdrücklicher Genehmigung der Obrigkeit 588 Guido Avellani an Tullio Petrozzani, 9. Mai 1595. ASMn, AG, b. 469, fol. 155r–v. 589 Capitoli convenuti fra la Ducal[e] Munitione et M. Abraham Colorni intorno al far salnitri, et fabbricar polve[re] di arcobugio nello stato di S. Altezza Serenissima. Undatierte und unpaginierte Abschrift [1597?], ASMo, ASE, Ingegneri, b. 2 (dort auch frühere Entwürfe). 590 Ebd.: »Che sia concesso al detto M. Abraham assoluta podestà ò a suoi agenti di poter ad ogni suo piacere mandar per tutto lo stato nei luoghi tanto pubblici, come particolari à spazzare il salnitro nei muri et scorticare e cavare ancora la terra atta produrne senza però danneggiar ne gli edifici ne i padroni.« 591 Ebd.: »Che tutti quei che havran[no] ad isercitar l’arte de’ salnitri ò della Polve[re] siano obbligati ad accordarsi con M. Abraham il quale sia però tenuto à dar prima parte di cotal accomodamento a chi sarà diputato sovraintendente alle munitioni [sic] acciò non vegna fatto aggravio ad alcuno«. 592 Ebd.: »Che il medesimo M. Abraham sia tenuto di consignar ogni settimana a chi sarà diputato dalla Munitione lire quattrocento di salnitro della sudetta qualità, et bontà.« Explosives Wissen
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seinen Salpeter und sein Pulver verkaufen dürfen. Diese Einschränkung sollte wohl durch die Anschubfinanzierung ebenso kompensiert werden wie durch das weiterhin an Colorni ausbezahlte Gehalt am Hof. Inwieweit das hier skizzierte Privileg tatsächlich Früchte trug, läßt sich nicht mehr beantworten. Jedenfalls machten schon bald die Zeitläufte dem Vorhaben endgültig einen Strich durch die Rechnung. Denn mit dem Tod Alfonsos II. im Jahr 1597 stürzte das Herzogtum in eine tiefe Krise, die schließlich 1598 im Heimfall Ferraras an den Papst mündete. Unter päpstlicher Herrschaft war freilich die nahezu monopolistische Stellung eines Juden auf einem so sensiblen ökonomischen Gebiet wie der Salpeterherstellung schwer vorstellbar. Spätestens an diesem Punkt stellt sich nun die Frage, was es mit dem von Colorni produzierten Salpeter eigentlich auf sich hatte. Bisher nicht beachtete Aktenstücke aus den Staatsarchiven in Modena und Ferrara erlauben es, ein sehr viel präziseres Bild als bisher von Colornis Aktivitäten in der Salpeter- und Pulverproduktion zu zeichnen. Vor allem läßt sich nun aufgrund einer bisher unbekannten Notariatsakte nachweisen, daß Colorni erste Schritte auf diesem Gebiet bereits in den 1580er Jahren in Ferrara unternommen hatte und dafür reiche jüdische Zeitgenossen als Investoren gewinnen konnte.593 Im Februar 1585 schlossen demnach Colorni und ein Jude namens Consiglio Carmi aus Brescello vor einem christlichen Notar in Ferrara einen Vertrag über eine Partnerschaft im Salpeter- und Pulvergeschäft ab.594 Konkret ging es um die Herstellung von Pulver für Arkebusen und Artilleriegeschütze.595 Die Aufgaben waren dabei eindeutig verteilt. Colorni sollte das technische know-how beisteuern, Consiglio Carmi und dessen Vater hingegen vornehmlich das notwendige Geld. Diese Finanzmittel benötigte Colorni – wie aus dem Vertrag hervorgeht – vor allem für die Erlangung von Privilegien, Vertragsabschlüsse und Reisekosten. Die Vereinbarung sah vor, daß Colorni drei Viertel, seine Investoren jedoch nur ein Viertel des Gewinns aus dem Geschäft erhalten sollten. Diese ungleiche Gewinnbeteiligung hing wohl mit den unterschiedlichen Risiken für die jeweiligen Geschäftspartner zusammen. Denn es war allein Colorni, der ausdrücklich als Erfinder bezeichnet wurde und dessen 593 ASFe, Archivio Notarile Antico, Notaio Antonio Colorni, matr. 715, p. 39s (schede 1585). 594 Als Notar agiert hier ein gewisser Antonio Colorni. Die Namensgleichheit von Notar und Klient ist offenbar ein Zufall. Jedenfalls handelte sich bei Antonio Colorni nicht um einen (getauften) Verwandten Abramo Colornis. Vielmehr war der Notar ein Mitglied der adligen und katholischen Ferrareser Familie Colorni, deren Vorfahren – wie diejenigen Abramos – früher in dem kleinen Ort Colorno gelebt hatten. Zur Unterscheidung dieser Familien siehe V. Colorni, Genealogia della famiglia Colorni, S. 639. 595 »[…] conventionem et societatem in negocio salnitri et pulveris vulgariter nuncupatum da arcobugio et da artiglieria.« ASFe, Archivio Notarile Antico, Notaio Antonio Colorni, matr. 715, p. 39s (schede 1585).
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Name auch gegenüber der Obrigkeit mit den Geschäften in Verbindung gebracht werden sollte. Die Familie Carmi hingegen hielt sich als gewissermaßen stiller Teilhaber weitgehend im Hintergrund. Die genauen Details der Vereinbarung zwischen Colorni und der Familie Carmi regelte ein Dokument in hebräischer Sprache, das bedauerlicherweise nicht erhalten ist. Zumindest erfahren wir, daß diese hebräische Vereinbarung im Beisein zweier Zeugen und des Rabbiners Abraham Basola geschlossen wurde.596 Wer waren Consiglio und Rafael Carmi, die jüdischen Geschäftspartner und Investoren Colornis? Die Antwort auf diese Frage deutet darauf hin, daß Colornis ›explosive‹ Projekte von der technischen Seite her auf einer soliden Basis ruhten. Denn es war Colorni immerhin gelungen, mit der Familie Carmi eine ebenso angesehene wie finanzstarke aschkenasische Familie für eine Beteiligung an seinen Unternehmungen zu gewinnen.597 Saul Rafael Carmi – dessen Sohn damals vor dem Notar in Ferrara auch im Namen des Vaters die erwähnten Unterschriften leistete – war einer der führenden Geldverleiher der Lombardei. Er hatte eine Tochter der berühmten venezianischen Bankiersfamilie Del Banco geheiratet. Darüber hinaus genoß Saul Rafael auch einen Ruf als Gelehrter und politischer Vertreter der lombardischen Judenschaft. Die Familie Carmi unterhielt Kontakte zu führenden damaligen Rabbinern – darunter Leon Modena und Menachem Azaria da Fano. Letzterer war übrigens Testamentsvollstrecker, nachdem Saul Rafael 1591 in Reggio starb. Der Verstorbene erhielt sogar den Ehrentitel eines Gaon. Sein Sohn Consiglio (Yekutiel) wurde später in der spanischen Lombardei zu einem der vier offiziellen Vertreter der Judenschaft, die mit der Obrigkeit angesichts der drohenden Vertreibung verhandelten. Es ist nicht auszuschließen, daß es verwandtschaftliche Beziehungen zwischen der weitverzweigten Familie Colorni aus Mantua und den Carmi in der Lombardei gab. In den 1570er Jahren ist jedenfalls in der teilweise erhaltenen Privatkorrespondenz der Familie Carmi von einem ›Bräutigam aus Colorno‹ (ʥʰʸʥʬʥʷʮ ʯʺʧʤ) die Rede.598 Die Angabe ›aus Colorno‹ spricht keineswegs dagegen, daß es sich um ein Mitglied der Mantuaner Familie Colorni handelte. Vielmehr gab es damals eine Reihe von Variationen bei der Schreibung des Nachnamens, zu denen in der italienischen Schriftform auch die Einschübe »de« und »da« zählten.599 Noch 596 Der Rabbiner Abraham Basola (Lebensdaten unbekannt) fehlt in der EJ. Hingegen erwähnt ihn die Jewish Encyclopedia (1901–1906) kurz und gibt seinen Wirkungsort mit Cremona an. Siehe Vittore Castiglione/David von Günzburg, Lemma Basilea, Bd. 2, S. 576–578, hier S. 576. 597 Alle Angaben zur Familie Carmi nach Elliott Horowitz, I Carmi di Cremona. Una famiglia di banchieri ashkenaziti nella prima età moderna, in: Zakhor 3 (1999), S. 155–170. 598 Iggerot Beit Carmi, Cremona 1570–1577 (hebr.: Briefe der Familie Carmi, Cremona 1570–1577), hg. von Yacov Boksenboim, Tel Aviv 1983, Dok. 53. 599 Vgl. V. Colorni, Genealogia della famiglia Colorni, S. 639, Anm. 3. Explosives Wissen
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Abramo Colorni – der hier allerdings nicht als Bräutigam in Frage kommt – unterschrieb in den 1570er Jahren mit »Abram da Colorni [sic]« (obwohl er längst keine Verbindung mehr zu dieser kleinen Stadt seiner Vorfahren hatte).600 Die einflußreiche Familie Carmi als Investoren zu gewinnen, war also sehr vorteilhaft für Colorni. Umgekehrt verdeutlicht die Bereitschaft der Familie Carmi, daß es – wie bereits weiter oben ausgeführt – zwischen dem (jüdischen) Wirtschaftsleben und der Ökonomie der Geheimen immer wieder Austauschprozesse gab. Denn die Familie Carmi wußte fraglos, daß sie in ein von Geheimhaltung geprägtes Geschäft investierte. Colorni selbst hatte nie einen Zweifel daran gelassen, daß es sich bei seiner Expertise in Sachen Salpeter und Pulver um ein Wissen von Geheimnissen handelte. Colorni pflegte nicht zuletzt gegebenüber Höfen, von seinen Ideen zur Salpeterherstellung als »secreti« zu sprechen.601 Daher ist es auch für den Historiker nicht immer einfach zu rekonstruieren, was sich in technischer Hinsicht eigentlich hinter Colornis explosivem Geheimwissen verbarg. Auf welche Weise Colorni 1585 das Pulver herzustellen gedachte, läßt sich beispielsweise aus der erwähnten Notariatsakte nicht entnehmen. Lediglich eine undatierte Anleitung Colornis zur Herstellung von Schießpulver, die sich im Hausarchiv der Este erhalten hat, gibt nähere Auskunft.602 Diese Anleitung unterscheidet sich allerdings kaum von bewährten zeitgenössischen Rezepten. So lagen auch dem von Colorni produzierten Pulver die drei herkömmlichen Ausgangsmaterialen Kohle, Schwefel und Salpeter (»salpetro raffinato«) zugrunde. Für »polvere d’artigleria« verwendete er ein Mischungsverhältnis von jeweils 1 Anteil Kohle und Schwefel sowie 4 Anteilen Salpeter. Bei der Herstellung von Schießpulver für Arkebusen erhöhte er den Salpeteranteil auf 6 bis 7 Anteile (wobei Kohle und Schwefel, wie gehabt, jeweils 1 Anteil stellten). Er begründete dies damit, daß das Schießpulver in diesem Fall ›kraftvoller‹ sein müsse (»[la polvere] d’arcobuso vol essere più gagliarda«). Aus dieser Anleitung geht also deutlich hervor, daß auch für Colorni Salpeter das wichtigste Ausgangsmaterial für die Pulverproduktion war. Dies führt unweigerlich zu der Frage zurück, auf welche Weise Colorni die von ihm benötigten, beträchtlichen Mengen an Salpeter gewann. Als Colorni in den späten 1590er Jahren im Herzogtum Ferrara kurzzeitig zum führenden, staatlich bestellten Salpeterherstellung aufsteigen sollte, beruhten seine Salpeterprojekte jedenfalls auf 600 Vgl. ein Schreiben Colornis an Francesco Gonzaga, o. O. u. D. [vor dem 9. Oktober 1572], ASF, Mediceo del Principato, 580, fol. 80r–v. 601 Siehe die Provisioni et ordini da osservarsi nel negotio de salnitri et Polvere per poterlo condurre con gl’utili et vantaggi trovatj per Abram Colorni hebreo mantovano [1597?]. ASMo, ASE, Ingegneri, b. 2. Siehe auch Colornis undatiertes Secreto particolare für Friedrich I. von Württemberg [ca. 1597], HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 11. 602 Es handelt sich um ein undatiertes Dokument mit der Bezeichnung Scrittura di messer Abram (J-1891, S. 50–53).
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zwei Säulen. Zunächst einmal vertraute Colorni – wie erwähnt – auf die bewährte Methode, Vorkommen von sog. Mauersalpeter aufzufinden. Jedoch wußte er um die Schwierigkeiten dieses Verfahrens. Denn die ›Salpeterer‹ waren oft auf Hinweise der Bevölkerung angewiesen. Allerdings waren sie bei den Untertanen generell unbeliebt, da sie auf der Suche nach Salpeter ganze Häuser gewissermaßen auf den Kopf stellten. Mit Kooperation im großen Stil konnte Colorni also nicht rechnen, zumal als Jude. Es ist bezeichnend (wenngleich für frühneuzeitliche Erfinder nicht ganz ungewöhnlich), daß Colorni und seinen Mitarbeitern sogar ausdrücklich die Erlaubnis erteilt wurde, Defensiv- und Offensivwaffen bei sich zu führen.603 Vielleicht aus dieser Erfahrung heraus hatte sich Colorni, wie bereits angedeutet, eine zweite Säule im Salpetergeschäft aufgebaut, indem er mit der Herstellung von Kunstsalpeter experimentierte und wohl auch eigene Salpeterhalden betrieb. Es ist gut möglich, daß Colorni in der Prager Zeit an know-how in der Salpeterproduktion dazugewann. Denn Böhmen war nicht nur ein bei der Salpeter- und Pulverherstellung führendes Territorium. Am Prager Hof bot sich für Colorni auch die Möglichkeit, Einblicke in die kaiserlichen Laboratorien und somit in die dort namentlich von Alchemisten durchgeführten Experimente zur Gewinnung von Salpeter zu erhalten. In der älteren Forschung ist behauptet worden, Colorni habe sich in Prag mit der Theorie der (chemisch vollkommen unmöglichen) Herstellung von Salpeter aus Luft beschäftigt.604 Für diese These sind jedoch bisher keine Nachweise erbracht worden. Ein genauerer Blick auf die Materie ist also nötig. Die Lehre vom »Luftsalpeter« ging auf Paracelsus zurück und wurde zu Colornis Lebzeiten insbesondere von dem polnischen Zeitgenossen Michael Sendivogius (1566–1636) und seinen Anhängern vertreten.605 Colorni hat sich wohlgemerkt ausweislich der bisher bekannten Quellen weder in Prag noch in Stuttgart erboten, lediglich aus Luft Salpeter herzustellen. Vielmehr warb Colorni damit, aus jeglicher Erde Salpeter herzustellen. So stellte er in Aussicht, »aus der Erden, die darvor schon einmal gebraucht worden, wie auch der jenigen, so under dem freyen Himmel steht, und jederzeit beregnet würde, guten salpeter [zu] sieden«.606 Die 603 »Che possa […] portar in tutti i luoghi dello stato ogni sorte d’armi, tanto da diffesa quanto da offesa, etiam gli archibugi di misura [,] permettendosi la medesima licenza a gli officiali principiali del negotio.« Siehe Capitoli convenuti fra la Ducal[e] Munitione et M. Abraham Colorni […], ASMo, ASE, Ingegneri, b. 2. 604 Hubicki, Rudolf II. und die Alchimisten, S. 299. Hubicki kennt den jüdischen Alchemisten unter dem verzerrten Namen »Calorni« und erwähnt ihn lediglich am Rande. 605 Debus, Chemistry, Kap. 9. (»The Paracelsian Aerial Niter«); Szydło, Water Which Does Not Wet Hands; ders., The Alchemy of Michael Sendivogius; Paulo Alves Porto, Michael Sendivogius on Nitre and the Preparation of the Philosopher’s Stone, in: Ambix 48 (2001), S. 1–16. 606 Friedrich I. von Württemberg an den Kammerrat Rößlin, 22. August 1598. HStAS, A 56 Bü 3, Fasz. 12. Siehe auch Colornis undatiertes Secreto particolare für Friedrich I. von Württemberg [ca. 1597]: »Modo di fabricare salnitro in gran quantità e con brevità di tempo e con vantaggio di Explosives Wissen
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Rede vom »Beregnen« allerdings ergab im Zusammenhang mit herkömmlichen Verfahren zur Salpeterherstellung wenig Sinn607 und könnte zumindest ein Hinweis auf subtile Einflüsse von Sendivogius’ Theorie des Luftsalpeters sein. Denn der polnische Alchemist hielt es für erwiesen, daß unsichtbarer ›Luftsalpeter‹ über den Regen in die Erde gelange, wo er zum Wachstum von natürlichem Salpeter führe.608 Ein solcher Einfluß ist auch deshalb plausibel, weil Sendivogius’ Lebensweg in der Tat Berührungspunkte mit Colornis Biographie aufweist. So war der polnische Alchemist seit 1593 ebenfalls am Hofe Rudolfs II. angestellt, nach 1600 gelangte er dann – wie Colorni bereits kurz zuvor – an den württembergischen Hof. Unabhängig von der Frage, inwieweit der jüdische Salpeterhersteller von Sendivogius beeinflußt wurde, bleibt jedenfalls festzustellen, daß Colornis Ansinnen durchaus alchemische Züge aufwies. Die Vorstellung, daß Erde das Potential habe, mehrfach Salpeter zu erzeugen, war bereits von Paracelsus entscheidend geprägt und seitdem in der alchemischen Literatur popularisiert worden. Bis weit ins 17. Jahrhundert erfreute sich diese Theorie vielerorts in Europa beträchtlicher Beliebtheit. So verfaßte im Reich beispielsweise der angesehene Bergbauexperte Lazarus Ercker (1528–1594) im späteren 16. Jahrhundert entsprechende Anleitungen. In England wiederum wurden solche Vorstellungen intensiv im Kreis um den Naturforscher und Reformer Samuel Hartlib (1600–1662) diskutiert und regten möglicherweise das Interesse des jungen Robert Boyle (1627–1691) an der experimentellen Chemie an.609 In der Tat berichtete Boyle später explizit, wenngleich kritisch von solchen Theorien. In seinem berühmten The Sceptical Chymist schreibt er: »[It] [s]eems evident from that notable practice of the boylers of salt-petre, who unanimously observe […] that if an earth pregnant with nitre be deprived, by the affusion of water, of all its true and dissoluble salt, yet the earth will after some years yeeld them again […] Though I deny that some volatile nitre may by such earths be attracted (as they speak) out of air.«610 Colorni war also keineswegs der einzige Zeitgenosse, der ernsthafte Versuche unternahm, aus herkömmlicher Erde mehrfach Salpeter zu gewinnen. Ob ihn Rückschläge bei seinen Experimenten entmutigt haben, ist durchaus fraglich. Für den jüdischen Alchemisten gilt mit aller Wahrscheinlichkeit, was auch auf seine christlichen Kollegen zutrifft: Sie teilten in der Regel die Ansicht, daß ein experimentum kein Mittel sein könne, irgend etwas prinzipiell zu entkräften. Schei-
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qual si voglia terra, in tutti i luoghi o coperto o vero discoperto […] e questo senza incommodar i popoli e senza guastimento degli alloggiamenti.« Vgl. Thiele, Salpeterwirtschaft und Salpeterpolitik, S. 15. Diese Theorie ist besonders konzis beschrieben bei William R. Newman, Gehennical Fire. The Lives of George Starkey, an American Alchemist in the Scientific Revolution, Cambridge/Mass. 1994, S. 87–89. Webster, The Great Instauration, S. 377–380; Porto, Michael Sendivogius on Nitre, v. a. S. 11, S. 15. Zitiert nach Porto, Michael Sendivogius on Nitre, S. 16. Ein jüdischer professore de’ secreti
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terte ein experimentum, mußten entweder die Versuchsanordnungen fehlerhaft gewesen oder die zentralen Schriften falsch interpretiert worden sein.611 Das rege Interesse an der Herstellung von sog. »Erdsalpeter« hielt daher übrigens auch noch lange nach Colornis Zeiten am kaiserlichen sowie am württembergischen Hof (und nicht nur dort) an. Und wenngleich kein Durchbruch erzielt wurde, wird der Vorstellung vom ›Erdsalpeter‹ heute doch eine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung zugesprochen. Diese Theorie gilt manchen heutigen Historikern als »wichtiger Schritt auf dem Weg zur Entdeckung des Sauerstoffes«.612 Kehren wir abschließend noch einmal zurück zu der Frage, wie Colornis Unternehmungen in der Salpeterindustrie insgesamt einzuschätzen sind. Eine zusammenfassende Antwort muß hierbei verschiedene Punkte berücksichtigen. Zunächst gilt es zu erwähnen, daß sich Colornis Beschäftigung mit der Herstellung von Salpeter und Pulver über einen Zeitpunkt von fast zwei Jahrzehnten erstreckte. Es lassen sich eine Reihe von Belege dafür finden, daß Colorni in Prag ebenso wie bereits in Ferrara tatsächlich nennenswerte Mengen an Salpeter selbst hergestellt hat (wenngleich wohl auf herkömmliche Weise, also durch das Abtragen von Mauersalpeter und das Betreiben von Salpeterhalden). Es war also durchaus nicht aus der Luft gegriffen, wenn Colorni zwei Jahre vor seinem Tod davon sprach, daß er seine Expertise auf dem Gebiet der Salpeterherstellung einer jahrelangen Beschäftigung mit der Materie verdanke (»studio di molti Annj«).613 Zweitens muß erwähnt werden, daß Colorni bereits zu einem frühen Zeitpunkt Mitglieder der damaligen ökonomischen Elite des Judentums – wie die Familie Carmi – von seinen Salpeter- und Pulverprojekten überzeugen und für eine finanzielle Beteiligung gewinnen konnte. Drittens schließlich ist aufschlußreich, daß in der Familie Colorni mit Abramos Tod die Unternehmungen auf diesem Gebiet keineswegs ein Ende fanden. Schon wenige Monate nach dem Tod Abramos wandte sich der Sohn Simone (Samuel) Colorni an den Herzog von Mantua und knüpfte nahtlos an die Projekte des Vaters an. Wieder ging es um »salnitri et polvere«.614 Explizit verwies der Sohn dabei auf die ›neuen Erfindungen‹ (»nuovi Inventionij«) seines Vaters auf diesem Gebiet und erwähnte nicht zuletzt dessen Fähigkeit, in kurzer Zeit große Mengen an Salpeter herzustellen. Dem Sohn schwebte dabei offenbar ebenfalls ein Verfahren vor, das zumindest teilweise auf herkömmlichen Methoden beruhte, darunter das Betreiben von Salpeterhalden und das Auffinden von Mauersalpeter. Dafür benötigte Simone Colorni jedoch eine Reihe von Mitarbeitern 611 Hans-Werner Schütt, Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie, München 2000, S. 474. 612 So zum Beispiel Hans-Georg Hofacker, …’sonderliche hohe Künste und vortreffliche Geheimnis’. Alchemie am Hof Herzog Friedrichs I. von Württemberg 1593–1608, Stuttgart 1993, S. 34. 613 Provisioni et ordini da osservarsi nel negotio de salnitri et Polvere […], ASMo, ASE, Ingegneri, b. 2. 614 Samuel [Simone] Colorni an Vincenzo I. Gonzaga, 28. Januar 1600. ASMn, AG, b. 2680. Explosives Wissen
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und ein offizielles obrigkeitliches Privileg. Ein Entwurf für eines solches Mandat muß seiner Eingabe bereits beigelegen haben, ist jedoch offenbar nicht enthalten. Unabhängig von der Frage, ob es dem Sohn gelang, in der Salpeterherstellung langfristig Fuß zu fassen, blieb die Erinnerung an Abramo Colornis Unternehmungen und Experimente auf diesem Gebiet in Mantua offenbar lebendig. Es ist jedenfalls auffallend, daß der in Mantua ansässige jüdische Arzt Abraham Portaleone in seinen 1612 auf hebräisch verfaßten Heldenschilden – einem enzyklopädischen, naturwissenschaftlich geprägten Werk – nicht weniger als drei ausführliche Kapitel der Salpeterherstellung widmete. Dort schreibt Portaleone: »Nun, das künstliche Salz, das aus der Erde gewonnen wird, wird in der Fremdsprache salmistro genannt, und daraus wird das Pulver hergestellt, mit welchem die Krieger ihre Wurfmaschinen füllen, nämlich die archibugi oder moschettoni oder artigleria, wenn sie mit diesen auf die Feinde schießen […].«615 Die anschließende akribische Beschreibung, die Portaleone von der Herstellung des ›künstlichen Salzes‹ und vom Betrieb einer Salpetergrube gibt, könnten ein Indiz dafür sein, daß der Autor mit seinem gleichfalls aus Mantua stammenden Zeitgenossen Abramo Colorni und dessen ebenfalls in der Salpeterherstellung tätigen Sohn Simone diese Materie diskutiert hatte.616 Auch für die Kapitel über Rüstungs- und Artillerietechnik könnte Portaleone sich auf die Expertise der Familie Colorni gestützt haben.617 Der studierte Arzt deutet in der Tat vage an, er habe für seine Ausführungen auch Werke herangezogen, »die von Hand zu Hand unter allen denen, die sich für diese Wissenschaft interessieren, verbreitet werden«.618 Eine Bekanntschaft zwischen Portaleone und Abramo Colorni ist allemal plausibel. So dürfte Colorni selbst hinter den Kulissen an einer fürstlichen Einladung beteiligt gewesen sein, die den Arzt Portaleone in den späten 1590er Jahren aus Deutschland erreichen sollte.619 Doch zunächst war es Colorni selbst, den eine gewichtige Einladung ereilte.
Projekte, Proteste und ein Hasardstück Die Jahre am Kaiserhof bildeten für Colorni einen Höhepunkt seiner Karriere. Kaum ein Jude war dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches damals so nahe. Colorni kannte einflußreiche Köpfe am rudolfinischen Hof, bewohnte ein eigenes Haus und erhielt vom Hof Bedienstete zugewiesen. Auch war es ihm nach einigen 615 Portaleone, Heldenschilde, Kap. 76, S. 658. 616 Portaleone erwähnt in seinen Heldenschilden Colorni jedoch nicht namentlich. 617 Portaleone, Heldenschilde, v. a. Kap. 42, S. 378 (»Herstellungsverfahren des Pulvers für die großen Wurfmaschinen«). 618 Ebd., Kap. 43, S. 404. 619 Siehe dazu weiter unten.
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Rückschlägen gelungen, in Prag sein erstes Buch drucken zu lassen sowie in der Salpeterherstellung Fuß zu fassen. Dennoch zog es Colorni auf Dauer nach Italien zurück. Immerhin war seine Familie über all die Jahre hinweg in Mantua geblieben. Zwar läßt sich anhand der erhaltenen Briefe nachweisen, daß Colorni in Prag zumindest von seinem Sohn Simone gelegentlich Besuch erhielt. Doch gab es immer wieder auch familiäre Anlässe, die eine Anwesenheit des Familienvaters in Mantua eigentlich notwendig gemacht hätten, darunter beispielsweise die Verheiratung der Tochter.620 Wie sehr Colorni damals an einer solchen Beurlaubung lag, zeigt sich schon daran, daß er in seiner Scotographia eine entsprechende Bitte explizit in die Widmung an den Kaiser einflocht.621 Ob Intrigen am Kaiserhof ihn in dieser Haltung bestärkten, ist zwar vermutet, aber nicht restlos erwiesen worden.622 Ab der Mitte der 1590er Jahre wurde die Frage der Rückkehr nach Italien für Colorni jedenfalls immer drängender. Zwei wichtige Gründe waren nun hinzugekommen. Zunächst einmal war Colornis Vorhaben gescheitert, von Prag aus eine Art Gesamtausgabe seiner Werke drucken zu lassen. Colorni hatte im Vorfeld beträchtliche Anstrengungen unternommen, um in verschiedenen Territorien Italiens Privilegien für eine solche Gesamtausgabe zu erhalten.623 Diese Korrespondenz zumindest ließ sich vom kaiserlichen Hof aus führen. Doch bei der Umsetzung des Vorhabens zeichneten sich schon bald die ersten Probleme ab. Zwar erfahren wir, daß 1592 in Prag der Druck von Colornis Scotographia und seiner (heute verschollenen) Arithmetica begonnen wurde.624 Letzteres Werk aber ist im Unterschied zur Scotographia schließlich doch nicht im Druck erschienen. Dasselbe gilt für die Chirofisionomia, die Colorni ebenfalls in der Stadt an der Moldau herauszubringen gedachte.625 Ursprünglich hing die Entscheidung für den Druckort Prag wohl auch mit der bereits erwähnten Tatsache zusammen, 620 Colorni an Vincenzo I. Gonzaga, 12. Juli 1593 (J-1981, S. 37–38). 621 »[…] darmi grata licenza, accio ch’io poßi [sic] andare à rivedere le cose mie famigliari, per le quali, sono tuttavia in grauj pensieri«, so Colorni in der Scotographia, Widmungsschreiben an den Kaiser, o. S. 622 Vgl. die Vermutungen von Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 187. 623 Mantua: Colorni an Guidobuon de Guidoboni, 10. November 1592 (J-1891, S. 35); Venedig: HHStA, Staatenabteilung, Italien, Venedig, Dispacci di Germania, Bd. 19, fol 316r–321r [1592]; sowie Giovanni Dolfin an den Dogen, 10. Dezember 1591 (J-1891, S. 33); Florenz: ASF, Pratica segreta, filza 73, fol. 155r–v; sowie filza 189, fol. 189r–v [1592]; sowie Auditore delle riformagioni, filza 18, fol. 953r–954r. 624 »Il libro della Scotographia, et di Arithmetica si stampano al presente qui in praga«, heißt es in einer Notiz [Colornis?] o. O. u. D. [1592], ASF, Auditore delle riformagioni, filza 18, fol. 954r. 625 Werke mit diesem Titel sind jedenfalls – selbst bei der Annahme, daß sie anonym erschienen sind – für mich nicht nachweisbar, weder in den maßgeblichen online-Katalogen im Internet noch in einschlägigen gedruckten Bibliographien. Projekte, Proteste und ein Hasardstück
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daß ein Werk wie die Chirofisionomia in Italien kaum Gnade vor den Augen der Inquisition und der Zensur gefunden hätte.626 Davon abgesehen, war Prag offenkundig nicht ein idealer Ort (und auch nicht der geeigneteste Markt), um Werke in italienischer Sprache zu drucken, zumal es sich bei den Schriften Colornis auch in typographischer Hinsicht um eine Herausforderung handelte. Bereits die Veröffentlichung der Scotographia mit ihrem aufwendigen Tafelanhang hatte hohe Anforderungen an den Drucker Johann Schumann (Jan Šuman) und seine Gehilfen gestellt. Fehler blieben nicht aus.627 Entsprechend ernüchtert war Colorni, der sich bezeichnenderweise in einem Nachtrag über die schlechten Bedingungen in Prag für den Druck von Abhandlungen in italienischer Sprache beklagte.628 In der böhmischen Hauptstadt gab es nur wenige Druckereien, die Bücher auf italienisch veröffentlichten. Eine dieser Ausnahmen war in der Tat die Offizin des aus dem deutschsprachigen Raum eingewanderten Hans Schumann. Dieser jedoch starb bereits 1594 – also ein Jahr nach der Veröffentlichung der Scotographia.629 Mit dem Tod Schumanns dürften für Colorni die Chancen auf den Druck zweier weiterer Bücher in Prag endgültig in weite Ferne gerückt sein. Denn in der Druckerei, die zunächst von der Witwe weitergeführt wurde, kam es offenbar zu wirtschaftlich angespannten Jahren.630 Es erwies sich somit als umsichtig, daß Colorni von Anfang an zumindest seine Schriften mit einem Schwerpunkt zur Ingenieurskunst – also die Euthimetria sowie eine heute verschollene Abhandlung über verschiedene ›Instrumente‹ – in Venedig drucken lassen wollte. Die Lagunenstadt mit ihren ausgezeichneten Druckereien war fraglos der geeignetere Ort für die Publikation solcher Werke, die präzise graphische Darstellungen enthalten und zudem ausdrücklich auf lateinisch ebenso wie auf italienisch erscheinen sollten. Doch auch in diesem Fall hatte die Sache einen Haken: Denn den Druck zweier solcher Bände von Prag aus zu überwachen, erwies sich wohl langfristig als zu schwierig und zu teuer. Das Projekt blieb daher
626 Die Vermutung, daß man ein Werk wie die Chirofisionomia nur in »questa libertà di spirito et di stampe di Germania« drucken könne, äußerte 1595 der Bischof Ferdinando Davila in einem Schreiben an Vincenzo I. Gonzaga, 1. Dezember 1595. ASMn, AG, b. 1527, fol. 482r–484v. Zu dieser Frage siehe ausführlich auch weiter oben das Kapitel zur Chirofisionomia. 627 Vgl. die Errataliste Colornis (Scotographia, o. S.). Siehe auch die handschriftlichen Verbesserungen von unbekannter Hand im Exemplar der HAB Wolfenbüttel. Es könnte sich in letzterem Fall um die autographen Verbesserungen des Gustavus Selenus (d. h. des Herzogs August zu Braunschweig-Lüneburg) handeln. 628 Der Leser müsse »scusare il luogo, & gl’operanti, che sono totalmente inesperti della lingua Italiana«, so Colorni, Scotographia, fol. 16v. 629 Zur Geschichte dieser Druckerei siehe jetzt Večeřová, Šumanská tiskárna. Die Autorin erwähnt den Druck der Scotographia auf S. 131–134. 630 Ebd., S. 256.
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am Ende ebenfalls unrealisiert.631 Spätestens jetzt mußte Colorni realisieren, daß es ohne eine gänzliche Rückkehr nach Italien für ihn immer schwieriger wurde, sein Gesamtwerk jemals zum Druck zu bringen. Der gewichtigste Grund für die angestrebte Rückkehr nach Italien dürfte aber die sich abzeichnende politische Krise im Herzogtum Ferrara gewesen sein. Offiziell war Colorni nach wie vor ein Untertan Alfonsos II. d’Este und somit ein Mitglied des Hofes von Ferrara. Schon durch seine engen Kontakte zu den italienischen Botschaftern am Kaiserhof war Colorni jedoch zweifellos über den sich abzeichnenden Heimfall Ferraras an den Papst im Bilde. Daß Alfonso II. kinder- und somit erbenlos bleiben würde, wurde in den 1590er Jahren immer wahrscheinlicher. Es war also letztlich nur eine Frage der Zeit, bis der Tod des Herzogs in Ferrara den Weg für den Anspruch des Papstes frei machen würde. Colorni ahnte wohl, daß sich ihm angesichts solcher Aussichten in Ferrara langfristig keine Perspektive bot. Wenn er seine Kontakte nach Italien erhalten und zu einem späteren Zeitpunkt in die Heimat zurückkehren wollte, mußte er rasch handeln.632 In der Tat fällt spätestens seit Mitte der 1590er Jahre in seinen Briefen aus Prag auf, daß er sich zunehmend um Aufträge der Republik Venedig sowie vor allem des Hofes in Mantua bemühte. Colorni verschwieg bald kaum mehr seinen Wunsch, offiziell in die Dienste der Gonzaga einzutreten und in absehbarer Zeit an den Lebensort seiner Familie zurückzukehren. Bei den Gonzaga stießen diese Gedankenspiele Colornis auf Interesse. Dies galt namentlich für Herzog Vincenzo I. selbst, einen der schillerndsten Fürsten des späten 16. Jahrhunderts.633 Fast 800 Höflinge umgaben den Herzog im labyrinthischen Mantuaner Herzogspalast.634 Vincenzo war von maßlosem Luxusbedürfnis und politischem Ehrgeiz geprägt.635 Nicht zuletzt war der kunstsinnige Herzog auch ein passionierter Alchemist, der in den unterirdischen Gewölben des etwas
631 Auch hier wurden online-Kataloge und einschlägige gedruckte Bibliographien vergeblich herangezogen. 632 Colorni an Aderbale Manerbio, 8. Februar 1598. ASMn, AG, b. 475, hier fol. 436r. 633 Zum Mantuaner Hof im 16. Jahrhundert siehe jetzt v. a. Raffaella Morselli (Hg.), Gonzaga. La celeste galeria. (Bd. 1: L’esercizio del collezionismo; Bd. 2: Le raccolte), Mailand 2002. Siehe auch die vorzügliche mehrbändige Auswahledition der auswärtigen Korrespondenz des Mantuaner Hofes (Reihentitel: Le collezioni Gonzaga). Weiterführende Literatur wurde zudem bereits weiter oben genannt. 634 Vgl. die Berechnungen von Cattini/Romani, Le corti parallele, S. 70. Siehe jetzt auch Guido Rebecchini, Private collectors in Mantua 1500–1630, Rom 2002, S. 39. 635 Bellonci, Segreti dei Gonzaga; speziell zum Luxusbedürfnis Vincenzos vgl. jetzt auch Roberta Piccinelli, Le facies del collezionismo artistico di Vincenzo Gonzaga, in: Raffaella Morselli (Hg.), Gonzaga. La celeste galeria, Mailand 2002, Bd. 1, S. 341–348. Projekte, Proteste und ein Hasardstück
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außerhalb der Stadt gelegenen Palazzo Te etliche Laboratorien einrichten ließ.636 Noch lange nach seinem Tod verblaßte die Erinnerung an den in vielerlei (auch sexueller) Hinsicht ausschweifenden Herrscher nicht. Noch die Figur des maßlosen Herzogs in Giuseppe Verdis in Mantua spielender Oper Rigoletto (1851) trägt Züge Vincenzos. Wir haben weiter oben bereits gesehen, daß derselbe Vincenzo Gonzaga, der wenig Skrupel hatte, die jüdische Gemeinde in Mantua verschiedentlich durch Schauhinrichtungen einzuschüchtern, privat immer wieder mit Juden verkehrte – sei es zu Geschäften oder im Rahmen der Theateraufführungen am Hofe. 1594 soll der Herzog sogar im Hause des jüdischen Tänzers und Sängers Isacchino Massarano zu Gast gewesen sein.637 Colorni seinerseits war bereits in den 1580ern in die Gesellschaft des Herzogs nach Marmirolo geladen worden. War es damals noch die Chiromantie, über die Vincenzo vom jüdischen Höfling mehr erfahren wollte, so schob sich in den 1590er Jahren das militärtechnische Wissen Colornis in den Vordergrund. Insbesondere hatte der Herzog, dessen Schwäche für militärische Abenteuer bekannt war, ein beträchtliches Interesse an der Gewinnung von Salpeter und der Herstellung von Pulver. Immerhin war Vincenzo der einzige italienische Fürst, der in diesen Jahren der kaiserlichen Aufforderung entsprach, gegen die Türken ins Feld zu ziehen – und dies sogar gleich dreimal (1595, 1597 und 1600).638 Eine Anstellung Colornis, der den Gonzaga bereits in jungen Jahren gute Dienste geleistet hatte, versprach in den Augen Vincenzos also eine willkommene Verstärkung für den Hof.639 Gleichwohl galt es, den Wechsel Colornis nach Mantua diplomatisch einzufädeln. Zwischen den Häusern Este und Gonzaga herrschten – obgleich Heiratsverbindungen bestanden – immer wieder Rivalitäten.640 Diplomatische Formfragen waren allerdings nicht der einzige Grund, weshalb nach Colornis Abreise aus Prag (1597) noch knapp zwei Jahre vergehen sollten, bis der jüdische professore de’ secreti wieder in seine Heimatstadt Mantua
636 Daniela Ferrari, La cancelleria gonzaghesca tra Cinque e Seicento. Carriere e strategie parentali dei duchi, in: Raffaella Morselli (Hg.), in: Gonzaga. La celeste galeria, Mailand 2002, Bd. 1, S. 297–318, hier S. 310. 637 Harrán, Salamone Rossi, S. 30–31. 638 Zu Vincenzos militärischem Ehrgeiz und seinen Türkenfeldzügen im gesamteuropäischen Kontext vgl. Niederkorn, Die europäischen Mächte und der »Lange Türkenkrieg«, S. 425–435. 639 Zum illustren Kreis der am Gonzaga-Hof beschäftigten Ingenieure vgl. Paolo Carpeggiani, Ingegneri a Mantova tra XVI et XVII secolo, in: Alessandra Fiocca (Hg.), Giambattista Aleotti e gli ingegneri del Rinascimento, Florenz 1998, S. 269–292; sowie Antonio Bertolotti, Architetti, ingegneri e matematici in relazione coi Gonzaga signori di Mantova nei secoli XV, XVI e XVII, Genua 1885 [ND Bologna 1975]. 640 Bellonci, Segreti dei Gonzaga, S. 125. Vgl. auch Francesco Contarini, Relazione di Mantova [1588], in: Relazioni degli ambasciatori veneti al senato, hg. von Arnaldo Segarizzi, Bd. 1, S. 84.
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zurückkehren und als Mitglied des Hofes firmieren sollte.641 Diese zwei Jahre, die zu den heikelsten seines Lebens werden sollten, verbrachte Colorni in Stuttgart. Wie war es zu Colornis Übersiedlung nach Württemberg gekommen? Mittlerweile sind bisher unbekannte Quellen zu Colornis Berufung nach Stuttgart aufgetaucht, aber die Rekonstruktion der Hintergründe ist dadurch keineswegs einfacher geworden – eher im Gegenteil. Beginnen wir bei den Fakten: Erwiesen ist, daß im Dezember 1596 ein Schreiben des württembergischen Herzogs Friedrich I. am Prager Kaiserhof eintraf. Darin bat der Herzog den Kaiser, Colorni für sechs Wochen auszuleihen.642 Wenig später wandte sich der Herzog dann direkt an »den großen Juden Künstler von Ferrara«.643 Zuvor war in Ferrara das Plazet von Alfonso II. d’Este eingeholt worden644 – gerade noch rechtzeitig, da bereits wenig später auch der siebenbürgische Fürst Sigismund Báthory (1572–1613), der kurz zuvor am Prager Kaiserhof geweilt hatte und dort möglicherweise den italienischen Juden kennengelernt hatte, um Colorni bitten sollte.645 Der genaue Hintergrund der Einladung nach Württemberg wirft freilich Rätsel auf. Colorni jedenfalls erhob in diesem Zusammenhang später schwere Vorwürfe gegen einen Juden namens Rosso.646 Besagter Rosso habe beim Herzog von Württemberg Hoffnungen auf die Möglichkeit einer Berufung Colornis geschürt und sodann in fürstlichem Auftrag in Ferrara die Freigabe Colornis unter Angabe falscher Informationen erreicht. Den Lohn für die Vermittlung habe sich der arglistige Jude holen wollen, indem er Colorni zu erpressen versuchte, sämtliche in Stuttgart erzielte Einnahmen mit ihm zu teilen. Da Colorni solche Geschäfte verweigerte, habe der böswillige Jude (»l’astuto e malvaggio hebreo«) begonnen, Unwahrheiten über Colorni zu verbreiten, um dessen Reputation zu schaden. Da 641 »[S]ervitore ordinario stipendiato da S. A.«, heißt es über Colorni in einem Schreiben von Eleonora Gonzaga an Cesare d’Este, 6. Juli 1599 (J-1891, S. 57). 642 Friedrich I. von Württemberg an Ks. Rudolf II. [Konzept], 22. Dezember 1596. HStAS, A 47 Bü 3 Fasz. 11. 643 Friedrich I. von Württemberg an Ks. Rudolf II. [Konzept], 22. Dezember 1596. HStAS, A 47 Bü 3 Fasz. 11. 644 Friedrich I. von Württemberg an Alfonso II. d’Este, 30. Januar 1597, ASMo, ASE, Carteggio principi esteri, Württemberg, b. 1604/30. Friedrich wandte sich am selben Tag in dieser Angelegenheit auch an Vincenzo Gonzaga. In dem Schreiben nach Mantua wird Colorni ebenfalls als »Medico e philosopho clarissimo« bezeichnet. ASMn, AG, b. 517. 645 Marco Antonio Ricci an Alfonso II. d’Este, 7. Juli 1597 (J-1891, S. 39–40); Sigismund Báthory an Alfonso II. d’Este (ebd., S. 40). 646 Colorni an Aderbale Manerbio, 8. Februar 1598. ASMn, AG, b. 475, fol. 436r–438r; außerdem v. a. Colorni an Aderbale Manerbio, 5. Mai 1598. ASMn, AG, b. 475, fol. 527r–534r. Auf den letztgenannten Brief beziehe ich mich im weiteren. Der jüdische Ränkeschmied wird in diesen Briefen an Manerbio zwar mit zahlreichen negativen Adjektiven belegt, aber nicht beim Namen genannt. Er muß jedoch identisch sein mit jenem »fraudolente hebreo Rosso«, von dem in einem Schreiben Colornis an Vincenzo I. Gonzaga vom 27. Januar 1598 (J-1891, S. 41) die Rede ist. Projekte, Proteste und ein Hasardstück
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Rosso zeitweise angeblich Briefe abfing, beteuerte Colorni, erst spät hinter das ganze Ausmaß der Intrigen gekommen zu sein.647 Schließlich aber habe er dem Betrüger durch eine Meldung beim Herzog von Württemberg das Handwerk gelegt. Bereits zuvor hatte Colorni demnach Advokaten eingeschaltet. Wer war dieser Rosso, an dem Colorni kein gutes Haar läßt? Eine eindeutige Antwort läßt sich bisher nicht geben. Jedenfalls war er offenbar nicht der einzige Jude, der in dieser Zeit geheimnisvolle oder zumindest undurchsichtige Mittlerdienste zwischen dem Kaiser, Süddeutschland und Italien leistete. Ein solcher Mittler war zum Beispiel Seligmann von Brenz.648 Seligmann begegnet zwischen 1596 und 1600 verschiedentlich als Bote zwischen dem kaiserlichen und dem württembergischen Hof.649 Auch war er es, der Colorni 1597 von Prag nach Stuttgart begleitete.650 Auf solche Dienste beschränkte sich das Spektrum von Seligmanns Aktivitäten allerdings bei weitem nicht. Namentlich Kaiser Rudolf nahm die Dienste des Juden aus Brenz zu verschiedensten Zwecken in Anspruch: »Seligman Hebraeus, cuius nobis industria quibusdam in rebus probata«, heißt es in einem kaiserlichen Schreiben aus dieser Zeit.651 So sollte Seligmann im Jahr 1600 für den Kaiser verschiedene kostbare Objekte in Venedig erwerben. Unter seinen Aufträgen ist nur die »erkaufung aines groszen stalenen spiegels« genau bezeichnet. Für diese Ankäufe konnte Seligmann auf bis zu 1.500 Kronen zurückgreifen, die der Kaiser über die Fugger an den Botschafter in Venedig hatte auszahlen lassen. Seligmann nahm in Venedig offenbar das Geld entgegen, verschwand aber zur Verärgerung des Kaisers aus der Lagunenstadt, ohne mit dem Geld die Rechnungen vor Ort beglichen zu haben.652 Wie diese Affäre endete, ist nicht überliefert. Sie kostete Seligmann aber weder den Kopf noch das Vertrauen des Kaisers. Vielmehr spricht vieles dafür, ihn mit jenem gleichnamigen Juden 647 In der Tat bat Colorni in einem Postskriptum vom 29. März 1598 seinen Prager Briefpartner Aderbale Manerbio die Post künftig nicht mehr nach Stuttgart, sondern an den »maestro della posta di Ganzstat« zu schicken. Es handelt sich offenbar um das unweit von Stuttgart gelegene Cannstatt. ASMn, AG, b. 475, 486r–v. 648 Ein »Paß für den Juden Seligmann von Brenz zur Reise nach Prag« befindet sich in HStAS A 47 Bü 3 Fasz. 11. Im Jahr 1600 begegnet er in den Quellen als Überbringer eines kaiserlichen Briefes, HStAS A 56 Bü 12. 649 Siehe die Erwähnungen in der Korrespondenz zwischen Ks. Rudolf II. und Friedrich I. von Württemberg in HHStA, Familienkorrespondenz, Schachtel 4. Zudem befindet sich ein »Paß für den Juden Seligmann von Brenz zur Reise nach Prag« in HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 11. 1600 begegnet Seligmann in den Quellen als Überbringer eines kaiserlichen Briefes, HStAS, A 56 Bü 12. Siehe auch Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Stuttgart 1988, S. 205. 650 Colorni an Vincenzo I. Gonzaga, 27. Januar 1598 (J-1891, S. 41). 651 Urkunden, Acten und Regesten aus dem Archiv des k. k. Ministeriums des Innern, hg. von Heinrich Zimerman, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 7 (1888), S. xv–lxxxiv, Dok. 4660. 652 Ebd., Dok. 4678.
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zu identifizieren, der ab 1603 engen Kontakt zum mächtigen kaiserlichen Kammerdiener Philipp Lang pflegte. Nach einem Zerwürfnis mit Lang soll Seligmann im Kerker gestorben sein. Als Lang wenige Jahre später selber stürzte und sich verantworten mußte, war auch sein Verhältnis zu Seligmann Gegenstand der »Interrogatoria zur peinlichen Frag«. Dem einstmaligen Kammerdiener wurde vorgeworfen, sich durch »Seligman Jud« das Sigillum Salomonis – in diesem Fall ein magisches Buch – beschafft zu haben.653 Es könnte durchaus sein, daß Rosso und Seligmann identisch sind.654 Aber selbst wenn dies zuträfe, wäre es weiterhin schwer zu beurteilen, inwieweit Colornis weiter oben erwähnte Schilderung der Ereignisse rund um die Berufung nach Stuttgart im Detail zutrifft. Festhalten läßt sich zumindest, daß Colornis Berufung von Prag nach Stuttgart bereits unter Zeitgenossen von Gerüchten begleitet wurde. Dazu zählte beispielsweise der Vorwurf, Colorni sei – in Bauernkleidern verkleidet – aus Prag getürmt.655 In der Korrespondenz des Prager und des Stuttgarter Hofes finden sich zwar keine Hinweise darauf, daß dieser Vorwurf – gegen den Colorni sich später explizit wehrte – zutrifft. Dafür verdeutlichen solche Gerüchte aber einmal mehr, daß Colorni Gegner und allemal Neider hatte. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund war der Wechsel nach Württemberg für Colorni also ein riskantes Spiel. Denn am Stuttgarter Hof konnte er – im Unterschied zu Prag – nicht mit nennenswertem Rückhalt rechnen. Seit dem späten 15.
653 Vgl. die tendenziöse, aber mit einem materialreichen Quellenanhang versehene Studie von Hurter, Philipp Lang, S. 210. 654 Vgl. aber auch Toaff, der Rosso – wenngleich lediglich auf die Quelle bei Jarè gestützt – mit einem gewissen Salomon Roques (Roces, Rocca) aus Verona bzw. Ferrara identifiziert. Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 223. 655 Colorni erwähnte in einem Brief an Manerbio vom 8. Februar 1598, der betrügerische Jude Rosso habe diese Lüge in Prag verbreitet. ASMn, AG, b. 475, fol. 436r–438r. In der Tat kursierten entsprechende Gerüchte schon bald, zumindest unter Prager Juden. Im Zuge der späteren Ermittlungen gegen Colorni behauptete ein durchreisender Jude Salomon aus Prag 1599 bei einer Vernehmung durch württembergische Beamte: »[Colorni sei] ein Leuchtvärttiger Gesell, haben Ine die Judenschafft nur für einen Kunstmacher gehalltten, aber mit aller seiner Kunst habe er lautter Betrügerey gebraucht, und auch bey Kay: Majt: fürgebracht, Er khönde Salbether und Pulver machen, wölches Ire Kay: Majt: vil gecosstet, Er Jud aber habe wenig nuzen geschaffet, seye letztlich Inn Bauern Klaidern von Brag entritten, das Niemandt gewüsst, wo er hinan seye […]« Siehe den Bericht des Obervogts zu Göppingen an Friedrich I. von Württemberg, 5. September 1599. HStA Stuttgart A 47 Bü 3 Fasz. 12. Ich habe weiter oben bereits darauf hingewiesen, daß man diesen – für Colorni wenig schmeichelhaften – Behauptungen nur mit Vorsicht Glauben schenken sollte, da die hier zitierten Aussagen Salomons nicht aus freien Stücken gemacht wurden. Der in die Vernehmung geratene Jude hatte guten Grund mit seinen Aussagen der Erwartungshaltung der württembergischen Obrigkeit entgegenzukommen. Immerhin hielt sich Salomon offenbar noch eine Weile in württembergischem Territorium auf, denn Ende September 1599 geriet er erneut in eine Vernehmung, diesmal in Vaihingen. Vgl. den Bericht des Obervogts zu Vaihingen an Friedrich I. von Württemberg, 29. September 1599. HStA Stuttgart A 47 Bü 3, Fasz. 12. Projekte, Proteste und ein Hasardstück
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Jahrhundert waren Juden im Herzogtum allenfalls auf der Durchreise geduldet worden.656 Die Zweite Regimentsordnung von 1498 bezeichnete die Juden in drastischer Weise sogar als »dise nagenden wuerm«, die man in Württemberg nicht dulde.657 Nur sehr vereinzelt konnten sich noch einige Zeit jüdische Siedlungen erhalten. Die württembergischen Herzöge hielten im großen und ganzen bis zum Ende des 18. Jahrhundert an den die Juden betreffenden, bis 1806 offiziell gültigen Bestimmungen der Regimentsordnung fest, manche sogar mit besonderem Glaubenseifer: Herzog Christoph beispielsweise forderte 1559 auf dem Reichstag zu Augsburg, die Juden aus dem ganzen Reich zu verbannen.658 Wie streng die Regimentsordnung mit Blick auf die Juden zu dieser Zeit gehandhabt wurde, läßt sich an der Tatsache ermessen, daß sogar der berühmte ›Befehlshaber der Juden im Reich‹, Josel von Rosheim, die Reise durch württembergisches Territorium mühsam aushandeln mußte.659 Colornis Berufung nach Württemberg im Jahr 1597 verdankte sich einzig dem Willen des regierenden Herzogs. Wohlgemerkt war auch dieser den Juden im allgemeinen nicht freundlich gesinnt. Im 1593 ausgebrochenen Türkenkrieg sah Friedrich I. ein »Judenwerk«.660 Zwar interessierte sich Friedrich I. für die Kabbala, und in seiner Korrespondenz mit dem Kaiser war der Austausch hebräischer Schriften mitunter ein Gegenstand.661 Doch suchte der Herzog 1596 keinen jüdischen Berater in kabbalistischen oder theologischen Fragen, als er Colorni nach Stuttgart einlud. Der 1593 auf den Thron gelangte Friedrich, der mit Rudolf II. die Leidenschaft für die Alchemie teilte, bekundete vielmehr Interesse an Colornis Fähigkeiten in der Salpeterherstellung. Auf diesem Gebiet lagen die Ambitionen des württembergischen Herzogs in Zeiten des Türkenkriegs. Im Ausland wurde damals sogar vermutet, der Herzog wolle sich an die Spitze eines protestantischen Heeres stellen, falls es zum Krieg mit den Katholiken kommen sollte.662 656 Siehe das Testament des Herzogs Eberhard im Bart [1492/1496] in: Vollständige, historisch und kritische bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze, hg. von August Ludwig Reyscher, Bd. 2, Stuttgart 1829, S. 9. Zur württembergischen Judenpolitik in der Frühen Neuzeit siehe jetzt Stefan Lang, Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im »Land zu Schwaben« (1492–1650), Ostfildern 2008. 657 Vollständige […] Sammlung der württembergischen Gesetze, hg. von A. L. Reyscher, Bd. 2, S. 23. 658 Karl Pfaff, Die früheren Verhältnisse und Schicksale der Juden in Württemberg, in: Württembergische Jahrbücher für vaterländische Geschichte, Geographie, Statistik und Topographie 2 (1857), S. 157–198, hier S. 172. 659 HStAS A 56 U 15. 660 Paul Sauer, Herzog Friedrich I. von Württemberg 1557–1608. Ungestümer Reformer und weltgewandter Autokrat, München 2003, S. 245. 661 Friedrich I. schrieb beispielsweise am 2. September 1600 an den Kaiser wegen eines »hebraischen Buchs, so ich bey Handen haben soll«. HHStA, Familienkorrespondenz, Schachtel 4. 662 Tommaso Contarini, Relazione di Germania [1596], in: Relazioni di ambasciatori veneti al senato, hg. von L. Firpo, Bd. 3, S. 213.
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Der württembergische Herzog war an schnellen Fortschritten bei der Pulverherstellung interessiert – und bereit, dafür großzügig zu zahlen. Der naturwissenschaftlich versierte und polyglotte Friedrich galt als gebildeter, aber auch selbstherrlicher Fürst. Vor seiner Thronbesteigung hatte er lange Jahre in europäischen Ländern verbracht: Reisen über Böhmen nach Dänemark (1580) und eine Gesandtschaft in Paris (1581) sowie ein Aufenthalt im England Königin Elisabeths I. (1592) hatten seinen Horizont beträchtlich erweitert.663 Seine Regierungszeit stand allerdings nicht im Zeichen der Diplomatie, vielmehr war sie gekennzeichnet von Spannungen mit der mächtigen württembergischen Landschaft, in der die Vertreter der Städte und Ämter sowie die lutherische Geistlichkeit organisiert waren. Von Beginn seiner Regierungszeit an bemühte sich Friedrich, das wirtschaftlich rückständige Württemberg einer frühmerkantilistischen Modernisierungspolitik zu unterziehen, die sich zeitweise »geradezu hektisch« ausnahm.664 Die Infrastruktur sollte ausgebaut, Rohstoffvorkommen erschlossen und neue Gewerbe angesiedelt werden. Zwar zog der Protestant Friedrich in konfessionellen Fragen weitgehend an einem Strang mit der streng lutherischen Landschaft, konnte die Untertanen aber für seine Versuche einer Verfassungsreform frühabsolutistischer Prägung nicht gewinnen. Ein weiterer Reibungspunkt zwischen Herzog und Landschaft waren die beträchtlichen Schulden, die Friedrich trotz steigender Staatseinnahmen im Laufe seiner Regierungszeit machte. Die Besoldung des Hofstaats verschlang – zum Ärgernis der Landschaft – ebenso wie das Luxusbedürfnis des Herzogs nicht unerhebliche Teile der Einnahmen.665 Die Versprechungen zahlreicher Alchemisten, die Staatskassen durch die Herstellung von Gold zu füllen, waren für Friedrich besonders verführerisch.666 Der Herzog besoldete daher seine zahlreichen Alchemisten meist sehr großzügig. Im Frühjahr 1597 traf Colorni in Stuttgart ein. Die württembergische Landschaft und die Bürger dürften die Ankunft des »großen Juden Künstler[s]« mit Argwohn beäugt haben. In der betulichen württembergischen Residenzstadt hegte man bereits eine unverhohlene Abneigung gegen die zahlreichen ›welschen‹ Diener im Hofstaate des Herzogs. Friedrich I. sah sich verschiedentlich bemüßigt, seine württembergischen Untertanen in die Schranken zu weisen, wenn sie der Entfaltung seiner »Künstler« entgegenarbeiteten.667 Das Eintreffen eines »welschen Juden«, wie ihn der Stuttgarter Theologe Osiander bald bezeichnen sollte, war 663 664 665 666
Vgl. v. a. Sauer, Herzog Friedrich I. Hofacker, …’sonderliche hohe Künste und vortreffliche Geheimnis’, S. 10. Werner Fleischhauer, Renaissance in Württemberg, Stuttgart 1971, S. 271–273. Hofacker, … ›sonderliche hohe Künste und vortreffliche Geheimnis‹; Günzler, Herzog Friedrich und seine Hof-Alchymisten, in: Würt[t]embergische Jahrbücher für vaterländische Geschichte, Geographie, Statistik und Topographie 1 (1829), S. 216–233. 667 Fleischhauer, Renaissance in Württemberg, S. 273. Projekte, Proteste und ein Hasardstück
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daher fraglos ein besonderer Stein des Anstoßes für die Bevölkerung. Noch gärte der Unmut lediglich, und Colorni konnte seine Arbeit zunächst ungehindert aufnehmen. In seinen Briefen nach Mantua zeigte er sich hochzufrieden über die Besoldung von 25 Gulden, die ihm Friedrich gewährte. Auch ein eigenes Haus, das angeblich selbst adligen Ansprüchen genügt hätte, wurde ihm zugewiesen.668 Überhaupt war der in die Reihe der Hofalchemisten aufgenommene Mantuaner Jude anfangs voll des Lobes über seinen neuen Patron, der ihn in den ersten Wochen jeden Tag zu sich gerufen haben soll.669 700 Personen speisten jeden Tag im herzoglichen Schloß zu Stuttgart, berichtete Colorni mehrfach nach Mantua.670 Dem Ankömmling aus Prag wurde eine Salpetersiederei im neuen Spital auf den Turnieräckern (in der Nähe der heutigen Hospitalkirche) eingerichtet, in der er vorerst experimentierte. Im Herbst des Jahres 1597 hatte sich die Nachricht von den Aktivitäten Colornis bereits im Land verbreitet. Der namhafte Gräzistik-Professor und Humanist Martin Crusius (1526–1607) in Tübingen war schon seit längerem über die Vorgänge in der Residenzstadt informiert. In seinem Tagebuch notierte Crusius Anfang November den bangen Wunsch, daß Juden und Zauberer die Herrschaft im Land nicht übernehmen mögen.671 Die Gerüchte, die damals offenbar über den »großen Juden Künstler« kursierten, luden zu solchen wilden Spekulation ein. Mitte November erhielt Crusius beispielsweise einen Bericht seines Kollegen, des Tübinger Hebraisten Georg Weigenmaier (1555–1599), der es an fragwürdigen Ausschmückungen nicht fehlen ließ.672 Demnach wisse Colorni Gold herzustellen. Zudem könne er das Wasser in Wein sowie Steine in Brote verwandeln. Der Jude habe sogar aus der Gewandtasche eine Schlange hervorgezogen und sie im herzoglichen Schloß auf den Boden geworfen, wo sie sich zu einem Kreise gewunden und schließlich in eine Kette von Perlen und wertvollen Steinen verwandelt habe. Von den umstehenden Hofleuten hätten manche den Wein und das Brot gekostet. Die Untadeligen unter den Hofleuten hingegen seien entrüstet über die Zauberei des Juden, obgleich sie aus Furcht vor dem Herzog schweigen würden.
668 Colorni an Aderbale Manerbio, 8. Februar 1598. ASMn, AG, b. 475, fol. 436r–438r. 669 Colorni an Aderbale Manerbio, 5. Mai 1598. ASMn, AG, b. 475, fol. 527r–534r. 670 Colorni an Vincenzo I. Gonzaga, 27. Januar 1598 (J-1891, S. 42). Siehe auch Colorni an Aderbale Manerbio, 8. Februar 1598. ASMn, AG, b. 475, fol. 436r–438r. Diese Zahl war keineswegs stark übertrieben. Der Historiker Paul Sauer zählt für das Jahr 1607 insgesamt 513 feste Mitglieder am Hofe Friedrichs I. Vgl. Sauer, Herzog Friedrich I., S. 125. Zum Vergleich: Der Mantuaner Hof hatte, wie weiter oben bereits erwähnt, unter Vincenzo I. ungefähr 800 Mitglieder. 671 Martin Crusius, Diarium Martini Crusii, hg. von Wilhelm Göz und Ernst Conrad, 2 Bde., Tübingen 1927–1931, hier Eintrag vom 9. November 1597 (Bd. 1, S. 407). Ich danke Herrn Peter Mommsen (Stuttgart) für die Hilfe bei der Übersetzung von griechischen Passagen aus den Crusius-Tagebüchern. 672 Ebd., Eintrag vom 13. November 1597 (Bd. 1, S. 409).
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Abraham selbst habe abgestritten, daß seine Künste Zauberei (μαγικα) seien, und dies vielmehr auf die Kabbala (καβάλων) zurückgeführt.673 Inwieweit Weigenmaiers farbiger Bericht der Realität entsprach, bleibt zweifelhaft. Zwar ist es keineswegs auszuschließen, daß Colorni am württembergischen Hof – wie bereits früher – magische Kunststücke vorführte. Inwieweit Weigenmaier aber tatsächlich ein Augenzeuge war, steht dahin. Der gelehrte Hebraist – der möglicherweise in seinem ganzen Leben kaum je die nähere Bekanntschaft mit Juden gemacht hat – scheint den Stoff für seine Ausführungen über Colorni jedenfalls nicht zuletzt aus der Bibel geschöpft zu haben. Die Verwandlung von Wasser und Steinen sowie von Schlangen sind bekanntlich biblische Topoi aus der Geschichte Mose, mit denen sich trefflich das (Zerr-)Bild vom jüdischen Magus untermauern ließ.674 Möglicherweise war auch Garzonis an Superlativen reicher Bericht über die magischen Kunststücke Colornis bis an die württembergische Landesuniversität gedrungen. In der Tat wurde Garzonis Piazza universale im deutschsprachigen Raum schon lange vor der ersten deutschen Übersetzung (1619) rezipiert.675 Jedermann konnte also nachlesen, daß Garzoni dem Magus Colorni nicht zuletzt die Fähigkeit zuschrieb, eine Schlange in eine Kette zu verwandeln (wobei auch hier schwer zu sagen ist, ob es sich um eine rhetorische Reverenz an den erwähnten biblischen Topos oder um einen tatsächlichen Eindruck handelte).676 Weigenmaiers Briefpartner Crusius war jedenfalls enttäuscht, als er wenige Wochen später erfuhr, daß Colorni nicht zum Zaubern nach Stuttgart gekommen war: »Von dem Juden, der in Stuttgart ist, wird berichtet, daß er so gut wie nichts von Zauberei weiß: allein mit Salpeter«, vermerkte der Gräzist Anfang 1598 in sein Tagebuch.677 Daß Colorni sich in Stuttgart ausschließlich mit der Salpeterherstellung beschäftigte, ist allerdings ebenfalls nicht die ganze Wahrheit. Was aus seinem anfänglichen Versprechen wurde, ein Gewehr für Friedrich I. zu bauen, das (wie einst
673 Am 13. Dezember 1597 vermerkte Crusius nochmals, es gebe in Stuttgart einen Hebräer, der ein neuer Goldmacher oder ein ›Stein-zu-Brot-Macher‹ sei [im Original griechisch] (ebd., Bd. 1, S. 421) 674 Zur Popularität dieses Topos in frühneuzeitlichen Diskursen über die Magie vgl. auch During, Modern Enchantments, S. 4. During sieht einen Grund für diese Popularität in der Möglichkeit, den Zauberer Moses mit Hermes Trismegistos, der in bildlichen Darstellungen oft mit Schlangen dargestellt wurde, zu assoziieren. 675 Battafarano, L’opera di Tomaso Garzoni, S. 35. 676 Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 21. 677 Crusius, Diarium Martini Crusii, Marginalie zum Eintrag vom 1. Januar 1598 (Bd. 2, S. 1). Im Original heißt es: »Iudaeus, qui Stutg. est, dicitur nihil admodum μαγικον scire: allein mit Salpeter«. Projekte, Proteste und ein Hasardstück
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am Hofe der d’Este) mehrere Schüsse ohne Nachladen erlaubte, ist unbekannt.678 Ebenfalls bleibt unklar, ob Colorni dem Herzog die in Aussicht gestellten ›Geheimnisse‹ anvertraute, wie man nachts in die Ferne sehen und wie man eine Nachricht in jedwede Festung übermitteln könne – selbst wenn der Bote entkleidet werde.679 Nachweisbar hingegen ist, daß Colorni im Briefverkehr mit seinen italienischen Dienstherrn nunmehr auch von Württemberg aus als ein Vermittler von Wissen und Kontakten über die Alpen fungierte. Der jüdische Hofalchemist rühmte sich sogar damit, die ein Jahrhundert zuvor regen Kontakte zwischen den Gonzaga und dem Hause Württemberg wieder zu intensivieren.680 Von Stuttgart aus bot Colorni etwa kostbare Vasen an, lieferte Musikinstrumente in Waffenform und vermittelte Musiker.681 Es ist wahrscheinlich, daß der Versuch Herzogs Friedrich, den bereits verschiedentlich erwähnten, renommierten jüdischen Arzt Abraham Portaleone aus Mantua (»famoso medico e filosofo«) 1597 für den württembergischen Hof zu gewinnen, ebenfalls von Colorni eingefädelt wurde.682 Der Rat des jüdischen Hofalchemisten wurde vom württembergischen Herzog zunächst also offenbar geschätzt. Bis nach Ferrara war im Laufe des Jahres 1597 die Nachricht gedrungen, daß Friedrich I. mit Colorni sehr zufrieden sei.683 Alfonso II. verlängerte daher den ursprünglich auf sechs Wochen ausgelegten Aufenthalt seines jüdischen Hofingenieurs in Württemberg um zwei weitere Monate.684 Colorni beriet den Herzog sehr wahrscheinlich auch, als es um dessen wirtschaftspolitische Pläne ging. Friedrich hatte Württemberg gegen die schwäbischen Reichsstädte abgeschottet und versuchte nun – gegen den erbitterten Widerstand der Landschaft –, durch die Lockerung des Handelsverbotes für Juden die Wirtschaft weiter zu fördern.685 Im Frühjahr 1598 ließ sich eine ›hebräische Orienthandelskompanie‹ unter Leitung ihres Konsuls Maggino Gabrielli mit Billigung
678 Undatiertes Secreto particolare für Friedrich I. von Württemberg [ca. 1597], HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 11. 679 Undatiertes Secreto particolare für Friedrich I. von Württemberg [ca. 1597], HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 11. 680 »Et se dio mi concede vita spero di fortificar […] la amicitia talmente che in ogni tempo se ne potra sperare ogni bene«, so Colorni an Vincenzo I. Gonzaga, 27. Januar 1598 (J-1891, S. 41). 681 Colorni an Vincenzo I. Gonzaga, 27. Januar 1598 (J-1891, S. 42); Colorni aus Stuttgart an Vincenzo I. Gonzaga, 16. Juni 1598 (J-1891, S. 43). 682 Dies wird von Jarè ohne Angaben von Quellen erwähnt (J-1874, S. 12). 683 Siehe zwei Dankschreiben Friedrichs I. von Württemberg an Alfonso II. d’Este vom 8. Mai 1597 bzw. vom 29. August 1597. ASMo, ASE, Carteggio principi esteri, Württemberg, b. 1604/30. 684 Alfonso II. d’Este an Colorni, 14. Oktober 1597 (J-1891, S. 41). 685 Sauer, Herzog Friedrich I., S. 225.
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des Herzogs in Stuttgart nieder.686 Bei Maggino Gabrielli, von dem weiter oben bereits die Rede war, handelte es sich um einen jüdischen Unternehmer, der technologisches know-how, Arkanwissen und ausgeprägte experimentelle Interessen vorweisen konnte.687 Der in Venedig aufgewachsene jüdische Erfinder hatte in Italien Privilegien für ein spezielles Verfahren in der Seidenherstellung erhalten, war zu einem Glasproduzenten in großem Stil aufgestiegen und hatte sich zudem mit der Herstellung von Öl, Wachs und Papier beschäftigt. Dabei zögerte Maggino nicht, von seinem technologischen Wissen – mit Anleihen an einen unter Alchemisten weitverbreiteten Topos – als exklusives ›Geschenk Gottes‹ zu sprechen. Nicht zuletzt beschäftigte er sich offenbar auch selbst mit der Alchemie. Auf politischer Ebene hatte Maggino schon im Alter von kaum dreißig Jahren unter Beweis gestellt, daß er mit Geheimnissen umgehen konnte. So hatten die Medici ihn 1592 auf eine heikle politische Mission in die Levante geschickt. Unternehmischer Ehrgeiz und das Agieren in der Ökonomie des Geheimen schlossen sich also auch bei Maggino keineswegs aus. Der württembergische Herzog erhoffte sich beträchtliche Einnahmen durch die Handelsgeschäfte der Orientkompanie des jüdischen Konsuls. Doch aus Sicht der Untertanen wie auch hochgestellter Persönlichkeiten des Hofes brachte die Niederlassung der jüdischen Kaufleute nunmehr das Faß zum Überlaufen. In Stuttgart kam es zu tumultartigen Szenen. Der Hofprediger agitierte von der Kanzel herab gegen die vom Herzog beförderte Niederlassung von Juden im Territorium. In der Bevölkerung kursierten bereits Ritualmordvorwürfe. Der Herzog versuchte zunächst, den Protesten drakonisch zu begegnen, nicht zuletzt durch die Verbannung seines Hofpredigers. Doch schließlich gab er – politisch isoliert – dem Druck seiner Kritiker nach. Das Mandat für die jüdischen Kaufleute wurde mit restriktiven Klauseln versehen. Der jüdische Konsul mußte der Entwicklung machtlos zusehen. Bereits drei Monate später verließ er mit seinen Kaufleuten das Herzogtum. Mit dem Rückzug Magginos wurde die Situation des in Stuttgart verbliebenen Hofalchemisten Colorni zunehmend prekärer. Der Landtag mahnte im Frühjahr 1599 eine bessere Haushaltsführung des Herzogs an und forderte Friedrich auf, »der ufgenommenen judischeit« Einhalt zu gebieten und sie des Landes zu verwei-
686 Alle Angaben zu dieser Episode sind – soweit nicht anders angegeben – entnommen aus: Jütte, Abramo Colorni, jüdischer Hofalchemist. Siehe jetzt auch Lang, Ausgrenzung und Koexistenz, S. 112–136. 687 Siehe ausführlich zu ihm weiter oben. Vgl. auch Daniel Jütte, Handel, Wissenstransfer und Netzwerke. Eine Fallstudie zu Grenzen und Möglichkeiten unternehmerischen Handelns unter Juden zwischen Reich, Italien und Levante um 1600, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 95 (2008), S. 263–290. Projekte, Proteste und ein Hasardstück
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sen.688 Damit konnte nur noch Colorni gemeint sein. Auch dem Herzog ging die Geduld mit dem jüdischen Hofalchemisten aus, der zudem höchstwahrscheinlich in das Projekt der hebräischen Handelskompanie verwickelt war.689 Außerdem drängte Vincenzo Gonzaga gegenüber dem württembergischen Herzog in mittlerweile immer deutlicheren Worten auf eine Rückkehr Colornis nach Mantua, wo ›seine Arbeit gebraucht‹ werde.690 Friedrich entschloß sich daher schließlich, den jüdischen Hofalchemisten Colorni in der Salpeterhütte »zu erstattung versprochener Prob« antreten zu lassen.691 Mittlerweile war Colornis Wohnung unter Bewachung gestellt worden sowie eine Weisung an die Stadttorwache ergangen, Colorni nicht passieren zu lassen. Ausdrücklich hatte Friedrich zudem angeordnet, dem jüdische Hofalchemisten »nichts besonders mehr von eßen und trincken« durch die Hofküchenmeister bringen zu lassen. Wahrscheinlich war davon auch eine mögliche Versorgung mit koscheren Lebensmitteln betroffen. Colorni sollte nunmehr nur noch die Speisen, wie sie auch für gewöhnliche Diener vorgesehen waren, erhalten – wobei ihm jedoch drei Mahlzeiten zustanden.692 Der jüdische Hofalchemist dürfte aus der härteren Gangart des Herzogs seine Schlüsse gezogen haben. Colorni wußte, daß der Zorn des Landesherrn schon manchen Alchemisten an den Galgen gebracht hatte. In der Alchemiegeschichte hielt Friedrich schon damals den fragwürdigen Rekord, »kein Fürst [habe] eine größere Anzahl solcher Executionen vornehmen lassen«.693 Im März 1599 gelang es Colorni auf ungeklärte Weise, aus Württemberg zu entkommen. Ein Hasardstück des mittlerweile 55jährigen, das schließlich doch noch seine vielgerühmte Fähigkeit als Ausbrecher (disprigionatore) unter Beweis stellte. Die bereits gezahlten Honorare in Höhe von mindestens 4.000 Gulden hatte er 688 Der Landtag an Friedrich I. von Württemberg, 16. März 1599, in: Württembergische Landtagsakten, bearb. von Albert Eugen Adam, Bd. 2, S. 150. 689 Am Hofe hatte man bereits seit längerem das Scheitern der Handelskompanie und die vergeblichen Aktivitäten Colornis als zwei Seiten derselben Medaille aufgefaßt. Ein im Sommer 1598 verfaßtes, ausführliches Gutachten des herzoglichen Rates Buwinckhausen über die Handelskompanie schloß nahtlos mit einem Bericht über die Tätigkeit des jüdischen Hofalchemisten – wenngleich eigentlich kein ersichtlicher Zusammenhang bestand. Rückseitig trägt das Aktenstück den aufschlußreichen Vermerk: »Bericht den Consul Jud und Abram Colorno betr.« HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 12. 690 »[P]er bisogno che havemo dell’opera sua […]«, so Vincenzo I. Gonzaga an Friedrich I. von Württemberg, 20. November 1598 (J-1891, S. 54) 691 Friedrich I. von Württemberg an den Kammerrat Rößlin, 22. August 1598. HStAS, A 56 Bü 3, Fasz. 12. 692 Friedrich I. von Württemberg an den Kammerrat Rößlin, 22. August 1598. HStAS, A 56 Bü 3, Fasz. 12. 693 Kopp, Die Alchemie, Bd. 1, S. 181.
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mitgenommen. Am 23. März fanden der Bürgermeister, Abgeordnete des Gerichts 694 und ein Zeugschreiber nur noch eine weitgehend leere Wohnung Colornis vor. Der Herzog sann unverzüglich auf Rache: Colorni sollte »die verdiente straff seines arglistigen und hochsträfflichen verbrechens« empfangen.695 Die Nachricht vom entkommenen jüdischen Alchemisten wurde im Land verbreitet, sogar Erkundigungen in Frankfurt und Brandenburg eingeholt. Doch der Gesuchte war buchstäblich längst über alle Berge, als die Fahndung des Herzogs anlief. Denn Colorni war es gelungen, nach Mantua zurückzukehren, wo nun die Gonzaga trotz zahlreicher Auslieferungsgesuche Friedrichs die Hand über ihn hielten.696 Insbesondere die Gattin des Gonzaga-Herzogs, Eleonora, engagierte sich für das Wohl des langgedienten Untertans. Zwar wurde der jüdische Ingenieur nach seiner Rückkehr kurzzeitig von den Este eingekerkert, da der neue, politisch geschwächte Herzog Cesare d’Este wegen der Causa Colorni keinen Streit mit Württemberg riskieren und seine Kooperationsbereitschaft zumindest symbolisch demonstrieren wollte. Aber auf Drängen Eleonoras wurde Colorni bereits wenig später offenbar wieder freigelassen, denn er erlag am 15. November 1599 als freier Mann in Mantua einem ›Fieber‹, wie es in den städtischen Sterberegistern heißt.697 Ob Colorni in Wahrheit Opfer eines Giftanschlags im Auftrag des württembergischen Herzogs wurde, wird sich wohl niemals restlos aufklären lassen.698 Friedrich I. von Württemberg hielt jedenfalls auch nach dem Tod Colornis an seiner Forderung nach Bestrafung fest. Da der Tote nicht mehr zu belangen war, sollte nun der Sohn für ihn einstehen. Der württembergische Herzog scheute nicht davor zurück, den Gonzaga sogar Hilfe bei einer damals schwelenden Territorialstreitigkeit anzubieten, falls sie den Sohn des jüdischen Hofalchemisten ausliefern würden.699 Doch verweigerte sich Vincenzo Gonzaga standhaft der Auslieferung, solange keine Beweise für eine Verwicklung in die angeblichen Straftaten Abramos vorlägen. An einer Verurteilung des Sohnes in Württemberg konnte dem Gonzaga-Herzog in der Tat nicht gelegen sein, wie wir noch sehen werden. Die Forderung nach der Auslieferung verlief schließlich im Sande.
694 Inventarliste der Salpeterhütte, 23. März 1599. HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 12. 695 Friedrich I. von Württemberg an den Landvogt der Grafschaft Burgau, 24. März 1599. HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 12. 696 Die entsprechende Korrespondenz zwischen dem Herzog von Mantua und dem Herzog von Württemberg ist abgedruckt bei J-1891, Sekt. XIV und XV. Die Bemühungen um die Auslieferung sind teilweise auch dokumentiert in HStAS, A 47 Bü 3, Fasz. 12. 697 So ist es in den Mantuaner registri necrologici festgehalten. Vgl. Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 705, Anm. 82. 698 Diese Theorie stellt Toaff zur Diskussion. Vgl. Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 224–225. 699 Friedrich I. von Württemberg an Vincenzo I. Gonzaga, 29. Mai 1600 (J-1891, S. 59). Projekte, Proteste und ein Hasardstück
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Die Fußstapfen des Daedalus Mit der dramatischen Rückkehr Colornis nach Mantua und seinem überraschenden Tod könnte diese Studie enden. Aber um die Biographie allein geht es in der vorliegenden Untersuchung nicht. Vielmehr soll die Karriere Colornis als Fallbeispiel für eine Erforschung des Phänomens der jüdischen professore de’ secreti dienen. Abramo Colorni und seine Karriere stellen in der frühneuzeitlichen Ökonomie des Geheimen keinen Einzelfall dar (worauf auch im Schlußkapitel noch einmal zurückzukommen sein wird). Colorni war zwar ein besonders facettenreicher, aber bei weitem weder der erste noch der letzte jüdische professore de’ secreti. Wir haben gesehen, daß Colorni Gegner und Neider hatte. Doch Colornis Biographie veranschaulicht umgekehrt auch, welche Akzeptanz und Wertschätzung Juden, die in der Ökonomie des Geheimen wirkten, erfahren konnten. Colornis Name geriet noch Jahrzehnte nach seinem Tod nicht in Vergessenheit – und dies in christlichen wie jüdischen Kreisen. Es lohnt sich also, hier exemplarisch einen Blick auf den Ruhm und Nachruhm Colornis zu werfen. Von der Wertschätzung, die der Dichter und Diplomat Alessandro Tassoni dem jüdischen Erfinder kurz nach 1600 entgegenbrachte, haben wir weiter oben bereits erfahren. Ebenfalls war bereits die Rede von dem Lob, das der Herzog von Braunschweig-Lüneburg im Jahre 1624 dem Kryptographen Colorni zollte. Einige Jahre später dichteten zwei italienische Bewunderer, ein gewisser Francesco Rovai sowie der vermutlich erst einige Jahre nach Colornis Tod geborene toskanische Schriftsteller Jacopo Gaddi, barocke Elogen auf den jüdischen Ingenieur.700 So rühmten die Dichter den Mantuaner Juden als einen »Ingegner famoso«, vor dessen Auftreten sich jeder Feind gefürchtet habe.701 Wortreich wurden in Anlehnung an die Beschreibungen Garzonis einige der Erfindungen und Kriegsmaschinen Colornis besungen.702 Die Panegyrik gipfelte in einer Überhöhung des »gran Colorni« zum modernen Dedalo dell’Esperia (Esperia ist eine altertümliche Bezeichnung für Italien).703 Der Vergleich Colornis mit dem antiken Daedalus, von dessen technischen Leistungen und Erfindungen bekanntlich die griechische Mythologie berichtet, war nicht ohne Vorbilder. Der
700 Jacopo Gaddi, Adlocutiones et elogia exemplaria, cabalistica, oratoria, mixta, sepulcralia, Florenz: Nestei 1636, S. 167–173. Zu Gaddis Biographie vgl. Fabio Tarzia, Lemma Gaddi, Jacopo, in: DBI, Bd. 51, S. 159–160. 701 Gaddi, Adlocutiones et elogia exemplaria, S. 170. 702 Ebd.: »Ei del Germano orgoglio / Frangea lo scoglio, e in macchine guerriere / Chiuso, inerme vincea l’armate schiere. / Spinger al Ciel potea le balze alpestri / Da mine aprendo i sotterranei lampi, / Strugger Cittadi, e campi / Farle alberghi di belve ermi, e silvestri […]«. 703 Ebd., S. 169
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Daedalus-Vergleich war ein Topos der frühneuzeitlichen Ingenieurspanegyrik.704 Dies war ebenfalls auf jüdischer Seite bekannt: So hatte bereits zu Lebzeiten Colornis der jüdische Gelehrte Angelo Alat(r)ini, dem wir noch in seiner Eigenschaft als Lehrer von Colornis Sohn begegnen werden, den jüdischen Ingenieur als neuen ›Daedalus‹ besungen (»o nuovo Dedalo, o, Colorni«).705 Auch Rafael Mirami, jüdischer Arzt aus Ferrara und Zeitgenosse Colornis, äußerte sich in einem Werk über die Spiegel voll des Lobes über die Euthimetria. Ihren Verfasser nannt er gar einen »ingegnosissimo ingegnero«.706 Nach Colornis Tod lebte die Erinnerung an den jüdischen Daedalus auch außerhalb der italienischen Judenschaft fort. So begegnet Colornis Name beispielsweise in einem Buch, das um die Mitte des 17. Jahrhunderts erhebliches Aufsehen in jüdischen wie christlichen Kreisen erregen sollte. Gemeint ist Menasseh ben Israels Esperanza de Israel (1650).707 Das Werk kreist um die angebliche Entdeckung der verlorenen zehn Stämme Israels in der Neuen Welt. Bei seinem Autor handelt es sich um einen namhaften in Amsterdam lebenden sephardischen Gelehrten und Buchdrucker (1604–1657), dessen messianischer Enthusiasmus sich unter dem Eindruck der puritanischen Revolution in England noch verstärkt hatte. Denn die nun vermeintlich in greifbare Nähe gerückte Wiederansiedlung der Juden in England sah Menasseh als Vorbedingung für das Erreichen des messianischen Zeitalters an. Schließlich kam es sogar zu Verhandlungen zwischen Vertretern Menassehs und Oliver Cromwell. Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, daß Menasseh bestrebt war, die Vorwürfe der christlichen Welt gegen die Juden zu entkräften. Auch zu diesem Zweck entwarf der jüdische Autor in seinem Werk nicht zuletzt eine Art Galerie berühmter Köpfe des Judentums und ihrer jeweiligen Verdienste. In dieser Ehrengalerie fand Colorni seinen Platz, und
704 Vgl. z. B. Troitzsch, Erfinder, Forscher und Projektemacher, S. 452. Siehe auch Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main 1995 [11934], S. 94–96. 705 So in einem der Euthimetria vorangestellten Gedicht. Euthimetria, fol. 5r. 706 Miramis Compendiosa Introduttione, Vorrede, o. S. Vgl. ebd. auch die Erwähnung Colornis als »raro ingeniero della età nostra«. S. 45. Über Mirami und sein interessantes Werk existiert bisher so gut wie keine Forschung. Siehe die knappen Erwähnungen bei Steinschneider, Mathematik bei den Juden, in: MGWJ 6 (1906), S. 729–753; siehe außerdem Friedenwald, Jewish Luminaries, S. 114. Speziell zu Miramis Compendiosa Introduttione alla prima parte della specularia vgl. die Bemerkungen bei Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 50–52; Reeves Galileo’s Glassworks, S. 36–38; sowie Pavone, Introduzione al pensiero, Bd. 2., S. 373–375. Mirami ist für mich in Quellen zur Geschichte der Juden in Ferrara und Italien schlechterdings nicht nachweisbar. Auch Franceschini kennt ihn nur als Autor der Compendiosa Introduttione, siehe Franceschini, Privilegi dottorali. Allerdings handelt es sich bei der Compendiosa Introduttione nicht um das einzige Werk dieses jüdischen Arztes. Vielmehr läßt er sich auch als Autor einer ungedruckten Schrift über die Kalenderberechnung nachweisen (betitelt Informationi intorno alle rivolutioni del tempo) Vgl. Giuseppe Antonelli, Indice dei manoscritti della Civica Biblioteca di Ferrara, Ferrara 1884, S. 190. 707 Menasseh ben Israel, Esperanza de Israel, hg. von Santiago Perez Junquera, Madrid 1881. Die Fußstapfen des Daedalus
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dies in namhafter Gesellschaft. So wurde Colorni in der spanischen, vor allem für jüdische Leser gedachten Ausgabe des Werkes zwischen der berühmten sephardischen Familie Abravanel und dem osmanischen Juden Salomo Ashkenazi (ca. 1520–1602) erwähnt. Colorni befand sich hier also in einem Kreis von Juden, die es zu hohem Ansehen an Höfen – und dort teilweise auch zu Ämtern – gebracht hatten. Die Nennung Colornis in diesem Zusammenhang war freilich kein Zufall: Denn Menasseh zeigte sich in der Tat besonders beeindruckt von der Wertschätzung, die Colorni an den verschiedensten Höfen genossen hatte.708 Für christliche Leser war diese Facette der Biographie Colornis dagegen wohl nicht von ganz so zentraler Bedeutung. Vielmehr bot es sich mit Blick auf christliche Leser an, die Verdienste Colornis als Erfinder und Forscher hervorzuheben. Aufschlußreich ist die englische Übersetzung des Werkes, die bereits 1652 im Druck erschien. In dieser für christliche Leser konzipierten Ausgabe begegnet Colorni nunmehr im Kreise jüdischer Naturkundiger und Ärzte, also unter »the number of ours who are renowned by fame and learning«.709 In den vorangegangenen Kapiteln war viel von Colornis self-fashioning und von seiner Wirkung auf die Zeitgenossen die Rede. Eine wichtige Frage aber ist bislang eher berührt als beantwortet worden. Es ist dies die Frage nach der Stellung Colornis im und zum zeitgenössischen Judentum. War Colorni ein in der christlichen Welt begehrter professore de’ secreti, aber in der damaligen Judenschaft im großen und ganzen nur eine dubiose Randfigur? Seine Verhaftung im Florenz der 1570er Jahre aufgrund der Streitigkeiten mit dem dortigen Ghettovorsteher könnte auf den ersten Blick dazu verleiten, diese Frage zu bejahen. Allerdings haben wir gesehen, daß die Verbannung Colornis vorzeitig wieder aufgehoben wurde. Wir haben eher Grund zu der Annahme, daß der in den Quellen durchaus nicht in vorteilhaftem Licht erscheinende Ghettovorsteher Schwierigkeiten hatte, mit der (wohl begründeten) Kritik des jüdischen Ingenieurs an einem Bauprojekt umzugehen – was wiederum zu Colornis aktenkundigem Zornausbruch führte. Allemal hat diese Episode der Reputation Colorni in der zeitgenössischen ebenso wie in der späteren Judenschaft nicht geschadet. Wir haben vielmehr bereits gesehen, daß Colorni angesehene jüdische Geschäftspartner hatte – etwa die Familie Carmi – und es ihm auch an jüdischen Lobrednern nicht fehlte, darunter später Menasseh ben Israel. Zwar gibt es begründete Zweifel, ob Colorni zumindest in Stuttgart – eine Stadt, in der es keine jüdische Infrastruktur gab und in der er bei Hof an der fürstlichen Tafel
708 »En quanta estimacion vivio entre varios Principes de Italia, Abraham Colorni, consta de aquella Epistola que le dirigió Thomas Garzoni, en la su Piazza vniversal del mondo«. Ebd., S. 103. 709 Menasseh ben Israel, The Hope of Israel [London 1652], hg. von Henry Méchoulan und Gérard Nahon, Oxford 1987, S. 155.
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speiste – allzeit die jüdischen Speisegesetze (Kashrut) einhielt.710 Generell aber ist anzumerken, daß Colorni sein ganzes Leben lang Jude blieb, obgleich er verschiedentlich zur Taufe aufgefordert wurde.711 Entscheidender Aufschluß über Colornis eigene Stellung zur Judenschaft ergibt sich aber vor allem durch die Rekonstruktion seiner Familienverhältnisse. Daß der jüdische Ingenieur die Tochter des angesehenen Geldverleihers und Gelehrten Yechiel Nissim da Pisa heiratete, zeugt in besonderer Weise von seinem Ansehen in der jüdischen Gemeinschaft. Möglicherweise gab es dabei auch gemeinsame gelehrte oder sogar kabbalistische Interessen zwischen Bräutigam und Schwiegervater. Die bedeutende Bibliothek des letzteren lud hierzu jedenfalls ein. Allerdings fehlte es auch in Colornis Haus nicht an Büchern aus allen Bereichen des Judentums. Wie wir bereits gesehen haben, zeigen die Buchlisten, wie sie von den Mantuaner Juden um 1600 an die Inquisition übergeben werden mußten, daß im Hause Abramo Colornis zahlreiche, größtenteils religiöse Bücher in hebräischer Sprache vorhanden waren. Ein solcher Schwerpunkt ist für die Zusammensetzung damaliger jüdischer Privatbibliotheken keineswegs ungewöhnlich,712 sollte aber im Falle der Colornis besonders hervorgehoben werden: Denn angesichts der Liste kann kein Zweifel mehr daran bestehen, daß Vater und Sohn, zumal als Schwiegersohn bzw. Enkel von Yechiel Nissim da Pisa, mit den Traditionen und Lehren des Judentums gründlich vertraut waren. Die Familie Colorni aus Mantua – unter ihnen die insgesamt vier Cousins Abramos – zählte zwar im 16. und 17. Jahrhundert in wirtschaftlicher Beziehung nicht zur obersten Elite der damaligen italienischen Judenschaft. Dennoch genoß die Familie hohes Ansehen. Mitglieder der Familie bekleideten verschiedentlich einflußreiche Ämter in der innerjüdischen Selbstverwaltung. Abramo Colornis Vater beispielsweise war, wie wir gesehen haben, Mitglied einer jüdischen Delegation, die beim Konzil von Trient die Verbrennung hebräischer Bücher abwenden sollte. Und im Todesjahr Abramo Colornis (1599) hatte Samuele Colorni, ein Cousin unseres Protagonisten, ein hohes Amt in der jüdischen Gemeinde zu Mantua inne.713 Auch außerhalb Mantuas genoß die Familie Colorni in jüdischen Kreisen offenbar einen guten Ruf. Bezeichnend ist ein Eintrag im Gemeindebuch 710 Skeptisch dazu auch Toaff, Il prestigiatore di Dio, S. 196. 711 Garzoni, Piazza universale, v. a. S. 17–19. Siehe ebenfalls Garzonis Vorrede zur Chirofisionomia (Hs. Wolfenbüttel, o. S.). Auch Colornis einstiger Förderer Francesco Gonzagas in Novellara hatte in den 1570er Jahren voreilig vermutet, man könne den jüdischen Ingenieur leicht zum Christentum bekehren (»facilmente lo fara Christ[iano] che serà pur un guadagnare un’Anima«). ASF, Mediceo del Principato, 580, fol. 79r. Zu den Taufauforderungen siehe auch weiter oben. 712 Vgl. Simonsohn, Sefarim ve-Sifriyot; Baruchson-Arbib, La culture livresque. 713 Isaia Levi, Famosi, in: Il vessillo israelitico, 53 (1905), S. 608–610, hier S. 609. Meine Identifikation dieses Samuele (Simone) als Cousin Abramos beruht auf dem genealogischen Material bei V. Colorni, Genealogia della famiglia Colorni, S. 646–647. Die Fußstapfen des Daedalus
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der Judenschaft zu Verona aus dem ersten Viertel des 17. Jahrhunderts. Dort wurde explizit festgehalten, daß Mitglieder der Familie Colorni aus Mantua (ʭʩʣʡʫʰʤ ʤʠʥʨʰʮ ʷʿʷʮ ʩʰʸʥʬʥʷ ʩʰʡ) zu den wenigen auswärtigen Juden zählten, die von der Gemeinde zu Verona beherbergt werden durften.714 In der angesehenen Familie Colorni war Abramo keineswegs ein Außenseiter. Vielmehr gab es weitere Mitglieder der Familie Colorni, die sich im 16. und 17. Jahrhundert ihr Geld auf dem Marktplatz des Raren und Geheimen verdienten. Ein gewisser Isaaco da Colorni, offenbar ein Cousin Abramos,715 lieferte beispielsweise kostbares Kunsthandwerk und Edelsteine an die Gonzaga.716 Abramos Neffe Giuseppe Colorni arbeitete später im Dienste des Mantuaner Herzogs Carlo II. und besorgte, zeitweise von Genua aus, Gemälde und Kunstgegenstände.717 Ein gewisser Lazzaro Colorni – ein bisher unbekanntes Mitglied der Familie – wiederum genoß ausreichend Ansehen am Hof der Este, um 1616 eine Intervention des Este-Herzogs bei den Gonzaga in einer jüdischen Heiratssache zu erreichen.718 Einige Jahre zuvor – um 1600 – war Abramo Colornis Vetter namens Salomone mehrfach an der Organisation der aufwendigen Aufführungen des jüdischen Theaterensembles am Mantuaner Hofe beteiligt.719 Was das Prestige an Höfen betrifft, ist aber vor allem Abramo Colornis eigener Sohn Simone (Samuele) zu nennen. Die bisherhige Forschung hat dies vollkommen übersehen. Erst jüngst ist sogar die Ansicht vertreten worden, daß der einzige Sohn Abramo Colornis geistig zurückgeblieben sei (»mentalmente ritardato«) und ein bedauernswertes Dasein gefristet habe.720 Als Indiz für diese These wird eine seit langem bekannte, entsprechende Behauptung des Mantuaner Herzogs angeführt, mit der dieser nach Abramo Colornis Tod die Auslieferung des Sohnes nach Württemberg verhindern wollte. Daß es sich bei diesem Argument des Herzogs um eine taktische Lüge handelte, ist bisher nicht erwogen worden. Simone Colorni jedenfalls war mitnichten geistig zurückgeblieben. Vielmehr war er überaus vielseitig und geschäftstüchtig. 714 Konkret durften sie bei einem gewissen Gumprecht wohnen. Siehe Pinkas Kahal Verona (hebr.), hg. von Yakov Boksenboim, 3 Bde., Tel Aviv 1989–1990, hier Bd. 3, S. 120. 715 V. Colorni, Genealogia della famiglia Colorni, S. 648. 716 Gonzaga/Venedig II, Dok. 606. 717 Antonio Bertolotti, Artisti in relazione coi Gonzaga duchi di Mantova nei secoli XVI e XVII, Modena 1885, S. 163 sowie Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 656, Colorni, Genealogia della famiglia Colorni, S. 649. 718 Morselli, Este e Gonzaga, Dok. 4 (S. 52). Dieser Lazzaro findet sich nicht in den genealogischen Ausführungen bei V. Colorni, Genealogia della famiglia Colorni. 719 Siehe dazu weiter oben. 720 Toaff, Il prestigiatore di Dio, z. B. S. S. 33, S. 54, S. 202. Zurückgewiesen werden muß auch Toaffs Behauptung, es gebe nur sehr wenige Quellen zu Simone Colorni (ebd., S. 277). Das Gegenteil ist wahr. Selbst die weiter unten vorgestellten Funde aus dem ASMn dürften gewissermaßen nur die Spitze des Eisbergs darstellen.
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Simone trat zwar in vielerlei Hinsicht in die Fußstapfen des Vaters, aber er genoß einen ganz eigenen Ruf. So trug er am Mantuaner Hof den buchstäblich dunklen Beinamen Il Morino. Simones Biographie verdient – ausweislich der mir bisher bekannt gewordenen Quellen – in hohem Maße eine ausführliche Untersuchung. Die vorliegende Studie muß sich – um den gegebenen Rahmen nicht zu sprengen – mit einer ersten Skizze seiner bisher noch nie erforschten Karriere begnügen.721 Über Simones genaue Lebensdaten ist nichts bekannt,722 dafür jedoch manches über sein Heranwachsen. Der Vater jedenfalls kümmerte sich darum, daß sein Sohn über mehrere Jahre hinweg Unterricht aus renommierter Hand erhielt. Simones Lehrer war damals kein geringerer als der Rabbiner Angelo Alatini.723 Dieser ist der Nachwelt auch als Verfasser einer Pastoralkomödie mit dem Titel I trionfi (1575) bekannt. Alatinis Bildungshorizont, namentlich seine Kenntnisse der antiken Literatur, waren beträchtlich.724 In gewisser Weise ging Simone zudem auch beim eigenen Vater in die Schule. Daß Simone später eine Expertise in Fragen der Salpeterherstellung vorweisen konnte, haben wir weiter oben bereits ausführlicher dargestellt. Überdies sollte erwähnt werden, daß der Sohn vom Vater ebenfalls lernte, sich in der höfischen Welt und in der Ökonomie des Geheimen zu bewegen. Bereits als Jugendlicher hatte sich Simone zeitweise in Prag bei dem am Kaiserhof weilenden Vater aufgehalten und von dort Briefe an den Herzog von Mantua überbracht. Zudem besuchte er den Vater später am Stuttgarter Hof.725 Die früh erlernte Gewandtheit im Umgang mit Höfen war es wohl auch, die zur Karriere Simones maßgeblich beitrug. Zwar ist nicht nachweisbar, in welchem Jahr genau Simone in die Dienste der Gonzaga eintrat (und ob man überhaupt von einer festen Anstellung sprechen kann), spätestens aber seit den 1590er Jahren war Il Morino für die Gonzaga ein 721 Er begegnet in den Quellen sowohl unter dem Namen Samuele als auch (häufiger) unter dem Namen Simone. Zur Entsprechung dieser Vornamen unter italienischen Juden vgl. V. Colorni, La corrispondenza fra nomi ebraici e nomi locali, S. 675, S. 783–785, speziell zu Simone Colorni, vgl. ders., Genealogia della famiglia Colorni, S. 645. Der hier gemeinte Simone Colorni – also der Sohn Abramo Colornis – sollte nicht verwechselt werden mit dem damals im Geldgeschäft tätigen, ebenfalls in Mantua lebenden Verwandten »Simone di Moise«. Zu den Verwandtschaftsverhältnissen vgl. ebd., S. 646. 722 Sein Geburtsdatum dürfte in den 1570er Jahren liegen. 723 Aus unveröffentlichten Dokumenten im ASMo geht hervor, daß der Unterricht von den (jüdischen) Jahren 5342 [1582 n.d.Z.] bis 5346 [1586 n.d.Z.] erteilt wurde. ASMo, ASE, Ingegneri, b. 2. Wegen Gehaltsausstände des Lehrers mußte jedoch später ein Anwalt bemüht werden. 724 Vgl. Robert C. Melzi, Una commedia rinascimentale di Angelo Alatini. ›I trionfi‹, in: Italia. Studie e ricerche sulla storia, la cultura e la letteratura degli ebrei d’Italia 13–15 (2001), S. 343–356. Leon Modena kümmerte sich übrigens noch 1611 um die Herausgabe von Alatinis Trionfi, vgl. The Autobiography of a Seventeenth-Century Venetian Rabbi, hg. von M. Cohen, S. 126. 725 Friedrich I. von Württemberg an Vincenzo I. Gonzaga, 6. Mai 1598 (J-1891, S. 53). Die Fußstapfen des Daedalus
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unverzichtbarer Beschaffer von Informationen und Objekten verschiedenster Art, der das Vertrauen der Herzogsfamilie genoß. Erstmals begegnet er 1588 in der Korrespondenz der Gonzaga im Zusammenhang mit dem Ankauf eines kostbaren Edelsteins in Venedig.726 Il Morino erwarb sich rasch einen Ruf bei der Einschätzung kostbarer Objekte. So wurde er vom Herzog beispielsweise auch als Experte herangezogen, als es um die Niederlassung eines auswärtigen Steinschneiders und Juweliers in Mantua ging.727 Im Auftrag der Gonzaga besichtigte Il Morino im Jahr 1591 gemeinsam mit einem Neffen des Malers Tizian die teilweise zum Verkauf stehende Sammlung des verstorbenen Kardinals Pietro Bembo (1470–1547) und überbrachte dem Hof Zeichnungen antiker Kunstwerke.728 Bei der Überführung der Sammlung des Grafen Galeazzo Canossa nach Mantua spielte Colorni 1604 ebenfalls eine wichtige Rolle im Hintergrund. Die Gonzaga hatten sich damals nach langen Verhandlungen mit dem Grafen geeinigt, diese bedeutende Kunstsammlung zu erwerben. Der Preis war hoch. Der Graf erhielt neben einem Geldbetrag von nahezu 7.000 scudi auch das Lehen Cagliano im Monferrato sowie den Titel eines Marchese.729 Dafür gelangten durch das Geschäft einige Kunstwerke erster Güte nach Mantua, darunter L’adorante (eines der sehr seltenen Originale einer hellenistischen Bronzestatue, heute im Pergamonmuseum zu Berlin730) sowie eine »certa Madona antica«, bei der es sich um kein geringeres Gemälde als Raffaels Madonna della Perla handelte.731 An der Überführung der kostbaren Sammlung war Il Morino maßgeblich beteiligt, nachdem er bereits bei den Verhandlungen als Bote involviert gewesen war.732 Der Handel mit Edelsteinen, Kunstwerken und Luxusgütern blieb zeitlebens ein Schwerpunkt Simone Colornis.733 Sein Wirkungsfeld war dabei keineswegs auf Italien beschränkt. Vielmehr operierte er verschiedentlich auch am Kaiserhof in Prag, wo er bereits zu Lebzeiten seines Vaters Kontakte geknüpft haben dürfte. Nicht zuletzt der Mantuaner Botschafter am Kaiserhof kaufte die
726 Gonzaga/Venedig II, Dok. 13. 727 Dies erwähnt beiläufig Ferrari, La cancelleria gonzaghesca, S. 309–310. Vermutlich handelt es sich auch bei »messer Simone ebreo«, der 1608 im Zusammenhang mit Juwelengeschäften in Venedig erwähnt wird, um Il Morino, siehe Gonzaga/Florenz, Dok. 492. 728 Gonzaga/Venedig II, Dok. 106; 115; 117. 729 Gonzaga/Venedig II, S. 49. 730 Eine Abbildung bei Bertrand Jestaz, Bronzo e bronzetti nella collezione Gonzaga, in: Raffaella Morselli (Hg.), Gonzaga. La celeste galeria, Mailand 2002, Bd. 2, S. 313–329, S. 318. 731 Gonzaga/Venedig II, S. 49. 732 Gonzaga/Venedig II, Dok. 677; 681. 733 Gonzaga/Venedig II, Dok. 645 (Juwelen aus Venedig); Dok. 1031 (Gemälde); Dok. 1036 (Majolika). Siehe auch Antonio Bertolotti, Figuli, fonditori e scultori in relazione con la corte di Mantova nei secoli XV, XVI, XVII, Mailand 1890 [ND Bologna 1977], S. 44.
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am Prager Hof unverzichtbaren Bestechungsgeschenke, darunter Edelsteine, bei Simone Colorni.734 Neben dem viel Diskretion erfordernden Luxusgüterhandel konnte Il Morino jedoch auch eine Expertise auf den Gebieten der Alchemie und der Arkanmedizin vorweisen. Bereits 1595 hatte er durch einen jüdischen Boten von Venedig aus eine Ampulle mit einem geheimnisvollen Balsam (»ampolla di balsamo«) nach Mantua übersandt.735 Einige Jahre später (1603) überbrachte er aus Prag im Auftrag eines kaiserlichen Alchemisten eine Kiste mit verschiedenen Ölen (»ogli«), bei denen es sich offenbar teilweise um Medizinalien handelte.736 Diese Lieferung fand großen Zuspruch bei Vincenzo Gonzaga, der sich bereits kurz darauf durch einen ebenfalls jüdischen Kurier eine weitere Schatulle mit einigen dieser Ölen überbringen ließ.737 Nicht zuletzt befand sich in Simone Colornis Produktpalette auch eines der schlechthin begehrtesten ›Geheimnisse der Natur‹: das Einhorn bzw. das aus dessen Horn hergestellte Pulver.738 Der Mantuaner Botschafter am Kaiserhof war sogar überzeugt, daß ihm die prompte Verabreichung von Simone Colornis Einhornpulver nach einem nächtlichen Schlaganfall das Leben gerettet hatte.739 Der genesene Botschafter war nicht der einzige Zeitgenosse, der Il Morino Wertschätzung und Vertrauen entgegenbrachte. Die Herzogsfamilie Gonzaga riskierte – wie erwähnt – wegen ihrer Rückendeckung für Simone sogar Spannungen mit dem Herzog von Württemberg, als dieser den Sohn für die angeblichen Verfehlungen des Vaters Abramo zur Rechenschaft ziehen wollte. Am Mantuaner Hofe war man sich damals einig, daß Herzog Vincenzo I. höchstselbst sich auf ungewöhnliche Weise für Simone Colornis engagiert und die Auslieferung verhindert hatte.740
734 735 736 737
Gonzaga/Prag, Dok. 923. Gonzaga/Venedig II, Dok. 235. Gonzaga/Prag, Dok. 945. Dazu sowie zu den praktischen Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Auftrags vgl. Gonzaga/ Prag, Dok. 948; 950; 953; 967. 738 Siehe allgemein zu diesem Phänomen weiter oben das Kapitel zu Einhörnern. 739 Gonzaga/Prag, Dok. 1080. 740 So schrieb ein Hofbeamter, daß »A[ltezza] S[ua] […] in questo riguardo ha fatto meraviglie per rispetto di M. Morino«. Ferrando Pessia an Vincenzo I. Gonzaga, 14. März 1600, ASMn, AG, b. 2680. Zwar wurde Simone Colorni im selben Jahr noch einmal auf Drängen des württembergischen Herzogs in Mantua inhaftiert. Wie oben bereits erwähnt, läßt sich aus Il Morinos weiterem Lebensweg ersehen, daß die Frage der Auslieferung schließlich im Sand verlaufen sein muß. Die Fußstapfen des Daedalus
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Wer war Abramo Colorni? In den Entwürfen zu einem der rätselhaftesten Werke der modernen Literaturgeschichte stoßen wir auf einen ebenso überraschenden wie kryptischen Eintrag: »scotographia /–scribia«, schrieb James Joyce in eines der Notizbücher für sein letztes großes Werk Finnegans Wake (1939).741 War dies ein Zufall, oder wußte Joyce tatsächlich von dem jüdischen professore de’ secreti Abramo Colorni, dessen kryptographische Abhandlung aus dem Jahre 1593 mit der ansonsten nirgendwo nachweisbaren Wortschöpfung Scotographia betitelt war? Diese Frage ist bisher nicht gestellt worden und wird sich wohl nie mit Gewißheit beantworten lassen. Gleichwohl ist die Spekulation nicht abwegig. Denn wir wissen, daß sich der Universalist Joyce für seine Romane nicht zuletzt von Namen und Ereignissen aus der jüdischen Geschichte inspirieren ließ, so etwa in Ulysses, wo sich kenntnisreiche Anspielungen auf die jüdische Mystik der Renaissance finden.742 Daß Colornis Werk dem unermüdlichen Leser Joyce zumindest dem Titel nach bekannt war – sei es aus der Sekundärliteratur, sei es aus einem Bibliothekskatalog – ist durchaus plausibel. Immerhin hatte der irische Schriftsteller nach 1900 kurzzeitig in Italien (Rom) gelebt. Im Falle des Romans Finnegans Wake zeigt sich die Vertrautheit des Autors mit dem Kosmos der italienischen Frühen Neuzeit schon darin, daß der Grundaufbau des Werkes in markanter Weise von der Philosophie Giambattista Vicos beeinflußt ist.743 Zudem finden wir auch in Finnegans Wake Anspielungen auf das Judentum. So könnte man dieses ebenso schalkhafte wie experimentelle Opus, das keine Handlung im herkömmlichen Sinn hat und Worte aus nahezu siebzig Sprachen verwendet, beispielsweise als eine »farced epistol to the hibruws« lesen – ein im Roman begegnendes Wortspiel, das Anleihen beim Neuen Testament nimmt (»first epistle to the Hebrews«).744 Allerdings müßte sich – wenn unsere Hypothese zutrifft – Joyce nicht notwendigerweise für Colorni als Juden interessiert haben. Wenn der Schriftsteller tatsächlich auf die Kryptographie des Mantuaner Juden aufmerksam wurde, dann vermutlich vor allem wegen der titelgebenden Idee einer ›Dunkelschrift‹ (so die deutsche Übersetzung des Wortes 741 Vgl. Daniel Ferrer, Wondrous Devices in the Dark, in: Luca Crispi/Sam Slote (Hg.), How Joyce Wrote Finnegans Wake. A Chapter-by-chapter Genetic Guide, Madison 2007, S. 410–435, hier S. 424; sowie S. 434, Anm. 32. 742 Vgl. Saverio Campanini, A Neglected Source Concerning Asher Lemmlein and Paride da Ceresara: Agostino Giustiniani, in: European Journal of Jewish Studies 2 (2008), S. 89–110, hier S. 109–110. 743 Dazu jetzt z. B. Luca Crispi/Sam Slote/Dirk van Hulle, Introduction, in: Luca Crispi/Sam Slote (Hg.), How Joyce Wrote Finnegans Wake. A Chapter-by-chapter Genetic Guide, Madison 2007, S. 3–48, hier S. 19, S. 22. 744 James Joyce, Finnegans Wake, London etc. 1999 [11939], S. 228. Vgl. hierzu auch Introduction von John Bishop in dieser Ausgabe (S. vii–xxv, hier S. viii). Bishop weist in diesem Kontext darauf hin, daß Joyce hier ebenfalls Assoziationen mit philisterhaften »highbrows« sowie mit der Kneipenatmosphäre des Trinkspruchs »to the high brews« einkalkuliert.
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»Scotographia«). Denn die Bedeutung der Dunkelheits- und Traumsymbolik für den Roman Finnegans Wake kann, wie bereits der Autor selbst bekannte, kaum unterschätzt werden.745 Vor ebendiesem Hintergrund muß Joyces Interesse an dem Begriff ›Dunkelschrift‹ wohl gesehen werden, obgleich der Schriftsteller bei der Niederschrift des Romans nicht mehr auf die entsprechende Eintragung im Notizbuch zurückkam. Und selbst wenn es doch der Zufall war, der bei Joyces Notiz die Hand im Spiel hatte: Es bleibt jedenfalls eine Ironie der Geschichte, daß die Möglichkeit einer Assoziation mit Colorni – dem von den Zeitgenossen vielgerühmten professore de’ secreti – ausgerechnet in jenem Roman in der Luft liegt, der treffend als eine unerreichte literarische ›Kompilation arkaner Materialien‹ bezeichnet worden ist.746 Geheimnis und Arkankompetenz sind in der Tat Schlüsselbegriffe, um Colornis Biographie zu verstehen. Blickt man auf Colornis Biographie, so kann nicht übersehen werden, daß seine Karriere fast die gesamte Bandbreite der Ökonomie des Geheimen ausschöpfte – von militärischen Erfindungen über den Handel mit Curiosa und die Beschäftigung mit divinatorischen Praktiken bis hin zur Magie und zu Kartentricks. Dies könnte leicht den Eindruck erwecken, Colorni sei bei der Wahl seiner Aktivitäten ziellos und beliebig vorgegangen – mithin also einer jener opportunistischen Scharlatane gewesen, als den ihn später einige Historiker portraitiert haben. Um seinen Nachruhm in der Geschichtswissenschaft ist Colorni durchaus nicht zu beneiden. Damit ist nicht nur das Faktum gemeint, daß er weitgehend in Vergessenheit geraten ist (in den maßgeblichen Werken zur jüdischen Magie, Alchemie und Esoterik wird er beispielsweise überhaupt nicht genannt). Mehr noch: Colornis Biographie fristet dort, wo sie doch einmal erwähnt wird, in der Regel das Schicksal einer kuriosen Episode. Insgesamt lassen sich drei Stränge der Annäherung an Colorni in der bisherigen Forschung unterscheiden. Zunächst einmal ist die lokalgeschichtliche Forschung zu betrachten. In Veröffentlichungen zur jüdischen Geschichte in Böhmen und vor allem in Württemberg firmiert Colorni nicht selten schlichtweg als Zauberer und Scharlatan. Bereits 1788 nannte der Historiker Friedrich Wilhelm Moser ihn einen »Cagliostro«.747 Eine populäre Stuttgarter Sagensammlung aus dem Jahre 1875 kannte den jüdischen Hofalchemisten Friedrichs I. nur noch unter dem verzerrten Namen »Calome«, brachte dafür aber das von den Quellen in keiner Weise gedeckte, abwegige Gerücht in Umlauf, Colorni habe ein silbernes, gestif-
745 Ferrer, Wondrous Devices in the Dark, passim. Bishop, Introduction, v. a. S. xiv–xvi. 746 Bishop, Introduction, S. viii. 747 Friedrich Wilhelm Moser, Der Fürst zwischen seinem Hofprediger und Cabinets-Juden, in: Patriotisches Archiv für Deutschland 9 (1788), S. 245–286, hier S. 249. Wer war Abramo Colorni?
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tetes Jesusbild aus der Spitalkirche gestohlen.748 Es kann also nicht erstaunen, daß Colorni auch in einem Exkurs in Lion Feuchtwangers populärem historischen Roman Jud Süß als eher dubiose Figur begegnet.749 Ein Zauberer sei Colorni gewesen, heißt es schließlich noch in einer verdienstvollen lokalgeschichtlichen Studie zur Geschichte der Juden in Stuttgart aus dem Jahre 1964.750 Von dieser Sicht unterscheidet sich dezidiert der zweite historiographische Strang, der sich vor allem in Übersichtsdarstellungen zur jüdischen Geschichte in der Frühen Neuzeit findet. In diesem Kontext wird Colorni zum jüdischen Renaissancemenschen,751 ja sogar zum ›jüdischen Leonardo da Vinci‹ erklärt.752 Diesem Strang lassen sich, allgemein gesprochen, jene Studien zuordnen, in denen – oft in anekdotischer Weise – einzelne Details aus Colornis Biographie aus dem Zusammenhang gerissen werden, um zu belegen, daß die Juden bereits in der Vormoderne auf den verschiedensten Gebieten ›Beiträge‹ geleistet haben. So tauchte Colorni Anfang des 20. Jahrhunderts als angeblicher jüdischer Vater des automatischen Gewehrs sowie als Erfinder »nützlicher Dinge« gelegentlich in mancher jüdischen Ehrengalerie auf.753 Sogar in der Kategorie ›Juden als Schiffsbauer‹ hat der jüdische Ingenieur – aufgrund der Panegyrik bei Garzoni – einen Platz gefunden.754 Mitunter konnte solch eine Idealisierung Colornis zu fragwürdigen Instrumentalisierungen führen. Als sich in den 1930er Jahren im faschistischen Italien die Lage der Juden zunehmend verschärfte, erhoffte sich die rechtsgerichtete jüdische Zeitschrift La nostra bandiera – die offen mit dem Faschismus Mussolinis sympathisierte – nicht zuletzt durch einen Artikel über Colorni, den Beitrag der Juden zur italienischen Geschichte zu verdeutlichen.755 748 Friedrich Nick, Stuttgarter Chronik und Sagenbuch. Eine Sammlung denkwürdiger Begebenheiten, Geschichten und Sagen der Stadt Stuttgart und ihrer Gemarkung, Stuttgart 1875, S. 217. Die von Nick im Vorwort angekündigte Methode, die Quellen »meinem Zwecke an[zu]passen«, wird hier augenfällig: Die meisten zu Colorni angeführten Quellenzitate sind nachweislich frei erfunden. 749 Lion Feuchtwanger, Jud Süß, Berlin etc. 1991, S. 158. 750 Maria Zelzer, Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden, Stuttgart 1964, S. 18. 751 Salo Wittmayer Baron, A Social and Religious History of the Jews, 18 Bde., Philadelphia 21958, hier Bd. 12, S. 80. 752 Adler, Abraham Colorni, S. 16. 753 Vgl. z. B. die Erwähnung bei Max Grunwald, Die Juden als Erfinder und Entdecker, in: Ost und West, 9 (1913), S. 755–756. Siehe auch den Eintrag Abraham Colorni, in: Salomon Wininger, Große Jüdische National-Biographie, Cernăuti 1925–1936, Bd. 1, S. 586–587. Zu einem ›bedeutenden Gelehrten‹ wird Colorni in der jiddischen Abhandlung von Ignacy Sziper, Geszichte fun idiszer teater-kunst un drame, Warschau 1923, S. 38; siehe auch Steinschneider, Mathematik bei den Juden, in: MGWJ 1 (1905), S. 88–89; 2 (1905), S. 193; 3 (1905), S. 300–301. 754 Max Grunwald, Hamburgs deutsche Juden bis zur Auflösung der Dreigemeinden 1811, Hamburg 1904, S. 216. 755 L’ingegnere e arcanista Colorna [sic], in: La nostra bandiera vom 1. Februar 1937. Den Hinweis auf diesen Artikel, der trotz intensiver Recherchen nicht eingesehen werden konnte, entnehme ich N. N., Lemma Abramo Colorni, in: Isaac Landman (Hg.), The Universal Jewish Encyclopedia, 10
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Diese oft unkritische Sicht auf Colorni geht wohl im wesentlichen auf die Wissenschaft des Judentums des 19. Jahrhunderts zurück. Bei Vertretern dieser Prägung finden sich in der Tat kursorische Verweise auf Colorni, wobei – ausgehend von den Colorni-Studien des Ferrareser Rabbiners Giuseppe Jarè – die alchemische Tätigkeit eher marginalisiert wurde. Jarè (1840–1915) hatte im späten 19. Jahrhundert eine biographische Miniatur und Quellensammlung zu Colorni vorgelegt, die für den Forscher bis heute unverzichtbar ist, wenngleich sich inzwischen zahlreiche weitere Archivquellen auffinden ließen. Der historisch interessierte Rabbiner Jarè stand seinem Forschungsansatz nach der Programmatik der deutschen Wissenschaft des Judentums nahe. Er sah in Colorni allerdings vor allem einen bedeutenden Italiener (»un italiano, illustre a’ suoi tempi e meritevole di gloria anche ai nostri«).756 Ein solcher ostentativer italienischer Patriotismus spielte in Deutschland dagegen naturgemäß kaum in das Interesse an Colorni hinein. Für einen der prominentesten Köpfe der deutschsprachigen Wissenschaft des Judentums, den Bibliographen und Orientalisten Moritz Steinschneider, zählte Colorni vielmehr in erster Linie zu den Vertretern der »Mathematik bei den Juden«.757 Steinschneider rechnete Colorni zu jener Gruppe von jüdischen Intellektuellen im Italien des 16. Jahrhunderts, die in »selbständiger« Weise über »wissenschaftliche Gegenstände [schrieben], wie sie Deutschland vor Mendelssohn nicht aufzuweisen hat, abgesehen von jüdischen Stoffen«.758 Somit war Colorni für die ›Vorgeschichte‹ der vernunftorientierten Haskala gerettet. Das noch ausgewogenste Urteil dieser Epoche zu Colorni verdankt sich dem bedeutenden Judaisten David Kaufmann, der im Jahr 1898, wenngleich eher beiläufig und nicht ohne Burckhardt’sche Einflüsse feststellte, daß Colorni »die Vielseitigkeit der italienischen Renaissance als Baumeister, Alchymist und Kenner der jüdischen Literatur wie in einem Bilde zeigt«.759 Schließlich ist ein dritter und letzter historiographischer Strang zu nennen, der vor allem in jüngeren Darstellungen zur jüdischen Geschichte Italiens begegnet. Dabei wird Colorni als schillernder Abenteurer oder als ›halb Genie und halb
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Bde., New York 1941, hier Bd. 3, S. 305–306. Allgemein zu der jüdisch-faschistischen Zeitschrift La nostra bandiera vgl. Alexander Stille, An Italian Jewish-Fascist Editor. Ettore Ovazza and L a Nostra B andie ra, in: Robert Moses Shapiro (Hg.), Why Didn’t the Press Shout? American and International Journalism During the Holocaust, Jersey City 2003, S. 317–331. J-1891, S. 6. Jarè war mit seinem Stolz auf Colorni nicht allein in Italien, siehe z. B. Leone Ravenna, Abramo Colorni, Ingegnere di Alfonso d’Este [Rezension von Jarès Abramo Colorni (1891)], in: Il vessillo israelitico 40 (1892), S. 38–41. Steinschneider, Mathematik bei den Juden, v. a. 1 (1905), S. 88–89 Moritz Steinschneider, Allgemeine Einführung in die jüdische Literatur des Mittelalters, in: Jewish Quarterly Review 16 (1904), S. 734–764, hier S. 748. David Kaufmann, Leone de Sommi Portaleone, der Dramatiker und Synagogengründer von Mantua, in: Allgemeine Zeitung des Judentums vom 24. Juni 1898, S. 296–298, hier S. 297–298. Wer war Abramo Colorni?
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Scharlatan‹ bezeichnet.760 Es ist jedoch fraglich, inwieweit dies mehr als griffige Formeln sind, die letztlich eine Festlegung vermeiden. Die vorliegende Studie schließt sich in ihrem Blick auf Colorni keiner der drei genannten historiographischen Traditionen an. Colorni war meines Erachtens weder Genie noch Scharlatan, noch jüdischer Leonardo. Wie aber kann der Historiker dann dem Phänomen Colorni gerecht werden? Es soll hier die These aufgestellt werden, daß Colorni sich dezidiert in der Rolle eines frühneuzeitlichen professore de’ secreti sah, mit der er ein spezifisches (salomonisches) Ethos verband. Dieses self-fashioning schlug sich, wie bereits gezeigt worden ist, nicht zuletzt in Colornis eigenen Schriften nieder. Jedoch sprechen auch die Quellen der Zeitgenossen über Colorni dieselbe Sprache. So läßt sich beispielsweise nirgends in den Quellen aus der Prager Zeit eine eindeutige Berufsbezeichnung für Colorni nachweisen – weder firmierte er primär als Alchemist (oder, wie es damals oft hieß, als »Hofdestillierer«) noch als Ingenieur. Auf den Punkt brachte es vielmehr der venezianische Botschafter am Kaiserhof, als er in die Heimat berichtete, daß Colorni vom Kaiser als eine Person geschätzt und bezahlt werde, die ›viele bedeutsame Geheimnisse hat‹ (»provisionato dall’Imperatore come persona ch’ha molti secreti importanti«).761 Ebenso sah man es auch am Hof der Medici in Florenz. Als Colorni sich 1592 von Böhmen aus an die Medici wandte, um ein Privileg für seine gedruckten Werke zu erhalten, kam man am Florentiner Hof – nach Rücksprache mit dem Botschafter in Prag – zu dem Ergebnis, daß es sich um einen »huomo molto virtuoso« handle, der ›verschiedene natürliche Geheimnisse kennt und daher dem Kaiser recht willkommen ist‹.762 Bereits in Italien war Colorni de facto in all den Jahren seiner Anstellung mehr als nur ein Ingenieur (obgleich sich für Ferrara nur dieser Titel nachweisen läßt). Umgekehrt sah er sich gewiß nicht in erster Linie oder gar ausschließlich als Magus, wenngleich er zeitlebens gerne auf die Vorführung magischer Kunststücke zurückgriff, um sein Publikum oder seine Mäzene zu beeindrucken. Man muß, wie wir gesehen haben, nur Colornis Euthimetria aufschlagen, um dort beispielsweise ingenieurtechnische Beschreibungen aus seiner Feder zu finden, die kaum mit 760 Simonsohn, Jews in the Duchy of Mantua, S. 650. Den abenteuerlichen Charakter rückt Toaff – bereits im Untertitel – in den Mittelpunkt: Il prestigiatore di Dio. Avventure e miracoli di un alchimista ebreo nelle corti del Rinascimento. 761 Giovanni Dolfin an den Dogen, 10. Dezember 1591 (J-1891, S. 33) 762 So schrieb der mit der Prüfung beauftragte Beamte: »Io non ho visto quest’opere, ma pare siano per esser grate à virtuosi, et l’Ambasciatore di corte cesarea mi fa fede, che quest’huomo sia molto virtuoso, et habbia cognitione di varij secreti naturali, et […] sia assai accetto all Imperatore al quale fu mandato gia dal Duca di Ferrara«. Gutachten vom 27. Februar 1592, ASF, Auditore delle riformagioni, filza 18, fol. 953r–v.
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Ein jüdischer professore de’ secreti
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der Sprache eines Magus vereinbar gewesen wären. Es wäre allerdings ebenso irreführend zu meinen, Colorni habe sich – sei es aus Opportunismus oder aus Frustration – erst im Laufe der Jahre vom ›seriösen Naturforscher‹ zum Magus gewandelt. In Wahrheit ergänzten sich von Anfang an die verschiedenen Expertisen und überschnitten sich oftmals. In Colornis Verständnis von Mathematik lassen sich Einflüsse von okkultem Denken finden, seine Magie wiederum war nicht zu trennen von dem Anspruch einer scientia. Der rote Faden, der dabei die verschiedenen Kompetenzen verband, war Colornis Fähigkeit, mit Geheimnissen umgehen zu können. Bereits Garzoni schätzte zwar die Mannigfaltigkeit von Colornis Interessen und Fähigkeiten. Die all die verschiedenen Wissensgebiete übergreifende Meisterschaft Colornis lag jedoch in seiner Expertise in der Ökonomie des Geheimen. Der bewunderte Jude war, in Garzonis Worten, ein ›Meister der Geheimnisse‹.763 Namentlich Colornis Chirofisionomia und Scotographia bilden – in diesem Licht betrachtet – letztlich zwei Seiten derselben Medaille, nämlich der übergreifenden Beschäftigung mit Geheimnissen. Während der Chiromant die Geheimnisse der Zukunft und des Charakters aus der Form und den Linien der Hand zu lesen versucht, so bemüht sich hingegen der Kryptograph darum, die Geheimnisse der Kommunikation zu ver- oder zu entschlüsseln. Diese Gemeinsamkeit im Arkanen wird um so plausibler, wenn man bedenkt, daß damals das Deuten und ›Lesen‹ von physiognomischen Merkmalen in der Tat als eine spezielle Spielart der Kunst des Dechiffrierens gelten konnte.764 Der professore de’ secreti Colorni konnte – im übertragenen Sinne – mehrere Sprachen sprechen, darunter die des Ingenieurs, die des Magus und die des Höflings. Aber er mußte auch darauf bedacht sein, sich von jenen Rollen, die er nicht spielen wollte, deutlich abzugrenzen. Eine Rolle, mit der Colorni nicht in Verbindung gebracht werden wollte, war eindeutig die des marktschreierischen Scharlatans, wie sie im damaligen Italien weit verbreitet war und übrigens auch von Juden ausgeübt wurde.765 Colorni selbst bemerkte gegen Ende seines Lebens nicht ohne einen gewissen Dünkel, daß er kaum eine solch große Zahl hochadliger und vornehmer Patrone für sich hätte einnehmen können, wenn seine Künste lediglich auf Lug und Trug basierten.766 Zwar beherrschte auch Colorni durchaus die 763 »Potete andare altiero sì d’esser l’unico al mondo secretario di natura, et mastro di secreti pellegrini et rari«, so Garzoni, Piazza universale, Bd. 1, S. 21. 764 »Man lerne ein Gesicht entziffern [descifrar] und aus den Zügen die Seele herausbuchstabieren«, empfiehlt beispielsweise Baltasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart 1992, Nr. 273 (Hervorhebung D.J.). 765 Siehe dazu jetzt v. a. David Gentilcore, Medical Charlatanism in Early Modern Italy, Oxford 2006. 766 »[…] s’io fossi huomo, ch’io andassi con bugie, et simulationi, che non si può già credere, ch’io havessi tenuti per Padroni cosi lungo tempo cosi gran Principi, et cosi Nobili intelletti«, so Colorni an Aderbale Manerbio, 5. Mai 1598. ASMn, AG, b. 475, fol. 528r. Wer war Abramo Colorni?
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Fähigkeit zur theatralischen Inszenierung, wie sie unter den oftmals auf Bühnen agierenden Scharlatanen so ausgeprägt war. Sein Wissen war aber mehr – es war, in seinen Augen, ausdrücklich ein Geschenk Gottes und kein Sammelsurium zufällig zuammengeklaubter Geheimnisse. Colorni benützte – ebenso wie beispielsweise Della Porta767 – häufig gezielt den Begriff »scienza«, wenn er von seinem eigenen Wissen und seinen Künsten sprach. Die Geheimnisse, die er anbot, hatte er forschend der Natur abgerungen, teilweise waren sie ihm sogar direkt von Gott eingegeben worden.768 Colorni wünschte sich ein staunendes Publikum, aber keines das vom Aberglauben gebannt war oder das er zuvor mit Beschwörungen einschüchtern mußte. Wenn Colorni nicht mit dem Teufel und dessen Künsten zusammengebracht werden wollte, dann mußte er in der Tat darauf pochen, daß er sein Wissen auf natürliche und systematische Weise erworben hatte. Die Rolle des professore de’ secreti bot sich hier an. Nicht daß die Kriterien für diesen noch relativ jungen Beruf fest definiert gewesen wären. Aber es gab Beispiele, an denen man sich orientieren konnte – vor allem dasjenige Della Portas. Es dürfte kein Zufall sein, daß Colornis Karriere immer wieder Merkmale aufweist, die an Della Portas Biographie erinnern (und umgekehrt wäre es interessant herauszufinden, was Della Porta über den jüdischen Kollegen und Zeitgenossen wußte). Als Gemeinsamkeiten zu erwähnen sind hier vor allem die Veröffentlichung einer kryptographischen Abhandlung, das Plädoyer für eine ›wissenschaftliche‹ magia naturalis, die intensive Beschäftigung mit der Nutzanwendung von Spiegeln sowie schließlich die Art und Weise der Annäherung an die Physiognomik bzw. Chiromantie. Daß Della Porta und Colorni sich persönlich kannten, ist nicht auszuschließen.769 Immerhin unterhielt der neapolitische Geheimniskundige im späteren 16. Jahrhundert gute Kontakte zur Familie d’Este, namentlich zum Kardinal Luigi d’Este. Colornis Karriere war also fraglos von Einflüssen aus der christlichen Welt – wie am Beispiel Della Portas veranschaulicht wurde – geprägt. Es waren schließlich auch christliche Fürsten, denen er einen großen Teil seiner Aufträge verdankte. Gewiß profitierte Colorni bei seiner Karriere insgesamt davon, daß die christliche Welt den Juden eine ebenso genuine wie generelle Arkankompetenz zuschrieb. War Colorni also lediglich ein jüdischer Nachahmer Della Portas? Machten sich – zugespitzt gefragt – Juden, die wie Colorni ihr Geld in der Ökonomie des Gehei-
767 Vgl. Kodera, Der Magus und die Stripperinnen, passim. 768 »L’inventioni, et Secreti di qualche valore, che il Signor Iddio mi ha concesso di sapere investigare et trovare di proprio giuditio […]«, so Colorni an Giovanni Dolfin, 21. November 1592. HHStA, Staatenabteilung, Italien, Venedig, Dispacci di Germania 19, fol. 319r. 769 Dies schließt natürlich nicht aus, daß es auch eine gewisse Rivalität zwischen Colorni und Della Porta gegeben haben könnte, wie Eileen Reeves vermutet. Reeves, Galileo’s Glassworks, S. 71.
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Ein jüdischer professore de’ secreti
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men verdienten, lediglich eine Nische zunutze, die ihnen von christlicher Seite konzediert wurde? Dies sind entscheidende Fragen, auf die im Schlußkapitel noch zurückzukommen sein wird. Ich glaube, sie können aber bereits an dieser Stelle entschieden verneint werden. Es war durchaus nicht so, daß Colornis seine Entscheidung für die Ökonomie des Geheimen traf, weil ihm der Weg an die Universität versperrt gewesen wäre. Im Gegenteil: Wir haben weiter oben gesehen, daß Colorni die Universität zu Ferrara besucht hat und von mindestens einem der christlichen Professoren sehr beeindruckt war. Colorni hätte damals in Ferrara als Jude sogar einen akademischen Abschluß erreichen oder aber – unter noch leichteren Bedingungen – im nahen Padua das Medizinstudium aufnehmen können. Bezeichnend ist zudem, daß auch Abramos Sohn unbeirrt in die Fußstapfen des Vaters trat und seinerseits zu einem gefragten Experten in der Ökonomie des Geheimen wurde. Abramo Colorni blieb Jude – sein ganzes Leben lang. Für seinen beruflichen Weg war das kein Hindernis. Im Gegenteil, es verlieh ihm Glaubwürdigkeit in der Ökonomie des Geheimen. Doch war es eben nicht nur die christliche Imagination, sondern auch die jüdische Tradition selbst, aus der Colorni Legitimation für sein Wirken als professore de’ secreti bezog. Von zentraler Bedeutung war hierbei, wie wir gesehen haben, der Rekurs auf den biblischen König Salomo. Colorni bezog sich immer wieder auf den weisen, legendenumrankten Herrscher. Colorni zitierte König Salomo an Schlüsselstellen in seinem Werk und genoß zudem eine Reputation als Übersetzer der Clavicula Salomonis, also ebenjenes Werkes, das in der Frühen Neuzeit das Bild des biblischen Königs als Magus und Geheimniskundiger entscheidend prägte. Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, daß der Prager Hof dem Mantuaner Juden, wie er schrieb, als eine Art neuzeitliche Wiedergeburt des salomonischen Kosmos erschien – an der Spitze auch hier ein Herrscher, der das Wissen von sämtlichen Geheimnisse der Welt erlangen wollte. Colorni war bei weitem nicht der einzige Jude dieser Epoche, der im König Salomo ein Vorbild für die eigene Beschäftigung mit der Natur sowie mit ihren verborgenen Kräften und Geheimnissen sah. Gewiß kann man in dieser Arkanisierung und Idealisierung des Königs Salomo – zumal in seiner Überhöhung zum Magus – einen Versuch sehen, auf jüdischer Seite einen eigenen, konkurrenzfähigen Gegenentwurf zur heidnischen Figur des Hermes Trismegistos zu erschaffen. Für Colorni selbst bot der König Salomo somit nicht nur eine Chance zur Identifikation, sondern auch zur Distinktion. Der Rekurs auf Salomo ermöglichte Juden wie Colorni, in der weitverzweigten und komplexen frühneuzeitlichen Ökonomie des Geheimen eine genuine und vielversprechende Rolle als Hüter und Erbe des salomonischen Wissens zu beanspruchen und zu übernehmen.
Wer war Abramo Colorni?
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VI. Kapitel Konjunktur und Krise des Geheimnisses: Vom Umbruch des Wissens
Die Frühe Neuzeit war das Zeitalter des Geheimnisses. Selten zuvor und niemals danach hat es in der europäischen Geschichte eine solch ausgeprägte Faszination für Geheimnisse und Geheimhaltung aller Art gegeben. Bei den vielen verschiedenen arcana und secreta, die den Kosmos der Vormoderne erfüllten, handelte es sich allerdings bei weitem nicht nur um Gegenstände, die eine ehrfürchtige Kontemplation verlangten und dem Alltag entzogen waren. Geheimnisse konnten vielmehr Tag für Tag gehandelt, getauscht, ausgestellt, aufgeschrieben – oder einfach nur vielsagend und absichtsvoll angedeutet werden. Schauplatz für diese permanente Zirkulation und Kommunikation von verborgenem, oftmals ›nützlichem‹ Wissen war jene Sphäre, die wir eingangs als Ökonomie des Geheimen bezeichnet haben. Die jüdische Minderheit spielte – gemessen an ihrem äußerst kleinen Anteil an der damaligen Gesamtbevölkerung – eine überragende Rolle in ebendieser Ökonomie des Geheimen. Vor diesem Hintergrund gilt es abschließend die Frage zu stellen, welche Implikationen das in der vorliegenden Studie ausgebreitete Material und die aus ihm entwickelten Thesen für die Wissenschafts- und Kulturgeschichte, nicht zuletzt aus jüdischer Sicht, haben können. Die hier umrissene, beträchtliche Rolle von Juden in der Ökonomie des Geheimen läßt Zweifel daran aufkommen, ob das vorgestellte Material im Rahmen von traditionellen Narrativen der Wissenschaftsgeschichte befriedigend gedeutet werden kann. Dies gilt beispielsweise für das Narrativ vom ›Beitrag‹ der Juden zur ›Wissenschaft‹. Es stellt sich zudem – in einem daran anknüpfenden Abschnitt – die Frage, was aus dem hier geschilderten Phänomen für die allgemeine Sicht auf jenen Prozeß resultiert, der oft als ›Wissenschaftliche Revolution‹ bezeichnet wurde und wird. Dabei muß auch geprüft werden, ob es – wie manche meinen – tatsächlich die Überzeugungskraft revolutionärer epistemischer Paradigmenwechsel war, die der ›Neuen Wissenschaft‹ gesamtgesellschaftlich (und speziell unter einer Gruppe wie den Juden) die Bahn brach. Oder ob sich nicht vielmehr gravierende Verschiebungen innerhalb der lebensweltlichen Parameter vollziehen mußten, bevor die Ökonomie des Geheimen an Bedeutung verlor. Es geht hier wohlgemerkt nicht darum, die bereits für Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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verschiedene Religions- und Konfessionsgruppen (namentlich die Puritaner und die Jesuiten) ausgiebig geführte Diskussion über den Zusammenhang zwischen Religion und Wissenschaft neu aufzurollen. Unser Augenmerk gilt also nur am Rande den Fragen, ob es – am Beispiel des Judentums – für die Verbreitung der ›Neuen Wissenschaft‹ eines Zurückdrängens der Religion bedurfte oder ob es innerhalb der Religion spezifische begünstigende Faktoren gab. Man wird meines Erachtens beide Fragen nicht emphatisch bejahen können. Das Augenmerk richtet sich hier vielmehr auf das breite Feld von Möglichkeiten, das sich abseits – also nicht notwendigerweise unterhalb – der Schwelle zu jenen Institutionen eröffnete, an denen die Vorstellung von einer offenen Zirkulation des Wissens propagiert, wenngleich nicht immer gleichermaßen entschieden praktiziert wurde. Bei alledem werden wir nicht aus den Augen verlieren, daß es zwischen beiden Sphären – der geheimen und der offenen – in der Praxis durchaus Verstrebungen und Austauschprozesse gab.
Die Historiographie und das ›kontributorische Narrativ‹ Über die Frage, ob und inwieweit Juden zur ›Wissenschaftlichen Revolution‹ ›beigetragen‹ haben, ist viel geschrieben worden. Es ist daher notwendig, zunächst die wichtigsten Positionen und Argumente in dieser bis heute anhaltenden Debatte wiederzugeben und kritisch zu diskutieren. Für die deutschsprachige Wissenschaft des Judentums im 19. und frühen 20. Jahrhundert fiel die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von Juden für das Aufkommen der modernen Wissenschaft – wie bereits angedeutet1 – vergleichsweise leicht. Viele Vertreter der Wissenschaft des Judentums teilten die Absicht, den jüdischen wie vor allem den nicht-jüdischen Zeitgenossen einen angeblich schon immer im Judentum vorhandenen fortschrittlichen und der Vernunft verpflichteten Forschergeist vor Augen zu führen.2 Man kann dieses Phänomen als ›kontributorisches Narrativ‹ bezeichnen.3 Es entfaltete eine beträchtliche Wirkung und führte beispielsweise, wie Raphael Patai zutreffend festgestellt hat, zu einem ausgesprochen »anti-alchemical approach of modern Jewish scholars«.4 Denn in dieser vernunftorientierten Auffassung von jüdischer Geschichte spielte die Erforschung von als peripher oder esoterisch abgetanen Feldern wie Alchemie, Kabbala und Magie kaum eine Rolle. Um die Wende zum 1 2 3 4
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Siehe das Kapitel »Die Fußstapfen des Daedalus«. Vgl. dazu auch Michael Brenner, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, v. a. S. 203–207. Vgl. auch Jeremy Cohen/Richard I. Cohen (Hg.), The Jewish Contribution to Civilization. Reassessing an Idea, Oxford 2008. Raphael Patai, The Jewish Alchemists. A History and Source Book, Princeton 1994, S. 9. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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20. Jahrhundert konnte der bedeutende Bibliograph und Orientalist Moritz Steinschneider (1816–1907), zweifellos einer der besten Kenner der jüdischen Literatur, das ebenso einseitige wie apodiktische Urteil fällen, einen nennenswerten jüdischen Beitrag zur Alchemie habe es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Steinschneider sah in der Alchemie »Unsinn« und im »Mangel alchemistischer Schriften bei den Juden« einen Vorteil des Judentums.5 Selbst sein jüngerer Zeitgenosse Max Grunwald (1871–1953), der mit der Wissenschaft des Judentums nicht immer auf einer Linie lag und sich große Verdienste um die Begründung einer jüdischen Volkskunde erwarb, schrieb insbesondere Maimonides das Verdienst zu, den »Kern des Judentums gegen jede abergläubische Wucherung« bewahrt zu haben. Aberglauben und Volksglaube verortete Grunwald in diesem Sinne vor allem an der »Peripherie« des jüdischen Alltags.6 Steinschneider und Grunwald übersahen in diesem Fall (wie viele ihrer Kollegen aus der Wissenschaft des Judentums), was sie nicht sehen wollten: Denn den historisch versierten, aufgeklärten »Staatsbürgern jüdischen Glaubens« war die Erforschung mystischer und arkaner Praktiken unter den Juden vergangener Zeiten höchst suspekt. Die Ergebnisse der wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen solcher Prägung sind zwar als Materialsammlungen teilweise nach wie vor einschlägig und nützlich, ihre Titel (wie etwa Die Mathematik bei den Juden oder Die Juden als Erfinder und Entdecker) verweisen heute aber deutlich auf eine Zeit, in der das Schreiben über Themen aus der jüdischen Vergangenheit immer auch die Belange und Anfeindungen der Juden in der Gegenwart im Auge hatte und somit nicht unwesentlich apologetische oder defensive Züge trug.7 Die Begründung einer systematischen Forschung zur Kabbala verdankte sich bezeichnenderweise dem zionistisch gesinnten Gershom Scholem (1897–1982), der nicht nur einer jüngeren Generation angehörte, sondern bereits mit weitaus weniger Illusionen das Projekt einer ›deutsch-jüdischen Symbiose‹ betrachtete. Scholem war auch der erste, der sich auf wissenschaftlicher Ebene Zusammenhängen zwischen Alchemie und Kabbala widmete.8 Die erste umfassende und nach wie vor einschlägige Studie zur 5
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Moritz Steinschneider, Pseudo-Juden und zweifelhafte Autoren, in: MGWJ 1 (1893), S. 39–48, hier S. 42. Vgl. dazu auch Joshua Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion, New York 1939, S. 304. Max Grunwald, Aus Hausapotheke und Hexenküche, in: Mitteilungen der Gesellschaft für jüdische Volkskunde 3 (1900), S. 1–87, hier S. 4. Um hier nur einige zu nennen, sei verwiesen auf: Nathan Birnbaum/Ernst Heppner, Juden als Erfinder und Entdecker, Berlin 1913; Max Grunwald, Die Juden als Erfinder und Entdecker, in: Ost und West 9 (1913), S. 755 – 756; Felix A. Theilhaber, Schicksal und Leistung. Juden in der deutschen Forschung und Technik, Berlin 1931; Cecil Roth, The Jewish Contribution to Civilisation, London 1956 [11938], darin v. a. das Kapitel »Scientific Progress« (S. 146–166). Gershom Scholem, Alchemie und Kabbala, in: Ders., Judaica IV, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1984, S. 19–128. Die Historiographie und das ›kontributorische Narrativ‹
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Magie im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judentum wurde dagegen erst 1939 von dem amerikanischen Reformrabbiner Joshua Trachtenberg veröffentlicht. Zwar legte dieser darin die Vielfalt magischer Praktiken und Auffassungen im Judentum frei, hielt sich aber, was die Alchemie betraf, im wesentlichen an das apodiktische Urteil Steinschneiders und behauptete, daß »some [Jewish] physisicans, in their experiments with chemistry, probably dabbled in alchemy also, but this branch of the magical [!] arts had in general very litte currency among Jews.«9 Zu einem ähnlich Ergebnis kam, speziell mit Blick auf das Mittelalter, auch Salo W. Baron in seiner monumentalen Social and Religious History of the Jews.10 Noch in der jüngsten Auflage der Encyclopaedia Judaica (2007) wird die aus der Erstausgabe (1971) übernommene Ansicht vertreten, die Zahl jüdischer Alchemisten sei letzlich ›relativ klein‹ gewesen.11 »Why was alchemy so marginal in Judaism?«, fragte in diesem Sinne vor nicht allzu langer Zeit ein ausgewiesener Kenner der jüdischen Wissenschaftsgeschichte, als sei die Forschung auf diesem Gebiet schon so weit gediehen, daß solche Fragen unwidersprochen bleiben müßten.12 Tatsächlich liegt jedoch bis zum heutigen Tage erst ein einziger Versuch einer Geschichte jüdischer Alchemisten vor. Es handelt sich um eine Studie des ungarisch-jüdischen Volkskundlers Raphael Patai aus dem Jahre 1994.13 Seine materialreiche Untersuchung weist allerdings eine Reihe von (teils erheblichen) Ungenauigkeiten und voreiligen Verallgemeinerungen auf.14 Zudem muß angemerkt werden, daß sich auch Patai paradoxerweise nicht vom ›kontributorischen Narrativ‹ lösen konnte. Zwar zielte seine Studie darauf ab, die Ansicht vom Desinteresse von Juden an der Alchemie zu widerlegen. Doch schlägt diese Prämisse bei Patai oft in das blanke Gegenteil um, wenn sogar solche Alchemisten für das Judentum reklamiert werden, deren jüdische Herkunft oder Verbindung zum Judentum höchst fragwürdig ist.
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Trachtenberg, Jewish Magic, S. 304. Trachtenberg wiederholte diese Aussage in seiner vier Jahre später veröffentlichten Studie zum Zaubereivorwurf gegen Juden. Siehe Joshua Trachtenberg, The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and its Relation to Modern Anti-Semitism, Philadelphia 1983 [11943], S. 72–73. Salo Wittmayer Baron, A Social and Religious History of the Jews, 18 Bde., Philadelphia 21958, hier Bd. 8, S. 223, S. 225. Bernard Suler, Lemma Alchemy, in: EJ, Bd. 1, S. 599–603, hier S. 601: »The number of Jews who practiced the art of alchemy was apparently relatively small; however, the state of knowledge on this point is incomplete.« Gad Freudenthal, Rezension zu R. Patai, The Jewish Alchemists, in: Isis 86 (1995), S. 318–319. Patai, Jewish Alchemists. Vgl. die detaillierten und kritischen Rezensionen zu Patais Studie von Gad Freudenthal (in: Isis 86 [1995], S. 318–319) sowie Y. Tzvi Langermann (in: Journal of the American Oriental Society 116 [1996], S. 792–793). Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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Doch kehren wir noch einmal zu der Auffassung zurück, Juden hätten – wo es ihnen gesellschaftlich nur irgend möglich war – den Weg des rationalen Denkens beschritten und zur Ausformung der modernen Wissenschaft beigetragen. Mit dem brutalen und jähen Ende der Wissenschaft des Judentums im deutschsprachigen Raum nach 1933 verschwand dieses ›kontributorische Narrativ‹ jüdischer (Wissenschafts-)Geschichte – international gesehen – keineswegs. Dies dürfte auch mit der vermeintlichen Notwendigkeit zusammenhängen, aus jüdischer Sicht auf die in den 1930er Jahren formulierte, einflußreiche Merton-These und die ihr verpflichteten Studien zu reagieren, also auf jene wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen, in denen – ausgehend von einer Untersuchung des amerikanischen Soziologen Robert K. Merton und unter Berufung auf Max Weber – vor allem der Gruppe der Puritaner spezifische Affinitäten und Dispositionen für die ›Wissenschaftliche Revolution‹ zugeschrieben wurde.15 Anhänger Mertons bekräftigen, die These sei weitaus differenzierter, als von den meisten Kritikern behauptet.16 In der Tat hat der amerikanische Soziologe ein streng monokausales Erklärungsmodell vermieden. Gleichwohl bleibt es unbestreitbar, daß die Rezeptionsgeschichte der Merton-These im 20. Jahrhundert eine Eigendynamik entwickelt und zu der großen Zahl von Forschungen zum Zusammenhang zwischen Religion und ›Neuer Wissenschaft‹ beträchtlich beigetragen hat. Es ist bezeichnend, daß die Merton-These ebenfalls katholische Historiker auf den Plan zu rufen begann, die nun ihrerseits versuchten, die Beschäftigung von Katholiken – namentlich Jesuiten – mit der Wissenschaft hervorzuheben.17 Die Merton-These als Ausgangspunkt für die Forschung wird zwar von Historikern in jüngster Zeit kritischer denn je gesehen.18 Der Einfluß der These, auch auf die jüdische Historiographie, sollte dennoch nicht unterschätzt werden. Die nach wie vor zu beobachtende Versteifung auf die Frage, ob Religion das Aufkommen von ›Wissenschaft‹ in der Frühen Neuzeit förderte oder hemmte, ist jedenfalls in hohem Maße ein Erbe Mertons – nicht zuletzt im Fach Jüdische Geschichte. Die Bedeutung von »Pseudo-Wissenschaften« – wie der Alchemie oder gar der Magie – ist in diesem Kontext lange Zeit dementsprechend unterschätzt worden. Es entbehrt übrigens nicht der Ironie, daß ausgerechnet Robert K. Merton selbst (eigentlich: Meyer R. Schkolnick), Sohn einer armen jüdischen Familie aus Ost15
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Robert K. Merton, Science, Technology and Society in Seventeenth Century England, New York 1970 [11938]. Eine bibliographische Übersicht über die Rezeption der Merton-These in der Wissenschaftsgeschichte findet sich bei Steven Shapin, The Scientific Revolution, Chicago etc. 1996, S. 195–196. Siehe jetzt auch Anne-Charlott Trepp, Von der Glückseligkeit alles zu wissen. Die Erforschung der Natur als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main etc. 2009. Steven Shapin, Understanding the Merton Thesis, in: Isis 79 (1988), S. 594–605. Zusammenfassend dazu Shapin, The Scientific Revolution, v. a. S. 197–198. Dazu zuletzt pointiert Harold J. Cook, Matters of Exchange. Commerce, Medicine, and Science in the Dutch Golden Age, New Haven 2007, v. a. S. 82–84. Die Historiographie und das ›kontributorische Narrativ‹
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europa, in seiner Jugend ein passionierter Magier war, die Zauberei zeitlebens praktizierte und als junger Mann sogar ebenjenen Vor- und Nachnamen, unter dem er als einer der bedeutendsten Soziologen des 20. Jahrhunderts bekannt werden sollte, in Anlehnung an Zauberkünstler der Vergangenheit erfunden hatte.19 Die Diskussion um die Merton-These erwies sich also als ein wichtiger, wenn auch nicht als der einzige Faktor für das Fortleben des ›kontributorischen Narrativs‹ (speziell mit Blick auf das frühneuzeitliche Judentum). Beispiele für diese Tendenz sind namentlich die materialreichen Arbeiten von Harry Friedenwald, Cecil Roth, Lewis S. Feuer, Moses A. Shulvass, und André Neher.20 Im Unterschied zu manchen Historikern der einstigen Wissenschaft des Judentums, für die ›nicht sein konnte, was nicht sein darf‹, verschwieg zumindest Cecil Roth in einem Kapitel zur wissenschaftlichen Praxis unter den italienischen Juden jedoch nicht die sich ihm angesichts des gesammelten Materials aufdrängende Skepsis.21 Denn der britische Historiker sah sich in vielen Fällen nicht in der Lage, die naturkundlich-experimentellen Aktivitäten frühneuzeitlicher Juden, auf die er gestoßen war, mit den Kategorien der sich in der Frühen Neuzeit auf christlicher Seite ausformenden ›Neuen Wissenschaft‹ zu beschreiben. Ernüchtert kam Roth zu dem Ergebnis, daß an die Stelle des rationalistisch gesonnenen jüdischen Intellektuellen des Mittelalters in der Frühen Neuzeit zunehmend die Figur des jüdischen Scharlatans getreten sei. Bezeichnenderweise versah Roth das besagte Kapitel seiner Studie mit dem Titel Physicians, Quacks and Charlatans. Diese Ernüchterung kann nicht überraschen. Denn auch für Roth, der ursprünglich aus der Disziplin der allgemeinen Geschichte kam, blieb der Maßstab, an dem sich in der Frühen Neuzeit auf jüdischer Seite die Qualität wissenschaftlicher Tätigkeit beweisen mußte, die ›Neue Wissenschaft‹ des 17. Jahrhunderts, hier verkörpert durch ihre Heroen (Galileo, Bacon, Descartes) und Institutionen (insbesondere Akademien und wissenschaftliche Gesellschaften). 19
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Der Vorname war von dem berühmten Magier Jean Eugène Robert-Houdin (1805–1871) entlehnt, der Nachname stellte zunächst eine Reverenz an den sagenumwobenen Zauberer Merlin dar (erst später wandelte er ihn in Merton ab). Vgl. Craig Calhoun, Robert K. Merton Remembered, in: Footnotes. Newsletter of the American Sociological Association 31, 3 (2003). Siehe http://www. asanet.org/footnotes/mar03/indextwo.html [letzter Aufruf 5. Januar 2010]. Harry Friedenwald, The Jews and Medicine, 2 Bde., Jerusalem 1967 [11944]; ders., Jewish Luminaries in Medical History […], Baltimore 1944; Cecil Roth, The Jews in the Renaissance, Philadelphia 1959; ders., The Jewish Contribution to Civilisation; Lewis S. Feuer, The Scientific Revolution Among the Jews, in: Ders., The Scientific Intellectual. The Psychological and Sociological Origins of Modern Science, New York etc. 1963, S. 297–318; Moses A. Shulvass, The Jews in the World of the Renaissance, Leiden 1973; André Neher, Jewish Thought and the Scientific Revolution of the Sixteenth Century. David Gans (1541–1613) and his Times, Oxford 1986; ders., Gli ebrei e la rivoluzione copernicana, in: Rassegna mensile di Israel 39 (1973), S. 552–562. Roth, The Jews in the Renaissance. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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Mit dieser Prämisse blieb Roth nicht alleine. Zwar hat der Historiker Robert Bonfil, ein dezidierter Kritiker Roths, seit den 1980er Jahren generell auf die methodische Fragwürdigkeit hingewiesen, die Geschichte des frühneuzeitlichen Judentums primär vor dem Hintergrund der Entwicklung und der normativen Kategorien der christlichen Mehrheitsgesellschaft zu erforschen.22 Dennoch läßt sich in der Historiographie auf jüdischer Seite nach wie vor nicht selten eine Fixierung auf die ›großen Themen‹ der christlichen Wissenschaftsgeschichte, etwa die Rezeption der kopernikanischen Theorie, feststellen. Diese Fixierung hat beispielsweise dazu geführt, daß zwar eine Fülle von Studien zum Werk des jüdischen Autors und Astronomen David Gans (1541–1613) vorliegen – der selbst nach dem Urteil seines emphatischsten Biographen wohl eher ein Wissenschaftler von bescheidenem Format war23 –, hingegen keine einzige befriedigende oder auch nur annähernd systematisch-umfassende Studie zu Juden in den mechanischen Künsten, im Technologietransfer und in der Praxis der Alchemie existiert. Da die letztgenannten Formen von Wissensproduktion und -transfer vor allem im frühneuzeitlichen Italien florierten, ist es um so paradoxer, wenn diese Phänomene in einem jüngeren Sammelband, der dem Verhältnis von Wissenschaft und Judentum in Italien gewidmet ist, fast vollkommen ignoriert werden.24 An großen Linien und Thesen ist dabei in dem besagten Band kein Mangel. Zunächst wird das Fehlen eines jüdischen Beitrags zur ›Wissenschaftlichen Revolution‹, die hier durch die Namen Galileo, Descartes, Newton und Leibniz definiert ist, festgestellt, um sodann eine höchst fragwürdige Unterscheidung zwischen einem griechisch-analytischen und jüdisch-harmonisierenden Weltbild zu behaupten.25 Das Narrativ vom Judentum, das angeblich theoretisch-abstrakte Formen des Wissens den experimentellen Wissenspraktiken vorziehe, fehlt ebenfalls nicht. Als Gründe werden hier das traditionelle Talmud-Studium sowie der erst im 19. Jahrhundert beginnende Eintritt von Juden in den industriellen Sektor angeführt.26 22 23
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Robert Bonfil, Jewish Life in Renaissance Italy, Berkeley etc. 1994, v. a. S. 42. »In today’s universities we would place him among the technical assistants […] Neither in Jewish studies nor in the general sciences was David Gans more than a modest workman«, so Neher, Jewish Thought, S. 13. Antonio Di Meo (Hg.), Cultura ebraica e cultura scientifica in Italia, Rom 1994. Giorgio Israel, È esistita una ›scienza ebraica‹ in Italia?, in: Antonio Di Meo (Hg.), Cultura ebraica e cultura scientifica in Italia, Rom 1994, S. 29–52. Yakov M. Rabkin, Interfacce multiple. Scienza contemporanea ed esperienza ebraica, in: Antonio Di Meo (Hg.), Cultura ebraica e cultura scientifica in Italia, Rom 1994, S. 3–27. Vgl. beispielsweise auch die Studie von Feuer, die sich vergleichbarer Argumente bedient: Feuer, The Scientific Revolution, v. a. S. 300–304. Zwar billigt Feuer den italienischen Juden generös einige ›Vorläufer‹ der modernen Wissenschaft zu, er sieht aber insgesamt vor 1800 in der Religion und im Talmudstudium ein kaum überwindbares Hindernis für das Aufkommen von Wissenschaft. Das ›Ghetto-Judentum‹ war seines Erachtens sogar »contaminated with strong ingredients of masochist asceticism«. Die Historiographie und das ›kontributorische Narrativ‹
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Nun ist vor allem letzteres Argument kaum überzeugend. Der Historiker wird zwar bekanntlich in den christlichen Zünften der Vormoderne keine Juden finden, dafür aber – wie auch die vorliegende Studie bereits angedeutet hat – kaum einen Industriezweig suchen müssen, in dem Juden in der Frühen Neuzeit nicht – zumindest vereinzelt – tätig waren: Die Glasherstellung, die Militärtechnologie und Pulverproduktion, die Textilindustrie und Konsumgüterherstellung (Öl, Seife, Zuckerraffinerie) sind hier nur einige mögliche und besonders markante Beispiele.27 Einen maßgeblichen Beitrag zur Erforschung und notwendigen Differenzierung der Thematik ›Judentum und Wissenschaft‹ hat in jüngerer Zeit der Historiker David Ruderman in seinen einschlägigen Arbeiten geleistet.28 Er beschäftigt sich vor allem mit jüdischen Ärzten, Medizinstudenten und Rabbinern sowie mit den Reaktionen dieser drei Gruppen auf die wissenschaftlichen Umwälzungen in der christlichen Umwelt der Frühen Neuzeit. Dabei stellt Ruderman mit Blick auf die wissenschaftliche Aktivität jüdischer Medizinstudenten und Ärzte in Italien eine Spannung zwischen dem an christlichen Universitäten erworbenen Wissen und der überlieferten rabbinischen Weisheit fest. Ruderman sieht die Ursache hierfür in einer auch im 17. Jahrhundert partiell nicht überwundenen Inkongruenz zwischen den Methoden der sich formierenden ›Neuen Wissenschaft‹ und den traditionellen Formen jüdischen Lernens.29 Im Unterschied zur Epoche des Mittelalters, in der namhafte jüdische Philosophen das theoretische Studium der Physik und Metaphysik gewissermaßen als ein religiöses Gebot betrachtet hatten, das sich mit dem Glauben vereinbaren ließ, formulierten frühneuzeitliche 27
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Für Italien siehe allgemein Bonfil, Jewish Life, S. 93–94. Differenziert zur jüdischen Berufsstruktur im Reich im Mittelalter ist Michael Toch, Economic Activities of German Jews in the Middle Ages, in: Ders. (Hg.), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden. Fragen und Einschätzungen, München 2008, S. 181–210; ders., Die wirtschaftliche Tätigkeit, in: GJ III, 3, S. 2139–2164; vgl. für die Frühe Neuzeit jetzt v. a. J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 2001, S. 94–97. Siehe v. a. David B. Ruderman, Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, New Haven etc. 1995. Vgl. außerdem ders., Kabbalah, Magic, and Science. The Cultural Universe of a Sixteenth-Century Jewish Physician, Cambridge/Mass. etc. 1988; ders., Contemporary Science and Jewish Law in the Eyes of Isaac Lampronti of Ferrara and Some of His Contemporaries, in: Jewish History 6 (1992), S. 211–224; ders., The Language of Science as the Language of Faith. An Aspect of Italian Jewish Thought in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: Daniel Carpi et al. (Hg.), Shlomo Simonsohn Jubilee Volume. Studies on the History of the Jews in the Middle Ages and Renaissance Period, Tel Aviv 1993, S. 177–189; David B. Ruderman, The Impact of Science on Jewish Culture and Society in Venice (With Special Reference to Jewish Graduates of Padua’s Medical School), in: Gaetano Cozzi (Hg.), Gli ebrei a Venezia (secoli XIV–XVIII). Atti del convegno internazionale organizzato dall’Istituto di storia della società e dello stato veneziano della Fondazione Giorgio Cini, Mailand 1987, S. 417–448. Ruderman, The Impact of Science, S. 434. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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Rabbiner schärfere Kritik an jenen Formen und Gebieten des säkularen Wissens, die den fundamentalen Glaubenslehren des Judentums zu widersprechen drohten. Gebilligt wurde auf rabbinischer Seite allerdings eine auf die Empirie beschränkte Naturwissenschaft, die zu der Einsicht in die Vollkommenheit von Gottes Schöpfung führen sollte, ohne dabei den Glaubenslehren des Judentums zu widersprechen.30 Einige Historiker haben diese rabbinische Billigung der Empirie in Verbindung gebracht mit der Tradition, durch eine dem »common sense« verpflichtete, sinnesbasierte Argumentation nicht zuletzt jene christlichen Mysterien (wie z. B. die jungfräuliche Empfängnis Marias oder die Transsubstantiation) zu entkräften, die über Jahrhunderte hinweg in der christlichen Polemik gegen die Juden ins Feld geführt worden waren.31 Für viele Rabbiner stieß also eine Berufung auf empirische Argumente dort an ihre Grenzen, wo sie sich gegen die Lehren des Judentums zu wenden drohte. Die Beschäftigung mit der (Natur-)Wissenschaft blieb daher ein zweischneidiges Schwert, wie nicht zuletzt Ruderman ausgeführt hat. Aus seiner Sicht lag es auch an diesem Dilemma, daß jüdische Naturkundige »hardly the most prominent contributors to the scientific revolution« wurden.32 Zwar habe es unter Juden ein verbreitetes Interesse an der Entwicklung der Wissenschaft gegeben (und damit beschäftigen sich zahlreiche Studien Rudermans). Doch kommt er am Ende zu dem Ergebnis, daß »only a handful of Jews contributed substantially to science, and even these were primarily active in the field of medicine.«33 Den gewichtigsten Grund für diese Entwicklung sieht Ruderman allerdings nicht in den religiös begründeten Hürden, sondern in der sozialen Ausgrenzung der jüdischen Minderheit.34 Auf dieses Argument gilt es weiter unten noch einmal zurückzukommen. Allerdings in kritischer Absicht: Denn meines Erachtens waren es weder der 30
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Ruderman, Jewish Thought, v. a. S. 11, S. 222. Siehe auch ders., Kabbalah, Magic, and Science, S. 73; jetzt auch Giuseppe Veltri, Science and Religious Hermeneutics. The ›Philosophy‹ of Rabbi Loew of Prague, in: Jürgen Helm/Annette Winkelmann (Hg.), Religious Confessions and the Sciences in the Sixteenth Century, Leiden 2001, S. 119–135, hier v. a. S. 134; sowie ders., Jüdische Einstellungen zu den Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert. Das Prinzip der praktisch-empirischen Anwendbarkeit, in: Gerd Biegel/Michael Graetz (Hg.), Judentum zwischen Tradition und Moderne, Heidelberg 2002, S. 149–159. Feuer, The Scientific Revolution, S. 21. Differenzierter hierzu Daniel J. Lasker, Jewish Philosophical Polemics Against Christianity in the Middle Ages, New York 1977, v. a. S. 10. Zum Nutzen von wissenschaftlichen Argumenten bei der Verteidigung gegen christliche Polemik noch am Ausgang der Frühen Neuzeit vgl. Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848, Tübingen 1974, S. 10. Ruderman, The Language of Science, S. 188. Ruderman, Jewish Thought, S. 12. Ebd., S. 372. Die Historiographie und das ›kontributorische Narrativ‹
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Wegfall sozialer Hürden noch ein Siegeszug der Haskala (also der innerjüdischen Aufklärungsbewegung), die nach 1800 die entscheidenden Weichen für den relativ späten Eintritt der Juden in die moderne Wissenschaft stellten. Doch kehren wir an dieser Stelle noch einmal zu der Debatte über Konfliktpunkte zwischen frühneuzeitlichem Judentum und ›Neuer Wissenschaft‹ zurück. Weitaus stärker als Ruderman verortet Hava Tirosh-Samuelson den entscheidenden Grund für den geringen Beitrag von Juden zur ›Wissenschaftlichen Revolution‹ auf hermeneutischer Ebene, also bei den Unterschieden in den konkreten Formen der Wissensaneignung, die jeweils mit dem jüdischen Begriff von Naturforschung und der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts verbunden waren. Demnach habe die traditionelle Verwurzelung in einer vom schriftlichen Text ausgehenden Naturphilosophie für viele Juden einen Übergang zu Formen der experimentellinduktiven Wissensaneignung und -produktion erschwert, wenn nicht sogar verhindert.35 Die jüdische ›Theologie der Natur‹ sei nur mit Schwierigkeiten mit der im 17. Jahrhundert aufkommenden wissenschaftlichen Methodik zu vereinbaren gewesen, da unter jüdischen Naturforschern die Ansicht überwogen habe, daß die Phänomene der Natur als in der Sprache Gottes geschriebene Zeichen zu lesen seien. Anknüpfend an Thesen Michel Foucaults sieht Tirosh-Samuelson somit in der Frühen Neuzeit einen Antagonismus zwischen einer textbasierten Hermeneutik des Judentums, die in erster Linie auf eine Harmonisierung von Glauben und Wissen abgezielt habe, und der modernen Wissenschaft, die auf quantitativ-experimentellen Methoden beruht.36 Zuletzt ist hier die Position des Historikers Amos Funkenstein zu erwähnen, dessen Studien zur jüdischen Geschichte zwar oft von einem unkonventionellen Blick geprägt sind, der sich aber für ein relativ traditionelles Erklärungsmodell entschied, um die Frage zu beantworten, weshalb unter Juden »in der wissenschaftlichen Revolution kein anhaltendes Interesse an den Wissenschaften aufkam«.37 Funkensteins Begriff von »Wissenschaften« ist dabei eng und klassisch gefaßt, die Akzeptanz des Heliozentrismus beispielsweise bildet auch für ihn einen maßgeblichen Gradmesser für »intellektuelle Aktivität« auf dem Gebiet der Naturforschung. Funkenstein vertritt zunächst die wenig überzeugende These, daß die Juden »möglicherweise selbst in Holland und Italien zu weit entfernt von den Zentren der Wissenschaft, etwa in England und Frankreich, [lebten]«.38 Die Aus35 36 37 38
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Hava Tirosh-Samuelson, Theology of Nature in Sixteenth-Century Italian Jewish Philosophy, in: Science in Context 10 (1997), S. 529–570, hier S. 535. Ebd., v. a. S. 561. Amos Funkenstein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, Frankfurt am Main 1995 [11993], S. 144. Ebd., S. 149. Die Ansicht, Holland und Italien seien keine führenden Schauplätze der Neuen Wissenschaft gewesen, läßt sich leicht entkräften. Zu den Niederlanden siehe jetzt v. a. Cook, Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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wirkungen des angeblich fehlenden Kontaktes zu den Zentren der Wissenschaft seien verstärkt worden durch eine geistige Abwehrhaltung des frühneuzeitlichen Judentums, für das »jede Form intellektueller Aktivität, die über bloße Unterhaltung hinausging, mit religiösen Belangen verbunden sein« mußte.39 Noch einen Schritt weiter als Funkenstein geht der Historiker Elchanan Reiner, der mit Blick auf das vormoderne aschkenasische Judentum behauptet, daß dessen Ablehnung der Wissenschaft »part and parcel of its intellectual being« gewesen sei.40
Ökonomie des Geheimen und Pluralität der Wissenskulturen Es dürfte aus den dargestellten Positionen und Argumenten deutlich geworden sein, daß die bisherige Historiographie sich in erheblichem Maße mit dem Verhältnis von Religion und Naturforschung beschäftigt hat. Zudem wurde von Historikern der Blick auf die Formen und die Bedeutung naturkundlicher Aktivität unter Juden häufig an die Frage geknüpft, wie sich diese Aktivitäten zur ›Neuen Wissenschaft‹ verhielten und ob sie sich in dieser Hinsicht mit den Kategorien der Ablehnung oder der Teilhabe beschreiben lassen. Namentlich dies aber scheint in mancherlei Hinsicht eine question mal posée zu sein. Bezeichnenderweise muß der Herausgeber eines jüngst erschienenen Themenheftes zu ›Judentum und Wissenschaften in der Frühen Neuzeit‹ bereits in seiner Einführung konzedieren, daß allein jene drei Beiträge, die sich der Situation im rudolfinischen Prag annehmen, zu »conflicting conclusions« oder – deutlicher gesagt – zu vollkommen verschiedenen Ergebnissen kommen.41 Ganz überraschend ist dies allerdings nicht. Denn die Frage nach dem Spektrum jüdischer Naturforschung vor allem an das Interesse von Juden an der ›Neuen Wissenschaft‹ zu knüpfen, ist aus drei Gründen wenig zielführend. Erstens tendiert diese Fragestellung dazu, auf jüdischer Seite bedeutende Teile des Quellenspektrums außer acht zu lassen. Die sich auf christlicher Seite vor allem im 17. Jahrhundert erst ausformende Vorstellung einer ›Neuen Wissen-
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Matters of Exchange; zu Italien vgl. beispielsweise Paula Findlen, The Formation of a Scientific Community. Natural History in Sixteenth-Century Italy, in: Anthony Grafton/Nancy Siraisi (Hg.), Natural Particulars. Nature and the Disciplines in Renaissance Europe, Cambridge/Mass. etc. 1999, S. 369–400. Funkenstein, Jüdische Geschichte, S. 144. Vgl. auch die Kritik an Funkenstein bei Ruderman, Jewish Thought, S. 371. Funkenstein sei demnach »certainly wrong to view Judaism as less tolerant or enthusiastic than Christianity in validating the autonomous pursuit of the sciences«. Elchanan Reiner, The Attitude of Ashkenazi Society to the New Science in the Sixteenth Century, in: Science in Context 10 (1997), S. 589–603. Noah Efron, Introduction, in: Science in Context 10 (1997) (Themenheft »Judaism and the Sciences«, hg. von dems. und Snait Gissis), S. 527–528. Ökonomie des Geheimen und Pluralität der Wissenskulturen
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schaft‹ kann weder hinreichender Maßstab noch im engeren Sinne der alleinige Kontext sein, um alle Manifestationen der naturkundlichen Tätigkeit von Juden, darunter auch in der Ökonomie des Geheimen, angemessen zu beschreiben und zu interpretieren. Mit der Fokussierung auf die Frage nach dem ›Beitrag‹ der Juden zur ›Wissenschaft‹ wurde und wird in der Historiographie oft die Chance vertan, die naturkundliche, okkulte und technologische Expertise von Juden in all ihren Facetten – etwa der ökonomischen – und somit als ein Phänomen sui generis zu erforschen. Zweitens stellt sich die Frage, was überhaupt a priori mit dem Begriff ›Neue Wissenschaft‹, der schnell bei der Hand ist, gemeint sein soll. Es ist inzwischen zu Recht darauf hingewiesen worden, daß dieser Begriff von Historikern in der Vergangenheit in höchst unterschiedlicher Weise verwendet wurde und daher oftmals an Kontur verloren hat.42 Um so mehr droht bei einigen der weiter oben skizzierten Argumentationen und Positionen die Gefahr, mit dem Begriff der ›Neuen Wissenschaft‹ ein idealisiertes Bild von der Entwicklung des vormodernen Wissenschaftsbetriebs der christlichen Mehrheitsgesellschaft zugrunde zu legen. Daß es einen linearen, homogenen Prozeß gab, der die Bezeichnung ›Wissenschaftliche Revolution‹ erfordert, wird in der allgemeinen Wissenschaftsgeschichte jüngeren Datums durchaus bezweifelt. Steven Shapin hat vor einigen Jahren seine inzwischen einschlägige Studie zur wissenschaftlichen Revolution sogar mit den Worten eröffnet, es habe nie eine wissenschaftliche Revolution gegeben.43 Dies bedeutet nicht, daß es nötig wäre, den Begriff der ›Neuen Wissenschaft‹ gänzlich über Bord zu werfen. Schließlich wird niemand ernsthaft die Unterschiede übersehen können, die sich auf epistemischer Ebene beispielsweise zwischen Dee und Descartes oder zwischen Della Porta und Galileo auftun (und man könnte solche Vergleiche beliebig fortführen). Gleichwohl ist es notwendig sich zu vergegenwärtigen, daß die ›Neue Wissenschaft‹ in der Frühen Neuzeit nur eine von mehreren damals zur Auswahl stehenden Wissenskulturen war – und in diesem Kontext noch keineswegs eine unangefochtene Stellung errungen hatte.44 Die ›Neue Wissenschaft‹ hat unzweifelhaft zahlreiche Errungenschaften hervorgebracht. Als alleinige Erklärung für die komplexe Verschiebung von Prioritäten und Prämissen in der Wissenskultur im Übergang zur Moderne kann sie allerdings nicht hinreichen. So wurde beispielsweise – wie jüngst gezeigt worden ist – die am Ende der Frühen Neuzeit sich abzeichnende Infragestellung des Wunderglaubens nicht in erster Linie oder gar einzig von der ›Neuen Wissenschaft‹ 42 43 44
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Lorraine Daston/Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, 1150–1750, Frankfurt am Main 2002, S. 388–392. Shapin, The Scientific Revolution, S. 1. Brian Vickers, Introduction, in: Ders. (Hg.), Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance, Cambridge 1984, S. 1–55, v. a. S. 30. Ich teile allerdings einige der von Vickers daran geknüpften Thesen nicht vorbehaltlos. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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herbeigeführt.45 Ein vergleichbares Bild ergibt sich unserer Meinung nach auch für die Ökonomie des Geheimen (unter die wir übrigens auch den Handel mit und die Zurschaustellung von wundersamen Objekten subsumieren können). Wenn wir jedenfalls erklären wollen, weshalb die Fundamente der Ökonomie des Geheimen ab ungefähr 1800 ins Wanken gerieten, dann werden wir die Antwort auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene suchen müssen – darauf gilt es weiter unten zurückzukommen. Der dritte Einwand schließlich knüpft an die hier bereits geäußerten Bedenken an, kreist allerdings nicht um Fragen der Abgrenzung und Definition, sondern – umgekehrt – um Schnittmengen zwischen den verschiedenen damaligen Wissenskulturen. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren gaben die einflußreichen, wenn auch nicht unumstrittenen Studien der Historikerin Frances Yates einen wichtigen Anstoß zum Umdenken mit Blick auf die allgemeine (Vor-)Geschichte der ›Wissenschaftlichen Revolution‹. Namentlich in ihrer Studie zu Giordano Bruno vertrat Yates die Ansicht, daß die hermetische Philosophie mit ihrer idealisierten Vorstellung vom Magus den Weg für die ›moderne Wissenschaft‹ mitgeebnet habe.46 Der Renaissance-Magus war demnach Pionier einer aktiven, dem Experiment zugewandten Wissenschaft, die sich von der kontemplativen Passivität der mittelalterlichen Wissenschaft zu emanzipieren vermochte. Obzwar die Yates-These von der Rolle hermetischer Ideen für die Entwicklung der Wissenschaft viel diskutiert und teilweise auch scharf kritisiert worden ist,47 deutet in der Tat manches darauf hin, daß sich – allgemein gesprochen – die Sphären von Okkultismus und Wissenschaft bis ins 17. Jahrhundert keineswegs immer trennscharf scheiden lassen. Das Beispiel des leidenschaftlichen Alchemisten Newton dürfte in diesem Zusammenhang wohl am bekanntesten sein. Auch bei Bacon ist eine – wenngleich ambivalente – Beschäftigung mit Magie (und Alchemie) nachweisbar.48 Damit ist vor allem die Tradition der magia naturalis gemeint, in der Experimente und die Beschäftigung mit physikalischen Kräften und Eigenschaften eine wichtige Rolle spielten. Dies hat manchen Historiker zu der an Yates anknüpfenden Ansicht veranlaßt, daß »science developed largely from a natural magic stripped of mysticism«.49 45 46 47
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Daston/Park, Wunder und die Ordnung der Natur, v. a. S. 388–389. Frances A. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London etc. 1964. Siehe v. a. Vickers, Introduction, passim. Eine gründliche bibliographische Übersicht zu der Kontroverse um die Yates-These bei Noel L. Brann, Trithemius and Magical Theology. A Chapter in the Controversy over Occult Studies in Early Modern Europe, Albany 1999, S. 255–256. Hierzu pointiert Anthony Grafton, Cardano’s Cosmos. The Worlds and Works of a Renaissance Astrologer, Cambridge/Mass. 1999, S. 165; William Eamon, Science and the Secrets of Nature. Books of Secrets in Medieval and Early Modern Culture, Princeton 1994, S. 288. Wayne Shumaker, Natural Magic and Modern Science. Four Treatises 1590–1657, Binghamton 1989, S. 38. Siehe auch Charles Webster, From Paracelsus to Newton. Magic and the Making of Modern Science, Cambridge etc. 1982, v. a. S. 2, S. 57. Ökonomie des Geheimen und Pluralität der Wissenskulturen
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Insbesondere vor dem Hintergrund der Yates-Debatte hat es auch im Fach Jüdische Geschichte durchaus ein verstärktes Interesse am magischen und okkulten Wissen frühneuzeitlicher Juden gegeben, wenngleich diese Fragen nicht immer in einem größeren wissenschaftsgeschichtlichen Kontext gestellt worden sind. So ist beispielsweise gezeigt worden, daß die Schriften jüdischer Naturkundiger wie Yochanan Alemanno, Abraham Farissol, David de Pomis und Abraham Yagel reich an Beschreibungen von merkwürdigen Tieren, Monstern, seltenen Steinen und exotischen Pflanzen sind.50 Bei einigen prominenten Kabbalisten läßt sich eine enge Verwobenheit von mystisch-magischen und naturkundlich-experimentellen Interessen nachweisen.51 David Ruderman hat zudem gemahnt, daß die vielgestellte Frage nach der eher schleppenden Kopernikus-Rezeption im vormodernen Judentum kein alleiniger Gradmesser für die Intensität wissenschaftlicher Aktivität sein könne.52 Allerdings geht auch Ruderman davon aus, daß im 17. Jahrhundert eine zunehmende Tendenz bei jüdischen Autoren sichtbar werde, anstelle des Okkulten und Mysteriösen eher das Bekannte und Erwiesene zu beschreiben.53 Dies dürfte für die von ihm vornehmlich untersuchte Personengruppe, also an Universitäten ausgebildete jüdische Ärzte, im großen und ganzen zutreffen, wenngleich wir weiter oben bereits gesehen haben, daß eine Reihe jüdischer Ärzte des 16. und 17. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Arkana und der Alchemie beträchtliche Kenntnisse vorweisen konnten. Sieht man jedenfalls von der Berufsgruppe der studierten Ärzte einmal ab, die ja nicht nur eine Bildungselite, sondern namentlich auf sephardischer Seite oft auch eine soziale Elite darstellten, muß Rudermans Befund weiter differenziert werden. Denn insgesamt kann auf jüdischer Seite bis ins 18. Jahrhundert hinein keineswegs von einer signifikanten Abwendung von der allgemeinen Ökonomie des Geheimen die Rede sein. Daß ebendiese Sphäre des Geheimen noch im 18. Jahrhundert komplexe Entfaltungsmöglichkeiten bot und auch ihre ökonomische Relevanz unvermindert fortdauerte, ist allerdings in der Forschung bisher nicht gebührend thematisiert worden. Zwar wird, wie erwähnt, zumindest für das 15. und 16. Jahrhundert die Komplexität und der nicht selten okkulte Charakter jüdischer Naturforschung inzwischen differenzierter und vorurteilsloser gesehen als noch vor einigen Jahrzehnten. Die Frage allerdings, wie Juden auf die ›Herausforderung‹ durch die ›Neue Wissenschaft‹ reagiert bzw. in welchem Maße sie an dieser Wissenschaft partizipiert haben,
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Ruderman, The Impact of Science, S. 429. Ruderman, Kabbalah, Magic, and Science, passim; siehe poinitert auch ders., The Language of Science, S. 184. Ruderman, The Impact of Science, S. 426. Ebd., S. 429. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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stellt mit Blick auf das 17. und 18. Jahrhundert nach wie vor einen Schwerpunkt innerhalb der jüdischen Wissenschaftsgeschichte dar.54 Diese Herangehensweise hat dazu geführt, daß die Wissenschaftsgeschichte des Judentums auf methodischer Ebene mitunter einem der gesuchtesten Objekte der Frühen Neuzeit gleicht – dem perpetuum mobile. Denn indem von einigen Autoren immer wieder bekräftigt wird, das frühneuzeitliche Judentum habe zur ›Neuen Wissenschaft‹ kaum beigetragen, wird naturgemäß vor allem die Frage perpetuiert, welche begünstigenden Rahmenbedingungen, Anreize oder (mittelalterlichen) Ausgangsbedingungen gefehlt haben.55 Dadurch wiederum wird der Blick auf das rabbinische Schrifttum oder die Werke von wenig repräsentativen Einzelfiguren wie David Gans zurückgelenkt.56 Somit bleibt, zugespitzt formuliert, jener methodische Kreislauf in Bewegung, der eine Reihe von Historikern hat übersehen lassen, daß im frühneuzeitlichen Judentum abseits der Schwelle der ›Neuen Wissenschaft‹ ein ebenso breites wie lukratives Spektrum von Expertise und Wissensproduktion existiert hat. Es läßt sich sogar sagen, daß nicht-offene Strukturen der Patronage und insgesamt die Ökonomie des Geheimen für die Träger dieses Wissens einen weitaus attraktiveren Markt darstellen konnten als die – zumindest in der Theorie – der Offenheit verpflichteten Institutionen (wie sie zum Beispiel die ›Neue Wissenschaft‹ hervorbrachte). Insbesondere ist die Frage nach der Einstellung von frühneuzeitlichen Rabbinern zur ›Wissenschaft‹ oft bereits a priori mit einem eingeschränkten Blickwinkel gestellt worden. Das relativ geringe Interesse unter Rabbinern an der ›Neuen Wissenschaft‹ – wenn wir darunter beispielsweise die Kopernikus-Rezeption oder die Aktivitäten der wissenschaftlichen Akademien verstehen – bedeutet durchaus nicht, daß es in dieser Berufsgruppe an ausgeprägter experimenteller oder technologischer (Arkan-)Expertise gefehlt hat. Es sei an dieser Stelle beispielsweise an die weiter oben bereits ausführlich erwähnte Biographie des Clemente (Kalonimos) Pavia aus Lodi im späten 16. Jahrhundert erinnert, für den die verschiedenen Rollen als Erfinder, Geldverleiher und ordinierter Rabbiner keinen Widerspruch darstellten. In der jüdischen Wissenschaftsgeschichte ist er 54 55
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Auch Ruderman geht es durchaus darum zu verdeutlichen, daß »scientific thought and activitiy were a central concern of early modern Jewish culture«. Siehe Ruderman, Jewish Thought, S. 13. Titel sind hierfür ein guter Indikator: Y. Tzvi Langermann, Was There No Science in Ashkenaz? The Ashkenazic Reception of Some Early-Medieval Hebrew Scientific Texts, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 8 (2009), S. 67–92; vgl. auch den Titel dieses Themenheftes (Science and Philosophy in Early Modern Ashkenzic Culture. Rejection, Toleration, and Appropriation), der sich auffallend polarisierender Kategorien bedient. Dies gilt auch noch für die innovative Studie von Mokyr, die der vorliegenden Untersuchung zwar eine Reihe von Anregungen gegeben hat, aber in ihren die jüdische Geschichte betreffenden Abschnitten recht konventionell ausfällt. Vgl. Joel Mokyr, The Gifts of Athena. Historical Origins of the Knowledge Economy, Princeton etc. 2002. vgl. z. B. S. 64, S. 290. Ökonomie des Geheimen und Pluralität der Wissenskulturen
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allerdings bis heute praktisch unbekannt. In der Tat hat der erfinderische Rabbiner Pavia keine Bemühungen unternommen, etwa seine Erfindung einer neuartigen Wasserpumpe an Universitäten oder unter Gelehrten öffentlich vorzustellen. Pavia, der sein know-how gemeinsam mit seinen beiden Brüdern vermarktete, wollte mit seiner Erfindung nicht ein gelehrtes Publikum beeindrucken, sondern vielmehr Höfe und zahlungskräftige Kunden als Käufer für seine Technologie gewinnen (was ihm auch gelang). Geheimhaltung war hierbei aussichtsreicher als offene Vermarktung oder Veröffentlichung. Dies gilt ebenfalls für Josef Ottolenghi (gest. 1570), einen promovierten Rabbiner aus Cremona. Ottolenghis rabbinische Autorität ist unzweifelhaft, immerhin leitete er auch eine Jeschiwa und trat als Verfasser und Drucker hebräischer Bücher hervor.57 Das hinderte ihn jedoch nicht, dem spanischen König 1569 eine unbekannte Methode zur Herstellung von Stahl aus Eisen anzubieten.58 Auch unterbreitete er dem spanischen Hof eine Reihe von vertraulichen Projekten, um die Staatseinnahmen zu steigern, wovon zumindest ein Vorhaben nachweislich angenommen wurde.59 Es ist nun nicht die Absicht der vorliegenden Studie, beispielsweise durch den Hinweis auf technologisches oder experimentelles Wissen im frühneuzeitlichen Judentum die Frage nach dem Verhältnis von Judentum und ›Neuer Wissenschaft‹ lediglich besser als bisher zu unterfüttern. Ebenfalls ziele ich nicht darauf ab, das Interesse an Geheimnissen auf jüdischer Seite einzig als Produkt des verschiedentlich behaupteten ›jüdischen Empirismus‹ in der Vormoderne zu kategorisieren. Zwar trifft es zu, daß einige frühneuzeitliche Rabbiner einen empirischen Wissenschaftsbegriff befürworteten. Aber allein darin wird man wohl schwerlich die Gründe und die Motivation für eine Karriere wie diejenige Abramo Colornis finden können (um hier nur ein Beispiel herauszugreifen). Die vorliegende Arbeit plädiert hingegen dafür, die Produktion, Aneignung und den Transfer von (geheimem) Wissen unter frühneuzeitlichen Juden generell nicht primär vor dem Hintergrund der Ausformung der ›Neuen Wissenschaft‹ des 17. Jahrhunderts – und den rabbinischen Reaktionen hierauf – zu sehen, sondern die genannten Phänomene vielmehr, soweit möglich, in den größeren, gesamtgesellschaftlichen Kontext der Ökonomie des Geheimen einzuordnen. Dies aber führt letztlich zu der Feststellung, daß das Spektrum der von jüdischer Seite möglichen Reaktionen auf die (Weiter-)Entwicklung der Wissenschaft und allgemein des
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Siehe zu ihm Giorgio Romano, Lemma Ottolenghi, Joseph ben Nathan, in: EJ, Bd. 15, S. 519; siehe auch The Jews in the Duchy of Milan, bearb. von Shlomo Simonsohn, 4 Bde., Jerusalem 1982–1986, hier Bd. 1, S. xxxix. Jews in the Duchy of Milan (bearb. S. Simonsohn), Bd. 3, Dok. 3453. Es handelte sich um eine mit der frühneuzeitlichen Politik der Policey durchaus konforme Idee zur Erhebung von Bußgeldern. Vgl. ebd., Dok. 3423, Dok. 3467, Dok. 3516. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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Wissens in der umgebenden Mehrheitsgesellschaft eine Reihe von vielfältigen Optionen jenseits der Kategorien von Teilhabe oder Ablehnung bereithielt.60 Letzteres wird um so deutlicher, wenn man die Frage nach der Ausformung von Institutionen des offenen Wissens nicht zum Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung erhebt, sondern von Anfang an einen breiten Begriff von ›Orten des Wissens‹ zugrunde legt.61 Ebenso wichtig ist es, die eigentliche, alles übergreifende Verschiebung der epistemologischen Prämissen am Beginn der Neuzeit in ihrer mentalitätsgeschichtlichen Dimension zu berücksichtigen. Gemeint ist hier die zunehmend tolerantere Einstellung gegenüber der im christlichen Europa über Jahrhunderte hinweg verpönten Neugier (curiositas).62 Diese Entwicklung erfaßte auch das zeitgenössische Judentum. Colorni beispielsweise sah sich selbst ausdrücklich als einen »curioso intelletto«.63 Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene markierte die Entdeckung bzw. Rehabilitierung der Neugier durchaus eine »Epochenschwelle« (Hans Blumenberg). Vieles spricht dafür, daß es diese Entwicklung war, die entscheidend die Weichen für die ›Wissenschaftliche Revolution‹ oder – vorsichtiger gesagt – für eine ›Revo60
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Auch die Unterscheidung zwischen Juden als »consumers« oder »contributors«, wie sie von Moshe Idel mit Blick auf die Renaissance verwendet worden ist, läßt m. E. wenig Spielraum für Differenzierungen. Siehe Moshe Idel, Differing Conceptions of Kabbalah in the Early 17th Century, in: Isadore Twersky/Bernard Septimus (Hg.), Jewish Thought in the Seventeenth Century, Cambridge/Mass. 1987, S. 137–200, hier S. 140. Als anregend für den vorliegenden Zusammenhang hat sich dagegen eine Studie Cantors erwiesen, der für den Zeitraum 1650 bis 1900 die wissenschaftlichen Aktivitäten zweier gesellschaftlicher Minderheiten in England (Juden und Quäker) vergleicht. Vgl. Geoffrey Cantor, Quakers, Jews, and Science. Religious Responses to Modernity and the Sciences in Britain, 1650–1900, Oxford etc. 2005, Kap. 5 sowie v. a. S. 159. Dazu zählen beispielsweise Höfe, alchemische Laboratorien, Baustellen, antike Ruinen, Zeughäuser, Privatsammlungen und -bibliotheken sowie Orte der allgemeinen, wenngleich nicht immer öffentlichen Geselligkeit. Vgl. Pamela O. Long, Openness, Secrecy, Authorship. Technical Arts and the Culture of Knowledge from Antiquity to the Renaissance, Baltimore etc. 2001, S. 249, Klassisch hierzu ist Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde [erw. und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, dritter Tl.], Frankfurt am Main 1973; siehe auch Carlo Ginzburg, High and Low. The Theme of Forbidden Knowledge in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, in: Past and Present 73 (1976), S. 28–41, hier v. a. S. 38; Lorraine Daston, Neugierde als Empfindung und Epistemologie in der frühmodernen Wissenschaft, in: Andreas Grote (Hg.), Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, Opladen 1994, S. 35–59; dies./Park, Wunder und die Ordnung der Natur; Klaus Krüger (Hg.), Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit, Göttingen 2002; Peter Harrison, Curiosity, Forbidden Knowledge, and the Reformation of Natural Philosophy in Early Modern England, in: Isis 92 (2001), S. 265–290; James Dauphiné, La curiosité poétique pour les sciences et les métiers, in: Tibor Klaniczay/Eva Kushner/Paul Chavy (Hg.), Crises et essors nouveaux (1560–1610), Amsterdam etc. 2000, S. 427–436; Eamon, Science and the Secrets of Nature, v. a. S. 314–318. Colorni, Scotographia, Widmungsschreiben an den Kaiser, o. S. Ökonomie des Geheimen und Pluralität der Wissenskulturen
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lution des Wissens‹64 gestellt hat. Neugier wurde zu einem zentralen Motor für die frühneuzeitliche Wissenskultur im allgemeinen, darunter insbesondere auch für die ›Neue Wissenschaft‹. Das bedeutet umgekehrt aber keineswegs, daß alle Orte, an denen Neugier florierte oder gefördert wurde, automatisch Institutionen des offenen Wissens waren. Vor allem die Bedeutung der Höfe und der an ihnen gepflegten Kultur der Neugier für die Produktion von Wissen ist in diesem Zusammenhang lange Zeit unterschätzt worden.65 So konnten beispielsweise die oft von barocker Fülle gekennzeichneten fürstlichen Wunderkammern, mitunter aber auch die kaum weniger ehrgeizigen Kuriositätenkabinette privater Sammler zu relevanten Schauplätzen der Wissensproduktion werden.66 Die Formierung der ›(Neuen) Wissenschaft‹ wäre zudem nicht möglich gewesen ohne jene Gruppen der Gesellschaft, die – abseits der Institutionen des offenen Wissens – die europäische Neugier ebenso stillten wie beförderten, indem sie Mittlerdienste bei der Beschaffung von Informationen, materiellen Objekten und ›nützlichem Wissen‹ leisteten. Solche Mittler waren etwa Kaufleute, deren Bedeutung für die ›Wissenschaftliche Revolution‹ inzwischen zunehmend schärfer gesehen wird.67 Die Kultur der curiositas, die sich in der Frühen Neuzeit die Bahn brach, bedurfte in der Tat des permanenten Nachschubs. Zu den wichtigsten Triebkräften der Neugier im vormodernen Europa zählte der Handel mit Luxusgütern, 64 65
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Mokyr, The Gifts of Athena, passim. Vgl. auch Maxine Berg, The Genesis of ›Useful Knowledge‹, in: History of Science, 45 (2007), S. 123–133, hier S. 124–125. Bruce T. Moran (Hg.), Patronage and Institutions. Science, Technology, and Medicine at the European Court 1500–1750, Rochester 1991; 1981; ders., The Alchemical World of the German Court. Occult Philosophy and Chemical Medicine in the Circle of Moritz of Hessen (1572–1632), Stuttgart 1991; zusammenfassend auch ders., Courts and Academies, in: Katharine Park/Lorraine Daston (Hg.), Early Modern Science (= The Cambridge History of Science, Bd. 3), Cambridge 2006, S. 251–271; Paolo Galluzzi, Il mecenatismo mediceo e le scienze, in: Cesare Vasoli (Hg.), Idee, instituzioni, scienza ed arti nella Firenza dei Medici, Florenz 1980, S. 189–215; Mario Biagioli, Galileo, Courtier. The Practice of Science in the Culture of Absolutism, Chicago 1993; Thomas DaCosta Kaufmann, Empiricism and Community in Early Modern Science. Some Comments on Baths, Plants, and Courts, in: Anthony Grafton/Nancy Siraisi (Hg.), Natural Particulars. Nature and the Disciplines in Renaissance Europe, Cambridge/Mass. etc. 1999, S. 401–417, hier v. a. S. 411. Siehe jetzt auch das Themenheft I saperi nelle corti (= Micrologus. Natura, Scienze e Società Medievali 16 [2008]). Knapp zur Bedeutung der Höfe für die ›Wissenschaftliche Revolution‹ siehe auch Shapin, The Scientific Revolution, S. 126. Thomas DaCosta Kaufmann, From Mastery of the World to Mastery of Nature. The Kunstkammer, Politics, and Science, in: Ders., The Mastery of Nature. Aspects of Art, Science, and Humanism in the Renaissance, Princeton 1993, S. 174–194; Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993; Paula Findlen, Possessing Nature. Museums, Collecting, and Scientifc Culture in Early Modern Italy, Berkeley etc. 1994. Pamela H. Smith/Paula Findlen (Hg.), Merchants and Marvels. Commerce, Science and Art in Early Modern Europe, New York etc. 2002; Cook, Matters of Exchange; Trepp, Von der Glückseligkeit alles zu wissen, hier v. a. S. 399–400. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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mit exotischen Objekten und entlegenen Informationen – mit Gütern also, die nie gänzlich von der Sphäre des Geheimen zu trennen waren, verschiedentlich auch ausdrücklich als Geheimnisse (der Natur) bezeichnet wurden und keineswegs immer aus primär wissenschaftlichem Interesse auf den Markt gelangten. Dabei gilt auch hier, daß Neugier nicht nur Geheimnisse aufdeckte, sondern auch immer wieder neue Geheimnisse hervorbrachte.68 Ein Beispiel dafür bieten die aus merkantilen Motiven unternommenen außereuropäischen Entdeckungsreisen und Expeditionen, die alsbald einen in den Augen der Zeitgenossen kaum versiegenden Strom von ebenso wundersamem wie geheimnisvollem Wissen zutage förderten.69 Der englische virtuoso Joseph Glanvill (1636–1680), ein Mitglied der Royal Society, sprach beispielsweise ausdrücklich von einem »America of secrets«.70 Es ist in unserem Kontext aufschlußreich, daß noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts in einem maßgeblichen englischen Lexikon das Geheimnis nicht nur als etwas absichtlich Verborgenes (»studiosly hidden«), sondern auch als ein noch nicht entdecktes Objekt definiert wurde (»a thing unknown, something not yet discovered«).71 Eine »Geschäftemacherei mit dem Wunderbaren« (Lorraine Daston) war ein unausbleibliches Produkt der aufblühenden Neugier, trug aber ebenfalls dazu bei, jenes höchst heterogene Wissen zu generieren, aus dem nicht zuletzt die Vertreter der ›Neuen Wissenschaft‹ zu schöpfen vermochten.72 Zwar glaubten dabei zumindest die Vertreter der ›Neuen Wissenschaft‹, das aus diesem Steinbruch gewonnene Wissen müsse zunächst kritisch überprüft werden, um den eigenen Ansprüchen zu genügen. Unterhalb dieser Schwelle der kritischen Prüfung, Verarbeitung und Deutung waren aber, wie gesagt, zunächst einmal Vermittler und Beschaffer von Informationen, Objekten und Wissensgütern nötig. Man kann diese Wissensvermittler und -händler der Frühen Neuzeit auch als »Experten«73 bezeichnen. Unabhängig von der gewählten Bezeichnung wird der Historiker 68 69 70 71
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Aleida Assmann/Jan Assmann, Die Erfindung des Geheimnisses durch die Neugier, in: Dies. (Hg.), Geheimnis und Neugier (= Schleier und Schwelle, Bd. 3), München 1999, S. 7–11, hier S. 7. Shapin, The Scientific Revolution, S. 19. Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 273. So Samuel Johnson in seinem Dictionary of the English Language (London 1755), zitiert nach Sissela Bok, Secrets. On the Ethics of Concealment and Revelation, New York 21989, S. 9 [Hervorhebung D.J.]. Diese Definition erweist sich somit als durchaus der Tradition des 16. Jahrhunderts verpflichtet: Cardano zum Beispiel war – wie wir weiter oben gesehen haben – ähnlicher Ansicht. Zur intensiven Beschäftigung der Royal Society mit exotischem Wissen siehe Eamon, Science and the Secrets of Nature, S. 299; siehe ebenfalls Daston/Park, Wunder und die Ordnung der Natur, v. a. S. 282. Zur Bedeutung der Neugier für die Gewinnung von ›useful knowledge‹ siehe auch Harrison, Curiosity, v. a. S. 289. Eric H. Ash, Power, Knowledge, and Expertise in Elizabethan England, Baltimore etc. 2004; Mokyr, The Gifts of Athena, v. a. S. 57. Ökonomie des Geheimen und Pluralität der Wissenskulturen
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jedenfalls in dieser Tätigkeit genau jene Rolle lokalisieren, die Juden in der (Wissens-)Gesellschaft der Frühen Neuzeit in hohem Maße ausübten. In der Tat war es ein eklektisches, sehr viele Gebiete umspannendes Wissen, das frühneuzeitliche Juden glaubhaft anzubieten und zu beschaffen versprachen, vornehmlich durch die Kanäle des Handels. Zu den Kunden konnten Höfe ebenso zählen wie Privatleute oder wissenschaft liche Gesellschaften. Nicht selten prägte eine fast erratische Enzyklopädik das Werk und die praktischen Interessen jener jüdischen Autoren, die über die Natur und ihre Phänomene schrieben und sprachen.74 Dadurch konnte zumindest in den Augen der Exponenten der ›Neuen Wissenschaft‹ der Eindruck erweckt werden, daß es dem Wissen von Juden – mit einem Wort, wenngleich einem überaus wichtigen75 – an »Methode« fehle. Dies bedeutete aber keineswegs, daß die Dienste von Juden als Wissensvermittler und -händler damit verzichtbar wurden. So sprach der Gelehrte Marin Mersenne (1588–1648), der im 17. Jahrhundert viel für die Popularisierung der Ideen der ›Neuen Wissenschaft‹ leistete,76 den Juden zwar ausdrücklich die Fähigkeit zur »Methode« ab.77 Jedoch ließ er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit oft von jenen exotischen Objekten und Luxusgütern inspirieren, an deren Handel und Bereitstellung gerade Juden in der Frühen Neuzeit maßgeblich beteiligt waren.78 Erst vor dem hier umrissenen Hintergrund läßt sich also die Rolle von Juden in der Wissenskultur der Frühen Neuzeit präzise beschreiben. Für diese Rolle gilt dann nicht zuletzt das, was Joel Mokyr – wenn auch mit Blick auf das 18. Jahrhundert – allgemein über die Stellung des »Experten« in der vormodernen Wissenskultur gesagt hat: »The historical question is not whether engineers and artisans ›inspired‹ the scientific revolution or, conversely, whether the Indus-
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Gianfranco Miletto, Glauben und Wissen im Zeitalter der Reformation. Der salomonische Tempel bei Abraham ben David Portaleone (1542–1612), Berlin etc. 2004; Siehe auch David B. Ruderman, At the Intersection of Cultures. The Historical Legacy of Italian Jewry, in: Vivian B. Mann (Hg.), Gardens and Ghettos. The Art of Jewish Life in Italy, Berkeley etc. 1989 S. 1–23, hier v. a. S. 19; Speziell zur Bedeutung von Juden für die Beschaffung von seltenen Texten siehe Noah J. Efron, Common Goods. Jewish and Christian Householder Cultures in Early Modern Prague, in: Diane Wolfthal (Hg.), Peace and Negotiation. Strategies for Coexistence in the Middle Ages and the Renaissance, Turnhout 2000, S. 233–255, hier S. 238. »Method was meant to be all«, so pointiert Shapin, The Scientific Revolution, 1996, S. 90. Siehe auch Ernan McMullin, Openness and Secrecy in Science. Some Notes on Early History, in: Science, Technology and Human Values 10 (1985), S. 14–23, hier S. 17. Martha Ornstein, The Role of Scientific Societies in the Seventeenth Century, Chicago 31938, S. 140. »[C]et espece de gens sont fort ignorans et n’ont le plus souvent nulle methode en ce qu’ils donnent, s’il y a quelque chose de bon«, so Mersenne in einem Brief an André Rivet vom 17. September 1632, abgedruckt in: Correspondance du P. Marin Mersenne, hg. von Paul Tannery und Cornélis de Waard, Bd. 3, Paris 1946, S. 329. Daston, Neugierde als Empfindung und Epistemologie, S. 302. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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trial Revolution was caused by ›science‹. It is whether practical men could have access to propositional knowledge that could serve as the epistemic base for new techniques.«79
Optionen und Utopien Es ist – nach dem bisher Gesagten – bezeichnend, daß einer der ersten Juden, denen die Aufnahme in die berühmte Royal Society zuteil wurde, ausgerechnet ein sephardischer Jude war, »who traded in scientific intelligence«.80 Die Rede ist von Emanuel Mendes da Costa (1717–1791), der 1747 in die Royal Society gewählt wurde und zwischen 1763 und 1767 sogar das Amt eines Clerk bekleidete.81 Seit 1752 war er außerdem Mitglied in der Society of Antiquaries. Da Costa genoß eine beträchtliche Reputation für seine Expertise auf einigen der buchstäblich entlegensten Gebieten des menschlichen Wissens. So war er beispielsweise ein begehrter Gesprächpartner über die Thematik der chinesischen Juden, bei denen damals nicht wenige Christen eine unversehrte Urversion der Bibel zu finden hofften. Vor allem aber erwarb sich da Costa eine Reputation als Händler von teilweise überaus exotischen Fossilien sowie als Autor einer Natural History of Fossils (1757). Ein Zeitgenosse nannte den sephardischen Juden sogar den »Grand Monarch [sic] des Fossilistes«. Um seine wundersamen Handelsobjekte – darunter Fossilien, Muscheln und Mineralien – zusammenzukaufen, knüpfte da Costa über ganz Europa Netzwerke und Kontakte. Fast 2.500 seiner Briefe haben sich bis heute erhalten, deren Mehrheit um den Fossilienhandel kreisen. Gewiß konnte da Costa bei seinen Aktivitäten und Geschäften nicht zuletzt von der Nähe zu klassischen ›jüdischen‹ Berufen wie dem Handel mit Korallen und Diamanten profitieren, die übrigens auch in seiner eigenen Familie ausgeübt wurden. Jedenfalls verkörpert da Costa par excellence den Typus des »Experten«, der mit wundersamem Wissen und oft auch mit (in diesem Fall versteinerten) Naturgeheimnissen handelte. Dies schließt freilich nicht aus, daß er einen beträchtlichen wissenschaftlichen Ehrgeiz hatte. Dennoch erinnert seine Biographie den Historiker – wie auch bereits die Zeitgenossen – eher an die eines Unternehmers als an das im England des 17. Jahrhunderts überhöhte Ideal des gesellschaftlich arrivierten gentleman-virtuoso. Immerhin finden sich in da Costas Biographie einige Kapitel – darunter seine Inhaftierung wegen Untreue sowie seine letzten Lebensjahre in völliger Verarmung –, die schwerlich mit dem Ehrencodex und dem Habitus des gentleman-virtuoso vereinbar waren. Sie ver-
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Mokyr, The Gifts of Athena, S. 65. Cantor, Quakers, Jews, and Science, S. 171. Alle Angaben zu da Costa entnehme ich Cantor, Quakers, Jews, and Science, v. a. S. 123 sowie S. 171–172. Optionen und Utopien
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weisen im Gegenteil vielmehr auf das finanzielle und unternehmerische Risiko, mit dem da Costas ›Wissenshandel‹ unweigerlich verknüpft war. Vieles von dem, was hier über da Costas ›Wissenshandel‹ gesagt wurde, läßt sich unschwer auch auf die sog. Hofjuden auf dem Kontinent übertragen, die häufig als Lieferanten von raren, exotischen und geheimen Wissensgütern auftraten.82 Der venezianische Rabbiner Simone Luzzatto erklärte in seinem, in der christlichen Welt vielgelesenen Discorso circa il stato de gl’hebrei (1638) sogar explizit, daß eine umsichtige christliche Regierung die Juden nicht zuletzt deshalb dulden solle, weil jüdische Kaufleute angeblich noch die entlegensten Güter zu beschaffen wüßten.83 Eine hervorstechende Anomalie der jüdischen Berufsstruktur führte zudem zu Kuriositätenkabinetten von ganz besonderer Art: Denn die Pfandleihe, wie sie unter Juden weit verbreitet war, generierte – auch ohne gezielte Sammelabsicht – nach damaligen Maßstäben kleine Wunderkammern. In den Geschäftsräumen des Pfandleihers – dem »Gewölb«, wie es damals vielsagend hieß84 – stapelten sich denkbar verschiedene und oftmals kostbare Gegenstände, die bei versäumter Einlösung von jedermann gekauft werden konnten. Francis Bacon (1581–1626), der von Historikern oft zu einem der Ahnväter der modernen und offenen Wissenschaft überhöht85 und bereits von den frühen Mitgliedern der Royal Society gewissermaßen zum Patron stilisiert wurde,86 hat in seiner im 17. Jahrhundert mehrfach aufgelegten Gesellschaftsutopie New Atlantis (Nova Atlantis) bezeichnenderweise genau die hier umrissene Rolle des Wissensvermittlers bzw. Experten für die Juden vorgesehen. Dieser Aspekt der Utopie erweist sich für unseren Kontext als höchst aufschlußreich, wenngleich er bisher nicht gebührend berücksichtigt worden ist. Es handelt sich im übrigen nicht um ein Werk von sekundärer Bedeutung: Vielmehr wissen wir, daß Bacons New Atlan-
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Siehe dazu weiter oben, v. a. das Kapitel zu »Geheimnissen und Geschäften«. Vgl. auch Jonathan Israel, European Jewry in the Age of Mercantilism 1550–1650, Oxford 1985, S. 144; Selma Stern, Der Hofjude im Zeitalter des Absolutismus. Ein Beitrag zur europäischen Geschichte im 17. und 18. Jahrhundert, aus dem Englischen übertragen, komm. und hg. von Marina Sassenberg, Tübingen 2001 [11950], v. a. S. 40. Simone Luzzatto, Discorso circa il stato de gl’hebrei. Et in particolar dimoranti nell’inclita città di Venetia, Venedig: Calleoni 1638 [ND 1976], Kap. 5. Vgl. z. B. Die Memoiren der Glückel von Hameln, übertr. von Bertha Pappenheim nach der Ausgabe von David Kaufmann, Wien 1910, S. 208–210. Siehe etwa B. J. T. Dobbs, From the Secrecy of Alchemy to the Openness of Chemistry, in: Tore Frängsmyr (Hg.), Solomon’s House Revisited. The Organization and Institutionalization of Science, Canton/Mass. 1990, S. 75–94, hier S. 89. Moody E. Prior, Bacon’s Man of Science, in: Journal of the History of Ideas 15 (1954), S. 348–370, hier S. 348. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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tis bereits unter Zeitgenossen eine besonders große Zahl von Lesern fand.87 Die Fragment gebliebene, 1627 postum veröffentlichte Gesellschaftsutopie ist sogar als ein damaliges »Zukunftsbild wissenschaftlicher Forschung« bezeichnet worden.88 An dieser Stelle empfiehlt es sich allerdings, zunächst die Rahmenhandlung und die Programmatik von Bacons New Atlantis zu skizzieren.89 Der Autor bettet seine programmatisch aufgeladene Utopie in eine narrative Rahmenhandlung ein. Deren Protagonisten sind eine Gruppe europäischer Seeleute, die nach einer tagelangen Irrfahrt im Stillen Ozean die abgelegene, bisher unbekannte Insel Bensalem erreichen. Im Verlauf ihres Aufenthalts bietet sich für die freundlich aufgenommenen Gäste – wie der europäische Ich-Erzähler berichtet – die Möglichkeit zu zahlreichen Einblicken in die Gesellschaft und die politisch-wissenschaftlichen Strukturen der Insel. Bensalem erweist sich in den Augen der staunenden Europäer als eine Idealgesellschaft, in der Toleranz, Gastfreundschaft, Sittlichkeit und Friedfertigkeit herrschen. Vor allem aber gilt Bacons Augenmerk der Darstellung der wissenschaftlichen Errungenschaften auf Bensalem. Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Haus Salomons (»Salomon’s House«), bei dem es sich um »die großartigste Gründung aller derartigen [Einrichtungen] auf der Erde« handelt.90 Diese Institution soll nach Auskunft der Einheimischen durch den auf der Insel verehrten König Solamona ungefähr 1.900 Jahre zuvor gegründet worden sein und weist Merkmale »eines Ordens oder einer Gesellschaft auf«.91 Das Haus Salomons, das von den sog. Vätern geleitet wird, vereint – wie in einem ausführlichen Bericht geschildert wird – das gesamte Spektrum entdeckerischexperimenteller Aktivitäten unter seinem Dach. Außer Bergbau und Medizin sind dies beispielsweise eine Art vormoderner Lebensmittelchemie sowie die Entwicklung von industrieller und militärischer Technologie. Außerdem zählen mechanische Werkstätten sowie mathematische und naturwissenschaftliche Sammlungen zur Ausstattung. Der Zweck des Hauses Salomons ist die »Erkenntnis 87
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»The general public were probably more familiar with [this work] than with any of Bacon’s more philosophical writings«, so Charles Webster, The Great Instauration. Science, Medicine and Reform 1626–1660, London 1975, S. 249. Klaus J. Heinisch, [Nachwort], in: Ders. (Hg.), Der utopische Staat, Reinbek 1960, S. 216–265, hier S. 217. Eine nützliche Einführung in dieses Werk Bacons gibt auch Rose-Mary Sargent, Bacons as an Advocate for Cooperative Scientific Research, in: Markku Peltonen (Hg.), The Cambridge Companion to Bacon, Cambridge 1996, S. 146–171, hier v. a. S. 152–164. Francis Bacon, New Atlantis, in: Works, hg. von James Spedding/Robert Leslie Ellis/Douglas Denon Heath, London 1861–1879, Bd. 3, S. 120–166. Soweit Zitate aus diesem Werk nachstehend auf deutsch wiedergegeben werden, entnehme ich sie der Übersetzung von Klaus J. Heinisch: Francis Bacon, Neu-Atlantis, in: Klaus J. Heinisch (Hg.), Der utopische Staat, Reinbek 1960, S. 171–215. Die Seitenzahlen der deutschen Ausgabe werden nachstehend in eckigen Klammern angegeben. Bacon, New Atlantis, S. 145 [193]: »the noblest foundation […] that ever was upon the earth.« Ebd.: »an Order or Society.« Optionen und Utopien
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der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt möglichen«.92 Bacons programmatischer Entwurf des Hauses Salomons hatte beträchtlichen Einfluß auf die Formierung des wissenschaftlichen Betriebs im 17. Jahrhundert und diente beispielsweise einige Jahrzehnte später bei der Gründung der Royal Society in England als wichtiges Vorbild.93 Jedoch wäre es voreilig, das Haus Salomons, so wie es bei Bacon gezeichnet ist, deswegen als eine notwendigerweise der Offenheit verpflichtete Institution des Wissens zu bezeichnen. Denn viele der im Haus Salomons entdeckten oder entwickelten wissenschaftlichen Innovationen sollten vor der Öffentlichkeit geheim gehalten und, wenn überhaupt, zuerst dem König und dem Senat der Insel anvertraut werden. Ein Eid verpflichtet die Mitarbeiter des Hauses zur Verschwiegenheit; dies gilt vor allem für jene zwölf Forscher, die in offizieller Mission im Ausland Informationen zu Technologien und Experimenten sammeln. Die wissenschaftliche Tätigkeit im Haus Salomons weist somit nicht nur Verflechtungen mit den Interessen der politischen Führung Bensalems auf, sondern überschreitet mitunter auch die Grenze zur Industriespionage. Bacons Haus Salomons weist augenscheinlich einen elitären Charakter auf.94 Ausgeprägt ist ebenfalls die Nähe zur Theorie der Staatsarkana, so daß in diesem Kontext das berühmte Baconsche Wort »Wissen ist Macht« nicht zuletzt eine ausgeprägte politische Dimension erhält.95 Interessanterweise ist es nun ausgerechnet ein jüdischer Kaufmann namens Joabin, der maßgeblich den Kontakt zwischen den europäischen Gästen und einem der Väter des Hauses Salomons vermitteln wird, als letzterer zum ersten Mal seit zwölf Jahren in einer feierlichen Zeremonie die Stadt, in der die Handlung spielt, besucht. Bacon zeichnet die Juden der Insel mit Sympathie. Der Jude Joabin, mit dem der Ich-Erzähler Freundschaft schließt, wird sogar als ein »trefflicher« (»good«) Mann beschrieben.96 Joabin ist demnach nicht nur Kaufmann, sondern auch ein »weiser« Mann, der sich in der Gesellschaft und den Bräuchen Bensalems überaus gut auskennt und den europäischen Gästen einen ausführlichen Bericht
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Ebd., S. 156 [205]: »The End of our Foundation is the knowledge of Causes, and secret motions of things; and the enlarging of the bounds of Human Empire, to the effecting of all things possible.« Siehe z. B. Jim Bennett/Scott Mandelbrote (Hg.), The Garden, the Ark, the Tower, the Temple. Biblical Metaphors of Knowledge in Early Modern Europe, Oxford 1998, S. 144; Prior, Bacon’s Man of Science, S. 348. Ash, Power, Knowledge, and Expertise, S. 207–209. J. Weinberger, Science and Rule in Bacon’s Utopia. An Introduction to the Reading of the New Atlantis, in: The American Political Science Review 70 (1976), S. 865–885, hier S. 870. Moody Prior hingegen ist zu idealistisch, wenn er in den Mitarbeitern des Hauses eher Wissenschaftler »above the state« sieht. Prior, Bacon’s Man of Science, S. 368. Bacon, New Atlantis, S. 153 [202]. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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über die Insel gibt.97 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung Joabins, »Moses habe durch eine geheime Kabbala jene Gesetze [erlassen], die heute im Volke Bensalems gelten«.98 Der ortsfremde Inselbesucher ist über diese Auskunft erstaunt und sieht in ihr lediglich »jüdische Träumereien« (»Jewish dreams«).99 Dieses Kopfschütteln des Gastes muß allerdings für die Bewertung der Worte Joabins durchaus kein Maßstab sein. Immerhin wird der jüdische Inselbewohner, wir wir gesehen haben, von Bacon zuvor ausdrücklich als ein Mensch von »tiefer Weisheit« in die Handlung eingeführt, der »die Gesetze und Gebräuche jenes Volkes Bensalems überaus gut kannte«.100 Joabin müßte also eigentlich wissen, wovon er redet.101 Es ist daher vermutet worden, hinter Joabins Worten verberge sich Bacons impliziter Wunsch, »die naturwissenschaftliche Utopie ›Haus Salomos‹ mit einer geheimen Kabbala zu verbinden«.102 Ob diese weitreichende These tatsächlich zutrifft, sei dahingestellt. In welcher Beziehung auch immer die »geheime Kabbala« der Insel zu den wissenschaftlichen Aktivitäten des Hauses Salomons steht, es kann nicht übersehen werden, daß es der Jude Joabin ist, der mit den zentralen (Gründungs-)Geheimnissen der Inselgesellschaft vertraut ist. Die bisherige Forschung hat sich allzu sehr mit der Frage beschäftigt, inwieweit Bacons Charaktisierung Joabins auf eine positive oder negative Sicht des Autors auf das Judentum hindeutet.103 Das aber kann nicht der eigentlich entscheidende Punkt sein. Joabin ist jedenfalls – entgegen einer prominenten Meinung104 – weitaus mehr als lediglich eine christliche Reminiszenz Bacons an die jüdischen Kabbalisten der Frühen Neuzeit und ebenfalls mehr als nur ein Hinweis auf die chiliastische Dimension von Bacons Gesellschaftsutopie. Wie aber läßt sich dann die Figur des weisen Juden deuten? Joabins genaues Verhältnis zum Haus Salomons ist aus Bacons Fragment nicht zu ermitteln, allerdings spricht vieles dafür, daß er als ein Vermittler für Kontakte zum Haus Salomons gesehen werden kann.105 Er 97 Ebd. S. 151 [200]: »The man was a wise man, and learned, and of great policy, and excellently seen in the laws and customs of that nation.« 98 Ebd.: »[T]hat Moses by a secret cabala ordained the laws of Bensalem which they now use.« 99 Ebd. 100 Ebd. 101 Vgl. auch Friedrich Niewöhner, Natur-Wissenschaft und Gotteserkenntnis. Das jüdische Modell, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 18 (1995) S. 79–84, hier S. 83. 102 Ebd. 103 Esther Menascè, Presenza ebraica nell’utopia baconiana della New Atlantis, in: Rassegna mensile di Israel 39 (1973), S. 682–712; Frances A. Yates, Science, Salvation, and the Cabala, in: New York Review of Books vom 27. Mai 1976, S. 27–29; Lewis S. Feuer, Francis Bacon and the Jews. Who was the Jew in the New Atlantis?, in: Jewish Historical Studies. Transactions of the Jewish Historical Society of England 29 (1982–1986), S. 1–25. 104 Yates, Science, Salvation, and the Cabala. 105 Feuer, Francis Bacon and the Jews, S. 2. Optionen und Utopien
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hat er offenbar keine offizielle Funktion in der differenzierten Hierarchie des Hauses Salomons inne, ihm kommt jedoch informell eine »advisory, pioneer or stimulating role« zu.106 Wir können die Figur des Joabin also als einen Hinweis darauf sehen, daß das Spektrum der für Juden möglichen Aktivitäten innerhalb der damaligen, christlich geprägten Wissenskulturen weitaus mehr Optionen als lediglich Teilnahme oder Ablehnung bereithielt. In der Forschung ist behauptet worden, es sei für Bacon auch aus politischen Gründen zu riskant gewesen, den Juden zum offiziellen Mitarbeiter oder Mitglied des Hauses Salomons zu ernennen.107 Dies aber dürfte ein vorschneller Schluß sein, zumal eine umfassende Studie über Bacons Verhältnis zu den Juden bisher fehlt.108 Wir haben wenig Grund zu der Annahme, daß Bacon pejorativ auf die Rolle des ungebundenen Wissensvermittlers/Experten hinab sah, die er den Juden – personifiziert durch Joabin – zugewiesen hatte. Vielmehr fällt auf, daß der jüdische Kaufmann – abgesehen von einer Ausnahme – die einzige Figur im nach-solamonischen Bensalem ist, die von Bacon explizit als »weise« (»wise«) bezeichnet wird.109 Bacon war also augenscheinlich der Überzeugung, daß eine Institution wie das Haus Salomons, die nicht gänzlich ohne Geheimhaltung von Wissen auskommen kann,110 auf die Dienste von und den Kontakt zu Juden nicht verzichten solle. Angesichts der in der vorliegenden Studie beigebrachten Indizien für die Bedeutung von Juden für die frühneuzeitliche Ökonomie des Geheimen kann es nicht überraschen, daß ausgerechnet der Jude Joabin als Vermittler das Vertrauen einer Institution genießt, in der Strukturen und Räume der Geheimhaltung eine wichtige Rolle spielen. Es entbehrt vordergründig nicht einer gewissen Ironie, daß ausgerechnet Bacon, der in der Historiographie oftmals als ein Ahnherr der Ideologie des offenen Wissens dargestellt worden ist, in seiner programmatischen Utopie nicht nur die zumindest partielle Notwendigkeit von nicht-offenen Formen und Orten des Wissens beschrieb, sondern auch deren Chancenangebot für frühneuzeitliche Juden. Bei genauerer Betrachtung muß dies allerdings nicht überraschen. Der englische Philosoph und Staatsmann äußerte auch an anderer Stelle durchaus Verständnis für die Arkanpolitik des frühneuzeitlichen Staates.111 Mehr noch: 106 Ebd., S. 20; Menascè, Presenza ebraica nell’utopia, S. 704. 107 Feuer, Francis Bacon and the Jews, S. 19. 108 Nach wie vor gültig ist die Aussage von Katz, daß »the connection between Bacon and the Jews has not yet been fully appreciated«. David S. Katz, Philo-Semitism and the Readmission of the Jews to England 1603–1655, Oxford 1982, S. 25. 109 Bacon, New Atlantis, S. 151 [200]; siehe dazu auch Weinberger, Science and Rule, S. 881. 110 Vgl. dazu auch Ash, Power, Knowledge, and Expertise, S. 209. 111 Francis Bacon, The Advancement of Learning, in: Works, Bd. 3, S. 254–491, hier S. 473–474: »Concerning Government, it is a part of knowledge secret and retired […].« Vgl. auch seine Essays or Counsels Civil and Moral, in: Works, Bd. 6, S. 377–517, hier Essay VI (Of Simulation and Dissimulation). Siehe auch Essay XX (Of Counsel), v. a. S. 425.
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Bacon selbst und viele seiner frühen Anhänger glaubten – unabhängig von den vorgebrachten Apologien des offenen Wissens – durchaus noch an die Existenz von Geheimnissen der Natur. Insbesondere war bis ins 18. Jahrhundert auch unter den führenden Köpfen der ›Neuen Wissenschaft‹ die Ansicht verbreitet, daß es Naturphänomene gebe, denen »okkulte Eigenschaften« zugrunde lägen (beispielsweise im Falle des Magnetismus). Die Kritik galt also nicht so sehr der Vorstellung von den Geheimnissen der Natur als vielmehr dem Glauben, daß sich die okkulten Eigenschaften der Dinge nicht erklären ließen.112 Ziel Bacons und seiner Anhänger war es, die okkulten Eigenschaften auf experimentelle Weise ans Tageslicht zu bringen und der Natur die Geheimnisse gleichsam zu entwinden. Lange Zeit hat sich in der Historiographie die Meinung gehalten, Bacon habe in diesem Zusammenhang sogar eine »Folterung« der Natur befürwortet, um ihr die Geheimnisse zu entlocken. Die jüngere Forschung sieht diesen Punkt inzwischen differenzierter.113 Entscheidend für unseren Zusammenhang aber ist die Einsicht, daß Experten, die – wie Joabin – das Potential hatten oder den Ruf genossen, Geheimnisse zu liefern oder mit ihnen umgehen zu können, für Bacons universales Projekt einer Instauratio magna in der Tat gebraucht wurden. Es konnte für Juden also auch im Zeitalter der ›Neuen Wissenschaft‹ aussichtsreicher sein, eine Arkankompetenz – ob zugeschrieben oder real – zu beanspruchen anstatt das Ideal eines offenen Wissens zu propagieren, zumal sich die Realität für Juden schwieriger gestaltete als in Bacons Utopie. Die sich formierenden Institutionen des offenen Wissens etwa blieben für Juden weitgehend unzugänglich, nicht zuletzt weil die Ideologie der offenen Wissenszirkulation keineswegs mit einer Praxis der sozialen Offenheit einherging. Die Royal Society beispielsweise erwies sich lange als ein Ort der »gentlemanly constitution of scientific truth«.114 Die Glaubwürdigkeit von Fakten, zumal wenn diese auf experimentellem Wege erzielt wurden, war in den Augen vieler Mitglieder an die soziale Stellung des Experimentators geknüpft – und dieser war idealerweise ein gentleman. Dies nun 112 Keith Hutchison, What Happened to Occult Qualities in the Scientific Revolution?, in: Isis 73 (1982), S. 233–253. 113 Dennoch läßt sich festhalten, daß »Bacon was striving toward the idea of the contained, controlled experiment in which a natural object is forced by art or technology to yield ist secrets«. So jetzt Carolyn Merchant, »The Violence of Impediments«. Francis Bacon and the Origins of Experimentation, in: Isis 99 (2008), S. 731–760, hier S. 748; siehe auch Eamon, Science and the Secrets, S. 299. Insgesamt zu dieser Debatte: Carolyn Merchant, Secrets of Nature. The Bacon Debates Revisited, in: Journal of the History of Ideas 69 (2008), S. 147–62; außerdem Brian Vickers, Francis Bacon, Feminist Historiography, and the Dominion of Nature, in: Journal of the History of Ideas 69 (2008), S. 117–41; Peter Pesic, Proteus Rebound. Reconsidering the »Torture of Nature«, in: Isis 99 (2008), S. 304–317; ders., Wrestling with Proteus. Francis Bacon and the »Torture« of Nature, in: Isis 90 (1999), S. 81–94. 114 Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago etc. 1994, S. xxi. Optionen und Utopien
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konnten Juden nach damals geltender Auffassung kaum für sich beanspruchen, zumal ökonomisches Kapital allein die Bedeutung von Faktoren wie Ehre und Habitus schwerlich aufzuwiegen vermochte. Juden und Kaufleute werden bezeichnenderweise in einer zeitgenössischen englischen Schrift als jene zwei Gruppen benannt, die es kaum je zum wahren gentleman bringen könnten.115 Die Idee von einer offenen Zirkulation des Wissens führte also in der Realität auf sozialer Ebene keineswegs automatisch zu einem durchlässigen, für alle offenen Regime des Wissens.116 Weder in England noch auf dem Kontinent waren die Institutionen des offenen Wissens hinsichtlich der sozialen Struktur ihrer Mitglieder in der Praxis tatsächlich in signifikanter Weise durch Offenheit geprägt. Zahlreiche wissenschaftliche Gesellschaften in Europa, etwa die Académie Royale in Frankreich, kennzeichnete vielmehr eine beträchtliche soziale Exklusivität, zu deren Leidtragenden freilich nicht nur Juden zählten.117 Obzwar beispielsweise die 1660 gegründete Royal Society auf dem Papier versprach, ihre Mitglieder ohne Ansehen der Religion, der Nation oder des Berufes zu ernennen,118 wurde der erste Jude erst Anfang des 18. Jahrhunderts in ihre Reihen aufgenommen.119 Generell läßt sich sagen, daß der Weg von Juden in die Institutionen des offenen Wissens – namentlich in die wissenschaftlichen Gelehrtengesellschaften – sehr oft von Hindernissen gesäumt war.120 Lange Zeit boten lediglich die medizinischen Fakultäten einiger europäischer, vor allem italienischer Universitäten, namentlich Padua, Juden die Möglichkeit zum (Medizin-)Studium.121 Im deutschsprachigen 115 »[One ought] not account him a gentleman, which is onely descended of noble bloud, in power great, in iewels rich, in furniture fine, in attendants brave: for all these are found in Merchant and Iewes. But to be a perfect Gentleman is to bee measured in his words, liberall in giuing, sober in diet, honest in liuing, tender in pardoning, and valiant in fighting«, schreibt Richard Gainsford, The Rich Cabinet Furnished with Varieties of Excellent Discriptions, Exquisite Characters, Witty Discourses, and Delightfull Histories, London 1616, hier zitiert nach Shapin, A Social History of Truth, S. 62. 116 Julian Martin, Natural Philosophy and its Public Concerns, in: Stephen Pumfrey/Paolo L. Rossi/ Maurice Slawinski (Hg.), Science, Culture and Popular Belief in Renaissance Europe, Manchester etc. 1991, S. 100–118, hier S. 105–109. 117 Long, Openness, Secrecy, Authorship, S. 248; Shapin, The Scientific Revolution, 1996, S. 123. 118 »[To] freely admit […] Men of different Religions, Countries, and Professions of Life«, berichtet Sprat, The History of the Royal Society, London 1667, hier zitiert nach Cantor, Quakers, Jews, and Science, S. 104. 119 Ebd., S. 106. 120 Robert Bonfil, Accademie rabbiniche e presenza ebraica nelle università, in: Gian Paolo Brizzi/ Jacques Verger (Hg.), Le università dell’Europa dal Rinascimento alle riforme religiose, Mailand 1991, S. 133–151. 121 Ruderman, Jewish Thought, S. 372. Zu jüdischen Studenten an weiteren italienischen Universitäten wie Pisa, Perugia oder Bologna siehe Vittore Colorni, Sull’ammissibilità degli ebrei alla laurea anteriormente al secolo XIX, in: Ders., Judaica Minora. Saggi sulla storia dell’ebraismo italiano
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Raum war diese Option bis ins 17. Jahrhundert so gut wie völlig ausgeschlossen. Erst im 18. Jahrhundert öffneten sich deutsche Universitäten allmählich. Gleichwohl gab es im Zeitraum zwischen 1706 und 1771 lediglich etwa 150 jüdische Studenten an deutschen Universitäten. Erst durch eine Zunahme im letzten Viertel des 18. Jahrhundert stieg die Zahl für das gesamte Jahrhundert auf etwa 300.122 Es sollte allerdings nicht übersehen werden, daß noch später im Zeitalter der »bürgerlichen Gleichstellung« auch an den Universitäten die Karrierewege für Juden ebenso beschränkt (auf das Fach Medizin) wie schwierig waren.123 Soziale Diskriminierung jüdischer Akademiker blieb ein weithin verbreitetes Phänomen.124 Noch im 19. Jahrhundert waren es oft akademische Nischen, über die sich der Eintritt der Juden in wissenschaftliche Berufe wie die moderne Medizin vollzog.125 Man wird in dem hier skizzierten Hintergrund einen von mehreren Gründen dafür sehen können, weshalb die Ökonomie des Geheimen und die Rolle des institutionell nicht gebundenen Experten unter Juden bis ins 18. Jahrhundert hinein attraktiv blieb. Allerdings müssen wir eine wichtige Einschränkung vornehmen. Es wäre abwegig zu behaupten, daß sich nur jene Juden in die Ökonomie des Geheimen ›verirrten‹, die etwa den Sprung an die Universitäten nicht geschafft hatten. Abramo Colorni beispielsweise hatte, wie bereits erwähnt, durchaus die Wahl zwischen der Ökonomie des Geheimen und der Universität – und er entschied sich ohne ersichtlichen Druck für den Weg eines professore de’ secreti. Zahlreiche weitere Beispiele, die wir in den vorangegangenen Kapiteln angeführt haben, deuten ebenfalls darauf hin, daß der Zuspruch für die Ökonomie des Geheimen keineswegs einzig und allein als eine Reaktion auf die soziale Ausgrenzung aus den Institutionen des offenen Wissens erklärt werden kann. Dies nicht zuletzt deshalb, weil etwa die Ausgrenzung von Juden aus den wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien ja den Bemühungen um vergleichbare Institutionen auf jüdischer Seite keineswegs den Boden entzog. Wenngleich Juden zu keinem Zeitpunkt in der Frühen Neuzeit zu einer markanten Trägergruppe der ›Wissenschaftlichen Revolution‹ wurden, so existierten zum Beispiel in Italien – namentlich im 18. Jahrhundert – jüdische Talmud Tora-Schulen, die in ihrem Aufbau deutlich an dall’antichità all’età moderna, Mailand 1983, S. 473–489. 122 Jacob Toury, Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum, in: Hans Liebeschütz/Arnold Paucker (Hg.), Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800–1850, Tübingen 1977, S. 139–242, hier S. 181. Siehe auch Monika Richarz, Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848, Tübingen 1974. 123 Richarz, Der Eintritt der Juden; Eberhard Wolff, Antijudaismus als Teil der Judenemanzipation. Die Auseinandersetzung des Göttinger Geburtshelfers Friedrich Benjamin Osiander mit seinem Schüler Joseph Jacob Gumprecht um 1800, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 17 (1998), S. 57–100; William W. Brickman, Lemma Universities, in: EJ, Bd. 20, S. 406–409. 124 Richarz, Der Eintritt der Juden, v. a. S. 164–172. 125 Shulamit Volkov, Soziale Ursachen des jüdischen Erfolgs in der Wissenschaft, in: Dies., Antisemitismus als kultureller Code, München 2000, S. 146–165, v. a. S. 158–161. Optionen und Utopien
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das Modell einer »secular academy for higher learning« erinnern.126 Die Schule des vielseitig gebildeten Arztes und Rabbiners Isaac Lampronti (1679–1756) in Ferrara gab beispielsweise Publikationen heraus, die ihrem Anspruch nach den Bulletins wissenschaftlicher Akademien nacheiferten.127 In England wiederum soll im 18. Jahrhundert der »in London jetzo lebende Venedische Jude Servati […]/ein weit schöneres und besseres Laboratorium habe[n] /als die Societas Regia und die Apotheker /deren Laboratoria sonderlich der letzteren ihres / sonsten vortrefflich.«128 Juden bot sich also prinzipiell durchaus die Möglichkeit, Strukturen und Institutionen des in der Mehrheitsgesellschaft tradierten bzw. sich formierenden Wissenschaftsbetriebs zu adaptieren oder nachzubilden.129 Unabhängig davon blieb aber die Ökonomie des Geheimen eine in der Regel nicht minder attraktive Option. Man mußte, um auf Bacons Utopie zurückzukommen, keineswegs ein offizielles Mitglied des Hauses Salomos sein, um als Experte und Mittler von dieser Institution respektiert und benötigt zu werden.
Arkana und Ansehen im Zeitalter der Aufklärung. Drei Karrieren Ein denkbarer Einwand gegen die bisherige Argumentation läßt sich in zwei Wort fassen: die Aufklärung. Wurde nicht all das, was wir bisher über die Ökonomie des Geheimen und ihre Chancen gesagt haben, mit dem aufziehenden Zeitalter der Aufklärung hinfällig? Entzog nicht die Aufklärung auf christlicher Seite der Ökonomie des Geheimen den Boden, während auf jüdischer Seite die Haskala eine neue Generation aufgeschlossener und bildungshungriger Juden hervorbrachte? So einfach war es – bekanntlich – nicht. In Wahrheit war es wohl noch viel komplizierter. Wie etwa will man die Tatsache deuten, daß einer der ersten Juden – wenn nicht sogar der erste –, der im 18. Jahrhundert an der ehrwürdigen Universität Göttingen die Gelegenheit erhielt, vor einer versammelten Professorenschaft der physikalischen Fächer einen Beweis seines Wissens abzugeben, ausgerechnet der
126 Ruderman, Contemporary Science and Jewish Law, S. 212. 127 Ebd. 128 Johann Jacob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten […] Was sich Curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahrhunderten mit denen in alle IV. Theile der Welt sonderlich durch Teutschland zerstreuten Juden zugetragen […], Frankfurt am Main/Leipzig 1714 [ND Berlin 1922, 4 Bde.], hier VI. Buch, Kap. 23, S. 403. Ich konnte zu diesem venezianischen Juden Servati (Sarfatti?) bisher keine weiteren Informationen finden. Sein Name fehlt bei Nathan Koren, Jewish Physicians. A Biographical Index, Jerusalem 1973. 129 Siehe dazu auch Bonfil, Accademie rabbiniche, passim.
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jüdische Magus und »supernatural philosopher«130 Jakob Philadelphia war? Der Augenzeuge Heinrich Wilhelm Seyfried, Herausgeber der Zeitschrift Berliner Peitsche, hat uns einen anschaulichen Bericht über diesen Auftritt des jüdischen Magus hinterlassen: »Zugleich bewies Philadelphia, daß er auch in der Phisik nicht unerfahren war. Noch erinnere ich mich auf das lebhafteste, daß er auf einer berühmten Universität in Gegenwart der Professoren, die schönsten phisikalischen Experimente mit größtem Glücke anstellte; eben diese Professoren, diese sachverständigen Männer in der Phisik, versagten dem Philadelphia ihren vollkommenen Beifall nicht.«131 Werfen wir an dieser Stelle also einen genaueren Blick auf die Biographie Jakob Philadelphias (ca. 1734–1797), der im späten 18. Jahrhundert in ganz Europa mit seinen »physischen, mechanischen und optischen Künsten«132 auftrat. Was es mit diesem jüdischen Geheimniskundigen auf sich hat, ist nahezu in Vergessenheit geraten.133 Die Biographie Philadelphias kennen heute nicht einmal mehr die meisten Historiker der deutsch-jüdischen Geschichte. Den Zeitgenossen war der Name des Mannes, der an »an fast allen Höfen Europas mit fulminantem Erfolg«134 auftrat, hingegen ein fester Begriff. Noch im Allgemeinwissen des 19. Jahrhunderts hatte der Name Philadelphia einen festen Platz. Der jüdische Magus ist in den Werken zahlreicher bedeutender deutscher Schriftsteller verewigt, so etwa bei E.T.A. Hoffmann, Jean Paul, Heinrich Heine, Ludwig Börne, Heinrich von Kleist, C.F.D. Schubart, Georg Christoph Lichtenberg, Friedrich Schiller und
130 So in einem Brief von Georg Christoph Lichtenberg an Georg Heinrich Hollenberg vom 9. Januar 1777. Siehe Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hg. von Wolfgang Promies, Frankfurt am Main, 1998, hier Bd. 4, S. 290. 131 Zitiert nach Ulrich Joost, Georg Christoph Lichtenberg: ›Avertissement‹ gegen Jakob Philadelphia 1777. Faksimile des Erstdrucks. Mit einer Einführung von Ulrich Joost, o. O. 2004, S. 6. 132 So in einer Eingabe von 1790 an den Stadtrat von Groningen in Holland. Zitiert nach Joost, Georg Christoph Lichtenberg: ›Avertissement‹, S. 12. 133 Die Zahl der Studien ist entsprechend überschaubar. Siehe v. a. Joost, Georg Christoph Lichtenberg: ›Avertissement‹; Reinhard Buchberger, Jüdische Taschenspieler, kabbalistische Zauberformeln. Jakob Philadelphia und die jüdischen Zauberkünstler im Wien der Aufklärung, in: Brigitte Felderer/ Ernst Strouhal (Hg.), Rare Künste. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Zauberkunst, Wien 2007, S. 151–166; Fritz Heymann, Der Erzmagier Philadelphia, in: Ders., Der Chevalier von Geldern. Eine Chronik der Abenteuer der Juden, Köln 1963 [11937], S. 360–383; Julius Sachse, Jacob Philadelphia, Mystic and Physicist, in: Publications of the American Jewish Historical Society 16 (1907), S. 73–83; siehe jetzt auch meine Studie, aus der ich nachstehend einige Abschnitte übernommen habe: Daniel Jütte, Haskala und Hokuspokus. Die Biographie Jakob Philadelphias (ca. 1734–1797) und ihre Implikationen für die deutsch-jüdische Geschichte, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 20 (2007), S. 40–51. 134 Buchberger, Jüdische Taschenspieler, S. 151. Arkana und Ansehen im Zeitalter der Aufklärung
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Johann Wolfgang von Goethe.135 Vom ›Dichterfürsten‹ wurde der Magus sogar persönlich in Weimar empfangen.136 Bereits über den Geburtsort Philadelphias besteht nach wie vor Uneinigkeit.137 Die ältere Forschung hat sich verschiedentlich auf Philadelphias eigene Behauptung gestützt, wonach er in der gleichnamigen Stadt im amerikanischen Pennsylvania geboren sei. Als Geburtsjahr des angeblich aus einer galizischen Familie stammenden Jacob Meyer gilt nach dieser Auffassung das Jahr 1734. Jedoch deutet manches darauf hin, daß die amerikanische Herkunft des Magiers eine Legende ist. Es mehren sich Indizien für seine Geburt in Wulfen bei Köthen. Gleichwohl ist eine Auswanderung der Familie nach Amerika in Philadelphias Kindheit nicht auszuschließen. Erste Auftritte als »Künstler der Mathematik« in England, Irland, Spanien und Portugal sollen in die 1760er Jahre datieren. Allein auf Philadelphias erhaltene Ankündigungszettel stützt sich die Annahme, der Künstler sei 1771 in Russland bei Kaiserin Katherina II. und 1772 beim Sultan Mustapha III. in Konstantinopel aufgetreten. In der zeitgenössischen Presse ausführlich dokumentiert sind dagegen Philadelphias Vorstellungen in Wien und Pressburg im Jahre 1774. Möglicherweise bildeten sie den Auftakt für eine große Europa-Reise des Magus. Seit der Mitte der 1770er Jahre sind Auftritte des jüdischen Magus überall im Heiligen Römischen Reich nachweisbar. Philadelphias Biographie liefert ein eindrückliches Beispiel dafür, daß die Ökonomie des Geheimen für Juden noch im 18. Jahrhundert die Möglichkeit zu bemerkenswerten Erwerbschancen sowie zu Anerkennung und diversen Auszeichnungen bot. Philadelphia war dabei mehr als nur ein talentierter Zauberund Trickkünstler, vielmehr beschäftigte er sich ebenfalls mit den Phänomenen der Natur und wies überdies Züge eines geschickt agierenden Unternehmers auf. Seine Biographie erinnert nicht von ungefähr an die erwähnte, ältere Tradition der jüdischen professori de’ secreti. Auch für Philadelphia bot die Betätigung in der Ökonomie des Geheimen nicht zuletzt die Chance, mit Höfen in Kontakt zu kommen und dabei eine dezidiert merkantile Agenda vorzutragen. So unterbreitete er beispielsweise 1783 von Köthen aus dem preußischen Hof ein detailliertes Vorhaben zur Stärkung des transatlantischen Amerikahandels, das vom zuständigen Minister geprüft, schließlich aber zurückgewiesen wurde.138 135 Für Nachweise vgl. Jütte, Haskala und Hokuspokus; siehe auch Erich Ebstein, Jacob Philadelphia in seinen Beziehungen zu Goethe, Lichtenberg und Schiller, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 3 (1911), S. 22–28. 136 Johann Wolfgang von Goethe, Tagebücher, hg. von Jochen Golz, Bd. I, 2, S. 427. 137 Alle weiteren Angaben zur Biographie im weiteren – soweit nicht anders angegeben – nach Jütte, Haskala und Hokuspokus. 138 Ludwig Geiger, Jacob Philadelphia and Frederick the Great, in: Publications of the American Jewish Historical Society, 16 (1907), S. 85–94.
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Man mag darin eine Niederlage für den jüdischen Magus sehen. Als viel entscheidender erweist sich aber mit Blick auf die Gesamtbiographie, daß Philadelphia – der nach dem Urteil des enthusiastischen C.F.D. Schubart (1775) noch ein Zeitalter zuvor als »abscheulichster Hexenmeister«139 auf dem Scheiterhaufen geendet hätte – zeitlebens durch das engmaschige Netz traditioneller antijüdischer Vorurteile und Ressentiments zu schlüpfen vermochte. Philadelphias Judentum war zwar den meisten Zeitgenossen prinzipiell bekannt, es wurde aber nicht gegen ihn gewendet.140 Manches spricht sogar dafür, daß dem jüdischen Magus, der für einige Jahre auch als Parnas (Vorsteher) seiner jüdischen Heimatgemeinde hervortrat, die Harmonisierung jüdischer Existenz mit dem spezifischen Profil einer überwiegend christlichen Gesellschaft weitaus besser glückte als zur selben Zeit den meisten Maskilim (den jüdischen Aufklärern). So dürfte auch dem Philosophen Moses Mendelssohn die Tatsache nicht entgangen sein, daß sein prominenter Glaubensbruder und Zeitgenosse, der Zauberkünstler Jakob Philadelphia, von judenfeindlichen Angriffen in weitaus höherem Maße verschont wurde als er selbst, der Verfechter der vernunftorientierten Haskala. Mendelssohn könnte dem Magus Philadelphia sogar bei dessen Auftritten in Dessau, Berlin oder Potsdam begegnet sein. Das bedeutet nicht, daß Mendelssohn Sympathien für den Magus hegte. Vielmehr sah er die Welt der Geheimnisse im allgemeinen kritisch. So vertrat der jüdische Denker und Aufklärer zum Beispiel die Meinung, das Judentum wisse nichts »von solchen Geheimnissen, die wir glauben und nicht begreifen müßten«.141 Nichts lag dem jüdischen »Sokrates von Berlin« ferner als eine Karriere in der Ökonomie des Geheimen, wie sie der Glaubensbruder Philadelphia gewählt hatte. Ebenso skeptisch dürfte Mendelssohn gegenüber dem weiter oben bereits geschilderten, regen Wirken seines (mutmaßlich) eigenen Onkels, des Hofjuden und ›Arkanunternehmers‹ Herz Wahl, gewesen sein.142 Mendelssohn glaubte dagegen an die Institutionen des offenen Wissens. Allerdings ist es symptomatisch, daß ihm die Aufnahme in die Berliner Akademie der Künste dennoch verwehrt blieb. Philadelphia hingegen schaffte es immerhin als Gast an den Katheder einer angesehenen Universität. Abseits der Institutionen des offenen Wissens waren Karrieren wie diejenige Philadelphias durchaus kein Einzelfall.143 Auf eine nicht minder bemerkenswerte 139 Zitiert nach Ebstein, Jacob Philadelphia, S. 24 140 Ausführlich dazu Jütte, Haskala und Hokuspokus, 42–49. 141 Moses Mendelssohn, Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesie, in: Gesammelte Schriften [Jubiläumsausgabe], hier Bd. 7, S. 65–107, hier S. 95 142 Siehe dazu ausführlich weiter oben das Kapitel zu »Geheimnissen und Geschäften«. 143 Auch eine Generation nach Philadelphias Tod lassen sich jüdische Zauberkünstler nachweisen, die sich offenkundig dezidiert an diesem Meister orientierten. Vgl. Jütte, Haskala und Hokuspokus, S. 48. Ebenfalls läßt sich noch im 18. Jahrhundert beobachten, daß sektierische Gruppen und Arkana und Ansehen im Zeitalter der Aufklärung
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Karriere konnte beispielsweise der jüdische Zeitgenosse, Magus, Alchemist und Kabbalist Samuel Jacob Chayyim Falk (ca. 1708–1782) zurückblicken.144 Auch über seine Herkunft existieren unterschiedliche Theorien. Eine Herkunft aus Bayern oder aus Podolien ist ebenso in Erwägung gezogen worden wie eine Kindheit in Galizien. Erwiesen ist dagegen, daß Falk spätestens seit den 1730er Jahren an einer Reihe von Höfen im Heiligen Römischen Reich als jüdischer Magus und Alchemist auftrat und dabei solches Aufsehen erregte, daß seine Vorführungen in manchen Territorien sogar verboten wurden. Es läßt sich nicht mit Gewißheit sagen, ob es diese Risiken waren, die Falk Anfang der 1740er Jahre dazu bewogen, nach England zu übersiedeln. Jedenfalls verdiente er in London, wo er sich schließlich niederließ, weiterhin seinen Lebensunterhalt mit allerlei arkanen und speziell kabbalistischen Künsten. Falks Ruf war weithin verbreitet. Unter Juden galt er als ›Ba’al Schem von London‹, also als ein Mann von wundersamen Fähigkeiten.145 In der Stadt an der Themse soll er von den portugiesischen Juden sogar wie ein Herrscher und Priester empfangen worden sein.146 Doch auch Christen nahmen die Dienste Falks, der sich gerne in einer wallenden Robe und mit langem weißem Bart zeigte,147 immer wieder in Anspruch. Der legendenumrankte italienische Magus Cagliostro ließ sich von Falk in den 1770er Jahren in den okkulten Wissenschaften unterweisen.148 Außerdem suchten Adlige aus ganz Europa Falk in London auf, darunter beispielsweise der Herzog von Orléans, der polnische
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Individuen, die außerhalb des (rabbinischen) Judentums standen, den Rekurs auf eine angeblich jüdische Magie geradezu forcierten. Vgl. Pawel Maciejko, Sabbatian Charlatans. The First Jewish Cosmopolitans, in: European Review of History 17 (2010), S. 361–378. Zu seiner Biographie v. a. Marsha Keith Schuchard, Dr. Samuel Jacob Falk. A Sabbatian Adventurer in the Masonic Underground, in: Matt D. Goldish/Richard H. Popkin (Hg.), Jewish Messianism in the Early Modern World, Dordrecht etc. 2001, S. 203–226; dies., Lord George Gordon and Cabalistic Freemasonry. Beating Jacobite Swords into Jacobin Ploughshares, in: Martin Mulsow/ Richard H. Popkin (Hg.), Secret Conversions to Judaism in Early Modern Europe, Leiden etc. 2004, S. 183–231; David B. Ruderman, Jewish Enlightenment in an English Key. Anglo-Jewry’s Construction of Modern Jewish Thought, Princeton etc. 2000, S. 159–169; Cecil Roth, The King and the Kabbalist, in: Ders., Essays and Portraits in Anglo-Jewish History, Philadelphia 1962, S. 139–164; Patai, Jewish Alchemists, S. 455–462; Scholem, Alchemie und Kabbala, S. 105–106. Der Band von Michal Oron, Mi-Ba’al Shed le-Va’al Shem. Shemu’el Falk, ha-Ba’al Shem mi-London (hebr.), Jerusalem 2002, konnte nicht mehr eingesehen werden. Zum Phänomen und zur Popularität solcher angeblich Wunder wirkenden Rabbiner siehe auch Karl Erich Grözinger, Jüdische Wundermänner in Deutschland, in: Ders. (Hg.), Judentum im deutschen Sprachraum, Frankfurt am Main 1991, S. 190–221. Patai, Jewish Alchemists, S. 461. Roth, The King and the Kabbalist, S. 142. Keith Schuchard, Lord George Gordon, S. 207. Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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Prinz Czartoryski sowie die Marquise de la Croix.149 In freimaurerischen Kreisen genoß Falk einen legendären Ruf.150 In der Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, ob Falk selbst seine okkulten Aktivitäten mit einer radikalen politisch-freimaurerischen Agenda verband.151 Einige Zeitgenossen jedenfalls hielten Falks eigentliche Ziele für ›gänzlich politisch‹.152 Erwiesen ist dagegen Falks Beschäftigung mit der Alchemie. In zeitgenössischen christlichen Reiseberichten ist verschiedentlich die Rede vom jüdischen ›Doktor Falk‹, der in London ein eigenes alchemisches Laboratorium unterhielt.153 Der christliche Abenteurer und westfälische Adlige Theodor Stephan Freiherr von Neuhoff (ca. 1694–1756), der in dieser Zeit Anspruch auf die korsische Königswürde erhob, versuchte sogar, durch Falks alchemische Experimente jene großen Mengen an Gold herzustellen, die er für seine geplante Rückkehr auf den Thron benötigte.154 Biographien wie die Philadelphias und Falks könnten nun den Eindruck erwecken, daß die Zahl der jüdischen Protagonisten in der Ökonomie des Geheimen im 18. Jahrhundert auf einen Kreis von professionellen Scharlatanen beschränkt war und daß dieses Gebiet von wahrhaft ›wissenschaftlich‹ gesinnten Juden bereits penibel gemieden wurde. Als eines der möglichen Gegenbeispiele sei daher zuletzt auf den jüdischen Arzt Mordechai Gumbel Schnaber (1741–1797) verwiesen, der in England unter dem Namen Gumpert Levison bekannt wurde.155 Der in eine Berliner Rabbinerfamilie geborene Levison übersiedelte in den 1770er Jahren nach London, wo er bei dem berühmten Chirurgen John Hunter (1728–1793) das Studium der Medizin aufnahm. Bereits 1776 wurde der preußische Jude Arzt am General Medical Asylum des Herzogs von Portland.156 Jenseits der Medizin beschäftigte sich Levison als Wissenschaftler beispielsweise intensiv mit Newtons Physik, aber auch mit den Theorien und der Systematik des schwedischen Naturforschers Carl von Linné.157 Als Jude wiederum versuchte er, in religionstheoretischen Veröffent149 Ebd., S. 206. 150 Ruderman, Jewish Enlightenment, S. 164. 151 Diese Meinung z. B. bei Keith Schuchard, Lord George Gordon; dies., Dr. Samuel Jacob Falk; kritisch zur politischen Dimension der Aktivitäten ist Ruderman, Jewish Enlightenment, S. 159–169. 152 Vgl. Keith Schuchard, Lord George Gordon, S. 209. 153 Patai, Jewish Alchemists, S. 462; Keith Schuchard, Lord George Gordon, S. 205. 154 Zu dieser Episode vgl. v. a. Roth, The King and the Kabbalist, S. 152–156. 155 Zu seiner Biographie siehe v. a. Hans Joachim Schoeps, Gumpertz Levison. Leben und Werk eines gelehrten Abenteurers des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 4 (1952), S. 150–161; Heinz Moshe Graupe, Mordechai Shnaber-Levison. The Life, Works and Thought of a Haskalah Outsider, in: Leo Baeck Institute Yearbook 41 (1996), S. 3–20; Ruderman, Jewish Thought, S. 332–368. 156 Ruderman, Jewish Thought, S. 345–346. 157 Ebd., S. 350. Arkana und Ansehen im Zeitalter der Aufklärung
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lichungen das Verhältnis von Wissenschaft und Judentum zu definieren. Levison, der die Kabbala verschiedentlich in Schutz nahm, war in mancher Hinsicht kritisch gegenüber dem Kreis um Moses Mendelssohn eingestellt.158 Dennoch wäre es problematisch, ihn deswegen außerhalb der Haskala-Bewegung zu verorten. Levison war zwar kein gewöhnlicher Maskil, gleichwohl weisen einige seiner Positionen – insbesondere seine Bestrebungen zur Verbreitung von Wissen und Bildung – durchaus eine Nähe zum Programm der jüdischen Aufklärung auf. Zudem hatte Levison 1784 die Begründung der hebräischen Zeitschrift Hame’assef, die ganz der Haskala verpflichtet war, begrüßt.159 Um so interessanter ist daher die Feststellung, daß auch der ›aufgeklärte‹, allemal wissenschaftlich versierte Jude Levison sich dennoch keineswegs von der Ökonomie des Geheimen abwandte. In London unterhielt er offenbar Kontakte zum erwähnten Magus Falk.160 Erwiesen ist sogar, daß Levison Teile eines alchemischen Werkes ins Englische übertrug.161 Zudem weilte er zeitweise am Hofe des schwedischen Königs Gustav III. in Stockholm, wo er nicht nur zum Professor für Medizin ernannt wurde, sondern schon sofort nach seiner Ankunft im Jahr 1780 ein alchemisches Labor aufzubauen begann.162 Levisons Beschäftigung mit der Alchemie war seiner Karriere also keineswegs abträglich – eher im Gegenteil. Es war nicht zuletzt diese Expertise, die ihm den Weg an den Hof des schwedischen Königs ebnete. Der Monarch wiederum ließ dem jüdischen Arzt-Alchemisten als einem der ersten Juden überhaupt die Auszeichnung eines Professorentitels zuteil werden. Wenngleich die Zusammenarbeit mit dem schwedischen Hof bereits einige Monate später vorläufig ein Ende fand und Levison wieder nach London zurückkehrte, bietet seine Biographie doch ein höchst aufschlußreiches Beispiel für die beruflichen Chancen, die sich für Juden noch im späten 18. Jahrhundert an der Schnittstelle von Arkanwissenschaft und höfischer Patronage eröffneten. Die Biographien Philadelphias, Falks und ihrer zahlreichen jüdischen Epigonen im 18. Jahrhundert führen ebenso wie das in den vorangegangenen Kapiteln ausgebreitete Material aus früheren Jahrhunderten deutlich vor Augen, daß insbesondere für gesellschaftliche Außenseiter in der Vormoderne die Ökonomie des Geheimen keineswegs weniger attraktiv war als ein System, das offenes Wissen propagierte. Dies bedeutet nicht, daß die Ökonomie des Geheimen keine Risiken barg, zumal für Juden. Unter den Nachteilen war etwa nicht zuletzt der oft hohe Grad der Abhängigkeit von Patronagestrukturen, mitunter sogar von einem einzigen Patron. 158 159 160 161
Graupe, Mordechai Shnaber-Levison, S. 19. Ebd. Keith Schuchard, Dr. Samuel Jacob Falk, S. 216. Es handelte sich um ein Werk mit dem Titel System öfver Alchemien des Schweden August Nordenskjöld, mit dem Levison auch privat bekannt war. Vgl. Schoeps, Gumpertz Levison, S. 153. 162 Ruderman, Jewish Thought, S. 348.
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Außerdem konnten die Aktivitäten in der Ökonomie des Geheimen, wie wir gesehen haben, eine Angriffsfläche für theologisch-judenfeindliche Polemik bilden. Gleichwohl wäre es irreführend, sich die Ökonomie des Geheimen pauschal als eine der Vergesellschaftung abträgliche Sphäre vorzustellen. Im Spannungsfeld zwischen einer auf christlicher Seite oftmals a priori existierenden Erwartungshaltung und den spezifischen Chancen, die nicht-offene Formen der Wissensproduktion etwa für gesellschaftliche Außenseiter generierten, boten sich bis ins 18. Jahrhundert bemerkenswerte Handlungsspielräume für Juden. Aus dieser Perspektive erst wird eine Antwort möglich auf die von einem Historiker verwundert gestellte Frage »how Jewish magicians and charlatans like Falk could leave a greater impact on the politics and culture of their times than the more sober and conventional of his Jewish contemporaries«.163
Das Verschwinden der Ökonomie des Geheimen im 19. Jahrhundert Auf dem Gebiet der Wissenschaften und der Technik haben Historiker die Ausbreitung einer Ideologie der Offenheit als einen entscheidenden Beitrag für den Durchbruch der ›Wissenschaftlichen Revolution‹ gesehen.164 Es ist unbestreitbar, daß sich zumindest innerhalb jener Wissenskultur, die oft als ›Neue Wissenschaft‹ bezeichnet wird, die Art und Weise der Zirkulation von Wissen zunehmend am Ideal der Offenheit auszurichten begann. Dennoch teilen wir nicht die Annahme, daß im Umkehrschluß arkane Systeme des Wissens mit den Kategorien ›Fortschritt‹ und ›Freiheit‹ (wenn man solche großen Begriffe denn überhaupt gebrauchen will) inkompatibel gewesen seien.165 Die Perspektive der jüdischen Geschichte bietet sich hierbei in hohem Maße an, um einige allgemeine und differenzierende Beobachtungen zur gesellschaftlichen Funktion und Bedeutung von Geheimnissen und Geheimhaltung anzustellen. Denn auch jenseits der Wissenschaft waren es eben nicht nur die in der Historiographie gemeinhin mit ›Offenheit‹ assoziier163 Ruderman, Jewish Enlightenment, S. 168. 164 Die entsprechende Forschung ist Legion. Den Begriff der »ideology of openness in science« übernehme ich von William Eamon, From the Secrets of Nature to Public Knowledge, in: David C. Lindberg/Robert S. Westman (Hg.), Reappraisals of the Scientific Revolution, Cambridge 1990, S. 332–365, hier S. 333. Siehe außerdem z. B. Pamela O. Long, Openness, Secrecy, Authorship. Technical Arts and the Culture of Knowledge from Antiquity to the Renaissance, Baltimore etc. 2001, v. a. S. 247; Larry Stewart, The Rise of Public Science. Rhetoric, Technology, and Natural Philosophy in Newtonian Britain (1660–1750), Cambridge 1992; Paolo Rossi, Bacon’s Idea of Science, in: Markku Peltonen (Hg.), The Cambridge Companion to Bacon, Cambridge 1996, S. 25–46. 165 Vgl. aber Eamons These: »Knowledge was power, and closed systems of knowledge were incompatible with progress and liberty«. Eamon, From the Secrets of Nature to Public Knowledge, S. 347. Das Verschwinden der Ökonomie des Geheimen im 19. Jahrhundert
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ten Institutionen, die den Juden entscheidende Schritte ins bürgerliche Zeitalter ermöglichten. Vielmehr können etwa auch die Höfe mit ihrer Vorliebe für das Arkane als bedeutsame Experimentierfelder für eine Begegnung zwischen Juden und Christen gelten, bei der sich traditionelle Vorurteile – in den Worten des Historikers Jacob Katz – »neutralisieren« ließen.166 Was hier über Höfe gesagt wurde, gilt zudem insbesondere für das Freimaurertum, bei dem das Geheimnis sogar als »Kulminationspunkt des Sozialisationsprozesses« fungiert(e).167 Namentlich was die Freimaurerei betrifft, ist es dabei unwesentlich, ob die damals beschworenen Geheimnisse tatsächlich existierten (der Philosoph Fichte zum Beispiel spottete, daß »das größte Geheimnis der Freimaurer ist, daß sie keins haben«168). Entscheidend war vielmehr, daß der Modus des Geheimen sich für die Sozialisierung oftmals als genuin vielversprechend erwies. »Die Geheimgesellschaft«, so Wolfgang Hardtwig, »ermöglichte – nur scheinbar paradox – die Erweiterung und die Verdichtung von Kommunikation, die Vermehrung und Beschleunigung des Gedankenaustauschs.«169 Selbst zeitgenössische Kritiker vermochten diese Eigenschaft der geheimen Gesellschaften nicht zu übersehen: »Das Geheime dabei erschweret wohl nicht […] den Zusammenhang der Glieder, sondern giebt der [geheimen] Gesellschaft noch mehr Bindendes und Angenehmes.«170 Jüdische Freimaurer lassen sich in den Niederlanden und in England bereits seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachweisen. Obzwar die Freimaurerei die hohen Erwartungen in der Realität nicht immer und nicht überall gleichermaßen erfüllte, übte sie auf jüdische Zeitgenossen doch eine beträchtliche Faszination
166 Grundlegend zum Thema Juden und Freimaurertum ist nach wie vor Jacob Katz, Jews and Freemasons in Europe 1723–1939, Cambridge/Mass. 1970; für weiterführende Literatur siehe jetzt auch N.N., Lemma Freemasons, in: EJ, Bd. 7, S. 228–230. Zum Konzept der »neutralen« bzw. »halbneutralen Gesellschaft« siehe Jacob Katz, Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770–1870, Frankfurt am Main 1986, v. a. Kap. 4. 167 Fred E. Schrader, Zur sozialen Funktion von Geheimgesellschaften im Frankreich zwischen Ancient Régime und Revolution, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Geheimnis und Öffentlichkeit (= Schleier und Schwelle, Bd. 1), München 1997, S. 179–193, hier S. 180; zur zentralen Bedeutung des Geheimnisses für die Geheimgesellschaften siehe auch Wolfgang Hardtwig, Eliteanspruch und Geheimnis in den Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts, in: Helmut Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert, München 1989, S. 63–86, v. a. S. 64, S. 84. 168 Johann Gottlieb Fichte, Vorlesungen über die Freimaurerei, in: Ausgewählte politische Schriften, hg. von Zwi Batscha und Richard Saage, Frankfurt am Main 1977, S. 169–216, hier S. 173. 169 Hardtwig, Eliteanspruch und Geheimnis, S. 74. Vgl. auch Linda Simonis, Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002, v. a. S. 26–27. 170 Johann Erich Biester, Antwort an Herrn Professor Garve, über vorstehenden Aufsatz [Ueber die Besorgnisse der Protestanten in Ansehung der Verbreitung des Katholicismus], in: Berlinische Monatsschrift 2 (1785), S. 68–90, hier S. 81.
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aus.171 Die Geheimgesellschaft erwies sich als eines der wichtigen Sprungbretter zur Verbürgerlichung. Der überaus populäre deutsch-jüdische Schriftsteller Auerbach nannte die Freimaurerei noch 1858 sogar »das Ideal der Gesellschaft«.172 Umgekehrt galt es vielen Kritikern der Geheimbünde ohnehin als erwiesen, daß zwischen Freimaurerei und Judentum Affinitäten und Allianzen existieren müßten. Es war kein Zufall, daß Papst Clemens XII. (reg. 1730–1740) die Freimaurerlogen als »Synagogen des Satans« bezeichnete.173 Da die vorliegenden Ausführungen an dieser Stelle, die Schwelle zum ›bürgerlichen Zeitalter‹ beinahe schon überschritten haben, zeichnet sich ein möglicher Einwand ab. Gemeint ist die Frage, wie sich nach all dem bisher Gesagten der zahlenmäßig überdurchschnittliche Anteil von Juden in den Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert erklären läßt. Dieses viel diskutierte Phänomen – das beispielsweise gerne mit der Zahl jüdischer Nobelpreisträger untermauert wird – müßte eigentlich der These von der Attraktivität der Ökonomie des Geheimen für Juden widersprechen. Nun ist zutreffend bemerkt worden, daß der jüdische ›Eintritt‹ in die Wissenschaften ein höchst komplexes Phänomen darstellt, dessen Dynamik bisher nicht umfassend untersucht worden ist und mit pauschalen Theorien wohl auch nicht erklärt werden kann.174 Zudem ist darauf hingewiesen worden, daß sich die Entwicklung im 19. Jahrhundert auch deswegen mit der Situation in der Frühen Neuzeit kaum vergleichen läßt, weil sie sich – in noch weitaus höherem Maße als auf christlicher Seite – unter vollkommen gewandelten soziokulturellen Rahmenbedingungen vollzog.175 Zwischen der Wissenschaftsgeschichte des vormodernen und modernen Judentums sind in der Tat signifikante Unterschiede nicht zu übersehen. Zentrale Merkmale dieser Zäsur sind beispielsweise für den Historiker David Ruderman der bisher ungekannte Grad der politischen, kulturellen und religiösen Assimilation, außerdem das Aufkommen eines rassischen Antisemi-
171 Dazu jetzt auch Keith Schuchard, Lord George Gordon, v. a. S. 189; Ruderman, Jewish Enlightenment, S. 151. 172 Zitiert nach Gabriele von Glasenapp/Hans Otto Horch, Ghettoliteratur. Eine Dokumentation zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, 2 Tle., Tübingen 2005. hier Tl. I,1, S. 179. Auch angesichts solcher Aussagen teile ich nur eingeschränkt die Skepsis, die der späte Jacob Katz gegenüber der Bedeutung der Freimaurerei für Juden – ein Forschungsfeld, das er selbst begründet hatte – äußerte. Siehe Katz, Aus dem Ghetto, S. 56–59. 173 Joachim Westerbarkey, Das Geheimnis. Zur funktionalen Ambivalenz von Kommunikationsstrukturen, Opladen 1991, S. 152. Zur Geschichte des Topos von der angeblichen Kooperation und Allianz zwischen Juden und Freimaurern siehe insbesondere Katz, Jews and Freemasons, v. a. Kap. 10–12 sowie 15. 174 Ruderman, Jewish Thought, S. 13. Siehe auch Volkov, Soziale Ursachen, passim. 175 Ruderman, Jewish Thought, S. 341. Das Verschwinden der Ökonomie des Geheimen im 19. Jahrhundert
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tismus sowie eine tiefgreifende Transformation der sozialen, ökonomischen und religiösen Aspekte der jüdischen Lebenswelt.176 Es wäre angesichts der geschilderten Zäsuren voreilig anzunehmen, daß sich in der Epoche der Emanzipation auf jüdischer Seite gewissermaßen eine kollektiv aufgestaute wissenschaftliche Energie Bahn brach, die sich bis dahin – wenn überhaupt – notgedrungen in der Ökonomie des Geheimen hatte kanalisieren müssen. Eine solche Sicht, die wir allerdings gelegentlich antreffen, beruht auf einer teleologischen Prämisse, die zudem die augenfällige Diskontinuität der Ereignisse übersieht. Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, an dieser Stelle eine mehr als nur kursorische Hypothese aufzustellen. Ein Erklärungsmodell kann hier also nur knapp und in heuristischer Absicht skizziert werden. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Hinweis auf die erwähnte Diskontinuität der Ereignisse und Mentalitäten im Übergang zum 19. Jahrhundert. Die Situation nach 1800 kann kaum mit einer Epoche verglichen werden, in der das Geheimnis noch einen festen Platz im Alltag, in der Wissenschaft und vor allem auch im Weltbild der Menschen einnahm. Eben diesen festen Platz hatte das Geheimnis, wenngleich mit Schwankungen bei der Intensität, in vielen Bereichen der Gesellschaft bis weit ins 18. Jahrhundert inne.177 Wir haben weiter oben bereits angemerkt, daß auch die Ausformung einer Ideologie des offenen Wissens im 17. Jahrhundert keine schlagartigen Auswirkungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene hatte (und damit ebenfalls nicht auf Minderheiten wie die Juden). Das Ideal des offenen Wissens wurde zwar rhetorisch von den Vertretern der ›Neuen Wissenschaft‹ häufig beschworen, ließ sich aber in der Realität lange Zeit nur mit Schwierigkeiten implementieren.178 Bereits Bacons Entwurf des Hauses Salomons läßt, wie gezeigt wurde, durchaus Raum für Geheimhaltung. Noch Robert Boyle, der von der Wissenschaftsgeschichte lange als prominenter Exponent der neuen, offenen Wissenschaft gefeiert wurde, griff für die Aufzeichnung seiner privat durchge-
176 Ebd. 177 Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979, S. 7; Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 44. 178 Siehe dazu Steven Shapin, Science and the Public, in: Robert Cecil Olby et al. (Hg.), Companion to the History of Modern Science, London etc. 1990, S. 990–1007, hier S. 996; vgl. auch Jan V. Golinski, A Noble Spectacle. Phosphorus and the Public Cultures of Science in the Early Royal Society, in: Isis 80 (1989), S. 11–39, v. a. S. 30, sowie Peter Galison, Buildings and the Subject of Science, in: Ders./Emily Thompson (Hg.), The Architecture of Science, Cambridge/Mass. 1999, S. 1–25, hier S. 5.
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führten alchemischen Experimente auf Codes und Verschlüsselungen zurück.179 In der sich formierenden Sphäre des offenen Wissens gab es also nicht zuletzt für den gentleman-virtuoso bis zu einem gewissen Grade akzeptable Spielräume für Geheimhaltung.180 De facto gestaltete sich bis ins 18. Jahrhundert hinein der Übergang zwischen offenen und geheimen Wissensformen mitunter fließend, Austauschprozesse waren nicht ungewöhnlich. Solange dies so blieb, mußte die Betätigung in der Ökonomie des Geheimen daher durchaus keinen kategorischen Widerspruch zur ›Neuen Wissenschaft‹ darstellen. Vielmehr erwiesen sich solche Aktivitäten als Entscheidung für eine von mehreren Wissenskulturen, also für einen von mehreren gangbaren und tradierten Wegen zur Beschäftigung mit der Natur und ihren Geheimnissen. Noch im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, läßt sich kein eindeutiges Verhältnis zum Geheimnis beobachten, wie nicht zuletzt die Geschichte der Freimaurerei vor Augen führt. Es ist in gewisser Weise ein Aspekt der vielbeschworenen »Dialektik der Aufklärung«, daß die Freimaurerei, die als Bannerträger der Vorstellung von einer in brüderlicher und freiheitlicher Harmonie lebenden Menschheit hervortrat, sich mit einer ebenso geheimnisvollen wie exklusiven Aura umgab.181 Die Freimaurerei ist geprägt von der Grundspannung zwischen universaler Lehre und höchst exklusiver Praxis. Von einem generellen »Kampf der Aufklärung gegen das Geheimnis« kann also – wie insbesondere dieses Beispiel bezeugt – bei genauerer Betrachtung schwerlich die Rede sein.182 Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß es in der Tat Aufklärer gab, bei denen sich die Weichen bereits deutlich zuungunsten des Geheimnisses zu verschieben begannen. In seinem wirkmächtigen Plädoyer Was ist Aufklärung? forderte Kant dezidiert jeden Einzelnen auf, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«, also beispielsweise durch die Begründung von Wissen »vor dem ganzen Publikum der Leserwelt«.183 Ein Wissen, das sich demgegenüber der freien und offenen Prüfung durch die Vernunft entziehe, konnte in den Augen des wirkmächtigen Königsberger Philosophen keine Geltung mehr beanspruchen.184
179 Lawrence M. Principe, Robert Boyle’s Alchemical Secrecy. Codes, Ciphers and Concealment, in: Ambix 39 (1992), S. 63–74. 180 Shapin, A Social History of Truth, S. 105–106. 181 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1991 [11962], S. 95–96. 182 Manfred Voigts, Das geheimnisvolle Verschwinden des Geheimnisses. Ein Versuch, Wien 1995, S. 29. 183 Immanuel Kant, Was ist Aufklärung?, in: Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, S. 53–61, hier S. 55. Hervorhebung im Original. 184 Siehe dazu auch Simonis, Kunst des Geheimen, S. 13. Das Verschwinden der Ökonomie des Geheimen im 19. Jahrhundert
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Erst das 19. Jahrhundert markiert in dieser Hinsicht allerdings eine bisher ungeahnte Zäsur und brachte tatsächlich eine »völlige Diskreditierung des Geheimnisses (nicht nur im Bereich der Politik)«.185 Dieser Prozeß vollzog sich nicht schlagartig, jedoch läßt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine massive Beschleunigung der »Entsekretisierung« (Simmel) in der westlichen Lebenswelt feststellen. Das Geheimnis verlor seinen kosmologischen Status.186 Diese Entwicklung wies gewiß auch Berührungspunkte mit dem oft zitierten Prozeß der »Entzauberung der Welt« (Max Weber) auf.187 Gleichwohl gilt es festzuhalten, daß die »Entsekretisierung« der Welt eben nicht einzig als Resultat ›der Aufklärung‹, der Rationalisierung oder der Fortschrittsversprechungen von Institutionen des offenen Wissens erklärt werden kann. Es war nicht so, daß sich die Ökonomie des Geheimen aus intrinsischen Gründen unweigerlich einem System des offenen Wissens als unterlegen erweisen mußte. Als bedeutsam erwies sich vielmehr, wie bereits Simmel vermutet hat, eine tiefgreifende Verschiebung der sozioökonomischen, lebensweltlichen und mentalen Parameter selbst. Eine große Rolle spielt etwa die Tatsache, daß »das Individuum die Möglichkeit immer vollständigeren Zurückziehens gewann [und] das moderne Leben eine Technik zur Sekretisierung der Privatangelegenheiten inmitten der großstädtischen Zusammengedrängtheit ausbildete, wie sie früher allein durch räumliche Einsamkeit herstellbar war«.188 Das Öffentliche – so Simmel – wurde immer öffentlicher, das Private immer privater.189 Man kann diese These Simmels in verschiedene Richtungen erweitern, ausdifferenzieren oder modifizieren. In der Tat gibt es Beobachter, die davon ausgehen, daß inzwischen auch die private Sphäre immer öffentlicher wird.190 Es wäre nun freilich abwegig zu behaupten, es gebe in der Öffentlichkeit heutzutage gar keine Geheimnisse mehr. Allerdings kann man ebensowenig übersehen, 185 Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit, S. 36; vgl. auch Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, z. B. S. 154; sowie Bernhard Groethuysen, Origines de l’esprit bourgeois en France, Paris 1927, Bd. 1, S. 116, S. 190. 186 Niklas Luhmann, Geheimnis, Zeit und Ewigkeit, in: Ders./Peter Fuchs, Reden und Schweigen, Frankfurt am Main 21992, S. 101–138, hier S. 118. 187 Siehe hierzu auch die klassische Studie von Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic. Studies in Popular Beliefs in Sixteenth- and Seventeenth-Century England, London 1973. 188 Georg Simmel, Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft [1906], in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908] (= Georg Simmel-Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt am Main 1992, S. 383–455, hier S. 413. 189 Simmel, Das Geheimnis, S. 413. Einschlägig, aber historisch etwas holzschnittartig zur Bedeutung von Öffentlichkeit und Offenheit in der Neuzeit ist auch Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. 190 Klaus Reichert, Neue Formen des Geheimen am Beginn der Moderne, in: Gisela Engel/Brita Rang/ Klaus Reichert/Heike Wunder (Hg.), Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne (= Zeitsprünge 6 [2002]), Frankfurt am Main 2002, S. 12–20, hier v. a. S. 17. Vgl. auch Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, S. 170; Bok, Secrets, S. 305; Voigts, Das geheimnisvolle Verschwinden des Geheimnisses, passim.
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Konjunktur und Krise des Geheimnisses
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daß auf der Ebene jener normativen Diskurse, die unser Ideal von Öffentlichkeit und sozialem Handeln prägen, die Praxis der Geheimhaltung heute in aller Regel keinen guten Ruf mehr hat – man denke etwa an Politik oder Wissenschaft. Wo Geheimhaltung in diesen Sphären begegnet, ist sie häufig mit beträchtlichem Argwohn konfrontiert und auf ein relativ präzise reglementiertes Maß beschränkt.191 Wie ausgeprägt dieses Mißtrauen gegenüber dem Geheimnis in der modernen ›westlichen‹ Welt ist, erschließt sich oftmals erst durch den Blick aus der Distanz. Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang beispielsweise die Forschungen des Ethnologen Beryl L. Bellman, der über viele Jahre hinweg die nach wie vor große politische und soziale Bedeutung von Geheimgesellschaften in afrikanischen Staaten untersucht hat. In der westlichen Welt beobacht er vor diesem Hintergrund eine diametral entgegengesetzte Einstellung: »The negative values normally attributed to secrecy come from the view that it is a kind of deviant or antisocial behavior. Secrecy is often associated with illegal or extralegal political groups that are either subversive or self-serving at the expense of the larger community and with the subcultures involved with illicit drugs and alternative sexual lifestyles. When secrecy has been studied in bureaucratic settings such as business and government, it is still recognized as having bad implications.«192 Das Geheimnis behält seine Geltung zwar in einigen Bereichen der privaten Sphäre – jedenfalls ist ihm das auf dem Papier verbürgt (zumindest auf dem Papier, auf dem demokratische Verfassungen geschrieben sind). So werden beispielsweise das Brief- oder Arztgeheimnis nicht erst seit heute zu den Grundrechten des Individuums gezählt. In der öffentlichen Sphäre unserer Zeit ist hingegen kaum mehr Platz für eine ostentativ praktizierte Ökonomie des Geheimen wie noch in der Frühen Neuzeit. Geheimhaltung als Maxime des eigenen Handelns, wie dies in der Frühen Neuzeit beispielsweise Gracián fordert, ist heute ebenso sehr verpönt wie die Kunst der Verstellung und Selbstinszenierung, der es hierzu bedarf. Es wäre lohnenswert zu untersuchen, inwieweit diese Entwicklung auch mit jenem mentalitätsgeschichtlichen Phänomen korreliert, das der Kulturtheoretiker Lionel Trilling als das Aufkommen der Idee von Aufrichtigkeit und Authentizität in der Neuzeit beschrieben hat.193 In dem Maße jedenfalls, in dem die Begriffe Öffentlichkeit ebenso wie Offenheit zu Leitbegriffen der bürgerlichen Gesellschaft wurden und umgekehrt der Ort sowie der (kosmologische) Status des Geheimnisses im gesellschaftlichen Leben 191 Vgl. auch Max Webers Beobachtungen zur Funktion des Amts- und Dienstgeheimnisses in bürokratischen Kontexten: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 51985, S. 572–573; S. 855. 192 Beryl L. Bellman, The Language of Secrecy. Symbols and Metaphors in Poro Ritual, New Brunswick 1984, S. 4. 193 Lionel Trilling, Sincerity and Authenticity, London 1974. Das Verschwinden der Ökonomie des Geheimen im 19. Jahrhundert
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und seinem Normensystem erodierten, mußte nun auch auf jüdischer Seite der Zuspruch für die Ökonomie des Geheimen sinken. Es genügt hier ein Zitat aus einem im deutschsprachigen Raum weitverbreiteten Lexikon aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, um den gesamtgesellschaftlichen Wandel der Einstellung zum Geheimnis in seiner ganzen Drastik zu veranschaulichen: »Das Wort ›Geheim‹ hat längst den Fluch aller Bessern im Volke auf sich geladen. Im Geheimen brütet das Verbrechen, der Verrat, im Geheimen wetzt der Mord seine Dolche, lauern Molch und Schlange auf ihre Opfer, im Geheimen feiert die Inquisition ihre blutigen Henkerorgien, im offenen Tageslichte dagegen wandelt die Rechtschaffenheit, die überzeugungsvolle Gesinnung, wandelt ein freies Volk […].«194 Vor dem Hintergrund einer solchen Rhetorik und einer auf gesamtgesellschaftlicher Ebene massiv gewandelten Einstellung mußten sich also auch die allermeisten Juden von der Sphäre des Geheimen abwenden, und dies vielleicht – wie so oft bei der Adaption von Konventionen der Mehrheitsgesellschaft – zur Bekräftigung des Vollzugs sogar noch emphatischer als ihre christliche Zeitgenossen. In der Tat verschwindet in der Moderne das Geheimnis als Ideal oder Handlungsmaxime bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fast gänzlich aus dem jüdischen Denken. Dies gilt nicht zuletzt, wie Moshe Halbertal beobachtet hat, für die religiöse Sphäre: »The phenomenon that characterizes medieval Jewish thought – the preoccupation with Torah secrets and the use of the idea of the esoteric as a basic hermeneutic position – is completely absent from Jewish thought in the modern periods.«195 Halbertal bezieht sich hier vor allem auf die jüdischen Denker Moses Mendelssohn, Hermann Cohen und Martin Buber. Diese Liste ließe sich unschwer auch auf weniger bekannte Namen ausdehnen. Diese Entwicklung innerhalb des Judentums war weitaus mehr als ›nur‹ das Resultat der zunehmenden Bedeutung des Buchdrucks und des ›Durchbruchs‹ der Aufklärung bzw. der Haskala, wie behauptet worden ist.196 Wie wir in den vergangenen Kapiteln gesehen haben, hatte die Ökonomie des Geheimen immerhin – trotz der Rhetorik mancher Maskilim – bis weit ins 18. Jahrhundert nicht an Attraktivität unter Juden verloren.
194 Meyers Neues Konversationslexikon für alle Stände (1848), zitiert nach Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis, S. 128. 195 Moshe Halbertal, Concealment and Revelation. Esotericism in Jewish Thought and its Philosopical Implications, Princeton 2007, S. 140. 196 Ebd., S. 140–141. Manfred Voigts geht ebenfalls davon aus, daß schon »während der Aufklärung auch im Judentum dem Geheimnis der Stachel gezogen werden sollte«. Als Beispiele zieht er namentlich Moses Mendelssohn und Salomon Maimon heran. Siehe Voigts, Das geheimnisvolle Verschwinden des Geheimnisses, S. 63.
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Damit komme ich zum Ausgangspunkt zurück, zur Frage nach den Gründen für den massiven Eintritt von Juden in die wissenschaftlichen Berufe nach 1800. Man wird, wie gesagt, in der allmählichen sozialen Öffnung der Institutionen des offenen Wissens nicht den alleinigen Grund für den sprunghaften Anstieg des Interesses von Juden an den Wissenschaften sehen können. Dies gilt um so mehr, als diese soziale Öffnung sich bekanntlich mancherorts nur schleppend vollzog. Die Mechanismen der Ausgrenzung und Diskriminierung funktionierten noch bis weit ins 20. Jahrhundert, insbesondere an Universitäten, und erschwerten den »Eintritt der Juden in die akademischen Berufe«, konkret vor allem die feste Anstellung. Die Abkehr der jüdischen Minderheit – aber natürlich nicht nur ihr allein – von der Ökonomie des Geheimen läßt sich nicht allein mit Faktoren wie beispielsweise einem ›Siegeszug‹ offener wissenschaftlicher Institutionen, mit einem Wegfall sozialer Hürden oder – im Sinne Thomas S. Kuhns – mit der intrinsischen Überzeugungskraft eines Paradigmenwechsels in der Wissenschaft erklären. Vielmehr glaube ich, daß auch und vor allem jene erst im 19. Jahrhundert sich gesamtgesellschaftlich massiv wandelnde Einstellung zu offenem und geheimem Wissen herangezogen werden muß, die hier skizziert worden ist. Das Geheimnis wurde demnach seit dem 19. Jahrhundert eben nicht mehr nur in der Wissenschaft, sondern auch in weiteren Bereichen des öffentlichen Raumes und Diskurses nachdrücklich an den Rand gedrängt. Bezeichnenderweise waren es am ehesten diese Ränder, an denen sich im 19. Jahrhundert die Erinnerung an jene Kompetenz erhielt, die man Juden einst – und teilweise durchaus begründet – auf dem Gebiet der Ökonomie des Geheimen zugeschrieben hatte. Eine solche – wenngleich von einer gewissen exotischen Aura umgebene – Nische war beispielsweise die Zauberkunst, von der wir hier nur anmerken wollen, daß sie noch im bürgerlichen Zeitalter durchweg ein in hohem Maße von Juden geprägtes Gewerbe darstellte.197 Eine gründliche Studie zum Phänomen Juden und Magie in der Moderne fehlt allerdings. Es könnte sich auch in diesem speziellen Fall als lohnend erweisen, die Moderne entlang der Frage zu untersuchen, welche Rolle sie der Magie zuweist.198
197 Alleine Dammann weist seit dem späten 18. Jahrhundert über 60 prominente Biographien nach. Günther Dammann, Die Juden in der Zauberkunst, Berlin 21933. Buchberger spricht sogar von einer herausragenden »Bedeutung der Juden in der Zauberkunst«. Vgl. Buchberger, Jüdische Taschenspieler , S. 174. Zum Kontext siehe jetzt auch Marline Otte, Jewish Identities in German Popular Entertainment 1890–1933, Cambridge 2006. 198 Anregungen für ein solches Vorgehen bieten jetzt vor allem Simon During, Modern Enchantments. The Cultural Power of Secular Magic, Cambridge/Mass. 2002; sowie Birgit Meyer/Peter Pels (Hg.), Magic and Modernity. Interfaces of Revelation and Concealment, Stanford 2003. Das Verschwinden der Ökonomie des Geheimen im 19. Jahrhundert
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Ausblick Das komplexe und dynamische Verhältnis zwischen offenem und geheimem Wissen, das wir in allen Bereichen der frühneuzeitlichen Lebenswelt beobachtet haben, begann – wie angedeutet – im 19. Jahrhundert massiv zu erodieren. Das Geheimnis verlor damit nicht nur seinen kosmologischen Status. Vielmehr erhielt es fortan auch eine in hohem Maße negative Konnotation. Das Geheimnis hatte in der Tat »den Fluch aller Bessern im Volke auf sich geladen«, wie es ein Zeitgenosse, den wir weiter oben bereits zitiert haben, um 1850 formulierte. Den Menschen der Vormoderne dagegen galt die Sphäre des Geheimnisses noch keineswegs als der defiziente Modus offenen Wissens. Auch das berühmte, bereits zitierte Wort Bacons, wonach Wissen Macht ist, mußte sich damals in der Praxis mitnichten nur auf offenes Wissen beziehen. Eine Feststellung, die theoretisch auch in der Gegenwart ihre Gültigkeit behält: Denn die Sphäre des Geheimen kennt ihre eigenen Strukturen der Macht, ja Geheimhaltung kreist oft entscheidend um Strategien von Machtgewinn und Machtausübung, wie nicht zuletzt ethnologische Studien nahelegen.199 Niemand wird behaupten können, die Gegenwart habe gänzlich verlernt, sich des Geheimnisses zu bedienen. Abhanden gekommen ist allerdings seit dem 19. Jahrhundert der kunstvolle Umgang mit dem Geheimnis. Die Einsicht, daß der Umgang mit Geheimnissen mehr Möglichkeiten bereithält als lediglich die Optionen des Verbergens oder Enthüllens, findet wir beispielsweise bei dem Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher (1602–1680), der seinerseits selbst ein prominentes Beispiel für die Komplexität vormoderner Wissenskulturen ist. Kirchers Biographie ist paradigmatisch für die Kunst eines klugen und der jeweiligen Situation angemessenen Umgangs mit Geheimnissen.200 Allerdings war Kircher bei weitem nicht der einzige Zeitgenosse, der annahm, daß die Art und Weise der Geheimhaltung in manchen Situationen eine entscheidende Rolle spiele und mehr Wirkung entfalten könne als das Enthüllen. Die Einstellung zu Geheimhaltung und Offenheit ist keine anthropologische Konstante. Geheimhaltung etwa wurde im Laufe der Epochen und in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich bewertet.201 So läßt sich in der Antike 199 T.M. Luhrmann, The Magic of Secrecy, in: Ethos 17 (1989), S. 131–165, hier v. a. S. 161. Siehe aus soziologischer Sicht auch Claudia Schirrmeister, Geheimnisse. Über die Ambivalenz von Wissen und Nicht-Wissen, Wiesbaden 2004, S. 49. 200 Noel Malcolm, Private and Public Knowledge. Kircher, Esotericism, and the Republic of Letters, in: Paula Findlen (Hg.), Athanasius Kircher. The Last Man Who Knew Everything, New York etc. 2004, S. 297–308, hier v. a. S. 305. 201 Bellman, The Language of Secrecy; Karel Davids, Openness or Secrecy? Industrial Espionage in the Dutch Republic, in: Journal of European Economic History 24 (1995), S. 333–348; Pamela O. Long, Openness, Secrecy, Authorship, v. a. S. 245.
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ein Verzicht auf Geheimhaltung gerade auf jenem Gebiet nachweisen, das damit heute noch am ehesten in Verbindung gebracht wird: dem militärischen Sektor.202 Für die Frühe Neuzeit führt – wie die vorliegende Studie zu zeigen versucht hat – die jüdische Geschichte besonders deutlich vor Augen, daß der Historiker von einer Relativität der mit den Kategorien ›Offenheit‹ und ›Geheimhaltung‹ verbundenen Konnotationen ausgehen muß. Es kann schon allein deswegen nicht die Aufgabe der Geschichtswissenschaft sein, Kategorien wie ›Offenheit‹ mit Fortschritt zu identifizieren und dagegen Geheimhaltung als eine – gar notwendigerweise kontraproduktive – Gegenkraft darzustellen. Vielmehr gilt es zu erforschen, welche konkreten und genuinen Chancen und Wirkungsmöglichkeiten die Sphäre des Geheimen ihren Akteuren anbot und – dort, wo sie heute noch existiert – anbietet.203 Die Vorstellung, daß Systeme des Wissens möglichst offen angelegt sein müssen, um ein breites Spektrum gesellschaftlicher Partizipation zu gewährleisten, erweist sich gerade am Beispiel der Juden in der Frühen Neuzeit als relativ. Im Zeitraum bis 1800 gibt es kaum Hinweise dafür, daß die Ökonomie des Geheimen für diese Gruppe weniger attraktiv war als die Institutionen des offenen Wissens. Vielmehr zeigt sich im Falle des frühneuzeitlichen Judentums, daß die Ökonomie des Geheimen nicht nur bemerkenswerte Zwischenräume zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft zu generieren vermochte, sondern auch ein ausgeprägtes ökonomisches Potential aufwies. Die Ökonomie des Geheimen, zumal eingebettet in das System der Patronage, bot Chancen für beträchtliche Handlungsspielräume. Ebenso wie das Patronagesystem schuf die Ökonomie des Geheimen oftmals die Nähe zu Strukturen der Macht. Dies erkannte nicht zuletzt der bereits erwähnte jüdische Polyhistor, Arzt und Naturwissenschaftler Joseph Salomon Delmedigo (1591–1655). Sein Fall erlaubt es uns, einige für diese Studie zentrale Stränge zusammenzuführen. Der in Kreta aufgewachsene Delmedigo hatte in seinen Jugendjahren an der Universität zu Padua Mathematik, Astronomie und Medizin studiert und zählte zeitweise sogar zu den Studenten Galileos. Delmedigo ist allein schon aufgrund dieser Tatsache in der Forschung oft als einer der wenigen herausragenden Bannerträger der ›Neuen Wissenschaft‹ im frühneuzeitlichen Judentum gesehen worden. Doch der Gelehrte, dessen bewegtes Leben ihn von Kreta über Italien und Deutschland bis hin zum Baltikum führte, hegte keineswegs eine prinzipiell emphatische Einstellung zur ›Neuen Wissenschaft‹. Zwar hing er der kopernikanischen Lehre an, dies hinderte ihn aber nicht daran, deren Exponenten sowie allgemein die 202 Pamela O. Long/Alex Roland, Military Secrecy in Antiquity and Early Medieval Europe. A Critical Reassessment, in: History and Technology 11 (1994), S. 259–290. 203 Vgl. auch Long, Openness, Secrecy, Authorship, S. 7. Das Verschwinden der Ökonomie des Geheimen im 19. Jahrhundert
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Gelehrtenrepublik zu kritisieren und sich in seinen Werken ebenso wie privat intensiv mit der Kabbala und der Alchemie zu beschäftigen. Die jüngere Forschung hat überzeugend argumentiert, daß Delmedigo im Grunde an die Wahrheiten der Kabbala glaubte, obgleich er sich – vor allem nach außen hin – mitunter als ein ›aufgeklärter Naturphilosoph‹ gab.204 Wir wissen, daß bereits Zeitgenossen die profunden Kenntnisse Delmedigos auf dem Gebiet der Geheimnisse schätzten, seien diese nun naturwissenschaftlicher oder göttlicher Natur. Delmedigo selbst sah in der Ökonomie des Geheimen augenscheinlich mehr Chancen auf Ruhm und Weisheit als in einem System der relativ offenen Wissenszirkulation.205 Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang seine Schrift Matzref la-Chochma, die erstmals in seinem umfangreichen zweiteiligen Werk mit dem bezeichnenden Titel Ta’alumot Chochma (dt.: Geheimnisse der Weisheit, Basel 1629–1631) erschien.206 Darin preist Delmedigo nicht nur die Experten auf dem Gebiet der mechanischen Künste (er verweist beispielsweise auf Ingenieure), sondern ebenfalls die Alchemisten.207 Hiermit sind jeweils auch jüdische Experten auf diesen Gebieten gemeint. Solchen Experten und ihrem nützlichen Wissen stellt er die in seinen Augen untätigen, da nur geistig arbeitenden Gelehrten gegenüber. Delmedigos Lob der angewandten Wissenschaften sowie der Alchemie und der Technologie zieht sich wie ein roter Faden durch seine Schriften,208 was um so bemerkenswerter ist, weil es in seinem Œuvre durchaus nicht an Widersprüchen fehlt. Soweit war diese Argumentation des Autors keineswegs ungewöhnlich für die damalige Zeit. Allerdings geht es bei Delmedigo um mehr. Er zielte eben nicht nur auf eine Polemik gegen einen in seinen Augen überkommenen Wissensbegriff ab, den er vor allem mit Aristoteles verband. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Studie dürfte vielmehr deutlich werden, daß Delmedigo mit seinem Lob der im Geheimen wirkenden ›Experten‹ auch ein höchst reales Phänomen im zeitgenössischen Judentum beschrieb und legitimierte. Es erinnert uns in der Tat an die weiter oben aufgezeigten beträchtlichen politisch-ökonomischen Handlungsspielräume jüdischer Ingenieure und Alchemisten, wenn Delmedigo von solchen ›Experten‹ behauptet, daß ›sie allein es verdienen, vor Königen erwähnt zu werden‹. Denn nur mit solchen Taten und Erfindungen ›kann ein Mensch sich rühmen, weil er Großartiges zu leisten vermag. Daher wird er vor Könige treten, nicht derjenige, der große Fragen stellt und kleingeistig ist […].‹209 Im 20. Jahrhundert hat ein Biograph Delmedigos mit Blick auf diese Worte 204 205 206 207 208
Ruderman, Jewish Thought, S. 118–152, v. a. S. 129, S. 146. Ebd., S. 155. Joseph Salomon Delmedigo, Sefer Matzref la-Chochma, Jerusalem o. D. [um 1980]. Ebd., Kap. 7. Vgl. Isaac Barzilay, Yoseph Shlomo Delmedigo (Yashar of Candia). His Life, Works and Times, Leiden 1974, S. 98, S. 135, S. 139, S. 258. 209 Delmedigo, Sefer Matzref la-Chochma, Kap. 7, S. 49.
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die Frage aufgeworfen: »Whether these words were altogether meaningful to the Jews of the time and were meant for them in the first place is, of course, quite questionable.«210 Wir können diese Frage nun beantworten – mit einem entschiedenen Ja. Es genügt an dieser Stelle – unter den vielen möglichen Beispielen – etwa an den bereits weiter oben erwähnten jüdischen Ingenieur Daniel Perez erinnern, dessen geheimgehaltene technologische Expertise ihn bis in das Arsenal der Republik Venedig führte. Oder aber an die Biographie des Geldverleihers Vitale Sacerdote, der sich nicht zuletzt durch die Bereitstellung von Geheimnissen der Alchemie und der Natur jene Gunst des savoyischen Herzog erwarb, die er für die Realisierung seiner ehrgeizigen Pläne zur jüdischen Ansiedlung benötigte. Oder schließlich an Abramo Colornis Karriere als professore de’ secreti an führenden Höfen Europas. Perez, Sacerdote und Colorni sind, wie wir gesehen haben, bei weitem nicht die einzigen frühneuzeitlichen Juden, die – in Delmedigos Worten – mit Recht ›vor Könige treten‹ konnten. Das Wissen all dieser Experten war im einzelnen zwar unterschiedlich. Gemeinsam aber hatten sie die Eigenschaft, die nicht nur in den Augen Delmedigos den Charakter eines weisen Mannes ausmachte: Ein weiser Mann ist demnach derjenige, der ein Geheimnis (Sod) zu hüten verstehe, seine Gedanken zu verbergen wisse und schweigen könne.211 Es war geheimes Wissen, das Juden – zumal im Kontakt zur Obrigkeit und speziell zu Höfen – in der gesamten Frühen Neuzeit nicht selten in den innersten Bereich der Machtausübung, mithin in die Sphäre der Arcana imperii führte. An solchen Schaltstellen konnte aus dem geheimen Wissen das werden, was Michel Foucault »Macht-Wissen« genannt hat.212 Dies gilt beispielsweise für Daniel Perez, Vitale Sacerdote ebenso wie für Abramo Colorni. Ein Bibelvers, den Colorni an prominenter Stelle in seiner Scotographia zitiert, ist in diesem Zusammenhang bezeichnend sowohl für seine eigene Biographie als auch insgesamt für die Chancen in der Ökonomie des Geheimen: »Sapientes abscondunt scientiam, os autem stulti confusione proximum est« (Spr 10:14).213 Vielbeschworene Kategorien wie ›Öffentlichkeit‹ und ›Offenheit‹ prägen in westlichen Gesellschaften das heutige Ideal des gesellschaftlichen Zusammenlebens, aber auch der Wissensproduktion entscheidend. Damit wird die Bedeutung von 210 Barzilay, Yoseph Shlomo Delmedigo, S. 139. 211 So heißt es in einem Brief Delmedigos, der ebenfalls in das Werk Ta’alumot Chochma aufgenommen wurde. Vgl. das hebräische Originalzitat bei Barzilay, Yoseph Shlomo Delmedigo, S. 116. 212 Für Foucaults Untersuchungen zur Kopplung von Wissen und Macht beim Werden des modernen Staates siehe v. a. Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978, hg. von Michel Sennelart, 2 Bde., Frankfurt am Main 2004, hier v. a. Bd. 1. 213 Dt.: »Die Weisen halten mit ihrem Wissen zurück; aber der Toren Mund führt schnell zum Verderben.« Als Zitat bei Colorni, Scotographia, fol. 8r. Das Verschwinden der Ökonomie des Geheimen im 19. Jahrhundert
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geheimen Formen des Wissens für den Kosmos der Vormoderne ebenso unterschätzt wie für die Lebenswelt in nicht-westlichen Gesellschaften der Gegenwart. Das Beispiel der frühneuzeitlichen Ökonomie des Geheimen – der wir uns hier aus der Perspektive des damaligen Judentums angenähert haben – führt deutlich vor Augen, daß das Verhältnis und die Konnotation der Kategorien ›Geheimnis‹ und ›Offenheit‹ dem historischen Wandel unterworfen sind. Es handelt sich bei diesen Kategorien allerdings nicht um zwei monolithische Blöcke. Denn das Geheimnis kann nicht nur prinzipiell unbeschadet in der Öffentlichkeit zirkulieren. Vielmehr vermag es – wie wir gesehen haben – auch spezifische Formen von Öffentlichkeit oder zumindest Sub-Öffentlichkeiten hervorzubringen, indem es Zwischenräume, Kontaktzonen und nicht zuletzt einen dynamischen Markt generiert. Das Prinzip der Offenheit demgegenüber ist immer auch ein diskursives und soziales Konstrukt, dessen universale Reichweite und Anwendbarkeit sich leichter behaupten als beweisen läßt. In der heutigen Zeit sind Räume und Strategien der Geheimhaltung sehr oft a priori fragwürdig oder gar verpönt. »Sie haben das Recht zu schweigen« – dieser Satz fällt heute meist erst im Polizeigewahrsam. Es mag wohl zutreffen, daß unsere Zeit mehr als je zuvor von einem Willen zum Wissen der ›Wahrheit‹ beherrscht wird, wie kluge Köpfe angemerkt haben. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Es genügt eben nicht, gegenüber all den Aufforderungen zur Offenheit, mit denen wir Tag für Tag konfrontiert sind, lamentierend auf ein – sagen wir: juristisch verbrieftes – Recht auf Geheimhaltung zu pochen (wir nennen es dann zum Beispiel ›Datenschutz‹). Vielmehr lohnt es sich zu erkunden, was uns die Frühe Neuzeit, die wir wohl mitunter auch verklären, tatsächlich voraushatte: Für sie war das Geheimnis nicht zuvorderst ein Recht, sondern ein Vorrecht – eine kunstvolle Technik des Selbst, die es ihrerseits zu hüten galt. Vielleicht vermag, in diesem Sinne, die vorliegende Studie auch als Anregung dienen, den Modus der Geheimhaltung als Chance sozialen Handelns (wieder) zu entdecken. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in dem Offenheit und Offenlegung wohl mehr denn je mit Aufrichtigkeit und Vertrauen verwechselt werden, ist womöglich viel erreicht, wenn die hier entwickelten Überlegungen mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben.
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Danksagung
Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2010 unter dem Titel »Die Ökonomie des Geheimen. Juden, Christen und der Markt für Geheimnisse (1400– 1800)« von der Philosophischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung ist der Text nochmals geringfügig überarbeitet worden. Mein herzlicher Dank gilt zunächst meinem Doktorvater, Thomas Maissen, der die Entstehung der vorliegenden Arbeit in allen Phasen unterstützt sowie mit stetem Rat und großer Geduld begleitet hat. Gianfranco Miletto (Halle-Wittenberg), dem ich ebenfalls für zahlreiche Anregungen und Gespräche danke, hat freundlicherweise das Zweitgutachten übernommen. Der Studienstiftung des deutschen Volkes bin ich zu großem Dank für die Gewährung eines Promotionsstipendiums verpflichtet. Die Drucklegung der Dissertation wurde ermöglicht durch Zuschüsse der VG Wort sowie der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg, wofür ich beiden Institutionen meinen Dank schulde. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht möchte ich meinen Dank für die professionelle und umsichtige Betreuung des Buchprojekts aussprechen. Einige meiner Thesen durfte ich bei Konferenzen und Vorträgen in London, Princeton, Heidelberg, Konstanz, Antwerpen, Cambridge/Mass., Mantua, Gotha und Philadelphia vorstellen. Ich bin den jeweiligen Organisatoren dankbar für die Möglichkeit, meine Thesen präsentieren und zur Diskussion stellen zu können. Ebenfalls danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliotheken, in denen ich im Rahmen dieser Studie geforscht habe. Vor allem an der Universitätsbibliothek Heidelberg, der Württembergischen Landesbibliothek in Stuttgart sowie insbesondere an der Widener Library der Harvard University habe ich ideale Bedingungen zum Forschen vorgefunden und verschiedentlich von einer großen Liberalität profitieren dürfen (nicht zuletzt mit Blick auf die Zahl der entliehenen Bücher). Was meine Archivrecherchen betrifft, gilt mein Dank insbesondere Laura Graziani Secchieri vom Staatsarchiv in Ferrara sowie Herbert Hutterer vom Österreichischen Staatsarchiv in Wien. Auch in den hier nicht im einzelnen genannten Archiven bin ich exzellent betreut worden. Danksagung
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Mit Rat, Hinweisen und Fragen haben zahlreiche Experten, Kollegen und Freunde die Entstehung dieser Studie unterstützt. Ihnen allen gilt mein herzlicher Dank, auch wenn ich sie hier nicht alle namentlich aufführen kann. Monika Richarz (Berlin) hat vorab das gesamte Manuskript gelesen und kommentiert. Gerhard F. Strasser (Landshut) hat die Abschnitte zur Kryptographie durchgesehen, Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Heidelberg) das Kapitel über Chiromantie. Ivan Bergida (München) war mir bei Übersetzungen aus dem Tschechischen behilflich. Die mühsame Aufgabe des Korrekturlesens hat mit großer Sorgfalt Klaus Rürup (Karlsruhe) übernommen, dem ich dafür zu herzlichem Dank verpflichtet bin. Alle verbliebenen Fehler habe ich selbstverständlich allein zu verantworten. Besonders bedanken möchte ich mich außerdem für Anregungen, Kritik und Gespräche bei Mario Biagioli (Davis/Kalifornien), Ann Blair (Cambridge/ Massachusetts), Bernard Cooperman (College Park/Maryland), Lucia Frattarelli Fischer (Livorno), Anthony Grafton (Princeton), Stefan Lang (Ulm), Evelyn Lincoln (Providence/Rhode Island), Tara Nummedal (Providence/Rhode Island), Alisha Rankin (Medford/Massachusetts), Eileen Reeves (Princeton), David B. Ruderman (Philadelphia), Shlomo Simonsohn (Tel Aviv), Barbara Staudinger (Wien), Manfred Staudinger (Wien), Joachim Telle (Heidelberg) und Liliane Weissberg (Philadelphia). Ein ganz besonderer Dank gebührt Emanuele Colorni in Mantua, der mich bei meinen Nachforschungen zu der Geschichte seiner illustren Familie unterstützte und mir das Archiv der jüdischen Gemeinde zu Mantua sowie die Bibliothek seines verstorbenen Vaters, Vittore Colorni sel. A., zugänglich machte. Gewidmet ist dieses Buch – in großer Dankbarkeit – meinen Eltern. Heidelberg, im April 2011/Nissan 5771
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Daniel Jütte
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Siglen
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Ungedruckte Quellen
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Personenregister
Personennamen aus dem Alten und Neuen Testament sind kursiv gesetzt.
Aaron, Jude 77 Aaron, Jude im byzantinischen Reich 228 Abenaes, Salomon 121f. Abraham 207 Abraham de Ragusa 107 Abraham Eleazar 273 Abraham, Rabbiner in Kalabrien 135 Abralino de Colonia (Magistro Abralino) 106 Abramo da Cremona 105 Abravanel (Familie) 308 Abravanel, Leon 80 Abravanel, Yehuda (gen. Leone Ebreo) 215 Adalbert, Erzbischof von Hamburg 63 Adam 52 Adam von Bremen 63 Agricola, Georgius 272 Agrippa von Nettesheim 133f. Alatini (auch: Alatrini), Angelo 307, 311 Alberti, Leon Battista 88, 179, 184, 200, 263 Albrecht, Herzog von Sachsen 56 Aldrovandi, Ulisse 30 Alemanno, Yochanan 128, 223, 336 Aleotti, Giovanni Battista 179 Alexander VI., Papst 55 Alfonso V., König von Aragon 107 Anatoli, Jacob 65 Ancantherus, Claudius 212, 247 Anna, Jüdin zu Rom 78 Archevolti, Samuel 89, 91, 267f. Arcimboldo, Giuseppe 238 Argenti, Matteo 260f.
Ariost, Ludovico 55f., 175, 214 Aristoteles 59, 214f., 221, 370 Ashkenazi, Salomo 77, 143, 308 Assmann, Aleida 16 Assmann, Jan 16 Attias, David 211 Attias, Giuseppe 134 Auerbach, Berthold 361 August I., Herzog von Sachsen 120, 253f. August II., Herzog zu Braunschweig-Lüneburg 259f., 265, 292, 306 Augustinus, Aurelius 214 Avellani, Guido 282f. Avicenna 214 Bacci, Andrea 119, 223 Bachtin, Michael 139 Bacon, Francis 219, 234, 328, 335, 344–349, 352, 362, 368 Bacon, Roger 222 Barbierato, Federico 132 Barclay, John 254–256 Baron, Salo W. 326 Barozzi, Francesco 131 Basola, Abraham 285 Bassevi, Jacob (Jacob von Treuenberg) 248 Bassevi, Samuel 248 Báthory, Sigismund 295 Báthory, Stephan 111 Becher, Johann Joachim 16, 142, 166 Bela, Jüdin zu Wien 88 Bellman, Beryl L. 365 Bembo, Pietro 312 Benjamin, Walter 210 Bernardino da Siena 228
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Bettini, Simone 105 Biagioli, Mario 99, 206, 211 Biale, David 106 Biringuccio, Vannoccio 272, 275 Blanis, Benedetto 136 Blumenberg, Hans 339 Bok, Sissela 23 Bonfil, Robert 329 Borgia, Cesare 108 Börne, Ludwig 353 Boyle, Robert 277, 288, 362 Bragadino, Marco 57f., 115, 225 Brahe, Tycho 239 Brugnaleschi, Valeria 131f. Brühl, Graf Heinrich von 95 Bruno, Giordano 239, 281, 335 Buber, Martin 366 Burckhardt, Jacob 317 Buwinghausen von Wallmerode, Benjamin 304 Buzalini, Isach 71 Cagliostro (Giuseppe Balsamo) 315, 356 Calcagnino, Guido 245 Caliman, Jude zu Venedig 133 Calonimos, Davide 80 Cammeo, Abraham di 70 Campanella, Tommaso 32, 135, 316 Camporesi, Piero 115 Canossa, Galeazzo 312 Capsali, Eliya 117 Caracosa (Saracosa) Samuel 62 Cardano, Girolamo 13, 30, 91, 200, 202, 262f., 341 Cardoso, Isaac 124 Carlebach, Elisheva 42f. Carmi (Familie) 286 Carmi, Consiglio (Yekutiel) 284f. Carmi, Rafael 285, 289 Casaubon, Isaac 265 Castro, Abraham 69 Cattaneo, Giovanni 95 Cervi, David 28, 121, 147 Challo, Marco 80 Christian IV., Herzog von Pfalz-Zweibrücken 165, 167 Christian IV., König von Dänemark 274 Christina, Königin von Schweden 67 Christoph, Herzog von Württemberg 298
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Cicero, Marcus Tullius 138 Cinthio (Signior Cinthio) 192 Cipolla, Carlo 29 Clapmarius, Arnold 37 Clausburg, Heinrich Cramer von 142 Clemens VII., Papst 113, 120, 272 Clemens XII., Papst 361 Clenche, John 97 Cocles (Bartolomeo della Rocca) 217f. Cohen, Benjamin 278 Cohen, Hermann 366 Colorni (Familie) 16–18, 196, 284f., 289f., 309f. Colorni, Abramo 16–19, 83, 89, 91, 105f., 108, 124, 151, 164, 171, 174–180, 183–209, 211–228, 230–249, 251, 254–269, 280–311, 313–321, 338, 351, 371 Colorni, Antonio 284 Colorni, Colomba 195 Colorni, Diamante 174 Colorni, Gentile 174 Colorni, Giuseppe 310 Colorni, Isaaco 310 Colorni, Lazzaro 310 Colorni, Salomone (Cousin Abramo Colornis) 186, 310 Colorni, Salomone (Vater Abramo Colornis) 174, 195 Colorni, Samuele (auch: Simone; Cousin Abramo Colornis) 309 Colorni, Simone (auch: Samuele; gen. Il Morino) 17, 124, 195, 242, 289–291, 310–313 Colorni, Simone di Moise 311 Colorni, Violante 195 Colorni, Vittore 174 Conegliano, Israel 79 Coniano, Joel Abram 133 Croll, Oswald 239 Cromwell, Oliver 307 Crusius, Martin 240, 300f. D’Argens, Jean-Baptiste de Boyer 93 Da Costa, Emanuel Mendes 343f. Da Pisa (Familie) 196 Da Pisa, Yechiel Nissim 17, 195f., 223, 309 Daedalus 306f. Dante Alighieri 153, 175, 267 Daston, Lorraine 341 Davila, Ferdinando 208, 212, 220, 292
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De Vivo, Filippo 98 Dee, John 204, 239, 251, 334 Del Banco (Familie) 285 Della Porta, Giovan Battista 27–31, 91, 115, 201, 212f., 218–220, 225f., 263f., 266f., 320, 334 Della Vecchia, Pietro 131, 210 Dellavolta, Manuello 96 Delle, Mardochaeus de, s. Nelle, Mardochaeus de Delmedigo, Joseph Salomon 69, 116, 211, 243, 369–371 Descartes, René 328f., 334 Digges, Thomas 201 Dolfin, Giovanni 246, 259, 268, 291, 318, 320 Donato, Marcello 242 Donne, John 266 Eamon, William 28 Eberhard I., Herzog von Württemberg 298 Elisabeth I., Königin von England 204, 299 Ercker, Lazarus 66, 157, 272, 288 Ernst Ludwig, Landgraf von Hessen-Darmstadt 158f. Este (Familie) 46, 75, 96, 105, 135, 151, 173, 177–179, 185, 187f., 191, 200, 205f., 224, 283, 286, 294, 302, 305, 310, 320 Este, Alfonso II. d’ 185f., 188–190, 224, 236, 240–245, 283f., 293, 295, 302 Este, Cesare d’ 83, 190, 244, 295, 305 Este, Leonello d’ 105 Este, Luigi d’ 219, 320 Fabri, Felix 51 Falk, Samuel Jacob Chayyim 356–359 Fano, Menachem Azaria da 285 Fano, Salomon 124 Farissol, Abraham 336 Fattorino, Gabriele 195 Faulhaber, Johann 199 Feifel, Jude 94 Feivelmann, Jude zu Trier 157 Ferdinand II., Kaiser 248 Ferdinand III., Kaiser 67 Feuchtwanger, Lion 316 Feuer, Lewis S. 328f. Fichte, Johann Gottlieb 9, 360 Ficino, Marsilio 214, 226 Fideli, Ercole de’, s. Salomone da Sesso
Fioravanti, Leonardo 31, 80 Flamel, Nicolas 63 Foa, Abraham 70 Foucault, Michel 37, 101, 332, 371 Friedenwald, Harry 328 Friedrich I., Herzog von Württemberg 150, 163, 180, 188, 249, 265, 286f., 295–302, 304f., 311, 315 Friedrich II., Kaiser 65 Friedrich III., Kaiser 278 Friedrich IV., Herzog von Tirol 64, 96 Fristh, Giovanni Sigismondo 147 Fugger (Familie) 78, 296 Fugger, Hans 78 Funkenstein, Amos 332f. Ğābir ibn Hayyān 84 Gabrieli, Gaspare 181 Gaddi, Jacopo 306 Galen 214 Galilei, Galileo 32, 67, 201, 206, 211, 328f., 334, 369 Gans (Gaunse), Joachim 250f. Gans, David 249f., 337 Garzoni, Tomaso 174f., 184f., 188, 192–194, 198, 201, 206, 208, 212–214, 221f., 227, 301, 306, 308f., 316, 319, 329 Gauyu (Gaiuczu) Conti 107 Gauyu (Gaudiu) lu Presti 108 Gerosolimitano, Domenico 84 Gervasius, Julius 273 Giacomoa la Mantilara 135 Ginsburger, Moses 106 Gionattavo, Salomon 148 Gioseffo, Jude zu Imola 79 Giraldini, Ascanio 236, 240f., 250 Glanvill, Joseph 341 Glauber, Johann Rudolph 272 Goethe, Johann Wolfgang von 77, 134, 229, 354 Goldschmidt, Aaron 66 Gonzaga (Familie) 17, 48, 79, 92, 112, 120, 146f., 173f., 177–179, 182, 201, 205, 224f., 228, 245f., 293f., 302, 305, 311–313 Gonzaga, Carlo II. 310 Gonzaga, Eleonora 295, 305 Gonzaga, Francesco (Graf v. Novellara) 182f., 191, 198, 286, 309 Gonzaga, Francesco I. 231
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Gonzaga, Margherita 185 Gonzaga, Vincenzo I. 121, 178, 180, 206, 208, 212f., 217, 220, 231, 237, 245f., 257, 280, 282f., 289, 291–296, 300, 302, 304–305, 311, 313 Gottschalck, Jude zu Hannover 66, 156f. Gracián, Baltasar 39, 365 Grafton, Anthony 17, 184 Grechetto, Isac 113 Grunwald, Max 325 Guidoboni, Guidobuon de 259, 291 Gumprecht, Jude zu Verona 310 Guothild, Jüdin zu Straßburg 84 Gustav II. Adolf, König von Schweden 242 Gustav III., König von Schweden 358 Gustavus Selenus, s. August II., Herzog zu Braunschweig-Lüneburg Habermas, Jürgen 33 Habsburg (Familie) 94, 110, 112, 235, 241, 245, 257 Ha-Cohen, Joseph 117 Halbertal, Moshe 44, 366 Hamann, Johann Georg 51 Hannemann, Johann Ludwig 68, 274 Hans von Aachen 238 Hardtwig, Wolfgang 360 Hartlib, Samuel 288 Heindl, Johann 12 Heine, Heinrich 353 Heinrich VIII., König von England 90f. Herder, Johann Gottfried 51 Hermes Trismegistos 159, 221, 232f., 235, 238, 301, 321 Hippokrates 214 Hodierna, Giovanni Battista 201 Hoffmann, E.T.A. 353 Honauer, Jörg 161–164 Hunter, John 357 Idel, Moshe 44, 339 Il Morino, s. Colorni, Simone Isaac von Noyon (Magister Achino) 105 Isaac, Rabbiner zu Venedig 133 Isacchi, Giovanni Battista 152, 189 Isidor von Sevilla 214 Israel, Jonathan 110 Iuda Faccas 278
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Jacob, Jude zu Pforzheim 110 Jacopo da Gaeta (Ya‘qūb Pasha) 82 Jakob II., Herzog von Savoyen-Nemours 186, 191, 198 Jarè, Giuseppe 173f., 317 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 353 Jeremia 273f. Jesaja 215 Jesus von Nazareth 123 Joachim II., Kurfürst von Brandenburg 143, 154 Johann I., König von Aragon 62 Josel von Rosheim 298 Josep, Jude zu Ulm 103 Joseph, König (Bruder des David Reuveni) 119 Joyce, James 314f. Julius II., Papst 55 Julius, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel 66, 157 Kalonimos, Jude zu Lodi, s. Pavia, Clemente 112 Kant, Immanuel 14, 363 Karl Alexander, Herzog von Württemberg 160f., 280 Karl VI., Kaiser 279 Katherina II., Kaiserin 354 Katz, Jacob 360f. Kaufmann, David 212, 317 Kelley, Edward 224, 239, 251 Kepler, Johannes 239f., 260 Kieckhefer, Richard 232 Kipspan, Jude zu Frankfurt am Main 106 Kircher, Athanasius 226, 368 Kleist, Heinrich von 353 Kopernikus, Nikolaus 336f. Koselleck, Reinhart 24 Kugeler, Heidrun 12 Kuhn, Thomas S. 35, 367 Kyeser, Conrad 184, 188, 272 Lampronti, Isaac 352 Lang, Philipp 137, 250, 256, 296 Latis, Bonetto de 55f. Lattes, Bonet de, s. Latis, Bonetto de Lattis, Fortunio 113 Lavater, Johann Caspar 218 Lebl Höschl 96 Leibniz, Gottfried Wilhelm 166, 329 Leo X., Papst 55
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Leonardo da Vinci 83, 86, 172, 183f., 189, 205, 316, 318 Leone Ebreo, s. Abravanel Yehuda Leuchtenberg, Landgraf Georg Ludwig von 255 Levi di Vita 146 Levi, Giacob 94 Levi, Iseppe Prospero 148 Levi, Josef 105 Levi, Laudadio 92 Levi, Salomone di Vita 48 Levison, Gumpert 357f. Lichtenberg, Georg Christoph 353 Lima, Angelo (Mordechai Baruch) 121 Limojon de Saint-Didier, Alexandre-Toussaint 97, 159 Linné, Carl von 357 Lippold, Münzmeister in Brandenburg 143f. Lipsius, Justus 260 Llull, Ramon 133 Löw, Juda ben Bezalel (gen. Maharal) 136, 248f. Lucerna, Moses 247 Luhmann, Niklas 11, 23, 40 Lunardi, Abraham 77 Luppo, Jude 105 Luria, Isaak 211 Lusitanus, Amatus 124, 181 Luther, Martin 40, 42f., 122, 154f., 162, 164 Luzzatto, Simone 15, 44, 108, 344 Machiavelli, Niccolò 39f., 87 Maddelena greca 134 Maggino Gabrielli 114, 148–150, 302f. Maharal, s. Löw, Juda ben Bezalel Maier, Michael 239 Maimon, Salomon 366 Maimonides 54, 84, 215, 325 Malinowski, Bronisław 129 Manasse 123 Manerbio, Aderbale 124, 185, 198, 237, 247, 293, 295f., 300, 319 Mantino, Graziadio 104 Mantino, Jacob 91 Manzoni, Giacomo 258 Maria 331 Markus, Josias 152f. Marlowe, Christopher 43, 116f. Maselli, Francesco 192 Massarano, Isacchino 294
Matthias, Erzherzog/Kaiser 247 Mavrogonato, David 96 Maximilian III., Erzherzog 137, 235, 240 Medici (Familie) 46, 136, 150, 173, 183, 191, 198, 211, 303, 318 Medici, Cosimo I. de’ 121 Medici, Ferdinando I. de’ 116, 147 Medici, Ferdinando II. de’ 121 Medici, Francesco I. de’ 183, 191, 198 Medici, Giulio de’, s. Clemens VII. Medici, Lorenzo II. de’ 113, 272 Mehmet II., Sultan 82f. Menachem (Magister Menaym Judaeus), Jude 62 Menasseh ben Israel 307f. Mendel Isaak 111f., 241 Mendelssohn, Moses 165, 317, 355, 358, 366 Mendes, Alvaro, s. Abenaes, Salomon Mersenne, Marin 342 Merton, Robert K. 327f. Me-Sahab 68 Meyer, Jacob, s. Philadelphia, Jakob Meyzl, Mordechai 146, 248, 256 Michael, Jude zu Kassel 65 Michel Angelo Salomon, Jude 86 Mirami, Rafael 181f., 195, 201, 243, 307 Mirowitz, Leobel 112 Misson, Maximilian 97 Modena, Leon 70f., 77, 130, 133, 175, 211, 215, 285, 311 Modena, Mordechai 70, 135 Modena, Shemaia 71 Mokyr, Joel 337, 342 Molcho, Salomon 129 Montalto, Eliahu 227 Montecatini, Antonio 182 Monteverdi, Claudio 245 Mordechai, Jude zu Krakau 69 Morosini, Giulio 97 Moser, Friedrich Wilhelm 164, 315 Moses 50, 52, 109, 274, 301, 347 Moses Israel, Jude zu Thessaloniki 273 Moses, Rabbiner zu Trier 129 Mosse, Jude zu Regensburg 81 Moyses, Jude zu Mühlhausen 106 Mühlenfels, Hans Heinrich von 164 Mussafia, Binjamin 67f., 274 Mussolini, Benito 316
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Mustapha III., Sultan 354 Nacaman Giuda, s. Sarfatti, Gioseffo Nasi, Joseph 117 Navarro, Salamon da 114 Navarro, Salamon di Lazzaro 114 Neher, André 328 Nelle, Mardochaeus de 65, 251–255 Neuhoff, Theodor Stephan Freiherr von 357 Newman, William R. 58 Newton, Isaac 329, 357 Nicolay, Nicolas de 117f. Nikolaus von Kues 38 Nordenskjöld, August 358 Nüschler, Hans Heinrich 164 Oldenburg, Heinrich 277 Ongaro, Manuele 78f. Oppenheimer, Joseph Süß (gen. Jud Süß) 158–164, 280, 316 Oppenheimer, Samuel 110f., 279 Osiander, Lukas d.Ä. 299 Ottolenghi, Josef 338 Pagis, Dan 48 Pallache, Samuel 109 Paracelsus 53, 76, 252f., 287f. Parolini, Antonio Maria 180f. Pasciuto, Daniel 105 Patai, Raphael 62, 76, 324, 326 Pavia (Familie) 146 Pavia, Clemente 112, 337f. Pavia, Sansone 113 Perez, Daniel Israel 104, 371 Pessia, Ferrando 313 Peter IV., König von Aragon 62 Petraeus, Benedictus Nicolaus 252 Petrarca, Francesco 267 Petrozzani, Tullio 282f. Petrus Montanus 164 Petz, Bartholomäus 282 Pfendler, Isaac 281f. Phibes, Jude zu Hannover 156 Philadelphia, Jakob (Jacob Mayer) 353–355, 358 Philipp II., König von Spanien 112, 144f., 235 Pico della Mirandola, Giovanni 50f., 128 Pietro d’Abano 133, 222 Plato 214, 216, 222
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Plotin 222 Polyaenus 265 Pomis, David de 124, 147, 277, 336 Portaleone (Familie) 178 Portaleone, Abraham 69, 90f., 108, 124, 216f., 264f, 267, 277, 290, 302 Porto, Abraham Menachem 89 Powle, Stephen 235 Preto, Paolo 95 Prévosts, Jean 224 Provenzali, David 178 Provenzali, Jacob ben David 233 Ps.-Albertus Magnus 133 Ps.-Geber 217 Ptolemäus, Claudius 216 Rafael, Marco 90f. Raffael (Raffaello Santi) 312 Raleigh, Walter 250 Ravatoso, Samuel 107 Reggiep Bey 121 Reiner, Elchanan 333 Reuchlin, Johannes 50f. Reuveni, David 69, 119, 137, 196 Ricci, Marco Antonio 295 Ries, Rotraud 65 Rivet, André 342 Robert-Houdin, Jean Eugène 328 Roper, Lyndal 142 Rosales, Jacob 67 Rosenberg (Familie) 253 Rosenberg, Peter Wok von 157, 238, 253 Rossi, Azaria de’ 187, 214 Rossi, Salamone 178 Rößlin, württembergischer Kammerrat 287, 304 Rosso (Roces, Rocca, Roques), Jude 295–297 Roth, Cecil 41f., 173, 328f. Rothschild (Familie) 125 Rovai, Francesco 306 Ruderman, David B. 79, 330–332, 336f., 361 Rudolf II., Kaiser 58, 65, 111f., 120, 136f., 146f., 190, 220, 224, 235, 237–249, 251, 253–257, 259, 268, 281, 288, 295f., 298 Rumpf, Wolfgang 246 Ruscelli, Girolamo 28 Sacerdote, Simone 145 Sacerdote, Vitale 110, 144f., 371
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Salman von Hals 64, 96 Salomo, König 52, 133, 151, 221, 228–236, 250, 263, 297, 321 Salomon da Bassano 114 Salomon, Jude zu Piove 82f. Salomon, Jude zu Prag 249, 297 Salomoncinus, Jude zu Piove 83 Salomone (Maestro Salomon Giudeo), Jude zu Venedig 103, 105 Salomone da Sesso 108 Salomone da Zara 87 Sammel, Jude zu Kassel 103 Samuel von Wertheim 276 Samuel, Jude zu Hildesheim 110 Sanguineti, Isaac 151 Sarfatti (Familie) 72, 76, 85, 114 Sarfatti, Abram 75 Sarfatti, Gioseffo (Nacaman) 72–75, 192 Sarpi, Paolo 214f. Saruk, Chayyim 89, 138 Sasson, Abraham 135 Savorgnano, Mario 90f. Sax, Mendel 111 Scarfatti, Abram 75 Schiller, Friedrich 353 Schmul, Jude zu Frankfurt 103 Schnaber, Mordechai Gumbel, s. Levison, Gumpert Scholem, Gershom 15, 45, 325 Schott, Caspar 226 Schubart, Christian Friedrich Daniel 353, 355 Schudt, Johann Jacob 43, 68, 78, 97, 274 Schumann, Johann 258, 292 Schwarz, Berthold (Bertholdus niger) 278 Scotto, Girolamo 224–226 Scotus, Hiernoymus, s. Scotto, Girolamo Secharja, Jude zu Prag 88f. Segethus, Thomas 260 Segre, Abraham 71 Seligmann von Brenz 296f. Seligmann, Jude 65 Sendivogius, Michael 71, 239, 287f. Sennett, Richard 132 Servati, Jude zu London 352 Seyfried, Heinrich Wilhelm 353 Sforza, Francesco I. 82, 105 Sforza, Lodovico 183 Shapin, Steven 334
Shulvass, Moses A. 328 Sievers, Burkhard 23 Sigismund, Erzherzog 65 Simeon, Rabbiner zu Mainz 243 Siminto (Magister Siminto), Jude 107 Simmel, Georg 21f., 24, 364 Simon (Samuel), Jude zu Mailand 105 Simon di Roman 114 Simone, Jude zu Venedig 312 Simonsohn, Shlomo 102 Sixtus V., Papst 148, 207, 256, 258 Sokrates 355 Solon 214 Sömmering, Philipp 152f. Sommi, Leone de’ 178, 246 Spinoza, Baruch de 277 Steinschneider, Moritz 202, 317, 325f. Stern, Selma 110 Stollberg-Rilinger, Barbara 137 Strozzi, Giulio 257 Šuman, Jan, s. Schumann, Johann Symuel, Perret 70 Taccola (Mariano di Jacopo) 101, 184 Tacitus 37 Tartaglia, Niccolò 184 Tasso, Torquato 185, 250 Tassoni, Alessandro 18, 192, 200, 306 Teublein, Salman (Salomon) 63–65, 96 Texeira, Manoel 67 Thomas von Aquin 214, 224 Thomas, Keith 209 Timolione 70 Tirosh-Samuelson, Hava 332 Tizian 312 Toaff, Ariel 173 Trachtenberg, Joshua 326 Trani, Moses 124 Tricasso, Patricio 217f. Trilling, Lionel 365 Trismosin, Salomon 66 Trithemius, Johannes 88, 133, 259, 263–165, 267 Tubal-Kain 52 Tzevi, Shabbetai 129 Ursi, Giuseppe (Iosef d’Orso) 197 Valchus (Magister Valchus), Jude 82f.
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Valvasor, Johann Weichard 139, 243 Varignana, Guglielmo 59 Varro, Marcus Terentius 214 Vegetius Renatus, Flavius 214 Verdi, Giuseppe 294 Vergil 267 Vico, Giambattista 314 Vigenère, Blaise de 92 Vinta, Belisario 32 Vital, Chayyim 53, 69, 85, 90, 277 Vitruv 200, 221 Voigts, Manfred 24, 366 Voltaire 229 Wahl (Familie) 164–168 Wahl, Herz 165–168, 355 Wahl, Saul 166–168 Wakefield, Robert 51 Wallis, John 203
420
Walsingham, Francis 235 Wasa, Sigismund 235 Weber, Max 327, 364f. Weigenmaier, Georg 300f. Welling, Georg von 229 Wenzel IV., König von Böhmen 94 Westerbarkey, Joachim 22 Worsley, Benjamin 270 Yagel, Abraham 44, 124f., 223, 336 Yates, Frances 335f. Zacharias, Jude zu Nowgorod 68 Zacuti, Jude 83 Zalfaldi, Nataniel 75 Zedler, Johann Heinrich 11, 260 Zonca, Vittorio 29 Zorli, Francesco 192
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