Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium: Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie 9783161612183, 9783161612190, 3161612183

Die Fußwaschung Jesu gehört zu den umstrittensten Texten im Neuen Testament. Anni Hentschel bietet eine gründliche Analy

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German Pages [447] Year 2023

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Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Hinführung
Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung in Joh 13,1–20
1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge
1.1.1. Julius Wellhausen (1908)
1.1.2. Rudolf Bultmann (1941)
1.1.3. Rudolf Schnackenburg (1965)
1.1.4. Georg Richter (1965)
1.1.5. Christoph Niemand (1993)
1.1.6. Udo Schnelle (1998)
1.1.7. Jean Zumstein (2004)
1.1.8. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung
1.2. An der historischen Verortung im Leben Jesu orientierte Zugänge
1.2.1. Theodor Zahn (1921)
1.2.2. Craig S. Keener (2003)
1.2.3. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung
1.3. An der historischen Verortung im Leben der Gemeinde orientierte Zugänge
1.3.1. Raymond E. Brown (1966)
1.3.2. John C. Thomas (1991)
1.3.3. Klaus Wengst (2000/2001)
1.3.4. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung
1.4. Religionsgeschichtlich orientierte Zugänge
1.4.1. Wilhelm Heitmüller (1907)
1.4.2. Ernst Lohmeyer (1939)
1.4.3. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung
1.5. Sozialgeschichtlich und kulturwissenschaftlich orientierte Zugänge
1.5.1. Arland J. Hultgren (1982)
1.5.2. Jerome H. Neyrey, S. J. (2007)
1.5.3. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung
1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge
1.6.1. Heinrich Julius Holtzmann (1891)
1.6.2. Charles Harold Dodd (1937)
1.6.3. Charles Kingsley Barrett (1955)
1.6.4. James D. G. Dunn (1970)
1.6.5. Ernst Haenchen (1980)
1.6.6. Bincy Mathew (2018)
1.6.7. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung
1.7. Literaturwissenschaftlich orientierte Zugänge
1.7.1. Alan Culpepper (1991)
1.7.2. Francis J. Moloney (1993–1998)
1.7.3. Hartwig Thyen (2005)
1.7.4. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung
1.8. Perspektiven für die weitere Interpretation der Fußwaschungserzählung
Kapitel 2: Zur Vorgehensweise
2.1. Hermeneutische und methodische Reflexion
2.2. Methodische Zugänge
2.2.1. Intertextualität
2.2.2. Umberto Eco: Lector in Fabula
2.2.3. Mieke Bal: Narratologie
2.2.3.1. Erzählstimme und Erzählebenen
2.2.3.2. Wahrnehmungsperspektiven und Bewertungen
2.2.3.3. Die zeitliche Strukturierung der Erzählung
2.2.3.4. Erzählfiguren und ihre Charakterisierung
2.2.3.5. Handlungsschauplätze
2.3. Zur Vorgehensweise und Textauswahl
Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike
3.1. Fußwaschung als Körperpflege mit Wellness-Aspekten
3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe
3.2.1. Fußwaschung in Eltern-Kind-Beziehungen
3.2.2. Fußwaschung in der Ehe und in intimen Beziehungen
3.2.3. Fußwaschung in der Schüler-Lehrer-Beziehung
3.2.4. Gastfreundschaft mit und ohne Fußwaschung nach Homer
3.2.5. Die Fußwaschung Eurykleias an Odysseus als besondere Fußwaschung für den Hausherrn als ungewöhnlichen Ehrengast
3.2.6. Fußwaschung im Kontext von Gastmählern und Gastfreundschaft
3.3. Ehre, wem Ehre gebührt
3.3.1. Fußwaschung als Zeichen der Verehrung
3.3.2. Erzwungene Fußwaschung als Zeichen der Demütigung
3.3.3. Das Verbot der Fußwaschung für jüdische Sklaven
3.4. Fußwaschung im Rahmen kultischer Reinigungen
3.5. Fußwaschung im metaphorischen Sinn
3.6. Ergebnisse
Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)
4.1. Zur Textauswahl
4.2. Zur Stellung von Joh 11–12 im Kontext des Johannesevangeliums
4.3. Narratologische Analyse von Joh 12,1–11
4.3.1. Erzählte Situation: Schauplatz, Zeit, Personen
4.3.2. Erzählte Handlung
4.3.3. Zur Charakterisierung Marias
4.4. Intertextuelle Lektüre von Joh 12,1–8
4.4.1. Joh 12,1–8 und Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13
4.4.2. Joh 12,1–8 und Lk 10,38–42 sowie Lk 16,9–31
4.4.3. Joh 12,1–8 und Lk 7,36–50
4.4.4. Bedeutungsdimensionen von Joh 12,1–8 nach der intertextuellen Lektüre
4.5. Die Salbung der Füße Jesu als Zeichen der Liebe zu Jesus
Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls
5.1. Zur Stellung von Joh 13,1–20 im Kontext des Johannesevangeliums
5.2. Zur Gliederung von Joh 13–17
5.3. Übersetzung und Textüberlieferung von Joh 13,1–38
5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38
5.4.1. Erzählzeit und erzählte Zeit
5.4.2. Erzählte Situation: Zeit und Schauplatz
5.4.3. Erzählte Situation: Personen
5.4.4. Zur Charakterisierung der Jünger
5.4.5. Zur Charakterisierung des Petrus
5.4.6. Zur Charakterisierung des anonymen, von Jesus geliebten Jüngers
5.4.7. Erzählte Handlung
5.4.8. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse aus der narratologischen Exegese
5.5. Einzelexegese von Joh 13
5.5.1. Joh 13,1–5
5.5.2. Joh 13,6–11
5.5.3. Zusammenfassung zu Joh 13,6–11
5.5.4. Joh 13,12–20
5.5.5. Zusammenfassung zu Joh 13,12–20
5.5.6. Joh 13,21–30
5.5.7. Zusammenfassung zu Joh 13,21–30
5.5.8. Joh 13,31–38
5.5.9. Zusammenfassung zu Joh 13,31–38
5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38
5.6.1. Joh 13,16.36–38 und Joh 15,18–16,4a
5.6.2. Joh 13,16.20 und die synoptischen Parallelen
5.6.3. Joh 13,1–38 und Lk 22,14–38
5.6.4. Bedeutungsdimensionen von Joh 13 nach der intratextuellen und intertextuellen Lektüre
5.7. Die Fußwaschung als Zeichen der Sendung Jesu und der Beauftragung der Seinen
Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)
6.1. Joh 15,1–17 im Kontext von Joh 15,1–16,4a
6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher für die Nachfolgegemeinschaft
6.2.1. Joh 15,1–8
6.2.2. Joh 15,9–11
6.2.3. Joh 15,12–17
6.2.4. Zusammenfassung zu Joh 15,1–17
6.3. Intratextuelle und intertextuelle Lektüre von Joh 15,1–8
6.3.1. Joh 15,1–8 und Joh 12,23–26
6.3.2. Joh 15,1–8 und Jes 5,1–7; 27,2–6; 60,21
6.3.3. Bedeutungsdimensionen von Joh 15,1–8 nach der intertextuellen Lektüre
6.4. Das Liebesgebot als Inhalt der Sendung der Seinen
Kapitel 7: Ergebnisse
7.1. Die Fußwaschungserzählung im Spiegel der Forschung
7.2. Zur Vorgehensweise
7.3. Fußwaschungen in der antiken Literatur
7.4. Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium
7.5. Weitere Bedeutungsdimensionen nach der intertextuellen Lektüre
7.6. Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie
Bibliographie
Stellenregister
Autorenregister
Sachregister
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Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium: Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie
 9783161612183, 9783161612190, 3161612183

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber/Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber/Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) ∙ James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) ∙ Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)

493

Anni Hentschel

Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie

Mohr Siebeck

Anni Hentschel, geboren 1972; 1991–1998 Studium der Ev. Theologie in Neuendettelsau, Heidelberg und Erlangen; 2005 Promotion; 2021 Habilitation; seit 2021 Privatdozentin für Neues Testament am Fachbereich Ev. Theologie der Universität Frankfurt und seit 2022 Professorin für Neues Testament und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg. orcid.org/0000-0002-3333-685X

ISBN 978-3-16-161218-3 / eISBN 978-3-16-161219-0 DOI 10.1628/978-3-16-161219-0 ISSN 0512-1604 / eISSN 2568-7476 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. ©  2022 Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Die vorliegende Studie wurde 2020 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main aufgrund der Gutachten von Prof. Dr. Stefan Alkier und Prof. Dr. Jörg Frey, Universität Zürich, als Habilitationsschrift angenommen und für die Drucklegung geringfügig gekürzt und überarbeitet. Viele haben auf unterschiedliche Weise zum Gelingen dieses Forschungsprojekts beigetragen. Herzlich bedanke ich mich zunächst bei Prof. Dr. Stefan Alkier, der mich als wissenschaftliche Assistentin an seinem Lehrstuhl gefördert und mein Projekt mit Interesse und wertvollen Anregungen betreut hat. Der kollegiale Austausch mit Dr. Michael Rydryck, Dr. Michael Schneider und Dr. Sylvia Usener war für mich sowohl methodisch und fachlich als auch persönlich wertvoll. Mein besonderer Dank gilt auch Prof. Dr. Jörg Frey (Zürich), der mir das spannende Thema der Fußwaschung Jesu als Forschungsprojekt im Anschluss an die Veröffentlichung meiner Dissertation vorgeschlagen und den Fortschritt meiner Forschungen begleitet und gefördert hat. Gefreut habe ich mich über seine Bereitschaft, das Zweitgutachten zu erstellen. Dem Colloquium Iohanneum danke ich für die Gelegenheit, dass ich bei den Tagungen wiederholt zentrale Zwischenergebnisse und Thesen meiner Arbeit präsentieren und diskutieren konnte. Von den zahlreichen Rückmeldungen habe ich sehr profitiert. Frau Prof. Dr. Christina Hoegen-Rohls und Prof. Dr. Michael Theobald danke ich für ihr besonderes Interesse an meinem Thema und für wertvolle Hinweise zum Verständnis der Abschiedsreden und der faszinierenden Bildwelt der JesusReden im vierten Evangelium. Anregend und weiterführend waren für mich auch die Mainzer Moral Meetings und ich danke besonders Prof. Dr. Ruben Zimmermann für sein Engagement. Auch den vielen weiteren Personen, die mich auf meinem wissenschaftlichen Weg begleitet haben und die hier nicht namentlich genannt werden können, danke ich für ihren Beitrag zum erfolgreichen Abschluss der Studie. Den Herausgebern der Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament gilt mein Dank für die Aufnahme meiner Arbeit in die erste Reihe. Den Mitarbeitenden Tobias Stäbler, Markus Kirchner und Jana Trispel vom Verlag Mohr Siebeck danke ich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und die sorgfältige Betreuung während der Drucklegung. Danken möchte ich last, but not least meiner Familie für ihr Verständnis und ihre Rücksichtnahme bei der Entstehung dieses Buches. Freiburg, im September 2022

Anni G. Hentschel

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählungin Joh 13,1–20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Julius Wellhausen (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Rudolf Bultmann (1941) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3. Rudolf Schnackenburg (1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4. Georg Richter (1965) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5. Christoph Niemand (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.6. Udo Schnelle (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.7. Jean Zumstein (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.8. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung

4 4 5 10 12 14 18 20 24

1.2. An der historischen Verortung im Leben Jesu orientierte Zugänge . . . . 1.2.1. Theodor Zahn (1921) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Craig S. Keener (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung

25 25 27 30

1.3. An der historischen Verortung im Leben der Gemeinde orientierte Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Raymond E. Brown (1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. John C. Thomas (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Klaus Wengst (2000/2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung

30 30 33 36 38

1.4. Religionsgeschichtlich orientierte Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Wilhelm Heitmüller (1907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2. Ernst Lohmeyer (1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung

39 39 41 43

1.5. Sozialgeschichtlich und kulturwissenschaftlich orientierte Zugänge . . . 1.5.1. Arland J. Hultgren (1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2. Jerome H. Neyrey, S. J. (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung

44 44 45 48

VIII

Inhaltsverzeichnis

1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge . . . . . . . . . . . . 1.6.1. Heinrich Julius Holtzmann (1891) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2. Charles Harold Dodd (1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.3. Charles Kingsley Barrett (1955) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.4. James D. G. Dunn (1970) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.5. Ernst Haenchen (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.6. Bincy Mathew (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.7. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung

49 49 51 53 56 57 59 62

1.7. Literaturwissenschaftlich orientierte Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.1. Alan Culpepper (1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.2. Francis J. Moloney (1993–1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.3. Hartwig Thyen (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.4. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung

63 63 64 68 72

1.8. Perspektiven für die weitere Interpretation der Fußwaschungserzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Kapitel 2: Zur Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.1. Hermeneutische und methodische Reflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.2. Methodische Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Umberto Eco: Lector in Fabula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Mieke Bal: Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.1. Erzählstimme und Erzählebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.2. Wahrnehmungsperspektiven und Bewertungen . . . . . . . . 2.2.3.3. Die zeitliche Strukturierung der Erzählung . . . . . . . . . . . 2.2.3.4. Erzählfiguren und ihre Charakterisierung . . . . . . . . . . . . . 2.2.3.5. Handlungsschauplätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 90 100 106 115 117 119 121 122

2.3. Zur Vorgehensweise und Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.1. Fußwaschung als Körperpflege mit Wellness-Aspekten . . . . . . . . . . . . . 127 3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Fußwaschung in Eltern-Kind-Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Fußwaschung in der Ehe und in intimen Beziehungen . . . . . . . . . 3.2.3. Fußwaschung in der Schüler-Lehrer-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4. Gastfreundschaft mit und ohne Fußwaschung nach Homer . . . .

134 134 139 150 152

Inhaltsverzeichnis

IX

3.2.5. Die Fußwaschung Eurykleias an Odysseus als besondere Fußwaschung für den Hausherrn als ungewöhnlichen Ehrengast 155 3.2.6. Fußwaschung im Kontext von Gastmählern und Gastfreundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.3. Ehre, wem Ehre gebührt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Fußwaschung als Zeichen der Verehrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Erzwungene Fußwaschung als Zeichen der Demütigung . . . . . . . 3.3.3. Das Verbot der Fußwaschung für jüdische Sklaven . . . . . . . . . . . .

166 166 172 178

3.4. Fußwaschung im Rahmen kultischer Reinigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 3.5. Fußwaschung im metaphorischen Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3.6. Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11) . . . . . . . . . . . . 199 4.1. Zur Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4.2. Zur Stellung von Joh 11–12 im Kontext des Johannesevangeliums . . . . 200 4.3. Narratologische Analyse von Joh 12,1–11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Erzählte Situation: Schauplatz, Zeit, Personen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Erzählte Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Zur Charakterisierung Marias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

204 204 207 211

4.4. Intertextuelle Lektüre von Joh 12,1–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 4.4.1. Joh 12,1–8 und Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 4.4.2. Joh 12,1–8 und Lk 10,38–42 sowie Lk 16,9–31 . . . . . . . . . . . . . . . 218 4.4.3. Joh 12,1–8 und Lk 7,36–50 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.4.4. Bedeutungsdimensionen von Joh 12,1–8 nach der intertextuellen Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4.5. Die Salbung der Füße Jesu als Zeichen der Liebe zu Jesus . . . . . . . . . . . 225

Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 5.1. Zur Stellung von Joh 13,1–20 im Kontext des Johannesevangeliums . . . 229 5.2. Zur Gliederung von Joh 13–17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 5.3. Übersetzung und Textüberlieferung von Joh 13,1–38 . . . . . . . . . . . . . . . 235 5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 5.4.1. Erzählzeit und erzählte Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

X

Inhaltsverzeichnis

5.4.2. Erzählte Situation: Zeit und Schauplatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3. Erzählte Situation: Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4. Zur Charakterisierung der Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5. Zur Charakterisierung des Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.6. Zur Charakterisierung des anonymen, von Jesus geliebten Jüngers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.7. Erzählte Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.8. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse aus der narratologischen Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241 243 246 258 269 276 280

5.5. Einzelexegese von Joh 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.1. Joh 13,1–5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.2. Joh 13,6–11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.3. Zusammenfassung zu Joh 13,6–11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.4. Joh 13,12–20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.5. Zusammenfassung zu Joh 13,12–20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.6. Joh 13,21–30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.7. Zusammenfassung zu Joh 13,21–30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.8. Joh 13,31–38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5.9. Zusammenfassung zu Joh 13,31–38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281 282 286 292 294 306 307 311 311 317

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38 . . . . . . . . . . . 5.6.1. Joh 13,16.36–38 und Joh 15,18–16,4a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.2. Joh 13,16.20 und die synoptischen Parallelen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.3. Joh 13,1–38 und Lk 22,14–38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6.4. Bedeutungsdimensionen von Joh 13 nach der intratextuellen und intertextuellen Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

318 318 322 327 333

5.7. Die Fußwaschung als Zeichen der Sendung Jesu und der Beauftragung der Seinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 6.1. Joh 15,1–17 im Kontext von Joh 15,1–16,4a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher für die Nachfolgegemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1. Joh 15,1–8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2. Joh 15,9–11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3. Joh 15,12–17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4. Zusammenfassung zu Joh 15,1–17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

344 345 350 351 357

6.3. Intratextuelle und intertextuelle Lektüre von Joh 15,1–8 . . . . . . . . . . . . 360 6.3.1. Joh 15,1–8 und Joh 12,23–26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

Inhaltsverzeichnis

XI

6.3.2. Joh 15,1–8 und Jes 5,1–7; 27,2–6; 60,21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 6.3.3. Bedeutungsdimensionen von Joh 15,1–8 nach der intertextuellen Lektüre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 6.4. Das Liebesgebot als Inhalt der Sendung der Seinen . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

Kapitel 7: Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 7.1. Die Fußwaschungserzählung im Spiegel der Forschung . . . . . . . . . . . . . 369 7.2. Zur Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 7.3. Fußwaschungen in der antiken Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 7.4. Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium . . . . . . . . . . . . . . 376 7.5. Weitere Bedeutungsdimensionen nach der intertextuellen Lektüre . . . . 381 7.6. Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431

Hinführung Die Fußwaschungserzählung gehört zu den rätselhaftesten Erzählungen im Neuen Testament. Mit ihrer anschaulichen Darstellung und vielen Details lädt sie zur Interpretation ein. Die bildreiche Sprache, die Missverständnisse und die repetitive Darstellungsweise des vierten Evangelisten sowie die differenzierten intertextuellen Bezüge zur synoptischen Tradition, vor allem zu den Abendmahlstexten, bieten vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten für Interpretinnen und Interpreten. Die Forschungsgeschichte belegt, wie differenziert die Fußwaschungserzählung bis heute ausgelegt wird. Dies gilt interessanterweise auch bei den Arbeiten, welche durch die gewählten Methoden oder das erkenntnisleitende Interesse miteinander verbunden sind. Die Vorannahmen der Exegetinnen und Exegeten zur kulturellen Bedeutung der Fußwaschung in der Antike und zur johanneischen Christologie, Soteriologie und Ethik beeinflussen das Verständnis der Fußwaschung Jesu im Rahmen seines letzten Mahls. Nicht zuletzt spielen auch die Hypothesen zur Entstehungsgeschichte des Johannesevangeliums und zur Situation der johanneischen Gemeinde eine entscheidende Rolle. Damit bestätigt die Forschungsgeschichte die Deutungsoffenheit der Erzählung. In der Regel werden Joh 13,6–11 und 13,12–20 als zwei Deutungen der Fußwaschung betrachtet, die einander sachlich und zum Teil auch überlieferungsund redaktionsgeschichtlich zugeordnet oder entgegengesetzt werden. In der neueren Forschung wird Joh 13,6–11 oft soteriologisch gedeutet und als Zeichen der Liebe Jesu verstanden, die ihren tiefsten Ausdruck im Kreuzestod findet. Als Symbolhandlung des Todes Jesu ermögliche sie Teilhabe am Heil (13,8) und Reinigung von den Sünden (13,10 f.). Joh 13,12–20 wird als zweite, paränetisch ausgerichtete Deutung als Ergänzung, Fortführung oder Widerspruch zu Joh 13,6–11 betrachtet. Mit einer neuen Analyse der Vorkommen von Fußwaschungen in Texten der griechischen, jüdischen und römischen Kultur wird zunächst aufgezeigt, wie vielfältig bereits die Bedeutungsaspekte sind, die in der Literatur mit einer Fußwaschung verbunden werden. Wenn man die – trotz allem überschaubare – Anzahl an Belegen nicht nur nach dem äußeren Anlass für die Fußwaschung befragt, sondern in ihrem weiteren literarischen Kontext analysiert, eröffnet sich ein Bedeutungsspektrum der Fußwaschung, das weit über die Frage nach Subjekten und Situationen hinausgeht. Auf diesem kulturellen Hintergrund wird die johanneische Fußwaschungserzählung in der vorliegenden Studie mit Hilfe narratologischer Methoden analysiert und intertextuell mit relevanten synoptischen Texten gelesen. Am Ende wird sie den zahlreichen Deutungen der

2

Hinführung

Fußwaschung Jesu im Johannesevangelium eine weitere hinzufügen, welche einen neuen, hoffentlich ebenso spannenden wie weiterführenden Diskussionsbeitrag zur Ekklesiologie im Johannesevangelium darstellt. Gerade bezüglich der Ekklesiologie stellt sich die Frage, ob in den johanneischen Texten erkennbar ist, wie sich Aufgaben, Verantwortung und Ansehen im Kontext der Nachfolgegemeinschaft verteilt haben. In diesem Zusammenhang ist auch eine sorgfältige Analyse der Rolle von Frauen in den Erzählungen über die Nachfolge Jesu relevant. Das Johannesevangelium zeichnet sich dadurch aus, dass neben bekannten und unbekannten Männern auch viele namenlose oder namentlich genannte Frauen eine zentrale Rolle in der Nachfolge Jesu spielen und auch als Zeuginnen für Jesus auftreten. Exemplarisch seien nur die samaritanische Frau am Brunnen und Maria Magdalena als erste Auferstehungszeugin genannt. Im Kontext der Fußwaschungserzählung ist noch auf Maria zu verweisen, die mit der Salbung der Füße Jesu vorwegnimmt (Joh 12,1–8), was Jesus in Joh 13 von den Seinen fordert. Es stellt sich von daher die Frage, ob beim letzten Mahl Jesu auch Jüngerinnen anwesend waren. Da Johannes den Kreis der anwesenden Seinen (13,1) weder auf die Zwölf begrenzt noch alle Anwesenden namentlich nennt, ist dies nicht auszuschließen, allerdings auch nicht zu belegen. In jedem Fall ist die Mahlgemeinschaft nicht explizit auf einen bestimmten Personenkreis begrenzt, sondern vielmehr transparent für alle, die sich in der Nachfolge Jesu befinden. Diese Offenheit, die durch die inklusive Wortverwendung von Personenbezeichnungen wie μαθητής im Griechischen gegeben ist, lässt sich im Deutschen sprachlich kaum angemessen sichtbar machen. Eine inklusive Wortverwendung des Terminus „Jünger“, zu denen Frauen und Männer gehören, entspricht der griechischen Wortverwendung. Dies würde jedoch mit Blick auf die Vorstellungen vom Nachfolgekreis eher das traditionelle Bild bestätigen, dass nur oder überwiegend Männer Jesus nachgefolgt sind, von ihm mit Aufträgen ausgesandt wurden und auch beim letzten Mahl anwesend waren. Gerade für das Johannesevangelium ist diese Vorstellung nicht angemessen. Sobald man jedoch im Deutschen auch von „Jüngerinnen und Jüngern“ spricht, wird die Rede von den „Jüngern“ tendenziell exklusiv im Sinne der „männlichen“ Jünger. In diesem Dilemma einer historisch und sachlich angemessenen gendergerechten Analyse der Texte einerseits und einer im Deutschen gut lesbaren Darstellung andererseits bewegt sich die vorliegende Studie, der die Lesenden nachsehen möchten, dass es keine ideale Lösung für diese Schwierigkeit gibt. Ob sich in der deutschen Sprache irgendwann Alternativen wie das Gendersternchen oder ein inklusiver Doppelpunkt als Ausweg aus diesem Dilemma durchsetzen können, wird die Zeit zeigen, denn auch die Sprache geht mit der Zeit und verändert sich mit den Überzeugungen derer, die sie benutzen.

Kapitel 1

Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählungin Joh 13,1–20 Die Diskussion um die Bedeutung der Fußwaschungserzählung in Joh 13 ist bis heute nicht verstummt. Dieser enigmatische Text im vierten Evangelium fordert Exegetinnen und Exegeten seit der Alten Kirche heraus. Das Johannesevangelium regt durch seine bildreiche Darstellung und die daraus oft resultierende Rätselhaftigkeit, durch die von langen Reden durchzogene Erzählung und die damit verbundene Tiefe der Gedanken seine Rezipientinnen und Rezipienten immer wieder neu zum Mit- und Nachdenken an. Bei der Interpretation von Joh 13,1–20 begegnen  – sogar in konzentrierter Form  – alle offenen Fragen der Johannesauslegung. Je nachdem, welcher methodische Zugang gewählt wird und welche Annahmen mit Blick auf die Einleitungsfragen vorausgesetzt werden, ergibt sich ein differenziertes Bild der Auslegungsmöglichkeiten der Fußwaschungserzählung. Allerdings führt eine bestimmte methodische und theologische Zugangsweise zum Johannesevangelium dennoch nicht zwingend zu einer spezifischen Auslegung, sondern ermöglicht ebenfalls die unterschiedlichsten Deutungen. Der folgende Forschungsüberblick zielt deshalb nicht auf Vollständigkeit, sondern versucht vielmehr exemplarisch an Exegesen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten, wie unter der Voraussetzung eines bestimmten methodischen Zugangs und eines damit stets auch verbundenen theologischen Interesses die verschiedenen Aspekte in Joh 13,1–20 gedeutet und theologisch bewertet werden können.1 Die Forschungspositionen lassen sich nicht immer eindeutig einer einzigen Auslegungsperspektive zuordnen, die hier zur Gliederung gewählt wurden. Als entscheidendes Kriterium bei der Zuordnung der exegetischen Modelle galt deshalb, welche methodische Prämisse den Blick auf die johanneische Fußwaschungserzählung grundlegend steuert. 1  Die folgende Gliederung orientiert sich an den Auslegungsmodellen, die Jörg Frey in seinem Aufsatz „Wege und Perspektiven der Interpretation des Johannesevangeliums“ ausführt und die sich für die Darstellung der Auslegungsgeschichte von Joh 13 anbieten. Damit kann die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten von Joh 13,1–20 anschaulich gemacht werden, die sich nicht systematisierend einzelnen Zugangsweisen zuordnen lassen; vgl. Frey, Wege. Da religionsgeschichtlich und kulturwissenschaftlich orientierte Zugänge mit Blick auf die Frage, welche Bedeutung der Fußwaschung in der Antike bzw. im religiösen Kontext der johanneischen Gemeinde zukommen konnte, für die Auslegung besonders relevant sind, werden diese gesondert angeführt.

4

Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

Rudolf Bultmanns Interesse gilt zwar primär der theologischen Interpretation des Johannesevangeliums, doch seine literarkritische Herangehensweise führt dazu, dass Joh 13,6–11 und 13,12–20 als zwei zunächst unabhängig vorhandene Textbausteine wahrgenommen und entsprechend getrennt interpretiert werden.2 Auch wenn Bultmann am Ende eine stimmige Interpretation des Gesamttextes vorlegen kann, bleiben für ihn doch die zwei Textabschnitte mit ihren jeweils unterschiedlichen Bedeutungen erhalten und prägen insgesamt seine Auslegung von Joh 13. Deshalb wird Bultmann hier nicht dem theologischen, sondern dem an der Textgeschichte orientierten Auslegungstyp zugeordnet. Die exemplarische Durchsicht der Forschungspositionen lässt verschiedene, wiederkehrende Interpretationsmodelle von Joh 13,1–20 erkennen. Die an der Textgeschichte orientierten Zugänge (1.1) gründen ihre Auslegung, in durchaus unterschiedlicher Weise, auf der Beobachtung, dass in Joh 13,1–20 Textbausteine enthalten sind, die aus unterschiedlichen Traditions- und Sinnzusammenhängen stammen. Primär an der historischen Verortung der Erzählung orientierte Zugänge versuchen die Bedeutung zu erschließen, indem sie die Fußwaschung im Leben Jesu (1.2) oder in der Geschichte der johanneischen Gemeinde (1.3) verorten. Da in Joh 13,1–20 mit der Fußwaschung eine Reinigungshandlung im Zentrum steht, deren Bedeutung im religionsgeschichtlichen (1.4) oder grundlegender im kulturellen (1.5) Kontext der Antike beleuchtet werden kann, sind diese Aspekte forschungsgeschichtlich besonders zu berücksichtigen. Die untersuchten Forschungspositionen, deren Interesse gemäß der vorliegenden Einteilung schwerpunktmäßig den theologischen Wahrheiten (1.6) gilt bzw. deren Zugang durch neuere literaturwissenschaftliche Methoden (1.7) geprägt ist, haben gemeinsam, dass sie den Text Joh 13,1–20 in seiner vorliegenden Fassung interpretieren.

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge 1.1.1. Julius Wellhausen (1908) Julius Wellhausen kommt ursprünglich von der alttestamentlichen Theologie her und wendet sich erst am Ende seiner Forschertätigkeit dem Neuen Testament zu. Sein leitendes Interpretationsparadigma ist die Literarkritik, weshalb das Johannesevangelium für ihn einen spannenden Forschungsgegenstand darstellt. Wellhausen setzt eine ursprüngliche Grundschrift im Johannesevangelium voraus, die später ergänzt und überarbeitet wurde. Während Joh 13,1–3 von zweiter

2 Vgl.

Abschnitt 1.1.2.

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

5

Hand ergänzt wurde, sei Joh 13,4–5.12–15 Bestandteil dieser Grundschicht.3 In 13,12–15 werde die Fußwaschung Jesu als ein moralisches Vorbild gedeutet, das Lk 22,27 entspreche und die Jünger zur διακονία auffordere.4 Die Verse Joh 13,16.20 stammten aus dem Matthäusevangelium und störten im vorliegenden Kontext, auch die Verse Joh 13,17–19 seien wie die Notizen über Judas in 13,10 f. als spätere Zusätze zu betrachten.5 In dem jüngeren Abschnitt 13,6–11 werde die Fußwaschung als sakramentale Handlung gedeutet, welche die Jünger in eine mystische Gemeinschaft mit Jesus treten lasse.6 Eine Reinigung sei jedoch weder Ziel noch Folge der Fußwaschung, deshalb benötige Petrus auch keine umfassendere Waschung, da die Jünger durch das Vollbad der Taufe bereits rein seien und eine Taufe auch nicht wiederholt werden dürfe (13,9 f.).7 Die literarkritische Herangehensweise Wellhausens führt bei seiner Interpretation von Joh 13,1–20 dazu, dass der Text auf verschiedene Schichten und Hände verteilt und nicht in seinem vorliegenden Zusammenhang wahrgenommen werden kann. Einer älteren moralischen Interpretation der Fußwaschung im Sinne der gegenseitigen Diakonie (13,12–17*) wird eine jüngere sakramentale Deutung zur Herstellung einer mystischen Gemeinschaft als inhaltlich unvereinbar gegenübergestellt (13,6–11*). Dieses literarkritisch begründete Interpretationsmodell lässt sich in der späteren Forschung immer wieder finden. Einzelne Verse, wie v. a. 13,16.20, aber auch 13,10 f.17–19, werden als störend aus dem vorliegenden Zusammenhang ausgeschieden. Das methodische Problem dieser Form der Literarkritik liegt darin, dass anhand der Sprache im Johannesevangelium stilistisch nicht zwischen einer Grundschicht und späteren Überarbeitungen unterschieden werden kann und v. a. inhaltliche Argumente ins Feld geführt werden, um die Zuordnung zu verschiedenen Schichten und zu den damit verbundenen theologischen Konzeptionen zu begründen.8 Die angebliche inhaltliche Unvereinbarkeit der beiden Deutungen der Fußwaschung (13,6– 11.12–20) wird inhaltlich wahrgenommen, literarkritisch begründet und damit in einer zirkulären Interpretation festgeschrieben.

1.1.2. Rudolf Bultmann (1941) Rudolf Bultmann nimmt einen dreistufigen Entstehungsprozess an: Der Evangelist benutzte für sein Evangelium neben kleineren Traditionsstücken drei um Wellhausen, Evangelium, 62 f.  Vgl. Wellhausen, Evangelium, 60. 5 Vgl. Wellhausen, Evangelium, 60. Wellhausen sieht den Kurztext von 13,10 als ursprünglich an, vgl. a. a. O. Anm. 6  Vgl. Wellhausen, Evangelium, 59. 7 Vgl. Wellhausen, Evangelium, 60. 8 Vgl. zu diesem Problem auch Frey, Eschatologie I, 62–66. 3 4

6

Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

fangreichere schriftliche Quellen, eine Semeia-Quelle, eine OffenbarungsredenQuelle und einen Passionsbericht, ein sogenannter Kirchlicher Redaktor habe das in Unordnung geratene Werk des Evangelisten später fertiggestellt.9 Bei der Überarbeitung wurden vor allem Hinweise auf die Sakramente und eine futurische Eschatologie ergänzt und damit die ursprüngliche theologische Konzeption des Evangelisten zerstört.10 Bultmann versucht mit Hilfe der Literarkritik das ursprüngliche Evangelium zu rekonstruieren, für das er eine existentiale Theologie annimmt, der sein ganzes Interesse gilt. Auch wenn Bultmann die Einleitungsfragen als irrelevant für die Frage nach der Theologie des Johannesevangeliums betrachtet, sind sie für seine Interpretation doch grundlegend, da mit ihrer Hilfe der zu interpretierende Text festgelegt wird, während inhaltlich den Zusammenhang „störende“ Verse ausgeschieden werden.11 Damit scheidet Bultmann literarkritisch aus, was theologisch seiner Meinung nach nicht der Überzeugung des Evangelisten entspricht. Die Fußwaschung wird von Bultmann im Zusammenhang der Kapitel Joh 13– 17 behandelt, in denen es um den „Abschied des Offenbarers“ geht: Thematisch sei hier alles auf die Klärung der Offenbarungsvorstellung für den Jüngerkreis konzentriert und für dieses Thema Sekundäres  – wie etwa auch das Herrenmahl – sei vom Evangelisten weggelassen worden.12 In Joh 13,1–20 gehe es um die symbolische Konstituierung der Gemeinde, deren Lebensgesetz in 13,34 f. angeführt werde, wobei die anwesenden Jünger den gesamten Jüngerkreis repräsentierten und deshalb absichtlich gerade nicht als der Zwölferkreis ausgewiesen werden.13 Bultmann geht im Rahmen seines literarkritischen Modells davon aus, dass Joh 13,4 f. und 13,12–20 zu einer älteren Quelle gehörten, wobei der Text ursprünglich ein Apophthegma bildete, bei dem sich ein Herrenwort an eine Handlung Jesu anschloss.14 Joh 13,6–11 stelle die eigene Interpretation der Fußwaschung durch den Evangelisten dar, welche die sich anschließende ältere, ethisch ausgerichtete Deutung neu begründe.15 Die Fußwaschungserzählung wird von Bultmann nicht sakramental verstanden, denn er nimmt grundsätzlich an, dass der Evangelist eine distanzierte Haltung zu den Sakramenten habe,  9  Vgl. die ausführliche Darstellung und Beurteilung des literarkritischen Ansatzes von Bultmann bei Frey, Eschatologie I, 119–150. 10  Vgl. Bultmann, Evangelium, 349–351. 11  Vgl. Frey, Eschatologie I, 119.144 f. 12 Vgl. Bultmann, Evangelium, 348. 13 Vgl. Bultmann, Evangelium, 349. 14  Vgl. Bultmann, Evangelium, 352; Bultmann denkt an Lk 22,27 bzw. eine Variante davon. Joh 13,16.20 sieht Bultmann als spätere Ergänzungen der ursprünglichen Tradition, 13,10bf.17 f. betrachtet er als Ergänzungen des Evangelisten. Insgesamt sieht er für den Evangelisten folgende Reihenfolge des Stoffs in Joh 13–17: 13,1–30; 17,1–26 (an der Stelle des Einsetzungsberichts; a. a. O. 371), 13,31–35; 15–16,33; 13,36–14,41; a. a. O. 350–352. 15 Vgl. Bultmann, Evangelium, 351 f.

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

7

welche er zwar akzeptiere, aber wegen des möglichen Missbrauchs nicht selbst in den Mittelpunkt stelle.16 Die Jünger seien rein und geheiligt durch das Wort (Joh 15,3; 17,17).17 Die Fußwaschung verweise symbolisch auf den Dienst, den Jesus „durch das Wort und als das Wort“ den Jüngern leiste, indem er ihnen die Existenz im Glauben, d. h. in der Liebe ermögliche.18 Die Polemik in 13,10 sei gegen Versuche gerichtet, „die Sicherheit des Heiles durch andere Mittel als den Glauben zu gewinnen“, v. a. gegen Waschungen oder Taufen.19 Im Hinblick auf das textkritische Problem in Joh 13,1020 votiert Bultmann für den Kurztext als ursprüngliche Fassung, da in den längeren Fassungen jeweils zwei notwendige Waschungen vorausgesetzt seien, ein (Voll-)Bad und eine darauffolgende Fußwaschung. Dies widerspreche jedoch der einmaligen Bedeutung der Fußwaschung, wie sie in Joh 13,8 hervorgehoben werde. Joh 13,10 halte entsprechend fest: So wie der Gewaschene (λελουμένος) keinen weiteren Bedarf für eine Waschung habe, so „bedarf der, der durch die Fußwaschung Gemeinschaft mit mir bekommen hat, keiner weiteren Reinigung“.21 Die griechischen Verben λούω und νίπτω werden von Bultmann im vorliegenden Text synonym verstanden. Die von der Mehrzahl der Handschriften bezeugten ausführlicheren, zum Teil noch einmal leicht unterschiedlichen Varianten mit dem gemeinsamen Hinweis εἰ μὴ τοὺς πόδας erklärten sich am ehesten als Zusätze aus einem Verständnis von λούω mit Bezug auf die Taufe: Der Gewaschene bzw. Gebadete wurde als der Getaufte verstanden, der nur noch eine Fußwaschung benötige, die damit eine zweite Waschung zusätzlich zur Taufe darstelle.22 Unabhängig von der textkritischen Entscheidung in Joh 13,10 ergebe sich die Bedeutung der Fußwaschung selbst nur aufgrund der Interpretation im vorliegenden Kontext.

Die Fußwaschung sieht Bultmann als einen Sklavendienst an den Jüngern, der zeichenhaft darauf verweise, dass der menschgewordene Gottessohn in der Erniedrigung das ewige Leben ermögliche.23 In 13,6–11 werde in einer „verhüllte[n] Interpretation“ die Fußwaschung als „eine symbolische Handlung Jesu“ ver-

16 Vgl. Bultmann, Evangelium, 359 f. Joh 6,51b–58 betrachtet Bultmann als Einschub der Kirchlichen Redaktion, a. a. O. 360 Anm. 17  Vgl. Bultmann, Evangelium, 360. „Das entspricht der Tatsache, daß er auch dem Tode und der Auferstehung Jesu nicht eine spezifische Bedeutung neben der Menschwerdung und dem Wirken Jesu zuschreibt als Ereignissen, in denen die Sakramente begründet sind, sondern daß er dieses alles als Einheit sieht“; ebd. 18 Bultmann, Evangelium, 351. 19  Bultmann, Evangelium, 359. 20  Vgl. zum Folgenden Bultmann, Evangelium, 357 f. Anm.; der von Bultmann favorisierte Kurztext lautet ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν νίψασθαι und wird vom Sinaiticus, von der Itala, der Stuttgarter Vulgata, bei Origenes und in den Zitaten der ältesten lateinischen Väter bezeugt; vgl. Bultmann, Evangelium, 357 Anm. Die Argumente Bultmanns zur Textkritik bringen die wichtigen Aspekte überzeugend auf den Punkt; vgl. zur Textkritik zu Joh 13,10 Hentschel, Reinheit. 21  Bultmann, Evangelium, 358 Anm. 22  Vgl. Bultmann, Evangelium, 357 Anm. 23 Vgl. Bultmann, Evangelium, 355–357. Bultmann folgt hier Strack-Billerbeck.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

standen, „die den Dienst darstellt, den er den Jüngern erwiesen hat, und dessen Sinn sie erst später erkennen werden“.24 Die Fußwaschung bilde folglich kein Geschehen ab, das in der Zukunft liege, und beziehe sich auch nicht exklusiv auf das Sterben Jesu, da das Heil, die Reinheit, bereits zugeeignet worden sei (13,10), auch wenn Petrus dies erst nach Passion und Ostern erkennen könne (13,7).25 Die Fußwaschung verweise vielmehr grundlegend auf das Kommen des Offenbarers, in dem schon jetzt das ganze Heil gegenwärtig sei, auch wenn zu Jesu Wirken Passion und Ostern gehörten. „Was der Tod Jesu Besonderes ist, ist er nicht als ein die Person Jesu treffendes Ereignis; sondern er ist es kraft der besonderen Erfahrung oder Erkenntnis, die der Glaubende angesichts des Kreuzes gewinnt“, welches die Wahrheit der Inkarnation erschließe.26 Der Sinn der Fußwaschung liege also im Dienst der Erniedrigung an den Seinen, es gehe nicht um einen persönlichen Liebesdienst, sondern um das Offenbarungsgeschehen.27 Petrus weise dieses nicht aus Hochmut ab (13,8), sondern aufgrund der „menschlichen Gesinnung als solche, die das Heil nicht in der Niedrigkeit, die Gott nicht in Knechtsgestalt sehen will“.28 Entscheidend sei jedoch, dass sich Petrus diesen Dienst gefallen lasse, d. h. glaube, da ein Jünger nur so Gemeinschaft mit Jesus auf dem Weg zur Doxa und Anteil am Heil habe (12,26; 17,24).29 In Joh 13,12–20 werde die Fußwaschung als ein „symbolisch-repräsentativer Akt des Liebesdienstes“ verstanden, wobei Jesu Handeln eine neue Existenz der Jünger begründe und sie zugleich selbst zum Handeln, zum Lieben verpflichte (Joh 13,34; 15,12).30 Bultmann betont, dass es hier nicht um eine Imitatio Jesu gehe, denn der Evangelist habe durch die Einfügung von Joh 13,6–11 den Imperativ durch das Handeln Jesu neu begründet: „seine Erfüllung ist nicht die Leistung eines dem seinen analogen Werkes, sondern die Bereitschaft zum gleichen Sein für die Anderen. […] der Empfang seines Dienstes erschließt dem Jünger eine neue Möglichkeit des Miteinanders. So wenig der Jünger an ein Werk gewiesen wird, so sehr in ein Tun, und zwar in ein solches Tun, das im Tun Jesu begründet ist und deshalb nie den Charakter eines Werkes gewinnen kann.“31  Bultmann, Evangelium, 351. Bultmann, Evangelium, 356. Dieser Dienst, der zur Reinigung führt, vollzieht sich nach Bultmann durch das Wort Jesu, das er spreche und selbst sei (Joh 15,3); a. a. O. 358. Im Ablegen des Obergewandes (ἱματία) erkennt Bultmann keinen überzeugenden Hinweis auf das Ablegen des Lebens in 10,17 f., und das Leinentuch (λέντιον) könne nicht auf das Begräbnis verweisen, da es in Joh 19,40 nicht erwähnt werde; a. a. O. 355 Anm. 26  Bultmann, Evangelium, 356. 27 Vgl. Bultmann, Evangelium, 356. 28  Bultmann, Evangelium, 357. Bultmann wendet sich hier zurecht gegen eine psychologisierende Deutung seines Verhaltens und fordert eine sachliche Interpretation. 29 Vgl. Bultmann, Evangelium, 359. 30  Bultmann, Evangelium, 362. 31  Bultmann, Evangelium, 363. Eine Problematisierung des Indikativ-Imperativ-Modells findet sich bei Zimmermann, Indikativ, 259–284. 24

25 Vgl.

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

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Bultmann distanziert den Evangelisten durch diese Interpretation von einem Ethikverständnis im Sinne einer Werkgerechtigkeit, die er – in Übereinstimmung mit der in der deutschen protestantischen Exegese der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreiteten Mehrheitsmeinung – dem antiken Judentum unterstellt. Der Evangelist vertritt nach Bultmann absichtsvoll keine Werkgerechtigkeit, gemäß der die Befolgung der Gebote mit Werken geschehe, die einem von Gott als Verdienste angerechnet werden sollen und so zur eigenen Gerechtigkeit vor Gott beitragen. Es gehe vielmehr um ein Tun, das aus dem Glauben, aus der Begegnung mit dem Offenbarer wie eine Frucht erwachse. Glauben und Lieben seien sachlich-theologisch als eine Einheit zu verstehen, auch wenn sie in der Erfahrung der Welt als ein Nacheinander erlebt werden.32 Diesen Zusammenhang zwischen Gabe und Aufgabe sieht Bultmann in Joh 15,1–17 weiter erläutert: Wie aber verhält sich der Imp. ‚bleibet!‘ zu dem von V. 2 ‚bringet Frucht!‘? Der καθώςSatz, der den Charakter eines reinen Vergleichs hat, läßt das Bleiben als die Bedingung des Fruchtbringens erscheinen, während nach V. 2 das Fruchtbringen die Bedingung für das Bleiben am Weinstock ist. Aber es entspricht eben der Reziprozität des Verhältnisses, daß beides gesagt werden kann und muß. Es gibt kein Bleiben in ihm (ohne Sich-haltenlassen). Was gefordert ist, ist schon geschenkt: die Möglichkeit der Zukunft, die aber vom Glaubenden auch ergriffen werden muß.33

In der Fußwaschung werde symbolisch dargestellt, dass der Dienst des Offenbarers die neue Gemeinschaft begründe, deren Aufgabe es nun sei, ihr Sein als geliebte Jünger zu bewähren, indem sie selbst liebten. Gefordert sei zwar explizit die gegenseitige Liebe „innerhalb des Kreises der Glaubenden“ als Zeichen und Bewährung der neuen Existenz der Jüngerschaft (13,34 f.; 15,12.17), dies beinhalte nach Bultmann aber nicht, dass das Gebot der Nächstenliebe über die Gemeindegrenzen hinaus außer Kraft gesetzt sei.34 Durch ihre Existenz, durch das Bleiben in der Liebe erfülle die Gemeinde vielmehr gerade ihren Auftrag, Gottes Liebe zur Welt in der Welt zu bezeugen und auch andere Menschen vor die Entscheidung zu stellen, diese Liebe Gottes anzunehmen und so zu den Kindern Gottes zu gehören (vgl. Joh 3,16; 17,21.23).35 Das erkenntnisleitende Interesse Bultmanns gilt der theologischen Bedeutung der Fußwaschungserzählung. Er sieht in der Fußwaschung ein Symbol für die Offenbarung des Gottessohns in der Niedrigkeit eines Knechts, welche die Menschwerdung Jesu erkennen lasse, wie sie in Joh 1,14a in antignostischer Absicht grundlegend festgehalten werde. Dadurch eröffne Jesus seinen Jüngern eine neue Existenz als Kinder Gottes, welche im Hinblick auf die Ethik dazu führe, dass sie gegenseitige Liebe leben können, aber auch müssen und dadurch selbst 32 Bultmann,

Evangelium, 406.  Bultmann, Evangelium, 412. 34  Bultmann, Evangelium, 406. 35 Bultmann, Evangelium, 391. 33

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

zu Offenbarungsträgern der Liebe Gottes in der Welt werden (3,16; 13,34 f.). Bultmann interpretiert Joh 13,6–11 soteriologisch, die Fußwaschung illustriere das Heil, das Jesus durch seinen Dienst der Offenbarung im Wort den Menschen übermittle. Einen besonderen Fokus auf die Kreuzigung Jesu schließt Bultmann aus. Den Zusammenhang zwischen Joh 13,6–11 und 12–20 kann Bultmann festhalten, da er die beiden Abschnitte im Sinne von Gabe und Aufgabe verbunden sieht und voraussetzt, dass der Evangelist in 13,12–20 bewusst eine ältere ethische Tradition in seinen Ansatz integriere. Mit Blick auf Joh 13,34 f. kann Bultmann die Fußwaschungserzählung nicht nur individuell auf Heil und Heiligung des Einzelnen beziehen, sondern zugleich in ihrer Bedeutung für die Ordnung der nachösterlichen Gemeinde wahrnehmen, die Jesus vor seinem Abschied begründet und stärkt. Da Bultmann davon ausgeht, dass die Gestaltung von Joh 13,4–20 grundlegend auf die Hand des Evangelisten zurückgeht, kann er die Fußwaschungserzählung mit ihren beiden Deutungen als eine zusammenhängende interpretieren und theologisch sowie ethisch wichtige Aspekte hervorheben. Die Werkgerechtigkeit ist allerdings mehr ein Problem des Interpreten als eines des Evangelisten.

1.1.3. Rudolf Schnackenburg (1965) Der katholische Neutestamentler Rudolf Schnackenburg vertritt eine „mittlere Lösung“ mit Blick auf die Entstehung des Evangeliums36, die von Thyen zurecht als „eine konservative Variante von Bultmanns Reorganisationsversuch“ bezeichnet wird.37 Er geht in seinem ersten Band der Kommentarreihe davon aus, dass das Johannesevangelium weitgehend das über einen längeren Zeitraum entstandene, von einem Sekretär niedergeschriebene Werk des Evangelisten ist, das nach dessen Tod fertiggestellt und leicht redaktionell überarbeitet wurde.38 Der Evangelist, der nach Schnackenburg synoptische Traditionen kenne und deren Kenntnis auch bei seinen Lesern voraussetze, verfolge die theologische Zielsetzung, „im irdischen Wirken und Reden Jesu die hoheitsvolle Gestalt des eschatologischen Offenbarers und Heilbringers hervortreten, die Herrlichkeit des auf Erden weilenden, unter uns wohnenden Logos aufstrahlen zu lassen und die unvergängliche Heilsbedeutung der geschichtlich zurückliegenden Ereignisse aufzuzeigen.“39 36 Schnackenburg,

Johannesevangelium I, 88.  Vgl. Thyen, Literatur II, 300. 38  Schnackenburg, Johannesevangelium I, 87 f. Im dritten Band seines Johanneskommentars verändert Schnackenburg seine Sicht auf die Entstehung des Johannesevangeliums etwas und nähert sich einer Redaktionsvorstellung an, wie sie ähnlich auch von Jürgen Becker vertreten wird; Schnackenburg, Johannesevangelium III; Becker, Evangelium I. 39 Schnackenburg, Johannesevangelium I, 31 f. 37

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

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In seiner Analyse von Joh 13–17 arbeitet Schnackenburg literarkritisch, wobei er eine ursprüngliche Leidensquelle vermutet, in welcher der Todesbeschluss, die Salbungserzählung, der Einzug in Jerusalem, die Fußwaschungserzählung, die Verratsansage und das Wort an Petrus überliefert seien.40 Außerdem habe eine spätere Redaktion wahrscheinlich die ekklesiologische Deutung in 13,12–17.18a sowie 13,2*.3.11.12b.20.34 f. und Joh 15–16 ergänzt.41 Joh 13,1–30 beschreibe das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern mit der Fußwaschung und dem Weggang des Verräters. Die erste Deutung in 13,6–10 interpretiere die Fußwaschung „als ein zeichenhaftes Geschehen, das auf den Tod Jesu hinweist; die zweite ist rein paradigmatischer Art und haftet an dem Demutsdienst Jesu, der in der Fußwaschung selbst liegt.“42 Die Fußwaschung wird von Schnackenburg grundlegend im Zusammenhang mit der in der Antike vor einer Mahlzeit üblichen Fußwaschung gesehen, auch wenn die Redaktion des Johannesevangeliums offensichtlich davon ausgegangen sei, dass sie während des Mahls stattfinde (Joh 13,4 f.).43 In der Fußwaschung werde für den Evangelisten die „letzte Hingabe Jesu für die Seinigen (vgl. 15,13) zeichenhaft präsent“, die auf seinen Tod verweise, der die „volle Gemeinschaft mit den Jüngern“ begründe (13,7 f.).44 Dennoch beziehe sich weder das Ablegen und Anlegen des Obergewandes in Joh 13,4 auf Joh 10,17 f., noch signalisiere die Fußwaschung eine Entäußerung Jesu in die Inkarnation, wie dies grundlegend von Origenes angenommen wurde.45 Das in Joh 13,1.3 hervorgehobene Wissen des Sohnes zeichne Jesus weder als vollkommenen „Gnostiker“, wie Rudolf Bultmann das verstanden habe, noch signalisiere es die paradoxe Offenbarung der Vollmacht Jesu in der Demutstat der Fußwaschung, sondern es signalisiere die bleibende, in der „Macht des Vaters gründende Hoheit“ des Sohnes, die auch durch den Widersacher Gottes nicht in Frage gestellt werden könne.46 Im Sinne dieser Interpretation versteht Schnackenburg die Fußwaschung als Hinweis auf den Tod Jesu, der „als Anteilgabe am Heil ein Dienst voll innerer Hoheit ist.“47 Wenn man berücksichtige, was Jesus seinen Jüngern später verheiße, gehören zum Heilsverständnis im Johannesevangelium konkret die Liebe, das Leben, die Gemeinschaft und die Herrlichkeit.48 Joh 13,10 drücke, in der Fassung des Kurztextes, metaphorisch im Bild des Bades das Heil aus, das die Fußwaschung respektive der Tod Jesu vermittele; ein Bezug auf die Taufe oder eine sakramentale  Schnackenburg, Johannesevangelium III, 46–48.63. Johannesevangelium III, 14 f. 42  Schnackenburg, Johannesevangelium III, 7. 43  Schnackenburg, Johannesevangelium III, 17. 44 Schnackenburg, Johannesevangelium III, 17. 45  Schnackenburg, Johannesevangelium III, 19. 46  Schnackenburg, Johannesevangelium III, 18. 47 Schnackenburg, Johannesevangelium III, 19. 48  Schnackenburg, Johannesevangelium, 21; vgl. Joh 12,26; 14,3.19.21.23; 17,22.24. 40

41 Schnackenburg,

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

Deutung der Fußwaschung sei hier nicht zu erkennen.49 Durch die in der Fußwaschung symbolisierte Hingabe Jesu für die Seinen in den Tod (Joh 15,13) konstituiere sich die Gemeinschaft mit Jesus neu, doch einer der erwählten Jünger hat daran keinen Anteil.50 Die paränetische, traditionsgeschichtlich ältere Deutung der Fußwaschung in Joh 13,12–17 weise eine Nähe zur synoptischen Tradition auf, die in Mk 10,45 par. Mt 20,28 und insbesondere in Lk 22,27 zu finden sei, wo Jesus als ein bei Tisch Dienender beschrieben werde, der seine Jünger ebenfalls zum Dienst auffordere (Lk 22,26).51 „Die Jünger sollen die Tat Jesu als gewollte Erniedrigung ihres Meisters verstehen, der ihnen dadurch ein Beispiel demütigen Dienstes geben will“.52 Die Vorstellung der Imitatio Jesu verbinde diese Deutung der Fußwaschung mit Joh 13,34, das Jesu Leben und Sterben zum Maßstab für die gegenseitige Liebe der Jünger mache.53 Während sich das Logion in Joh 13,16 (vgl. Mt 10,24; Lk 6,40) in diese Deutung integrieren lasse, sieht Schnackenburg in Joh 13,20 (vgl. Mt 10,40) eine gedanklich nur schwer nachvollziehbare Ergänzung der Redaktion, die am ehesten damit zu erklären sei, dass das Ansehen der Jünger, ihre Partizipation an Jesu Hoheit durch den Verrat des Judas beschädigt und von Jesus deshalb hier bestätigt werde.54 Schnackenburg interpretiert die erste Deutung der Fußwaschung soterio­ logisch als Zeichen des Todes Jesu, der die Gemeinschaft der Jünger ermögliche, die zweite Deutung paränetisch im Sinne eines demütigen Dienstes. Der literarkritische Ansatz Schnackenburgs verhindert, dass Joh 13,1–20 als ein in sich stimmiger, zusammenhängender Text gelesen wird. Eine Stärke seiner detaillierten Exegese des Textes ist, dass Schnackenburg die Bedeutung der Liebe in der Fußwaschungserzählung und damit den gemeinschaftsstiftenden Aspekt der Fußwaschung bzw. des Todes Jesu wahrnimmt und in die umfassende Heilsvorstellung des Evangeliums einzeichnet.

1.1.4. Georg Richter (1965) Georg Richter hat seine Interpretation der Fußwaschung erstmals in seinem 1965 veröffentlichten Aufsatz „Die Fußwaschung Joh 13,1–20“ vorgestellt, der eine Vorarbeit zu seiner 1967 erschienenen Monographie „Die Fußwaschung im Johannesevangelium. Geschichte ihrer Deutung“ bildet, in der er sich v. a. mit 49  Schnackenburg, Johannesevangelium III, 24. Schnackenburg favorisiert aus inhaltlichen Gründen den Kurztext, a. a. O. 22–25. 50 Schnackenburg, Johannesevangelium III, 12 f. 51 Schnackenburg, Johannesevangelium III, 27. 52  Schnackenburg, Johannesevangelium III, 27. 53 Schnackenburg, Johannesevangelium III, 28. 54 Schnackenburg, Johannesevangelium III, 28 f.31 f.

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

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der Geschichte ihrer Interpretation befasst und an deren Ende er abschließend erneut eher knapp seine bereits veröffentlichte Interpretation zu Joh 13 darlegt.55 In Joh 13,6–11 sieht er die genuin johanneische, christologisch-soteriologische Interpretation der Fußwaschung Jesu. Literarkritisch unterscheidet er zwischen 13,6–11 und 13,12–20.56 Die erste Erzählung stamme vom Evangelisten und stelle ein typisch johanneisches Zeichen mit einer christologischen und heilsgeschichtlichen Bedeutung dar, es gehe hier v. a. um die Messianität Jesu.57 Der Tod Jesu könne von niemandem nachgeahmt werden und das Heil erfolge aufgrund des Handelns Jesu, die Fußwaschung sei das „Bad“ und verweise auf den Tod Jesu (13,10 in der Fassung des Kurztextes; auch 13,8b).58 Der „Sklavendienst der Fußwaschung“ sei ein „Sinnbild“ der Hingabe Jesu „in den ehrlosen Sklaventod am Kreuze“.59 Joh 13,10 enthalte weder eine Polemik gegen die christliche Taufe oder gegen andere Sakramente, noch sei es eine Anspielung auf ein Sakrament.60 In der zweiten Erzählung, die aus der Tradition stamme und später von einer Redaktion in den vorliegenden Zusammenhang eingefügt wurde, gehe es paränetisch um „ein Beispiel demütigen Dienens“ und das Heil erfolge aufgrund „des eigenen Tuns der Jünger“.61 Ursprünglich ermahne dieser Text die Jünger, „einander zu dienen, ja in den VV 15 und 16 dürfte sogar gesagt sein, daß die Jünger (als Amtsträger) ihren Untergebenen dienen sollen wie Jesus seinen Jüngern gedient hat“, es gehe um die „Herablassung zu den Untergebenen“, nicht jedoch um Liebe, und entspreche sinngemäß Mk 10,42 ff.; Mt 20,25 ff.; Lk 22,24 ff.62 Die in der Fußwaschung dargestellte Selbsthingabe Jesu in den Kreuzestod werde hier nicht als heilsnotwendiges Beispiel gedeutet, sondern als Ausdruck der Liebe Jesu zu den Seinen.63 Richter sieht im Johannesevangelium zwei Aussagenreihen64: Die erste, auf den Evangelisten zurückgehende Aussagenreihe, zu der Joh 13,6–11 und Joh 20,31 sowie die erste Abschiedsrede gehörten, deute den Tod Jesu ausschließlich soteriologisch, der Kreuzestod geschehe ausschließlich aufgrund der Liebe Jesu zu Gott, und Heil entstehe allein durch das Handeln Jesu an den Jüngern, die 55  Richter, Fußwaschung; dieser Aufsatz von 1965 wurde auch in einer englischen Kurzfassung veröffentlicht (Richter, Washing). Seine Monographie zur Rezeption der Fußwaschung erschien 1967 und enthält abschließend seine eigene Interpretation, vgl. Richter, Geschichte, 285–320. 56  Vgl. zum Folgenden Richter, Fußwaschung, 51 f. 57 Vgl. Richter, Fußwaschung, 51 f.; Richter, Geschichte, 288. 58  Vgl. Richter, Fußwaschung, 45; Richter, Geschichte, 293 f. 59  Richter, Kreuzestod, 59. 60 Richter, Geschichte, 295. 61 Richter, Fußwaschung, 51. 62  Richter, Fußwaschung, 55. 63  Richter, Fußwaschung, 55. 64 Richter, Kreuzestod, 66–73; ähnlich Richter, Geschichte, 312 f.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

glauben. Die zweite Aussagenreihe, welche auf eine spätere kirchliche Redaktion zurückgehe, deute den Kreuzestod als Zeichen der Liebe Jesu zu den Jüngern und als nachzuahmendes Beispiel. Das Heil erreichten die Jünger durch ihren Gehorsam. Verherrlichung Jesu geschehe nicht wie beim Evangelisten ausschließlich durch den Vater, sondern durch das Fruchtbringen der Jünger (15,8), durch den Parakleten (16,14) und insgesamt in den Jüngern (17,10).65 Richter setzt christologisch voraus, dass das Heilshandeln Jesu „einmalig ist und als solches von niemandem nachgeahmt werden kann, wie ja auch bei den anderen Zeichen im vierten Evangelium nicht im entferntesten daran gedacht ist, daß das im Zeichen dargestellte Heilshandeln Jesu von den Jüngern nachgeahmt werden soll oder nachgeahmt werden kann.“66 Es zeigt sich, dass die theologischen Entscheidungen im Hinblick auf eine „reine Soteriologie“ des Evangelisten und die paränetische Motivation der Redaktion einerseits und die literarkritischen Operationen andererseits sich gegenseitig bedingen und dazu führen, dass die Fußwaschungserzählung Joh 13,1–20 nicht als einheitliche interpretiert werden kann. Aufgrund seiner literarkritischen Voraussetzungen kommt Richter sogar zu der Annahme, dass die beiden Deutungen der Fußwaschung sich auch soteriologisch widersprächen, indem die erste das Heil im Handeln Jesu begründet sehe, während die zweite das Tun der Gläubigen zum entscheidenden Heilskriterium erhebe. Sowohl der Gedankengang in Joh 13 selbst als auch dessen Kontext kommen durch diesen Zugang nicht in den Blick.

1.1.5. Christoph Niemand (1993) Der katholische Neutestamentler Christoph Niemand nähert sich in seiner 1993 erschienenen Habilitationsschrift „Die Fußwaschung des Johannesevangeliums“ Joh 13,1–20 mit einem literarkritischen und traditionsgeschichtlichen Interesse. Er interpretiert die festgestellten Brüche des Textes, indem er in Joh 13,12–17 eine spätere Ergänzung der Redaktion annimmt.67 Eine vorjohanneische, wahrscheinlich schriftliche Quelle vermutet er in 13,4f*.9f*, wobei er in Joh 13,10 den Langtext als ursprünglich zugrunde legt und die Fußwaschungshandlung in den „Sinnzusammenhang der Reinheitsthematik“ eingeordnet sieht.68 Er erkennt in diesem Abschnitt die Inhalte eines „Reinheitsitinerar[s] (Vollwaschung – Teilwaschung – vollständige Reinheit)“.69 In einem kultur- und religionsgeschichtlichen Überblick über die Praxis und Deutungen von Fußwaschung in der Antike kommt Niemand zu dem wichtigen 65 Vgl.

Richter, Kreuzestod, 68.  Richter, Fußwaschung, 51. 67  Vgl. Niemand, Fußwaschungserzählung, 82–150. 68 Vgl. Niemand, Fußwaschungserzählung, 251 f. 69  Niemand, Fußwaschungserzählung, 261. 66

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

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Ergebnis, dass die Fußwaschung nicht ausschließlich als Sklavendienst verstanden werden kann, sondern auch als Ehrung des Gastes und als Liebeserweis belegt ist, wobei in diesem Fall die Subjekte durch ihren Dienst nicht als Sklaven gezeichnet werden, sondern als Personen, die dadurch eine besondere Ehre oder sogar eine intime Liebe zum Ausdruck bringen.70 Da Niemand in Joh 13,6 Konnotationen einer Rangordnung erkennt, wenn Petrus als Schüler seinen Lehrer anspricht, schließt er weitere „Bezugsfelder wie Hygiene, moralische und rituelle Reinheit, baptistische Praktiken und ähnliches“ für das Verständnis der Fußwaschung an dieser Stelle aus.71 Er verweist dafür unter anderem auf die Beschreibung Gottes im Midrasch Rabba zu Ex 25,6: Im oben schon angeführten, schönen Beleg aus dem Midrasch Rabba zu Exodus (25,6) werden die bereits bekannten Sklavendienste wie Waschen, Ankleiden, Schuhe anziehen etc. verwendet werden, um dem Leser die völlig unbegreifliche und ungeschuldete Liebe Jahwes zu Israel nahezubringen: ‚Among mortals, it is the slave who washes his master, but of God we read, Then washed I thee with water (Ezek. XVI,19). Among mortals, the slave clothes his master, but of God we read, I clothed thee also with richly woven work (ib. 10). Among mortals, the slave puts on his master’s shoes, but of God we read, And shod thee with sealskin (ib.). Among mortals, it is the slave who carries his master, but of God we read And how I bore you on eagles’ wings (Ex. XIX, 4)‘. Und nach einigen weiteren ähnlichen Beispielen in bekenntnishaftem Ton: ‚There is none like unto Thee among the gods, O Lord; and there are no works like Thine.‘72

Aufgrund dieser Deutungsmöglichkeiten lehnt er auch ein Verständnis von Joh 13,6–11 im Sinne einer heilschaffenden Erniedrigung oder Sühne ab: Denn selbst wenn nach Midrasch Rabba zu Ex (25,6) Gott Sklavendienste leiste, werde dies im Text „nicht dialektisch im Sinn einer kenotischen Gottesvorstellung aus Niemand, Fußwaschungserzählung, 177–187; Hervorhebung im Original. Niemand, Fußwaschungserzählung, 177 f. Niemand verweist hier u. a. auf Hom.Od. 19,317–388; Hdt. 2,172; JosAs 7,1; 13,15; 20,1b–5; bKet 61a. 96a; jPea 15c,41–46. 72  Niemand, Fußwaschungserzählung, 184; Hervorhebungen im Original. Niemand zitiert ExR 25,6 zu Ex 16,4 nach Freedman/Simon, Midrash Rabbah III, 306 f. Niemand sieht bzw. legt den Fokus hier auf Tätigkeiten, die als Sklavendienste benannt werden. Liest man den Abschnitt aus Midrasch Rabba jedoch im Zusammenhang, wird deutlich, dass es – ausgehend von der Speisung mit Manna in Ex 16,4 – um die Gastfreundschaft Gottes geht, die in Analogie zur Gastfreundschaft des Abraham gesehen wird, der seinen Gästen Speisen, Getränke, aber auch Wasser für die Füße (Gen 18,4) anbietet. Das fürsorgende Verhalten Gottes geschieht also nicht in Analogie zu Sklavendiensten, sondern in Analogie und Überbietung menschlicher Gastfreundschaft, die z. T. von Sklavinnen oder Sklaven ausgeführt wird. Interessant ist, dass der Midrasch Rabba unter anderem auch auf Ex 17,6; Psalm 23,4, Jes 66 und Prov 9,5 Bezug nimmt – immer unter dem Aspekt der Gastfreundschaft! Das Waschen der Füße aus Gen 18,4 wird bei Gott zum Bad (Ez 16,9) und das von Dienern des Abraham gebrachte Fußwaschwasser wird bei Gott – vermittelt durch seinen Boten Mose – zu Trinkwasser (Ex 17,6); vgl. ExR 25,6. D. h. dort, wo das Waschen der Füße explizit erwähnt wird, ist nicht von Sklaven als Subjekten der Dienste die Rede. Folglich ist es richtig, dass Gott den Menschen versorgt, so wie es bei den Menschen zum Teil auch Sklaven machen, aber der Vergleichspunkt des ganzen Abschnitts und auch der Kontext, in dem die Fußwaschung explizit erwähnt wird, ist nicht der Sklavendienst, sondern die unüberbietbare und grenzenlose Gastfreundschaft Gottes für sein Volk. 70

71 Vgl.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

gewertet“, sondern es werde bekannt, dass Gott Israel erhalte.73 Joh 13,6–8 stelle klar, dass üblicherweise kein Lehrer seinen Schülern diene, Jesus ihnen auf diese Weise jedoch Anteil am Leben und an seiner Heimat bei Gott gebe: Die Fußwaschung „ist somit weder Symbol für Kreuz, noch für Menschwerdung oder Erhöhung, Abwaschen der Sünden oder für die Taufe: Sie ist Symbol für das Sein und Tun und Kommen des Erlösers überhaupt.“74 Die Fußwaschungserzählung stelle in einem „im JohEv zuvor unbekannten, intimen Ton Motiv und Ziel der Erlösung vor Augen: Das Sein und Tun und Kommen des Erlösers hat [sic!] als Motiv Liebe und als Ziel das Einladen der Seinen ins Leben mit dem Vater. – Beide Themen, Liebeserweis und ehrende Aufnahme – und Begrüßungshandlung sind die wichtigsten Konnotationsfelder einer Fußwaschungshandlung und überdies auch im unmittelbaren Kontext von Erzählung und Deute-Dialog aufzeigbar“.75 Das Quellenstück deute die Fußwaschung demnach als eine besondere, in der Liebe begründete Ehrung. Auf der Suche nach dem „Herkunftsmilieu und dem ursprünglichen Sinn und Sitz im Leben der ältesten Fußwaschungsüberlieferung“ untersucht Niemand Reinheitsvorstellungen v. a. im jüdischen Bereich, und er erkennt den Ansatz von Reinheitsitineraren in Qumran, bei den Essenern und in der Überlieferung von Johannes dem Täufer.76 Als Ergebnis hält er fest, dass die von ihm rekonstruierte Fußwaschungserzählung in dem untersuchten religionsgeschichtlichen Milieu durchaus plausibel sei, dass sich aber weder sagen lasse, ob es sich bei der Fußwaschung um einen Bestandteil eines Reinheitsitinerars (zum Beispiel: „zuerst rituelle Vollwaschung, dann noch rituelle Teilwaschung der Füße, dadurch vollständige rituelle Reinheit“) handle oder um eine metaphorische Verwendung von Reinheitsvorstellungen in einem möglichen „heilsgeschichtlichen Szenario“.77 Anschließend versucht Niemand die von ihm eruierte Quelle historisch einzuordnen. Auf der Grundlage von Forschungen zu Johannes dem Täufer verortet er die älteste Fußwaschungserzählung im Kontext der Aufnahme von Täuferjüngern, die nur die Johannestaufe als Bußtaufe erhalten haben: Der Gebadete (λελουμένος) von 13,10 ist ein Empfänger der johannitischen Bußtaufe, der nun in die Nachfolge Jesu eintreten wolle: Er müsse sich keines Vollbades, keiner Taufe mehr unterziehen, sondern eine Fußwaschung, „eine Art ‚kleine Taufe‘“,78 genüge als „eine Art Inititations- und Integrationsritus“, wobei die Fußwaschungserzählung im Sinne einer „Kultätiologie“ zu verstehen sei.79 Mit diesem Ritual seien die bei einer Fußwaschung naheliegenden Konnotationen  Niemand, Fußwaschungserzählung, 188.  Niemand, Fußwaschungserzählung, 189; Hervorhebungen im Original. 75 Niemand, Fußwaschungserzählung, 189; Hervorhebungen im Original. 76 Vgl. Niemand, Fußwaschungserzählung, 269–319. 77  Niemand, Fußwaschungserzählung, 318. 78  Niemand, Fußwaschungserzählung, 385. 79 Niemand, Fußwaschungserzählung, 383. 73 74

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

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der „Wertschätzung und Aufnahme in Haus und Gemeinschaft der Gemeinde“ und der „Aspekt des Freuden- und Hochzeitmahles“ verbunden.80 Als die historische Situation der Aufnahme von Täuferjüngern im Laufe der Jahre an Bedeutung verloren habe, konnte die Fußwaschungserzählung problemlos für eine neue Situation fortgeschrieben werden: „Im Rahmen der joh Soteriologie kann nun die Fußwaschung überhaupt zur Symbolhandlung für das liebende und in die Gemeinschaft mit dem Vater aufnehmende Tun des Erlösers an den Seinen werden.“81 Die erste johanneische Abfassung habe die Fußwaschung zudem im Kontext des Abschiedsmahls Jesu verortet.82 Im Verlauf der Gemeindegeschichte kam es zu einer weiteren, paränetischen Reinterpretation der Fußwaschung als „Vorbild für das Zusammenleben in der Gemeinde: So wie der Herr die Seinen bedient, so müssen auch die Hochgestellten in der Gemeinde, konkret sind wohl die Amtsträger angesprochen, ihre Funktion als konkrete und wirkliche Diensthandlung verstehen und ausüben.“83 Dabei versteht Niemand die Fußwaschungserzählung in ihrer im Johannesevangelium vorliegenden Form nicht als „Kenosis-Geschehen“, sondern als sinnfälligen Hinweis auf eine „nicht passionszentrierte Erlösungstheologie“, die als „ein Begrüßungsakt im Rahmen eines Abschiedsmahles“ auf „die am Wegschema orientierte joh Christologie und Soteriologie“ verweise: Vom Vater gekommen erweise Jesus den Seinen seine Liebe, indem er sie an seinem Tisch mit einem Ehrerweis aufnehme und nach seiner Rückkehr zum Vater ihnen dort einen Platz bereite.84 Niemands geschichtliche Verortung einer ursprünglichen Fußwaschungserzählung im Täufermilieu und der angenommene Bezug auf Tauftraditionen kann angesichts der fehlenden Hinweise auf Johannes den Täufer in Joh 13,9 f. und dem keineswegs eindeutigen Bezug auf die Taufe im Langtext von Joh 13,10 nicht überzeugen, da 13,10 auch nur vom Baden (λούω), nicht jedoch explizit vom Taufen (βαπτίξω) spricht. Auch eine literarkritische Trennung verschiedener Schichten im johanneischen Text muss angesichts der neueren Forschung zum Johannesevangelium als schwieriger, zumindest stark hypothetischer Ausgangspunkt für Interpretationen angesehen werden, auch wenn damit natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass bei der Abfassung des Johannesevangeliums ältere Überlieferungen verwendet wurden. Trotz dieser Anfragen an Niemands grundsätzliche Hypothese, die sich weder eindeutig belegen noch widerlegen lässt, kommt Niemand auf der Grundlage seiner profunden Untersuchung von literarischen Belegen zur Praxis der Fußwaschung in der Antike zu wichtigen und  Niemand, Fußwaschungserzählung, 384; Hervorhebungen im Original.  Niemand, Fußwaschungserzählung, 406. Diese Umdeutung geschieht v. a. durch die Ergänzung von 13,6–8. 82  Vgl. Niemand, Fußwaschungserzählung, 407. 83  Niemand, Fußwaschungserzählung, 408; Hervorhebungen im Original; Niemand bezieht sich hier auf 13,12–17. 84  Niemand, Fußwaschungserzählung, 410. 80 81

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

weiterführenden Beobachtungen für das Textverständnis des nun im Johannesevangelium vorliegenden Textes. Er kann überzeugend nachweisen, dass eine Fußwaschung in der Antike nicht per se als Sklavendienst verstanden wurde. Diese wichtige Beobachtung ist grundlegend, selbst wenn manche der zitierten Belege deutlich später als die neutestamentlichen Schriften anzusetzen sind. Denn es ist anzunehmen, dass sich auch in diesen späteren Texten Bedeutungsaspekte der Fußwaschung finden, die bereits vorher kulturell verbreitet waren. Da in Joh 13 selbst die Fußwaschung gerade nicht explizit unter dem Aspekt des Sklavendienstes gedeutet wird, lehnt Niemand eine kenotische Christologie ab und arbeitet überzeugend Konnotationen der Fußwaschung wie Aufnahme, Liebeserweis und Ehrerbietung als Bedeutungsaspekte von Joh 13,1–20 heraus. Ob man deshalb die Christologie des Johannesevangeliums als eine „nicht passionszentrierte“85 bezeichnen sollte oder ob Johannes die Passion Jesu grundsätzlich nicht oder zumindest hier nicht unter dem Kenosis-Aspekt behandelt, wird die weitere Erforschung der Thematik zeigen müssen.

1.1.6. Udo Schnelle (1998) Udo Schnelle interpretiert das Johannesevangelium weitgehend in seiner vorliegenden Gestalt und betrachtet es als einen kohärenten und anspruchsvollen neuen narratologischen Entwurf der Jesus-Christus-Geschichte, der sowohl der Traditionssicherung als auch der kreativen Sinnbildung in der um 100 n. Chr. angenommenen Entstehungszeit gilt.86 Das erkenntnisleitende Interesse Schnelles richtet sich auf die theologischen Linien im Johannesevangelium, wobei er versucht, die intratextuelle Welt des vierten Evangeliums zu erforschen. Es sei eine Schrift, die auf die Unterscheidung von Glauben und Unglauben ziele, um die Einheit der Gemeinde zu stärken und sie vor doketischen Irrlehrern zu schützen.87 „Johannes betont die Heilstatsächlichkeit von Taufe (Joh. 3,5) und Eucharistie (Joh. 6,51c–58; 19,34b.35), die Jesu Inkarnation und wirkliches Leiden voraussetzen.“88 Mit Semeion (σημεῖον) in Joh 20,30 f. bezeichne Johannes die „im Evangelium geschilderte, Glauben hervorrufende und bestärkende Offenbarungsqualität des Wirkens Jesu“.89 Die „Menschwerdung Gottes in Jesus Christus“ und die von Anfang an sichtbare „Perspektive des Kreuzes“ seien zentrale Aspekte der johanneischen Theologie, „Inkarnation und Kreuz sind gleichermaßen Bewegungen der Liebe nach unten; ebenso die Fußwaschung  So Niemand, Fußwaschungserzählung, 410. Schnelle, Evangelium, 11 f. Bis auf Joh 4,2; 5,3b–4; 21 und die problematische Stelle in Joh 7,53–8,11 betrachtet Schnelle das Evangelium als eine literarische Einheit; a. a. O. 14. 87  Vgl. Schnelle, Evangelium, 10 f. 88 Schnelle, Evangelium, 10. 89  Schnelle, Evangelium, 15. 85

86 Vgl.

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

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(Joh. 13,1–20), in der Jesus die Seinen in die neue Existenz der Bruderliebe einführt, indem er sie selbst lebt und durch den Kreuzestod ermöglicht.“90 Schnelle sieht die „Fußwaschung als Vorabbildung der Passion Jesu“ (Joh 13,1–30), in ihr werde das Weggehen Jesu für die textexterne Gemeinde gedeutet und zugleich werde die Gemeinde motiviert, wie Jesus aus Liebe zu handeln.91 Sowohl die Fußwaschung als auch die Passion seien eine „Bewegung der zuvorkommenden Liebe“.92 Ausgehend von den bei Billerbeck dargestellten Kontexten der Fußwaschung sieht Schnelle in Joh 13 die Fußwaschung als einen Sklavendienst: Jesus als der Herr, der dient, stehe damit im Gegensatz etwa zu Kaiser Caligula.93 Petrus akzeptiere nicht, dass „sich Jesu Herrsein als Dienen vollzieht“ (Joh 13,6),94 die Antwort Jesu zeige die Fußwaschung als einen „Gemeinschaft stiftenden Akt“, der den Tod Jesu voraussetze, der „als ein Akt der Liebe den Raum der Liebe in der Gemeinschaft mit Jesus und im gegenseitigen Dienen erst ermöglicht (vgl. Joh. 12,24–26).“95 In Joh 13,10 sieht Schnelle keinen Taufbezug, sondern unter Verwendung des Kurztextes den Hinweis auf die reinigende Kraft des Kreuzestodes.96 Hinter der zweiten Deutung der Fußwaschung in Joh 13,12–17 sieht Schnelle eine ältere Tradition, welche 13,2a.4.5.12ab.16.20.17 enthalten habe und eine „Gemeinderegel“ darstelle, die „Herrschen und Dienen in der Gemeinde am Verhalten Jesu illustrierte (vgl. Mark. 10,42–45; Luk. 22,24–27; Mark. 9,33– 37).“97 Daran sei in der johanneischen Schule zunächst eine ethische Deutung angeschlossen worden (13,12c.13–15), bevor Johannes die soteriologische Interpretation ergänzte (13,6–10ab).98 „Durch den Passaverweis, den bevorstehenden Weggang Jesu aus der Welt und das Verrätermotiv interpretiert Johannes die Fußwaschung im Kontext seiner Kreuzestheologie (V. 1.2bc.3.10c.11.18.19).“99 Als Norm für die Gemeinde bedeute Jesu Fußwaschung, dass „was der Herr tat, soll auch der Knecht, die Gemeinde, verwirklichen“.100 Durch die Verwendung von τρώγω im Sinne von „kauen“ in Joh 13,18 stelle der Evangelist eine Verbindung zu dem eucharistischen Abschnitt Joh 6,51c–58 her, wo die Verwendung des Ver 90  Schnelle, Evangelium, 27 f. Schnelle hält eine traditionsgeschichtliche Verbindung zu Paulus für wahrscheinlich; a. a. O. 18.  91  Schnelle, Evangelium, 234 f.  92  Schnelle, Evangelium, 235.  93 Vgl. Schnelle, Evangelium, 236; vgl. Billerbeck II, 557; eine genaue Lektüre der vielzitierten Stelle aus Suet.Cal. 26 (dasselbe gilt auch für Dio Cass. LIX 72,1) zeigt, dass hier eine Fußwaschung gerade nicht explizit beschrieben wird, sondern ausschließlich von den Interpretierenden angenommen und eingetragen wird.  94  Schnelle, Evangelium, 237.  95  Schnelle, Evangelium, 238.  96  Vgl. Schnelle, Evangelium, 238.  97 Schnelle, Evangelium, 237.  98  Vgl. Schnelle, Evangelium, 237.  99  Schnelle, Evangelium 237. 100 Schnelle, Evangelium, 240.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

bums eine antidoketische Ausrichtung habe:101 „Nicht das bildhafte ›Essen‹ des Himmelsbrotes oder das geisterfüllte ›Essen‹ des Menschensohnes verleihen das ewige Leben, sondern allein das wahrhaftige Essen des Fleisches und Trinken des Blutes Jesu Christi in der Eucharistie.“102 In der Salbungserzählung Joh 12,1–8 sieht Schnelle einen gewollten Bezug zur Fußwaschung: „Als Gesalbter wird Jesus seinen Dienst an den Jüngern vollziehen“.103 Dass Johannes im Vergleich zu Markus und Matthäus die Salbung Jesu (12,1–8.9–11) vor dem Einzug in Jerusalem platziert, betone nach Schnelle den Bezug auf die Grablegung.104 Die Handlung Marias zeige ihre besondere Zuneigung zu Jesus, der Duft des Öls stehe im Gegensatz zum Todesgeruch des Lazarus (11,39) und verweise auf die Ostererzählungen.105 Wie Joh 11 sei auch Joh 12,1–8 „durch Hinweise auf Jesu Sieg über den Tod geprägt“.106 Schnelle spricht in der Auslegung von Joh 13,1–20 immer wieder explizit von Kreuz und Kreuzestod und sieht „eine kreuzestheologische Intention“ im Hintergrund der johanneischen Darstellung der Fußwaschung.107 Er deutet die Fußwaschung soteriologisch mit Blick auf den Tod Jesu, der von Sünden reinigt und Gemeinschaft stiftet, differenziert dabei jedoch zwischen einer soteriologischen (13,6–10) und einer paränetischen Deutung (13,12–17) der Fußwaschung Jesu.

1.1.7. Jean Zumstein (2004) In seinem 2004 erschienenen Aufsatz „Die johanneische Auffassung der Macht, gezeigt am Beispiel der Fusswaschung (Joh 13,1–17)“ legt Jean Zumstein erstmals grundlegend sein Verständnis der Fußwaschung Jesu dar, indem er der Frage nachgeht, wie die Begriffe „Recht, Macht und Gerechtigkeit“ ihre Bedeutung im Rahmen der johanneischen Christologie entfalten, wobei er die Macht als „Schlüsselkategorie“ betrachtet.108 Dabei zeige sich im Johannesevangelium das Paradox, dass der in den ersten zwölf Kapiteln als souverän dargestellte Christus trotz seiner Allwissenheit und Macht nach den Kriterien der Welt erfolglos bleibe und am Kreuz sterbe.109 In der Passionsgeschichte, dem zweiten Teil des Evangeliums stelle Johannes jedoch heraus: „Die scheinbare Niederlage ist in Wirklichkeit ein Sieg“.110 Die Fußwaschungserzählung (Joh 13,1–20) spiele in  Vgl. Schnelle, Evangelium, 240 f.147 f.  Schnelle, Evangelium, 147 f. 103 Schnelle, Evangelium, 222. 104  Vgl. Schnelle, Evangelium, 221. 105  Vgl. Schnelle, Evangelium, 222. 106 Schnelle, Evangelium, 223. 107 Schnelle, Evangelium, 241, vgl. 235–241. 108  Vgl. Zumstein, Auffassung, 99. 109  Zumstein, Auffassung, 100. 110 Vgl. Zumstein, Auffassung, 101. 101 102

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

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diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, da sie als erste Interpretation des Sterbens Jesu die Passionsgeschichte eröffne, da nur hier Jesus in der „Rolle eines Dieners“ erscheine und da hier abgesehen von Joh 10 zum ersten Mal die Liebe zu den Seinen behandelt werde.111 Zumstein gliedert Joh 13,1–20 in den Prolog (13,1–3), der auch in dies gesamte Passionsgeschichte einleite, in die Beschreibung der Fußwaschung (13,4–5), eine erste (13,6–11) sowie eine zweite Interpretation (13,12–17) und einen fünften Teil (13,18–20) zum Judasverrat mit einer Versicherung des Glaubens, den er jedoch für die Interpretation der Fußwaschungserzählung nicht mehr als relevant ansieht und deshalb aus der weiteren Untersuchung ausklammert.112 Entstehungsgeschichtlich geht Zumstein dabei von einem Relecture-Prozess aus, in dessen Verlauf die johanneische Schule das Thema der Macht Christi stufenweise reflektiert habe: Joh 13,4–5 und 13,12–17 bildeten eine ältere, vom Passionskontext unabhängige ethische Überlieferung innerhalb der johanneischen Schule, die später in 13,6–11 mit Blick auf den Tod Jesu neu interpretiert worden sei, wobei diese Deutung nur in dem jetzigen literarischen Kontext sinnvoll sei.113 In der ältesten Traditionsstufe der Fußwaschung (13,4–5 und 13,16) sieht Zumstein „eine sehr alte Gemeinderegel, welche festlegt, wie Macht und Dienst in der Gemeinde auszuüben sind“, und welche Parallelen in der synoptischen Tradition in Mk 10,42–45; 9,33–37; Lk 22,24–27 sowie in Mt 10,24 habe.114 Diese sei danach in der johanneischen Schule durch den Abschnitt 13,12–17 christologisch mit Blick auf die Frage reflektiert worden, wie sich „die Souveränität Jesu mit der Rolle des Dieners, die er zur Erfüllung seines Auftrags übernimmt, verbinden lässt.“115 Die Antwort der johanneischen Schule, welche die Wertvorstellungen ihrer Umwelt umkehre, lautete: „Seine Souveränität verwirklicht sich im Dienst.“116 Die literarisch erste, zeitlich jüngere Interpretation (13,6–11) gehe auf den Evangelisten zurück und lege dar, dass der Sinn der Fußwaschung erst rückblickend vom Ostergeschehen her erkennbar sei (13,7), dass von ihr jede zukünftige Beziehung mit Christus abhänge (13,8) und dass mit ihr die Gabe der eschatologischen Reinheit verbunden sei (13,10).117 Das Werk des Evangelisten umfasse dabei sowohl den Prolog (13,1–3) als auch den Dialog mit Petrus (13,6– 111 Vgl.

Zumstein, Auffassung, 101.  Vgl. Zumstein, Auffassung, 102–105. Dies ist bedauerlich, da m. E. gerade Joh 13,20 mit der darin enthaltenen Sendungsvorstellung noch am ehesten die Frage der Autorität thematisiert, da die Jünger als Boten und Repräsentanten Jesu gelten, so dass mit deren Aufnahme sowohl Jesus als auch Gott aufgenommen werden. 113  Vgl. Zumstein, Auffassung, 105–109; vgl. auch Zumstein, Johannesevangelium, 478–482. 114 Vgl. Zumstein, Auffassung, 109; Zumstein, Johannesevangelium, 481. 115 Vgl. Zumstein, Auffassung, 109. 116  Zumstein, Auffassung, 109. 117  Vgl. Zumstein, Auffassung, 107; auch Zumstein, Johannesevangelium, 481 f. Zumstein favorisiert den Kurztext und sieht keinen Bezug auf die Taufe; vgl. a. a. O.489 f. 112

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

11). Nun werde die von „Christus übernommene Rolle des Dieners“ als „Liebesdienst“ für die Seinen bestimmt und mit dem frei gewählten Kreuzestod identifiziert, die Fußwaschung diene nun als „Metapher des Kreuzes“.118 Dabei setzt Zumstein voraus, dass die symbolische Sprache von 13,6–11 ausschließlich im Passionskontext entschlüsselt werden könne.119 Zutreffend beobachtet Zumstein, dass der Akzent in Joh 13,1 auf dem „Hinübergehen von dieser Welt zum Vater“ liegt und damit durch den Tod der Auftrag Jesu, der „Weg des Gesandten erfüllt“ bzw. abgeschlossen wird.120 Ob allerdings die Wortwahl in Joh 13,1 als „Euphemismus“ bezeichnet werden sollte, erscheint durchaus fraglich, geht es hier doch um mehr als um die Schönfärbung eines schlimmen Schicksals: der Tod Jesu wird vom Evangelisten tatsächlich als Erfüllung seiner Sendung, als Höhepunkt seines Wirkens, als Verherrlichung und Sieg verstanden. Dennoch wird gerade in den Abschiedsreden nicht ausgeblendet, dass es sich um den Tod Jesu und damit um einen Abschied handelt, der die Jünger in Angst und Traurigkeit zurücklässt, obwohl es – theologisch betrachtet – ein Grund zur Freude sein soll (vgl. v. a. Joh 14,27–31). Durch die Kontextualisierung am Beginn der Passionsgeschichte (Joh 13,1– 3) und durch die Deutung der Fußwaschung mit Blick auf die christologischen und soteriologischen Konsequenzen des Kreuzestodes Jesu (Joh 13,6–11), verändere sich nun auch der Sinn von Joh 13,12–17 weg von „dem Verhältnis zwischen Christi Souveränität und seiner Rolle als Diener“ hin zu den „ethischekklesiologischen Konsequenzen der Identität Christi“.121 „Die joh Schule betone zunächst, dass der demütige Dienst am Nächsten, den der joh Christus in Wort und Tat ausübt, weder die Negation seiner Macht noch ein Zeichen von Schwäche, sondern der adäquate Ausdruck seiner Autorität ist. […] Die Leistung des Evangelisten besteht darin, den Dienst Christi an den Seinen präzisiert und ihn auf das Kreuzesgeschehen hin fokussiert zu haben.“122 „Die Geste der Fußwaschung ist der Ausdruck par excellence des demütigen Dienstes am Nächsten“, sie begründet und verlangt zugleich die Liebe, welche die Jünger praktizieren sollen.123 Diese Interpretation Zumsteins setzt jedoch voraus, dass Jesus in der älteren synoptischen Tradition als „Diener der Menschen“124 verstanden wurde, eine 118 Zumstein,

Auffassung, 110 f.; vgl. auch Zumstein, Johannesevangelium, 482.  Zumstein, Johannesevangelium, 480. Zumstein erkennt Anspielungen auf den Passionskontext im Ablegen und Aufnehmen der Kleider (13,4.12) im Vergleich mit 10,17 f. und 19,23 f. sowie über das griechische Verb für ‚abtrocknen‘ (ἐκμάσσω) einen Bezug zwischen der Fußwaschung und der Salbung in Bethanien (12,1–8); vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 487. 120  Zumstein, Auffassung, 110. 121 Zumstein, Auffassung, 112; vgl. auch Zumstein, Johannesevangelium, 482. 122 Zumstein, Auffassung, 113. 123  Zumstein, Johannesevangelium, 492. 124  So jedoch die Voraussetzung von Zumstein, die sich auf das Wortverständnis von διάκονος im Sinne eines Tischdieners oder (niedrigen) Dieners allgemein, im Neuen Testament auch im 119

1.1. An der Textgeschichte orientierte Zugänge

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Annahme, die angesichts der neueren Forschung zu dem relevanten griechischen Dienst- und Auftragsbegriff διάκονος (diakonos) und seinen Ableitungen nicht überzeugen kann: Jesus wird gemäß Mk 10,45 zwar als Bote und Diener Gottes gezeichnet, der dessen Auftrag treu ausführt und die ihm dafür von Gott übertragene Macht nicht missbraucht, doch er wird im Markusevangelium nirgends als Diener der Menschen in dem Sinn stilisiert, dass er in einer untergeordneten Rolle die Aufträge von Menschen ausführen oder ihnen dienen würde.125 Von daher ist fraglich, ob in Joh 13 wirklich die Rolle Jesu als Diener problematisiert wird. Dass der Tod Jesu vor menschlichen Maßstäben seinen Anspruch, ein Gesandter Gottes zu sein, in Frage stellt und deshalb auch die damit verbundene Autorität problematisiert, ist damit jedoch nicht abgestritten. Allerdings handelt es sich dabei um zwei verschiedene Aspekte: Jesus als untergeordneter Diener oder sogar Sklave der Menschen einerseits und Jesus als der Gesandte Gottes, der angesichts seines Todes aus menschlicher Perspektive an der Erfüllung seines Auftrags scheitert bzw. diesen gerade im Paradox des Todes erfüllt. Dass der zweite Aspekt völlig konsistent eine Interpretation der Fußwaschungserzählung ermöglicht, zeigt Zumstein in einem anderen Aufsatz, in welchem er  – ohne Rückgriff auf die Vorstellung von Jesus als Diener der Seinen  – Joh 13,1–20 folgendermaßen zusammenfasst: „Die Fußwaschung lässt sich als eine symbolische Handlung lesen. Sie weist darauf hin, dass Jesu Leben, vor allem aber sein Tod am Kreuz als unvergleichliche, zugunsten aller vollbrachte Liebestat verstanden werden soll. Diese Hingabe Jesu für die anderen, symbolisiert durch die höchst eigenständige Handlung, ist sowohl der Ermöglichungsgrund als auch die Bedingung aller Gemeinschaft mit ihm und also des Heils. Als Symbol des Dienstes und der rettenden Liebe hat die Fußwaschung auch eine ethische Komponente. Sie soll zum Vorbild, d. h. zur Grundstruktur des kirchlichen Lebens werden.“126 Fraglich ist jedoch, wie die Liebe im vorliegenden Kontext zur Sendung Jesu in Beziehung zu setzen ist und wie sich diese auf die nachösterliche Situation der Jünger auswirkt. Dass diese Frage für das Textverständnis nicht vernachlässigt werden sollte, zeigt sich bei Zumstein darin, dass ihm Joh 13,20 bei seiner Interpretation „Schwierigkeiten“ bereitet, formuliert sie doch eine Sendungsvorstellung, die bisher im Johannesevangelium exklusiv auf Jesus bezogen war und in die nun die Jünger einbezogen werden: Zumstein Sinne eines karitativ fürsorglichen Dieners bezieht, wie es seit der Studie von Brandt, Dienst und Dienen im Neuen Testament (1931) und dem einflussreichen ThWNT-Artikel von Beyer, Art. διακονέω κτλ (1935), zum Forschungskonsens in der neutestamentlichen Exegese gehörte; vgl. zu diesem Dienstverständnis mit Blick auf Jesus auch Zumstein, Auffassung, 113, der explizit davon spricht, dass Jesus sich gemäß der synoptischen Tradition „in den Dienst der Seinen stellt“, während im Johannesevangelium dieser „demütige Dienst am Nächsten, den der joh Christus in Wort und Tat ausübt, weder die Negation seiner Macht noch ein Zeichen von Schwäche, sondern der adäquate Ausdruck seiner Autorität ist.“ 125  Vgl. Hentschel, Diakonia, 276–281. 126 Zumstein, Interpretation, 135.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

sieht erst in 13,20 eine Öffnung der Szene hin auf die nachösterliche Zeit: „Wenn die Menschen Jesus durch seine Gesandten bei sich aufnehmen, werden sie Gott selbst aufnehmen. Auf diese Weise bestätigt dieses Schlusswort den Lesern des Evangeliums die Identität Jesu und den Auftrag der Jünger.“127

1.1.8. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung Die an der Geschichte des Textes orientierten Zugänge zur Fußwaschungserzählung gehen davon aus, dass in Joh 13,1–20 mehrere Textstufen verwoben sind, die einen jeweils unterschiedlichen Blick auf die Fußwaschung Jesu haben. Auf dieser Grundlage wird der Abschnitt literarkritisch oder auch mit Hilfe des Relecture-Modells (Zumstein) auf verschiedene Schichten verteilt. Meistens wird Joh 13,12–17 als die ältere, paränetisch ausgerichtete Deutung der Fußwaschung angesehen, die mit Texten wie Mk 10,42–45, v. a. mit Lk 22,27 verglichen und oft als eine Art Gemeinderegel angesehen wird. In Joh 13,6–11 finde sich dagegen die Deutung der Fußwaschung durch den Evangelisten, welche von den Exegetinnen und Exegeten meist soteriologisch verstanden und als Verweis auf den Dienst der Offenbarung (Bultmann) bzw. als Zeichen des Kreuzestodes (Schnackenburg, Richter, Schnelle, Zumstein) interpretiert wird. Wellhausen versteht 13,6–9 als eine sakramentale Handlung, welche auf eine mystische Gemeinschaft mit Jesus zielt. Die Zusammenfügung der beiden zentralen Textbestandteile geschieht entweder durch den Evangelisten (Bultmann, Schnackenburg, Schnelle, ähnlich auch Zumstein) oder durch eine spätere Redaktion (Wellhausen, Richter, Niemand). Die paränetisch oder ethisch ausgerichtete Deutung in Joh 13,12–17 wird entweder als störender Widerspruch zur soteriologischen Deutung verstanden (Wellhausen, Richter) oder als eine neu begründete Form der Paränese durch die Voranstellung der soteriologischen Deutung (Bultmann, Schnackenburg, Niemand, Schnelle, Zumstein). Häufig werden 13,18–20, aber auch 13,16 sowie 13,10 f. als spätere Ergänzungen angesehen, die nicht zum ursprünglichen Textbestand gehörten. Daraus ergibt sich, dass die erste, meist soteriologisch verstandene und die zweite, ethisch verstandene Deutung der Fußwaschung nur mittelbar zusammenhängen, wobei die Soteriologie als  – später hinzugekommene – Grundlage der Paränese angesehen wird. Dass die beiden Deutungen bei diesem Interpretationszugang gerade nicht in einem organischen Zusammenhang stehen, zeigt sich v. a. an Interpretationen, welche einen unversöhnlichen Widerspruch der beiden Textbestandteile feststellen und damit der Redaktion unterstellen, dass diese verbunden habe, was nicht zusammenpasse. Selbst wenn die beiden Deutungen einander im Sinne von Indikativ und Imperativ zugeordnet werden, gelingt es dieser Herangehensweise kaum, den Text in seiner vor127 Zumstein,

Johannesevangelium, 495.

1.2. An der historischen Verortung im Leben Jesu orientierte Zugänge

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liegenden Fassung als ein stimmiges Ganzes wahrzunehmen. Diese Beobachtung mag nicht verwundern, da ja der Anlass für die Vermutung, dass Joh 13,1–20 in mehreren Stufen gewachsen ist, in der Feststellung lag, dass 13,6–11 und 13,12–20 zwei  – mehr oder weniger  – widersprüchliche Perspektiven auf die Fußwaschung Jesu bieten.

1.2. An der historischen Verortung im Leben Jesu orientierte Zugänge 1.2.1. Theodor Zahn (1921) Theodor Zahn betrachtet das Johannesevangelium als eine einheitliche Schrift, hinter der als Verfasser der Zebedaide Johannes stehe, der sich im Evangelium selbst in anonymer Weise als Lieblingsjünger bezeichne.128 Sein erkenntnisleitendes Interesse gilt der Geschichte des irdischen Jesus, die er im Johannesevangelium als einem Augenzeugenbericht abgebildet sieht.129 Damit wird jedoch gerade die sowohl narratologisch als auch theologisch anspruchsvolle Gestaltungskraft des vierten Evangelisten übersehen, was zu reduktionistischen, zum Teil auch psychologisierenden Interpretationen führt. Auch beim letzten Mahl Jesu mit den sich anschließenden Reden geht Zahn davon aus, dass die johanneische Erzählfolge und Darstellung den historischen Ereignissen aus dem Leben Jesu entsprechen. Joh 13,1 sieht Zahn als Überschrift über Joh 13–17.130 Da Jesus weiß, was ihm bevorsteht, sorge er sich nicht um sich selbst, sondern um seine Jünger, die in der Welt weiterhin seiner fürsorgenden Liebe bedürfen.131 Jesus selbst gehe nicht als ein „Opfer menschlicher Gewalt und Treulosigkeit“ in den Tod, sondern er gehe zu Gott in der „Kraft der die ganze Welt umfassenden und der Welt überlegenen Herrschermacht, die der Vater ihm verliehen hat, also als Sieger (16,33)“.132 Die Fußwaschung sei nach Joh 13,8b Voraussetzung für die Teilhabe an der ewigen Seligkeit.133 Während nach 13,10 gemäß dem für ursprünglich erachteten Langtext eine andere vorausgehende Waschung die Jünger bereits rein gemacht habe, d. h. die Apostel die Sündenvergebung grundsätzlich bereits durch die Johannestaufe und in vollkommener Weise durch das Wort Jesu (15,3) erhalten haben,

 Vgl. Zahn, Evangelium, 17–41. dazu Frey, Wege, 8–12. 130  Vgl. Zahn, Evangelium, 532 f. 131  Vgl. Zahn, Evangelium, 534. 132 Zahn, Evangelium, 536. 133 Zahn, Evangelium, 536. 128

129 Vgl.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

könne es in 13,7–9 nur um die Reinigung von späteren Sünden gehen.134 Zahn vergleicht dies mit einem Gast bei einem Gastmahl, der durch ein Vollbad am Morgen auch am Abend noch gereinigt sei, aber eine Waschung der Füße nötig habe, da die Wege, die er während eines Tages mit Sandalen zurücklegte, dies erforderlich machten.135 In Joh 13,13–17 ergänze Jesus eine weitere Deutung der Fußwaschung, in der diese als Vorbild zur Nachahmung gesehen werde.136 Dabei gehe es nicht um eine wörtliche Befolgung im Sinne einer Fußwaschung, nicht nur um „einen Ausdruck demütiger Dienstwilligkeit“, sondern um „einen besonderen Dienst“, der darin bestehe, „dem Bruder, der sich im Stande der Jüngerschaft und im Besitz der Sündenvergebung befindet, behilflich zu sein zur Reinigung von den Sünden, mit welchen er sich gleichwohl befleckt hat.“137 Gott und Jesus bewirken solche Reinigung nicht ohne Mitwirkung von Menschen, welche selbst der gleichen Reinigung bedürfen. Dieses Bewußtsein wird ihnen die Demut und die Selbstverleugnung einflößen, die solcher Liebesdienst vor andern erfordert.138

Offensichtlich denkt Zahn hier an eine besondere Aufgabe der Apostel, die Jesus zu „Teilhabern seines Berufs und zu seinen bevollmächtigten Vertretern ernannt hat (4,38; 6,70; 13,16)“, und die angesichts der „Erschütterung ihres Vertrauens zu ihm und ihrer Berufsgewißheit“ durch den Verrat des Judas eines besonderen Trostes und neuer Ermutigung bedürften (13,19 f.).139 Angesichts seines Abschieds sorgt sich Jesus um den Zusammenhalt der Gemeinde und gibt ihnen als „neues Gebot“ das Gebot der Bruderliebe, welche die Jünger untereinander verbinde und sie in der Welt als Jüngerschaft Jesu erkennbar mache (13,34 f.).140 Zahn liest die Fußwaschung mit den sich anschließenden Reden in historisierender Weise als ein historisch zutreffend dargestelltes Ereignis aus dem Leben Jesu und kann die Erzählung dadurch als eine zusammenhängende erfassen, wobei er die zentrale Deutung der Fußwaschung in der ständig neu erforderlichen Sündenvergebung sieht: Jesus ermöglicht seinen Jüngern die Reinigung von Sünden und auch die Apostel sollen ihrerseits Sünden vergeben. Allerdings kann Zahn mit seinem historisierenden Verständnis des Johannesevangeliums weder die metaphorische Tiefe der Erzählung, bei der in typisch johanneischer Weise eine zeichenhafte Handlung Jesu mit Blick auf tiefere Glaubenswahrheiten gedeutet wird, noch die Transparenz des Textes für die Situation der textexternen Gemeinde wahrnehmen und berücksichtigen.  Vgl. Zahn, Evangelium, 538 f.  Vgl. Zahn, Evangelium, 539. 136 Vgl. Zahn, Evangelium, 539. 137 Zahn, Evangelium, 540. 138  Zahn, Evangelium, 540. 139  Vgl. Zahn, Evangelium, 543. 140 Vgl. Zahn, Evangelium, 549 f. 134 135

1.2. An der historischen Verortung im Leben Jesu orientierte Zugänge

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1.2.2. Craig S. Keener (2003) Der von seinem eigenen Anspruch her sozialgeschichtliche, mit Blick auf die Einleitungsfragen eher konservativ ausgerichtete Kommentar des amerikanischen Wissenschaftlers Craig S. Keener berücksichtigt neben literarischen Dokumenten eine stattliche Anzahl von antiken Materialien, unter anderem Papyri und Grabinschriften, um das Evangelium in seinem historisch-kulturellen Kontext zu verorten. Diese werden allerdings häufig nicht in ausreichendem Maße wahrgenommen und dienen zu schnell als Stützen der Johannesinterpretation des Exegeten. Er untersucht das Johannesevangelium als einheitliche Schrift, Joh  21 eingeschlossen, die er auf den Apostel Johannes als Augenzeugen und verantwortlichen Verfasser zurückführt.141 Keener versteht, obwohl er eine Vielzahl an Belegen für unterschiedliche Anlässe der Fußwaschung zitiert, diese durchgehend im Sinne von Sklavendienst, wobei er auch die Fußwaschung von Kindern gegenüber Eltern oder von der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann unter diesem Aspekt betrachtet.142 Dabei übergeht er stillschweigend, dass auch die von ihm verwendete Sekundärliteratur die Fußwaschung nicht ausnahmslos als niedrigen Sklavendienst versteht, sondern diese auch als Dienstleistung deutet, die das Subjekt nicht erniedrigt oder zu einem Sklaven macht, wenn die Fußwaschung etwa im Rahmen der Gastfreundschaft oder in intimen oder familiären Beziehungen als Zeichen der Verehrung oder Liebe praktiziert wird.143 Wenn im Testament Abrahams zum Beispiel eine Fußwaschung oder Aufwartung durch Abraham selbst erwähnt werden (TestAbr A 3,7–12; 4,9; 6,6), so wird dies gerade als Zeichen seiner Höflichkeit und Frömmigkeit angesehen, eine besondere Demut oder gar Niedrigkeit wird in den Charakterisierungen Abrahams jedoch entgegen der Darstellung Keeners nicht erwähnt (vgl. TestAbr A 4,6; s. auch 6,6.8).144 Keener kommt zu dem Ergebnis, dass die Fußwaschung Jesu weit über verbreitete Gesten der Demut hinausgehe, da er sich auf die Stufe eines Sklaven stelle.145 Die Fußwaschungserzählung versteht Keener als narrative Einführung zur Abschiedsrede Jesu.146  Vgl. Keener, Gospel, 114 f. v. a. Keener, Gospel, 903 f. 143   So z. B. Hultgren, Footwashing; Niemand, Fußwaschung, 179–191; einseitig jedoch Keener, Gospel, 903 f. 144 Vgl. Keener, Gospel, 903. In besonderen Situationen gilt die mit διακονέω bezeichnete Aufwartung durch den Hausherrn oder durch die Gastgeberin als Ehre für den Gast und als Zeichen der guten Sitten des ausführenden Subjekts, vgl. Hentschel, Diakonia, 85–89.199–216. 145 Vgl. Keener, Gospel, 907. Keener setzt hier unhinterfragt voraus, dass das Demutsverständnis heute mit dem zur Zeit Jesu vergleichbar ist; vgl. dazu Zemmrich, Demut, 423–450. 146  Vgl. Keener, Gospel, 891. Keener spricht mit Absicht von der „Abschiedsrede“ im Singular, da er den Abschnitt 13,31–17,26 als eine zusammenhängende Rede betrachtet, die durch die Themen der Liebe und der Einheit gerahmt und geprägt werde; a. a. O. 895.899. 141

142 Vgl.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

This act identifies Jesus as the Suffering Servant and defines his passion as an act of loving service. At the same time, however, it also summons Jesus’ followers to imitate his model, serving and loving one another to the extant of lying down their lives for one another (13:14–16,34–35).147

Nach Keener übernimmt Jesus hier die Rolle des leidenden Gottesknechts (Jes 52,13–53,12), wobei Johannes eine im frühen Christentum verbreitete christologische Vorstellung verwende.148 Joh 13,4–11 deute die Fußwaschung Jesu als einen Verweis auf die Erniedrigung Jesu in seinem Kreuzestod, der als Opfertod seinen Nachfolgern Anteil am ewigen Leben gewähre und deshalb von Petrus akzeptiert werden müsse (Joh 13,8).149 Joh 13,10 interpretiert Keener auf der Grundlage des Langtextes, wobei die angesprochene Waschung in der erzählten Situation in der vorbereitenden Reinigung für das Passafest, in übertragener Perspektive in der Reinigung durch das Wort Jesu geschehen sei (Joh 15,3).150 Die zweite Interpretation der Fußwaschung ziele darauf, anhand von Jesu Handeln die Jünger über die Umkehr von Macht und Status in der Nachfolgegemeinschaft zu belehren, und stehe in der Tradition weiterer Gemeinderegeln wie Mk 9,36 f.; 10,15.42–45; Mt 18,3 f.; 10 und Lk 22,24–27.151 Joh 13,16 sei vergleichbar mit Mt 10,24 f.; Lk 6,40 und ursprünglich an Schüler und Sklaven gerichtet, wobei Keener im Hintergrund den seiner Darstellung nach v. a. bei den Rabbinen verbreiteten Brauch sieht, dass Schüler ihren Lehrer wie Sklaven bedienen müssten, die Fußwaschung allerdings nicht zu ihren Pflichten gehöre.152 „Jesus’ disciples were servants (15,20); ultimately servants in the exalted sense of the biblical prophets (cf. Rev 1:1) yet servants of Jesus as well as of God (12:26).“153 Zwar seien die Jünger auch Freunde (15,15), doch ihr Status als Sklaven werde dadurch nicht aufgehoben.154 In diesem Sinne versteht Keener auch Joh  13,20 nicht als Bestätigung der Autorität der Jünger Jesu als Repräsentanten Jesu und Gottes, sondern als ultimative Warnung, dass sie leiden müssen und den Status von Sklaven haben würden.155 Das Liebesgebot aus Joh 13,34 f. schließe ein, dass die, die Jesus nachfolgen, wie dieser bereit seien, aus Liebe ihr Leben hinzugeben.156

 Keener, Gospel, 899.  Vgl. Keener, Gospel, 902. 149 Vgl. Keener, Gospel, 909. 150  Vgl. Keener, Gospel, 909 f. 151  Vgl. Keener, Gospel, 910. 152 Vgl. Keener, Gospel, 911. 153 Keener, Gospel, 911. 154  Vgl. Keener, Gospel, 911. 155  Vgl. Keener, Gospel, 914. 156 Vgl. Keener, Gospel, 924 f. 147 148

1.2. An der historischen Verortung im Leben Jesu orientierte Zugänge

29

Keener hält es für denkbar, dass der Evangelist von seiner Gemeinde eine Fußwaschung erwartet habe, mit dem Ziel, die damals üblichen sozialen Hierarchien in Frage zu stellen, und dass diese auch praktiziert wurde.157 Zwischen der Salbung Jesu durch Maria und der Fußwaschung Jesu sieht Keener im Anschluss an Culpepper einen engen Bezug: beide thematisieren Jesu Tod.158 Er sieht Marias Salbung (12,1–8) als einen Ausdruck eines verstehenden und liebenden Glaubens im Gegensatz zum Todesbeschluss der jüdischen Elite (11,45–57).159 Die Mahlzeit im Haus der drei Geschwister und die Salbung durch Maria gehe nach Keener am ehesten auf eine historische Situation zurück und sei nicht als fiktionale Bildung aufgrund lukanischer Texte zu betrachten, stelle im Johannesevangelium jedoch eine Vorabbildung von Joh 13 dar.160 Sowohl Marthas Tischdienst (12,2) als auch Marias Salbung (11,2; 12,4) seien Ausdruck eines niederen Dienstes, wie Jesus ihn in der Fußwaschung seiner Jünger selbst lebe und seinen Jüngern als Beispiel für ihr eigenes Handeln vor Augen stelle.161 Auch hier setzt Keener voraus, dass eine Salbung mit Berührung der Füße ein Sklavendienst sei, und er sieht Maria entsprechend in der Position einer Sklavin.162 Ihre Salbung könne als königliche Salbung betrachtet werden, Jesus selbst deute sie mit Blick auf seine Beerdigung (12,7 f.).163 Keener macht die betont als Sklavendienst verstandene Fußwaschung zum Ausgangspunkt seiner teilweise sehr historisierenden Interpretation von Joh 13, ohne die anderen möglichen Bedeutungsaspekte einer Fußwaschung in der Antike wahrzunehmen oder auch nur zu diskutieren, die sowohl in den von ihm zitierten Quellen als auch zum Teil in der von ihm verwendeten Sekundärliteratur zu Tage treten. Im Sklavendienst der Fußwaschung, die als Vorabbildung der Kreuzigung zu verstehen sei, zeige Jesus den Jüngern seine Liebe. Zugleich erwarte Jesus, dass sie sein Beispiel nachahmen, auf Macht und Ehre verzichten und sich gegenseitig als Sklaven Jesu so sehr lieben, dass sie bereit seien, ihr Leben aufzugeben. Durch diese einseitige Interpretation ergibt sich das Bild einer kenotischen Christologie, welche in Joh 13 den Schwerpunkt auf die Erniedrigung Jesu legt, und einer Nachfolgevorstellung, die von den Jüngern – 157 Vgl. Keener, Gospel, 902 f. Keener schließt sich im Hinblick auf eine wahrscheinliche Praxis in der johanneischen Gemeinde der Argumentation bei Thomas, Footwashing, 126–185 an; a. a. O. 902 f. 158  Vgl. Keener, Gospel, 859 unter Bezug auf Culpepper, Anatomy, 202 f. 159  Vgl. Keener, Gospel, 859 unter Bezug auf Hoskyns, Gospel 408. 160 Vgl. Keener, Gospel, 861 f. 161  Vgl. Keener, Gospel, 862. 162  Vgl. Keener, Gospel, 863 f. Wie Keener hier unter Berufung auf Witherington, Women, 113, Petronius, Satyricon 27 angeben kann, um einen „weitverbreiteten Brauch“ zu belegen, dass die Haare eines Sklaven zum Abtrocknen verwendet werden, ist allerdings nicht nachvollziehbar, a. a. O. 864 Anm. Das Frauenbild, das Keener hier skizziert, ist insgesamt zu undifferenziert und entspricht nicht dem aktuellen Stand der Forschung. 163 Vgl. Keener, Gospel, 865.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

gegen Joh  15,15  – fordert, Sklaven zu sein und als Sklaven zu dienen. Beides wird der Darstellung im Johannesevangelium nicht gerecht und übersieht die differenzierte Symbolik, die mit der Fußwaschung verbunden ist.

1.2.3. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung Sowohl Zahn als auch Keener setzen als Verfasser des Johannesevangeliums einen Augenzeugen voraus und versuchen das Geschehen der Fußwaschung im Leben Jesu zu verorten. Zahn betrachtet die Fußwaschung primär unter dem Reinigungsaspekt und sieht in ihr einen Ritus zur Vergebung der postbaptismalen Sünden. Zugleich werden die Jünger selbst darauf vorbereitet, Sünden zu vergeben und darin bevollmächtigte Vertreter Jesu zu werden (13,16), die angesichts des Verrats durch Judas in ihrer Beauftragung erneut Bestätigung brauchen (13,19 f.). Keener dagegen setzt ein Verständnis der Fußwaschung als Sklavendienst voraus, so dass in Joh 13,4–11 der explizit als Sklavendienst gedeutete Tod Jesu abgebildet werde. Joh 13,12–20 entspreche den synoptischen Gemeinderegeln (unter anderem Mk 10,42–45; Lk 22,24–27), wobei die Jünger in ihrer bleibenden Rolle als Sklaven betrachtet werden, so dass 13,20 nicht als Stärkung ihrer Autorität als Gesandte Jesu anzusehen sei, sondern vielmehr als Warnung, dass sie als Sklaven Jesu wie dieser selbst leiden müssten. Diese beiden Forschungspositionen illustrieren sehr anschaulich, dass trotz eines vergleichbaren Zugangs zum Johannesevangelium, das insgesamt als Darstellung eines Augenzeugen verstanden wird, die Interpretation von Joh 13,1–20 völlig gegensätzlich verläuft, da die Fußwaschung einmal unter dem Aspekt der Reinigung, das andere Mal unter dem Aspekt des Sklavendienstes betrachtet wird. Auch die bei der literarkritischen Deutung als Fremdkörper angesehen Verse 13,16.18 f.20 werden in die jeweilige Deutung integriert, stehen jedoch einmal für die Fortführung des (sündenvergebenden) Wirkens Jesu durch seine bevollmächtigten Vertreter (Zahn) und das andere Mal für den bleibenden Status der Jünger als Sklaven, die Jesus in ihrem Leiden nachfolgen sollen (Keener).

1.3. An der historischen Verortung im Leben der Gemeinde orientierte Zugänge 1.3.1. Raymond E. Brown (1966) Der katholische amerikanische Neutestamentler Raymond Brown geht in seinem Kommentar von einem fünfstufigen Entstehungsprozess aus, von der mündlichen Tradition über mehrere Bearbeitungsstufen durch den Evangelisten selbst

1.3. An der historischen Verortung im Leben der Gemeinde orientierte Zugänge

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bis hin zu einer abschließenden Redaktion durch einen Schüler, der allerdings das Evangelium theologisch nicht korrigieren will, sondern es nur vorsichtig, zum Teil auch ungeschickt überarbeitet und ergänzt habe.164 Brown deutet das vierte Evangelium damit aus einer spezifisch zeitgeschichtlichen Perspektive, so dass die – aus dem johanneischen Text erschlossene, stufenweise – Entstehungssituation des Evangeliums in der johanneischen Gemeinde einen Schlüssel zur Interpretation des johanneischen Textes darstellt. Ein zentrales Interesse Browns gilt der Frage, wie Johannes zu den Sakramenten stehe. Brown stellt zunächst einmal den Forschungsstand und den Textbefund dar, der nicht eindeutig sei und gerade deshalb so gegensätzlich interpretiert werde: Während etwa Rudolf Bultmann im Johannesevangelium eine bewusste Distanzierung von den Sakramenten sah, vertrat v. a. Oscar Cullmann die Ansicht, dass das gesamte Evangelium von Anspielungen auf die Sakramente durchzogen sei, dazwischen gibt es ein weites Spektrum an Positionen.165 Angesichts der Gefahr der Eisegese geht Brown methodisch so vor, dass er von einem intendierten sakramentalen Verständnis eines johanneischen Textes nur dort ausgeht, wo sich eine entsprechende sakramentale Rezeption in der Alten Kirche belegen lässt und wo der johanneische Text selbst Hinweise auf ein sakramentales Verständnis gibt, auch wenn Brown sich bewusst ist, dass eine Beurteilung nach diesen Kriterien ebenfalls unterschiedlich ausfallen kann.166 Brown setzt voraus, dass zur Zeit der Entstehung des Johannesevangeliums Taufe und Abendmahl beliebte Themen gewesen seien.167 Für die Fußwaschungserzählung kommt Brown zu dem Ergebnis, dass in ihr kein Bezug auf die Eucharistie enthalten sei, ein sekundärer Bezug auf die Taufe allerdings vorstellbar sei, was jedoch nicht bedeute, dass die Fußwaschung als Taufe der Jünger zu betrachten sei, ja nicht einmal, dass der Evangelist einen symbolischen Verweis auf die Taufe intendierte.168 Auch wenn die explizit ekklesiologische Terminologie insgesamt fehle, ist dies für Brown kein hinreichendes Argument, um ein mangelndes Interesse an der Kirche oder gar eine kritische Haltung des Evangelisten zu den sich etablierenden Gemeindestrukturen anzunehmen, sondern der Befund könne mit dem Gattungsunterschied zwischen Evangelium und der Briefliteratur einleuchtend begründet werden.169 Deshalb seien bei dieser Frage auch die johanneischen Briefe und die Apokalypse zu berücksichtigen, so dass auf diesem Hintergrund 164  Vgl. Brown, Gospel I xxxiv–xxix. In der Neubearbeitung seines Kommentars wollte Brown mit Entstehungshypothesen zurückhaltender sein, wie sich in der von Moloney posthum herausgegebenen Einleitung erkennen lässt, ohne dass jedoch erkennbar ist, welche Argumente von Brown und welche vom Herausgeber verantwortet werden; vgl. Brown, Introduction. 165 Vgl. Brown, Gospel I, cxi–cxiv. 166  Vgl. Brown, Gospel I, cxii–cxiii. 167  Vgl. Brown, Gospel I, cxiii. 168 Vgl. Brown, Gospel II, 559.562. 169  Vgl. Brown, Gospel I, cv–cvii.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

aus dem Schweigen des Evangeliums kein ekklesiologisches Desinteresse gefolgert werden könne.170 Mit der Beschreibung des Mahls (13,1–20.21–30) beginne nach Brown das „Book of Glory“, dessen Einleitung er in 13,1 sieht, während 13,2 f. die Einleitung zur Fußwaschungserzählung bilde.171 Die Handlung Jesu versteht Brown als einen niedrigen Dienst, der zunächst als ein Zeichen des Todes Jesu (13,6–10) und danach als ein Vorbild für eine sich selbst aufopfernde Demut (13,14–17) interpretiert werde.172 Eine Fußwaschung wird von Brown als ein niedriger Dienst betrachtet, der im Kontext der Gastfreundschaft üblicherweise von Sklaven verrichtet werde.173 Auf diesem Hintergrund betont Brown, dass sich Jesus hier bewusst erniedrige, um in einer prophetischen Zeichenhandlung seinen Tod am Kreuz ebenfalls als Erniedrigung zu deuten.174 Seiner Meinung nach geht es in Joh 13,2–20 durchgehend um Demut, nicht jedoch um Liebe.175 Die in 13,1 erwähnte Liebe sei als eigentliche Einleitung des „Book of Glory“ eng mit Jesu „Stunde“ verbunden, die Fußwaschungserzählung selbst betone jedoch seine bewusste Erniedrigung im absichtsvollen Gegensatz zu Jesu Hoheit, die in Joh 13,2 eindrucksvoll erwähnt werde und nach Brown die folgende Demut Jesu noch hervorheben solle.176 Die Heilsbedeutung der Fußwaschung, d. h. der Erniedrigung Jesu in seinen Tod, bestehe darin, dass die Jünger ein „Erbteil mit Jesus“ bekommen, d. h. dass sie rein werden und am ewigen Leben Anteil haben.177 Brown erkennt hier die gleiche Argumentationsstruktur wie in Lk 22,30.178 Die Reaktion des Petrus in Joh 13,6.8 vergleicht Brown mit Mk 8,31–33 und sieht darin die johanneische Hervorhebung der Notwendigkeit, dass „the scandal of the cross“ akzeptiert werden müsse.179 Hinter der Beschreibung des Ablegens der Kleider und des Nehmens des Leintuchs in Joh 13,4 kann er sich einen bewussten Bezug auf Joh 10,11.15.17 f. und somit einen Verweis auf Jesu Tod vorstellen.180 Joh 13,12–17 zeige als Lektion über die Demut eine inhaltliche Nähe zu Lk 22,24–27, ohne jedoch von Lk selbst abhängig zu sein.181 Im „neuen“ Gebot Joh 13,34 sieht Brown Bundestheologie.182  Vgl. Brown, Gospel I, cvii–cviii. Brown, Gospel II, 545.560 f. 172  Vgl. Brown, Gospel II, 545.558. Brown folgt darin der Interpretation von Hoskyns und Richter; vgl. a. a. O. 558 f. 173 Vgl. Brown, Gospel II, 564. 174  Vgl. Brown, Gospel II, 562. 175  Vgl. Brown, Gospel II, 560 f. 176 Vgl. Brown, Gospel II, 460. 177  Vgl. Brown, Gospel II, 565. 178  Vgl. Brown, Gospel II, 567. Er sieht eine inhaltliche Nähe zwischen Lk 22,30 und Joh 14,2–3. 179  Vgl. Brown, Gospel II, 566. 180  Vgl. Brown, Gospel II, 551. 181  Vgl. Brown, Gospel II, 557.568. 182  Vgl. Brown, Gospel II, 557.614. 170

171 Vgl.

1.3. An der historischen Verortung im Leben der Gemeinde orientierte Zugänge

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Brown denkt die Voraussetzung, dass es sich bei der Fußwaschung um einen erniedrigenden Sklavendienst handle, so konsequent zu Ende, dass er sowohl in der christologischen als auch in der ethischen Deutung den alleinigen Schwerpunkt auf der Demut sieht und den Aspekt der Liebe davon abtrennt. Dabei reflektiert Brown jedoch aufgrund seiner Annahmen über die Entstehungsgeschichte des Johannesevangeliums, die mit der Verteilung des Textes auf verschiedene Entstehungsstufen verbunden ist, zu wenig, wie ausgerechnet diese Deutung des Todes Jesu zu dem Befund passt, dass gerade im Johannesevangelium der Tod Jesu mit überraschend positivem Vokabular, unter anderem als „Erhöhung“ und als „Sieg“ beschrieben wird und das Ziel der Stunde Jesu gemäß Joh 13,31 f. in seiner Verherrlichung besteht, weshalb ja auch Brown selbst die Kapitel 13–20 völlig zurecht als „Book of Glory“ bezeichnet.183 Browns Interesse an den Sakramenten und der Frage nach beginnenden kirchlichen Strukturen kommt bei der Interpretation von Joh 13 letztlich kaum zum Tragen, da er die Fußwaschung soteriologisch als Abbild des Todes Jesu versteht, der seinen Jüngern das ewige Leben übermittele und sie verpflichte, wie ihr Herr demütig zu leben. Dass Brown sich hier explizit davon distanziert, auch die Liebe als zentralen Aspekt der Fußwaschungserzählung zu sehen, die in Joh 13, aber auch in Joh 11–17 ein zentrales Thema ist, erklärt sich durch seine Annahmen von der Entstehung des Evangeliums: Er betrachtet 13,1 als Einleitung zum zweiten Hauptteil und bezieht die Liebe und das Wissen Jesu v. a. auf seinen Tod, während er in 13,2 f. die Einleitung zur Fußwaschung sieht. Der zeitgeschichtliche Blickwinkel Browns, der über eine Entwicklungsgeschichte der johanneischen Gemeinde das Evangelium besser verstehen will, verstellt den Blick auf die inhaltlichen Zusammenhänge, die sich aus dem vorliegenden Textbefund ergeben.

1.3.2. John C. Thomas (1991) Der aus der pfingstkirchlich-charismatisch geprägten amerikanischen Tradition kommende Neutestamentler John Christopher Thomas analysiert in seiner 1991 erschienen Arbeit „Footwashing in John 13 and the Johannine Community“ die Fußwaschungserzählung in ihrer vorliegenden Textgestalt, um ihren ursprünglichen Sinn im Sinne einer historischen Verortung und Entstehungsgeschichte des Textes zu erkunden. Thomas sieht in Joh 13,1 den Beginn des zweiten Hauptteils des Johannesevangeliums, bezeichnet als „Book of Glory“ und in Joh 13,1–20 einen Bestandteil der Abschiedsreden Joh 13–17, welche in ihrer jetzigen Form

183  Brown sieht als möglichen Bezugstext für die spezifische Verbindung von Verherrlichung, Erhöhung und Leiden in Jes 52,13; vgl. Brown, Gospel II, 609 sowie ders., Gospel I, 478.

34

Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

als einheitlicher und in sich sinnvoller Text interpretiert werden.184 Von daher stellt er die Fußwaschungserzählung in den Kontext der Passion und erkennt in Joh 13,1–20 immer wieder Verweise auf den Kreuzestod, ohne jedoch die Fußwaschung selbst als Symbol des Todes Jesu zu verstehen. Ausgehend von den kulturellen Bedeutungsmöglichkeiten einer Fußwaschung in der Antike nimmt Thomas den Vorbereitungsaspekt zum Ausgangspunkt seiner Interpretation von Joh 13,1–20.185 In der Fußwaschung Jesu sieht er eine Reinigung von postbaptismalen Sünden und eine Vorbereitung der Jünger für ihre spätere Gemeinschaft und Mission nach Jesu Abschied, in der johanneischen Gemeinde vermutet er die Praxis eines Rituals der Fußwaschung zur Vorbereitung auf das Abendmahl. Mit Joh 13,2–4 sei die Erzählung 12,1–8 zu vergleichen, in der Maria mit ihrer Fußsalbung eine Art „Waschung“ Jesu durchführe, die ihn für seine Beerdigung vorbereite und somit auf seinen Tod verweise.186 Joh 13,3 zeige, dass „the Sovereign of the universe“ sich in der Fußwaschung erniedrige, um den Dienst eines Sklaven zu vollbringen, wobei diese auf den heilvollen Opfertod Jesu verweise, der ebenfalls mit den Aspekten der Erniedrigung und Reinigung verbunden sei.187 Die Motivation für diesen Dienst liege in der Joh 13,1 einleitend beschriebenen Liebe, so dass die Fußwaschung nicht nur als Sklavendienst verstanden werden könne, sondern auch als Liebesdienst und Ehrerweis, was jedoch ein Verständnis im Sinne eines Sklavendienstes für Thomas nicht ausschließt, sondern nur ergänzt.188 Der zentrale Deutungsaspekt der Fußwaschung in Joh 13 liegt für Thomas jedoch in der Reinigung, den er auf dem Hintergrund eines bei den Jüngern zwar von Anfang an vorhandenen, aber noch nicht vollkommenen Glaubens versteht.189 Da eine Fußwaschung in der Antike auch mit dem Aspekt der Vorbereitung verbunden werden konnte, sieht er in ihr die grundlegende Vorbereitung der Jünger auf den Abschied Jesu: Jesus wolle ihren Glauben stärken und sie für ihre zukünftige Gemeinschaft und Mission vorbereiten.190 Anteil an der Gemeinschaft mit Jesus (Joh 13,8) bedeute nicht nur Anteil am ewigen Leben, sondern auch an Jesu Sendung mit der Gefahr, von der Welt gehasst zu werden und ggf. sogar das Martyrium erleiden zu müssen.191 184 Vgl.

Thomas, Footwashing, 64 f.67.  Vgl. Thomas, Footwashing, 42–60. 186  Vgl. Thomas, Footwashing, 82. Thomas verweist hier auf Ansätze, die einen engen Bezug zwischen Joh 12,1–8 und Joh 13,1–20 herstellen: Schüssler Fiorenza, Memory, 330 f.; Michaels, John 12,1–22, 287–291. 187  Vgl. Thomas, Footwashing, 86–88. 188 Vgl. Thomas, Footwashing, 88 f. Dem entspricht, dass Thomas den Einspruch des Petrus in Joh 13,6 nicht auf dem Hintergrund eines Liebes- oder Ehrerweises zwischen Eltern und Kindern bzw. Lehrern und Schülern angesichts der umgekehrten Rollen versteht, sondern als Sklavendienst im Zusammenhang der Gastfreundschaft; a. a. O. 90 f. 189  Vgl. Thomas, Footwashing, 68; 71–76. 190  Vgl. Thomas, Footwashing, 67 f. 191 Vgl. Thomas, Footwashing, 94. 185

1.3. An der historischen Verortung im Leben der Gemeinde orientierte Zugänge

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Thomas gründet seine konkrete Auslegung der Fußwaschungserzählung auf die textkritische Entscheidung, die er im zweiten Kapitel fällt: er betrachtet den Langtext von Joh 13,10 als ursprünglich und bezieht das „Baden“ (λούω) auf die Taufe und das danach noch erforderliche Waschen der Füße auf die bleibende Notwendigkeit der Reinigung von Sünden.192 Während in der Taufe, die Thomas mit der Sündenvergebung durch den Tod Jesu verbindet, die Sünden grundsätzlich vergeben würden, sei danach ein weiterer „zusätzlicher Akt der Reinigung“ nötig, der in der Vergebung der postbaptismalen Sünden bestehe und durch die Fußwaschung symbolisiert werde.193 Er vergleicht dies mit einem Gast, der zu einem antiken Symposion eingeladen wurde und als Vorbereitung ein Vollbad nimmt, so dass er bei der Ankunft im Haus des Gastgebers nur noch die Füße waschen muss, um für das gemeinsame Mahl ausreichend gereinigt zu sein.194 In Übereinstimmung mit dieser Auslegung sieht Thomas auch in 13,14–17 keine Aufforderung zum gegenseitigen Dienst oder zu Liebeserweisen in der Jüngergemeinschaft, sondern die Anweisung, die Handlung der Fußwaschung zu wiederholen.195 Im fünften Kapitel seiner Arbeit versucht Thomas mit Hilfe altkirchlicher Zeugnisse plausibel zu machen, dass die johanneische Gemeinde die Fußwaschung als ein sakramentales Ritual als Vorbereitung auf die Eucharistie praktiziert habe, deren Ziel die Vergebung postbaptismaler Sünden gewesen sei.196 Die zahlreichen Belege, die Thomas für ein gottesdienstliches Ritual der Fußwaschung zur Vergebung der postbaptismalen Sünden in der Alten Kirche anführt, können seine These jedoch nicht ausreichend belegen. Sie sind oft aus dem Zusammenhang gerissen, und selbst dort, wo eine in den Gemeinden praktizierte Fußwaschung belegt ist, lässt sich die Vergebung der seit der Taufe begangenen Sünden nicht als ihr Zweck erkennen. Viele wichtige Beobachtungen zur Fußwaschung und den damit verbundenen Bedeutungsaspekten in der Antike allgemein, in Joh 13 und in altkirchlichen Texten, die Thomas macht, werden von ihm nicht ausreichend gewürdigt und bei der abschließenden Interpretation von Joh 13,1–20 zu wenig berücksichtigt, da sein Interesse viel zu stark darauf zielt, seine eigene These im Sinne eines postbaptismalen Bußrituals zu begründen. Weiterführend an seiner Arbeit ist, dass er die kulturelle Bedeutung der Fußwaschung nicht nur im Sklavendienst sieht, sondern auch die Aspekte des Liebesdienstes und Ehrerweises wahrnimmt, sowie dass er den Vorbereitungsaspekt der Fußwaschung Jesu nicht nur pauschal auf dessen Abschied bezieht, sondern mit Blick auf die Pflege der Gemeinschaft und die Mission der Jünger und die damit verbundenen Gefahren durch den Hass der Welt konkretisiert. 192 Vgl.

Thomas, Footwashing, 19–25.  Vgl. Thomas, Footwashing, 100–105. 194  Vgl. Thomas, Footwashing, 105 f. 195 Vgl. Thomas, Footwashing, 127–129. 196  Vgl. Thomas, Footwashing, 126–185. 193

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

1.3.3. Klaus Wengst (2000/2001) Klaus Wengst liest das Johannesevangelium mit einem besonderen Bewusstsein für dessen mögliche antijüdische Interpretation.197 Er verortet seine Entstehung historisch in einem innerjüdischen Konflikt zwischen jüdischen Christusanhängern und anderen Juden, die den Glauben an Jesus als den Messias entschieden ablehnten, wobei er diese Perspektive auf die Entstehungsbedingungen zum Ausgangspunkt seiner Interpretation macht und das Evangelium schwerpunktmäßig auf dem Hintergrund jüdischer Texte, insbesondere auch der späteren rabbinischen Überlieferung versteht.198 Abgesehen von Joh 21, wo der Text selbst „einen ausdrücklichen Hinweis auf unterschiedliche Verfasserschaft“ gibt, behandelt Wengst das Evangelium insgesamt eher als einen einheitlichen und in sich stimmigen Text und grenzt sich dabei dezidiert von einem literakritischen Zugang ab, der „sich den Gegenstand der Auslegung mit fragwürdigen Kriterien erst selbst schafft“.199 In Joh 13,1–20 sieht Wengst die einleitende Szene zu den Abschiedsreden, die nach seiner Gliederung in 13,31 beginnen. Aus der Darstellung des letzten Mahles Jesu mit Fußwaschung, aber ohne Mahlhandlung schließt Wengst nicht auf eine antisakramentale Haltung des Evangelisten, sondern hält fest, dass dieser die Eucharistie bereits in Kapitel 6 behandelt habe (6,51–58), während er nun einen anderen Akzent setze und die Passion im Sinne „einer Bewegung der zuvorkommenden Liebe“ darstelle.200 Die Verse 6–10 deuteten die Fußwaschung mit Blick auf den Tod Jesu, der damit als ein „niedriger Sklaventod am Kreuz“ verstanden werde, die Verse 12–17 interpretierten die Fußwaschung ethisch: die Schüler sollen einander gemäß dem Vorbild Jesu „in Liebe dienen“.201 Mit der Fußwaschung vollziehe „Jesus in Sklavenkleidung einen Liebesdienst an seinen Schülern“, wobei sie zum „Symbol für den als Manifestation der Liebe Gottes (vgl. 3,16) gedeuteten Tod Jesu“ werde.202 Wengst sieht eine von Sklaven durchgeführte Fußwaschung im Kontext der Gastfreundschaft als situativen Hintergrund.203 Er schließt aus der als Sklavendienst verstandenen Fußwaschung auf den Inhalt des kenotisch verstandenen Auftrags

197

 Vgl. Wengst, Johannesevangelium I, 19. Wengst, Johannesevangelium I, 21; vgl. auch Schnelle, Literatur I. Kommentare,

198 Vgl.

281.

 Vgl. Wengst, Johannesevangelium I, 29 f. Wengst, Johannesevangelium II, 87; Wengst zitiert hier Schnelle, Evangelium,

199

200 Vgl.

212.

 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 88.94.  Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 90. 203 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 92–94. 201 202

1.3. An der historischen Verortung im Leben der Gemeinde orientierte Zugänge

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Jesu und das „Wesen seiner Sendung“: „Gott erscheint in der Niedrigkeit, und zwar in der Niedrigkeit dienender und sich hingebender Liebe.“204 Durch die Waschung werde außerdem auf die im Tod Jesu gründende Sündenvergebung hingewiesen.205 In Joh 13,7 f. gehe es nicht um die Glaubenshaltung des Petrus, der diesen Dienst Jesu nicht annehmen wolle, sondern um das objektive Tun Jesu, d. h. um seinen Tod am Kreuz, der Teilhabe am Heil bewirke.206 Joh 13,10 versteht Wengst unter Bezugnahme auf den Kurztext als Feststellung, dass Petrus ebenso wie allen anderen Schülern mit Hilfe der Fußwaschung, d. h. des Todes Jesu, das ganze Heil, die vollständige Sündenvergebung zugeignet worden sei, bei der es kein Mehr oder Weniger gebe.207 Diese Zusage könne sich – wie die Einschränkung bzgl. Judas (13,11) zeige – jedoch nur dort konkret verwirklichen, wo ihr durch den Lebensvollzug entsprochen werde.208 Bei der folgenden ethischen Deutung werde die Fußwaschung exemplarisch verstanden, die Schüler werden eingewiesen „in den gegenseitigen Dienst gleicher Geschwister“.209 Wengst geht davon aus, dass die ethische Deutung dem Evangelisten bereits in der Tradition vorgegeben war, diese vom Evangelisten jedoch in einen neuen Begründungszusammenhang gebracht wurde. Die geschenkte Liebe, die sich im Kreuz zeige, habe ihre Entsprechung im Handeln der Menschen und nur wer mit seinem eigenen Tun dem Handeln Jesu entspreche, lasse sich auf die Wirklichkeit der Liebe Gottes ein.210 Die folgende Seligpreisung (13,17) betone: „Wer ihr im Handeln nicht entspricht oder gar widerspricht, schließt sich selbst von ihr aus.“211 Im „Zeugnis seiner Schüler, das das Zeugnis des Geistes ist (15,26 f.), wird Jesus selbst angenommen und damit auch der, in dessen Auftrag er gehandelt hat.“212 Die als Sklavendienst verstandene Fußwaschung interpretiert Wengst soterio­ logisch als ein Sinnbild für den Tod Jesu, der Sündenvergebung und Heil eröffne (13,6–10). Dies werde allerdings nur unter der Voraussetzung wirksam, dass die Gläubigen das Heil annehmen, indem sie dem Tun Jesu in ihrem eigenen Handeln entsprechen (13,12–17). Die zweite Deutung wird damit als eine ethische verstanden, welche im Kontext von Joh 13 als Zugangsbedingung zum Heil ver-

 Wengst, Johannesevangelium II, 92. Wengst, Johannesevangelium II, 94. 206  Wengst verweist hier auf Bultmann, der an der vorliegenden Stelle die subjektive Glaubenshaltung des Petrus betont und festhält, dass erst wenn Petrus die Offenbarung Jesu in der Niedrigkeit annehme, d. h. glaube, zum Heil gelangen könne; vgl. Bultmann, Evangelium, 357.359; vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 94 Anm. 207  Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 95. 208 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 96. 209  Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 97. 210  Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 98. 211 Wengst, Johannesevangelium II, 99. 212  Wengst, Johannesevangelium II, 100. 204

205 Vgl.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

standen wird. Damit unterscheidet sich Wengst trotz seiner Einteilung der Fußwaschungserzählung in eine soteriologische und eine ethische Deutung deutlich von Bultmanns einflussreichen Ansatz, der Joh 13,12–17 gerade nicht im Sinne einer Bedingung für die Wirkung des Heils versteht, sondern im Sinne eines Tuns, das aus der Rechtfertigung gewissermaßen selbstverständlich erwächst.

1.3.4. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung Die Verortung der Entstehung des Johannesevangeliums im Leben der Gemeinde wirkt sich kaum in spezifischer Weise auf die Deutung der Fußwaschungserzählung aus. Die Annahme von mehreren Phasen der johanneischen Gemeinde führt letzten Endes zu einer den literarkritischen Zugängen vergleichbaren Auslegung. Da Joh 13,1 von 13,2–20 abgetrennt wird, interpretiert Brown die gesamte Fußwaschungserzählung unter dem Aspekt der Demut: 13,6–10 deute den Tod Jesu als Erniedrigung, 13,12–20 fordere Demut vergleichbar mit Mk 8,31–33 und Lk 22,24–27. Thomas geht von einem sakramental verstandenen, postbaptismalen Bußritual aus, das in der johanneischen Gemeinde zur Vorbereitung auf die Eucharistie gemäß der wörtlich zu verstehenden Aufforderung in Joh 13,14–17 praktiziert wurde. Jesus selbst habe die Fußwaschung nach dem Johannesevangelium als Vorbereitung der Jünger auf die nachösterliche Gemeinschaft und Mission praktiziert, die der Sündenvergebung diente und zugleich den Jüngern Anteil gab an der mit der Gefahr des Martyriums verbundenen Sendung Jesu (13,8). Wengst betrachtet das Johannesevangelium zwar  – abgesehen von Joh 21 – als ein einheitliches, noch im innerjüdischen Kontext entstandenes Werk, sieht in der Fußwaschungserzählung aber dennoch zwei Bestandteile: 13,6–10 deute den Tod Jesu soteriologisch als niedrigen Sklaventod am Kreuz, 13,12–17 ergänze die Paränese, da das Heil nur wirksam werde, wenn die Jünger nach Jesu Vorbild lebten. Der Ansatz bei der Situation der johanneischen Gemeinde führt nicht zu einer bestimmten Form der Auslegung der Fußwaschungserzählung. Es zeigt sich vielmehr, dass die – durch die Lektüre des Johannesevangeliums angeregte – Interpretation des Textes zu einer bestimmten Vorstellung der johanneischen Gemeinde führt, die dann im Zirkelschluss wieder durch die Auslegung der johanneischen Texte bestätigt wird. Literarkritische Operationen wirken sich hier ebenso aus wie die Bedeutungen, die einer Fußwaschung in der Antike zugeschrieben werden.

1.4. Religionsgeschichtlich orientierte Zugänge

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1.4. Religionsgeschichtlich orientierte Zugänge 1.4.1. Wilhelm Heitmüller (1907) Wilhelm Heitmüller ist ein Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule, der sich intensiv mit dem Johannesevangelium und der Fußwaschung befasst hat. Wie Wilhelm Bousset betrachtet er das Johannesevangelium im Zusammenhang der hellenistischen Mystik.213 Er sieht jüdisch-hellenistische Vorstellungen, wie man sie bei Philo findet, im Hintergrund des Johannesevangeliums und vermutet zusätzlich auch orientalischen Einfluss. Hermeneutisch steht er in einer Linie mit der liberalen Forschung, die das historische Ereignis als für die Gegenwart unbedeutend ansieht und ihren Fokus ganz auf die bleibenden theologischen Wahrheiten richtet.214 Johannes habe die Synoptiker gekannt, den Stoff aber nur begrenzt im Dienst seiner eigenen Lehre über Jesus aufgenommen, den er zwar als Mensch betrachte, aus einer österlichen Perspektive aber als „eine über die Erde wandelnde Gottheit“ darstelle.215 Die Fußwaschung ist für Heitmüller ein „ungemein bedeutungsreiches und sinnvolles Gemälde“, durch die Jesus seine Jünger über „das Grundgesetz der christlichen Gemeinde, die Quelle desselben, seine eigene dienende, im Tod sich opfernde Liebe, und über die Hauptmittel der Aneignung des Heilswerks, die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl“ informiere.216 Ob ein historisches Ereignis zugrundeliege oder die Erzählung aufgrund von Lk 22,27 fiktiv gestaltet wurde, ist nach Heitmüller nicht zu beantworten, er tendiert aber zu letzterem und sieht in der Fußwaschung – unabhängig von der Frage nach ihrer Historizität  – eine „Gleichnishandlung“, die Lk 22,27 illustriere.217 Der „Hauch der Innigkeit“ und das Thema der Liebe in Joh 13,1–20 wirkten wie eine Überschrift zu den Kapiteln Joh 13–17, welche die „christliche Gemeinde als die Liebesgemeinschaft der Gläubigen untereinander und mit Jesus und Gott“ beschreibe.218 Johannes beziehe sich bewusst auf Mk 14,22–31, nehme die mit diesem bedeutsamen Mahl ursprüngliche „Stimmung“ auf und distanziere sich durch die Zeitangabe jedoch von einem jüdischen Passamahl: Auf dem Hintergrund der  Vgl. Frey, Eschatologie I, 77.   Vgl. z. B. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 15; dazu auch Berger, Exegese, 17; Frey, Eschatologie I, 25 Anm.; Heitmüller geht davon aus, dass auch der Verfasser des Johannesevangeliums selbst, beeinflusst durch jüdisch-hellenistische Ansichten und ein dualistisches Weltbild, der Geschichte keinen eigenständigen Wert beimesse und nur an den theologischen Wahrheiten interessiert sei; Heitmüller, Johannes-Evangelium, 22.26 f. 215  Vgl. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 26 f. 216  Heitmüller, Johannes-Evangelium, 145. 217 Vgl. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 145. 218  Heitmüller, Johannes-Evangelium, 141 f. 213 214

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

Stiftung des Abendmahls, doch ohne es unmittelbar zu nennen, stelle Johannes dar, wie Jesus, der sich seiner messianischen Sendung und seines bevorstehenden Todes bewusst sei, eine Sklavenarbeit verrichte.219 Gemäß Joh  13,8 und 13,10 gehe es dabei nicht um die äußere Handlung, auch nicht um die Waschung oder Reinheit, welche durch die Taufe bzw. den Kreuzestod vermittelt werde, sondern um die Liebe, die Jesus allen seinen Jüngern schenke: Sie bekommen Gemeinschaft mit ihm (13,8).220 Das „später“ in Joh 13,8 sei in zweifacher Weise zu verstehen: auf der wörtlichen Ebene verweise es auf 3,12–19, wo Jesus seine Jünger zur Liebe auffordert, auf der übertragenen, tieferen Ebene verweise es auf Tod und Auferstehung Jesu, nach denen die Jünger die Tiefe seiner Liebe erst in ihrem vollen Ausmaß verstehen könnten.221 Die Fußwaschung Jesu sei ein Sinnbild seiner liebenden Hingabe in den Tod, zugleich propagiere sie als „Grundgesetz für die christliche Gemeinschaft die demütige, dienende, sich selbst verleugnende Liebe der Jünger unter einander“.222 Unabhängig von der textkritischen Entscheidung halte Joh 13,10 fest, dass die Reinheit von Sünden durch die Taufe zugeeignet werde und der Gebadete, d. h. der Getaufte, nur noch der Reinigung der täglichen kleineren Sünden bedarf.223 Vermutlich sei jedoch der Kurztext als ursprünglich anzusehen, was Heitmüller schließen lässt, dass 13,9 f. einen anderen Gedanken einbringe und als spätere Überarbeitung anzusehen sei.224 Joh  13,10 könne als Polemik gegen wiederholte Waschungen oder gar „Taufen“ bei Juden bzw. Johannesjüngern verstanden werden.225 Auch bei Joh 13,18–20 vermutet Heitmüller eine spätere Überarbeitung, denn er kann v. a. 13,20 nicht stimmig auf das Vorangehende beziehen.226 Nach Heitmüller erweist Jesus in der Fußwaschung seine Liebe zu den Jüngern und verpflichtet sie zugleich auf das neue Gesetz der Liebe. Die Teilhabe am Heil ist möglich als Teilhabe an der mystischen Liebesgemeinschaft mit Gott

219 Vgl. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 143 f.; Heitmüller setzt voraus, dass Johannes die drei Synoptiker kannte, deren Stoff jedoch kreativ und in aller Freiheit für seine eigenen theologischen Interessen ausgewählt und bearbeitet hat; vgl. a. a. O. 12–14. Die Einsetzung des Abendmahls habe Johannes in Joh 6 aufgenommen; a. a. O. 26. 220  Vgl. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 144. 221 Vgl. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 144. 222  Heitmüller, Johannes-Evangelium, 144. Heitmüller sieht als Erfahrungshintergrund der Leser ein sogenanntes Liebes- oder Agapemahl, das möglicherweise auf die Darstellung in Joh 13 eingewirkt habe; a. a. O. 144 f. 223 Vgl. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 145. 224  Vgl. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 145; Heitmüller betrachtet Joh 1–20 als „planvolles Ganzes“, das trotz möglicher Überarbeitungen im Laufe des Entstehungsprozesses als ein Ganzes zu interpretieren und nicht literarkritisch in Schichten zu zerlegen sei; vgl. a. a. O. 31. 225  Vgl. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 145. 226  Vgl. Heitmüller, Johannes-Evangelium, 145; d. h. er vermutet für 13,9–11.18–20 eine spätere Hinzufügung.

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und Jesus.227 Als Heilsmittel, die diese innige Gemeinschaft ermöglichen, sind Abendmahl und Taufe anzusehen, auf die der Verfasser in Joh 13,1–20 bewusst anspiele, ohne sie explizit zu benennen.228 Als zur religionsgeschichtlichen Schule zählender Forscher verfügt Heitmüller über eine gute Kenntnis der jüdisch-hellenistischen Literatur, insbesondere auch von Philo, so dass er auf dem Hintergrund dieser kulturellen Enzyklopädie die Symbolik des Johannesevangeliums mit einer großen Weite interpretieren kann. Da er voraussetzt, dass der Verfasser des Johannesevangeliums die Synoptiker kennt, kann Heitmüller zudem auch Bezüge zwischen Markus, Lukas und Johannes bei seiner Interpretation wahrnehmen und berücksichtigen (v. a. Mk 14,22 ff.; Mk 10,45; Lk 22,27). Eine weitere Stärke seiner Interpretation ist, dass er Joh 13,1–20 insgesamt im Kontext von Joh 13–17, ja sogar im Kontext von Joh 1–20 interpretiert und so die Fußwaschung Jesu als Gleichnishandlung seiner Liebe wahrnehmen kann, die im Johannesevangelium als Inhalt und Ziel seiner Sendung anzusehen sei.229

1.4.2. Ernst Lohmeyer (1939) Der evangelische Theologe Ernst Lohmeyer, der sich gegen den Antisemitismus der Nationalsozialisten stellte und Mitglied der Bekennenden Kirche war, wendet sich in seinem 1939 erschienenen Aufsatz „Die Fußwaschung“ zunächst gegen eine Verortung der Fußwaschung im Zusammenhang der Taufe, insbesondere gegen ein Verständnis von ὁ λελουμένος in 13,10 im Sinne eines „Getauften“, sowie gegen eine sakramentale Deutung als Ersatz für das Abendmahl.230 Lohmeyer sieht eine Unterteilung des Berichts von der Fußwaschung in zwei Teile (13,2–11.12–20), eine Erzählung des Geschehens und eine Erläuterung, die jedoch ganz dem johanneischen Stil entspreche und sogar hier durch eine besonders enge Zusammengehörigkeit der zwei Teile ausgezeichnet sei.231 Die Rede Jesu sei mit synoptischen Sprüchen durchsetzt (13,13 und Mt 23,8.10; 13,14 f. und Lk 22,27; 13,16 und Mt 10,24; 13,17 und Mt 7,24; 13,20 und Mt 10,40) und nur hier werde der ἀπόστολος erwähnt.232 Nur hier finde sich die aus den Synoptikern bekannte Wendung „und er begann“ (13,4) und die Abwehr des Petrus sei vergleichbar mit der Reaktion Johannes des Täufers auf den Taufwunsch Jesu 227 Vgl. dazu auch Heitmüller, Johannes-Evangelium, 155 f.; 165. Zu Joh 17,20–23 hält Heitmüller fest, dass diese mystische Liebesgemeinschaft und Einheit auf die Mission in der Welt zielten; ebd. 228 Heitmüller, Johannes-Evangelium, 145. 229  Heitmüller, Johannes-Evangelium, 143. 230  Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 74 f. 231 Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 76. 232 Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 77.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

(Mt 3,14 f.).233 Aus seinen Textbeobachtungen schließt er, dass dem Evangelisten bereits eine johanneisch geprägte Erzählung vorgelegen habe, die dieser durch einzelne Verse (13,1.2f*.18 f.) ergänzt und in den vorliegenden Kontext eingefügt habe.234 So wird die Fußwaschung zu dem Gegenbilde und der Vorstufe zu der nachfolgenden Erzählung, die den Verrat des Judas nicht nur prophetisch ankündigt, sondern wie in eschatologischer Mächtigkeit bewirkt. Dem Akt der Liebe des Meisters zu seinen Jüngern tritt der Akt des Verrates des einen Jüngers an seinem Meister gegenüber.235

Lohmeyer sieht in der Fußwaschung einen Mahl-Dienst Jesu, wie er auch in Mk 10,45 und Lk 22,27 dargestellt werde: „Sein ‚Kommen‘ ist ein διακονεῖν und in solchem Sinne Liebe“.236 Er betrachtet die Fußwaschung im Zusammenhang der Gastfreundschaft als Ehrerweis, der üblicherweise von einem Sklaven ausgeführt wird, sieht allerdings in Joh 13 einen davon gerade unterschiedenen besonderen Sinn, da die Fußwaschung seltsamerweise nicht vor dem Mahl, sondern währenddessen stattfinde. Das „später“ in der Antwort Jesu verweise auf die Zeit nach seinem Tod (13,1; auch 2,22; 12,16 sowie 10,6) und charakterisiere Jesu Tun als ein eschatologisches.237 In bekannter johanneischer Doppeldeutigkeit verheiße Jesus in 13,7 durch die Reinheit gewährende Fußwaschung einen Platz an Jesu Tisch sowohl jetzt, als auch später in den Wohnungen des Vaters (14,2).238 In Joh 13,9 missverstehe Petrus, dass nicht die Waschung an sich, sondern die Person des Waschenden diese Reinheit gewähre.239 Joh 13,10 interpretiert Lohmeyer auf dem Hintergrund kultischer Vollbäder und Teilreinigungen, die grundsätzlich für jüdische Gläubige, in besonderem Maße aber für Priester vorgeschrieben waren: Jesus ersetze jüdische Tauch- und Fußbäder durch die Fußwaschung, die vollständige, auch kultische Reinheit gewähre, Jesus „bestellt und ermächtigt [dadurch] die Jünger zu ‚Priestern‘ seines eschatologischen Dienstes und seiner eschatologischen Gemeinde“.240 Lohmeyer versteht die Fußwaschung als eine einmalige sakramentale Weihehandlung, die „neben und an der Stelle der Apostelberufung, von der die synoptischen Evangelien berichten“, stehe.241 Eine Apostelberufung könne in Joh 20,21 f. nicht gefunden werden, da bei Johannes die Verleihung des Geistes eine ähnliche Funktion wie die Geistausgießung an Pfingsten in der Apostel Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 77.  Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 77 f. 235 Lohmeyer, Fußwaschung, 78. 236  Lohmeyer, Fußwaschung, 79. 237  Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 80. 238 Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 80. 239  Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 81. 240  Lohmeyer, Fußwaschung, 86. Lohmeyer hält den Kurztext für die wahrscheinlich ursprüngliche Textfassung, a. a. O. 82. 241  Lohmeyer, Fußwaschung, 86. 233 234

1.4. Religionsgeschichtlich orientierte Zugänge

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geschichte habe, welche die Ausstattung der vorher zu Aposteln berufenen ergänze und darin eine Verheißung Jesu erfülle (Lk 24,49; Apg 1,5.8).242 Dieser Interpretation von Joh 13,6–11 ordnet Lohmeyer nun die Erklärung Jesu in 13,12–20 zu, wobei er insbesondere die Sendungsvorstellung in Joh 13,16.20 hervorhebt.243 Die einmalige sakramentale Handlung Jesu wird gemäß Joh 13,14 zum ethischen Vorbild für die Jünger, die wie ihr Herr, der als Bruder dient, den Dienst der Liebe untereinander üben sollen.244 Indem Lohmeyer die verbindende Thematik in Joh 13,1–20 in der Sendung der Apostel sieht, erschließt sich ihm eine Lektüre des Textes, welche eine enge Verbindung zwischen den beiden Teilen der Erzählung nahelegt und insbesondere die Logien 13,16.20 als integralen Bestandteil des Textes würdigen kann. Auch wenn man den weitreichenden Folgerungen zu Joh 13,10 in Abgrenzung von jüdischen Reinheitsvorstellungen, insbesondere von priesterlichen kultischen Waschungen nicht folgen will, bleibt die Lesart von Joh 13,1–20 im Sinne einer Beauftragung der Jünger eine bedenkenswerte Lesart des johanneischen Textes, welche die unterschiedlichen Abschnitte und Gedankengänge des Textes sinnvoll integrieren kann.

1.4.3. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung Die dargestellten religionsgeschichtlich orientierten Interpretationen verstehen Joh 13,1–17 bzw. 13,1–20 in der Regel als einen zusammenhängenden Text, der ausgehend von der hellenistischen Mystik (Heitmüller) oder den kultischen Waschungen im Judentum (Lohmeyer) verstanden wird und in diesen Fällen zu einer sakramentalen Deutung der Fußwaschung führt. Heitmüller sieht in der Fußwaschung ein Sakrament, dass die Teilhabe an der mystischen Liebesgemeinschaft mit Gott ermögliche, zugleich aber auf die Kreuzigung Jesu verweise und die Jünger gemäß dem Grundgesetz dieser Gemeinschaft selbst zur demütigen Liebe verpflichte. Lohmeyer setzt in Joh 13,10 an und versteht die Waschung auf dem Hintergrund kultischer Reinigungsrituale, so dass er in der Fußwaschung eine einmalige sakramentale Weihehandlung sieht, wodurch die Jünger als Apostel berufen und danach auf ein bestimmtes „Berufsethos“ (13,12–20) verpflichtet werden. Mit der Interpretation der Fußwaschungserzählung in Bezug auf eine Einsetzung der Jünger in ihr apostolisches Amt kann Lohmeyer gerade auch die Verse 13,16.18–20 in seine Deutung integrieren. Der Ausgangspunkt bei religiösen Ritualen, die zur Zeit Jesu und der johanneischen Gemeinde bekannt waren, eröffnet neue Perspektiven auf die jo Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 87.  Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 87. 244 Vgl. Lohmeyer, Fußwaschung, 89. 242 243

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

hanneische Fußwaschungserzählung, die über die Gegenüberstellung einer soteriologischen und einer paränetischen Deutung hinausführen, indem mögliche Zusammenhänge zwischen den Abschnitten Joh 13,6–11 und Joh 13,12–20 erkennbar werden.

1.5. Sozialgeschichtlich und kulturwissenschaftlich orientierte Zugänge 1.5.1. Arland J. Hultgren (1982) In dem 1982 veröffentlichten Aufsatz „The Johannine Footwashing (13:1–11) as Symbol of Eschatological Hospitality“ betrachtet der lutherische Pfarrer und Neutestamentler Arland J. Hultgren Joh 13,1–11 auf dem Hintergrund der möglichen Bedeutung einer Fußwaschung im antiken Kontext. Aus den drei Kontexten der Fußwaschung in der Mittelmeerwelt, die er in der täglichen Hygiene, der Gastfreundschaft und in kultischen Waschungen sieht, greift Hultgren den zweiten Aspekt heraus und stellt Beispiele dar. Hultgren betrachtet Joh 13,1–11 und 13,12–20 als zwei getrennte Einheiten, wobei er in 13,12–20 im Anschluss an Georg Richter und Raymond E. Brown eine redaktionelle Hinzufügung vermutet.245 In Joh 13,10 plädiert er für den Kurztext.246 Joh 13,8 belege, dass die Fußwaschungserzählung nicht nur als eine Illustration der Demut Jesu oder als Beispiel der Demut für andere zu verstehen sei, sondern eine soteriologische Bedeutung habe.247 Während die alttestamentlichen Belege in der Regel davon sprächen, dass den Gästen Wasser zur Verfügung gestellt wird, so dass diese selbst ihre Füße waschen können, ein Brauch, der auch in Lk 7,44 vorausgesetzt wird, wird die Fußwaschung in TestAbr 3 von Abraham und in JosAs 20,1–5 von Aseneth ausgeführt.248 Die Fußwaschung durch die Witwen in 1 Tim 5,10 versteht er als ein Zeichen von Demut und Gastfreundschaft.249 Auf diesem kulturellen Hintergrund betrachtet Hultgren die Fußwaschung Jesu in Joh 13,1–11 als ein Zeichen der eschatologischen Gastfreundschaft, da Jesus seinen Jüngern angesichts seines eigenen Abschieds die Füße wasche und sie damit als ein Sklave seines Vaters im Himmel in den himmlischen Wohnungen

 Vgl. Hultgren, Footwashing, 540. Hultgren, Footwashing, 540. 247  Vgl. Hultgren, Footwashing, 541. 248  Vgl. Hultgren, Footwashing, 541 f.; Abigail wäscht in 1 Sam 25,41 selbst die Füße Davids und seiner Begleiter. 249  Vgl. Hultgren, Footwashing, 542. 245

246 Vgl.

1.5. Sozialgeschichtlich und kulturwissenschaftlich orientierte Zugänge

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willkommen heiße (Joh 13,1.3; 14,2).250 Hultgren vergleicht dies mit Lk 12,37, wo der kommende Hausherr seinen Sklaven aufwartet.251 Der Mahlkontext trage zudem die Aspekte von Gemeinschaft und Intimität in die Szene ein.252 Die Fußwaschung sei gemäß Joh 13,10 f. jedoch nicht als kultische Waschung oder Reinigung zu betrachten, denn die Reinheit, welche dem Gebadeten zukomme (13,10), ist eine Konsequenz aus der Teilhabe an Jesu Schicksal (13,8b) und der Annahme seines Wortes (15,3).253 Wenn die Fußwaschung als symbolische Handlung die eschatologische Gastfreundschaft Jesu darstelle, könne das Mahl im Sinne eines eschatologischen Mahls verstanden werden (Mk 14,25; Mt 26,29; Lk 22,16.18).254 Der Kontext des letzten Mahls Jesu mit seinen Jüngern habe sich von daher angeboten, da hier traditionell eine Mahlszene vorliege, die zudem mit der Vorstellung von Jesus in der Rolle eines Sklaven verbunden sei. Diese Symbolhandlung Jesu, die auf seine eschatologische Gastfreundschaft verweise, könne nach Johannes erst nach der Auferstehung verstanden werden (Joh 13,7; vgl. 2,22; 12,16; 14,26).255 Hultgren legt einen geschlossenen Entwurf vor, der wichtige Aspekte der Erzählung hervorhebt und überzeugende Deutungsmöglichkeiten darstellt. Allerdings berücksichtigt er nicht, dass die Fußwaschung nicht zu Beginn des Mahles, sondern im Laufe der Mahlzeit stattfindet. Jesus wird in Joh 13 auch nicht als Hausherr und Gastgeber, sondern als Gesandter Gottes und als Lehrer seiner Schüler dargestellt (Joh 13,1.3.6.13).

1.5.2. Jerome H. Neyrey, S. J. (2007) In seinem Kommentar interpretiert Jerome H. Neyrey das Johannesevangelium in seinem kulturellen Kontext und mit Hilfe rhetorisch-kulturanthropologischer Methoden. Sein Interesse gilt dem Kommunikationsprozess zwischen impliziten und realen Leser. Er sieht in Joh 13,1–3 einen zweiten Prolog als Einleitung zum zweiten Hauptteil. Während in Joh 1,1–18 Jesu Schöpfungsmacht thematisiert werde, gehe es in Joh 13,1–3 um seine eschatologische Macht.256 In der Fußwaschungserzählung in Joh 13,4–20 sieht Neyrey zwei verschiedene Interpretationen, die inhaltlich nicht zusammenpassen.257 Er inter-

 Vgl. Hultgren, Footwashing, 542. Hultgren, Footwashing, 542. 252  Vgl. Hultgren, Footwashing, 542. 253  Vgl. Hultgren, Footwashing, 543; Hultgren betrachtet λούω und νίπτω als Synonyme. 254 Vgl. Hultgren, Footwashing, 543. 255  Vgl. Hultgren, Footwashing, 543. 256  Vgl. Neyrey, Gospel, 226. 257 Vgl. Neyrey, Gospel, 227. 250

251 Vgl.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

pretiert die beiden Darstellungen mit Hilfe der Ritualtheorie von Victor Turner, der zwischen ‚Ritual‘ und ‚Zeremonie‘ unterscheidet: I consider the term ‚ritual‘ to be more fittingly applied to forms of religious behavior associated with social transitions, while the term ‚ceremony‘ has a closer bearing on religious behavior associated with social states, where politico-legal institutions also have greater importance. Ritual is transformative, ceremony confirmatory.258

In Joh 13,4–11 sieht Neyrey ein Ritual, das einmalig stattfinde, den Status der Jünger verändere und sie auf eine neue Phase der Jüngerschaft als „elite disciples“ vorbereite, indem er sie völlig rein mache.259 Neyrey geht davon aus, dass der Glaube nach dem Johannesevangelium wachsen könne und es verschiedene Stufen der mehr oder weniger vollkommenen Nachfolge gebe.260 In Joh 13,10 setzt Neyrey den Langtext voraus, der im Rahmen seiner Deutung nicht problematisch ist, da er für die Jünger von unterschiedlichen Stufen der Reinheit und damit auch von unterschiedlichen erforderlichen Waschungen ausgeht.261 Die Fußwaschung gebe den Jüngern Anteil an Jesus, d. h. Anteil an Jesu Schicksal, womit nach Neyrey nicht primär Anteil an Jesu zukünftiger Herrlichkeit, sondern zunächst Anteil an Jesu Todesschicksal gemeint sei.262 Den kulturellen Hintergrund der Fußwaschung Jesu sieht Neyrey weder in der Gastfreundschaft noch in der Körperhygiene, sondern in Waschungen, die als Vorbereitung dienen: Während er die Waschung eines Priesters vor seinem Dienst als nicht vergleichbar ausscheidet (Ex 20,17–21; 40,30–32), da Jesus seine Jünger nicht zu Priestern weihen wolle, verweist er auf Fußwaschungen im Zusammenhang der Vorbereitung auf Heilige Kriege, die er selbst allerdings nicht mit antiken Texten belegt.263 Neyrey sieht, auch wenn in Joh 13 nicht von einem  Turner, Forest, 95. Vgl. Neyrey, Gospel, 229. Bereits in seinem Aufsatz von 1995 greift Neyrey auf die Ritualtheorie von Viktor Turner zurück und unterscheidet zwischen einem Ritual in Joh 13,6–11 und einer Zeremonie in Joh 13,12–20. In seinem Kommentar spezifiziert Neyrey den kulturellen Hintergrund von Joh 13,6–11 durch einen Vergleich mit Ritualen, die auf den Heiligen Krieg vorbereiten, auf die Vorbereitung auf den bevorstehenden Tod. 259  Neyrey, Gospel, 230. 260  Vgl. v. a. Neyrey, Footwashing, 203; er bezieht sich hier auf Moloney, Cana. 261 Vgl. Neyrey, Footwashing, 204. 262  Vgl. Neyrey, Gospel, 228.230. 263  Vgl. Neyrey, Gospel, 230. Neyrey belegt dies hier nicht mit Texten, sondern verweist nur auf die Rezension von James Swetnam zu Richter, Die Fußwaschung, in: Biblica 49 (1968), 441–443. Dieser führt als Belegtexte 2 Sam 11,8–11 und Apk 14,1–5 an. In Joh 13,3 sieht er einen möglichen Verweis auf den Kontext des Heiligen Krieges, da Gott ihm „alles in die Hände gegeben hat“, und er verweist zudem auf Joh 16,33; Swetnam, Rezension, 443. Swetnam versucht mit der Annahme, dass im Hintergrund von Joh 13 Rituale zur Vorbereitung auf einen Heiligen Krieg stehen, zu erklären, warum die Fußwaschung seit der Antike so unterschiedlich verstanden wurden: nur Juden würden diesen Text im Kontext ihrer jüdischen Traditionen sinnvoll deuten können. Die von Swetnam genannten Belegstellen können die Beweislast jedoch nicht tragen, dass in Joh 13 ausgerechnet auf diesen Zusammenhang angespielt werden sollte. Grundsätzlich ist jedoch richtig, dass die Fußwaschung als Handlung zur Vorbereitung verstanden werden konnte. 258

1.5. Sozialgeschichtlich und kulturwissenschaftlich orientierte Zugänge

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Krieg die Rede ist, einen möglichen Vergleichspunkt in einer rituellen Reinigung im Angesicht der Todesgefahr.264 Die nächste neutestamentliche Parallele findet Neyrey in Mk 10,38, wo die Jünger aufgefordert werden, sich mit der Taufe Jesu taufen zu lassen.265 Für Joh 13,8 bedeute dies, dass die Jünger Anteil an Jesu Schicksal im Sinne der Todesgefahr und des Martyriums haben.266 In Joh 13,12–20 gehe es dagegen um eine Zeremonie, die ihren Hintergrund vermutlich in der Praxis der johanneischen Gemeinde habe und bei den gemeinsamen Mahlzeiten als Willkommensritual stattfinde.267 Neyrey nimmt an, dass dieses Ritual üblicherweise von den Leitungspersonen durchgeführt wurde.268 Indem Jesus als der Vorsitzende des Mahls diese Waschung durchführe, bestätige er seine einzigartige Rolle als Lehrer und Herr, auch wenn die Waschung selbst als eine ehrlose Tätigkeit angesehen werde.269 Ebenso würden auch die Jünger als Leitungspersonen durch die regelmäßig stattfindende Zeremonie der Fußwaschung ihre eigene Leitungsrolle stärken, denn während der Abwesenheit Jesu komme den Jüngern die Rolle und der Status Jesu zu.270 Das Liebesgebot behandelt Neyrey im Kontext des Abschnitts Joh 13,31–35 ohne Bezug auf die Fußwaschung. In 13,31 f. gehe es um die Verherrlichung Jesu, die sich in seinem Tod vollzieht: „The glory of Jesus is his shame; that is his death. Yet his death and shame are glory in God’s eyes.“271 Auch in den Augen des Johannesevangeliums verweise die Rede von der „Erhöhung“ in ironischer Weise darauf, dass der Tod Jesu als Ehre, nicht als Schande betrachtet werde.272 Auch die Fußsalbung durch Maria versteht Neyrey als Ritual, das in diesem Fall den Status Jesu verändere und als ein Beerdigungsritual angesehen werden könne.273 In der Fußsalbung durch Maria erkennt Neyrey ein Zeichen von Zuneigung und Ehrerbietung: Das teure Öl (12,3), die vielen Juden, die bei ihr im Hause zu Gast gewesen seien (11,18 f.), und die teilweise angedeutete Nähe zu den Pharisäern (11,46) verwiesen auf einen hohen Status der Maria.274 Im Rahmen der Intimität eines Gastmahls im Haus der „beloved disciples“ versehe Martha den Tischdienst, während Maria die Füße Jesu salbe: „all of the actions and gestures express intimacy and elite status.“275 Jesus selbst würdige ihre Handlung als „a

 Vgl. Neyrey, Gospel, 230 Anm. Neyrey, Gospel, 230. 266 Vgl. Neyrey, Gospel, 230; er bezieht sich hier auf Joh 12,24 und 15,2. 267  Vgl. Neyrey, Gospel, 231, mit Verweis auf Lk 7,44–46 und 1 Tim 5,10. 268  Vgl. Neyrey, Gospel, 231. 269 Neyrey, Gospel, 2313. 270  Vgl. v. a. Neyrey, Footwashing, 205 f. 271  Vgl. Neyrey, Gospel, 235. 272 Vgl. Neyrey, Gospel, 217. Neyrey versteht zentrale johanneische Texte über den Tod Jesu im Sinne eines edlen Todes, der zum Wohl einer Gemeinschaft und als Ausdruck einer Tugend freiwillig auf sich genommen wird; vgl. a. a. O. 206 f. 273 Vgl. Neyrey, Footwashing, 202, Anm. 10. Lk 7,37 f. interpretiert Neyrey als Zeremonie, das im Rahmen der Gastfreundschaft als Willkommensgeste üblich sei; ebd. 274  Vgl. Neyrey, Gospel, 210. 275 Vgl. Neyrey, Gospel, 210. 264

265 Vgl.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

noble work“, welche die Salbung für Jesu Beerdigung vorwegnehme.276 Außerdem betont Neyrey, dass nur wenig Menschen so einen intimen körperlichen Kontakt zu Jesus hatten, was von ihm ebenfalls als Aspekt eines hohen Status gedeutet wird.277

Neyrey interpretiert die Fußwaschung auf dem Hintergrund kultureller Vorstellungen zur Zeit Jesu mit Hilfe der Ritualtheorie von Victor Turner. Joh 13,4–11 versteht Neyrey im Sinne eines Rituals, das die Jünger auf ihre Rolle als „elite disciples“ nach dem Abschied Jesu vorbereite. Hinter Joh 13,12–20 vermutet Neyrey eine regelmäßig vor den gemeinsamen Mahlzeiten der johanneischen Gemeinde stattfindende Zeremonie, die von Jüngern in Leitungspositionen ausgeführt werde und deren hohen Status sowie ihre Leitungsrolle bestätige. Allerdings kann Neyrey nicht plausibel begründen, inwiefern die Darstellung der Fußwaschung in Joh 13,1–20 auf zwei verschiedene Ritualhandlungen bezogen werden soll, die einmal auf einen Statuswechsel hin zu mehr Verantwortung und Prestige für die Jünger Jesu und das andere Mal auf eine Bestätigung des Status der Gemeindeglieder im Vergleich zu den die Fußwaschung vollziehenden Leitungspersonen zielt. Die ritualtheoretische Betrachtung der Fußwaschungshandlung führt auch dazu, dass der Kontext in Joh 13–17 kaum wahrgenommen wird. Neyrey sieht weder einen unmittelbaren Bezug der Fußwaschung zum Liebesgebot in Joh 13,34 f. noch zur Passion bzw. zum Tod Jesu.

1.5.3. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung Die dargestellten Forschungspositionen zeigen, wie differenziert das Zusammenspiel einer kulturellen Deutung der Fußwaschung und der Interpretation der Texthinweise in Joh 13 ist. Ausgehend von der Fußwaschung als gastfreundlichem Ritual zu Beginn eines Gastmahls, das üblicherweise von Sklaven ausgeführt werde, übersieht oder ignoriert Hultgren viele Besonderheiten im Text, wie zum Beispiel dass die Fußwaschung in Joh 13 während des Mahls stattfindet. Er deutet Joh 13,6–11 im Sinne einer eschatologischen Gastfreundschaft, wobei der „Sklave“ Jesus im Hause seines himmlischen Vaters die Seinen gastfreundlich begrüße. Der Abschnitt 13,12–20 wird mit Hilfe einer literarkritischen Option vom ersten Teil des Textes abgegrenzt und bei der Interpretation nicht berücksichtigt. Neyrey trägt die Ritualtheorie von Victor Turner an Joh 13,1–20 insgesamt heran und kann damit wichtige, oft übersehene Aspekte des Textes beleuchten. Während er in Joh 13,6–11 ein einmaliges Ritual erkennt, das auf eine Statusänderung der Jünger ziele und sie auf ihr aktives Wirken in Leitungsfunktionen vorbereite, gehe es in Joh 13,12–20 um die Nachahmung der Fußwaschung durch die Jünger, welche wiederholt stattfinde und von daher 276 Neyrey, 277

Gospel, 210.  Vgl. Neyrey, Gospel, 210.

1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge

49

als statusbestätigende Zeremonie gedeutet werden könne: Die Jünger sollen als Leitungspersonen vor dem Abendmahl der Gemeinde selbst die Füße der Gemeindeglieder waschen und so ihren eigenen Status bestätigen, der während der Abwesenheit Jesu seinem Status und seiner Rolle entspreche. Der Bezug auf mögliche sozialgeschichtlich oder kulturwissenschaftlich relevante Aspekte kann eine Lektüre von Joh 13,1–20 bereichern, wenn die Interpretation sich darum bemüht, Textsignale und kulturelle Bedeutungszuschreibungen von Fußwaschungen kritisch wahrzunehmen und aufeinander zu beziehen. Eine Schwierigkeit dieses Zugangs und damit zugleich jeder Bezugnahme auf die damalige Fußwaschungspraxis liegt in der Beurteilung, wie selbstverständlich bestimmte Bedeutungsmuster zur Zeit der Abfassung des Evangeliums mit einer Fußwaschung verbunden waren, so dass diese Bedeutungsmuster auch dann das Verständnis der johanneischen Fußwaschungserzählung beeinflussen, wenn sie im Text selbst nicht eigens angesprochen oder aktualisiert werden.

1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge 1.6.1. Heinrich Julius Holtzmann (1891) Heinrich Julius Holtzmann ist ein Vertreter der liberalen Theologie, deren Forschungsergebnisse bei ihm am Ende des 19. Jahrhunderts in gebündelter Form vorliegen. Holtzmanns Interesse gilt in Übereinstimmung mit der liberalen Hermeneutik den theologischen und christologischen Wahrheiten im Johannesevangelium, das er als eine „Lehrschrift“ betrachtet, die kein Interesse an historischen Begebenheiten zeige.278 Er sieht in den christlichen Mysterien von Fußwaschung, Taufe und Herrenmahl „Rückübertragungen von Erlebnissen der Christenheit in das Leben Christi“, das Johannesevangelium entspreche der „fortgeschrittenen Entwicklung der Kirche und ihrer Theologie“ und thematisiere in Auseinandersetzung mit den Juden v. a. die Frage nach Jesus als dem Messias.279 Es sei der Versuch, die Lehre an eine neue kirchengeschichtliche Situation anzupassen.280 Holtzmann hält im Gegenüber zu den in seiner Zeit beginnenden quellen- und literarkritischen Forschungsansätzen fest, dass das Johannesevangelium in der vorliegenden Fassung interpretiert werden müsse, da sich der Evangelist bei der Einarbeitung seines Stoffs etwas gedacht habe.281 278  Vgl. Holtzmann, Evangelium, 2.13. Das Johannesevangelium sei in historischer Hinsicht reich an „Flüchtigkeitsversehen“, a. a. O. 25. 279  Vgl. Holtzmann, Evangelium, 4.28–30. 280  Vgl. Holtzmann, Evangelium, 12. 281 Vgl. Holtzmann, Evangelium, 23.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

Für Holtzmann ist die Fußwaschung ein Sinnbild des Liebesdienstes Jesu, der als Grundlage und Vorbild des Liebesdienstes der Gemeinde anzusehen sei und diese zur demütigen Liebe verpflichte. Joh 13,1 beziehe sich als Überschrift nur auf Kap. 13–17, nicht aber auf den Tod Jesu in Joh 19.282 Die Fußwaschung sei im Kontext der Gastfreundschaft als Sklavenarbeit zu verstehen, wurde in diesem Fall aber offensichtlich vor dem Mahl vergessen.283 Das „später“ in Joh 13,7 sei sowohl auf 13,12–17 als auch – wie 13,36 – auf die Zeit nach Jesu Auferstehung zu beziehen.284 Petrus müsse das gesamte Werk Jesu als demütig dienende Liebe und als aufopfernde Selbsthingabe verstehen und die Fußwaschung sei „das vorangeschickte Bild der dienenden Bruderliebe, die [Vers] 34 als Vollendung des christlichen Wandels gefeiert wird“.285 In Joh 13,10 werde noch ein weiterer, nun auf die Materie des Wassers bezogener Bedeutungsaspekt ergänzt: Es sei ein Erfahrungssatz, dass Wasser reinige und nach dem Vollbad nur die Fußwaschung nötig sei.286 Es gehe hier nicht um einen Verweis auf jüdische Reinheitsrituale, sondern das Bad sei vielmehr allegorisch als die sittliche Reinigung zu verstehen, die durch den Umgang mit Jesus erfolge (Joh 15,3), während danach weiterhin eine Teilreinigung aufgrund der Beschmutzungen durch das Leben in der Welt erforderlich sei.287 Die in Joh 13,14 f. geforderte Nachahmung beziehe sich auf alle Dienstleistungen, welche die Christen sich gegenseitig in wechselseitiger Unterordnung und Selbstverleugnung leisten sollten.288 Joh 13,1–20 begründe dadurch eine „den christlichen Liebesgeist verherrlichende Gemeindefeier, deren reinigende und läuternde Wirkung auch in den einzelnen Gliedern den Schmutz der Selbstsucht und des Eigennutzes tilgt.“289 Auch die Reinigung wird von Holtzmann primär unter einem moralischen Aspekt verstanden. In der Fußwaschungserzählung, die Holtzmann insgesamt als Ausdruck und Vorbild der Demut deutet und als fiktionale Gestaltung des Evangelisten betrachtet, sieht er Lk 22,27 in Szene gesetzt.290 Während der Evangelist die Eucharistie schon in Joh 6,51–58 behandelt habe, ersetze er hier die Einsetzung des Herrenmahls durch eine Handlung mit symbolisch-exemplarischen Charakter als Einleitung der Liebes- und Abschiedsreden.291 Dennoch habe die Fußwaschung eine Beziehung zum Abendmahl, gründe sie doch Gemeinschaft, so

282 Vgl.

Holtzmann, Evangelium, 233.  Vgl. Holtzmann, Evangelium, 234. 284  Vgl. Holtzmann, Evangelium, 234. 285 Holtzmann, Evangelium, 234. 286  Vgl. Holtzmann, Evangelium, 234 f. 287  Vgl. Holtzmann, Evangelium, 234 f. Holtzmann favorisiert den Langtext, der Kurztext sei aufgrund der Formulierung „ganz rein“ entstanden. 288 Vgl. Holtzmann, Evangelium, 235. 289  Holtzmann, Evangelium, 238. 290  Vgl. Holtzmann, Evangelium, 237. 291 Vgl. Holtzmann, Evangelium, 237. 283

1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge

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wie es auch Paulus in 1 Kor 10,16 f. zum Ausdruck bringt.292 Joh 13 stelle ein Liebesmahl dar, das auf das Liebesgebot ziele. Holtzmann gelingt es, Joh 13,1–20 als einheitliche Erzählung unter dem Aspekt der Demut bzw. der demütigen Liebe zu deuten und sie zugleich als integrativen Bestandteil von Joh 13–17 überzeugend in den Kontext einzuordnen. Er sieht in Joh 13 wie auch im gesamten Evangelium Themen der johanneischen Gemeinde verhandelt, wobei er hinter Joh 13 die Praxis eines die Gemeinschaft stärkenden Liebesmahls vermutet, nicht jedoch ein praktiziertes Ritual der Fußwaschung.

1.6.2. Charles Harold Dodd (1937) Die Interpretation des Johannesevangeliums durch Charles Harold Dodd ist im Hinblick auf ihre forschungsgeschichtliche Bedeutung für den angelsächsischen Kontext mit dem Entwurf Rudolf Bultmanns in der deutschen Exegese vergleichbar, zeichnet sich jedoch im Unterschied zu Bultmann gerade durch einen Verzicht auf literarkritische Operationen aus.293 Auch sein erkenntnisleitendes Interesse gilt der Frage nach der Theologie dieser Schrift. Dodd versteht das vierte Evangelium als ein theologisches Werk, das – unabhängig von seiner literarischen Entstehungsgeschichte – als zusammenhängender Text in seiner vorliegenden Fassung zu interpretieren sei und auch sinnvoll interpretiert werden könne.294 Er zählt die Fußwaschung zu den für das Evangelium bedeutsamen Zeichen (σημεῖα), die er als „significant actions“ versteht: Sie würden auf das Heil verweisen, das in Jesu Erhöhung Wirklichkeit werde, so dass nach Johannes jede einzelne Handlung Jesu zeichenhaft die ganze Wahrheit des Evangeliums enthalte, während erst im Kreuz selbst Zeichen und Bezeichnetes zusammenkämen.295 Dodd sieht die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–30) als Einleitung der Abschiedsreden.296 Joh 13,1–17 setze Lk 22,27 in eine Erzählung um und solle Worte Jesu wie in Mt 10,24 und Lk 6,40 illustrieren.297 Damit gehöre sie in den Kontext von Gemeinderegeln, wie sie auch in Mk 9,33–37; 10,42–45 und Mt 11,29 überliefert seien.298 Da sie während des Abschiedsmahls Jesu stattfinde, sei für die Lesenden ein grundsätzlicher Bezug zu Tod und Auferstehung Jesu gesetzt, außerdem  Vgl. Holtzmann, Evangelium, 238. zur Forschungsgeschichte Frey, Eschatologie I, 247–251. 294  Vgl. Dodd, Interpretation, 444. 295  Vgl. Dodd, Interpretation, 438 f. 296  Dodd, Interpretation, 401. Ohne von einer literarischen Abhängigkeit auszugehen, sieht Dodd einen Bezug zwischen Joh 13,1–30 und Lk 22,27 und darin auch zu Texten wie Mt 10,24; Lk 6,40; außerdem zu Mk 9,33–37; 10,42–45; Mt 11,29; a. a. O. 393. 297  Vgl. Dodd, Interpretation, 393. 298 Vgl. Dodd, Interpretation, 393. 292

293 Vgl.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

lege sich durch die Waschung ein Bezug zum Sakrament der Taufe nahe.299 Jesus vollziehe die Fußwaschung im Wissen um seinen Auftrag (Joh 13,1.3) als einen Dienst der Demut, die dem Abstieg des Menschensohns in die Niedrigkeit bis zum Tod entspreche, obwohl ihm im Himmel alle göttliche Autorität zu eigen sei.300 „The washing of the feet, therefore, is a ‚sign‘ of the incarnation of the Son of God, consummated by His self-oblation in death.“301 Durch die Fußwaschung bekämen die Jünger Anteil an Jesus, sie sei Zeichen einer Reinigung, die effektiv geschehen sei (Joh 13,10). Dodd hält fest, dass sowohl die Waschung als auch das Wort zur Reinheit der Jünger führen (13,6–10; 15,3), ebenso wie das ewige Leben sowohl durch das Essen und Trinken von Fleisch und Blut Jesu als auch durch die Worte Jesu vermittelt werde (6,54.63.68), so dass darin eine analoge Behandlung der beiden Sakramente durch den Evangelisten erkennbar sei.302 Die Auseinandersetzung mit Judas sieht Dodd als Bestandteil der Fußwaschungserzählung, da die johanneischen Zeichen stets zur krisis, zur Scheidung zwischen Annahme und Ablehnung führten: Nachdem Judas den Jüngerkreis durch das Hinausgehen „in die Nacht“ verlassen habe, seien die Seinen unter sich, so dass die folgenden Dialoge und Reden nun erläutern könnten, wie Gott die Seinen als Kinder Gottes segne (Joh 1,11–12).303 Im Zentrum der sich anschließenden Reden stehe deshalb die Epiphanie Gottes in der Liebe, seine „Emphanie“, die sich in der Einwohnung Jesu offenbare und die den Jüngern nach dem Tod Jesu und aufgrund des Todes Jesu offenstehe.304 Jetzt – nachdem die Ereignisse der Passion in Gang gesetzt seien (Joh 13,1) – würden die Jünger beauftragt, selbst die Liebe Gottes zur Welt zu verkünden, indem sie diese in der gegenseitigen Liebe leben und auf diese Weise zugleich bezeugen (Joh 3,16; 13,34 f.; 17,21.23).305 Die Fußwaschungserzählung ist somit nach Dodd eng verbunden mit Joh 15,1–17 und 17,20–26. Die gegenseitige Einwohnung von Vater und Sohn, durch welche sich die göttliche Liebe und in ihr die Gotteserkenntnis und das ewige Leben offenbare, solle in der gegenseitigen Einwohnung des Sohnes und der

299 Vgl.

Dodd, Interpretation, 401.  Dodd verweist hier auf Phil 2,5–8 und auf Texte aus den Hermetica, die er gemäß dem damaligen Forschungsstand älter als das Johannesevangelium einschätzt und deshalb als Traditionshintergrund desselben betrachten kann; vgl. Dodd, Interpretation, 401.435. 301  Dodd, Interpretation, 401 f. 302  Vgl. Dodd, Interpretation, 402 Anm. Dass die Austeilung und Deutung der Mahlelemente hier fehlen, liege nach Dodd möglicherweise im Schutz des heiligen „Mysteriums“ vor öffentlicher Darstellung begründet, a. a. O. 393 Anm. 303  Vgl. Dodd, Interpretation, 402 f. Die Missverständnisse der Jünger werden von Dodd literarisch als Möglichkeit betrachtet, dass Jesus die Gelegenheit zu erklärenden Lehren bekommt, a. a. O. 404. 304  Dodd verweist darauf, dass Johannes in 14,21 f. als Synonym für ἐπιφάνεια ἐμφάνειαι τοῦ θεοῦ verwende; Dodd, Interpretation, 405 Anm. 305 Vgl. Dodd, Interpretation, 405 f. 300

1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge

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Seinen ihre Fortsetzung finden.306 Nach seinem Abschied seien die Jünger durch die Liebe nach wie vor mit Jesus verbunden, und indem sie selbst lieben, bringen sie Frucht und bleiben sie am Weinstock.307 Die Initiative gehe von Gott aus, der die Welt liebe und dessen Liebe durch das gehorsame Wirken des Sohnes anschaulich und erfahrbar werde (3,16.35; 5,19–20; 13,1; 14,11.24); die persönliche Liebesbeziehung zwischen Jesus und den Seinen verpflichte diese nun nach dem Tod Jesu auf neue Weise dazu, in ihrer Liebe die Offenbarung der Liebe Gottes zur Welt fortzusetzen.308 Die Einheit mit Jesus und mit Gott, die in der Fußwaschung symbolisch, in der Fürbitte Jesu faktisch hergestellt werde, habe folglich sowohl einen personalen Aspekt im Hinblick auf die Beziehung der Gläubigen zu Gott und zu Jesus als auch einen ethischen Aspekt bzgl. ihrer Verpflichtung zu Liebe und Wohltätigkeit.309 Dodd versteht die Fußwaschung als ein johanneisches Zeichen, in dem das Heil, das Jesus durch seine Inkarnation und Erhöhung vermittele, zeichenhaft gegenwärtig werde und das zu einer Liebesgemeinschaft zwischen Gott, Jesus und den Jüngern führe. Die Jünger werden beauftragt, in ihrem Lieben die Liebe Gottes zur Welt auch nach Jesu Abschied zu offenbaren, wie Joh 15,1–17 und 17,20–26 weiter erläutern. Indem Dodd den vorliegenden Text zur Grundlage seiner Interpretation macht und diesen mit einem explizit theologischen Interesse liest, kann Dodd viele inhaltliche Aspekte wahrnehmen und Bezüge sowohl zu weiteren johanneischen Texten als auch zur synoptischen Tradition herstellen. Eine besondere Stärke seiner Interpretation liegt darin, dass er nicht nur eindeutige Interpretationen des johanneischen Textes gelten lässt, sondern verschiedene Bedeutungsmomente als genuin johanneische Aussagen ansehen und nebeneinander stehen lassen kann, wodurch er ein wichtiges Charakteristikum der kreisenden, bildhaften Sprache und Theologie des Johannesevangeliums in seinem Kommentar berücksichtigt. Diese Stärke ist jedoch zugleich auch eine Schwäche, da man sich hier und da eine stärkere Gewichtung oder Zuspitzung der nebeneinanderstehenden Beobachtungen wünschen würde.

1.6.3. Charles Kingsley Barrett (1955) Charles Kingsley Barrett, der einen methodistischen Hintergrund hat, gilt als einer der bedeutendsten britischen Neutestamentler des 20. Jahrhunderts neben Charles H. Dodd. Er interpretiert das Johannesevangelium als einen Entwurf, der eine neue und zeitgemäße, gegen den Gnostizismus gerichtete Auslegung des Evangeliums darstelle und deshalb, auch wenn Stoff aus unterschiedlichen 306 Vgl.

Dodd, Interpretation, 398 f.  Vgl. Dodd, Interpretation, 418. 308  Vgl. Dodd, Interpretation, 405 f. 309 Vgl. Dodd, Interpretation, 421 f. 307

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

Quellen verwendet wurde, als innere Einheit betrachtet werden könne.310 Sein erkenntnisleitendes Interesse gilt der Theologie des Evangeliums, die er als einen neuen, in einer bestimmten zeitgeschichtlichen Situation erforderlichen Entwurf der Geschichte und Bedeutung Jesu betrachtet. Im Hinblick auf Glaube und Liebe als Brennpunkte der Theologie sei eine Nähe zwischen Paulus und Johannes festzustellen, ohne dass Johannes jedoch die paulinische Antithese zwischen Glauben und Werken vertrete.311 Vielmehr sei der Glaube selbst das Werk, das Gott von den Menschen fordere (Joh 6,29), wobei der Glaube von Johannes weniger als ein Vertrauen, sondern vielmehr als das Erkennen der Person und Rolle Jesu und als das Annehmen seiner Lehre verstanden werde (v. a. Joh 20,31).312 Die Fußwaschung versteht Barrett als eines der johanneischen Zeichen: Diese seien nach Johannes im alttestamentlichen Sinn „besondere Offenbarungen des Wesens und der Macht Gottes, und teilweise wirksame Realisierung seiner Erlösung.“313 Die Wunder seien als Zeichen Hinweise auf die eschatologische Bedeutung des Wirkens Jesu, die aber nur durch den Glauben erkannt werden könnten: „Für jene, die glauben, sind die Wunder Zeichen, die ihren Glauben nähren; für jene, die nicht glauben, könnte man die Zeichen unendlich vervielfachen, ohne daß sie Glauben bewirken würden (12,37).“314 Barrett selbst vertritt die Ansicht, dass die – nicht eindeutig erkennbaren – Anspielungen auf Sakramente (wie etwa Joh 19,34) weder aus „religiöser Erfahrung“ noch aus der „Erfahrung des erhöhten Jesus selbst“ stammen, sondern aus dem „geschichtlichen Schauplatz menschlichen Gehorsams, Leidens und Sterbens, welche die demütige und dienende Liebe Jesu für die Seinen offenbarte“, so dass alle Anspielungen auf Sakramente aus dem „Kontext der wirklichen Menschheit und wirklichen Niedrigkeit Jesu stammen“.315 Nach Barrett könne die Trennung von Abendmahlsüberlieferung (Joh 6,51–58) und der Erzählung des letzten Mahles Jesu im Johannesevangelium (Joh 13,1–30) darauf zurückzuführen sein, dass die johanneische Gemeinde mit der Verbindung von Gemeinschaftsmahl und Abendmahl schlechte Erfahrungen gemacht habe.316 Die Fußwaschung sei kein Ersatz der Taufe, auch nicht für die Apostel, sondern sie deute vielmehr die Taufe.317 Die Fußwaschungserzählung ist für Barrett eine symbolische Erzählung, welche die Kreuzigung abbilde und im Anschluss an eine Tradition, wie sie in 310 Vgl.

Barrett, Evangelium, 39.  Vgl. Barrett, Evangelium, 72. 312  Vgl. Barrett, Evangelium, 74. Auch hier sieht Barrett aber keinen expliziten Widerspruch zu Paulus, da auch Johannes davon spreche, dass der Glaubende nicht in das Gericht komme (Joh 5,24; auch 3,18), a. a. O. 73. 313  Barrett, Evangelium, 92. 314 Barrett, Evangelium, 93. 315  Barrett, Evangelium, 99. 316  Vgl. Barrett, Evangelium, 101. 317 Vgl. Barrett, Evangelium, 433. Barrett entscheidet sich in Joh 13,10 für den Kurztext. 311

1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge

55

Lk 22,27 zum Ausdruck komme, vom Evangelisten gebildet worden sei.318 „Der demütige Dienst des Menschensohns wird so in einer sprechenden Erzählung herausgestellt.“319 Die Fußwaschung wird von Barrett als ein niedriger Dienst verstanden, der einem jüdischen Sklaven nicht zugemutet worden sei; da sie allerdings von Ehefrauen, Kindern und Schülern gegenüber Ehemännern, Eltern und Rabbinen ausgeübt wurde, dürfe der demütigende Aspekt auch nicht übertrieben werden.320 Indem Jesus die natürlichen Verhältnisse umdrehe, zeige er seine Demut.321 Die Fußwaschung sei zugleich wirksam und beispielhaft: Einerseits entspreche die Waschung der Kreuzigung, welche Reinigung von der Sünde ermögliche.322 Andererseits müssten die Jünger Jesu die gleiche Demut zeigen, wenn sie Jesus nachfolgen wollten.323 Die beim Abschiedsmahl teilnehmenden Jünger würden primär die Glaubenden repräsentieren und damit die Kirche, die sich allerdings gerade nicht durch Vollkommenheit im Glauben auszeichne.324 Zum Teil gehe es in Joh 13 auch explizit um die Rolle eines Apostels (v. a. Joh 13,16), der darauf vorbereitet sein müsse, „seinen Auftrag in Erniedrigung zu erfüllen und abgelehnt zu werden“.325 Johannes kenne und verwende die vielfältigen Traditionen des Judentums, sehe die Kirche allerdings als einen Ersatz für das jüdische Heilsvolk.326 Der Glaube habe ethische Implikationen, was durch das Liebesgebot konkretisiert werde, das zwar nach innen gelte, allerdings der Mission und somit der Öffnung nach außen diene.327 Im Anschluss an Bultmann versteht Barrett dies nicht als Imitatio Jesu im Sinne eines (verdienstlichen) Werks der Jünger, sondern als ihr neues Sein, das durch die Begegnung mit Jesus ermöglicht werde.328 1 Tim 5,10 zeige, dass zur Zeit der Entstehung des Johannesevangeliums das „Waschen der Füße der Heiligen“ eine verbreitete Metapher für den Dienst der Christen gewesen sei.329 Diese weitreichende Feststellung kann der einzige neutestamentliche Beleg einer Fußwaschung in der Briefliteratur allerdings nicht tragen. Die Fußwaschungserzählung setze nach Barrett narrativ in Szene, was Lk 22,27 über den Dienst Jesu ausdrücke. Barrett vertritt eine soteriologische Deutung der Fußwaschungserzählung, die als Abbild des demütigen Dienstes  Vgl. Barrett, Evangelium, 429. Evangelium, 428. 320  Vgl. Barrett, Evangelium, 432. 321  Vgl. Barrett, Evangelium, 432. 322 Vgl. Barrett, Evangelium, 429. 323  Vgl. Barrett, Evangelium, 430. 324  Vgl. Barrett, Evangelium, 109. Nur wenn Gott sie zieht, können sie zum Glauben kommen (Joh 6,44) und auch dann gilt noch, dass sie Jesus nicht kennen (Joh 14,9) und ihr Glaube noch nicht tragfähig sei (Joh 16,31 f.); ebd. 325  Barrett, Evangelium, 110. 326 Vgl. Barrett, Evangelium, 73, 108. 327  Vgl. Barrett, Evangelium, 111. 328  Vgl. Barrett, Evangelium, 435. 329 Vgl. Barrett, Evangelium, 435. 318

319 Barrett,

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

Jesu am Kreuz zu verstehen sei und deshalb das Heil der Jünger stiften könne. Die beiden Deutungen der Fußwaschung kann Barrett verbinden, da er durch die Vermittlung des Heils effektiv ein neues Sein der Jünger erreicht sieht, welche nun auch selbst aus der Liebe leben könnten und sollten. Er steht damit in der Linie Bultmanns, wenn er betont, dass weder eine Imitatio Jesu noch Werkgerechtigkeit vorlägen. Die in der Fußwaschungserzählung anwesenden Jünger würden sowohl in ihrer Rolle als Nachfolgegemeinschaft als auch als zukünftige Amtsträger wahrgenommen (13,16). Das Bestreben Barretts, möglichst viele Verbindungslinien zu anderen frühchristlichen Traditionen und Schriften herzustellen und zum Beispiel Bezüge auf Taufe, Abendmahl, zu Gemeinderegeln wie Mk 10,42–45 oder auch ausgehend von 1 Tim 5,10 die Fußwaschung als verbreitete Metapher für den christlichen Liebesdienst auch in Joh 13 finden zu wollen, führt dazu, dass das eigenständige Profil von Joh 13,1–30 von Barrett nur begrenzt wahrgenommen werden kann.

1.6.4. James D. G. Dunn (1970) Drei zentrale Fragen stellt sich der ausgehend von einer methodistischen und lutherischen Tradition forschende Neutestamentler James Dunn in seinem Artikel „The Washing of the Disciples’ Feet in John 13:1–20“ von 1970, dessen Interesse der theologischen Interpretation des Abschnitts gilt: 1) Ist die Bedeutung von Joh 13,1–11 vereinbar mit der von Joh 13,12–20? 2) Welche Lesart in Joh 13,10 kann mehr überzeugen? 3) Hat die Fußwaschungserzählung einen sakramentalen Bezug?330 Dunn versteht die Fußwaschungserzählung als ein johanneisches Zeichen (σημεῖον), welches auf Jesu Verherrlichung, d. h. auf Jesu Tod, Auferstehung, Rückkehr zum Vater und die Gabe des Geistes verweise.331 Jesu Autorität (Joh 13,3) sei Autorität zum Dienen und zur Selbsterniedrigung in Inkarnation und Tod.332 Das Unverständnis des Petrus (13,7) erinnere an Joh 2,22; 12,16; 14,26; 16,13 und verweise auf den tieferen Sinn der Fußwaschung: „What he is doing ἄρτι is to act out in parable his coming death on the cross. μετὰ ταῦτα the Spirit will illuminate the significance of the foot-washing by the light of the cross.“333 Wie in Mk 10,42–45 werde in Joh 13,1–20 die Thematik des liebenden demütigen Dienstes behandelt, wie er am tiefsten in seinem freiwilligen Tod für die Seinen 330 Vgl.

Dunn, Washing, 247.  Vgl. Dunn, Washing, 247. 332  Vgl. Dunn, Washing, 248. Er sieht im Ablegen der Kleider in Joh 13,4 einen möglichen Hinweis auf Joh 10,11.15.17.18; 13,37 f.; 15,13; 1Joh 3,16, möchte jedoch den Textbefund auch nicht überinterpretieren. 333  Dunn, Washing, 248. Er bezieht sich auf Robinson, Significance, der in Joh 13,1–11 eine Entsprechung zu Mk 10,32–45 sieht; a. a. O. 249. 331

1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge

57

zum Ausdruck komme (13,34; 15,12).334 Auch wenn der Tod Jesu weder in sich selbst noch im Hinblick auf seine reinigende Wirkung (13,10) nachgeahmt werden könne, könne er dennoch Vorbild für einen demütigen Dienst der Jünger sein (13,12–20), so wie in Joh 12,24 eine soteriologische Deutung des Todes Jesu mit einer paränetischen Mahnung zur Nachahmung verbunden sei.335 Die Fußwaschung symbolisiert nach Dunn also sowohl die Selbsthingabe Jesu in den Tod als auch das Heil, dass dieser erschließe und welches in der Reinigung bestehe. In Joh 13,9 formuliere Petrus eine Bitte, die sich auf die materielle Ebene der Zeichenhandlung Jesu beziehe und den übertragenen Sinn – die vollständige Reinigung durch den Tod Jesu – missverstehe; Jesus wechsele deshalb in seiner Antwort das Bild, um die Feststellung der völligen Reinheit zu verdeutlichen (13,10 Kurztext).336 Eine sakramentale Deutung habe Johannes jedoch nicht im Sinn, da es um eine spirituelle Reinigung gehe, die man erhalte, indem man das Wort Jesu annehme und sich mit seinem Tod identifiziere.337 Die an den theologischen Aussagen des johanneischen Textes interessierte Interpretation Dunns führt zu dem Ergebnis, dass die Fußwaschung eine Zeichenhandlung sei, die auf den heilsbringenden Tod Jesu verweise und dennoch zugleich im Sinne eines demütigen, liebenden Dienstes nachgeahmt werden könne. Joh 13,1–20 wird als in sich stimmiger, zusammenhängender Text verstanden.

1.6.5. Ernst Haenchen (1980) Der Johanneskommentar von Ernst Haenchen wurde 1980 posthum von Ulrich Busse herausgegeben. Als Schüler Bultmanns war Haenchen dennoch ein Kritiker seiner Johannesinterpretation, der vehement bestritt, dass der Evangelist eine existentiale Theologie und eine Entmythologisierung vertreten habe, wie Bultmann dies annahm.338 Das erkenntnisleitende Interesse Haenchens gilt der Christologie im Johannesevangelium. Haenchen hat aufgezeigt, dass für den vierten Evangelisten nicht nur das „Dass des Gekommenseins“, sondern das gesamte Erdenleben Jesu der Weg sei, auf dem die Liebe Gottes offenbart werde, „das aber erst im Lichte der Auferstehung, in der Spendung des Geistes durch den Auferstandenen von den nun erst zum Glauben Befähigten gehört

334 Vgl.

Dunn, Washing, 249.  Vgl. Dunn, Washing, 249. 336  Vgl. Dunn, Washing, 250. Dunn verweist für vergleichbare Wechsel zwischen materieller und symbolischer Ebene auf die Kapitel Joh 3, Joh 4 und Joh 6. 337  Vgl. Dunn, Washing, 252; auf diese Weise erkläre sich auch, warum Judas unrein bleibt, obwohl er die Fußwaschung erhielt. 338 Vgl. Busse, Ernst Haenchen, 130. Frey, Eschatologie I, 180 f.; Schnelle, Literatur I. Kommentare, 266. 335

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

und verstanden werden kann“.339 In der Gesandtenchristologie sieht er die zentrale johanneische Vorstellung, von der aus er die Einheitsaussagen mit Gott interpretiert.340 Den Abschnitt 13,1–30 behandelt Haenchen unter dem Titel „Das letzte Mahl“ und sieht darin eine „Entjudaisierung“, da Johannes mit der Fußwaschungserzählung vermeiden wollte, die alte Tradition eines Passamahls zu übernehmen.341 Die nahende Sterbestunde sei im Johannesevangelium nichts, „das schreckt und ängstet. Vielmehr erlaubt sie und bringt sie die Vollendung eines großen Werkes“.342 Zurecht bekomme sie nicht die Bezeichnung „Todesstunde“, sondern sie werde feierlich umschrieben mit dem wahren Sinn, den sie habe, als „die Stunde, hinüberzugehen aus dieser Welt zum Vater“.343 Nachdem Jesus die Seinen, die in dieser Welt sind, geliebt hat – all seine Worte und Werke gehörten zu dieser gar nicht sentimentalen Liebeserweisung –, gibt er den Seinen nun den letzten und abschließenden Liebesbeweis. Die Fußwaschung, die er sogleich vollziehen wird, ist – vorläufig freilich nur insgeheim – eine Vorwegnahme des Geschehens am Kreuz und drückt dessen Sinn als Tat Jesu anschaulich aus. Diese Vorwegnahme war nötig, da der Evangelist die Sterbeszene selbst nicht als solche Liebestat darstellen konnte.344

Die Kreuzigung sei dagegen, auch durch die Tradition, viel zu sehr vom Leidensgedanken bestimmt.345 Obwohl die Fußwaschung auch von Haenchen als Sklavendienst betrachtet wird, hält er doch fest, dass Jesus in „königlicher Freiheit“ handele.346 Da Haenchen es unrealistisch findet, dass mit einem Wasser vierundzwanzig Füße gewaschen werden, geht er von einer stilisierten Darstellung aus, die möglicherweise auf ein bekanntes Ritual in der Gemeinde zurückzuführen sei.347 Zu Joh 13,6 hält er fest, dass Petrus sich hier dagegen wehrt, dass der Lehrer seinen Schülern die Füße wasche.348 Petrus stehe hier vor dem Skandalon des Kreuzes, denn der Evangelist verstehe die Fußwaschung Jesu als „Tat der sich erniedrigenden Liebe, die im Kreuz ihren Höhepunkt erreicht“.349 Das Heil, das Jesus vermittle, sei die Gemeinschaft mit ihm.350 Von daher sei die Fußwaschung – unabhängig von den verschiedenen Lesarten in Joh 13,10 – nicht  Haenchen, Vater, 72; vgl. auch Haenchen, Johannesevangelium, 108. Haenchen, Johannesevangelium, 107 f. 341  Vgl. Haenchen, Johannesevangelium, 454. Auch dass Jesus selbst das wahre Passalamm sei, kann Haenchen im Johannesevangelium nicht finden; ebd. 342 Haenchen, Johannesevangelium, 454. 343  Haenchen, Johannesevangelium, 454. 344  Haenchen, Johannesevangelium, 454. 345 Vgl. Haenchen, Johannesevangelium, 454 f. 346  Haenchen, Johannesevangelium, 455. 347  Vgl. Haenchen, Johannesevangelium, 456. 348 Vgl. Haenchen, Johannesevangelium, 456.458. 349  Haenchen, Johannesevangelium, 457. 350  Haenchen bezieht sich hier auf die alttestamentliche Wortverwendung, die er z. B. in 2 Sam 20,1 belegt sieht; Haenchen, Johannesevangelium, 457. 339

340 Vgl.

1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge

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als reinigende sakramentale Waschung relevant, sondern nur als Ausdruck der Hingabe Jesu, die Gemeinschaft ermögliche.351 Von hier aus versteht Haenchen Joh 13,12 ff., mit dem der Evangelist unmittelbar an 13,7 anschließe und die Frage des Petrus beantworte: Bei der Selbsterniedrigung und Hingabe Jesu in Fußwaschung und Kreuzigung liege der Ton auf der Liebe (Joh 13,1.34), und in diesem Sinn, nicht als Erlösungsgeschehen, sollen die Jünger das Verhalten Jesu nachahmen.352 Eine Bezeichnung der Deutung von Joh 13,14 f. als paränetisch oder ethisch sei nach Haenchen unangemessen, da sie trenne, was zusammengehöre: „Jesu Handlung der Fußwaschung  – die Selbsthingabe bis in den Tod anzeigend  – ist seine rettende Offenbarungstat. Man kann nicht mit ihm und dadurch mit dem von ihm offenbarten ‚Vater‘ in Gemeinschaft treten, wenn man selbst nicht zu dieser Selbsthingabe bereit ist.“353

Joh  13,16 versteht Haenchen als an die Geschichte angewachsenes Spruchgut zum Thema Demut, 13,18–20 sieht er als Erklärung für die Leser, dass Jesus durch die Untreue des Judas weder überrascht noch die Erwählung seiner Jünger dadurch in Frage gestellt werde.354 Haenchen sieht in der Fußwaschung einen sinnfälligen Ausdruck für die „sich ganz hingebende Liebe Jesu“ – darin ein Abbild des Kreuzestodes Jesu –, welche die Gemeinschaft mit Jesus und mit Gott ermögliche und nur angenommen werden könne, wenn sie auch die Existenz der Glaubenden, die Beziehung der Nachfolgenden zueinander bestimme.355 Haenchen gelingt es durch seinen Ansatz bei der Christologie, die beiden Deutungen der Fußwaschung unter dem Aspekt der Liebe in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen, so dass die Ermöglichung von Gemeinschaft als Ziel und Aufgabe für die Jünger erscheint.

1.6.6. Bincy Mathew (2018) Bincy Mathew verwendet in ihrer Dissertation schwerpunktmäßig Methoden der historisch-kritischen Exegese.356 Sie setzt jedoch voraus, dass das Johannesevangelium insgesamt von einem Autor geschrieben wurde, der die synoptischen Evangelien kannte und sich, insbesondere in Joh 13,1–20, in kreativer Art und Weise auf diese bezog, um sein eigenes Verständnis der Sendung Jesu darzustellen.357 Der Evangelist ziele gemäß Joh 20,31 darauf, Glauben an Jesus zu wecken  Vgl. Haenchen, Johannesevangelium, 457 f.  Vgl. Haenchen, Johannesevangelium, 459. 353 Haenchen, Johannesevangelium, 466. 354 Vgl. Haenchen, Johannesevangelium, 460 f. 355  Vgl. Haenchen, Johannesevangelium, 466. 356  Mathew, Footwashing, 6 f. 357 Vgl. Mathew, Footwashing, 8.199 f. 351 352

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

bzw. zu stärken und charakterisiere die von ihm dargestellten Inhalte als Zeichen (σημεῖα).358 Der Tod Jesu werde bei Johannes dargestellt als „the result of his unfailing love for ‚his own‘, such that his disciples, being the partakers in his life, may follow and become his representatives in the world.“359 Die forschungsgeschichtliche Darstellung stellt sie unter die leitende Frage, ob die Fußwaschung in einem sakramentalen Sinn verstanden werde, um abschließend die Einheitlichkeit von Joh 13,1–20 und die Textkritik in Joh 13,10 als zentrale Aspekte zu problematisieren.360 Textkritisch entscheidet sie sich für den Langtext, wobei sie unter dem Bad die Reinigung durch den Glauben, d. h. die Annahme der Worte Jesu versteht (15,3), während die Fußwaschung auf die Teilhabe an dem Leben bzw. der Liebe Jesu ziele (13,8).361 Sie sieht kein sakramentales Verständnis der Fußwaschung in Joh 13. Die Belege von Fußwaschungen in der antiken jüdischen, griechischen und römischen Literatur analysiert sie mit der Perspektive, ob bzw. inwiefern es sich um Parallelen zur Fußwaschung Jesu handelt.362 Ein forschungsgeschichtlicher Überblick zeigt die Schwierigkeit, die Vorkommen der Fußwaschung in Kategorien einzuteilen, doch dieser Aspekt wird von Mathew nicht weiter problematisiert. Sie selbst wählt schließlich eine Aufteilung der Belege nach Kulturkreisen sowie die Unterscheidung mit Blick auf die Subjekte der Fußwaschung dahingehend, ob die eigenen Füße oder die eines anderen gewaschen werden, bevor sie einzelne Anlässe bzw. Situationen und Bedeutungszuschreibungen konkret thematisiert.363 Zum Teil werden auch Schlussfolgerungen über die Fußwaschung aus Texten gezogen, in denen die Fußwaschung gerade nicht angesprochen wird.364 Die Analyse der Belegtexte bleibt im Rahmen der bekannten Forschungsergebnisse. Entsprechend allgemein und für das Textverständnis von Joh 13 wenig hilfreich sind dann auch die Gemeinsamkeiten, die sie zwischen  Vgl. Mathew, Footwashing, 7 f. Footwashing, 5. 360  Vgl. Mathew, Footwashing, 39. 361  Vgl. Mathew, Footwashing, 68. 418. Dazu in Spannung steht jedoch ihr Fazit, dass die Fußwaschung Jesu auf die Kreuzigung Jesu verweise und deshalb als Ausdruck tiefster Liebe zugleich auch reinigende, d. h. sündenvergebende Wirkung habe; vgl. z. B. a. a. O. 388 f. Die Funktion des Petrus als Erzählfigur ist in der vorliegenden Missverständnisszene gerade nicht die einer „realistic figure in whom we see the feeble human nature“ (a. a. O. 388), sondern eines Gesprächspartners Jesu, dem gegenüber der johanneische Jesus die Bedeutung seiner Handlung erläutern und Missverständnisse abwehren kann. 362 Vgl. Mathew, Footwashing, 69. 363  Vgl. Mathew, Footwashing, 74–122. 364  Vgl. Mathew, Footwashing, 113 f. mit Blick auf die Saturnalia und vergleichbare Feste; mit Blick auf Suet.Cal. 26,2 vgl. a. a. O. 122. Gravierend ist, dass sie gerade aus diesen Texten ableitet, dass die Fußwaschung nicht nur ein typischer Sklavendienst ist, sondern sogar ein besonders erniedrigender. Diese Problematik lässt sich jedoch auch in anderen Studien finden, gerade auch mit Blick auf die Interpretation von Suet.Cal. 26,2 vgl. bereits grundlegend Kötting, Fußwaschung, 753. Differenziert dazu jedoch Niemand, Fußwaschung, 245. 358

359 Mathew,

1.6. An den theologischen Wahrheiten interessierte Zugänge

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der johanneischen Fußwaschungserzählung und den untersuchten Belegen sieht: Weder den Aspekt der alltäglichen Reinigung noch die gastfreundliche Fußwaschung sieht sie als „substantial parallels to the Johannine footwashing“365, während sie als Ergebnis betont, dass es sich in Joh 13 um eine singuläre Form der Fußwaschung handelt, weil die Fußwaschung selbst minutiös beschrieben werde und Jesus als der Herr in der Rolle eines Sklaven den ihm untergeordneten Schülern die Füße wasche.366 Beide Feststellungen sind jedoch bei einer sorgfältigen Analyse antiker Belegtexte von Fußwaschungen so nicht haltbar.367 Bei der Analyse der Struktur und der Stellung von Joh 13,1–20 im Kontext des ganzen Evangeliums liegt ihr Schwerpunkt auf der Herausarbeitung einer konzentrischen Gliederung von Joh 13, in deren Zentrum sie die Aufforderung Jesu zur Nachahmung seines Beispiels sieht. Die Fußwaschungserzählung bewertet sie als integralen Bestandteil von Joh 13–17 gemäß dem johanneischen „action-dialogue-discourse (monologue) pattern“.368 Ein weiteres schwerpunktmäßig forschungsgeschichtliches Kapitel befasst sich mit der literarkritischen Frage nach der Entstehung der Fußwaschungsgeschichte und der möglichen Abhängigkeit von den Synoptikern.369 Als Ergebnis hält sie fest, dass Johannes sein Evangelium in Kenntnis der Synoptiker kreativ verfasst habe, wobei sie eine besondere Abhängigkeit von Lk 7,36–50 und 22,24–27 beobachtet.370 Bei der detaillierten Interpretation von Joh 13,1–20 folgt Mathew der von ihr herausgearbeiteten konzentrischen Struktur. In der Fußwaschung offenbare sich Jesus, der Lehrer und Herr, als der wahre Sklave, der sich von anderen Herren und Lehrern unterscheide.371 Joh 13,7 f. beschreibe Jesu Auftrag und verweise auf seinen Tod (10,25; 14,12).372 „The dynamic force which causes the movement of the Son from God is the love of the Father for the world (3:16) and that which causes Jesus’ departure from the world to God is also Jesus’ utmost love for his own (13:1).“373 Jesus beauftrage die Jünger, seinem Beispiel zu folgen (13,16), allerdings sei die Sendungsterminologie in der zweiten Vershälfte nur in einem „non-technical use of the term“ zu verstehen.374 Teilhabe an Jesus (13,8) sei relational zu verstehen und sei „an ongoing appropriation of the salvific work 365 Mathew,

Footwashing, 125.  Vgl. Mathew, Footwashing, 124–127. 367  Eine vergleichbar detailliert beschriebene Fußwaschung findet sich z. B. in Hom.Od. 19,317–388, v. a. Hom.Od. 19,374–381. Die Fußwaschung des Favonius an Pompeius (Plut. Pompeius 73) hat zumindest einen freien Mann als Subjekt und sollte deshalb als relevanter Vergleichstext nicht so schnell ausgeschlossen werden, wenn die Bedeutung der Fußwaschung Jesu untersucht wird; a. a. O. 126. 368  Vgl. Mathew, Footwashing, 164; auch 420. 369  Vgl. Mathew, Footwashing, 201–231. 370 Vgl. Mathew, Footwashing, 231. 371 Vgl. Mathew, Footwashing, 354. 372  Vgl. Mathew, Footwashing, 376. 373  Mathew, Footwashing, 354. 374  Vgl. Mathew, Footwashing, 354. 366

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

of Jesus in one’s life (cf. 13:17) which will have a culmination in the future.“375 „Since the action is a metaphor for Jesus’ death, his death implies love and life, which are complimentary in the Gospel.“376 Obwohl Mathew das Johannesevangelium als einheitliches literarisches Werk eines kreativen Verfassers betrachtet, der die Synoptiker kenne und sich in Joh 13,1–20 insbesondere auf Lk 7,36–50 und 22,24–27 beziehe, gelingt es ihr bei der Analyse nicht, diese Perspektive durchzuhalten. Bei der Anwendung von Methodenschritten der historisch-kritischen Exegese übernimmt sie häufig auch deren an der Textgenese orientierte Perspektive auf die untersuchten Texte, so dass wichtige eigene Textbeobachtungen gegenüber verbreiteten Forschungspositionen nicht ausreichend Berücksichtigung finden. Dies zeigt sich insbesondere im Verständnis der Fußwaschung als Sklavendienst. Obwohl sie zurecht betont, dass die Fußwaschung sowohl in Lk 7,36–50 als auch in Joh 12,1–8 ein Ausdruck inniger Liebe und Verbundenheit sei, wenn auch mit Frauen als Subjekten, während die Konnotation eines Sklavendienstes sowohl in diesen Texten als auch in Lk 22,24–27 gerade fehlten,377 hält sie als Ergebnis daran fest, dass Jesus als Herr und Lehrer hier in der Rolle des Sklaven die Füße seiner Jünger wasche. Obwohl sie die metaphorische Bedeutung der Fußwaschung in der Liebe sieht, an der Jesus die Seinen im Auftrag des Vaters teilhaben lasse, ergänzt sie den durch die Fußwaschung Jesu erbrachten Liebeserweis über den johanneischen Text hinausgehend um eine im materiellen Sinn reinigende Funktion, indem sie in Joh 13,1–20 einträgt, dass Jesus die „schmutzigen“ Füße der Jünger wasche.378 Dennoch kann sie als ein wichtiges Ergebnis festhalten, dass Jesus in der Fußwaschung auf seine Sendung verweise und mit der Aufforderung Jesu zur Nachahmung dieses Hypodeigmas die Jünger selbst zu Gesandten Jesu werden.

1.6.7. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung Die Interpretationen, welche an der Theologie des Johannesevangeliums interessiert sind und den Text als einen zusammenhängenden und kohärenten Sinnzusammenhang voraussetzen, zeichnen sich dadurch aus, dass sie Verbindungslinien zwischen den einzelnen Textabschnitten wahrnehmen und die Fußwaschungserzählung in den vorliegenden Kontext des Johannesevangeliums einordnen. Die Fußwaschung Jesu wird meistens als demütiger Liebesdienst verstanden, der auf den Tod Jesu (Barrett; Dunn; Haenchen; Mathew) bzw. auf  Mathew, Footwashing, 383.  Mathew, Footwashing, 405. 377 Vgl. Mathew, Footwashing, 93–96. 378  Mathew, Footwashing, 418: „Our reading of the footwashing seeks to understand the text through the eyes of the protagonist of the narrative, viz., Jesus, a real agent who carefully washes the dirty feet of his disciples.“ 375 376

1.7. Literaturwissenschaftlich orientierte Zugänge

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sein gesamtes Wirken (Holtzmann; Dodd; Mathew) verweise, wodurch Jesus den Jüngern das Heil vermittle. Die Pflicht der Jünger wird in der Regel als Nachahmung des demütigen oder liebenden Dienens Jesu verstanden (Holtzmann, Dunn, Haenchen), zum Teil wird festgehalten, dass die Liebe der Jünger auch missionarische Züge habe (Dodd; Barrett, Mathew). Manchmal wird explizit darauf hingewiesen, dass es eine Differenz zwischen dem soteriologisch relevanten Dienen Jesu und dem heilenden, aber nicht heilschaffenden Dienen der Jünger gebe. Interessante Beobachtungen ergeben sich aus dem Ansatz von Dodd, der für einzelne Erzählzüge mehrere Deutungsmöglichkeiten erkennt und zulässt und dadurch ein vielschichtiges Bild erhält. Mathew sieht im Nachahmungsbefehl die Sendung der Jünger, um zu lieben, versteht dies jedoch in einem nicht-technischen Sinn.

1.7. Literaturwissenschaftlich orientierte Zugänge 1.7.1. Alan Culpepper (1991) In seinem Aufsatz „The Johannine Hypodeigma: A Reading of John 13“ von 1991 legt Alan Culpepper, der für seine profunden narratologischen Analysen des Johannesevangeliums bekannt ist, eine Interpretation vor, welche Joh 13 als einen zusammenhängenden sinnvollen Text betrachtet. Culpepper sieht in Joh 13 einen Konflikt zwischen Wissen und Nichtwissen, welcher das gesamte Kapitel durchziehe.379 Die Fußwaschung nehme proleptisch und metaphorisch Jesu Tod voraus, um diesen für die Lesenden zu deuten und zu illustrieren, dass sich darin Gottes Liebe für die Seinen in der Welt vollständig offenbare.380 Die Missverständnisse des Petrus in Joh 13,6–11 dienten dazu, die Lesenden über die Bedeutung von Fußwaschung bzw. Tod Jesu zu informieren, der als Heilstod die Jünger reinige.381 In Joh 13,12–17 erläutere der johanneische Jesus seinen Jüngern – und darin primär den nachösterlichen Lesenden  – die Konsequenzen aus seinem Verhalten: Auch von diesen werde die Bereitschaft erwartet, für einander zu sterben (vgl. 15,13; 16,2; 21,19).382 Er begründet dies unter anderem mit der Verwendung des eher seltenen griechischen Begriffs Hypodeigma (ὑπόδειγμα), der in der Septuaginta explizit verwendet werde, um einen vorbildlichen, ehrenhaften Tod zugunsten eines Volkes oder eines Menschen zu beschreiben (v. a. 2 Makk 379 Culpepper,

Hypodeigma, 133–137.  Vgl. Culpepper, Hypodeigma, 139. 381  Vgl. Culpepper, Hypodeigma, 140. Culpepper geht in Joh 13,10 vom Kurztext aus. 382 Culpepper verweist hier auf Mk 10,45; Culpepper, Hypodeigma, 141 f. 380

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

6,28.31; 4 Makk 17,22 f.; vgl. auch Sir 44,16).383 Damit sei auch die zweite Deutung der Fußwaschung nicht nur eine zum demütigen Dienst ermahnende paränetische Interpretation, sondern führe die erste Deutung mit Bezug auf den Tod Jesu weiter.384 Während in der Diskussion um die Frage nach dem Jünger, der ihn übergeben werde (Joh 13,21–30), die Thematik von Wissen und Unwissen erneut aufgenommen werde, hätten die Darstellung des Liebesgebots und der abschließende Dialog mit Petrus über die Nachfolge in den Tod erneut einen engen Bezug zur Fußwaschung: Jesus ermahne seine Jünger durch die Fußwaschung und die anschließenden Belehrungen, sich gegenseitig zu lieben, auch wenn diese Liebe es erfordere, dass man sein Leben für den andern lassen müsse – Jesu Tod werde so zum Modell für die Nachfolgegemeinschaft und die Liebe der Seinen zur Offenbarung der Liebe Gottes in der Welt.385 Damit gelingt es Culpepper, das gesamte Kapitel in einer kohärenten Weise zu interpretieren und die Fußwaschung als eine Zeichenhandlung zu deuten, die Jesu tiefe, bis zum Tod reichende Liebe illustriere und diese Liebe, welche die Bereitschaft zum Martyrium einschließe, zugleich zur Norm für das Verhalten der ihm Nachfolgenden mache. So wie die Liebe Jesu Inhalt seiner Sendung durch Gott sei und Gottes Liebe offenbare, so sollen auch die Jünger durch ihr Lieben weiterhin die Liebe Gottes zur Welt offenbar machen.

1.7.2. Francis J. Moloney (1993–1998) Moloney hat zwischen 1993 und 1998 einen dreibändigen Kommentar verfasst, in dem er das Johannesevangelium narratologisch untersucht.386 Außerdem erschien danach sein Johanneskommentar in der Reihe „Sacra Pagina“, der inhaltlich zwar mit dem ersten Kommentar übereinstimmt, sich aber in Aufbau und Methodik an den Vorgaben der Reihe orientiert. Den folgenden Ausführungen wird die dreibändige Kommentierung Moloneys zugrunde gelegt. Moloney geht zwar nicht davon aus, dass das Johannesevangelium an einem Stück geschrieben ist, sondern nimmt eine sich über einen längeren Zeitraum erstreckende und mit einem Relecture-Prozess verbundene Entstehung an387, dennoch gilt seine Interpretation explizit dem Endtext, der aus der Perspektive des Lesenden wahrgenommen und interpretiert wird. Orientiert an einem narratologischen Textverständnis analysiert und interpretiert er das Johannesevangelium als Erzählung eines impliziten Autors für den impliziten Leser, der wiederum mit dem fak-

383 Culpepper,

Hypodeigma, 142 f.  Culpepper, Hypodeigma, 143. 385  Vgl. Culpepper, Hypodeigma, 146 f. 386 Vgl. Moloney, Belief, zu Joh 1–4; ders. Signs, zu Joh 5–12; ders., Glory, zu Joh 13–21. 387  Vgl. insbesondere zu Joh 13 Moloney, Glory, 3 Anm. 384

1.7. Literaturwissenschaftlich orientierte Zugänge

65

tischen Leser interagiere.388 Das Evangelium sei eine Ausführung des Prologs (1,1–18) und erläutere, wie in Jesus die Herrlichkeit des Logos sichtbar werde und wie man von ihm die Gabe der Fülle empfangen könne (Joh 1,14c.16b).389 Moloney betrachtet die Kapitel 13–17 als einen zusammenhängenden, in der Tradition der Testamentenliteratur390 stehenden Abschnitt im Johannesevangelium, wobei er das gesamte Kapitel 13 als Einleitung der Abschiedsreden sieht und einen engen Bezug zu Kapitel 17 herstellt, so dass er sowohl Joh 13 als auch Joh 17 unter die Überschrift „Making God known“ stellt.391 Anhand der in Joh 13 auffallend häufig vorkommenden Satzeinleitungen mit einem doppelten Amen gliedert er Joh 13: In 13,1–17 gehe es um die Fußwaschung und ihre Deutungen, 13,18–20 enthalte als Höhepunkt des Kapitels eine Selbstoffenbarung Jesu gerade angesichts der Fehlbarkeit der von ihm gewählten Jünger, und 13,21–38 beschreibe die Gabe des Brotbissens durch Jesus im Zusammenhang eines Dialogs mit den Jüngern über Verrat und Verleugnung.392 Das leitende Interesse des Lesers am Beginn von Joh 13 sieht Moloney in der Frage, wie die Kreuzigung als Verherrlichung Jesu, als Sammlung der Seinen und als Offenbarung Gottes verstanden werden könne.393 Joh 13,1 könne als johanneische Interpretation der Passion gelesen werden: „Jesus’ death was the hour of his passing over to the Father and the moment of a consummate act of loving self-gift.“394 Jesu Wissen, seine Liebe und sein Tun stehen in Joh 13 im Fokus, in Wort und Tat lehre er seine Jünger, die sich durch Unwissenheit, Verrat und Verleugnung auszeichnen.395 Im Kontext der Intimität eines gemeinsamen Abendessens wasche Jesus wie ein Sklave die Füße der Jünger.396 Moloney sieht in den Verben für das Ablegen und Nehmen der Kleider eine Anspielung auf die Hirtenrede und damit auf die Bereitschaft, das eigene Leben für die Seinen hinzugeben (10,11.15.17.18; 13,4 f.).397 Im Dialog mit Petrus werde deutlich, dass es bei der Fußwaschung um eine Teilhabe an Jesus bzw. an der sich selbst hingebenden Liebe Jesu gehe: „To ‚have part with Jesus‘ through washing also means to be part of the selfgiving love that will bring Jesus’ life to an end (see v. 1) and is being symbolically anticipated in the footwashing (v. 8.).“398 Doch Petrus könne den Zu Moloney, Belief, 4. Moloney, Belief, 45. 390  Vgl. Moloney, Glory, 4–7. 391  Vgl. Moloney, Glory, 3 f. 392  Vgl. Moloney, Glory, 8–11. 393  Vgl. Moloney, Glory, 11. 394  Moloney, Glory, 13. 395  Moloney, Glory, 11; Moloney folgt hierin Culpepper, Hypodeigma, 134–137, der das Wissen Jesu im Gegenüber zum Nichtwissen der Jünger herausgestellt hat; a. a. O. 9 Anm. 396  Vgl. Moloney, Glory, 13 f. 397  Vgl. Moloney, Glory, 13. 398 Moloney, Glory, 15. 388

389 Vgl.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

sammenhang von Fußwaschung und Jesu Liebe jetzt noch nicht verstehen (Joh 13,7 f.), er verstehe die Fußwaschung falsch und fordere deshalb eine vollständige Waschung.399 Daraufhin gehe Jesus auf das neue Thema der Reinheit ein, wobei die als Vollbad ausgedrückte Waschung sowohl auf die Taufe als auch auf den damit verbundenen Tod Jesu anspiele (Joh 13,10).400 Das Johannesevangelium sei dabei nicht an der Taufe an sich interessiert, sondern am Verhältnis zwischen Taufe und Tod Jesu: Teilhabe an Jesus bedeute entsprechend Teilhabe an der sich selbst hingebenden Liebe Jesu, die im Tod ende (vgl. Röm 6,3) und symbolisch in der Fußwaschung vorweggenommen werde.401 Der Erzählerkommentar in Joh 13,10b.11 zeige die Grenzenlosigkeit der Liebe Jesu, die er seinen unwissenden und auch untreuen Jüngern schenke.402 In Joh 13,12 sieht Moloney keinen Widerspruch zu Joh 13,7, da es jetzt nicht mehr um den Zusammenhang der Fußwaschung mit der Liebe Jesu gehe, sondern um die Fußwaschung als Beispiel für die Selbsthingabe in Liebe, welche die Jünger nachahmen sollen.403 Dies sei nicht im Sinne einer besseren Moral zu verstehen, sondern als Bereitschaft zur liebenden Selbsthingabe in den Tod.404 Mit Culpepper versteht Moloney den griechischen Begriff Hypodeigma (ὑπόδειγμα) als edlen Tod für andere, wie es in 2 Makk 6,28; 4 Makk 17,22f und Sirach 44,16 belegt sei.405 „Whatever may have been the historical and ritual background to this instruction, within its present literary context, Jesus’ instruction is a call to his disciples to repeat in their lives what he has done for them.“406 In ritualisierter Form werde diese völlige Selbstaufgabe in den Tod in der Taufe vollzogen, doch von den Jüngern verlange der johanneische Jesus die Bereitschaft, auch auf die Gefahr hin zu lieben, dass sie diese Liebe tatsächlich das Leben koste.407 Die Tiefe der Liebe Jesu zeige sich gerade auch darin, dass er diejenigen berufe und liebe, die unwissend und untreu sind, ja sogar Judas, der ihn verraten werde. Gerade in dieser Liebe, die jede andere Liebe übersteige, erfülle Jesus seinen Auftrag (Joh 13,18–20).408 Jesu liebende Selbsthingabe in den Tod offenbare Gott (Joh 3,16 f.) und mache die fehlbaren Jünger zu Gesandten Jesu und des Vaters.409

399 Vgl. Moloney, Glory, 15 f. Moloney sieht in der Teilhabe an Jesus einen versteckten Hinweis für christliche Leser auf die Taufe, aber nicht bezüglich des Rituals, sondern nur bezüglich des Zusammenhangs von Taufe und Tod Jesu, der als Grundlage von Joh 13 anzusehen sei; a. a. O. 14 f. 400  Moloney sieht den Kurztext als ursprünglich an; vgl. Moloney, Glory, 15. 401  Vgl. Moloney, Glory, 15 Anm. 402 Vgl. Moloney, Glory, 15. 403  Vgl. Moloney, Glory, 15 f. 404  Vgl. Moloney, Glory, 16. 405  Vgl. Moloney, Glory, 16; Culpepper, Hypodeigma, 144. 406 Moloney, Glory, 16. 407  Vgl. Moloney, Glory, 17. 408  Vgl. Moloney, Glory, 18. 409 Moloney, Glory, 12.18 f.

1.7. Literaturwissenschaftlich orientierte Zugänge

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In 13,21–38 sieht Moloney in der Gabe des Brotstücks durch Jesus an Judas einen eucharistischen Zusammenhang.410 Auch die Gabe des Brotes sei wie die Fußwaschung ein Ausdruck der grenzenlosen Liebe Jesu, die gerade auch Judas gelte, dem „archetype of the evil disciple“, und diese grenzenlose Liebe offenbare einen einzigartigen Gott (Joh 13,18–20).411 Zu dieser Liebe Jesu gehöre in spezifischer Weise seine Erhöhung an das Kreuz: „On the cross Jesus is gloriefied, but his death will also reveal the ‚glory of God‘ (doxa tou theou). […] the cross is the time and the place were God is to be revealed.“412 So wie Jesus seinen Jüngern im Kontext der Fußwaschung ein Beispiel gegeben habe, gebe er ihnen nun das Liebesgebot und beide zielen auf die Nachahmung der Liebe Jesu, einer Liebe bis zur Selbsthingabe in den Tod.413 Petrus habe diese Aufforderung verstanden, erkenne aber nicht, dass dies erst später möglich sein werde, da Jesus zunächst keinen menschlichen Weg gehe, wenn er zum Vater zurückkehren werde.414 Moloney sieht mit der Fußwaschung durch Joh 13,10 die Taufe als „subtheme“ verbunden und mit der Gabe des Brotbissens das Abendmahl.415 Jesu Tod offenbare Jesu Liebe zu den Seinen und offenbare gerade auf diese Weise Gott selbst (Joh 3,16 f.).416 In eben dieser Liebe erfülle Jesus seinen Auftrag. Die Fußwaschung sei eine symbolische Handlung, welche die grenzenlose Liebe Jesu zu seinen Jüngern anschaulich mache, die Jesus schließlich in den Tod führen werde, und welche als Vorbild auch die Jünger verpflichte zu lieben, ggf. bis zur Selbsthingabe in den eigenen Tod.417 Obwohl Moloney die Fußwaschung als Sklavendienst betrachtet, spielen weder der Dienstgedanke noch der Aspekt der Erniedrigung für seine Interpretation eine Rolle, sondern er sieht das Unerwartete an Jesu Handlung in der grenzenlosen Liebe, die alle menschlichen Erwartungen und Erfahrungen mit Liebe übersteige und gerade den fehlbaren Jüngern gelte. Revealed here is God’s love, which transcends and challenges all human criteria and human experience. Equally surprising is that, despite their ignorance, failure, betrayals, and denials, the disciples are to imitate Jesus, loving one another as he loved them, so that the world might recognize them as disciples and those sent by Jesus Christ (vv. 15, 20. 34–35).418

410  Moloney begründet das abgesehen vom Kontext des letzten Mahls v. a. in der auffallenden Änderung des Verbums im Zitat von Ps 41,10b in Joh 13,18, so dass das ungewöhnliche Verb τρώγω, welches den Kauvorgang, das Beißen und Zerdrücken beschreibt, Joh 13 mit dem eucharistischen Text Joh 6,51c–58 verbinde, wo das Verb in 6,54.56.57.58 verwendet werde; vgl. Moloney, Glory, 21. 411 Moloney, Glory, 23. 412  Moloney, Glory, 24. 413  Vgl. Moloney, Glory, 25. 414 Vgl. Moloney, Glory, 25 f. 415  Moloney, Glory, 22. 416  Moloney, Glory, 12. 417 Moloney, Glory, 15 f. 418  Moloney, Glory, 28.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

Die geforderte gegenseitige Liebe der Jünger ziele darauf, dass die Welt sie als Nachfolger Jesu erkennen könne. Moloney sieht folglich keinen Bruch zwischen den beiden Deutungen der Fußwaschung, da die Liebe und die darin eingeschlossene Bereitschaft zur Selbsthingabe in den Tod beide Deutungen verbinde. Vielmehr sei das gesamte 13. Kapitel durch die Thematik der Liebe verbunden und bereite damit die folgende Erzählung bis Joh  20,31 vor. Die sorgfältige narratologische Analyse ermöglicht es Moloney, die Fußwaschungserzählung mit all ihren Elementen sowohl im Kontext von Joh 13 als auch in Joh 13–17 zu verorten, Sinnlinien wahrzunehmen und in die johanneische Erzählung insgesamt einzuordnen.

1.7.3. Hartwig Thyen (2005) Hartwig Thyen betrachtet in seinem neuen Kommentar das Johannesevangelium incl. Kapitel 21 als ein einheitliches literarisches Werk, dessen Verfasser die synoptischen Evangelien kenne und deren Kenntnis auch bei der Lektüre voraussetze, so dass sein Evangelium als intertextuelles Spiel mit den synoptischen Prätexten zu verstehen sei.419 Thyens erkenntnisleitendes Interesse gilt der narratologischen Darstellung der johanneischen Theologie, die sich jedoch erst in der intertextuellen Lektüre mit den Synoptikern erschließe. Er gliedert das Johannesevangelium gegen die Mehrheitsmeinung in die beiden Hauptteile „Das Buch des Zeugnisses“ (1,19–10,42) und „Das Buch der δόξα Jesu“ (11,1–21,25). Mit den Erzählungen über die einander liebenden Freunde Jesus, Lazarus, Maria und Martha (Joh 11,5) beginne der zweite Hauptteil, in dessen Zentrum Jesu Weggang zum Vater stehe.420 Dadurch sind die Salbung Jesu durch Maria (11,2; 12,1–8) und die Fußwaschung (Joh 13,1–38) in einem Hauptteil angeordnet und auch im Hinblick auf die Exegese enger miteinander verbunden. Joh 13 und Joh 17 formen nach Thyen „eine Inclusio“ um die Abschiedsreden in Joh 14–16, wobei der Liebesgedanke die so umschlossenen Texte verbinde.421 Die Fußwaschungserzählung sieht Thyen als intertextuelles Spiel und Dramatisierung von lukanischen Texten, wobei sich Joh 13,4 f. auf Lk  12,37 beziehe und Joh 13,13–16 auf Lk 22,24–27.422 Thyen bezieht Joh  12,1–8 und  Thyen beruft sich hier auf Sabbe, Anointing; vgl. Thyen, Johannesevangelium, 510 f.548 f.  Zusätzlich zu dieser Zweiteilung gliedert Thyen das Evangelium in insgesamt sieben „Akte“, wobei der vierte Akt nach Thyen Joh 8,12–12,50 umfasst. Joh 13,1–17,26 sei der fünfte Akt und beschreibe als „esoterisches Zwischenspiel“ den langen Abschied Jesu von den Jüngern; vgl. Thyen, Johannesevangelium, VII–XII.1–5. 421 Thyen, Johannesevangelium, 681. 422  Thyen beruft sich hier auf die These von Heinrich J. Holtzmann, die er von Sabbe, Footwashing, und Kleinknecht, Johannes, in ihren Ausführungen zur Stelle bestätigt sieht; vgl. Thyen, Johannesevangelium, 592. 419

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1.7. Literaturwissenschaftlich orientierte Zugänge

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Joh 13 aufeinander, wobei er in beiden Texten eine als Sklavendienst betrachtete Fußwaschung als Liebeserweis erkennt und annimmt, dass sich beide Texte in diesem Punkt auf Lk 7,36–50 beziehen.423 Bei der Salbung der Füße Jesu durch Maria (Joh 12,1–8) sei sowohl das Salben der Füße als auch das Abtrocknen mit den Haaren nicht als Textverderbnis zu betrachten, sondern als bewusste Anspielung des Evangelisten auf den Prätext in Lk 7,36–50.424 Thyen verbindet die beiden Texte so eng miteinander, dass er auch bei Maria von einer „Fußwaschung“ spricht und sie selbst als „ergebene δούλη“ (Sklavin) Jesu bezeichnet.425 Der Duft des Öls verkünde ihr Tun (Mk 14,9; Mt 26,13) und könne im intertextuellen Spiel mit Cant 1,12 auch als ein symbolischer Hinweis auf den königlichen Einzug Jesu in Jerusalem verstanden werden.426 In Joh 13 ersetze der Evangelist bewusst das Abendmahl durch die Fußwaschung, um ersteres durch letztere zu interpretieren.427 Joh 13,1–4 stelle die Einleitung der Kapitel 13–17 dar, εἰς τέλος in 13,1 verweise auf die Vollendung von Jesu Werk (τετέλεσται) in Joh 19,30.428 Die Fußwaschung sei das „σημεῖον der Lebenshingabe Jesu“, und die für das Ablegen und Anlegen der Kleider verwendeten Verben in Joh 13,4.12 bezögen sich absichtsvoll auf Joh 10,11.15.17 f.429 Den Zeichenbegriff verwendet Thyen so weit, dass er Jesu „gesamten Weg, seine Person und sein Geschick“ als σημεῖα betrachtet. Die Jünger seien Repräsentanten aller Menschen.430 Im Dialog mit Petrus sieht Thyen eine Variante von Mt 16,22, wobei der Jünger das Leiden Jesu, symbolisch abgebildet in der Fußwaschung, nicht akzeptieren wolle.431 Die Formulierung μέρος μετ᾽ ἐμοῦ in 13,8 versteht Thyen ausgehend vom Erbbesitz am Land Israel – unter Berufung auf die Wortverwendung in 2 Sam 20,1 und Jes 57,6  – oder im priesterlichen Sinn sogar dahingehend, dass Jahwe selbst Erbteil der Priester bzw. später der Frommen sei (Num 18,20; Dtn 12,12; 14,27), so dass Jesus seinen Jüngern hier den Anteil am Reich Gottes zusage, wie es auch in Lk 22,24–30 im letzten Vers 423 Im Hinblick auf die Bedeutung der Fußwaschung in der Antike bezieht sich Thyen v. a. auf Augenstein, der auch auf die Bedeutung der Fußwaschung als Liebes- und Ehrerweis eingeht, grundsätzlich aber für alle Fußwaschungen voraussetzt, dass es sich um einen Sklavendienst handle; vgl. Augenstein, Liebesgebot, 31; Thyen, Johannesevangelium, 551. 424  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 549. 425  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 550. 426 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 550, auch 553. 427  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 592. Da nach der Darstellung des Johannesevangeliums Jesus erst am Rüsttag des Passafestes als das „Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt“, gestorben sei, habe der Evangelist das letzte Mahl Jesu nicht als Passamahl gestalten können und habe deshalb möglicherweise den Einsetzungsbericht bereits im Zusammenhang der wunderbaren Speisung verarbeitet; a. a. O. 584. 428 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 583 f.586. 429  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 585. 430  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 584. 431 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 588; Thyen bezieht sich hier auf Brown, der vom „scandal of the cross“ gesprochen hat; vgl. Brown, Gospel II, 566.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

der Fall sei.432 Im weiteren Text werden die Füße im Sinne eines pars pro toto für den ganzen Körper verstanden, so dass in Joh 13,8b und Joh 13,10 nur noch von „waschen“ die Rede sei, wobei Thyen λούω und νίπτω als Synonyme betrachtet und textkritisch den Kurztext präferiert.433 In Joh 13,12 sieht Thyen nicht die Antwort auf 13,7, sondern nur einen partiellen Aspekt der Bedeutung der Fußwaschung von Jesus erläutert.434 Die Jünger hätten „den Liebesdienst der Fußwaschung“ erlebt, in der sich Jesus „scheinbar ‚erniedrigt‘“, den sie zwar noch nicht als Zeichen „der Hingabe seines Fleisches für das Leben der Welt“, aber doch als „Akt seiner liebenden Zuwendung“ und als seine Art der Ausübung seines Königtums verstehen könnten.435 Jesus setze damit „die gesamte Weltordnung von Herrschaft und Knechtschaft, von Subjekt und Objekt außer Kraft […] (vgl. dazu Mk 10,35–45  / Mt 20,20–28  / Lk 22,24–27).“436 Die Rede von der „scheinbaren Erniedrigung“ sei nötig, „weil ebenso wie der geforderte Dienst der Kinder für die Eltern, der Ehefrau für den Mann der Untergebenen für die Herrschenden usw. auch die Erniedrigung der Herrschenden zum Wohle ihrer Untergebenen, Klienten oder Patienten den ontologischen Primat der Herrschaft der Einen über die Anderen nicht zu brechen vermag.“437 Diese „ontologisch ergreifende Gewalt am Anderen“ scheitere aber an „dem ‚Einander‘ des Neuen Gebots Jesu und an seiner Feindesliebe“.438 Das hier verwendete griechische Nomen für Beispiel (ὑπόδειγμα) versteht Thyen im Anschluss an Culpepper unter Berufung v. a. auf Sir 44,16 und 2 Makk 6,28 als „Urbild“ der geforderten Liebe im Sinne der Bereitschaft, aus Liebe auch für einander zu sterben (vgl. Joh 15,13; 16,2; 21,19).439 Gemäß Joh 13,17 gehe es in der zweiten Deutung der Fußwaschung um ein Wissen, „das gar nicht ohne Tun existiert“, wobei das Tun bleibend auf das Wissen angewiesen sei und es zugleich ständig vertiefe.440 Die Sendungsvorstellung in Joh 13,16.20 versteht Thyen als intertextuelles Spiel mit Mt 10,24 sowie Mt 10,40, Lk 10,16 und Mk 9,37; Lk 9,48; er sieht den johanneischen Kommentar zu diesen Prätexten aber v. a. in dem absoluten ἐγώ εἰμι in Joh 13,19, denn eine Jüngeraussendung erzähle Johannes gerade nicht zu Lebzeiten Jesu, sondern erst nach seiner Erhöhung (Joh 20,19 ff.), während in Joh 16,33 und 17,18 der erhöhte Herr spreche.441

 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 588 f.  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 589. Zur Textkritik vgl. a. a. O. 587. 434 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 591. 435  Thyen, Johannesevangelium, 591; Hervorhebung im Original. 436  Thyen, Johannesevangelium, 592. 437 Thyen, Johannesevangelium, 592. 438 Thyen, Johannesevangelium, 592. 439  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 593; dazu auch Culpepper, Hypodeigma,142 f. 440  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 593 unter Berufung auf Kohler, Kreuz, 228. 441 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 596. 432 433

1.7. Literaturwissenschaftlich orientierte Zugänge

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Die Fußwaschungserzählung wird nach Thyen abgeschlossen durch Joh 13,31– 38, wo Jesus seinen Jüngern verdeutliche, wie diese durch die gegenseitige Liebe nach seinem Weggang an der Beziehung mit Jesus festhalten können.442 Es gehe hier nicht um ein ethisches Prinzip, sondern um eine Möglichkeit, die Gemeinschaft mit Jesus zu bewahren. Jesus fordere von ihnen eine Liebe, „die bereit ist, Jesus selbst ins mögliche Martyrium nachzufolgen (13,36–38; 16,2f u. ö.), so daß in ihrem Tun Jesu Tat gegenwärtig bleibt“ und sich so Gottes Liebe zum Kosmos (3,16) in der Sendung der Jünger in die Welt fortsetze.443 Nachdem Jesus durch die Fußwaschung den Jüngern „jegliche Art von Autonomie“ genommen habe, mache er sie zu „Sklaven von- und füreinander“, so dass an dieser konkreten Lebensweise und Sozialgestalt die Welt erkennen könne, dass sie Jünger Jesu seien.444 Insofern sei das aus der Tora bekannte Liebesgebot (Lev 19,18) neu, weil es „das Gesetz der eschatologischen Gemeinde“ sei.445 Möglicherweise habe auch das „neue Gebot“ Jesu seinen „Ursprung in der paulinisch-lukanischen Wendung von dem ποτήριον als der καινὴ διαθήκη ἐν τῷ αἵματί μου (Lk 22,20 / 1 Kor 11,25).“446 Thyen vermutet in Joh 13 ein intertextuelles Spiel mit synoptischen Prätexten, insbesondere mit Lk 22,24–30, wobei Johannes das lukanische διακονεῖν „im Spiel mit den Salbungserzählungen von Lk 7,36ff (vgl. Joh 12,3ff u. Mk 14,3ff parr.) durch seine Erzählung von der Fußwaschung dramatisiert“ habe. Eine Stärke dieser Interpretation besteht in der Wahrnehmung möglicher intertextueller Bezüge zu den Synoptikern, welche eine große Weite an Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Thyen kann beide Deutungen der Fußwaschung angesichts des bevorstehenden Abschieds Jesu verbinden, indem er in 13,6–11 die Fußwaschung als Abbild des Todes Jesu versteht und in 13,12–17 als Weisung, wie die Seinen nach Jesu Abschied an der Gemeinschaft mit ihm festhalten können. Zugleich verhindert jedoch seine starke Betonung, dass Jesus hier einen niedrigen Sklavendienst leiste, der auf einen Macht- und Herrschaftsverzicht der Jünger ziele und sie zu Sklaven füreinander mache, dass er den erkannten Bezug auf die Aussendungsrede im Matthäusevangelium und die Sendungsvorstellungen in Joh 13,16.20 weiterdenkt.447

 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 607. Thyen, Johannesevangelium, 608. 444  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 608 f. 445  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 610. 446 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 614. 447  Bei der Auslegung von 13,16 f. übergeht Thyen Vers 16 eigentümlicherweise fast unkommentiert, auch berücksichtigt er Joh 15,20, der sich explizit auf 13,16 zurückbezieht, bei seiner Auslegung von Joh 13,12–20 bzw. 13,17–20 nicht; vgl. Thyen, Johannesevangelium, 593–596; s. aber auch 652 f. 442

443 Vgl.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

1.7.4. Beobachtungen zur Interpretation der Fußwaschungserzählung Insbesondere die narratologischen Zugänge nehmen absichtsvoll die vorliegende Textgestalt ernst und gehen durch ihre Methode mit der Voraussetzung an die johanneischen Texte heran, dass sie eine kohärente Textgestalt bieten. Thyen berücksichtigt zudem intensiv intertextuelle Bezüge zu den Synoptikern, da er nicht nur deren Kenntnis seitens des Evangelisten annimmt, sondern sogar ein bewusstes intertextuelles Spiel während der Textproduktion vermutet. Dies führt zu einer sorgfältigen Wahrnehmung der erzählerischen Mittel, welche weiterführende Interpretationen ermöglicht. So gerät Joh 13 insgesamt als ein kohärenter Text in den Blick, in welchem die Thematik der Liebe konkretisiert wird. Culpepper sieht den Schwerpunkt im Kontrast zwischen dem Wissen Jesu und der Unwissenheit der Jünger, die Fußwaschung Jesu symbolisiere den Tod Jesu aus Liebe, der auch die Jünger zur Liebe verpflichte, auch mit der Akzeptanz eines möglichen Martyriums. Die Liebe wird hier konkretisiert als eine Liebe, welche die Bereitschaft einschließt, das eigene Leben für andere hinzugeben. Moloney nimmt diese Vorstellung auf und sieht in Joh 13 insgesamt die Thematik der Selbsthingabe in den Tod aus Liebe behandelt, in der sich die Liebe Gottes offenbare. Auch Thyen sieht in der Fußwaschung ein johanneisches Semeion der Selbsthingabe Jesu, das für die Jünger alle hierarchischen Weltordnungen in Frage stelle. Aufgrund der von ihm gewählten methodischen Zugangsweise erkennt Thyen mit Blick auf die Sendungsvorstellung in 13,16.20 die vorhandenen Bezüge auf die Aussendungsrede im Matthäusevangelium, zieht jedoch aufgrund seiner Vorannahme, dass Johannes eine Beauftragung der Jünger erst nachösterlich erzähle, diesen Aspekt absichtlich nicht weiter in Betracht. Ein literaturwissenschaftlicher, insbesondere narratologisch orientierter Zugang ist offensichtlich in besonderer Weise geeignet, Hinweise im Text wahrzunehmen, die ein verkürztes oder auch ein bereits traditionell gewordenes Textverständnis erweitern und ggf. in Frage stellen können.

1.8. Perspektiven für die weitere Interpretation der Fußwaschungserzählung Der exemplarische Durchgang durch Kommentare, Aufsätze und Monographien aus einem Zeitraum von etwa 100 Jahren zeigt, dass die Fußwaschungserzählung mit ihren vielen Details unterschiedlich und auch bei den durch die gewählten Methoden oder das erkenntnisleitende Interesse verbundenen Ansätzen sehr differenziert ausgelegt wird. Narratologisch betrachtet kann man aus diesem Befund zunächst schließen, dass sich die Erzählung in Joh 13 durch eine große Bedeutungsoffenheit auszeichnet, welche zu vielfältigen Rezeptionen führt. Da-

1.8. Perspektiven für die weitere Interpretation der Fußwaschungserzählung

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bei spielen insbesondere die Vorannahmen der Exegetinnen und Exegeten eine gravierende Rolle, sowohl bzgl. der kulturellen Bedeutung der Fußwaschung in der Antike als auch bzgl. der theologischen Grundlinien im Johannesevangelium, v. a. zur Christologie, zur Soteriologie und zur Ethik. Die Annahmen zur Entstehungsgeschichte, der methodische Zugang und die Gliederung des vierten Evangeliums tragen ebenfalls einen großen Teil zur Vielfalt und Differenzierung der Interpretationen von Joh 13,1–20 bei. In der Regel werden zwei Deutungen der Fußwaschung in 13,6–11 und in 13,12–20 gesehen, die einander sachlich und ggf. überlieferungs- und redaktionsgeschichtlich zugeordnet bzw. auch entgegengesetzt werden. Da die vorliegende Arbeit an den Interpretationsmöglichkeiten der Fußwaschungserzählung ausgehend vom vorliegenden Endtext interessiert ist, geht es bei der Auswertung der Ergebnisse aus der Forschungsgeschichte darum, die verschiedenen Auslegungsmodelle gemäß ihrem inhaltlichen Fokus in den Blick zu nehmen. Thomas zählt in seiner Monographie sieben zentrale Interpretationstypen der Fußwaschung in der neueren Forschung auf, die als mögliche thematische Aspekte bei der Interpretation von Joh 13,1–20 eine Rolle spielen:448   1) Fußwaschung und Demut   2) Fußwaschung und Abendmahl   3) Fußwaschung und Taufe   4) Fußwaschung und Sündenvergebung / Reinigung   5) Fußwaschung als eigenes Sakrament neben Taufe und Abendmahl   6) Fußwaschung als soteriologisches Zeichen   7) Fußwaschung und Polemik (gegen Taufe oder rituelle Waschungen) Diese Liste ist zu ergänzen durch:   8) Fußwaschung und Liebe   9) Fußwaschung und Vorbereitung (auf den Abschied Jesu) 10) Fußwaschung und Beauftragung (für die Zeit nach Jesu Abschied) 11) Fußwaschung und Gemeindegründung Diese Interpretationsmodelle bzw. thematischen Aspekte, die sich auch in den untersuchten Kommentaren, Monographien und Aufsätzen finden lassen, sind nur zum Teil exklusiv. Sie können auch kombiniert oder abgewandelt werden, gerade dort, wo sie sich auf unterschiedliche Textabschnitte beziehen und für die abschließende Interpretation gewichtet und in Beziehung gesetzt werden müssen. Deshalb ergibt der Forschungsüberblick auch ein sehr vielfältiges und differenziertes, zum Teil auch diffuses Bild. In Joh 13,6–11 wird häufig eine christologische oder soteriologische Intention vermutet, welche die Rolle und/oder Heilsbedeutung Jesu illustriere, d. h. dass 448 Vgl.

Thomas, Footwashing, 11–17.

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

die Fußwaschung zum Beispiel seine Demut, seine Liebe, sein Wirken oder seinen Tod abbilde und zugleich das Heil, das er vermittele, in den Fokus nehme, etwa im Sinne von Sündenvergebung, Teilhabe am ewigen Leben, Teilhabe an der (Liebes-)Gemeinschaft, Teilhabe an seinem Auftrag oder auch als Offenbarung seiner Liebe bzw. als Offenbarung Gottes als Liebe. Bei den sakramentalen Deutungen kann die Fußwaschung sowohl als Interpretation der Taufe oder angesichts ihrer Verortung beim letzten Mahl Jesu auch als Interpretation oder Ersatz oder Vorbereitung für das Abendmahl betrachtet werden. Auch ein Verständnis als eigenes Sakrament wird diskutiert, zum Beispiel als Initiationsritus, als Ergänzung oder Ersatz für die Taufe oder als Bußritus für die nach der Taufe begangenen Sünden, zum Teil auch als Beauftragung der Apostel. Je nachdem, wie man die Einstellung des Johannesevangeliums zu den Sakramenten beurteilt, kann die Fußwaschung auch als polemische Kritik an rituellen Waschungen oder an den Sakramenten Taufe und/oder Abendmahl aufgefasst werden. Eine besondere Schwierigkeit liegt dabei in der Interpretation von Joh 13,10, wo sich zwei grundsätzliche Lesarten textkritisch feststellen lassen, die jeweils etwa gleich gut durch Manuskripte bezeugt sind.449 Bei der längeren Lesart spricht Jesus davon, dass ein Gewaschener (λελουμένος), der ein Vollbad genommen hat, nur noch seine Füße reinigen muss, um völlig rein zu sein.450 In diesem Fall wäre die Fußwaschung eine zweite begrenzte Reinigung nach einem Bad, d. h. einer vorausgehenden vollständigen Waschung. Die Rede Jesu vom Bad wird häufig im Sinne der Taufe verstanden, welche die Jünger rein mache, die aber im Anschluss daran  – aus welchem Grund auch immer  – noch einer weiteren Reinigung, der Fußwaschung, bedürfen. In diesem Fall wird zwar das Partizip „der Gewaschene“ (13,10) auf das Sakrament der Taufe bezogen, die Fußwaschung selbst jedoch nicht unbedingt als Sakrament interpretiert. Doch auch andere, nicht auf die Taufe bezogene Interpretationen für die vorausgehende vollständige Waschung sind möglich, zum Beispiel im Sinne einer Reinigung durch das Wort (15,3), das Jesus den Seinen bereits verkündet hat, oder als Reinigung bzw. Heiligung durch die Gemeinschaft mit Jesus (13,8). Bei der kürzeren Lesart in Joh 13,10 fehlt die Ergänzung „außer die Füße“ (εἰ μὴ τοὺς πόδας), so dass Jesus nur sagt, dass der Gewaschene (λελουμένος) rein sei und keine weitere Reinigung benötige.451 Statt von der Fußwaschung spricht Jesus in 449  Vgl. zur Textkritik Hentschel, Frage. Die zentralen Argumente finden sich präzise dargelegt bei Bultmann, Evangelium, 357 f. 450  Die längere Lesart εἰ μὴ τοὺς πόδας νίψασθαι bieten B C* (K) L W Ψ ƒ13 892 it vgcl syh; Ortxt. Mit weiteren Abweichungen wird diese Lesart auch bezeugt von 𝔓66 Θ sys.p (εἰ μὴ τοὺς πόδας μόνον νίψασθαι) und von 𝔓75 A C3 Γ Δ ƒ1 700. 1241. 1424. ℓ 844 𝔐 (η τοὺς πόδας νίψασθαι; (+ μόνον 1424). Eine noch ausführlichere Lesart bietet auch D mit: τήν κεφαλήν νίψασθαι εἰ μὴ τοὺς πόδας μόνον; vgl. NA28. 451  Im Nestle/Aland 28 werden ℵ aur c vgst; Orcom als Zeugen für die Lesart νίψασθαι angegeben.

1.8. Perspektiven für die weitere Interpretation der Fußwaschungserzählung

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seiner Antwort in Joh 13,10 nur noch von einem (Voll-)Bad, das vollständig reinigt. Für den Kurztext ergeben sich dadurch zwei Interpretationsmöglichkeiten: 1) Jesus hat das Bild gewechselt, von der Fußwaschung zum Vollbad, um auszudrücken, dass die Fußwaschung bzw. das durch sie symbolisierte Geschehen zur (vollständigen) Sündenvergebung bzw. zur (vollständigen) Reinheit bzw. zum (ganzen, unteilbaren) Heil genügt. Die Fußwaschung – bzw. das, worauf sie verweist – reinigt die Jünger wie ein Vollbad, so dass Petrus keine über die Fußwaschung hinausgehende Reinigung benötigt (vgl. 13,9). Die Fußwaschung vermittelt vielmehr vollumfänglich das Heil. 2) Das Missverständnis des Petrus in Joh 13,9 kann aber nicht nur quantitativ verstanden werden, sondern auch qualitativ: In diesem Fall geht Petrus fälschlicherweise davon aus, dass die Fußwaschung auf die Reinigung zielt und fordert – mit der Waschung von Kopf, Händen und Füßen – eine Reinigung aller unbedeckten Körperteile. Mit dem Wechsel des Bildes und dem Vergleich der Jünger mit einem Gebadeten – d. h. mit einer bereits vollständig gereinigten Person – wehrt Jesus in diesem Fall das Missverständnis des Petrus ab, dass es bei der Fußwaschung überhaupt um Reinigung gehe. Die Jünger sind vielmehr bereits rein, und die Fußwaschung hat einen anderen Zweck, der in 13,8 mit der Teilhabe an Jesus bereits umschrieben worden ist und zum Beispiel im Sinne einer Liebesgemeinschaft mit Jesus oder der Teilhabe an der Liebe Gottes interpretiert werden kann. Für den Kurztext in 13,10 spricht, dass Jesus in 13,8 die Fußwaschung als die einzige Voraussetzung zur Teilhabe an ihm und damit am Heil darstellt. Wenn in Joh 13,10 von zwei Waschungen die Rede wäre, dann würde die erste grundlegend für Reinheit sorgen, während die Fußwaschung nur noch als Ergänzung erscheint und somit gerade nicht mehr exklusiv zum Heil beiträgt. Dass in Joh 13,12–20 das Handeln der Jünger thematisiert wird, steht aufgrund des Nachahmungs- oder Wiederholungsauftrags in 13,14 f. außer Frage. In der neutestamentlichen Forschung wird jedoch diskutiert, was die Jünger konkret nachahmen sollen. Fordert Jesus von seinen Jüngern, dass sie selbst Füße waschen sollen – als Initiationsritual, als Bußritual, als Demutsritual für Leitungspersonen, als Liebesdienst usw. – oder sollen sie die Aufforderung zur Nachahmung der Fußwaschung im übertragenen Sinn verstehen und Demut üben, Liebe leben, Sünden vergeben, bereit sein für ein Martyrium oder wie Jesus durch ihre Liebe und/oder ein anderes Handeln Gott verkündigen? Die entscheidende Frage bezieht sich schließlich auf den Zusammenhang der beiden Abschnitte des Textes (13,6–11.12–20): Geht die erste, auf das Tun Jesu gerichtete Deutung der Fußwaschung bruchlos und harmonisch in die zweite, eher paränetisch ausgerichtete Deutung mit Blick auf ein Tun der Jünger über? Oder stehen beide in einem Widerspruch oder zumindest in einer inneren Spannung, wenn die Fußwaschung Jesu zunächst dessen einmaliges soteriologisches Handeln abbildet und dann auf einmal als Exempel für ein wiederholbares Tun der Jünger genommen wird? Hier ist auch zu diskutieren, inwiefern bzw. ob die

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Kapitel 1: Forschungsgeschichtliche Perspektiven auf die Fußwaschungserzählung

Verse 13,16 und 13,20 bzw. sogar 13,18–20 als stimmige Bestandteile des Textes interpretiert werden können. Die folgende Analyse setzt den im Nestle Aland 28 vorliegenden kritischen Text des Johannesevangeliums mit Kurztext in Joh 13,10 als Untersuchungsgegenstand voraus. Ohne methodische Berücksichtigung der Textgenese wird danach gefragt, wie die Fußwaschungserzählung durch ihre spezifische Einbettung und Gestaltung im Johannesevangelium verstanden werden kann. Unabhängig davon, ob und wie das Johannesevangelium entstanden ist und dabei Traditionen aufgenommen hat bzw. auch in einer Art Relecture-Prozess weitergeschrieben wurde, ist festzuhalten, dass der nun vorliegende Endtext von seinem Herausgeber, seiner Herausgeberin oder auch seinen Herausgebenden als ein sinnvoller Text angesehen wurde. Die handschriftliche Überlieferung zeigt, dass – abgesehen von einzelnen Stellen mit abweichenden Lesarten – das Evangelium in dieser Form überliefert und rezipiert wurde. Bei der Lektüre eines Textes gehen die Lesenden in der Regel davon aus, dass diesem eine kohärente Struktur zugrunde liegt und versuchen entsprechend, den Text als sinnvolles Ganzes zu verstehen, während Brüche oder gar Fremdkörper erst bei einem Scheitern der Lektüre vermutet werden. Dies wird „u. a. durch die moderne Rezeptionsforschung bestätigt, nach welcher der Leser in seinem Erwartungshorizont zunächst mit einem einheitlichen, kohärenten Textgebilde rechnet.“452 Die Forschungsgeschichte hat entsprechend gezeigt, dass die literarkritisch ausgerichteten Vorannahmen zur Entstehung des Johannesevangeliums bzw. die vorausgehende Überzeugung, dass die Abschnitte 13,6–11 und 13,12–20 in Spannung zu einander stehen, den Blick für eine kohärente Lektüre verstellen und im Zirkelschluss häufig zu entsprechenden, die Unterschiede betonenden Interpretationen führen. Andererseits konnten sehr wohl gelungene Interpretationsmodelle dargestellt werden, die Joh  13,1–20 in seiner vorliegenden Textgestalt ernstnehmen und auslegen. Die vorliegende Analyse setzt deshalb aus methodischen Erwägungen die Kohärenz des johanneischen Textes incl. Joh 21 voraus, ohne damit eine längere oder stufenweise Entstehungsgeschichte des Textes grundsätzlich auszuschließen. Diese methodische Voraussetzung trägt dazu bei, dass die im Johannesevangelium angelegten Sinnlinien besser wahrgenommen werden können. Dadurch wird vermieden, dass zu schnell von durchaus vorhandenen, aber möglicherweise genau so gewollten Spannungen im Text auf Brüche geschlossen bzw. auf literarkritische Operationen ausgewichen wird, ohne die sinnstiftende und textpragmatische Funktion der im Text angelegten Spannungen ausreichend gewürdigt zu haben. Mit Hilfe einer narratologischen Analyse soll der engere Kontext der Fußwaschung berücksichtigt werden (Joh 11,1–17,26), in der die Liebe zwischen 452 Berger,

Exegese, 62.

1.8. Perspektiven für die weitere Interpretation der Fußwaschungserzählung

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Jesus, den Seinen und Gott sowie die Gemeinschaft der Jünger nach Jesu Abschied in hervorgehobener Weise thematisiert werden.453 Ein besonderer Fokus liegt auf den Texten, bei denen sich durch Semantik, Syntax oder die narratologische Struktur im Allgemeinen engere Bezüge zur Fußwaschungserzählung herstellen lassen. Deshalb werden neben Joh 13,1–38 auch die Textabschnitte Joh 12,1–8 und 15,1–17 berücksichtigt.

453  Vgl. zum Vorkommen von ἀγαπάω κτλ und φιλέω κτλ im Johannesevangelium Frey, Love, 753–767; Popkes, Theologie, 19–21.

Kapitel 2

Zur Vorgehensweise 2.1. Hermeneutische und methodische Reflexion Die forschungsgeschichtliche Untersuchung hat gezeigt, dass die Analyse und Interpretation der Fußwaschungserzählung mit ihren vielen Details von den unterschiedlichsten Voraussetzungen der Exegetinnen und Exegeten abhängen, mit denen sie an das 13. Kapitel des Johannesevangeliums herangehen. Ein besonderes Gewicht haben dabei vor allem die – nicht immer explizit reflektierten – Annahmen zur kulturellen Bedeutung der Fußwaschung in der Antike1, die Beantwortung der Einleitungsfragen insbesondere mit Blick auf die Entstehung des Johannesevangeliums, sein Verhältnis zu den Synoptikern und seine Beurteilung als einheitlicher oder gewachsener Text sowie schließlich das damit verbundene Textverständnis und die entsprechende Auswahl des methodischen Zugriffs. Die Beurteilung der Theologie des Johannesevangeliums, insbesondere mit Blick auf die Christologie, die Soteriologie und die Ethik, tragen ebenfalls zur Vielfalt der Interpretationen der Fußwaschungserzählung bei. Mit Blick auf die Einleitungsfragen ist für das Verständnis von Joh 13 vor allem die Frage nach der Beurteilung der Kohärenz des Textbestandes entscheidend. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurden zunehmend literarkritische Modelle zur Erklärung der Genese des vierten Evangeliums verwendet. Ausgangspunkt dafür waren Aporien wie Brüche oder inhaltliche Widersprüche, die man im Johannesevangelium zu finden glaubte, wobei als klassisches Beispiel Joh 14,31 zu nennen ist.2 In Joh 13,1–20 wurden in der Regel die Abschnitte 13,6–11 sowie 12–17 auf unterschiedliche Entstehungsstufen verteilt, oft wurden auch die Verse 10 f.18 f.und 20 als sekundär beurteilt. Die festgestellten Brüche und Widersprüche wurden in der neutestamentlichen Forschung des 20. Jahrhunderts überwiegend durch eine mehrstufige Entstehung des Evan1 Vgl.

dazu v. a. Abschnitt 1.8.  Diese Aporie wurde als erstes benannt von Wellhausen, Erweiterungen, 8 f.; vgl. Schnelle, Einleitung, 568–570. Einen wichtigen synchronen Lösungsversuch mit Blick auf griechisch-römische Literaturformen und das Vorbild eines literarischen Symposiums bietet Parsenios, Departure, 49–70.111–149. Die literarkritischen Lösungsversuche geben jedoch alle keine befriedigende Antwort auf die zentrale Frage, warum eine Redaktion im Rahmen der Überarbeitung Ergänzungen nicht vor 14,31 eingefügt hat, so dass der Aufruf zum Gehen unmittelbar vor 18,1 sinnvoll verortet wäre, so richtig Kellum, Unity, 77. 2

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

geliums erklärt, sei es durch eine Grundschicht-Hypothese wie sie grundlegend von Julius Wellhausen oder Eduard Schwartz entwickelt wurde, sei es durch eine Mehrquellenhypothese, wie sie erstmals bei Rudolf Bultmann ausgearbeitet vorliegt und seitdem in mehr oder weniger abgewandelter Form immer wieder aufgenommen wurde.3 Bereits die Vielfalt an Rekonstruktionen eines ‚ursprünglichen‘ johanneischen Textes in den Forschungsarbeiten zeigt jedoch die Problematik dieses methodischen Zugangs, bei dem weder der Handschriftenbefund noch sprachlich-stilistische Merkmale die Entscheidungen der Exegeten stützen, sondern vielmehr Vorannahmen über die Entstehung oder Theologie des Evangeliums in einem hermeneutischen Zirkel zur Ausscheidung der inhaltlich ausgesonderten Textbestandteile führten.4 Diese Erkenntnis bedingte in den letzten drei bis vier Jahrzehnten einen grundlegenden Wandel der Johannesforschung, die sich zunehmend neueren, aus der Literaturwissenschaft kommenden Textmodellen und Methoden öffnete.5 Das Johannesevangelium wird dabei – zum Teil auch unabhängig von der vorausgesetzten Entstehungsgeschichte  – als ein kohärenter Text betrachtet, der methodisch in seiner vorliegenden Form zu analysieren ist.6 Bleibend umstritten ist jedoch die Frage der ursprünglichen Zugehörigkeit von Joh 21 zum Evangelium.7

3  Die angenommene ursprüngliche Grundschicht des Johannesevangeliums wurde von Wellhausen und Schwartz als eigenständiger, von den Synoptikern unabhängiger Entwurf betrachtet; vgl. Schwartz, Aporien, 497–650; Wellhausen, Evangelium, 105 f. Rudolf Bultmann verortete die Ursprünge des vierten Evangeliums in palästinisch-syrischen Täuferkreisen und sah im johanneischen Christentum „einen älteren Typus […] als das synoptische“; Bultmann, Bedeutung, 102; vgl. a. a. O. 55–104. 4  Vgl. Schnelle, Einleitung, 564–581; ders., Literatur I, 265–268; Frey, Wege, 17–21; ders., Eschatologie I, 51–71.119–150.266–297. 5  Vgl. Schnelle, Literatur I, 269 f. Zu exegetischen Arbeiten zum Johannesevangelium unter synchroner Perspektive vgl. die Forschungsberichte von Haldimann/Weder, Literatur II, 75–115 zu den Jahren 1985–1994 und von Schnelle, Literatur I, 266–283. Die synchron-literarische Auslegung des Johannesevangeliums unter der Voraussetzung, dass Johannes alle drei synoptischen Evangelien kennt und rezipiert, wird besonders konsequent, z. T. sogar in extremer Art und Weise, von Hartwig Thyen in seinem Johanneskommentar angewandt; vgl. Thyen, Johannesevangelium. Thyens Forscherbiographie bildet den Weg der Johannesforschung von der literarkritischen Exegese des Johannesevangeliums in der Schule Bultmanns bis hin zu einer konsequent synchronen Analyse beispielhaft ab und lässt sich gut in seinen zahlreichen Aufsätzen nachverfolgen; vgl. Frey, Eschatologie I, 298–305; Schnelle, Literatur I, 270–272. 6  Den Auftakt zur Anwendung literaturwissenschaftlicher Methodik in der Johannesforschung bildet Culpepper, Anatomy; vgl. auch den Forschungsüberblick von Haldimann/ Weder, Literatur II, 76–114. 7  Joh 21 wird nur zum Teil als integraler Bestandteil, von Thyen sogar als Kulminationspunkt des Evangeliums verstanden; vgl. z. B. Berger, Anfang, 21–25; Schenke, Johannesevangelium, 382; Thyen, Johannesevangelium, 772; Welck, Zeichen, 313–315; zum Teil als eine Art Epilog, z. B. von Moloney, Gospel, 562–564; von vielen jedoch als sekundäre Ergänzung verstanden, u. a. von Becker, Evangelium II, 758 f.; Culpepper, Anatomy, 96; Schnelle, Evangelium, 339 f.; Wilckens, Evangelium, 7–9.

2.1. Hermeneutische und methodische Reflexion

81

Die Entstehung des Johannesevangeliums wird in der neueren Forschung nicht mehr in einer johanneischen Sonderüberlieferung, sondern verstärkt im traditionsgeschichtlichen Kontext der frühen christlichen Gemeinden verortet, wobei eine Kenntnis zumindest einzelner synoptischer Evangelien und weiterer mündlicher Überlieferungen mit hoher historischer Plausibilität vorausgesetzt werden kann.8 Die besondere Auswahl und Darstellung des Stoffs im Johannesevangelium werden auf die literarische und theologische Kreativität des Verfassers bzw. der Verfasserin oder auch einer das Evangelium gestaltenden Gruppe zurückgeführt. Zum Teil wird auf der Grundlage neuerer Fortschreibungsmodelle erneut ein mehrstufiger Entstehungsprozess angenommen und bei der Interpretation berücksichtigt: Im Prozess der Entstehung und Abfassung des vierten Evangeliums seien Themen und Überlieferungen wiederholt bedacht und somit einem Prozess der Relecture bzw. der Réécriture unterzogen wurden.9 Diese Annahme betrifft vor allem die Fußwaschungserzählung sowie die Abschiedsreden Jesu.10 Bei den auf diesem Textverständnis beruhenden Interpretationen des vierten Evangeliums ergibt sich  – vergleichbar zu den literarkritischen Modellen  – jedoch das Problem, dass das sprachliche Profil des johanneischen Textes keine exakten Hinweise dafür gibt, wo die Schnittstellen für die wiederholte Behandlung einer Thematik verlaufen und welche der Zugänge bzw. Abschnitte als ursprünglich und welche als Überarbeitungen anzusehen sind. Es ergibt sich folglich auch bei diesem Entstehungsmodell ein hermeneutischer Zirkel: Bei der Analyse und Interpretation werden Schnittstellen bestimmt und Texte auf unterschiedliche Entwicklungsstufen verteilt, welche im Johannesevangelium alle in einem Text stehen und dort keine eindeutige Auskunft mehr geben, wie und wann ihre Inhalte entstanden sind. So entspricht Jean Zumsteins Interpretation des Endtextes von Joh 13,1–20 in seinem grundlegenden Zugriff weitgehend den literarkritischen Ansätzen, die in Joh 13,6–11 und 13,12–17 unterschiedliche Themen behandelt sehen, auch wenn er am Ende nach den verbindenden  8  Zu dem in der Johannesforschung immer wieder problematisierten Verhältnis zwischen Johannes und den synoptischen Evangelien vgl. den Überblick bei Schnelle, Einleitung, 578–581; Thyen, Johannes, 81–107; ders., Erzählung, 2120–2150; vgl. auch den von Adelbert Denaux herausgegebenen Sammelband „John and the Synoptics“ sowie mit einem forschungsgeschichtlichen Abriss und exemplarischen Beispielen Frey, Evangelium, 60–118.  9  Zum Relecture-Modell vgl. Zumstein, Prozess, v. a. 394–411; zu Réécriture-Prozessen vgl. Dettwiler, Gegenwart, 44–52; Scholtissek, Relecture, 1–29. Die Hypothese, dass Textabschnitte nachträglich ergänzt wurden, sei es durch eine spätere Redaktion oder durch Relecture-Prozesse, betrifft v. a. die Kapitel Joh 15–17; vgl. dazu Schnelle, Evangelium, 261–263, der Joh 15–17 als sachgemäße Fortsetzung von Joh 13 f. betrachtet. Schnelle kritisiert zurecht, dass bei der Interpretation johanneischer Texte unter Voraussetzung sekundärer Überarbeitungsprozesse ein „wesentlicher Unterschied“ besteht, „ob einem Text der Status eines Primär- oder Sekundärtextes zugewiesen wird“; Schnelle, Literatur I, 269; Schnelle, Einleitung, 567 f. 10  Vgl. dazu auch den Forschungsüberblick zu den Abschiedsreden von Schnelle, Literatur II, 464–504 sowie das Kapitel zur Forschungsgeschichte, v. a. Abschnitt 1.1.

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Linien zwischen den einzelnen Abschnitten fragt.11 Der Blick für eine Wahrnehmung von Joh 13,1–20 als kohärenter Text wird durch die Unterscheidung in Primär- und Sekundärtexte bzw. in eine primäre und eine sekundäre Interpretation der Fußwaschung Jesu zumindest getrübt. Gerade mit Blick auf Joh 13–17 ist festzuhalten, dass das wiederholte Aufgreifen eines Themas mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Argumentationsmustern „zur theologischen und literarischen Kompetenz eines guten Autors, auf verschiedene Herausforderungen mit unterschiedlichen Antworten einzugehen“, gehört.12 Es ist durchaus plausibel, dass der Verfasser des vierten Evangeliums genau durch diese differenzierte Darstellungsweise auf unterschiedliche historische Erfahrungen und Fragestellungen aus der Gemeindepraxis reagiert und der Text in der jetzt vorliegenden Form zwar eine gegliederte, aber doch in sich stimmige und aus einer Hand stammende Darstellung bietet. Eine synchrone Analyse des vierten Evangeliums wurde in den letzten Jahrzehnten besonders durch Hartwig Thyen vorangetrieben.13 Er hat seit den 1990er Jahren zunehmend intertextuelle Ansätze für die Interpretation des Johannesevangeliums fruchtbar gemacht. Damit verbunden ist eine grundlegende Kritik an der redaktionsgeschichtlichen Methode, die er lange Zeit selbst auf der Suche „nach der historischen Genese des Corpus Johanneum als dem vermeintlichen Universalschlüssel seiner korrekten Interpretation“ angewandt hat.14 Die Redaktionskritik gründe sich auf die Ergebnisse der Literarkritik zum Johannesevangelium, mit deren Hilfe man versuche, Textstellen unterschiedlichen Schichten und Entstehungssituationen im Leben der johanneischen Gemeinde oder Schule zuzuordnen und mit Hilfe der Frage nach der Autorintention den Sinn der einzelnen Textbestandteile zu formulieren.15 Diesen methodischen Zugriff kritisiert Thyen nun als „reines Konstrukt der Ausleger der Texte und bloße Spiegelbilder des Typs der jeweiligen Auslegung“, er entlarvt ihn als hermeneutischen Zirkel im Sinne einer „selffulfilling prophecy“.16 Weiterführend an Thyens Ansatz ist, dass er nicht nur methodisch einen neuen Weg wählt, sondern auch hermeneutisch sein Textverständnis grundlegend reflektiert. 11  Vgl. Abschnitt 1.1.7. Auch Dettwiler geht von zwei unterschiedlichen Interpretationen der Fußwaschung in 13,6–10 – als christologisch-soteriologische Deutung des Evangelisten – und 13,12–17 – als ältere ethische Tradition – aus, vgl. Dettwiler, Gegenwart, 67–74. 12  So richtig Schnelle, Literatur II, 486. 13  Vgl. Thyen, Johannesevangelium; vgl. auch Culpepper, Anatomy, zur konsequenten Anwendung literaturwissenschaftlicher Methodik. Vor allem narratologische und rezeptionsästhetische Modelle führten zur Kritik an einem primär werk- und autorenzentrierten Zugang zum Johannesevangelium. 14 Thyen, Johannes, 155. 15  Thyen, Johannes, 158. Zum Verhältnis von Johannes zu den Synoptikern vgl. grundlegend Labahn/Lang, Johannes 443–516; Thyen, Johannes, v. a. 159–167; Frey, Evangelium, 255–281. 16  Thyen, Johannes, 155 f.

2.1. Hermeneutische und methodische Reflexion

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Als Alternative legt Thyen ein semiotisch und rezeptionsästhetisch fundiertes Textverständnis zugrunde: Nicht die Autorintention sei entscheidend für das richtige Verständnis eines Textes, sondern die Lesenden entfalten bei der Rezeption eine mögliche Deutung und spielen so für das Textverständnis eine konstitutive Rolle: „Erst wo die Intention eines Autors von den Zeichen seiner Schrift abgesprungen ist, sind sie frei, durch ihre Leser mit neuen und anderen Interpretanten besetzt und so verstanden zu werden. Eine wissenschaftliche Methode, einen Text im Geist der neuzeitlichen Analyse adäquat zu verstehen, ist nicht denkbar. Denn Texte sind stets die Summe ihrer möglichen Deutungen, deren Zahl unvorhersehbar ist. Sie appellieren an die Freiheit ihrer Leser, den toten Zeichen divinatorisch Sinn und neues Leben einzuhauchen. Aufgrund der grammatischen Verfaßtheit von Texten können methodisch allein unmögliche Deutungen ausgeschlossen werden. Doch auch die Überprüfung der nach Graden unterschiedlichen Plausibilität möglicher Interpretationen ist deshalb nicht subjektiver Willkür ausgeliefert, sondern bedarf angemessener Verfahren. […] Man muß alsdann die Illusion eines ursprünglichen, mit sich identischen Textsinns fahrenlassen und sehen, daß Text und Interpretation nicht zwei Seiten einer teilbaren Arbeit  – der Produktion und der Rezeption  – sind, sondern daß bereits die im Text selbst verwobenen Ausdrücke nur kraft einer Interpretation bestehen, d. h. den Status von Zeichen erwerben.“17 Im Kontext seiner rezeptionsorientierten Hermeneutik verwendet Thyen das Intertextualitätskonzept von Julia Kristeva, um damit die Bezüge zwischen den Evangelien konkreter zu bestimmen.18 Er wendet es im Sinne einer produktionsorientierten Intertextualität auf das Verhältnis von Johannes zu den drei synoptischen Evangelien an. Zu den Annahmen über die Entstehung des Johannesevangeliums gehörte vor allem die seit Rudolf Bultmann und Charles H. Dodd verbreitete Überzeugung, dass das vierte Evangelium die Synoptiker nicht kannte,19 sondern seine Informationen aus anderen Traditionen schöpfte, die zum Teil mit viel Aufwand erforscht und rekonstruiert wurden.20 Diese mit den literarkritisch erarbeiteten Textmodellen verbundenen aufwendigen Hypothesen haben für Thyen ihre Plausibilität verloren und führen ihn zu der Überzeugung, dass das vierte Evangelium alle synoptischen Evangelien kenne und voraussetze.21 Die 17 Thyen,

Johannes, 164 f. Hervorhebungen im Text.  Thyen, Johannes, 170. 19  Einflussreich mit Blick auf die Unabhängigkeitsthese war besonders die Schrift von Gardner-Smith, Saint John and the Synoptic Gospels von 1938, die insbesondere die weiteren Forschungen von Bultmann als auch von Dodd prägte; vgl. Frey, Eschatologie I, 399. 20  Hier sind alle Versuche zu nennen, welche eine johanneische Grundschicht (grundlegend Julius Wellhausen und Eduard Schwartz) oder auch schriftliche Quellen (Rudolf Bultmann) oder gar einen Vorläufer des johanneischen Evangeliums rekonstruieren wollen (Robert T. Fortna). 21 Vgl. Thyen, Johannes, 81–107; ders., Erzählung, 2120–2150. 18

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Annahme, dass der Verfasser des Johannesevangeliums einzelne oder alle synoptischen Evangelien kennt und benutzt, ist eine plausible und mit weniger Zusatzannahmen belastete Hypothese zur Erklärung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Johannes und den Synoptikern. Thyen geht außerdem davon aus, dass das vierte Evangelium „als ein Text über die Texte seiner drei älteren synoptischen Vorgänger gelesen sein will. Sein idealer (impliziter) Leser sollte das souveräne und oft höchst ironische Spiel des Johannes mit den Synoptikern zu goutieren wissen“.22 Diese Prämisse hat grundlegende Auswirkungen auf die Interpretation des Johannesevangeliums. Thyen setzt damit voraus, dass das vierte Evangelium nicht geschrieben wurde, um die anderen drei Evangelien zu ersetzen, sondern um im Verbund mit ihnen gelesen und verstanden zu werden.23 Bei der Interpretation des johanneischen Textes müssten deshalb stets auch konsequent die synoptischen Evangelien mitbedacht werden. Dabei verändert eine intertextuelle Lektüre die Interpretationsmöglichkeiten beider Texte. Dessen ist sich Thyen bewusst, wenn er feststellt, „daß diese Prätexte stets mitgelesen sein wollen. Denn der ‚Witz‘ solcher Intertextualität besteht ja gerade darin, daß der Sinn des neuen Textes in diesem ‚Inter‘ (Zwischen) erscheint.“24 Es ist jedoch problematisch, dass Thyen ohne detaillierte Überprüfung am jeweiligen johanneischen Text grundlegend voraussetzt, dass das Johannesevangelium stets in der intertextuellen Lektüre mit allen drei synoptischen Evangelien gelesen werden will. Diese Ausgangshypothese führt in der konkreten Interpretation Thyens dazu, dass zum Teil nicht der johanneische Text selbst als Grundlage der Interpretationsmöglichkeiten genommen wird, sondern die synoptischen Vergleichstexte – in textgenetischer Weise als Prätexte betrachtet – von vorneherein bei der Interpretation mit einbezogen werden. Die Bedeutung des johanneischen Textes wird deshalb, wie Thyen selbst explizit schreibt, nicht im johanneischen Text selbst, sondern im „Inter“, im Zwischenraum zwischen den Evangelientexten gesucht.25 Dabei ergibt sich das Problem, dass bei der Exegese Informationen aus den älteren Texten unreflektiert in den rezipierenden Text hineingelesen werden (können) und der johanneische Text auf eine Art und Weise angereichert wird, welche möglicherweise nicht der Anlage des Johannesevangeliums entspricht.26  Thyen, Johannes, 163. Thyen, Johannes, 169 f. Thyen erwägt sogar, ob Johannes der „Schöpfer des VierEvangelien-Kanons“ sein könnte, lässt die Frage aber unbeantwortet; a. a. O. 172. 24  Thyen, Johannesevangelium, 549. 25 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 549. 26  Vgl. Schneider, Gegenwart, 127, der mit Hilfe eines Schaubildes die unterschiedlichen Interpretationsperspektiven berücksichtigt, wobei er zunächst im Anschluss an Umberto Eco Fragen zum intratextuellen Textverständnis formuliert, bevor intertextuelle Perspektiven untergliedert nach syntagmatischer, pragmatischer und semantischer Fragestellung dargestellt werden. Aufschlussreich ist auch die Analyse von Joh 2,1–12 durch Garsky, der das Verhältnis von Intertextualität und Allegorie beleuchtet; er analysiert den johanneischen Text konsequent 22

23 Vgl.

2.1. Hermeneutische und methodische Reflexion

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Es stellt sich deshalb die Frage nach der methodischen Berücksichtigung einer intertextuellen Disposition27 des jüngeren Textes als Hinweis darauf, dass bzw. wie er an der jeweiligen Stelle die älteren Texte einspielt oder kommentiert. Bei den einzelnen Texten ist stets neu zu überprüfen, wie auf welche synoptischen Texte angespielt wird und ob ein Leser eine affirmierende, eine differierende oder sogar eine den älteren Text negierende Schlussfolgerung für die Interpretation des vorliegenden johanneischen Textes ziehen soll. Für die grundlegende Voraussetzung Thyens, dass der Verfasser des Johannesevangeliums die synoptischen Evangelien kannte und für seinen eigenen Entwurf eines Evangeliums benutzte, gibt es literarisch und historisch überzeugende Argumente.28 Auch erscheint es plausibel, dass das vierte Evangelium mit den synoptischen Evangelien vertraute Lesende voraussetzt. Deshalb wird in der vorliegenden Studie mit der Prämisse gearbeitet, dass Johannes die drei synoptischen Evangelien kannte und sie – in eklektischer Weise – rezipierte, um sein eigenes Evangelium als einen neuen, aktualisierten Entwurf der Jesus-ChristusGeschichte ausgehend von den synoptischen Evangelien zu verfassen. Für die vorliegende Studie zur Fußwaschungserzählung wird, in Übereinstimmung mit den Arbeiten von Maurits Sabbe und Hartwig Thyen, die Kenntnis aller drei synoptischen Evangelien durch den oder die Verfasser des Johannesevangeliums zugrunde gelegt, auch wenn diese am johanneischen Text nicht für alle drei Evangelien in gleicher Weise belegt werden kann.29 Die erzählerische und theologische in zwei Schritten, indem er die Perikope zunächst im Kontext des Johannesevangeliums nach Interpretationsmöglichkeiten befragt und erst in einem zweiten Schritt intertextuell arbeitet und die sich jeweils ergebenden Interpretationsmöglichkeiten kritisch miteinander abgleicht; vgl. Garsky, Zeichen, 83.90f; er kommt zu dem Ergebnis, dass das Verständnis des johanneischen Textes, das sich aus einer intertextuellen Lektüre mit den Synoptikern ergibt, auch grundsätzlich innerhalb des Johannesevangeliums zugänglich ist und durch die intertextuelle Lektüre eine Vertiefung oder Bereicherung erfährt; vgl. a. a. O. 100 f. 27  Dieser Begriff wurde v. a. geprägt durch Holthuis, Intertextualität, 33. 28 Gardner-Smith hat 1938 für die völlige Unabhängigkeit des Johannesevangeliums von den Synoptikern argumentiert und damit die Johannesforschung lange Zeit geprägt; GardnerSmith, John, passim. Für eine Kenntnis aller drei Synoptiker argumentieren z. B. Moloney, Gospel, 13–20; Schenke, Johannesevangelium, 7 f.432; Stibbe, John, 9–19; Thyen, Johannesevangelium, 7. Für eine Kenntnis von Markus und Lukas, aber gegen eine Abhängigkeit von Matthäus votierte ursprünglich Neirynck, John, 105 f.; so u. a. auch Barett, Evangelium, 59–71; Frey, Evangelium, passim; Hengel, Frage, passim; Lang, Johannes, passim; Schnelle, Evangelium, 17. Wilckens geht von mindestens einem bekannten Evangelium aus; Wilckens, Evangelium, 2–5. Theobald votiert gegen eine Benutzung, lässt eine Kenntnis aber offen; Theobald, Johannesevangelium I, 77–79. 29 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 1–5; ders., Johannes, passim; ders., Erzählung, passim; Sabbe, Footwashing, passim; ders., Anointing; ders., Trial. Es ist in die Überlegungen einzubeziehen, dass der Evangelist trotz der Kenntnis des Matthäusevangeliums dieses möglicherweise nicht so umfassend oder deutlich in Zitaten bzw. Anspielungen rezipiert, dass am johanneischen Text eine Benutzung im Sinne einer literarischen Abhängigkeit zwischen Johannes und Matthäus sicher nachgewiesen werden kann. Michael Theobalds präzise Unterscheidung zwischen Kenntnis und Benutzung ist hier weiterführend: Er selbst kommt zu dem

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Eigenständigkeit des vierten Evangeliums zeigt, – gerade auch dort, wo sich ein Bezug auf Markus oder Lukas wahrscheinlich machen lässt, – dass Johannes seine Prätexte in aller Freiheit eklektisch und kreativ benutzt und keinen Gefallen an umfangreichen wörtlichen Zitaten oder einer analogen Erzählabfolge der Ereignisse im Leben Jesu findet. Die Annahme, dass Johannes neben dem Markusund Lukasevangelium auch Matthäus kannte, ist als wissenschaftliche Hypothese für die Untersuchung der intertextuellen Bezüge im Johannesevangelium durchaus möglich und sinnvoll, da dies zur Erweiterung der Textbasis führt, die im Rahmen der intertextuellen Analyse berücksichtigt wird.30 Inwiefern eine Rezeption synoptischer Erzählungen und Jesusworte in den zu untersuchenden johanneischen Texten plausibel gemacht werden kann, wird bei der Exegese der jeweiligen Texte zu prüfen sein. Dennoch bleibt die Frage, wie das Johannesevangelium im Zusammenhang mit den anderen Evangelien verstanden werden will. Bei dieser Frage sind zwei Dimensionen der Intertextualität zwar nicht zu trennen, aber vom erkenntnisleitenden Interesse des exegetischen Zugangs her zu unterscheiden: einerseits der Bezug zwischen Text und Prätext und andererseits das Verhältnis von Text und Lesenden.31 Ein expliziter Rezeptionshinweis, dass die Lesenden konsequent die anderen Evangelien berücksichtigen sollen, fehlt im JohannesevanErgebnis, dass eine Benutzung der Synoptiker durch Johannes nicht vorliege, ihre Kenntnis unwahrscheinlich, aber wissenschaftlich nicht zu überprüfen und nicht auszuschließen sei; vgl. Theobald, Evangelium I, 76–81. Mit Blick auf die Frage nach einer – nachweisbaren – Benutzung ist außerdem zu berücksichtigen, dass auch die Art und Weise der Rezeption synoptischer Traditionen durch Johannes nicht mit der literarischen Abhängigkeit zwischen den Synoptikern vergleichbar ist, wie Schnelle völlig zurecht festhält: „Johannes nahm allerdings weder das Markusevangelium noch das Lukasevangelium in der Weise auf, wie es sich aus dem literarischen Verhältnis der synoptischen Evangelien her nahelegen würde“, Schnelle, Einleitung, 581. Die Beobachtungen und Methoden des synoptischen Vergleichs können von daher nicht als Messlatte dafür dienen, ob bei Johannes eine Kenntnis oder Verwendung synoptischer Texte wahrscheinlich ist. Last but not least ist auch die Frage nach Entstehung und Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den synoptischen Evangelien selbst nicht unbestritten, wenn man die aktuell diskutierten Schwächen der Zwei-Quellen-Theorie und als alternatives Modell die in unterschiedlichen Fassungen vorliegende Benutzungshypothese berücksichtigt, vgl. Alkier, Testament, 125–127, mit Bezug auf Goodacre, Case; vgl. ausführlich zu den verschiedenen Theorien der synoptischen Abhängigkeit Schmithals, Einleitung, 44–23; zur Kritik an der Zwei-Quellen-Theorie vgl. Kahl, Ende, 404–442. Für die vorliegende Studie wird deshalb – ohne die aufgeworfenen Probleme einer genauen Analyse unterziehen zu können  – in aller wissenschaftlichen Vorsicht eine Kenntnis von Markus und Lukas als wahrscheinlich und von Matthäus als durchaus möglich vorausgesetzt. 30  Selbst wenn die konkrete Frage nach der produktionsorientierten Intertextualität im Sinne einer – nicht markierten – Bezugnahme von Johannes auf Matthäus offenbleiben muss, kann der intertextuelle Vergleich der fraglichen Texte für eine rezeptionsorientierte intertextuelle Analyse weiterführend und ertragreich sein. 31  Pfister bezeichnet diese als „vertikale“ und „horizontale“ Dimension der Intertextualität, die zusammenhängen und sich nicht gegenseitig ausschließen, die aber zu unterscheiden sind; Pfister, Konzepte, 25.

2.1. Hermeneutische und methodische Reflexion

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gelium.32 In Joh 20,30 f. gibt das vierte Evangelium jedoch zu erkennen, dass aus einer größeren Fülle an Überlieferungen eine Auswahl getroffen wurde. Folglich werden die vom vierten Evangelium vorausgesetzten Lesenden, die mit der synoptischen Tradition vertraut sind, Johannes am ehesten als einen neuen Entwurf der Jesus-Christus-Geschichte lesen, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vergleich mit seinen Vorgängern aufweist und darin die mit der bekannten Tradition verbundenen Leseerwartungen bestätigt bzw. kommentiert oder korrigiert. Grundlage für die Rezeption und Interpretation des vierten Evangeliums ist jedoch der johanneische Text, der die Lesenden mit ihrem möglicherweise bereits vorhandenen Vorwissen in seine Darstellung des Lebens und Wirkens Jesu hineinnimmt und führt.33 Der konkrete Bezug zwischen einem johanneischen Text und seinen Prätexten ist im Einzelfall exegetisch stets neu zu überprüfen, indem die intertextuellen Dispositionen des einzelnen johanneischen Textes beleuchtet werden. Die intertextuelle Lektüre von Prätexten und johanneischem Text führt schließlich zur Erweiterung des Sinnpotenzials aller betroffenen Texte. Im Anschluss daran lässt sich schließlich fragen, ob erkennbar ist, in welcher Weise der johanneische Text seine Prätexte möglicherweise verstanden hat, welche Informationen übergangen und welche aufgegriffen und affirmierend oder negierend kommentiert werden. Es ist von daher methodisch und hermeneutisch naheliegend, als Ausgangspunkt und Grundlage der Interpretation den vorliegenden Text des Johannesevangeliums zu verwenden. Ein intertextueller Vergleich mit den relevanten synoptischen Texten wird in einem zweiten Analyseschritt erhellen, wie das Johannesevangelium seine eigenen Erzählungen gestaltet und was es in besonderer Weise aufnimmt oder hervorhebt. Allerdings sind keine Informationen aus den synoptischen Evangelien in die Interpretation des johanneischen Textes einzutragen, wenn dieser selbst keine entsprechenden Lektüreanweisungen gibt bzw. das Interpretationsspektrum durch die eigene Darstellung entsprechend begrenzt. Die zentrale Grundlage für die Bedeutungsmöglichkeiten des johanneischen Textes liegt primär im Text des Johannesevangeliums selbst, auch wenn dieser aus den synoptischen Texten bekannte Überlieferungen aufgreift und für seine Zwecke kreativ aufnimmt und umgestaltet. Für die Vorgehensweise in der vorliegenden Untersuchung bedeutet dies, dass zunächst der Text des Johannesevangeliums für sich, intratextuell, analysiert werden soll. In einem 32 Vgl. z. B. den Prolog des Lukasevangeliums, wo der Verfasser zu erkennen gibt, dass er andere Evangelien kennt, dass er sich von diesen aber mit seinem Versuch abgrenzt, alles der Reihe nach darzustellen (Lk 1,1–4). Eine vergleichbare explizite Bezugnahme fehlt im Johannesevangelium. Diese wäre aber zu erwarten, wenn das Johannesevangelium von seinen Lesenden erwartet, dass es selbst konsequent im Zusammenhang mit den anderen synoptischen Evangelien interpretiert werden will. 33 So zu Recht Schnelle, der den „Verstehensschlüssel der Einzeltexte immer in der intratextuellen Welt des gesamten 4.Evangeliums“ sieht, vgl. Schnelle, Einleitung, 590.

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

zweiten Schritt kann dann ein intertextueller Vergleich mit verwandten synoptischen Texten stattfinden, um herauszufinden, welche spezifischen Aspekte der johanneischen Darstellung dadurch sichtbar werden oder noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Dadurch werden zugleich auch synoptische Überlieferungen in ein neues Licht gestellt. Im Hinblick auf die Darstellung der Ereignisse aus dem Leben Jesu zeigen die vier Evangelien  – intertextuell gelesen – eine Vielfalt an möglichen Interpretationen, die sich in rezeptionsorientierter Perspektive gegenseitig bereichern, ergänzen und verändern. Mit Blick auf die johanneische Interpretation des Lebens Jesu wird jedoch durch den Text des Johannesevangeliums selbst das Bedeutungspotenzial eines Ereignisses möglicherweise auch wieder eingeschränkt. Als Textgrundlage wird in der vorliegenden Studie das Johannesevangelium inklusive Joh 21 zugrunde gelegt. Mit Blick auf die handschriftliche Überlieferung wird Joh 7,53–8,11 nicht zum Bestand des Johannesevangeliums gezählt, in Joh 13,10 wird der Kurztext als wahrscheinlich ältere Textfassung vorausgesetzt.34 Ob Joh 21 ursprünglicher Bestandteil des Evangeliums oder eine spätere Ergänzung des Johannesevangeliums darstellt, ist in der Forschung umstritten.35 Da es keine stilistischen oder handschriftlichen Belege gibt, die eine spätere Entstehung des letzten Kapitels überzeugend begründen, wird das letzte Kapitel aus methodischen Gründen nicht als redaktionelle Hinzufügung, sondern als integraler Bestandteil des Evangeliums betrachtet.36 Literarkritische Operationen stehen stets in der Gefahr eines hermeneutischen Zirkels, bei dem ausgeschieden wird, „wo man mit einliniger moderner Logik Widersprüche meinte feststellen 34  Vgl. zum aktuellen Forschungsstand bzgl. der literarischen Integrität Schnelle, Einleitung, 564–573; textkritisch sekundär sind wahrscheinlich auch die Verse Joh 5,3b–4. Die von Schnelle angeführte „methodische Regel, dass ein Text dem Evangelisten Johannes nur dann abgesprochen werden kann, wenn ein Verstehen des Textes auf der Ebene des Evangelisten unmöglich ist“ (Schnelle, Einleitung, 568), wird in der vorliegenden Arbeit jedoch noch grundlegender angewandt als bei Schnelle selbst, der Joh 21 und tendenziell auch die futurisch-eschatologischen Verse Joh 5,28 f.; 6,39 f.44.54; 12,48 sowie die als eucharistischen Texte verstandenen Abschnitte Joh 6,51c–58; 19,34b.35 einer späteren Redaktion zuschreibt; a. a. O. 571 f. Schnelle führt dafür v. a. inhaltliche Gründe sowie die Bewertung von Joh 20,30 f. als Buchschluss an, die aber in der Forschung durchaus kontrovers beurteilt werden, vgl. a. a. O. 571 Anm. 35  Joh 21 wird als sekundär beurteilt z. B. von Bultmann, Evangelium, 542 ff.; Frey, Grundfragen, passim; Haenchen, Johannesevangelium 580–582; Becker, Evangelium II, 758–760; Schnelle, Johannesevangelium, 314 f.; Moloney, Introduction, 320; Barrett, Evangelium, 551–553; Zumstein, Johannesevangelium, 39. Die literarische Einheit von Joh 1–21 wird aus historischen bzw. aus literarischen Gründen u. a. vertreten von Moloney, Gospel, 13–20; Stibbe, John, 9–19; Schenke, Johannesevangelium, 7 f.; Thyen, Johannesevangelium, 1–5. 36  Obwohl Brown auch in seiner posthum von Moloney herausgegebenen Einleitung zu einem Kommentar noch davon ausgeht, dass Joh 21  – ebenso wie der Prolog  – von einem Redaktor stammen, sieht Brown die Aufgabe der Exegese nicht in der literarkritischen Entscheidung, sondern in der Interpretation des Textes, wie er vorliegt: „One should deal with the Gospel of John as ist now stands, for that is the only form that we are certain has existed“, Brown, Introduction, 320.

2.2. Methodische Zugänge

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zu müssen, wo es sich aber nach der Intention des Verfassers durchaus um entgegengesetzte, sich ergänzende Aspekte handeln kann.“37 Klaus Berger sieht die Exegese deshalb in der „Pflicht, bis zum Erweis des Gegenteils (nicht um jeden Preis) den vorliegenden Text als Einheit anzusehen und zu versuchen, auffällige Unebenheiten zunächst auf das eigene Vorurteil zurückzuführen.“38 Hartwig Thyen stellt als ein Ergebnis seiner Forschungen sogar die These in den Raum, dass in Joh 21 viele inhaltliche Linien des Johannesevangeliums zusammenlaufen und gewissermaßen gebündelt werden, so dass das letzte Kapitel als Verständnisschlüssel des ganzen Evangeliums betrachtet werden könne.39 Da sich sowohl auf inhaltlich-semantischer als auch auf narratologischer Ebene deutliche Bezüge zwischen Joh 13 und Joh 21 feststellen lassen40, wäre es exegetisch problematisch, das letzte Kapitel aufgrund der Vorannahme seiner späteren Entstehung bei der Untersuchung der Bedeutung der Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium nicht zu berücksichtigen. Für die vorliegende Studie wird darum vorausgesetzt, dass Joh 21 ein integraler Bestandteil des Johannesevangeliums ist, um mit dieser Arbeitshypothese zugleich zu prüfen, ob sich eine sinnvolle Lektüre des Johannesevangeliums mit Fokus auf der Fußwaschungserzählung unter Berücksichtigung des letzten Kapitels ergibt. Im Zweifelsfall haben zumindest die Verfasser des 21. Kapitels respektive die Herausgebenden des Evangeliums Joh 1–21 als einen zusammenhängenden, kohärenten Text verstanden.41 Auch die zeitgenössischen Leserinnen und Leser des Johannesevangeliums hatten einen das letzte Kapitel einschließenden Text. Die Annahme, dass das Johannesevangelium in seiner vorliegenden Form als ein kohärenter Text betrachtet und interpretiert werden kann, ist deshalb Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung.

2.2. Methodische Zugänge Der exemplarische Forschungsüberblick zur Analyse und Interpretation der Fußwaschungserzählung in Joh 13,1–20 illustriert und bestätigt die von Thyen aufgezeigten Schwachstellen des auf der Literarkritik beruhenden redaktionsgeschichtlichen Zugangs. Die Berücksichtigung literaturwissenschaftlicher An37 Berger,

Exegese, 29.  Berger, Exegese, 29. 39  Thyen, Johannesevangelium, 793. Zu diesem Ergebnis führt auch die Analyse von Martin Culy mit Blick auf die Freundschaftsvorstellung im Johannesevangelium; vgl. Culy, Echoes, 174–177. 40  V.a. die Frage nach der Nachfolge in den Tod Joh 13,36–38; 21,18 f.; die Verleugnung Jesu durch Petrus Joh 13,38; 21,15–17; der geliebte Jünger als Exeget Jesu 13,23–26; 21,7 sowie insgesamt die Situation eines gemeinsamen Mahls Jesu mit seinen ausgewählten Jüngern sowie die Thematik der Liebe und Nachfolge. Vgl. auch Thyen, Johannesevangelium, 777–779. 41 Vgl. Thyen, Johannes, 163. 38

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

sätze, insbesondere aus dem Bereich der Narratologie und der Rezeptionsästhetik, und die Berücksichtigung der Intertextualität lenken den Blick weg von der als problematisch erkannten Frage nach schriftlichen Vorstufen oder Schichten des Textes und der jeweiligen Intention des Autors hin zum vorliegenden Text des vierten Evangeliums, seinen Verstehensbedingungen und Rezeptionsmöglichkeiten. Die intertextuelle und rezeptionsästhetische Ausrichtung, die Hartwig Thyen aufgezeigt hat, soll in der vorliegenden Studie weiterverfolgt werden.

2.2.1. Intertextualität Intertextualität ist kein neues Phänomen.42 Immer wieder finden sich in der Literatur direkte und indirekte Zitate und Bezugnahmen auf andere Texte. Diese werden im Rahmen der historisch-kritischen Exegese etwa durch die Methodenschritte der Literarkritik oder Redaktionskritik untersucht, bei den literaturwissenschaftlichen Methoden sind hier vor allem die Motivforschung und die Wirkungsgeschichte zu nennen.43 Als hermeneutisches Konzept berücksichtigt Intertextualität grundlegend alle „Text-Text-Relationen unter der Fragestellung […], welche Sinneffekte durch diese intertextuellen Beziehungen ermöglicht werden“.44 Sinnveränderungen ergeben sich bei diesen Relationen stets in beide Richtungen, da ein Text, der einen anderen rezipiert, mit Hilfe des referierten Textes nicht nur zur Bedeutungskonstitution des eigenen Textes beiträgt, sondern zugleich auch das Interpretationsspektrum des referierten Textes beeinflusst. Der Begriff ‚Intertextualität‘ kann […] mittels einer fundamentalen semiotischen Relation erklärt werden. Es wird nahegelegt, daß eine intertextuelle Relation aus dem Wechselspiel verschiedener Texte bzw. Textelemente gewonnen wird, d. h. eine Relation zwischen mehreren Zeichen ist, die selbst einen gewissen Zeichencharakter, sprich: eine syntaktischsemantisch-pragmatische Struktur besitzen. Besonders wichtig ist dabei die semantische Perspektive, aus der die intertextuelle Einfügung textexterner Textelemente in einen anderen Text als besondere Referenz, oder besser Metareferenz verstanden werden kann. Die Bedeutungskonstitution eines Textes, in den intertextuelle Zeichen eingebettet sind, wird so zur Integration einer primären Bedeutung in die Bedeutungsstruktur des jeweiligen

 Vgl. Pfister, Konzepte, 1.   Vgl. z. B. Schnelle, Einführung, 68.163; Orosz, Intertextualität, 9. Die Frage nach der Intertextualität umfasst jedoch weit mehr als Methodenfragen, sondern beinhaltet grundlegend veränderte Textkonzepte; vgl. dazu die Aufarbeitung von wichtigen Ansätzen zum Paradigma der Intertextualität für die Paulusexegese von Schneider, Gegenwart, 115–128; zum Verhältnis von Intertextualität und Allegorie, das gerade bei der bildhaften Sprache des Johannesevangeliums von hoher Relevanz ist, vgl. Garsky, Zeichen, 68–101. Im Anschluss an Eco spricht er von „intertextueller Ironie“, zu der „die intertextuell versierten Leser“ einen Zugang finden; Garsky, Zeichen, 100 Anm; vgl. Eco, Bücher, 220. 44 Alkier, Konzeptionen, 33. 42 43

2.2. Methodische Zugänge

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Textes; sie etabliert komplizierte wechselseitige semantische Relationen zwischen dem/ den eingebetteten und dem/den einbettenden Text/en. Auf pragmatischer Ebene bestimmt diese Metareferenz weitgehend die Rezeption solcher Texte, wobei sie durch verschiedene textuelle Eigenschaften gesteuert wird.45

Die Untersuchung intertextueller Bezüge des Johannesevangeliums ist folglich von erheblicher Relevanz für die Analyse seiner Bedeutungsmöglichkeiten. Das poststrukturalistische Intertextualitätskonzept geht auf Julia Kristeva zurück und enthält die methodisch nicht einholbare Feststellung, dass ein Text stets im Universum aller Texte geschrieben und verstanden wird. Kristevas Intertextualitätskonzept basiert auf dem Dialogizitätsmodell des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin.46 Dieser versteht unter Dialogizität, „daß in einem Romantext nicht eine Stimme, nämlich die des Autors, dominiert und über die Stimmen der Romanfiguren triumphiert, sondern daß viele und teilweise einander widersprechende Stimmen gleichberechtigt nebeneinander erklingen.“47 Diese verschiedenen Perspektiven in einem Roman sieht Bachtin als Motivation, dass sich die Lesenden kritisch zu dem Text verhalten müssen und können, anstatt einfach eine bestimmte Position zu übernehmen. Bachtins Dialogizitätsmodell bezieht sich vor allem auf den „Dialog der Stimmen innerhalb eines einzelnen Texts oder einer einzelnen Äußerung“ und beschreibt somit schwerpunktmäßig die intratextuellen Phänomene eines Textes.48 Dabei betrachtet er diejenigen Texte als dialogisch, welche eine Vielfalt von Perspektiven enthalten, und klassifiziert andere als monologisch, die nur eine Position als die Richtige favorisieren und zulassen.49 „Diese beiden Prinzipien der Dialogizität […] und der Monologizität bestimmen nach Bachtin sowohl die Gesellschaft als auch die Sprache und die Kunst.“50 Während Bachtin intratextuell zwischen monologischen und dialogischen Texten unterscheidet, betrachtet Kristeva intertextuell das Verhältnis der Texte zu anderen Texten. Als Weiterführung von Bachtin unterscheidet sie zwei Ebenen eines Textes: die horizontale Ebene verbindet Autor, Text und Lesende, die vertikale Ebene betrifft das Verhältnis zu anderen gesprochenen oder geschriebenen Aussagen.51 „[J]eder Text baut sich als ein Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes“.52 Damit versteht Kristeva einen Text aus den intertextuellen Bezügen zu anderen Texten.  Orosz, Intertextualität, 5.  Vgl. Pfister, Konzepte, 1 f. 47 Bachtin, Ästhetik, 352. Vgl. zur Interpretation von Bachtins Werk v. a. Eilenberger, Werden. 48  Pfister, Konzepte, 4. 49 Vgl. Pfister, Konzepte, 2 f. 50  Pfister, Konzepte, 2. 51  Vgl. Köppe/Winko, Literaturtheorien, 128. 52 Kristeva, Bachtin, 337. 45 46

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Intertextualität ist deshalb keine Sache des bewussten Aufgreifens oder Zitierens eines Quellentextes, sondern ein universales Prinzip der Textkonstitution. Die vertikale Ebene und mit ihr die Intertextualitätsbeziehungen gehören zum Text als solchem dazu wie dessen Wortmaterial.53

Kristeva erweitert auf diese Weise zugleich den Textbegriff, so dass auch Geschichte und Gesellschaft selbst als Texte verstanden und damit in einem kultursemiotischen Sinn „gelesen“ werden können.54 Der ‚andere‘ Text, mit dem sich ein Text in Beziehung setzt, wird zur Gesamtheit literarischer Texte (oder sogar zur gesamten Kultur) erweitert. Die Existenz der Texte in diesem ‚kon-textuellen‘ Raum nennt Kristeva ‚Intertextualität‘, wobei der ‚kontextuelle Raum‘ viel breiter verstanden wird als der literarische Kontext, er nimmt im Begriff des durch die Intertextualität bestimmten ‚Ideologems‘ tatsächlich ideologische Dimensionen an, indem die Intertextualität die sozialen und historischen Koordinaten des im weiteren Sinne des Wortes verstandenen Textes bestimmt.55

Lesen bedeutet für Kristeva, dass die jeweiligen Zeichen vor allem der poetischen Sprache nicht mehr in einem strukturalistischen Sinn in binären Oppositionen (zum Beispiel wahr/falsch; Signifikant/Signifikat) verstanden werden, sondern als „zwischen verschiedenen Bedeutungen, Referenzen und Wahrheitswerten“ variabel angesehen werden.56 Damit verbindet sich ein explizit ideologiekritisches Konzept: Kristeva erhofft sich, dass das Intertextualitätsmodell feste, eingefahrene Ordnungen und Traditionen aller Art subversiv aufbrechen kann.57 Ihr Intertextualitätsmodell ist vom Ansatz her keine Methode der Textanalyse, sondern ein Textverständnis, das sich dem methodischen Zugriff absichtsvoll entzieht bzw. diesen stets transzendiert, weshalb es auch als „unbegrenztes Intertextualitätskonzept“ bezeichnet wird.58 Als der Intertextualitätsbegriff in der sich anschließenden Forschung zunehmend aufgegriffen wurde, um methodisch kontrolliert die konkreten Bezüge zwischen einzelnen Texten zu beschreiben, verzichtete sie darauf und verwendete stattdessen die Bezeichnung „Transposition“.59 Um mit Kristevas Textverständnis methodisch arbeiten zu können, muss man das Spektrum der Texte begrenzen, die man in Bezug auf einen bestimmten Text untersuchen will, so dass man von einer „begrenzten Intertextualität“ sprechen kann.60 In der Exegese werden dabei vor allem solche Texte berücksichtigt,  Köppe/Winko, Literaturtheorien, 128. Bachtin, 335; vgl. Pfister, Konzepte, 7. 55  Orosz, Intertextualität, 11. 56  Köppe/Winko, Literaturtheorien, 129. 57 Köppe/Winko, Literaturtheorien, 129; vgl. auch Pfister, Konzepte, 8 f.; Orosz, Intertextualität, 10 f. 58  Alkier, Testament, 163. Vgl. Alkier, Canon, 274–288. 59 Vgl. Pfister, Konzepte, 10 f. 60  Alkier, Testament, 163. Zu einem konzisen Überblick über unterschiedliche bereits erprobte Konzepte intertextueller Bibellektüre vgl. Schneider, Gegenwart, 89–125. Auch Gérard Genette berücksichtigt in seinen Arbeiten wiederholt das Phänomen der Intertextualität, 53

54 Kristeva,

2.2. Methodische Zugänge

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„die im auszulegenden Text eingeschrieben sind oder zumindest auf der Basis des vorhandenen Zeichenbestandes des zu interpretierenden Textes postuliert werden können. Diese Beziehungen sollen methodisch kontrolliert untersucht werden, d. h. die Weisen des Zitierens, Markierens, An- und Einspielens anderer Texte im zu untersuchenden Text sollen textwissenschaftlich ausdifferenziert und hermeneutisch fruchtbar gemacht werden.“61 Intertextualität lässt sich nach Stefan Alkier mit drei verschiedenen Ausrichtungen untersuchen62: Eine produktionsorientierte Analyse untersucht vor allem Sinneffekte, die sich aus der Verarbeitung weiterer Texte in einem vorliegenden Text ergeben und die nach Susanne Holthuis anhand von „intertextuellen Dispositionen“ erkannt werden.63 Eine rezeptionsorientierte intertextuelle Analyse untersucht die sich ergebenden Sinneffekte, wenn mindestens zwei Texte zusammengelesen werden. Im begrenzten Intertextualitätskonzept werden belegte Rezeptionen untersucht, im unbegrenzten Intertextualitätskonzept „können auch historisch mögliche Lektüren durchgespielt werden, auch wenn es dafür keine historischen Belege gibt“.64 Eine experimentell oder generativ ausgerichtete Analyse kann Sinneffekte untersuchen, welche sich aus dem Zusammenlesen zweier oder mehrerer willkürlich ausgewählter Texte ergeben, wobei biblische Texte etwa mit antiken Texten oder auch mit modernen Texten in Beziehung gesetzt werden können.65 unterscheidet dabei aber mit komplizierter Begrifflichkeit unterschiedliche Fälle der ‚Transtextualität‘, wie er es nennt; vgl. Genette, Palimpsestes 8–10. Genette unterscheidet fünf Kategorien: 1) Intertextualität als Kopräsenz weiterer Texte (Zitat, Anspielung usw.), 2) Para­ textualität als Bezüge zwischen Text und Titel, Vorwort usw., 3) Metatextualität als Bezug zwischen Werk und Kommentaren, 4) Hypertextualität als Nachahmung, Imitation usw., 5) Archi­ textualität als Bezug zwischen gattungsmäßig verwandten Texten; vgl. dazu Pfister, Konzepte, 16 f. Was Genette als Architextualität bezeichnet und zur Intertextualität zählt, definieren andere Theorien neben der Intertextualität als „Systemreferenz“; vgl. Pfister, Konzepte, 17 f. Diese Unterscheidung ist jedoch wenig sinnvoll; vgl. auch die Verwendung der Methodik von Peter Stocker in der Johannesexegese unter besonderer Berücksichtigung der produktionsorientierten Intertextualität Stocker, Theorie, v. a. 93–105; auch Käfer, Rezeption, v. a. 13–24. 61  Alkier, Testament, 163. 62 Vgl. Alkier, Testament, 162–174; ders., Intertextuality, 128–150. 63  Alkier, Testament, 164. Holthuis, Intertextualität, 33. Dabei ist jedoch einschränkend festzuhalten, dass das Erkennen von intertextuellen Dispositionen bleibend mit der individuellen Textkenntnis und Einschätzung der jeweiligen Lesenden verbunden ist. Vgl. auch Schneider, Gegenwart, 126, der zudem zwischen historisch belegten und historisch möglichen Aufnahmen von Texten in anderen Texten mit Blick auf die produktionsorientierte und rezeptionsorientierte Lektüre differenziert. Mit Blick auf das Johannesevangelium können wir in produktionsorientierter Perspektive bei Markus und Lukas von einer eher belegten Aufnahme von Texten ausgehen, während mit Blick auf das Matthäusevangelium zumindest von einer möglichen Aufnahme von Texten ausgegangen werden kann. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Käfer, Rezeption, 24–26. 64  Vgl. Alkier, Testament, 167 f. In rezeptionsorientierter Perspektive kann aufgrund der Kanonisierung grundlegend mit einer Kenntnis aller Evangelien gearbeitet werden. 65  Vgl. Alkier, Testament, 173 f.

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Richard B. Hays hat in seiner Monographie „Echoes of Scripture“ Kriterien entwickelt, um mit Blick auf eine produktionsorientierte begrenzte Intertextualität zu untersuchen, ob und wie explizit sich ein Text auf einen anderen Text bezieht:66 1) Verfügbarkeit (Availability): War dem Autor des bezugnehmenden Textes der Text, auf den Bezug genommen wurde, erreichbar? 2) Umfang (Volume): Quantität der Übernahme und strukturelles Gewicht zitierter Worte und Satzstrukturen. 3) Wiederkehr (Recurrence): Häufigkeit der Bezugnahmen auf einen bestimmten Text im Gesamtwerk eines Autors. 4) Thematische Kohärenz (Thematic Coherence): Steht die angenommene intertextuelle Bezugnahme in einem thematischen Zusammenhang des zitierenden Textes, und stützt sie die Argumentation des Textes? 5) Historische Plausibilität (Historical Plausibility): Ist die angenommene intertextuelle Bezugnahme als intentionaler Akt des Autors historisch zu plausibilisieren? 6) Auslegungsgeschichte (History of Interpretation): Verweist die Auslegungsgeschichte auf die angenommene intertextuelle Bezugnahme? 7) Sinnhaftigkeit (Satisfaction): Ergibt die angenommene intertextuelle Bezugnahme Sinn im Gesamtzusammenhang der Auslegung eines Textes?67

Die Kriterien von Hays beziehen sich auf die Untersuchung von Zitaten, Anspielungen und Echos in den Paulusbriefen. Hier stellt sich die Frage, wie oft (Wiederkehr), wie ausführlich und sprachlich nah an den vorgefundenen Formulierungen (Umfang) und mit welcher thematischen Übereinstimmung (thematische Kohärenz) der Bezugstext den Ausgangstext verwendet. Trotz dieses methodisch differenzierten Zugangs ist zu bedenken, dass die Beziehungen zwischen verschiedenen Texten häufig nicht eindeutig bestimmt werden können, da die Fülle möglicher Bezüge zu anderen Texten stets größer ist als das, was eine einzelne Person erkennt.68 Zudem besteht auch die Möglichkeit, dass Lesende Bezüge herstellen, die bei der Abfassung des Textes nicht intendiert waren: Beide, Autor und Leser, sind in dieser Konzeption überhaupt nur innerhalb des Universums der Texte denkbar, wenn dieses Textuniversum auch für jeden einzelnen Autor und jeden einzelnen Leser jeweils perspektivisch unterschiedlich abgeschattet ist.69

Wendet man diese Kriterien auf die Evangelien an, zeigt sich, dass bei den Synoptikern durchaus häufig vorkommende und umfangreiche, sprachlich und 66 Vgl.

Hays, Echoes, 29–32. Vgl. zum Folgenden Alkier, Testament, 165.  Die Darstellung orientiert sich an Alkier, Testament, 165. 68  Vgl. zur Eingrenzung und Analyse von explizit markierten Anspielungen auf die Sinaiperikope im Johannesevangelium die Studie von Käfer, Rezeption, 8–26. 69  Pfister, Konzepte, 21. Auf dieser methodisch-hermeneutischen Grundlage lassen sich die verschiedenen Positionen zur Frage nach der Kenntnis und Benutzung der synoptischen Evangelien durch das Johannesevangelium reflektieren und erklären. 67

2.2. Methodische Zugänge

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inhaltlich eng verwandte intertextuelle Bezüge zu konstatieren sind (Umfang, Wiederkehr, thematische Kohärenz), welche durch literarische Abhängigkeitsverhältnisse historisch plausibel erklärt werden können (historische Plausibilität). Beim Johannesevangelium jedoch stellt sich der Textbefund anders dar: Sowohl im Aufbau des Evangeliums als auch in der Gestaltung der einzelnen Episoden und nicht zuletzt mit Blick auf den sprachlichen Stil geht das Johannesevangelium eigene Wege. Aus diesem Grund wird immer wieder neu die Frage diskutiert, ob das Johannesevangelium die synoptischen Evangelien kennt bzw. welche der Synoptiker es wie benutzt oder ob es auf andere Quellen der Jesusüberlieferung zurückgreift. Die vorliegende Untersuchung geht von der historisch plausiblen Hypothese aus, dass der Verfasser des vierten Evangeliums die drei synoptischen Evangelien kannte und sein Werk damit in einem intertextuellen Bezug zu den synoptischen Überlieferungen entstanden ist.70 Diese Hypothese lässt sich zwar durch Beobachtungen an den Evangelien begründen, jedoch aufgrund der eigenwilligen Sprache und der kreativen Aufnahme von Überlieferungen durch Johannes wohl nie eindeutig belegen. Sollte das Johannesevangelium nicht in Kenntnis und Variation der drei synoptischen Evangelien geschrieben worden sein, so besteht doch das bleibende Recht der vorliegenden Studie darin, dass bis heute die mit den kanonischen Evangelien vertrauten Lesenden auch das Johannesevangelium intertextuell mit den Geschichten der Synoptiker lesen und verstehen, so dass die vorliegende Studie Sinneffekte aufdecken kann, die sich aus diesem Zusammenlesen, im Sinne einer rezeptionsorientierten Intertextualität, ergeben.71 Zudem relativiert sich in einem universalen Intertextualitätsverständnis, bei dem ein Text in das Universum aller Texte eingeschrieben wird, die Bedeutung von bewusster Bezugnahme durch einen Autor bzw. eine Autorin. Aus dem vierten Evangelium geht jedoch nicht eindeutig hervor, ob Johannes mit seinem Entwurf eine eigenständige Erzählung von Jesus Christus schreiben wollte, die unabhängig von den anderen Evangelien gelesen werden kann und soll, oder ob er – wie Thyen voraussetzt – von seinen Modelllesenden erwartet, dass sie die Texte des vierten Evangeliums im intertextuellen Spiel mit den Synoptikern verstehen und lesen. Während sich der Verfasser des Lukasevangeliums zu dieser Frage in einem Prolog explizit äußert (Lk 1,1–4) und dabei zu erkennen gibt, dass er die ihm bekannten Erzählungen mit Blick auf die Reihenfolge verbessert und damit zugleich als das historisch und theologisch zutreffende Evangelium verstanden werden will, das die Vorgänger überbietet und ersetzt, fehlen im Johannesevangelium Äußerungen dieser Art. Johannes gibt keine Leseanweisung, welche das eigene Evangelium in einen bestimmten Bezug zu den Synoptikern setzt, lässt jedoch erkennen, dass er aus einer größeren Anzahl ihm bekannter Jesusüberlieferungen eine Auswahl getroffen hat (Joh  20,30 f.). Als 70 Vgl.

Pfister, Konzepte, 22 f.  Vgl. Alkier, Testament, 261 f.

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Ziel seiner eigenen Darstellung wird benannt, dass die ausgewählten Zeichen den Glauben an Jesus als den Christus und Sohn Gottes ermöglichen sollen (Joh 20,31). Deshalb ist die weitreichende These von Thyen, welche die Bedeutung des johanneischen Textes explizit „zwischen“ dem johanneischen Text und den synoptischen Texten sucht, zu modifizieren. Für die Exegese der johanneischen Texte ergeben sich aus den hermeneutischmethodischen Überlegungen zur Intertextualität folgende Konsequenzen: Bei der Analyse soll zunächst der Text des vierten Evangeliums für sich als eigenständiger Text intratextuell untersucht werden. Dabei wird es jedoch nicht als eine Art ‚autonomes Kunstwerk‘ verstanden, das völlig unabhängig von den anderen Evangelien zu lesen wäre. Vielmehr wird in produktionsorientierter intertextueller Hinsicht vorausgesetzt, dass Johannes die synoptischen Evangelien gekannt und für die Abfassung seines Evangeliums benutzt hat. In textpragmatischer Perspektive wird hier jedoch nicht mit der Annahme gearbeitet, dass Johannes seinen Text im Vergleich mit den synoptischen Texten gelesen wissen will. Das Bild der johanneischen Erzählung wird deshalb primär aus den johanneischen Texten erhoben, welche im Vergleich mit den synoptischen Darstellungen analysiert, aber nicht in einem gleichwertigen Zusammenspiel mit diesen interpretiert werden. Die primäre Grundlage für die Interpretation ist das Johannesevangelium selbst. In intertextueller Perspektive heißt das, die johanneischen Erzählungen können im Vergleich mit inhaltlich verwandten synoptischen Texten daraufhin befragt werden, welche Aspekte in produktionsorientierter Perspektive vom Verfasser aufgenommen, verstärkt, ausgelassen oder verändert wurden. Im Hinblick auf das Kriterium ‚volume‘ von Richard Hays kann die vorliegende Untersuchung nicht nur nach der expliziten Wiederholung von Wörtern und Satzstrukturen fragen, sondern sie hat in narratologischer Perspektive vor allem auch den Aufbau der Erzählungen, den Handlungsablauf, die Struktur von Zeit und Raum sowie die beteiligten Charaktere mit den jeweiligen Charakterisierungen zu beachten. Dadurch werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den zu vergleichenden Texten deutlich, welche das Profil der johanneischen Darstellung deutlicher hervortreten lassen, zugleich aber auch die Bedeutung der synoptischen Texte neu beleuchten. Die Unterscheidung von Orosz in eine ‚markierte‘ und ‚nicht-markierte Bezugnahme‘ sowie die weitere Differenzierung in ‚bestätigende‘ und ‚abweichende Integration‘ sind hilfreich und werden bei der Analyse jeweils berücksichtigt.72 Der johanneische Text kann dabei gewinnbringend mit Blick auf die produktionsorientierte und bzw. oder rezeptionsorientierte Intertextualität analysiert und gedeutet werden. In rezeptionsorientierter Perspektive ist zu bedenken, dass 72  Vgl. Orosz, Intertextualität, 25 f. Pfister unterscheidet detaillierter affirmierende, negierende oder differenzierende Bezugnahme; vgl. Pfister, Konzepte, 29.

2.2. Methodische Zugänge

97

viele seiner Leserinnen und Leser mit der synoptischen Tradition vertraut sind und deshalb entsprechende Rezeptionserwartungen an die johanneischen Texte herantragen. Diese Erwartungen können durch die Lektüre des vierten Evangeliums bestätigt, kommentiert oder korrigiert werden. Bei der Analyse des Johannesevangeliums ist aufgrund der Eigenständigkeit seiner Darstellung zunächst intratextuell der johanneische Text mit Hilfe narratologischer Methoden auf der syntaktischen, semantischen und pragmatischen Ebene zu untersuchen. Erst in einem weiteren Schritt soll schließlich die intertextuelle Analyse stattfinden. Auf syntaktischer Ebene wird nach der Häufigkeit und dem Umfang der Bezugnahmen auf synoptische Texte gefragt.73 Eine johanneische Erzählung kann sowohl im Hinblick auf die Erzählstruktur als auch bezüglich des gewählten Vokabulars bzw. der Verwendung von Orts- und Figurennamen auf synoptische Texte anspielen, ohne diese zu zitieren. Semantisch ist von Interesse, ob bzw. inwiefern der referierte Text in ‚bestätigender‘ oder in ‚abweichender‘ Weise aufgenommen wird.74 Auf der pragmatischen Ebene lässt sich fragen, ob die intertextuelle Bezugnahme erkennbar sein soll bzw. ist, zumindest für Lesende, die mit allen vier Evangelien vertraut sind. Orosz nennt als Beispiele  – diese Liste zielt nicht auf Vollständigkeit  – für mögliche Markierungen „Figuren- und Ortsnamen, Titel, Untertitel, Vor- oder Nachwort, Gattungs- und Strukturierungskonventionen, Bemerkungen des fiktiven Erzählers“, die auch nebeneinander auftreten können.75 Auch bei einer nicht-markierten Bezugnahme können eine semantische und syntaktische Analyse Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Texten zumindest nahelegen, indem „die Bedeutung der Elemente des Trd [des referierenden Textes, Anm. d. Verf.] durch die Heranziehung von entsprechenden Elementen aus Trt [dem referierten Text, Anm. d. Verf.] ergänzt und ‚vollständiger‘ gemacht wird.“76 Da es oft kein eindeutig bestimmbares Kennzeichen für Markierungen gibt, hält Orosz fest: „was für bestimmte Leser als erkennbare Markierung der intertextuellen Bezugnahme funktioniert, kann für andere durchaus unbemerkt bleiben. In diesem Zusammenhang ist nur theo73 Orosz, Intertextualität, 28. Pfister spricht hier von ‚Strukturalität‘ und fragt, ob ein referierter Text nur punktuell und beiläufig oder als strukturelle Folie des referierenden Textes verwendet wird; vgl. Pfister, Konzepte, 29. Setzt man die Kenntnis eines oder aller synoptischen Evangelien voraus, kann trotz der eigenständigen und kreativen Aufnahme des Stoffs davon gesprochen werden, dass die Synoptiker als strukturelle Folie verwendet werden. In den johanneischen Einzelerzählungen finden sich dann zum Teil keine, zum Teil einzelne oder mehrere mehr oder weniger deutliche Anspielungen auf die Prätexte. Den Grad der „intertextuellen Verweisung“, die Frage wie pointiert ein intertextueller Bezug hervorgehoben wird, erfasst Pfister unter dem Begriff der ‚Selektivität‘; Pfister, Konzepte, 28. 74 Vgl. Orosz, Intertextualität, 25 f.; Pfister, Konzepte, 29. 75  Vgl. dazu Orosz, Intertextualität, 27. Pfister spricht hier von ‚Kommunikativität‘; vgl. Pfister, Konzepte, 27. 76 Orosz, Intertextualität, 27.

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

retisch von einer Markierung zu sprechen, die für einen behaupteten idealen Rezipienten diese Funktion erfüllen kann.“77 Wenn ein intertextueller Verweis im Text jedoch prägnant ist und von den Lesenden erkannt wird, erfüllt er mit Blick auf die Bedeutungskonstitution und die Leserlenkung eine eminent wichtige Rolle: „je selektiver und prägnanter der intertextuelle Verweis ist, umso mehr kommt ihm die Struktur und Funktion einer Synekdoche, des pars pro toto, zu: Mit dem pointiert ausgewählten Detail wird der Gesamtkontext abgerufen, dem es entstammt, mit dem knappen Zitat wird der ganze Prätext in die neue Sinnkonstitution einbezogen.“78 Pfister entwickelt sechs Kriterien, um die Intensität der intertextuellen Bezüge skalieren zu können:79 1) Kriterium der Referentialität: Hier wird unterschieden, ob ein Text nur gebraucht („use“) oder damit weiterführend gearbeitet wird und weitergehende Zusammenhänge thematisiert werden („mention bzw. refer to“). Indem so die Intensität des intertextuellen Bezuges zunehme, „wird auch der Folgetext zum Metatext des Prätexts – Metatext hier nicht im bloßen chronologischen Sinn des ‚Später‘, sondern darüber hinaus im semiotischen Sinn des ‚Über‘“.80 2) Kriterium der Kommunikativität: Die intertextuellen Bezüge werden nach dem Grad der Bewusstheit mit Blick auf Autor und Lesende analysiert. Maximale Intensität ist dann erreicht, „wenn sich der Autor des intertextuellen Bezugs bewußt ist, er davon ausgeht, daß der Prätext auch dem Rezipienten geläufig ist und er durch eine bewußte Markierung im Text deutlich und eindeutig darauf verweist“.81 3) Kriterium der Autoreflexivität: „Der Intensitätsgrad der Intertextualität nach den ersten beiden Kriterien kann noch dadurch gesteigert werden, daß ein Autor in einem Text nicht nur bewußte und deutlich markierte intertextuelle Verweise setzt, sondern über die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit seines Textes in diesem selbst reflektiert, d. h. die Intertextualität nicht nur markiert, sondern sie thematisiert, ihre Voraussetzungen und Leistungen rechtfertigt oder problematisiert.“82 4) Kriterium der Strukturalität: Hier wird die Syntagmatik der Texte analysiert und ein hoher Grad der Intertextualität festgestellt, wenn sich nicht nur einzelne Zitate oder Anspielungen finden, sondern „ein Prätext zur strukturellen Folie eines ganzen Textes wird“.83 5) Kriterium der Selektivität: Hier geht es um die Frage, „wie pointiert ein bestimmtes Element aus einem Prätext als Bezugsfolie ausgewählt und hervorgehoben wird und wie 77  Orosz, Intertextualität, 28. Eben diese Differenzierung legt das gewählte methodische Vorgehen nahe, zunächst den johanneischen Text intratextuell zu analysieren, bevor nach möglichen intertextuellen Bezugnahmen und Sinneffekten gefragt wird. 78  Pfister, Konzepte, 29. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Kontext des Prätextes deshalb in affirmierender Weise aufgenommen wird, sondern gerade bei differierender Rezeption erzeugt der intertextuelle Bezug eine Spannung, welche die aufmerksamen Lesenden zu neuen Deutungen herausfordert. Pfister spricht hier von „Dialogizität“; ebd. 79 Pfister, Konzepte, 25–30. 80 Pfister, Konzepte, 26. 81  Pfister, Konzepte, 27. 82  Pfister, Konzepte, 27. 83 Pfister, Konzepte, 28.

2.2. Methodische Zugänge

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exklusiv oder inklusiv der Prätext gefaßt ist, d. h. auf welchem Abstraktionsniveau er sich konstituiert.“84 Ein Zitat entspricht einem höheren Grad an Intertextualität als die namentliche Nennung eines Helden, vor allem wenn durch die gezielte Auswahl eines signifikanten Details dieses zum ‚pars pro toto‘ für den ganzen Text werden kann.85 6) Kriterium der Dialogizität: Die semantische oder ideologische Spannung zwischen Text und Prätext ist unterschiedlich groß, je nachdem ob ein Diskurs affirmierend oder negierend oder differenzierend aufgenommen wird.86

Intertextuelle Verweise in einem Text ermöglichen also das, was Bachtin als ‚Dialogizität‘ bezeichnet hat. Vor allem wenn der referierende Text in einer semantischen Spannung zum referierten Text steht, werden verschiedene Be-Deutungen des beschriebenen Sachverhalts im vorliegenden Text selbst erkennbar: Eine Textverarbeitung gegen den Strich des Originals, ein Anzitieren eines Textes, das diesen ironisch relativiert und seine ideologischen Voraussetzungen unterminiert, ein distanzierendes Ausspielen der Differenz zwischen dem alten Kontext des fremden Worts und seiner neuen Kontextualisierung  – dies alles sind Fälle besonders intensiver Intertextualität, während etwa die bloße und möglichst getreue Übersetzung von einer Sprache in ein andere, die bloße Versetzung von einem Zeichensystem in ein anderes (Dramatisierung, Verfilmung, Veroperung) unter größtmöglicher Beibehaltung des Textsinns, oder eine ausschließlich von Bewunderung für das Original motivierte Imitation und ein Zitat als argumentum ad auctoritatem von geringer intertextueller Intensität sind.87

Gerade die kreative Aufnahme des synoptischen Materials durch Johannes lässt also spannende Untersuchungen der intertextuellen Relationen und der damit verbundenen Sinneffekte erwarten. Eine qualitative und quantitative Untersuchung der intertextuellen Bezüge des Johannesevangeliums zu den synoptischen Evangelien nach den Kriterien von Orosz oder Pfister wäre sicherlich eine lohnende Aufgabe, kann aber im Rahmen der vorliegenden Studie nicht geleistet werden. Vielmehr werden die für die Deutung der Fußwaschungserzählung relevanten Texte zunächst intratextuell analysiert und dabei wesentliche selbstreferentielle Verweise berücksichtigt, während in einem zweiten Schritt nach intertextuellen Dispositionen gefragt wird, um die Relationen zu thematisch verwandten synoptischen Texten zu beleuchten.

 Pfister, Konzepte, 28.  Dass in Joh 13,2–4 der Mahlkontext vor der Passion auf die synoptischen Erzählungen des letzten Mahles Jesu mit seinen Jüngern anspielt, kann insbesondere durch dieses Kriterium analytisch nahegelegt werden. 86  Pfister, Konzepte, 29. 87 Pfister, Konzepte, 29. 84 85

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

2.2.2. Umberto Eco: Lector in Fabula Ein sowohl für Intertextualitätstheorien als auch für narratologische Methodik anschlussfähiges und in der Exegese bereits vielfach erprobtes Text- und Lektüremodell bietet Umberto Eco. Grundlegend für sein Textverständnis ist die Einsicht, „dass sich nicht erklären lässt, was es mit einem Text als einer zusammenhängenden und verstehbaren Einheit auf sich hat, wenn man nicht berücksichtigt, dass der Textsinn zwar in den Strukturen eines Textes angelegt ist, jedoch zugleich aus der aktiven, interpretativen Mitarbeit des Lesers hervorgeht.“88 Für das Textverständnis ergeben sich daraus zwei grundlegende Einsichten: Einerseits braucht ein Text die aktive Mitarbeit der Lesenden, um ein Text zu werden, wobei er eine Vielfalt möglicher Interpretationen aus sich heraussetzen kann, andererseits gibt es Grenzen der möglichen Textinterpretationen, welche durch die Strukturen des Textes vorgegeben werden. Umberto Ecos Textverständnis basiert auf dem Zeichenmodell, wie es in der kategorialen Semiotik von Charles Sanders Peirce formuliert ist.89 Dieses hat den Anspruch, als ein umfassendes philosophisches und wissenschaftstheoretisches System verstanden zu werden, denn Semiotik ist nach Peirce nicht nur „die Wissenschaft von den Zeichensystemen“, sondern „die Wissenschaft, welche alle Kulturphänomene so untersucht, als ob sie Zeichen wären, wobei sie von der Hypothese ausgeht, daß in Wirklichkeit alle Kulturphänomene Zeichensysteme sind“.90 Peirce setzt grundlegend ein dreistelliges Zeichenverständnis voraus. Ein Zeichen […] ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selber steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende.91

Der Interpretant ist dabei als ein eigenes Zeichen zu verstehen. Eco erläutert: „Am zweckmäßigsten ist es indessen wohl, wenn man den Interpretanten als eine weitere Vorstellung auffaßt, die sich auf denselben »Gegenstand« bezieht.“92 88 Köppe/Winko,

Literaturtheorien, 50.  Vgl. Peirce, Phänomen; vgl. Alkier, Testament, 140–148; Alkier, Intertextualität, 1–26; auch Eco, Lector, 32–43. Zur Semiotik von Peirce vgl. Pape, Einführung; Nöth, Handbuch, 59–70. Eco hat seine Zeichentheorie wiederholt formuliert; vgl. Eco, Einführung in die Semiotik; Ders., Zeichen: Einführung in einen Begriff und seine Geschichte; Ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. 90 Eco, Einführung, 29. 91  Peirce, Phänomen, 64. 92  Eco, Semiotik, 102. Eco verwendet eine spezifische graphische Darstellung für die semantische Analyse, wobei doppelte Schrägstriche den Signifikant, einfache Schrägstriche das Signifikat und doppelte Winkelklammern etwas als Inhalt Gemeintes auszeichnen: „Um etwa den Gegenstand Auto vom Wort Auto zu unterscheiden, wird im ersten Fall das Wort zwischen Doppelschrägstriche gesetzt und kursiv geschrieben. //Auto// ist also der dem verbalen Aus89

2.2. Methodische Zugänge

101

Interpretanten sind also in gewisser Weise Paraphrasierungen eines Signifikats, die jedoch wieder eigene Bedeutungsaspekte einbringen. Zeichen werden dabei als ein Beziehungsgeflecht aufgefasst. Das Zeichen im Sinne eines wahrnehmbaren Zeichenträgers kann nur ein Zeichen sein, wenn es ein Objekt repräsentiert und von einem Interpretanten als Zeichen dieses Objekts interpretiert wird. Ein Objekt kann nur ein Objekt sein, wenn es von einem Zeichen repräsentiert und dieses von einem Interpretanten interpretiert wird. Ein Interpretant kann nur ein Interpretant sein, wenn er ein Objekt und ein Zeichen miteinander als Zeichen und Objekt verknüpft.93

Der Prozess der Hervorbringung neuer Zeichen, die sogenannte Semiose, wird als ein beständig fortdauernder, nicht abschließbarer Vorgang gedacht.94 Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf das Textverständnis, wie es von Sándor Petöfi prägnant formuliert wurde: Für uns ist Textualität keine inhärente Eigenschaft verbaler Objekte. Ein Produzent oder ein Rezipient betrachtet ein verbales Objekt als Text, wenn er glaubt, dass dieses verbale Objekt ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes ist, das einer tatsächlichen oder angenommenen Kommunikationssituation entspricht. Ein Text ist […] ein komplexes verbales Zeichen […], das […] einer gegebenen Erwartung der Textualität entspricht.95

Die Erwartung des Rezipienten, der einen Text als ein kohärentes Ganzes betrachtet, wird also per definitionem zu einem Aspekt des Textes selbst.96 Auf der Grundlage dieser zeichen- und texttheoretischen Überlegungen können Texte im Hinblick auf drei Beziehungsachsen untersucht werden:97 1) Syntagmatik: Relation von Zeichen(träger) zu Zeichen(träger) 2) Semantik: Relation von Zeichen (Signifikant) zu Bezeichnetem (Signifikat) 3) Pragmatik: Relation von Zeichen(komplex) zu Zeichenverwender

Eco fügt diese drei Bereiche, die für die Analyse durchaus jeweils für sich betrachtet werden können, mit Blick auf den Lektüreakt wieder zusammen: „Der Gegenstand der Pragmatik ist eben jener Semioseprozeß, mit dem, in jeweils unterschiedlicher Perspektive, sich auch Syntaktik und Semantik befassen.“98 Da Semiose als Prozess nicht zu einem Abschluss führt, können Zeichen immer wieder neu und immer wieder anders interpretiert werden. Das triadische druck /Auto/ korrespondierende Gegenstand und beide beziehen sich auf die Inhaltseinheit »Auto«.“; vgl. Eco, Semiotik, 19. 93  Alkier, Testament, 143 f. 94  Alkier, Testament, 141 f.; vgl. auch Nöth, Handbuch, 227–229. 95  Petöfi, Interpretation, 184; vgl. dazu das Schaubild bei Eco, Lector, 37. 96  Eben diese Erwartung, dass ein Text einen kohärenten Sinn ergibt, wirkt sich auf die Lektüre selbst aus und führt dazu, dass die Lesenden versuchen, zu einer kohärenten Deutung zu finden. Für das Johannesevangelium bedeutet dies konkret, dass eine Leserin oder ein Leser mit der Einstellung lesen wird, dass alle Texte von Joh 1–21 einen stimmigen Sinn ergeben. 97  Vgl. Alkier, Testament, 145. 98 Eco, Grenzen, 340.

102

Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Zeichenmodell stellt für Eco die theoretische Grundlage dar, um die Vielfalt und zugleich die Begrenzung möglicher, vom Textbestand legitimierter Interpretationen diskutieren zu können. Das Signifikat entspricht dem vollständigen unmittelbaren Objekt.99 „Das Signifikat eines Begriffs enthält virtuell alle seine möglichen Entfaltungen (oder Expansionen) im Text.“100 Eco greift dabei auf die Unterscheidung zwischen dem ‚dynamischen Objekt‘ und dem ‚unmittelbaren Objekt‘ bei Peirce zurück: „‚Das unmittelbare Objekt ist das Objekt, das im Zeichen dargestellt wird.‘ Das dynamische Objekt hingegen ist das Objekt, das die Erzeugung eines Zeichens motiviert und von dem das unmittelbare Objekt nur eine Hinsicht darstellt. Die Verbindung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt wird durch den ground des dynamischen Objekts gewährt.“101 Außerdem übernimmt Eco von Peirce auch die Unterscheidung zwischen ‚unmittelbaren Interpretant‘, ‚dynamischen Interpretant‘ und ‚finalen Interpretant‘: „Der unmittelbare Interpretant ist das, was notwendigerweise hervorgebracht wird, wenn das Zeichen ein solches sein soll. Er ist eine vage mögliche Bewußtseinsbestimmung, eine vage Abstraktion.“102 Unter dem dynamischen Interpretant versteht Peirce das, „was von einem gegebenen indiviudellen Interpreten dem Zeichen entnommen wird.“103 „Der finale Interpretant ist die letzte Wirkung des Zeichens, […] welche dabei eine mehr oder minder gewohnheitsmäßige und formale Natur hat.“104 Die vielfältigen dynamischen Interpretanten sind legitime Beschreibungen des unmittelbaren Objekts, die erst zusammen den Weg bilden, um sich dem finalen Interpretanten anzunähern, der das dynamische Objekt in jeder möglichen Hinsicht beschreibt.105 Mit Blick auf das Verstehen von Texten bedeutet dies, dass die Vielfalt an Interpretationen den Weg darstellt, um zu der abschließenden, alle Aspekte umfassenden und zutreffenden Interpretation eines Textes gelangen zu können. Interpretieren wird nach Eco nicht als Re-Produzieren eines im Text angelegten und damit feststehenden Sinns verstanden, sondern Interpretieren ist ein kreativer Prozess der Lesenden, die bei der Lektüre fortwährend Schlussfolgerungen aus dem Gelesenen ziehen müssen.106 Dieser Prozess wird in Anlehnung an Peirce als ‚Abduktion‘ bezeichnet und meint eine kreative Thesenbildung, die gerade nicht an vorgegebene Regeln gebunden ist, sondern vielmehr

 Vgl. Eco, Lector, 38. Lector, 38. 101  Alkier/Zangenberg, Zeichen, 12. 102  Peirce, Schriften III, 224. 103 Peirce, Schriften III, 215. 104  Peirce, Schriften III, 225. 105  Vgl. Alkier/Zangenberg, Zeichen, 40. 106 Vgl. Alkier, Testament, 141.  99

100 Eco,

2.2. Methodische Zugänge

103

zunächst hypothetisch dem Gelesenen eine Regel zu Grunde legt.107 „Jede Interpretation vollzieht sich als abduktives, induktives und deduktives Erschließen des Interpretationsgegenstandes, aber vor allem die Abduktion erlaubt es, die notwendige Kreativität jeder Interpretation zu begreifen.“108 Ein Text enthält – aufgrund der Unmöglichkeit, ein Objekt vollständig zu beschreiben  – Leerstellen, die von den Lesenden aufgefüllt werden müssen.109 Sie müssen so gefüllt werden, dass der Text einen kohärenten Sinn ergibt. In der Regel werden im Laufe der Lektüre anfängliche Hypothesen über den Sinn des Textes erweitert, verändert oder ggf. auch korrigiert. Der Verfasser hat in der Regel ideale Lesende oder Modell-Lesende vor Augen, die die verwendeten Codes kennen und über die notwendigen Kompetenzen verfügen, um den Text zu verstehen. Die Leserrolle ist bereits Bestandteil der Textstrategie.110 Eco differenziert zwischen unterschiedlichen Modell-Lesenden, die verschiedene Kompetenzen mitbringen: Während der „semantische Leser“ vor allem nach der Bedeutung des Textes sucht, interessiert sich der „kritische Leser“ etwa auch für die Struktur des Textes.111 Bei den Texten selbst unterscheiden Eco „offene“ und „geschlossene Texte“, die den Lesenden jeweils mehr oder weniger Interpretationsfreiheit zugestehen.112 Eco beschreibt detailliert die Mitarbeit der Lesenden bei der Interpretation eines Textes: Der Text liegt in Form von konkreten Zeichen vor, die Eco als „Ausdruck“ bzw. als „Lineare Manifestation des Textes“ bezeichnet. Dieser Zeichenbestand muss von den Lesenden aktualisiert werden, wobei die geschriebenen Zeichen „mit Inhalt versehen“ werden, indem die Lesenden diese einer Enzyklopädie zuordnen und mit deren Hilfe mit Bedeutung versehen.113 Beim Lesen wird der Text also interpretiert, um so verstanden werden zu können. Dabei wird der Text einer bestimmten Enzyklopädie zugeordnet, welche als das kulturell konventionalisierte Wissen einer bestimmten Kultur aufgefasst werden kann, dabei jedoch stets aus den vorhandenen Texten erhoben werden muss und deshalb nie vollständig sein kann.114 Die Enzyklopädie enthält allerdings nicht nur das Wörterbuch mit den semantischen Einträgen, sondern auch Regeln, welche Bedeutungen in welchen inhaltlichen Zusammenhängen möglich sind. Innerhalb der Enzyklopädie differenziert Eco zudem zwischen „allgemeinen Szenographien“, die sich auf ein Wissen von der Organisation des 107 Vgl.

Alkier, Testament, 141.  Alkier, Testament, 141. 109  Vgl. Eco, Lector, 63 f. 110 Eco, Lector, 64–68. 111  Eco, Grenzen, 35 f.43 f. 112  Vgl. Eco, Lector, 64.69–72; vgl. auch das Schaubild a. a. O. 89. 113 Eco, Lector, 85.94 f. 114  Vgl. Eco, Lector, 44–48.57 f.; Alkier, Testament, 145 f. Davon unterschieden werden kann die Wirklichkeit, die ein Text selbst beschreibt und die in Anlehnung an Peirce von Alkier als Diskursuniversum bezeichnet wird; vgl. a. a. O. 146. 108

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Alltags einer bestimmten Gesellschaft beziehen, und „intertextuellen Szenographien“, die auf der Kenntnis weiterer Texte beruhen und je nach Textkenntnis der Lesenden variieren.115 „Selektionen“, die auf der Grundlage der intertextuellen Kompetenz gebildet werden, legen fest, welche „Szenographie“ für das Verständnis eines Begriffs im konkreten Text ausschlaggebend ist.116 Unter dem „Kontext“ versteht Eco bestimmte Themenbereiche der Sprache, die zum Beispiel durch andere Texte vertraut und vorgegeben sind und welche beim Lesen bestimmte Interpretationsmöglichkeiten vorgeben. Als „Ko-Text“ wird der konkret vorliegende Textbestand bezeichnet.117 Beim Lesen werden die diskursiven Strukturen, die Inhalte, entwickelt, der spezifische „Topic“ eines Textes wird erkannt und durch den weiteren Lektüreverlauf bestätigt oder korrigiert. Die Lesenden entwerfen nach Eco „mögliche Welten“, die unterschiedlich beschrieben werden können: als Hypothese der Lesenden, als die Weltsicht einer Figur (möglicherweise neben den möglichen Weltsichten anderer Figuren), als das Erzähluniversum118 des Textes. „Gelungene Interpretationen setzen einen ‚ökonomischen‘ Umgang mit literarischen Texten voraus, der […] dadurch gekennzeichnet ist, dass der ‚relevanten semantischen Isotopie‘ des Textes Rechnung getragen wird.“119 Die Textstrukturen lenken die Interpretation des Textes durch „Hervorhebung und Narkotisierung von Eigenschaften“. Auf diese Weise können Lesende „Erzählerische Strukturen“, „Aktantenstrukturen“ und schließlich „Ideologische Strukturen“ erschließen. „Erzählerische Strukturen“ beziehen sich auf den Verlauf der Handlung und betreffen auch Raum, Zeit und Charaktere. Bei den „Aktantenstrukturen“ geht es konkret um die Frage, welche erzählerischen Funktionen oder Rollen die Charaktere innehaben. Die „Ideologischen Strukturen“ fragen schließlich nach der Ideologie des Textes, d. h. nach seinem Wertesystem bzw. den von den Figuren verkörperten Wertvorstellungen.120 Parallel zu diesen auf die Textbedeutung bezogenen, sogenannten „inten­sio­ nalen“ Operationen der Lesenden müssen diese auch „extensional“ mit Blick  Vgl. Eco, Lector, 96–105; Schneider, Gegenwart, 68. Lector, 96 f. 117  „In den kontextuellen Selektionsverfahren sind mögliche Kontexte vorgesehen; wenn sie realisiert werden, so werden sie in einem Ko-Text realisiert“; Eco, Lector, 18. D. h. zum Kontext des Johannesevangeliums gehören die synoptischen Evangelien, während das Johannesevangelium insgesamt als Ko-Text zur Fußwaschungserzählung anzusehen ist. 118  Dies entspricht am ehesten dem Diskursuniversum nach Alkier, Testament, 146. 119 Schalk, Eco, 190. „Der Begriff der Isotopie geht auf die Strukturelle Semantik von Greimas zurück und bezeichnet eine Bedeutungsbeziehung zwischen den Lexemen eines Textes, die das Feststellen eines Textthemas ermöglicht. Unterschiedliche Lexeme werden einem semantischen Feld zugeordnet, das Textthema ergibt sich durch Referenzbeziehungen der Lexeme untereinander. Eco nennt das durch die Korrelation der semantischen Einheiten eines Textes entstehende Bedeutungsfeld auch ‚topic‘ oder ‚Thema des Diskurses‘.“; a. a. O. 190 Anm. 120 Hier ist das Textverständnis von Eco ebenso anschlussfähig für eine narratologische Methodik, welche die konkreten Aspekte detailliert analysieren kann. 115

116 Eco,

2.2. Methodische Zugänge

105

auf Wirklichkeitsvorstellungen zu Urteilen über die Bedeutung des Textes gelangen. Wichtig für das Textverständnis sind hier zunächst die von Eco sogenannten „Umfelder der Aussage“, die vor allem Informationen zu Verfasser und Entstehungszeit sowie Annahmen über Gattung und Intention des Werkes enthalten. „Die Umfelder der Aussage wiederum bestimmen, welche Enzyklo­ pädie eine adäquate Lektüre gelingen läßt. Der aufgrund der angenommenen Enzyklopädie aktualisierte Inhalt gliedert sich in Intensionen, die in der Semiotik Charles Sanders Peirces als logical depth bezeichnet werden, und Extensionen, die Peirce logical breadth nennt. Vereinfachend könnte man sagen, die Intensionen befassen sich mit der Bedeutung und die Extensionen mit der Bezugnahme der Zeichen auf etwas.“121 Erst im Laufe der Lektüre zeigt sich, welche Interpretationsmöglichkeiten mehr oder auch weniger plausibel sind, so dass zumindest Fehldeutungen ausgeschieden werden können.122 Damit ist die Bedeutungszuschreibung bei diesem rezeptionsästhetischen Modell kein völlig subjektiver Akt der jeweiligen Lesenden, sondern der Text mit seinen Strukturen steuert die Rezeption und lässt (nur) ein gewisses Spektrum an Interpretationen zu, gibt also ein Interpretationspotenzial vor. Das Text- und Interpretationsmodell von Eco ist deshalb für historische Fragestellungen rund um die Entstehung und Interpretation von Bibeltexten anschlussfähig, fragt es doch auch nach den Entstehungsbedingungen des Werkes, nach den zeitgenössischen Lesenden und den kulturellen Codes, die für die Entstehungszeit feststellbar sind und in einem Text ihre Spuren hinterlassen haben. Synchrone und diachrone Arbeitsschritte müssen entsprechend nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern ergänzen sich vielmehr gegenseitig,123 da synchrone Fragestellungen eine Thematik mit Blick auf einen bestimmten Zeitpunkt untersuchen – zum Beispiel Rezeptionsmöglichkeiten im zweiten, dritten, usw. Jahrhundert –, während die diachrone Analyse die Entwicklung der Interpretationsmöglichkeiten als Ergebnis der einzelnen synchronen Untersuchungen in der Forschungsgeschichte zusammenführt und reflektiert. Allerdings verändert die Verwendung rezeptionsorientierter Modelle grundlegend das Textverständnis, da sie bei der Interpretation von Texten die aktive, bedeutungsgenerierende Rolle der Lesenden berücksichtigen und von einer Mehrdeutigkeit der Texte ausgehen. Während die historisch-kritische Exegese schwerpunktmäßig nach der Intention der Abfassung fragte und die Bedeutung eines Textes im Text selbst suchte, entsteht diese gemäß Umberto Eco erst bei der Lektüre, wobei die Lesenden das ihnen eigene kulturelle Wissen nutzen, um den Text zu verstehen. Texte können dabei sowohl mit Blick auf ihre innere Struktur als auch mit Blick auf ihre kommunikative Funktion untersucht werden. „Die einzelnen  Alkier, Intertextualität, 24.  Vgl. Eco, Grenzen, 77 f. 123 Vgl. Alkier, Testament, 145. 121 122

106

Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Elemente eines Textes beinhalten demnach eine ‚virtuelle‘ Aktualisierungsmöglichkeit, und der Text wird als ein Produkt verstanden, das notwendig auf die Interpretationsakte eines Lesers bezogen ist – oder anders gesagt: Einen Text hervorzubringen bedeutet, ‚eine Strategie zu verfolgen, in der die vorhergesehenen Züge eines Anderen miteinbezogen werden‘“.124 Die damit konstatierte Unvollständigkeit eines Textes liegt darin, dass in den Text „das Nicht-Gesagte verwoben“ ist und er „mit Leerstellen durchsetzt“ ist.125 Eco unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen „Gebrauch“ und „Interpretation“ eines Textes: Während Lesende beim Gebrauch mit dem Text im wahrsten Sinne des Wortes machen können, was sie wollen, und eine „unbegrenzte Semiose“ im Sinne von Charles S. Peirce möglich ist, versteht Eco unter einer „Interpretation“ eine Lektüre, welche die im Text angelegte „Dialektik zwischen der Strategie des Autors und der Antwort des Modell-Lesers einbezieht“.126 Historische Rückfragen sind nicht zu den Akten gelegt. Denn wenn der empirische Leser den Text im Sinne der in ihm angelegten Strukturen des „Modell-Lesers“ verstehen will, muss er sich über die Enzyklopädie des Senders, des „Modell-Autors“ informieren und so den Text „in seinen Umfeldern“ verstehen, d. h. „Informationen über den Sender, die Zeit und den sozialen Kontext des Werkes, Annahmen über die Art des sprachlichen Aktes usw.“ berücksichtigen.127 An dieser Stelle ist Ecos Textverständnis sowohl für die Ergebnisse der historisch-kritischen Exegese als auch für sozialgeschichtliche Ansätze in der Literaturwissenschaft anschlussfähig: „Ein sozialhistorisch orientierter Begriff von Literatur überwindet die Vorstellung, Literatur als geschlossenes, autonomes, stilistisch und formal sich selbst genügsames Kunstwerk zu beschreiben, und stellt stattdessen die Literatur in den sozialen Handlungszusammenhang gesellschaftlicher Prozesse.“128 Das Text- und Interpretationsverständnis Umberto Ecos, das auf dem Zeichenverständnis von Charles S. Peirce aufbaut, bietet somit eine theoretische Grundlage, um sowohl intertextuelle Bezüge als auch narratologische Methoden theoretisch fundiert in ein Auslegungsmodell zu integrieren.

2.2.3. Mieke Bal: Narratologie Das Johannesevangelium ist als ein erzählender Text geeignet, mit den von der Narratologie bereitgestellten Methoden analysiert zu werden. Als Schülerin des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette hat sie dessen Arbeiten, die grundlegend für die Erzähltheorie sind und bis heute Methodik und 124 Köppe/Winko,

Literaturtheorien, 51.  Eco, Lector, 62 f. 126  Eco, Lector, 73. 127 Eco, Lector, 78.89. 128  Huber, Methoden, 204. 125

2.2. Methodische Zugänge

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Terminologie der literaturwissenschaftlichen Erzähltextanalyse prägen, weiterentwickelt.129 Ihre Einführung in die Narratologie ist in mehreren überarbeiteten Auflagen erschienen und wird in vielen Studien und Lehrbüchern zur Narratologie aufgegriffen, wobei vor allem ihr heuristischer Zugriff mit Blick auf die Textinterpretation bedeutsam ist.130 Mieke Bals Textverständnis ist in besonderer Weise anschlussfähig sowohl für intertextuelle Untersuchungen als auch für das Lektüremodell von Umberto Eco. Sie versteht Erzähltexte im Unterschied zu manch anderen narratologischen Zugängen nicht als abgeschlossene Entitäten, sondern berücksichtigt kulturelle und historische Kontexte der Produktion und Rezeption sowie intertextuelle Bezüge im weitesten Sinn. [A] text is a finite, structured whole composed of signs. These can be linguistic units, such as words and sentences, but they can also be different signs, such as cinematic shots and sequences, or painted dots, lines, and blots. The finite ensemble of signs does not mean that the text itself is finite, for its meanings, effects, functions, and background are not. It only means that there is a first and a last word to be identified; a first and a last image of a film; a frame of a painting, even if those boundaries, as we will see, are provisional and porous.131

Ihr Analysemodell widmet sich den erzählten Ereignissen nicht nur in dem Sinn, dass sie ausgehend vom Erzähltext deren chronologische Reihenfolge in der Geschichte, der fabula, rekonstruiert, sondern sie fragt vielmehr nach der Bedeutung, die einem Ereignis oder Geschehnis im Rahmen der Erzählung, der story, zugeschrieben wird und die es erst oder vor allem durch die spezifische Art der Präsentation gewinnt.132 Die klassische Frage der Erzählperspektive, die 129  Vgl. v. a. ihre differenzierte Weiterentwicklung der Erzählperspektive Bal, Introduction, 132–153; Bal, Narration, 75–108; dazu Herman/Vervaeck, Handbook, 20.77–88; Lahn/ Meister, Erzähltheorie, 121; Schmid, Elemente, 107–118, v. a. 109–114. Nach Schmid sind „die Implikationen des point of view entgegen dem allgemeinen Eindruck ‚underestimated‘ und ‚underexplored‘“; a. a. O. 107 unter Berufung auf Lanser, Act, 13. 130   Vgl. z. B. Lahn/Meister, Erzähltheorie, 18; Köppe/Kindt, Erzähltheorie, 29  f., Schmid, Elemente, 109–114.121–141. Vgl. auch Bals Weiterentwicklung der Erzähltheorie zu einem einflussreichen Konzept der Kulturanalyse, Bal, Concepts; dies., Kulturanalyse; dies., Reading, 20–40; vgl. Nünning, Responsibility, 44–48. Dass eine Methode zur Textanalyse nicht notwendigerweise über die Deskription hinausführende relevante Ergebnisse für die Textinterpretation austragen muss, gilt für alle methodischen Zugriffe und spricht nicht gegen das Verständnis der Narratologie als methodisches Instrumentarium mit dem Ziel einer methodisch basierten Interpretation eines Erzähltextes; die entsprechende Einschränkung von Köppe/ Kindt, Erzähltheorie, 45, ist folglich überflüssig. Es gehört zur exegetischen Kompetenz, die Fragestellungen, Methoden und Analyseergebnisse auszuwählen, die für den jeweiligen Text einen weiterführenden Erkenntnisgewinn versprechen; vgl. zur Erzählperspektive die hilfreiche Empfehlung zu konkreten Leitfragen bei Schmid, Elemente, 140 f. 131 Bal, Narratology, 5. Vgl. zur Anwendung eines narratologischen Modells im Anschluss an Genette, Bal und Rimmon-Kenan auf die johanneische Erzählung auch Tolmie, Narratoloy. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit narratologischen Modellen mit Blick auf die biblische Analyse bietet Finnern, Narratologie, 23–246. Auch Mieke Bal hat ihre narratologische Methodik an zahlreichen Bibeltexten durchgeführt. 132  Dieser Aspekt wird bei der Plot-Analyse von Köppe und Kindt nicht ausreichend berücksichtigt, die auf die Chronologie der Ereignisse in der Geschichte zielt und die Bedeutung der

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

sich dem Erzähler oder der Erzählstimme widmet und die Mieke Bal auf der Ebene des Erzähltextes verhandelt, wird dabei ergänzt um die zentrale Frage nach der Wahrnehmungsperspektive (focalization), die anhand der spezifischen Präsentation eines Ereignisses oder Sachverhalts von ihr auf der Ebene der story untersucht wird. Wolf Schmid betont mit Blick auf die Fokalisierung bzw. Perspektivierung einer Erzählung zurecht, dass „die Implikationen des point of view entgegen dem allgemeinen Eindruck ‚underestimated‘ und ‚underexplored‘ seien“.133 Denn wer etwas sieht oder bewertet, ist zentral für die Interpretation der erzählten Geschichte.134 Die vier Evangelien erzählen zwar alle die Geschichte Jesu, bieten jedoch jeweils eine eigenständige Perspektive auf Jesus und seine Geschichte. Auch innerhalb eines Evangeliums werden unterschiedliche Perspektiven auf Jesus und auf Ereignisse der Jesus-Christus-Geschichte verhandelt. In Joh 12,1–8 erfahren die Lesenden zum Beispiel, dass Judas die Salbung Marias als unnötige Geldverschwendung und fehlende Solidarität mit den Armen betrachtet (12,4), während Jesus sie mit Blick auf sein bevorstehendes Begräbnis als angemessen wertschätzt (12,7 f.). Die jeweils in einer direkten Rede wiedergegebenen Sichtweisen und Bewertungen der beiden Erzählfiguren bleiben jedoch nicht gleichwertig nebeneinander stehen, sondern der Erzähler ‚sieht‘ die Motivation des Petrus als Dieb (12,6). Diese ‚Wahrnehmung‘ des Judas in Form einer direkten Charakterisierung wirft ein negatives Licht auf Judas und zeigt den Lesenden, welche Deutung der Salbung Marias als glaubwürdig nahegelegt wird. Maria selbst steht gemäß Joh 11,1–3.5.11.36 zusammen mit ihren Geschwistern in einer von Liebe geprägten Freundschaftsbeziehung zu Jesus, die ebenfalls vom Erzähler (11,5) und von verschiedenen Erzählfiguren (11,3.11.36) wahrgenommen wird und in deren Rahmen die Salbung stattfindet. Mieke Bal bietet ein Analyseinstrumentarium, dessen Ergebnisse auf die methodische Begründung einer Textinterpretation zielen. Dabei berücksichtigt sie auch die nicht-erzählenden Kommentare, die ebenfalls für die Ideologie einer Erzählung bedeutsam sind, sowie den Wechsel zwischen erzählender und komEreignisse nicht von ihrer Präsentation in der Erzählung, sondern von der – angenommenen – Relevanz für den Fortgang der Handlung (im Sinne des chronologisch rekonstruierten Geschehens, das sie als plot bezeichnen) abhängig macht; vgl. Köppe/Kindt, Erzähltheorie, 104–107. Auf dieser Grundlage unterscheiden sie bei den erzählten Ereignissen zwischen „wesentlichen“ und „tilgbaren“; a. a. O. 107. Die Problematik dieser Unterscheidung zeigt sich deutlich im Johannesevangelium: Für den Fortgang der Handlung im Johannesevangelium sind die Hinweise auf das nachösterliche Verstehen der Jünger in Joh 2,22; 12,16 irrelevant, für die Interpretation der Handlung durch die Lesenden haben diese Erzählerkommentare höchste Relevanz. 133  Schmid, Elemente, 107 unter Berufung auf Lanser, Act, 13. 134  Vgl. auch die von Wolf Schmid entwickelten Aspekte der Perspektivierung, der eine perzeptive, eine ideologische, eine räumliche, eine zeitliche und eine sprachliche Perspektive sowohl mit Blick auf die Erzählinstanz als auch mit Blick auf die Figuren unterscheidet; vgl. Schmid, Elemente, 130–137. Mieke Bal selbst verweist u. a. auf die Erzähltheorie von David Herman, der mit einem kognitionswissenschaftlichen Zugriff ebenfalls diese Fragestellung reflektiert und berücksichtigt; vgl. Bal, Introduction 151.

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mentierender Darstellung.135 Als argumentierende Abschnitte definiert sie Aussagen auf den verschiedenen Erzählebenen, welche sich als Meinungen oder Feststellungen auf Wissensbestände außerhalb der erzählten Geschichte beziehen, unabhängig von deren tatsächlichem Wahrheitsgehalt gemäß der Wirklichkeitsvorstellung zur Zeit der Abfassung.136 Auch deskriptive Textabschnitte, zum Beispiel von Situationen oder Räumen, unterbrechen den Handlungsverlauf und können durch die ergänzenden Informationen einen beachtlichen Einfluss auf die Ideologie des Textes haben.137 Ausgehend von der möglichen Vielstimmigkeit einer Erzählung hebt Bal zudem hervor, dass explizit geäußerte Wertungen und Beobachtungen – durch den Erzähler oder auch durch die Erzählfiguren – im weiteren Verlauf der Darstellung kritisch oder ironisch aufgenommen oder durch den Handlungsverlauf in Frage gestellt oder gar falsifiziert werden können.138 Dies ist vor allem für das Johannesevangelium mit seinen zahlreichen Reden und Bewusstseinsberichten relevant.139 Da Mieke Bal mit diesem differenzierten Modell unterschiedliche Perspektiven und Positionierungen in 135  Vgl. Bal, Narratology, 31. Für die narratologische Analyse der johanneischen Texte wird in der vorliegenden Studie weitgehend das Modell von Bal zugrunde gelegt. Mit Blick auf die Charakterisierung von Erzählfiguren folge ich den Analysekategorien von Rimmon-Kenan, Fiction, 59–71. 136 Bal, Narratology, 32 f. Gerade weil der tatsächliche Wahrheitsgehalt einer Aussage als Referenz auf Wirklichkeitskonzepte oft schwierig zu entscheiden ist, bleibt sie bei dieser offenen Definition, die sich bei Texten sowohl auf Diskursuniversen anwenden lässt, die im fiktionalen Bereich liegen, als auch bei Texten, deren Diskursuniversum der Wirklichkeitsvorstellung der realen Lesenden entspricht. Eine Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen, sich auf tatsächliche Ereignisse beziehende Erzählungen greift hier zu kurz, da auch Aussagen über die Bedeutung von tatsächlich stattgefundenen Ereignissen in einer Erzählung, ja sogar in der Geschichtsschreibung unterschiedlich ausfallen können und zudem nicht von allen Lesenden geteilt werden müssen. Wirklichkeit gibt es nur als gedeutete Wirklichkeit. Zur berechtigten Kritik an dieser Unterscheidung vgl. Wischmeyer, Hermeneutik, 160, die darauf hinweist, dass es auch in fiktionaler Literatur faktuale Anteile gibt und dass mit Blick auf die Erzählweise bisher keine Kriterien zur Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Texten gefunden werden konnten; vgl. zur Auseinandersetzung mit der Thematik Lagoni, Erzählen; Martinez/ Scheffel, Erzähltheorie, 9–19 und den Sammelband Fludernik/Steiner /Falkenhayner, Erzählen. 137 Bal, Narratology, 33. Die Erzählerkommentare in Joh 2,22 und 12,16 sind zeitlich aus einer nachösterlichen Perspektive formuliert und informieren die Lesenden, dass sie aus dieser – ihrer eigenen – Perspektive die erzählten Ereignisse besser als die textinternen Erzählfiguren wahrnehmen und interpretieren können. 138 Vgl. dazu auch die konkreten Leitfragen bei Schmid, Elemente, 141: „Diese Methode sieht drei Leitfragen vor, die die fundamentalen Akte des Erzählens betreffen: (1) die Auswahl, (2) die Bewertung, (3) die Benennung der Geschehensmomente. Das sind die Akte, die den Parametern (1) Perzeption, (2) Ideologie und (3) Sprache entsprechen“. Diese Fragestellungen sind insbesondere für die Reden und Dialoge im Johannesevangelium weiterführend, um zu analysieren, wie der Erzähler und der johanneische Jesus sich in Bezug zu den jeweiligen Erzählfiguren und ihren Äußerungen positionieren. 139  Vgl. zu einem Überblick über verschiedene, mehr oder weniger autonome Präsentationstypen von Worten oder Gedanken der Erzählfiguren die konzise Tabelle von Lahn/Meister, Einführung, 131.

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

einem erzählenden Text wahrnehmen kann,140 ist der Ansatz in besonderer Weise geeignet, um gerade auch das Johannesevangelium mit seinen erzählten Auseinandersetzungen über die Bedeutung Jesu und seines Wirkens zu analysieren und auch die vielfältigen Bedeutungszuschreibungen der Fußwaschung Jesu zu untersuchen. Mieke Bal unterscheidet bei der Analyse einer Erzählung drei Ebenen: den ‚text‘ (Erzähltext) in seiner vorliegenden Form als Abfolge von Zeichen141, die durch den Erzähltext dargestellte ‚story‘ (Erzählung) als perspektivierte und zeitlich strukturierte Darstellung der Ereignisse und die dieser ‚story‘ zugrundeliegende, fiktive oder auch tatsächlich geschehene ‚fabula‘ (Geschichte).142 Dies ist eine Entfaltung der in der Narratologie grundlegenden Unterscheidung zwischen dem, was erzählt wird (Geschichte bzw. histoire), und dem, wie erzählt wird (Diskurs bzw. discourse).143 Das ‚Wie‘ der Erzählung wird im Anschluss an Gérard Genette differenziert mit Blick auf die Auswahl und Anordnung der Elemente der Geschichte, d. h. die „ästhetische Re-Konfiguration der Geschichte“ (story) einerseits und die „sprachliche Präsentation als Erzählung“ andererseits (text).144 Bei dieser „ästhetischen Re-Konfiguration der Geschichte“ geht es nicht um ihre literarische Gestalt, sondern vor allem um ihren spezifischen Gehalt, um ihre Bedeutung, die je nach Darstellung variieren kann. Denn aus einer Geschichte lassen sich unterschiedliche Erzählungen bilden, je nachdem welche Elemente ausgewählt und wie sie präsentiert werden. Dass im Gleichnis vom armen Lazarus der Bettler einen Namen hat und der Reiche namenlos bleibt (Lk 16,19– 31), widerspricht den gesellschaftlichen Gepflogenheiten und ist deshalb Ausdruck eines spezifischen Gestaltungswillens mit Blick auf die Auswahl der Elemente145 der Geschichte, die sich auch auf die Ideologie der Gleichniserzählung 140 Vgl. Bal, Polyphonie, 111–122. Zur Bedeutung der Fokalisierung für die in einem Erzähltext transportierten Bewertungen vgl. auch Herman/Vervaeck, Handbook, 77–87. Hier finden sich Berührungen zur Dialogizitätsvorstellung von Michail Bachtin. Zur Bedeutung von Genettes Konzept der Erzählstimme für die Analyse der Polyphonie vgl. auch Roggenbuck, Polyphonie, 32–39. 141  Dies entspricht der „Linearen Manifestation des Textes“ nach Eco; vgl. Abschnitt 2.2.2. 142 Bal, Introduction, 5–10. 143  Dieses zweigliedrige Modell findet sich grundlegend bei Tzvetan Todorov, Kategorien, und Seymour Chatman, Story; vgl. Lahn/Meister, Einführung 18–20. Lahn und Meister legen zwar dieses zweigliedrige Modell zugrunde, führen aber mit der Ebene des „Erzählers“ eine weitere analytische Ebene ein, so dass die Art der Darstellung des Geschehens unter dem Stichwort „Diskurs“ und die Art der Präsentation unter dem Stichwort „Erzähler“ behandelt wird. Auf der Analyseebene des Erzählers werden Perspektivierung und Fokalisierung sowie die Verteilung der Redeanteile verhandelt; a. a. O. 18. 144  So die anschauliche Begrifflichkeit bei Lahn/Meister, Einführung 18, 71 f. 145 Mieke Bal fragt konkret, welche Informationen über die Elemente der Geschichte der Lesende (nicht) erhält, wie diese vermittelt werden und wie diese zueinander in Beziehung stehen; vgl. Bal, Introduction, 150. Dies betrifft nicht nur den Handlungsverlauf der Geschichte, sondern alles, was die Welt dieser Geschichte ausmacht: Geschehnisse und Ereignisse, Handlungsträger/Personen, Zeit und Orte; vgl. a. a. O. 154–187.

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auswirkt. Die exegetisch spannende Frage bei der Analyse eines neutestamentlichen Erzähltextes besteht nicht darin, die chronologische Abfolge der Geschehnisse und Ereignisse zu rekonstruieren und damit einen möglichen Verlauf der Geschichte darstellen zu können, sondern vielmehr darin, zu analysieren, welche Bedeutung den dargestellten Geschehnissen und Ereignissen durch die Art und Weise ihrer Anordnung und Darstellung zukommt, d. h., welche Bedeutung(en) die Erzählung ermöglicht und nahelegt.146 Die „erzählte Handlung“ wird als ein „Textkonstrukt“ aufgefasst, „das an der sprachlichen Oberfläche des Textes  – also an den Wörtern und Sätzen – ablesbar ist“.147 Dass im Johannesevangelium die Vertreibung der Händler aus dem Tempel zu Beginn des Wirkens Jesu erzählt wird (Joh 2,13–25), ist nicht so sehr interessant mit Blick auf den genauen Zeitpunkt dieser Handlung Jesu in der chronologischen Abfolge aller von ihm dargestellten Handlungen, sondern vor allem mit Blick auf die christologische Bedeutung, die ihr durch diese Re-Konfiguration in der story des vierten Evangeliums zukommt: Während in den synoptischen Evangelien die Austreibung aus dem Tempel die Verhaftung Jesu und damit die unmittelbar bevorstehende Passionserzählung vorantreibt, gewinnt sie bei Johannes allein durch ihren ‚Platz‘ in der erzählten Welt eine ganz andere, grundlegend christologische Bedeutung. In den erzähltheoretischen Ansätzen variieren die Bezeichnungen für die unterschiedlichen Dimensionen einer Erzählung so stark, dass es wichtig ist, die hier verwendeten Begriffe und ihre Bedeutung zu klären.148 Im Anschluss an Wolf Schmid unterscheiden Silke Lahn und Jan Christoph Meister folgende hilfreiche Grundbegriffe149: Geschehnis: Eine im Geschehens- und Weltkontext unauffällige (unmarkierte) Zustandsveränderung. Ereignis: Eine im Kontext auffällige (markierte) Zustandsveränderung. Geschehen: Chronologische Gesamtsequenz aller Geschehnisse und Ereignisse. 146 So jedoch Köppe/Kindt, Erzähltheorie, 101 f. Unter dem „plot“, der rekonstruiert werden soll, verstehen Tilmann Köppe und Tom Kindt die fabula in der Terminologie Mieke Bals bzw. die Geschichte in der Terminologie Wolf Schmids. Hier zeigt sich eine deutliche analytische Schwäche des zugrunde gelegten Textmodells; a. a. O. 41–102. Dabei rächt es sich, dass sich die beiden nicht die Mühe gemacht haben, auf die „terminologischen Alternativen“ zu den von ihnen gewählten Begrifflichkeiten einzugehen, da es sich dabei um konzeptionelle und nicht nur um terminologische Unterschiede handelt; vgl. Köppe/Kind, Erzähltheorie, 107 f. 147  Lahn/Meister, Einführung, 222. Die erzählte Handlung kann entsprechend mit dem aristotelischen Begriff des „Mythos“ verglichen werden, der die „Konzeption der Gesamthandlung“ bezeichne und als „ästhetisches Organisationsprinzip“ bestimme, „was in der erzählten Welt passiert“; a. a. O. 223. Gerade bei deutlich sichtbaren und wertenden Erzählinstanzen sei „der logisch zugrunde liegende Handlungsgang allerdings oftmals stark überformt und nur noch schwer rekonstruierbar“, da der Erzähler nicht primär das Geschehen an sich, sondern seine eigene „Geschehensinterpretation“ präsentiere; a. a. O. 222. 148  Vgl. dazu den prägnanten Überblick bei Lahn/Meister, Einführung, 212–215 sowie die Übersicht a. a. O. 219. 149 Die folgende Aufzählung ist übernommen von Lahn/Meister, Einführung, 218.

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Geschichte: Chronologisch geordnete Sequenz aus der Teilmenge des Geschehens, die für die Bedeutungsabsicht des Erzähltextes relevant ist; in der Regel umfasst die Geschichte alle Ereignisse, aber nicht alle Geschehnisse. Erzählung: Die ästhetisch geformte Geschichte; sie transformiert die Geschichte durch das ‚Wie‘ des Erzählens. Die Ereignis- und Geschehenselemente können in einer anderen Reihenfolge als die der Geschichte erscheinen. Erzähltext: Der konkrete sprachliche Ausdruck, in dem die Erzählung präsentiert wird.150

Silke Lahn und Jan Christoph Meister fassen Geschehnis, Ereignis, Geschehen und Geschichte unter dem Aspekt der Handlung, Erzählung und Erzähltext unter dem Aspekt des Diskurses zusammen.151 Sie zeigen auf, dass die Begriffe story und plot in der anglo-amerikanischen Erzähltheorie nicht eindeutig Handlung und Diskurs zugeordnet werden können, sondern unterschiedlich gebraucht werden, und dass auch die Bezeichnungen Geschichte oder récit in den verschiedenen Erzähltheorien uneinheitlich verwendet werden.152 Ich verwende im Folgenden die Bezeichnungen Mieke Bals, die in narratologischen Analysen seltener, aber mit einer eindeutigeren Definition verwendet werden: In der Terminologie von Mieke Bal entspricht die Geschichte der ‚fabula‘, die gestaltete Erzählung der ‚story‘ und der Erzähltext wird von ihr als ‚text‘ bezeichnet.153 Geschehnisse und Ereignisse, die sich in der fabula chronologisch geordnet vorfinden, werden von Mieke Bal als ‚events‘ bezeichnet und durch den Aspekt der Zustandsveränderung definiert. Eine fabula, die in einer Erzählung dargestellt wird, enthält nie alle Geschehnisse und Ereignisse eines bestimmten Geschehens, sondern stets eine Auswahl, die für die jeweilige story relevant sind. Mieke Bal analysiert einen Erzähltext auf drei Ebenen. Die fabula oder Geschichte enthält eine Auswahl an relevanten Geschehnissen und Ereignissen, außerdem Schauplätze, Figuren und zeitliche Zusammenhänge. Die story ist die spezifische Anordnung, gemäß der die Elemente der fabula präsentiert werden. Der text ist die vorliegende, durch Zeichen vermittelte story bzw. Erzählung. Die Unterscheidung zwischen fabula und story ist sinnvoll, da eine Geschichte/ fabula in verschiedenen Erzählungen ganz unterschiedlich als story präsentiert werden kann und damit auch textpragmatisch verschiedene Wirkungen bei den Lesenden hervorgerufen werden. Nehmen wir als Beispiel einen fiktiven Kriminalroman an, welcher die Geschichte eines Verbrechens mit Täter, Opfern und ermittelndem Detektiv erzählt. Die chronologische Abfolge der Ereignisse, die Zahl der beteiligten Personen, Zeit und Ort sind in der fabula, die sich eine Autorin oder ein Autor ausgedacht hat, festgelegt. Trotzdem können aus dieser einen fabula ganz unterschiedliche Romane entstehen, je nachdem, wie der Stoff strukturiert wird. Die Erzählung kann schwerpunktmäßig aus der Per150 Lahn/Meister,

Einführung, 218. Die Hervorhebungen wurden nicht übernommen.  Vgl. die Tabelle bei Lahn/Meister, Einführung, 215. 152  Vgl. Lahn/Meister, Einführung, 214 f. 153 Vgl. Bal, Introduction, 5–10. 151

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spektive der Opfer oder aus der Perspektive des Detektivs erzählt werden, so dass die Lesenden vor allem durch die Brille dieser Charaktere die Handlung kennenlernen und wahrnehmen. Mieke Bal bezeichnet diesen Aspekt als Wahrnehmungsperspektive (focalization).154 Zudem kann die story mit Blick auf die zeitliche Strukturierung mit dem Verbrechen beginnen und dessen Vorgeschichte durch die ermittelnden Personen aufklären lassen, oder die Erzählung setzt bereits vor dem Verbrechen ein und lässt die Lesenden im Vorfeld daran teilnehmen, wie es dazu kam. Dies wird von Mieke Bal als zeitliche Strukturierung der story beschrieben.155 Besonders gravierend ist die Auswirkung auf den Verlauf der story, wenn der Täter von Anfang an bekannt ist und das Verbrechen aus der Perspektive des Täters beschrieben wird. Die Spannung des Romans besteht in diesem Fall nicht mehr darin, dass im Handlungsverlauf allmählich die Person und die Motive des Täters aufgeklärt werden, sondern man kann sich dann eher ein Psychogramm des Täters mit einer Spannung im Hinblick auf die Tatfolgen vorstellen. Aus ein- und derselben fabula können also ganz unterschiedliche stories gestaltet werden, so dass es sinnvoll ist, in der Analyse zwischen fabula (Geschichte) und story (Erzählung als „ästhetische Re-Konfiguration der Geschichte“156) zu unterscheiden. Hat man sich für eine bestimmte story entschieden, kann diese in unterschiedlichen Texten (texts) zum Ausdruck gebracht werden, zum Beispiel in verschiedenen Sprachen, in einem Dialekt oder in unterschiedlichen Soziolekten, die etwa auf Jugendliche oder auf Erwachsene oder spezifisch auf bestimmte Berufsgruppen zielen. Auch eine Romanverfilmung kann die story in ihren Grundzügen unverändert lassen. Solange die story identisch bleibt, wird die Erzählung unabhängig von den jeweils gewählten konkreten Zeichen eine vergleichbare Wirkung auf die Rezipierenden haben.157 Da bei der Lektüre oder Analyse einer Erzählung in der Regel ausschließlich der Text vorliegt, während story und fabula aus dem text erhoben werden müssen, analysiert Mieke Bal eine Erzählung auch in der entsprechenden Reihenfolge der Textlektüre. Damit berücksichtigt sie bei ihrer Analyse zugleich den Lektüreprozess der Rezipierenden. Die Unterscheidung der drei Ebenen einer Erzählung ist ein analytisches Modell, das hilft, die verschiedenen Aspekte methodisch kontrolliert zu unter Vgl. Bal, Introduction, 132–153.  Eben dieser wichtige Punkt wird jedoch unsichtbar gemacht, wenn man ausgehend von der Erzählung zu schnell versucht, die chronologische Abfolge der Ereignisse in der ‚fabula‘ zu rekonstruieren, ohne sich zunächst einen detaillierten Überblick zu verschaffen, wie die Handlung in der ‚story‘ zeitlich und perspektivisch dargestellt wird; vgl. Bal, Narratology, 75–98. 156 So die treffende Bezeichnung von Lahn/Meister, Einführung, 18. 157  Mieke Bal zeigt die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten (‚texts‘) ein- und derselben ‚story‘ am Beispiel von Tom Thumb, einem englischen Volksmärchen auf; vgl. Bal, Narratology, 6 f. 154 155

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suchen. Gegenstand und Ausgangspunkt der Analyse ist der vorliegende text. Auf der Ebene des Erzähltextes wird vor allem untersucht, wer spricht bzw. erzählt:158 Die zentrale Erzählinstanz wird als Erzähler der ersten Erzählebene bezeichnet. Wenn dieser außerhalb der erzählten fabula verortet und nichtcharaktergebundenen ist, spricht Bal von einem externen Erzähler.159 Ein Erzähler der ersten Erzählebene kann auch in der fabula anwesend sein, in der Regel als Erzählfigur und damit als sogenannter charakter-gebundener Erzähler, manchmal jedoch auch wie ein (unsichtbarer) Zeuge, der ansonsten nicht in Erscheinung tritt. Im Verlauf der Erzählung können die Erzählstimmen und damit auch die Erzählebenen wechseln, wenn der Erzähler der ersten Erzählebene das Wort an andere Erzähler – nun spricht Bal von der zweiten Erzählebene oder von Erzählern zweiter Ordnung – übergibt. Wenn zum Beispiel in den Evangelien Jesus als charaktergebundener Erzähler zweiter Ordnung ein Gleichnis erzählt, kann dieses als Binnenerzählung bzw. als Erzählung auf der zweiten Erzählebene oder als Erzählung zweiter Ordnung bezeichnet und für sich analysiert werden. Auch argumentative oder deskriptive Abschnitte werden auf der Ebene des Erzähltextes analysiert und bzgl. ihrer Funktion für die Erzählung berücksichtigt. Auf der Ebene der story geht es um die Analyse von ‚events‘ (erzählten Ereignissen oder Motiven)160, ‚characters‘ (Charakteren), ‚time‘ (zeitlicher Struk158  Vgl. zum Folgenden Bal, Introduction, 11–64. Der Erzähler bzw. die Erzählstimme der ersten Ebene ist nicht mit dem Autor gleichzusetzen. Eine Autorin verwendet die Erzählstimme, um durch sie die Geschichte auf eine bestimmte Art und Weise zu übermitteln, wobei eine Erzählstimme zwar grundsätzlich die Meinung der Autorin wiedergeben kann, aber nicht zwingend wiedergeben muss. Mieke Bal lehnt auch das Konzept des ‚impliziten Autors‘ von Wayne C. Booth ab; vgl. Booth, Rhetorik. Erzähler bzw. Erzählstimme ist für Bal ein linguistisches Konzept, eine Funktion im Text: „that agent which utters the (linguistic or other) signs which constitute the text“; Bal, Narratology, 18. 159 Diese Erzählsituation wird häufig als „allwissender Erzähler“ oder als „Erzählung in der 3. Person“ beschrieben, eine Beschreibung, die Mieke Bal zurecht kritisiert. Es gebe keinen „Er-Erzähler“, sondern für jede Erzählung gelte ausgesprochen oder unausgesprochen: „(Ich erzähle,) eine Person xy hat das und das erlebt“, oder: „Ich erzähle, ich (im Alter von x Jahren, d. h. ich in der Vergangenheit) habe das und das erlebt.“; vgl. Bal, Introduction, 12–23. Dies gilt auch für den Text, den Köppe und Kindt als Beispiel dafür anführen, dass nicht jeder Erzähltext einen Erzähler habe; das von ihnen zitierte Textbeispiel zeigt jedoch nicht nur durch die Art der Darstellung, dass die Erzählinstanz wie ein (zunächst) unsichtbarer Zeuge im Raum anwesend ist, sondern auch, dass sie im letzten zitierten Satz sogar als „ich“ im Text sichtbar wird; vgl. Köppe/Kindt, Erzähltheorie, 87. 160  Vgl. Bal, Introduction, 65–153; Martin Ebner und Bernhard Heininger unterscheiden hier zwischen Event und Motiv: „Wir treffen folgende Vereinbarung: Das Ereignis bzw. das, was in der realen (im Falle faktualen Erzählens) oder gedachten Wirklichkeit (im Fall fiktionalen Erzählens) geschieht, bezeichnen wir als Event. Die textuelle oder literarische Repräsentation eines Events nennen wir hingegen ein Motiv. Die entscheidende Bezugsgröße für die Analyse von Motiven auf der Textebene ist der Satz, wobei die These Tomasevskijs, jeder Satz verfüge über ein eigenes Motiv, dahingehend zu modifizieren ist, dass ein Satz auch mehrere Motive enthalten bzw. Events schildern kann. Für die konkrete Arbeit empfiehlt es sich, die Liste der Events anhand der im Text vorkommenden Tätigkeitswörter zu erfassen und diese mit einem Label bzw. einer Etikettierung zu versehen.“; Ebner/Heininger, Exegese, 71.

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turierung), ‚locations‘ (gestalteten Handlungsschauplätzen) und der ‚focalization‘ (Wahrnehmungsperspektive)161, die von Mieke Bal als ‚aspects‘ einer Erzählung bezeichnet werden. Ziel dieses Analyseschritts ist es nicht, die zugrundeliegende Geschichte (fabula) in ihrer logischen Abfolge zu rekonstruieren, sondern vielmehr die spezifische erzählerische Gestaltung der jeweiligen Aspekte wahrzunehmen. Vor allem die Charakterisierungen, die Beschreibungen von Handlungsschauplätzen sowie die zeitliche Gestaltung der Erzählung wirken sich deutlich auf die Ideologie einer Erzählung aus. Folgende Fragen können unter anderem gestellt werden: – Wie wird ein Charakter eingeführt, welche Informationen bekommen wir über sie oder ihn, welche Informationen bekommen wir nicht? – Erfahren wir etwas über die Gedanken oder Gefühle eines Charakters oder erhalten wir nur Informationen über das Aussehen, über Worte und Taten? – Wie ist die Darstellung zeitlich strukturiert? Wie ist das Erzähltempo? – Welche Ereignisse werden ausführlich erzählt (Szene), welche werden nur knapp und summarisch dargestellt (Summarium)? – Gibt es Vorausdarstellungen (Prolepsen) oder Rückblenden (Analepsen)? – Wird ein einmalig stattfindendes Ereignis einmal (Singularität) oder öfters (Repetition) erzählt? Wird nur einmal erzählt, was sich wiederholt ereignet (Iteration)? – Wie werden die Handlungsschauplätze beschrieben und beeinflusst dies die Interpretation der Szene?

Auf der Ebene der fabula wird schließlich die zugrundeliegende Geschichte in ihrem chronologischen Ablauf rekonstruiert. Mieke Bal untersucht hier ‚events‘ (Ereignisse), ‚actors‘ (Handlungsträger), ‚time‘ (zeitlicher Ablauf) und ‚locations‘ (Orte), die als ‚elements‘ (Elemente) der fabula bezeichnet werden.162 Die zugrundeliegenden Elemente einer Geschichte werden also auf den drei Ebenen der Erzähltextanalyse unter bestimmten Perspektiven wahrgenommen und methodisch untersucht. Die Erzählfiguren zum Beispiel werden auf der Ebene der Geschichte in ihrer Funktion als Handlungsträger, auf der Ebene der Erzählung als Charaktere und auf der Ebene des Erzähltextes als Sprecher analysiert. 2.2.3.1. Erzählstimme und Erzählebenen Bei der Untersuchung von Erzählebenen des Erzähltextes geht es zunächst um die Frage, wer auf welcher Erzählebene erzählt.163 Der Autor wählt einen Erzähler für die primäre oder erste Erzählebene, um durch dessen Vermittlung die story auf eine bestimmte Art und Weise sprachlich zu präsentieren. Dabei unterscheidet Mieke Bal zwischen einem externen Erzähler, der außerhalb der Textwelt steht, und einem internen Erzähler, der in der Regel als charakter Vgl. Genette, Erzählung, 241–244.  Vgl. Bal, Introduction, 154–187. 163 Vgl. dazu grundlegend Lahn/Meister, Einführung, 79–100. 161 162

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Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

gebundene Erzählstimme auftritt und in der ersten Person von sich erzählt.164 Auch wenn Erzähler und Charakter im zweiten Fall in einer Person zusammenfallen, sind sie doch nicht identisch, da der Erzähler in der Regel von sich in der Vergangenheit erzählt.165 Schließlich reflektiert Bal noch die Möglichkeit eines internen Erzählers, der nicht mit einem Charakter identisch ist, sondern wie eine Art anonymer Zeuge auftritt und entweder nicht oder nur zum Teil sichtbar wird.166 All diese Möglichkeiten der Erzählerrede werden als Erzählstimmen der ersten Erzählebene betrachtet. Im Rahmen einer Erzählung ist es jedoch üblich, dass es zu einem Wechsel der Erzählebenen und damit auch der Erzählstimmen kommt: Der Erzähler der ersten Ebene übergibt das Wort an eine der Erzählfiguren. Wenn die Figurenrede selbst eine eigene Erzählung umfasst, kann man diese als Binnenerzählung167 bezeichnen. Ein klassisches Beispiel in den Evangelien sind die von Jesus erzählten Gleichnisse. Bei der Analyse wird folglich zwischen der ersten Er164  Vgl. Bal, Narratology, 18–29: Mieke Bal verzichtet hier auf die komplizierte Terminologie ihres Lehrers Gérard Genette, der zwischen extra-, intra- und metadiegetischen Erzählstimmen unterscheidet: Unter Diegese ist die Textwelt bzw. das Diskursuniversum der Erzählung zu verstehen, so dass Genette den Erzähler in seinem Bezug zur erzählten Geschichte verortet: der extradiegetische Erzähler steht außerhalb der Textwelt (nach Bal ein externer Erzähler), der intradiegetische Erzähler steht innerhalb der Textwelt (nach Bal ein interner Erzähler, der in der Regel charaktergebunden ist). Bezüglich der Bezeichnung ist v. a. der sogenannte metadiegetische Erzähler problematisch, da es sich dabei um einen  – in der Terminologie von Bal  – charaktergebundenen Erzähler innerhalb einer Binnenerzählung handelt, d. h. ein charaktergebundener Erzähler auf der zweiten (oder auch einer weiteren) Erzählebene. Der metadiegetische Erzähler ist dem intradiegetischen Erzähler also – entgegen der irreführenden Bezeichnung – nicht über-, sondern untergeordnet; zur Kritik an Genette vgl. Lahn/Meister, Einführung, 81–83; Schmid, Elemente, 83–86. Leichter nachvollziehbar ist es, wenn die Beschreibung der Erzählstimmen unter Berücksichtigung der Erzählebenen erfolgt, wie Mieke Bal dies vorschlägt. Ihr gelingt es, durch leicht verständliche Beschreibungen der jeweiligen Erzählerrolle diese ebenso differenziert zu definieren und analysieren wie ihr Lehrer Genette. Vgl. auch die Darstellung und Bewertung verschiedener Typologien der Erzählung bei Schmid, Elemente, 79–95. 165  Die verbreitete Unterscheidung zwischen allwissendem Erzähler und Ich-Erzähler kritisiert Bal zurecht; vgl. Bal, Narratology, 18–29. Eine Erzählung durch eine Erzählinstanz ist in der Regel stets auf ein Erzählen in der ersten Person zurückzuführen, die einmal in der dritten Person über andere erzählt und dabei selbst als Person nicht sichtbar im Text auftritt, die im anderen Fall von sich selbst erzählt und dabei – im Text erkennbar durch Pronomen der ersten Person – in der Erzählung als Charakter auftritt und sichtbar wird. Von daher unterscheidet Bal bei den Erzählstimmen zunächst, ob sie charaktergebunden sind oder nicht. Bei den nichtcharaktergebundenen Erzählstimmen lässt sich noch fragen, ob diese im Text sichtbar werden (vgl. Joh 1,14; 19,35; 21,24) oder unsichtbar bleiben. Gemäß Bals Kritik an der klassischen Unterscheidung zwischen allwissendem Erzähler und Ich-Erzähler werde dabei nicht deutlich, dass im Einzelfall der jeweilige Wissensgrad sehr unterschiedlich sein kann, wenn z. B. ein allwissender Erzähler zwar aus der Vogelperspektive erzählt, jedoch die Figuren stets nur von außen beschrieben werden, während etwa der Erzähler des Johannesevangeliums weiß, was die Figuren denken und fühlen. Vgl. auch Schmid, Elemente, 81 f. 166  Vgl. Bal, Narratology, 28. 167  Vgl. dazu auch Lahn/Meister, Einführung, 79 f.

2.2. Methodische Zugänge

117

zählebene und einer zweiten oder dritten usw. Erzählebene unterschieden, je nachdem, wer spricht. Die erzählerische Gestaltung des Wechsels der Erzählebenen ist wichtig für die Bewertung der Reden auf der zweiten Erzählebene, da eine Erzählfigur als glaubwürdiger oder unglaubwürdiger, als verständiger oder unverständiger Charakter gezeichnet werden kann und dies unmittelbar die Beurteilung der Zuverlässigkeit einer Aussage durch die Lesenden beeinflusst.168 Die Unterscheidung von Erzählebenen und Erzählerrollen ist wichtig, um die Vielfalt der Positionen und damit die ideologische Gestaltung der Erzählung zu analysieren. 2.2.3.2. Wahrnehmungsperspektiven und Bewertungen Die Perspektive, aus der eine Geschichte dargestellt wird, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Rezeption durch die Lesenden.169 Diese Perspektivierung einer story durch die Auswahl einer spezifischen Darstellungsperspektive nennt Mieke Bal im Anschluss an Gérard Genette, ‚focalization‘ (Fokalisierung oder Fokussierung).170 Grundlage für diese Differenzierung ist die einfache, aber weitreichende Feststellung, dass eine Person erzählen kann, was eine zweite Person sieht, und dass sich die erste Person dabei der Sichtweise der zweiten Person ganz, teilweise oder auch gar nicht anschließen kann.171 Genette unterscheidet in der Narratologie als erster zwischen Erzählinstanz und Erzählperspektive und trennt damit, was bis dahin unter dem Aspekt des point of view verhandelt wird. Da eine Person erzählen kann, was eine andere Person wahrgenommen hat, ist es sinnvoll zu unterscheiden, wer spricht und wer sieht. In seinen späteren Arbeiten versteht Genette unter Fokalisierung eine Art Wahrnehmungszentrum oder „Informationsschleuse“, durch welche die Informationen ausgewählt und dargestellt werden.172 Er sieht in der Wahrnehmungsperspektive eine Vorentscheidung des Autors für den ganzen Text, unabhängig davon, ob es in einzelnen Textabschnitten zu Abweichungen in der grundsätzlichen Wahrnehmungsperspektive kommt, so dass er drei Varianten annimmt:173

168  Vgl. die Ausführungen zur Interferenz von Erzähler- und Figurenrede bei Schmid, Elemente, 163–204, der insbesondere Perzeption, Ideologie, Raum, Zeit und Sprache als die zentralen Aspekte der Fokalisierung bzw. Perspektive berücksichtigt, a. a. O. 167. Vgl. auch den Überblick zur direkten, indirekten und erlebten Rede, a. a. O. 175. Schmid arbeitet hier u. a. im Anschluss an Bachtin noch differenzierter als Mieke Bal die „Zweistimmigkeit“ und Mehrdeutigkeit von erlebter Rede heraus; a. a. O. 203 f. 169  Vgl. die Darstellung zentraler Positionen zur Erzählperspektive bei Schmid, Elemente, 107–120. 170  Vgl. Genette, Erzählung, 241–244. Der Ausdruck kommt aus der Fotografie und bezeichnet die nötigen Einstellungen, um einen Bildausschnitt mit spezifischen Aspekten zu fotografieren; vgl. Lahn/Meister, Einführung, 115–121. 171  Vgl. Bal, Narratology, 146. 172  Vgl. Genette, Erzählung, 242. 173 Hier findet sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Bal und Genette; vgl. Genette, Erzählung, 241–244.

118

Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

1) Die Null-Fokalisierung ist dadurch charakterisiert, dass der Erzähler außerhalb der Textwelt steht und unabhängig von Zeit und Ort alle Informationen ‚unfokalisiert‘, d. h. ohne Einschränkung seines Blickfeldes, weitergibt.174 2) Eine interne Fokalisierung liegt vor, wenn die Geschichte aus der Perspektive einer Erzählfigur dargestellt und nur erzählt wird, was diese weiß und erlebt.175 3) Bei einer externen Fokalisierung befindet sich das Wahrnehmungszentrum zwar innerhalb der Textwelt, jedoch außerhalb der Erzählfiguren, so dass diese nur von außerhalb beschrieben werden.176 Dabei kann man sich den Erzähler als einen anonymen Zeugen in der Geschichte vorstellen, der irgendwann auch sichtbar werden kann.

Mieke Bal führt das Modell von Gérard Genette weiter und spricht von zwei Erzählinstanzen177: dem Erzähler, der spricht, und dem Fokalisator, der wahrnimmt und bewertet.178 Beide fallen häufig, aber nicht immer, in einer Person zusammen, sie haben aber unterschiedliche Funktionen für die Erzählung: „Denn der Erzähler, oder die ‚Stimme‘, fungiere primär ,(erzähl-)technisch; der Fokalisator dagegen verfüge über ein ideologisches Potential, das es ihm erlaubt, in die Rede des Erzählers einzutreten und dort ‚eine eigene Position einzunehmen‘.“179 Dieses Potential analysiert Bal unter dem Aspekt der Fokalisierung, um dadurch im Text enthaltene oder auch fehlende Wahrnehmungen und Bewertungen sichtbar machen zu können. Damit verbindet sich ein kultur- und ideologiekritisches Interesse Bals, die zeigen möchte, wie jede Erzählung von Ereignissen, auch wenn sie ‚neutral‘ oder ‚objektiv‘ erscheint, stets mit einer individuellen Sichtweise und damit auch mit einer Bewertung des Erzählgegenstands verbunden ist.180 Der aus dem Bereich der Fotografie entlehnte Begriff wird von Bal konkretisiert. It is derived from photography and film; its technical nature is thus emphasized, even if the term is best abstracted from its specific visual slant. As any ‚vision‘ presented can have a strongly manipulative effect, and is, consequently, very difficult to extract from the emotions, not only from those attributed to the focalizor and the character but also from those of the reader, a technical term will help us keep our attention on the technical side of such a means of manipulation.181

174  Genette, Erzählung, 242; dies entspricht der sogenannten allwissenden oder auch auktorialen Erzählweise. Genette muss jedoch zugestehen, dass die Null-Fokalisierung in der Regel nicht konsequent durchgehalten wird, so dass er auch von „variabler und zuweilen NullFokalisierung“ spricht; ebd. Zur Kritik vgl. Schmid, Elemente, 127 f. 175 Genette, Erzählung, 242. 176  Genette, Erzählung, 242. 177  Der Erzähler ist nicht mit einer Person zu verwechseln, selbst wenn er personale Züge erkennen lässt und von den Lesenden als Subjekt wahrgenommen wird, sondern als eine Instanz, die ein Autor oder eine Autorin geschaffen hat, um die Erzählung zu vermitteln; vgl. Schmid, Elemente, 72 f. 178 Bal, Narratology, 145–163. 179  Fechner-Smarsly/Neef, Kulturanalyse, 340. 180  Vgl. Bal, Narratology, 145. 181 Bal, Narratology, 147.

2.2. Methodische Zugänge

119

Fokalisierung findet auf allen Erzählebenen statt und wechselt in der Regel im Verlauf der Erzählung. Bal differenziert bei der Analyse zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Fokalisierung182: Das Subjekt der Fokalisierung kann der Erzähler183 oder auch ein (weiterer) Charakter sein. Mit Blick auf das Objekt der Fokalisierung kann unterschieden werden, ob es sichtbar (zum Beispiel ein Gesichtsausdruck) oder unsichtbar (zum Beispiel Gefühle oder Gedanken) ist.184 Während die Jünger in Joh 2,17 angesichts der Austreibung der Händler aus dem Tempel ein Psalmwort assoziieren und dadurch als charaktergebundene Fokalisationsinstanzen die Handlung Jesu deuten, nimmt der Erzähler als Fokalisationsinstanz aus einer zukünftig-rückblickenden Perspektive wahr, dass die Jünger erst nach Ostern glaubend auf dieses Ereignis reagieren (Joh 2,22). Der Erzähler sieht mehr als das in diesem Moment erzählte Geschehen, da er von einer mit Blick auf die erzählten Ereignisse zeitlich späteren Perspektive aus bewertet, was gerade passiert. Der Erzähler des Johannesevangeliums hat gegenüber den Charakteren nicht nur den Vorteil einer vom Ausgang des Evangeliums aus rückblickenden Perspektive, sondern er kennt auch die Gedanken Jesu und kann diese sachgerecht interpretieren: Während die Gesprächspartner Jesu bei seinen Aussagen über Abbruch und Wiederaufbau des Tempels an das vor ihnen stehende Gebäude denken, kennt der Erzähler die metaphorische Bedeutung seiner Worte und erläutert, dass Jesus vom Tempel seines Leibes spricht (Joh 2,19–21). Der Erzähler weiß also, was die Figuren sehen und denken und gibt diese Informationen an die Lesenden weiter. Darin fungiert er als primäre Fokalisationsinstanz, als zentrales Wahrnehmungs- und Bewertungszentrum.

Die Analysekategorie der Fokalisierung nach Mieke Bal ermöglicht zu untersuchen, welche Sichtweisen bzw. Bewertungen ein Text transportiert und wie diese Perspektiven einander zugeordnet werden.185 2.2.3.3. Die zeitliche Strukturierung der Erzählung Durch die spezifische Anordnung und Gestaltung der Elemente der fabula entsteht die erzählte Welt, in der die Ereignisse in einer bestimmten zeitlichen Abfolge dargestellt werden. Durch die spezifische Charakterisierung der Handlungsträger und die Beschreibung der Orte finden Charaktere und Handlungsschauplätze ihren Platz in der erzählten Welt.

 Vgl. Bal, Introduction, 133–141. die Wahrnehmungsperspektive mit der Erzählstimme der ersten Erzählebene zusammenfällt, erscheint uns die Erzählung objektiver, als wenn die Bewertungen durch Charaktere transportiert und darin auch stärker gefärbt werden; vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 83. Dies lässt sich an Joh 12,1–10 gut nachvollziehen, da die Salbung Marias sowohl von Judas (12,4) als auch von Jesus (12,7 f.) gedeutet wird und die Deutung durch Judas von der Erzählstimme kritisch beleuchtet wird (12,5). 184  Ein ‚allwissender Erzähler‘ zeichnet sich in der Terminologie Bals dadurch aus, dass er auch unsichtbare Objekte wahrnehmen kann. Im Johannesevangelium verfügt Jesus als Erzählfigur narratologisch über die Funktion, unsichtbare Objekte wahrzunehmen und zu bewerten. 185  Hier gibt es Konvergenzen zwischen der Narratologie und dem Dialogizitätsmodell von Bachtin; vgl. Abschnitt 2.2.1. 182

183 Wenn

120

Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

Die Zeitstruktur von Erzählungen, die sogenannte ‚erzählte Zeit‘, wurde ausführlich von Gérard Genette untersucht, wobei er die Reihenfolge der erzählten Ereignisse unter dem Begriff ‚Ordnung‘, die Erzählzeit unter dem Begriff ‚Dauer‘ und die Häufigkeit der Ereignisse mit Blick auf Vorkommen und Erzählhäufigkeit unter dem Begriff ‚Frequenz‘ untersucht.186 Mieke Bal schließt sich den Kategorien ihres Lehrers weitgehend an.187 Die Ordnung der erzählten Ereignisse (Motive) in der story188 entspricht in der Regel nicht der Abfolge der Ereignisse in der fabula. Die Verwendung von Vorausdarstellungen (Prolepsen) und Rückblenden (Analepsen) verschränken Zukunft und Vergangenheit der erzählten Welt.189 Je nachdem, ob die erzählten Ereignisse dieser Prolepsen und Analepsen innerhalb der erzählten Geschichte liegen oder außerhalb, spricht man von internen oder externen Prolepsen oder Analepsen; beginnen die Ereignisse einer Analepse vor der erzählten Geschichte und reichen in diese hinein, spricht Bal von einer gemischten Analepse. Mit Blick auf die Dauer der erzählten Zeit im Vergleich zur Erzählzeit190 lassen sich grundlegend Szenen, bei denen die erzählte Zeit in etwa der Erzählzeit entspricht, von Summarien unterscheiden, welche längere Zeiträume der erzählten Zeit knapp und summarisch wiedergeben. Von Ellipsen spricht man, wenn bestimmte Zeitphasen der erzählten Zeit ausgelassen werden. Pausen entstehen zum Beispiel, wenn die Erzählung der Ereignisse durch Deskriptionen unterbrochen wird. Bei der Erzählhäufigkeit191 wird das wiederholte Erzählen eines einmaligen Ereignisses der erzählten Welt als Repetition bezeichnet, dem dadurch in der Regel eine hohe Bedeutung beigemessen wird, da es oft aus unterschiedlichen Perspektiven oder mit variierenden Informationen erzählt wird. Unter Iteration versteht man die einmalige Erzählung eines wiederholt stattfindenden Ereignisses. In der Regel findet sich jedoch die einmalige Erzählung von einmaligen Handlungen (Singularität).192

 Vgl. Genette, Erzählung, 21–59. 61–80. 81–114. analysiert die Zeitstruktur unter den Überschriften „sequential ordering“ (Bal, Introduction, 67–88), „rhythm“ (a. a. O. 88–100) und „frequency“ (a. a. O. 100–104); vgl. auch die Übersicht bei Herman/Vervaeck, Handbook, 65. 188 Vgl. dazu Bal, Introduction, 67–88. 189  Vgl. Bal, Introduction, 76–79. 190  Vgl. dazu Bal, Introduction, 89–100; vgl. „the sliding scale“ von Herman und Verbaeck zu den Kategorien von Mieke Bal bei Herman/Vervaeck, Handbook, 66. 191 Vgl. dazu Bal, Indroduction, 100–104. 192  Bal bezeichnet dies als „singular presentation“ und unterscheidet: „singular: one event, one presentation“, „plurisingular: various events, various presentations“, „varisingular: various events, various presentations, unequal in number“; vgl. Bal, Introduction, 102. 186

187 Bal

2.2. Methodische Zugänge

121

2.2.3.4. Erzählfiguren und ihre Charakterisierung Bei der narratologischen Darstellung der Handlungsfiguren ist zwischen einer direkten und einer indirekten Charakterisierung zu unterscheiden. Als direkte Charakterisierung gilt, wenn die primäre Erzählstimme einer Erzählfigur bestimmte Eigenschaften zuschreibt.193 Dies gilt zum Beispiel für die Beschreibung Jesu in Joh 11,33. In den neutestamentlichen Texten finden sich mehr indirekte als direkte Charakterisierungen, bei denen eine Figur durch ihr Handeln oder Reden, durch ihre äußere Erscheinung, durch die Umgebung oder durch Analogie zu anderen (Erzähl-)Figuren näher beschrieben wird.194 Auch wenn eine Erzählfigur durch eine andere beschrieben wird, wie etwa in Joh 1,47, wo Nathanael von Jesus als ein „wahrer Israelit ohne Falsch“ charakterisiert wird, zählt dies als indirekte Charakterisierung. Für das Johannesevangelium ist zu bedenken, dass der Erzähler und Jesus als Erzählfigur eine übereinstimmende Wirklichkeitsvorstellung haben, so dass eine indirekte Charakterisierung durch Jesus einer direkten Charakterisierung durch den Erzähler mit Blick auf die Bedeutung für den Fortgang und die Interpretation der Erzählung durchaus entspricht. Bei der Analyse der Charakterisierung von Erzählfiguren geht es nicht darum, ein psychologisches Portrait der jeweiligen Figur zu zeichnen oder gar über deren Beweggründe und Einstellungen zu spekulieren. Die Erzählfiguren werden bei der Analyse in erster Linie als Elemente der Erzählung behandelt, welche bestimmte Vorstellungen vermitteln oder verkörpern und textpragmatisch für den Fortgang der Handlung entscheidend sind.195 Sie sind „Textkonstrukte“, welche „eine für die Gesamterzählung relevante Funktion der Bedeutungsvermittlung“ übernehmen.196 Die Figurenanalyse soll sichtbar machen, was die Lesenden aus dem johanneischen Text über eine Erzählfigur und durch eine Erzählfigur an Informationen erhalten, die für den Fortgang und die Interpretation der johanneischen Erzählung von Bedeutung sind. Gerade im Johannesevangelium ist häufig zu beobachten, dass Figuren nicht um ihrer selbst willen auftreten, sondern um Diskussionen und Handlungsabläufe voranzubringen. Nimmt man etwa die zahlreichen johanneischen Missverständnisse als Stilmittel wahr, mit denen die Lesenden zum Nachdenken bewegt und zu einem tieferen Verständnis der dargestellten Sachverhalte geführt werden sollen, erscheint es zum Beispiel wenig sinnvoll, danach zu fragen, ob die missverstehenden Erzählfiguren besonders dumm seien.

193 Rimmon-Kenan,

Fiction, 60 f.  Rimmon-Kenan, Fiction, 61–71; s. auch Herman/Vervaeck, Handbook, 73–76. 195  Vgl. Meister/Lahn, Einführung, 237. 196 Meister/Lahn, Einführung, 232.

194

122

Kapitel 2: Zur Vorgehensweise

2.2.3.5. Handlungsschauplätze Während im Alltag Räume visuell ‚auf einen Blick‘ wahrgenommen werden, sind wir in Erzählungen auf die sprachliche Beschreibung von Orten angewiesen, welche häufig in Verbindung mit der Fortbewegung oder Handlung der Charaktere erzählerisch präsentiert werden.197 Die konkrete Raumbeschreibung ist oft mit einer sinnlichen Wahrnehmung einer Erzählfigur verbunden und somit perspektivisch.198 Die Frage, wer einen Raum in der Erzählung wahrnimmt bzw. aus welcher Perspektive dieser beschrieben wird, ist für die Analyse zentral.199 Der durch die Erzählung gezeigte Handlungsschauplatz ist dabei „immer schon irgendwie ‚semantisiert‘, d. h. bedeutungshaft. Daher münden Untersuchungen des Raumes in einem fiktionalen Text auch schnell in die Werkinterpretation: Der Raum steht gemeinhin in engem Zusammenhang und Wechselspiel mit den Aspekten der Figur und den Regeln und Gesetzmäßigkeiten des Werkes.“200 Gerade deshalb ist es sinnvoll, zunächst die Raumbeschreibung des Werkes zu analysieren, bevor man nach der Bedeutung der mehr oder weniger ausgeführten Orte fragt. Insbesondere im Johannesevangelium, wo abrupte und vom Handlungsablauf unlogisch erscheinende Ortswechsel an der Tagesordnung sind, verspricht die sorgfältige Analyse und die Frage nach der hintergründigen Bedeutung der Orte für die Gesamtstruktur des Evangeliums weiterführende Erkenntnisse. Die Tragweite dieser Fragestellung sprengt jedoch den Rahmen der vorliegenden Studie.

2.3. Zur Vorgehensweise und Textauswahl Das Johannesevangelium wird in der vorliegenden Studie als eine einheitliche201, Joh 1–21 umfassende Erzählung betrachtet. Eine narratologische Analyse zielt auf die Wahrnehmung und Untersuchung des ganzen Textes. Dies kann und soll in der vorliegenden Studie mit ihrem Fokus auf den Bedeutungsmöglichkeiten der Fußwaschungserzählung nicht geleistet werden, jedoch werden narratologische Studien zum gesamten Johannesevangelium bei der Analyse, der für die vorliegende Fragestellung relevanten Textstellen in besonderer Weise berück197  Vgl. Meister/Lahn, Einführung, 247; auch Bal, Introduction, 124–132. Eben deshalb spielt die Beschreibung der Umgebung eine wesentliche Rolle für die Charakterisierung von Figuren; vgl. Rimmon-Kenan, Fiction, 66 f. 198  Damit hängt die Analyse der Gestaltung von Handlungsschauplätzen eng mit der Frage nach der Fokalisierung in einer Erzählung zusammen; vgl. Bal, Narratology, 144 f. 199 Vgl. Bal, Introduction, 130 f. 200  Meister/Lahn, Einführung, 248. 201  Ohne textkritisch als sekundär begründbare Abschnitte wie v. a. Joh 8,1–11; vgl. Abschnitt 2.1.

2.3. Zur Vorgehensweise und Textauswahl

123

sichtigt.202 Um die Fußwaschungserzählung sinnvoll narratologisch analysieren zu können, ist es jedoch wichtig, den engeren Kontext eingehend zu untersuchen. Deshalb werden die mit Blick auf Joh 13 relevanten Beobachtungen aus einer narratologischen Analyse der Kapitel Joh 11–17 besonders berücksichtigt. Auf die übermäßige Verwendung von narratologischen Fachbegriffen wird verzichtet, um eine leichte Lesbarkeit zu ermöglichen. Insbesondere in den Kapiteln 13–17 ist der Wechsel von erzählenden und dialogischen Abschnitten methodisch zu berücksichtigen. Damit wird der Beobachtung Rechnung getragen, dass mit Beginn von Joh 11 konkrete Liebesbeziehungen, in Joh 11 f. am Beispiel der bethanischen Geschwister, zwischen Jesus und seinen Freundinnen und Freunden erzählt werden. Zudem ist die Salbungserzählung in Joh 12,1–8 erzähltechnisch eng mit Joh 13,1–20 verbunden. In Joh 13–17 geht es zunehmend um die Frage, wie die Liebesgemeinschaft zwischen Jesus und den Seinen mit Blick auf die Gemeinschaft zwischen Jesus und Gott und mit Blick auf die Zeit nach Jesu Abschied zu verstehen und zu leben ist. Von daher bilden die Kapitel Joh 11–17 einen engen thematischen Zusammenhang, in deren Mitte sich die Fußwaschungserzählung findet. Die Abschnitte Joh 12,1–8; Joh 13,1–20 sowie Joh 15,1–17, welche durch die erzählerische Gestaltung intratextuell eng miteinander verbunden sind, werden detailliert analysiert. Im Anschluss an die intratextuelle Analyse der Texte wird auch jeweils intertextuell gefragt, welche Bedeutungsdimensionen ein Vergleich mit exemplarisch ausgewählten, relevanten synoptischen bzw. biblischen Texten für das Verständnis der johanneischen Texte austrägt. Die Ergebnisse dieser Analyseschritte werden mit Blick auf die Bedeutungsmöglichkeiten der Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium gebündelt. Bevor jedoch konkret an johanneischen Texten gearbeitet werden kann, gilt es noch zu klären, welche Bedeutungsaspekte in der Antike mit einer Fußwaschung verbunden werden konnten. Dabei geht es nicht um eine quantitative Analyse aller Belegstellen, sondern vor allem um die qualitative Frage nach der Vielfalt der möglichen Bedeutungszuschreibungen. Welche dieser möglichen Bedeutungszuschreibungen in Joh 13 aktualisiert wird, kann erst die sorgfältige narratologische Analyse von Joh 11–17 zeigen.

202  Vgl. dazu die narratologisch arbeitenden Kommentare und Studien zu Johannes; v. a. Culpepper, Anatomy; Stibbe, John; Moloney, Gospel; Busse, Johannesevangelium; Kierspel, Jews. Eine detaillierte narratologische Analyse von Joh 13–17 nach dem Ansatz von Genette, Bal und Rimmon-Kenan bietet Tolmie, Farewell 63–180, allerdings kommt die Interpretation im Gegenüber zu den ausführlichen narratologischen Analysen deutlich zu kurz.

Kapitel 3

Fußwaschung in der Antike Füße, Hände und Kopf waren die bei dem warmen Klima des Mittelmeerraumes ganz oder weitgehend unbedeckten Körperteile, die immer wieder dem Staub ausgesetzt waren und deshalb häufig gereinigt werden mussten. Die Fußwaschung war folglich im Alten Orient ein alltäglicher Vorgang und wurde in erster Linie auch als ein selbstverständlicher Akt der Hygiene verstanden. Eine sorgfältige Lektüre ausgewählter Belege zur Fußwaschung in antiken Texten zeigt, dass je nach literarischem und situativem Kontext unterschiedliche Bedeutungsaspekte zum Tragen kommen: Eine Fußwaschung dient grundlegend der körperlichen Reinigung, mit ihr werden aber auch ein gewisser Komfort, die Berührung, die Vorbereitung auf eine Mahlzeit oder den Schlaf, ggf. auch auf sexuelle Intimität verbunden und sie kann als Ausdruck von Ehrerbietung, Liebe oder intimer Nähe, von kultisch oder ethisch konnotierter Reinheit verstanden werden. Die Durchsicht relevanter Texte legt nahe, dass die Fußwaschung dabei nicht primär als typischer Sklavendienst angesehen wurde, auch wenn sie in bestimmten Kontexten üblicherweise von Sklavinnen und Sklaven ausgeübt wurde. Die unterschiedlichen Bedeutungsaspekte lassen sich in Belegen aus verschiedenen Jahrhunderten und Regionen finden, ohne dass eine gravierende Veränderung des möglichen Bedeutungsspektrums festgestellt werden kann.1 Auf der Grundlage der kulturübergreifend relativ gleichbleibenden Bedeutungsaspekte von Fußwaschungen in literarischen Texten wird bei der Darstellung der untersuchten Beispieltexte keine chronologische oder regionale, sondern ausschließlich eine thematische Zuordnung gewählt, um dadurch eine bessere Vergleichbarkeit im Hinblick auf die jeweils aktualisierten Bedeutungsaspekte bei der Bezugnahme auf eine Fußwaschung in den Texten zu ermöglichen. Im Folgenden sollen ausgewählte Beispiele zur Fußwaschung dargestellt und in ihrem literarischen Kontext analysiert werden. Dabei soll gezeigt werden, welche unterschiedlichen Bedeutungsaspekte dieser Handlung erkennbar werden bzw. wie die Texte oft sogar mit unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten spielen. Bereits Bernhard Kötting stellte in seinem ausführlichen RAC-Artikel fest: „Eine Handlung, fast so häufig wie Essen u. Trinken, kann also leicht einen vielfältigen Symbolgehalt erhalten u. dann wiederum als Träger solchen Gehaltes

1 Vgl.

den regional und chronologisch geordneten Überblick von Kötting, Fußwaschung.

126

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

in vielfacher Weise zur Verdeutlichung religiöser u. sozialer Ordnungen benutzt werden.“2 Die folgende Untersuchung zielt nicht auf eine möglichst vollständige Darstellung der relevanten Belege, sondern auf eine detaillierte Analyse ausgewählter Texte, welche die Bedeutungsvielfalt der Fußwaschung in der Antike sichtbar machen kann. Die thematische Zuordnung einzelner Quellentexte zu bestimmten Bedeutungsschwerpunkten dient in erster Linie der Gliederung der Darstellung, soll aber nicht den falschen Eindruck erwecken, als ob die Texte stets eine singuläre und eindeutige Bedeutungsbestimmung der Fußwaschung zulassen würden. Die Reihenfolge der dargestellten Textbeispiele folgt weder einer chronologischen noch einer geographischen Ordnung, sondern geschieht primär nach inhaltlichen Gesichtspunkten. Texte, in denen bestimmte Bedeutungsaspekte deutlicher zum Vorschein kommen, werden beim jeweiligen Gliederungspunkt an den Anfang gestellt, um einen Bedeutungsschwerpunkt anschaulich werden zu lassen. Im Anschluss daran folgen gegebenenfalls Textbeispiele, die mit dem jeweiligen Aspekt spielen, der jedoch zum Teil nur bei einer sorgfältigen und kontextsensiblen Interpretation erkennbar wird und sich gerade nicht auf den ersten Blick erschließt.3 Bei der Auswahl der Belege wurden vor allem auch diejenigen Texte berücksichtigt, die in der Sekundärliteratur immer wieder als typische Belege für einen bestimmten Bedeutungsaspekt angeführt werden. Eine auf dem heutigen Stand der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung durchgeführte Analyse der literarischen Darstellungen von Fußwaschungen und ihrer möglichen Bedeutungszuschreibungen in der Antike würde den Umfang der vorliegenden Studie sprengen und kann hier nicht geleistet werden, ist jedoch als bleibendes Forschungsdesiderat festzuhalten. Nach wie vor ist der RAC-Artikel von Bernhard Kötting aus dem Jahr 1972 die detaillierteste Darstellung zum Thema.4 Neuere Lexikonartikel zur Fußwaschung erreichen weder die Breite von Köttings Quellenbasis noch dessen differenzierte Interpretation des Materials unter Berücksichtigung der ver2 Kötting,

Fußwaschung, 743.  Die Interdependenz von Interpretation und gliedernder Anordnung der Beispieltexte lässt sich bei allen Veröffentlichungen zur Fußwaschung studieren, selbst wenn eine geographische und/oder chronologische Reihenfolge im Rahmen der gewählten Bedeutungsaspekte gewählt wird. 4 Kötting, Fußwaschung, 743–759; vgl. auch Hauck, νίπτω 945–947; Mathew, Footwashing, 74–122; Fuhrmann/Uhlenbruch, Footwashing, 390–403; Oepke, λούω, 297–309; Rouwhorst, Salbung, 340–370; Thomas, Footwashing, 26–58; Weiss, πούς, 624–632; Knight geht in seinem ausführlichen Artikel zur Fußwaschung vor allem auf die Kontexte der rituellen Fußwaschung, der Gastfreundschaft und der Fußwaschung im Zusammenhang einer Hochzeit ein. Außerdem behandelt er ausführlich die Fußwaschung in christlichen Gemeinschaften; vgl. Knight, Feet-Washing, 814–823; zur Gastfreundschaft grundlegend Hiltbrunner/Gorce/ Wehr, Gastfreundschaft, 1061–1123; Hiltbrunner, Gastfreundschaft in der Antike. 3

3.1. Fußwaschung als Körperpflege mit Wellness-Aspekten

127

schiedenen kulturellen und situativen Kontexte, was dazu führt, dass der mögliche Umfang des Bedeutungsspektrums von Fußwaschungen in der Antike in der aktuellen Sekundärliteratur oft nicht einmal mehr sichtbar wird.5 Artikel, aber auch Monographien zur Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium diskutieren oft nur schwerpunktmäßig diejenigen Texte, welche mit ihrer Interpretation von Joh 13 übereinstimmen, bzw. setzen voraus, dass es sich bei der Fußwaschung um eine Dienstleistung handelt, die der Reinigung dient.6 Damit geraten in der Antike verbreitete und für die johanneische Fußwaschungserzählung relevante Konnotationen einer Fußwaschung in Vergessenheit, so dass die Interpretationen der im Neuen Testament erzählten oder erwähnten Fußwaschungen bzw. Fußsalbungen häufig nur auf der Grundlage einer begrenzten Quellenbasis und eines eng umrissenen Fußwaschungsverständnisses durchgeführt werden.

3.1. Fußwaschung als Körperpflege mit Wellness-Aspekten Die Fußwaschung gehörte in den antiken Kulturen des Mittelmeerraums, in der Menschen vor allem Sandalen trugen, zur täglichen Körperhygiene.7 Der Satiriker Juvenal (ca. 55 n. Chr. – nach 130 n. Chr.) hält fest, dass ein nächtlicher Spaziergänger in Rom dankbar sein könne, wenn ihm unterwegs in den nächtlichen Straßen lediglich das Fußwaschwasser, nicht aber andere Gegenstände aus den Fenstern auf den Kopf fallen würden (Juvenal, Sat. 3,268–277).8 Richte den Blick jetzt auf weitere unterschiedliche Gefahren in der Nacht: welche Höhe die aufragenden Häuser haben, von denen aus eine Scherbe das Hirn trifft, wie oft lecke und zerbrochene Gefäße aus den Fenstern fallen, mit welcher Wucht sie auf das Pflaster schlagen, es zeichnen und beschädigen. Als nachlässig kannst du gelten und nicht auf einen plötzlichen Schicksalsschlag gefaßt, wenn du testamentlos zum Abendessen gehst: denn wirklich drohen soviele Tode, wieviel in jener Nacht Fenster wachend offenstehen, wenn du vorübergehst. Folglich solltest du darum beten und den kläglichen Wunsch bei

5  Vgl. die, auch wegen der vorgegebenen Publikationsrichtlinien, kürzeren neueren Artikel von Fuhrmann/Uhlenbruch, Footwashing, 390–392; Coloe, Footwashing, 392–394; Wetz, Fußwaschung. 6   So z. B. Niemand, Fußwaschungserzählung, 179–187; Dunn, Washing, 248–250; Hofius, Erzählung, 157; Hultgren, Footwashing, 541–542; Weiss, Foot, 302–305; eine ausführlichere Darstellung findet sich jedoch bei Mathew, Footwashing, 74–122; Thomas, Footwashing, 26–58. 7 Vgl. zur Körperpflege in der Antike Hurschmann, Körperpflege, 627–629; Yegül, Baths. Zur Verbreitung und Ausgestaltung privater und öffentlicher Bäder in der Antike vgl. Nielsen, Bäder, 397–400; Nielsen, Thermen, 414–427. 8 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 750; vgl. Thomas, Footwashing, 45.

128

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

dir hegen, daß sie sich damit begnügen, geräumige Wannen von oben zu entleeren (patulas defundere pelves). (Juvenal, Sat. 3,268–277)9

In seiner Apologie verteidigt sich der aus Nordafrika stammende und nach seinen Studien in Rom und Karthago wieder in die Heimat zurückgekehrte Schriftsteller, Redner und mittelplatonische Philosoph Apuleius (ca. 125 n. Chr. – ca. 170 n. Chr.)10 unter anderem für seine sorgfältige Pflege der Zähne (Kap. 6–8). Die Ausführung findet sich im ersten Hauptteil seiner Rede, in der Apuleius das von ihm gezeichnete falsche Bild der Ankläger relativiert, indem „sein Aussehen (4), seine überragende Beredsamkeit und die Art seiner Gedichte (5–13), der Besitz eines Spiegels (13–16), seine ärmlichen Vermögensverhältnisse (17–23) und seine Herkunft (24)“ diskutiert werden und Apuleius sich als einen „rhetorisch versierten, poetisierenden und wissenschaftlich interessierten Philosophen“ darstellt.11 Apuleius hatte offensichtlich ein Gedicht über Zahnpflege verfasst, das von seinen Kritikern gegen ihn verwendet wurde (6,1). Deshalb sieht sich Apuleius genötigt, die Mundhygiene als Ausweis von Bildung und Anstand zu verteidigen (Apuleius, Apologia 6–8). 7 (2) […] Ist es doch keine verächtliche Beschuldigung gegen einen Philosophen, dass er nichts Unreines in sich hinein lasse, und nirgendwo eine offene Stelle seines Körpers Schmutziges und Stinkendes erdulde, (3) vor allem aber nicht der Mund, der vom Menschen überaus häufig offen und sichtbar gebraucht wird, sei es dass jener nun einem den Begrüßungskuss gibt, dass er mit jemandem plaudert, im Hörsaal disputiert oder im Tempel Gebete überantwortet. […] (6) Ich nun erlaube mir, entsprechend meiner Fassenskraft, zu sagen, dass einem freien und ansehnlichen Manne nichts weniger ansteht als Unreinheit des Mundes. (7) Denn dieser Teil des Menschen ist in der Stellung hoch, zum Anschauen bereit, beim Gebrauch sprechgewandt: Bei wilden Tieren freilich und beim Vieh wird der Mund, niedrig und hinab zu den Füßen gerichtet, den Spuren und dem Futter am nächsten, fast nie sichtbar, außer wenn sie tot oder zum Zubeißen gereizt sind. Vom Menschen hingegen wird man keinen Körperteil eher erblicken, wenn er schweigt, keinen öfter, wenn er spricht. 8 (1) Ich hätte nun gerne, dass mein Sittenrichter Aemilianus mir beantwortet, ob er selbst jemals seine Füße zu waschen pflegt (uelim igitur censor meus Aemilianus respondeat, unquamne ipse soleat pedes lauare). Oder, sollte er das nicht abstreiten, dann möge er bitte die Ansicht vertreten, dass den Füßen größerer Sorgfalt bei der Sauberkeit als den Zähnen zuzumessen sei. (2) Wenn nun freilich einer so wie du, Aemilianus, seinen Mund fast immer nur zu Schmähungen und Bezichtigungen öffnet, dann bin ich dafür, dass jener nicht mit der geringsten Sorgfalt seinen Mund pflege. (Apuleius, Apologia 7,2–8,2)12

Apuleius argumentiert, dass die regelmäßige Mundhygiene nicht weniger wichtig als die der Füße sei, denen ein gebildeter Mensch ebenfalls die nötige Pflege zukommen lasse. Die Selbstverständlichkeit der Fußpflege wird von Apuleius  9 Übersetzt

nach Adamietz, Juvenal, 57–59.  Vgl. Hijmans, Apuleius, 74–76, vgl. auch Hammerstaedt, Apuleius, 11–18. 11  Schenk, Einleitung, 25. 12 Übersetzt nach Hammerstaedt, Magie, 68–71. 10

3.1. Fußwaschung als Körperpflege mit Wellness-Aspekten

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vorausgesetzt, um mit diesem offensichtlich allgemein anerkannten Bereich der Körperpflege die eher ungewöhnliche Reinigung der Zähne zu vergleichen und zu begründen. Der Neuplatoniker Jamblich (ca. 240–245 n. Chr. – ca. 325 n. Chr.) stellt in seinem Hauptwerk De vita Pythagorica die pythagoreische Philosophie vor und gewährt durch seine kommentierenden Schriften zumindest in begrenztem Umfang auch einen Einblick in die Vorstellungen des 6. und 5. Jahrhunderts v. Chr.13 Es ist in der Forschung umstritten, wieviel wir von Jamblich über die Zeit des Pythagoras erfahren oder „wie weit seine Abhandlung De vita Pythagorica das Leben in seiner eigenen Schule widerspiegelt“, die vermutlich mit anderen platonisch ausgerichteten Philosophenschulen seiner Zeit vergleichbar ist.14 Das von Dillon als „Kompendium der pythagoreischen Lehre“ bezeichnete Hauptwerk Jamblichs umfasste ursprünglich zehn einzelne Schriften, von denen nur vier vollständig erhalten sind, zu denen der Protreptikos gehört, „ein Werk, das auf dem verlorenen Protreptikos des Aristoteles basiert“.15 Jamblich erwähnt im Protreptikos den in Übereinstimmung mit ihrer Vorstellung von einem harmonisch strukturierten Kosmos stehenden Umgang der Pythagoreer mit den Füßen: Während der linke Fuß – links steht für das Schlechte – beim Waschen zuerst an der Reihe ist, soll der rechte Fuß als erster in die Sandale gestellt werden. Diese Regel wird von Jamblich moralisch interpretiert. Der Satz ‚Zum Schuhanziehen stelle zuerst den rechten Fuß vor, zum Fußwaschen den linken!‘, mahnt zur praktischen Vernunft, indem er uns anhält, die tüchtigen Taten als die rechten uns anzueignen, die schlechten als linkisch völlig abzulegen und abzuwaschen. (Jamblich, Protreptikos 21)16

Die Verbindung der Fußwaschung mit einer metaphorisch interpretierten Rechts-Links-Symbolik legt nahe, dass das Waschen der Füße grundsätzlich eine vertraute und gewohnte Handlung war, die entsprechend metaphorisch gedeutet werden konnte. Der Satiriker Lukian aus Samosota (ca. 120 n. Chr. – nach 180 n. Chr.) knüpft mit seinem Werk Demonax an die Tradition kynischer Philosophenviten an.17 Er beschreibt in kurzen Anekdoten das Leben des Philosophen Demonax, den er als besonders verehrenswerte Persönlichkeit darstellt (Dem. 2). Angesichts von 13 Vgl. Benz, Jamblich, 349–351; s. auch Dillon, Jamblich, 11–21. Im Pinax, dem Inhaltsverzeichnis der Handschrift Laur. 86, 3 (F) wird die Schrift unter dem Titel „Προτρεπτικὸς ἐπὶ φιλοσοφίαν“ (Ermahnung zur Philosophie) angegeben; vgl. Dillon, Jamblich, 28. 14 Vgl. Lurje, Einführung, 25 f., Dillon, Jamblich, 17. 15  Dillon, Jamblich, 20. 16  Iamblich, Protreptikos 21: Τὸ δὲ εἰς μὲν ὑπόδησιν τὸν δεξιὸν πόδα πάρεχε, εἰς δὲ ποδόνιπτρον

τὸν εὐώνυμον εἰς τὴν πρακτικὴν φρόνησιν παρακαλεῖ, τὰς μὲν σπουδαίας πράξεις ὡς δεξιὰς περιτίθεσθαι παραγγέλλον [τὸ σύμβολον], τὰς δὲ φαύλας ὡς ἀριστερὰς ἀποτίθεσθαι παντάπασι καὶ ἀπορρύπτεσθαι.

Zitiert nach Pistelli, Iamblichi Protrepticus. Übersetzt nach Schönberger, Aufruf, 76. 17 Vgl. Zweimüller, Lukian, 110 f.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Demonax’ Entscheidung, Philosophie zu studieren, weist er darauf hin, dass er sich dies nicht „mit ungewaschenen Füßen“ vorgenommen hat.18 You must not conceive, however, that he rushed into these matters with unwashen feet, (οὐ μὴν ἀνίπτοις γε ποσίν) as the saying goes: he was brought up on the poets and knew most of them by heart, he was a practised speaker, his acquaintance with the schools of philosophy was not secured either in a short time or (to quote the proverb) ‚with the tip of his finger,‘ he had trained his body and hardened it for endurance and in general he had made it his aim to require nothing from anyone else. (Lukian, Demonax 4)19

Im Text wird von Lukian explizit deutlich gemacht, dass es sich bei diesem Ausdruck um eine Art Sprichwort handelt.20 Im weiteren Verlauf informiert Lukian, dass sich Demonax schon in seiner Kindheit und Jugend mit Philosophie in Theorie und Praxis beschäftigt hat. Mit dem Waschen der Füße ist hier der Aspekt der Vorbereitung verbunden, während ungewaschene Füße eine unüberlegte Entscheidung signalisieren. Auch Philo von Alexandrien (ca. 20–10 v. Chr. – 40–50 n. Chr.)21 greift bei seiner Verteidigung Abrahams, der seine Ehefrau Sarah als seine Schwester ausgegeben hat, auf eine vergleichbare Formulierung zurück, wenn er mit Bezug auf Gen 20,2 festhält, dass Abraham dies nicht leichtfertig oder „mit ungewaschenen Füßen“ getan habe (QG 4.60). (Gen. xx. 2) Why does Abraham again say, concerning his wife, ‚She is my sister‘? Always and everywhere it was a kind of counsel of homage, that among strangers he called his wife ‚sister.‘ Wherefore anyone who says that this (was done) through levity of character with unwashed feet (ἀνίπτοις ποσί) and with a changed countenance and with complete practice is deserving of condemnation. For they cannot reflect and bear in mind that no one is so stupid and silly (even) among those who go far in wrongdoing (as to think) that he in whom there is perfection would, as it were, wish to remain in sinful transgression and to celebrate many times those things which when spoken only once bring shame and disgrace. […] (Philo QG 4.60)22

Die Verbindung der Fußwaschung mit metaphorischen Aspekten und auch die Entstehung sprichwörtlicher Formulierungen legen ebenfalls nahe, dass die Fußwaschung als eine alltägliche Handlung angesehen wird, die auch die Konnotation ‚Vorbereitung für etwas‘ beinhaltet.

18 Lukian, Demonax 4: οὐ μὴν ἀνίπτοις γε ποσίν, τὸ τοῦ λόγου, πρὸς ταῦτα ᾖξεν, ἀλλὰ καὶ ποιηταῖς σύντροφος ἐγένετο καὶ τῶν πλείστων ἐμέμνητο καὶ λέγειν ἤσκητο καὶ τὰς ἐν φιλοσοφίᾳ προαιρέσεις οὐκ ἐπ’ ὀλίγον οὐδὲ κατὰ τὴν παροιμίαν ἄκρῳ τῷ δακτύλῳ ἁψάμενος ἠπίστατο, καὶ τὸ σῶμα δὲ ἐγεγύμναστο καὶ πρὸς καρτερίαν διεπεπόνητο, καὶ τὸ ὅλον ἐμεμελήκει αὐτῷ μηδενὸς ἄλλου προσδεᾶ εἶναι·; zitiert nach

Harmon, Lucian I, 144 f. 19  Übersetzt nach Harmon, Lucian I, 144 f. 20 Die Ergänzung τὸ τοῦ λόγου kann im Sinne eines Sprichworts oder einer Regel verstanden werden; vgl. Liddell/Scott, ad verbum λόγος; so richtig Thomas, Footwashing, 44. 21  Vgl. zur Biographie Miletto, Philo. 22 Übersetzt nach Marcus, Philo suppl. I, 340.

3.1. Fußwaschung als Körperpflege mit Wellness-Aspekten

131

Im Hohelied erfahren wir, dass die Geliebte ihrem Verehrer die Türe abends nicht mehr öffnen will, weil sie schon ihre Kleider ausgezogen und ihre Füße gewaschen habe: Ich habe mein Kleid ausgezogen – wie soll ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen – wie soll ich sie wieder schmutzig machen? (Hld 5,3)23

Die beschriebene Situation lässt zunächst einmal auf die alltägliche Vorbereitung auf das Schlafengehen schließen, zu der neben dem Umziehen auch das Waschen der Füße gehört. Dies führt zu der unausgesprochenen Schlussfolgerung, dass sie den Geliebten um diese Zeit nicht mehr empfangen will, auch wenn dieser ihr sicherlich gerne Gesellschaft geleistet hätte. Thomas hält zurecht fest, dass ein wörtliches Verständnis hier angemessen ist und euphemistische Interpretationen der Fußwaschung höchstens eine sekundäre Konnotation aufgrund des situativen bzw. literarischen Kontexts sind.24 Dafür spricht auch, dass der Geliebte nicht aufgibt, sondern versucht, die Frau durch die Türe hindurch zu berühren (Hld 5,4). Sie steht schließlich doch auf, um ihn hereinzulassen, muss jedoch feststellen, dass er bereits weitergegangen ist (Hld 5,5 f.). Im Traktat Shabbat des Babylonischen Talmuds wird die Frage verhandelt, ob man an einem Sabbat Salbe auf die Augen aufbringen darf. In diesem Zusammenhang findet sich zweimal, einmal im Namen von Mar Uqeba und Mar Semuel, das andere Mal im Namen von Rabbi Mona und Rabbi Judah, die Aussage: Besser ist ein Tropfen Wasser am Morgen und ein warmes Hände- und Fußbad am Abend, als jede Augensalbe in der Welt. (bShab 108b)25

Diese Aussage verdeutlicht implizit, dass das abendliche Waschen von Händen und Füßen nicht als Arbeit angesehen wurde, denn sonst wäre es am Sabbat nicht unhinterfragt erlaubt. Außerdem wird explizit darauf hingewiesen, dass das Waschen von Händen und Füßen einen pflegenden, ja sogar heilenden Aspekt für den Körper haben kann. Die selbstverständliche Voraussetzung, dass Handund Fußbäder am Sabbat möglich sind, lässt die oft vorausgesetzte Annahme, Fußwaschung werde in erster Linie als eine niedrige Arbeit oder sogar als der typische Sklavendienst schlechthin verstanden, mehr als fraglich erscheinen.26 Als Fazit lässt sich festhalten, dass das Waschen der eigenen Füße eine Selbstverständlichkeit war, die zur Reinigung und damit zugleich zur Vorbereitung für bestimmte Aktivitäten diente. Die dargestellten Texte legen insgesamt die – auch sozialgeschichtlich einleuchtende – Annahme nahe, dass die Fußwaschung zur  MT, Hld 5,3b: ‫יכ ָכה ֲא ַטנְּ ֵ ֽפם‬ ֥ ָ ‫ת־רגְ ַ ֖לי ֵא‬ ַ ‫ ָ;ר ַ ֥ח ְצ ִתּי ֶא‬LXX, Hld 5,3b: ἐνιψάμην τοὺς πόδας μου, πῶς

23

μολυνῶ αὐτούς; übersetzt nach der Lutherübersetzung. 24 Vgl.

Thomas, Footwashing, 34.  Übersetzt nach Goldschmidt, Talmud I, 764. 26  So zum Beispiel Kötting, Fußwaschung, 753. 756. 770; Niemand, Fußwaschungserzählung, 179–181. Von dieser Vorannahme distanziert sich auch Coloe, Footwashing, 393. 25

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

täglichen Hygiene für den eigenen Körper gehörte und offensichtlich sogar mit einem gewissen Komfort-Faktor verbunden war. Im jüdischen Kontext wollte oder musste man auch am Sabbat nicht darauf verzichten.27 Dieser mit einer Fußwaschung verbundene Aspekt der Pflege oder Wohltat war auch der christlichen Tradition noch vertraut, da mit Blick auf die ab dem 3. Jh. n. Chr. bezeugte gegenseitige Fußwaschung der Mönche in Klöstern oder auch bei Eremiten überliefert ist, dass dieser Brauch in der Fastenzeit unterlassen wurde.28 Dass alltägliche Verrichtungen zwar gewohnheitsmäßig stattfinden und im kulturellen Wissen einer Gesellschaft verankert sind, allerdings in der Literatur gerade deshalb eher selten oder gar nicht erwähnt werden, überrascht nicht.29 Die wenigen dargestellten Belege aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten zeigen eindrücklich, dass Fußwaschung als eine alltägliche Reinigung sowohl im jüdischen als auch im griechischen und römischen Bereich verstanden werden konnte. Die angeführten Belege legen nahe, dass in der Regel die eigenen Füße gewaschen wurden.30 Die Analyse weiterer ausgewählter Belege wird von diesem Textbefund ausgehen und die Fußwaschung zunächst grundlegend als eine notwendige und selbstverständliche Reinigung im Rahmen der alltäglichen Hygiene und Körperpflege betrachten.31 Auf die in der wissenschaftlichen Literatur zum Thema häufig zu findende Annahme, Fußwaschung sei primär Aufgabe der Dienerschaft oder sogar als typischer Sklavendienst konnotiert, wird hier aus methodischen Gründen verzichtet, um nicht Vorverständnisse in die antiken Texte einzutragen,

27 Vgl. die zutreffende Darstellung von Kötting, Fußwaschung, 753 f. Nicht einmal an Fasttagen musste die Fußwaschung unterlassen werden; vgl. dazu vor allem die bei Kötting, Fußwaschung, 754 angegebenen Texte aus dem Jerusalemer Talmud. 28 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 772. 29  Es ist zum Beispiel gut bezeugt, dass das Angebot, die Füße zu waschen, im Kontext von Gastmählern selbstverständlich war, dennoch wird es kaum explizit erwähnt. Ein eindrückliches Beispiel sind die ausführlichen Beschreibungen der Gelehrtengastmähler von Athenaios, der einmal nur wie nebenbei erwähnt, dass das schmutzige Wasser vom Waschen der Hände und Füße ἀπόνιπτρον genannt wird; vgl. Athen. Deipn. 9.409 f. Auch in Platos Schrift Symposium findet sich nur beiläufig der Hinweis auf das Ausziehen der Schuhe eines Gastes, bevor er sich zu Tische legt; vgl. Plato Symp. 213b. Die Epen Homers gelten im griechischen und römischen Kontext als prägend für die Vorstellung der Gastfreundschaft, vgl. Hiltbrunner/Gorce/ Wehr, Gastfreundschaft, 1082, doch auch hier zeigt eine sorgfältige Analyse, dass eine Fußwaschung bei der literarischen Darstellung im Kontext der gastfreundlichen Aufnahme kaum eine Rolle spielt; vgl. dazu Abschnitt 3.2.4. und 3.2.6. Hier ist auch der Vorwurf Jesu in Lk 7,44 zu erwähnen. Der von Mathew noch angeführte Beleg von Plato Symp. 175a spricht ebenfalls nicht vom Waschen der Füße durch Sklaven, sondern nur vom „Waschen“ (ἀπονίζειν), wobei als Vorbereitung auf das Hinlegen wahrscheinlich von einer Fußwaschung ausgegangen werden kann; in diesem Sinne wird es unkommentiert verstanden von Mathew, Footwashing, 112. 30  Zu diesem Ergebnis kommt auch Thomas für Belege im Kontext von persönlicher Hygiene und Wohlbefinden; vgl. Thomas, Footwashing, 31. 31 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 743; weitere Beispiele a. a. O. passim.

3.1. Fußwaschung als Körperpflege mit Wellness-Aspekten

133

die möglicherweise eher einer modernen Sicht auf die Fußwaschung entsprechen als einer antiken Vorstellung dieser damals alltäglichen Handlung. Bereits im grundlegenden Artikel von Kötting findet sich diese Argumentation, die in Aufsätzen und Monographien zur Fußwaschung immer wieder aufgenommen und vorausgesetzt wird. Kötting beginnt den Abschnitt zur Fußwaschung als Sklavendienst in Griechenland mit dem zutreffenden Hinweis: „Es ist selten mitgeteilt, wer die F. vornahm.“32 Er folgert daraus: „Wer über Sklaven verfügte, zog sie besonders bei Gastmählern dazu heran.“33 Es ist jedoch schwierig, aus einem nicht eindeutigen Textbefund so grundlegende Schlussfolgerungen zu den Subjekten der Fußwaschung zu ziehen.34 Die Überlieferung zur Gastfreundschaft Abrahams zeigt, dass die Aussage, Abraham habe die Füße seiner Gäste gewaschen, unterschiedlich verstanden werden konnte: 1) als ein Bereitstellen von Wasser durch Abraham, damit die Gäste sich selbst die Füße waschen können, 2) als eine Beauftragung der Diener oder des Sohnes, entweder zum Bereitstellen von Wasser oder zum Waschen der Füße durch die Diener bzw. den Sohn, 3) als eigenhändige Fußwaschung von Abraham selbst.35 Unabhängig davon, ob Abraham selbst oder auch seine Diener oder sein Sohn in seinem Auftrag Wasser bereitstellen oder Füße waschen, wird es Abraham als Erfüllung der Pflichten im Rahmen der Gastfreundschaft angerechnet. Ein vergleichbar unpräziser Sprachgebrauch zu den Subjekten von Bädern oder Fußwaschungen im Rahmen der Gastfreundschaft lässt sich auch bei Homer beobachten.36 Ein ähnliches Phänomen findet sich bei Joseph und Aseneth mit Blick auf die Hausarbeit zur Vorbereitung des Gastmahls für Joseph, die Aseneth angerechnet wird, obwohl ihre Dienerschaft die Arbeit für sie erledigt hat (vgl. JosAs 17,2; 18,2; 20,1). Inwieweit und in welchen Kontexten Fußwaschung in den Texten explizit als Sklavendienst konnotiert ist, wird die weitere Analyse zeigen.

 Kötting, Fußwaschung, 753. Fußwaschung, 753. Obwohl z. B. Niemand richtig erkennt, dass Fußwaschung in engen Beziehungen ein Ausdruck von Liebe und Ehre sein kann, hält auch er explizit an der Hypothese fest, dass auch in diesen Fällen Fußwaschung grundsätzlich Sklavendienst sei; Niemand, Fußwaschungserzählung, 181. Als Beispiele für diese „Kombination“ führt er Hom. Od. 19 und JosAs 7,1 an; ebd. 34  Ähnlich verallgemeinert auch Mathew die wenigen Belegstellen in Platos Symposium und in Athenaios sehr umfangreicher Schrift Deipnosophistae, so sich kaum mehr als Hinweise finden; vgl. Plato Symp. 175a.213b und Athen. Deipn. 9.408–411; dazu Mathew, Footwashing, 112. 35  In TestAbr A 6,6b wird zum Beispiel vorausgesetzt, dass Abraham in Mamre die Füße der drei Männer selbst gewaschen hat, obwohl der Masoretentext und die Septuaginta in Gen 18,4 nahelegen, dass die Männer selbst (MT) oder Diener Abrahams (LXX) die Fußwaschung durchführen. Vgl. dazu Abschnitt 3.2.6. 36 Vgl. z. B. Hom.Od. 4,48–54; dazu Abschnitt 3.2.4. 32

33 Kötting,

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe Die Fußwaschung hatte einen festen Platz in familiären bzw. intimen oder engen freundschaftlichen Beziehungen: Kinder wuschen die Füße der Eltern, die Ehefrau die Füße ihres Mannes, Schüler wuschen die Füße ihres Lehrers. Die Fußwaschung war in diesen Beziehungen ein Zeichen von Ehrerbietung und Liebe.

3.2.1. Fußwaschung in Eltern-Kind-Beziehungen Das Waschen bzw. das Waschen von Gesicht, Händen und Füßen gehört nach der rabbinischen Tradition zu den Aufgaben sowohl von Söhnen als auch von Töchtern gegenüber ihren Eltern. In der Tosefta werden die Pflichten der Kinder erläutert, mit denen sie ihre Eltern ehren sollen: Welches sind die Pflichten des Kindes gegenüber dem Vater? Man speist und tränkt ihn, man kleidet und bedeckt ihn, man führt ihn ein und aus, man wäscht ihm sein Gesicht, seine Hände und seine Füße, gleichviel ob Sohn oder Tochter. (tQuid 1,11)37

Im Traktat Qiddushin des Babylonischen Talmud werden vergleichbare Aufgaben gefordert, die Fußwaschung wird jedoch nicht eigens erwähnt. Die Listen sind als exemplarische, nicht als vollständige Aufzählung der Verpflichtungen der Kinder zu bewerten. Die Rabbanan lehrten: Was heißt [Ehr]furcht und was heißt Ehrung? [Ehr]furcht: er stehe nicht auf seinem Platze, er sitze nicht auf seinem Platze, er widerspreche ihm nicht und er überstimme ihn nicht. Ehrung: er speise ihn, tränke ihn, kleide ihn, hülle ihn und führe ihn ein und aus. (bQid 31b)38

Eine im Jerusalemer Talmud überlieferte Erzählung illustriert anschaulich, wie komplex die Assoziationen im Hinblick auf Liebe und Ehre sind, die sich mit dieser Handlung verbinden können.39 Gemäß einer Erzählung lässt Rabbi Jischmael (um 135 n. Chr.) es nicht zu, dass seine Mutter ihm die Füße wäscht: Die Mutter von Rabbi Yishma’el kam (einmal) und klagte über ihn bei unseren Gelehrten. Sie sagte zu ihnen: scheltet meinen Sohn Yishma’el, weil er mir keine Ehre erweist! In jener Stunde erbleichten die Gesichter unserer Gelehrten. Sie sagten: ist es (denn) möglich, daß Rabbi Yishma’el seinen Eltern keine Ehre erweist? Sie sagten zu ihr: was hat er dir getan? Sie sagte: wenn er aus dem Versammlungshaus kommt, will ich seine Füße abspülen [und von dem (Wasser) trinken], aber er erlaubt es mir nicht. Sie sagten zu ihm: weil das ihr Wille ist, ist es (auch) ihre Ehre! (jPea 15c)40  Übersetzt nach Strack-Billerbeck, Kommentar I, 706. nach Goldschmidt, Talmud IV, 612. 39  Vgl. jPea 15c,41–46; diese Stelle wird zitiert im Jerusalemer Talmud jQid 61b, 25–30; vgl. Kötting, Fußwaschung, 758; Rengstorf, διδάσκω, 138–168, insbes. 157. 40 Übersetzt nach Wewers, Pea, 14. 37

38 Übersetzt

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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Rabbi Jischmael sieht in der Fußwaschung durch seine Mutter offensichtlich eine Verletzung des vierten Gebots, da es die Aufgabe des Sohnes sei, der Mutter durch die Fußwaschung eine Ehre zu erweisen. Die um Rat gefragten Rabbinen stimmen jedoch der Mutter zu, da der Sohn die Mutter ehren soll, indem er ihr das Waschen seiner Füße erlaubt, wenn die Mutter die Fußwaschung als eine Ehre für sich betrachtet. Mit Blick auf die Bedeutung der Fußwaschung zeigt die kleine Episode, dass man durch das Waschen der Füße einem anderen – den Eltern oder sogar einer anderen Person, die man schätzt – eine sichtbare Ehre erweist. Zugleich bedeutet die Fußwaschung selbst für die ausführende Person keine Minderung des eigenen Ansehens, denn die Mutter beschwert sich bei den Rabbinen gerade mit der Argumentation, dass man ihr die Ehre, einem angesehenen Rabbi die Füße zu waschen, verweigert habe, und dass dies ein Verstoß gegen das vierte Gebot durch den Sohn sei. Außerdem wird in der Erzählung vorausgesetzt, dass Kinder üblicherweise ihren Eltern die Ehre der Fußwaschung erweisen, und auch, dass es vorstellbar ist, einen angesehenen Lehrer – ohne dass man selbst dessen Schülerin ist – durch das Waschen der Füße zu ehren. Der Philosoph Plutarch (ca. 45 n. Chr. – nach 120 n. Chr.)41 erzählt in De Mulierum Virtutes von jungen Frauen und ihren Verlobten in Kios und überliefert dabei eine Fußwaschung im familiären Kreis. Zunächst wird erzählt, dass sich junge Frauen bei öffentlichen Festen versammelten und den Tag mit Sport und Tanz verbrachten, während die jungen Männer sie beobachten konnten. Am Abend besuchten sie die Familien der Frauen. Die Jungfrauen in Chios hatten die Gewohnheit, an öffentlichen Festen zusammenzukommen und den Tag miteinander zuzubringen; während die Freier ihren Spielen und Tänzen zusahen; am Abende gingen sie dann zu einer Jeden der Reihe nach und bedienten deren Eltern und Brüder (διηκονοῦντο τοῖς ἀλλήλων γονεῦσι καὶ ἀδελφοῖς) selbst bis zum Fußwaschen (ἄχρι τοῦ καὶ τοὺς πόδας ἀπονίζειν). Öfters liebten mehrere Ein [sic!] Mädchen, aber auf eine so sittsame und anständige Weise, daß wenn das Mädchen mit Einem derselben verlobt war, die Andern sogleich zurücktraten. (Plut. De mul. virt. 249d)42

Das respektvolle Verhalten der jungen Männer wird hervorgehoben, denn wenn sich mehrere Männer in eine Frau verliebten, verhielten sie sich ehrbar und akzeptierten die betreffende Verlobung. Plutarch schildert die jungen Menschen insgesamt als vorbildlich in ihrer Tugendhaftigkeit. Nach dem gemeinsamen Tanzen und Spielen kehrt die Gruppe junger Frauen in die Häuser der Familien zurück. Das Partizip βαδίζουσαι ist eine feminine Form und bezieht sich nur auf  Vgl. Hirsch-Luipold, Plutarch, 561–565.  Plut. De mul. virt. 249d: ΚΙΑΙ: Ταῖς Κίων παρθένοις ἔθος ἦν εἰς ἱερὰ δημόσια συμπορεύεσθαι καὶ διημερεύειν μετ’ ἀλλήλων, οἱ δὲ μνηστῆρες ἐθεῶντο παιζούσας καὶ χορευούσας· ἑσπέρας δὲ πρὸς ἑκάστην ἀνὰ 41 42

μέρος βαδίζουσαι διηκονοῦντο τοῖς ἀλλήλων γονεῦσι καὶ ἀδελφοῖς ἄχρι τοῦ καὶ τοὺς πόδας ἀπονίζειν. τῶν δὲ μνηστήρων ἤρων πολλάκις μιᾶς πλείονες οὕτω κόσμιον ἔρωτα καὶ νόμιμον, ὥστε τῆς κόρης ἐγγυηθείσης ἑνὶ τοὺς ἄλλους εὐθὺς πεπαῦσθαι. Zitiert nach Nachstädt, Plutarchi moralia; übersetzt nach Weise/

Vogel, Moralia I, 437.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

die Frauen. Danach wird mit einer konjugierten Verbform im Plural ausgedrückt, dass sie die Eltern und Geschwister abwechselnd bedienten. Mit dem Verb διακονέω wird im Kontext von Mahlzeiten meistens die feierliche, nicht alltägliche Aufwartung bei Tisch bezeichnet, die ebenfalls ein Zeichen von Tugendhaftigkeit und Anstand ist, insbesondere wenn ein besonderer Anlass gegeben ist, wie etwa die Anwesenheit eines Ehrengastes oder hier die Ehrerbietung gegenüber den eigenen Eltern.43 Diese feierliche Form der Aufwartung kann als freiwillige Ehrerbietung sowohl von den Kindern des Hauses – Söhnen oder Töchtern – als auch vom Hausherrn bzw. der Hausherrin selbst ausgeübt werden, ohne dass sie sich statusmindernd auswirken würde.44 Die jungen Frauen erweisen den Familien eine Ehre, indem sie ihnen aufwarten. Der Ehrerweis umfasst im Fall der von Plutarch geschilderten Szene auch das Waschen der Füße. Es handelt sich dabei um eine Fußwaschung, die im familiären Rahmen und zugleich im Kontext einer Mahlzeit stattfindet. Da es sich um kein Gastmahl handelt, zu dem die Familienangehörigen erst gehen müssten, ist nicht zwingend an eine Fußwaschung zu denken, die beim Betreten des Hauses vor dem Beginn eines Gastmahls erforderlich ist und dort einen festen Platz hat.45 In der vorliegenden Situation ist eher von einer Fußwaschung im familiären Kontext auszugehen, welche den Eltern und Geschwistern gegenüber ein Ausdruck der Ehrerbietung und Zuneigung ist und die zugleich von Plutarch als ein besonderes Zeichen ihrer eigenen Tugendhaftigkeit gewertet wird. Diese kann durchaus zu Beginn des Mahls stattgefunden haben, auch wenn dies vom Text nicht eindeutig festgehalten wird. Weder durch die Aufwartung bei Tisch noch durch die Fußwaschung wird hier eine besondere Dienstbarkeit der jungen Leute ausgedrückt, sondern beide Dienste sind dargestellt als ein Ehrerweis gegenüber Familienmitgliedern und werden von Plutarch als Hinweis auf die guten Sitten der Heranwachsenden verstanden. Aufwartung bei Tisch und Fußwaschung stehen hier im Zusammenhang einer Mahlzeit im Familienkreis. Eine satirische Darstellung einer Fußwaschung im familiären Rahmen findet sich bei Aristophanes. In der Komödie Die Wespen karikiert Aristophanes (ca. 43 Vgl. zur Semantik Hentschel, Diakonia, 85–89. Eine vergleichbare Szene findet sich im Euboikos von Dion Chrysostomus. Dort wird das Landleben in seiner Einfachheit als positives Vorbild geschildert. Einen Höhepunkt bildet die Gastmahlszene (7,65–67), die trotz der bescheidenen Verhältnisse der Familie auf eine Stufe mit den althergebrachten griechischen Symposien gestellt wird. Während zunächst die Tochter aufwartet, kommt später der Bruder des Hausherrn mit seinem Sohn dazu. Letzterer ist offensichtlich mit der Tochter verlobt und übernimmt an ihrer Stelle die Aufwartung bei Tisch; vgl. dazu Hentschel, Diakonia, 44 f. Töchter und Söhne leisten hier einen Dienst, mit dem sie den Eltern eine Ehre erweisen und zugleich ihre eigene Tugendhaftigkeit belegen. 44 Die Verwendung von διακονέω im Bereich des Tischdienstes lässt die Frage nach dem Status der Subjekte offen, wie z. B. die Belege bei Lukian, Saturnalia 4.17 f. oder Philo VitCont 50.70 f.75 zeigen; vgl. Hentschel, Diakonia, 57 f.72 f. 45 Vgl. dazu auch Niemand, Fußwaschungserzählung, 180 f.

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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450 v. Chr. – nach 385 v. Chr.)46 vor allem das Justizwesen Athens, indem er einen alten Mann namens Philokleon vorstellt, der als Richter von der Gier nach Macht und Ehre geradezu besessen ist. „Der athenische Bürger Bdelykleon will seinen Vater Philokleon von der Richter-Manie kurieren.“47 Da Aristophanes das Stilmittel der Übertreibung wählt, um die Problematik der Macht- und Geldgier und die mit dem Richterberuf verbundenen Möglichkeiten des Machtmissbrauchs exemplarisch an seiner Erzählfigur aufzuzeigen, ist Philokleon weder als typischer Vertreter seines Standes noch als realistisch charakterisierter Zeitgenosse zu sehen. Der Abschnitt über seine Versorgung im eigenen Haushalt ist eingebettet in Philokleons Aussage, dass er als Richter über eine königliche, ja sogar gottgleiche Herrschaft verfüge (Aristophanes Vesp. 548 f.620).48 Dies ist zu berücksichtigen, wenn Philokleon schließlich schwärmt, dass seine Tochter – wohl aus Geldgier – und seine Ehefrau – wohl aus naiver Liebe – ihm stets verwöhnend zu Diensten stehen.49 Zunächst kommt die Tochter und wäscht und salbt ihm die Füße und liebkost ihn. Danach kommt die Ehefrau und bietet ihm einen Kuchen an und verwöhnt ihn so umfassend, dass er nicht einmal seiner Hausangestellten bedarf, damit diese das Abendessen servieren. Was aber das Angenehmste an all dem ist, was ich vergessen hatte: wenn ich nach Hause gehe mit meinem Sold und dann all zusammen mich bei Ankunft begrüßen wegen des Geldes und zuerst meine Tocher mich säubert, mir die Füße salbt, (καὶ πρῶτα μὲν ἡ θυγάτηρ με ἀπονίζῃ καὶ τὼ πόδ’ ἀλείφῃ), sich zu mir beugt und mich küsst, mich Papi nennt und zugleich mit der Zunge das Drei-Obolenstück herausangelt. (Aristophanes, Vesp. 605–609)50

Bei der Waschung durch die Tochter ist vermutlich an eine Fußwaschung gedacht, da mit ἀπονίζω in der Regel nicht das Vollbad, sondern eine Waschung einzelner Körperteile, insbesondere der Füße, Hände und/oder des Kopfes, bezeichnet wird.51 Außerdem ist es naheliegend, wenn sie im Anschluss daran die Füße des Vaters salbt, dass sie eben diese zuvor gewaschen hat. Indem sie 46 Vgl.

Zimmermann, Aristophanes, 92–97.  Lenz, Aristophanes, 41. 48  Vgl. Lenz, Aristophanes, 165. 49 Aristophanes, Vespae, 605–614: Φι. ὃ δέ γ’ ἥδιστον τούτων ἐστὶν πάντων, οὗ ’γὼ ’πελελήσμην, ὅταν οἴκαδ’ ἴω τὸν μισθὸν ἔχων, κἄπειθ’ ἥκονθ’ ἅμα πάντες ἀσπάζωνται διὰ τἀργύριον, καὶ πρῶτα μὲν ἡ θυγάτηρ με ἀπονίζῃ καὶ τὼ πόδ’ ἀλείφῃ καὶ προσκύψασα φιλήσῃ καὶ παππίζουσ’ ἅμα τῇ γλώττῃ τὸ τριώβολον ἐκκαλαμᾶται, καὶ τὸ γύναιόν μ’ ὑποθωπεῦσαν φυστὴν μᾶζαν προσενέγκῃ, κἄπειτα καθεζομένη παρ’ ἐμοὶ προσαναγκάζῃ, „φάγε τουτί, ἔντραγε τουτί.“ τούτοισιν ἐγὼ γάνυμαι, κοὐ μή με δεήσῃ εἰς σὲ βλέψαι καὶ τὸν ταμίαν, ὁπότ’ ἄριστον παραθήσει καταρασάμενος καὶ τονθορύσας. Zitiert nach Wilson, Aristophanis Fabulae. 50  Übersetzt nach Lenz, Aristophanes, Wespen, 164. 51  Vgl. auch Hom.Od. 19,317, wo Penelope nur die Anweisung gibt, den Fremden zu waschen und das Bett zu bereiten, während im Laufe der Erzählung bestätigt wird, dass es sich um eine Waschung der Füße handelt. 47

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

bei einem Kuss das Geld aus seinem Mund holt, bekommt der ganze Ablauf einen bizarren Charakter. Unabhängig jedoch von der fehlenden Sympathie des Erzählers für die Hauptfigur wird offensichtlich auch hier in einem Text aus der Zeit der attischen Demokratie im 5. Jahrhundert v. Chr. der Brauch vorausgesetzt, dass Kinder beim Heimkommen ihren Eltern aus Liebe bzw. Ehrfurcht die Füße waschen. Dies wird bestätigt durch den Kommentar eines Scholiasten, der darauf hinweist, dass „es seit alters her zur Fürsorgepflicht der Frauen gehöre, Vätern und Greisen die Füße zu waschen und zu salben.“52 Diese Form der Fußwaschung beim Eintreten des Hausvaters gehört also nicht exklusiv in den Zuständigkeitsbereich des Dienstpersonals, sondern unabhängig davon auch zu den Pflichten der Töchter und Ehefrau, die sie als Zeichen der Ehrerbietung bzw. Liebe und Fürsorge verrichten. Im vorliegenden Fall wird die Versorgung durch die Tochter und die Ehefrau jedoch aus der Perspektive des Philokleon geschildert, der damit seine Macht über Menschen demonstrieren will, die ihm– aus Geldgier und naiver Liebe – sogar freiwillig dienen. Man sollte diese Belegstelle aufgrund ihres satirischen Charakters gerade nicht unter der Überschrift „Fußwaschung als Dienstleistung“ aufführen, wie sich dies grundlegend in dem Artikel von Kötting findet.53 Diese Deutung wird von den Texten selbst nicht verwendet und sie legt sich auch nicht zwingend nahe. Vielmehr ist in den antiken Quellen grundsätzlich erkennbar, dass die Fußwaschung in bestimmten Situationen und Beziehungen auch ein kulturell verankerter Erweis von Liebe und Ehre ist. Sie zeigt den Anstand und die Ehrbarkeit der Kinder, zumindest unter der Voraussetzung, dass die Situation nicht wie bei Aristophanes karikiert und dadurch eine ehrbare Handlung in ihr Gegenteil verkehrt wird. Kritisch zu beurteilen ist von daher auch die Einschätzung Niemands, der mit Blick auf die Fußwaschung durch die Kinder oder die Ehefrau am Vater bzw. Mann als Fazit festhält: „Die Argumentationsfigur ist dabei konstant: Fußwaschung ist Sklavendienst; wird sie aber von jemand anderem vollzogen, so drückt sich darin besondere Wertschätzung oder Liebe aus“.54 Vielmehr gilt: Die Fußwaschung ist ein Bestandteil der täglichen Hygiene und Selbstfürsorge. Sie kann, wenn sie von einem anderen durchgeführt wird, auch Zeichen von Wertschätzung und Liebe sein.

52 Kötting, Fußwaschung, 750, mit Bezug auf Schol. Aristoph. vesp. 606 (149A, 44/6 Dübner). 53  Kötting, Fußwaschung, 749 f. 54 Niemand, Fußwaschung, 181.

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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3.2.2. Fußwaschung in der Ehe und in intimen Beziehungen In den Schriften der rabbinischen Tradition werden die Aufgaben einer Ehefrau und damit verbunden die Fußwaschung wiederholt ausführlich diskutiert. Gemäß der rabbinischen Überlieferung kann eine jüdische Ehefrau alle möglichen Aufgaben an ihre Dienerinnen delegieren, unter anderem sogar das Stillen ihrer Säuglinge, aber das Waschen der Füße ihres Mannes, das Richten seines Bettes bzw. das Salben seines Körpers und das Einschenken seines Bechers sind Aufgaben, die Intimität und Liebe ausdrücken und nur ihr als Ehefrau vorbehalten bleiben (mKet 5,5; jKet 30a; bKet 61a; 96a). Im Traktat Ketubbot der Mischna werden die Aufgaben einer Ehefrau im Detail aufgezählt, die auch von Dienerinnen übernommen werden können. Die Fußwaschung gehört nicht zu den möglichen Diensten der Sklavinnen: Dieses sind die Arbeiten, die die Frau für ihren Mann tut: Sie mahlt, sie backt, sie wäscht, sie kocht, stillt ihren Sohn, macht das Bett und arbeitet mit Wolle. Bringt sie eine Magd (in die Ehe), mahlt, backt und wäscht sie nicht; zwei Mägde, kocht sie nicht und stillt nicht ihren Sohn; drei macht sie nicht das Bett; vier, so sitzt sie im Lehnstuhl. Rabbi Eli’ezer sagt: Wenn sie sogar hundert Mägde mitbringt, zwingt er sie, mit Wolle zu arbeiten, denn Nichtstun führt zu Unzucht. Rabban Shim’on ben Gamli’el sagt: Auch wer seine Frau durch ein Gelübde von der Arbeit entbindet, soll sie herausführen und ihr ihre Eheverschreibung geben, denn Nichtstun führt zu Depression. (mKet 5,5)55

Im Jerusalemer Talmud hält Rabbi Bun zu mKet 5,5 fest, dass die in der Mischna genannten Aufgaben für eine Ehefrau „erniedrigend sind; deshalb haben (die Gelehrten) sie einer Sklavin zugewiesen“ (jKet 30a).56 Rav Huna ergänzt, dass es besondere Aufgaben einer Ehefrau gibt, die auch bei hundert Mägden nicht delegiert werden können und nennt als besondere Aufgaben der Ehefrau das Salben, das Waschen der Füße und das Einschenken des Bechers (jKet 30a). Die Rabbinen bedenken im Anschluss, dass diese Aufgaben nicht einer Sklavin überlassen werden sollen, da es sich um „intime Dinge“ handele.57 Matthias Morgenstern erläutert, dass die hebräische Formulierung ‚devarim shel yaḥid‘ „an den Begriff ‚yiḥud‘ [erinnert], der in bSan 21ab das ‚Alleinsein‘ zweier Personen beiderlei Geschlechts bezeichnet; nach dem Shulḥan Arukh (EH § 55) bildet das ‚Alleinsein‘ des Bräutigams mit der Braut (‚yiḥud‘) den eigentlichen Abschluss des Trauungsaktes.“58 Es schickt sich aufgrund der körperlichen Nähe und Intimität nicht, diese Aufgaben von einer Sklavin und damit einer anderen Frau ausführen zu lassen. Die Aufgaben des Salbens, der Fußwaschung und des Einschenkens des Bechers sollen aber auch nicht von einem Diener ausgeführt 55 Übersetzt

nach Krupp, Mischna. Frauen, 78.  Übersetzt nach Morgenstern, Ketubbot, 236. 57  So die Übersetzung von Matthias Morgenstern, vgl. Morgenstern, Ketubbot, 237. 58 Morgenstern, Ketubbot, 237 Anm. 56

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

werden, mit der Begründung, dass es sich um spezifische Aufgaben der Ehefrau, gewissermaßen um eheliche Pflichten handelt. Rav Huna sagte: ‚Selbst (wenn) sie ihm hundert Mägde mitgebracht hat, soll der Ehemann ihr) auferlegen, für ihn intime Dinge zu verrichten.‘ Welches sind intime Dinge? (Sie soll) ihm seinen Körper salben, ihm seine Füße abwaschen und ihm den Becher einschenken. Weshalb? Weil sie verpflichtet ist, ihm (diese Dienste) zu tun? Oder weil diese (Dienste) sich nicht dazu eignen, sich (ihretwegen) einer Sklavin zu bedienen? Was ist der Unterschied zwischen beiden (unterschiedlichen Möglichkeiten, die Verpflichtung der Ehefrau zur Verrichtung dieser intimen Dinge zu begründen)? (Wenn) sie ihm (als Mitgift männliche) Sklaven mitgebracht hätte!? Wenn du sagst, (daß die Rechtsgrundlage der Verpflichtung der Ehefrau zur Verrichtung dieser drei Dienste an ihrem Ehemann darin liegt), daß sie sich nicht dazu eignen, sich (ihretwegen) einer Sklavin zu bedienen, (so ist hier zu erwidern), daß sie ihm (in diesem Fall) ja (männliche) Sklaven mitgebracht hat. Ist dann nicht der Grund (dieser Norm darin zu suchen), daß sie verpflichtet ist, ihm (diese Dienste zu tun)? Rabbi Abudima fragte in Sepphoris vor Rabbi Mana: ‚Ist es nicht einleuchtend, (daß sie diese Arbeiten verrichten muß), weil sie (selbst positiv) dazu verpflichtet ist‘? Er antwortete ihm: ‚Auch ich bin dieser Ansicht. Es ist auch gelehrt worden: (Der Ehemann kann) sie, die Wolle zuzubereiten, aber nicht den Flachs, weil er einen üblen Mundgeruch und Blasen auf den Lippen verursacht.‘ (jKet 30a)59

Die Diskussion lässt darauf schließen, dass beim Salben, beim Waschen der Füße und beim Einschenken des Bechers sexuelle Konnotationen im Raum stehen – eine Sklavin ist für diese Tätigkeiten offensichtlich nicht geeignet, da sie als Frau eine sexuelle Beziehung mit dem Ehemann eingehen könnte. Aber auch ein Sklave soll der Ehefrau diese Aufgaben nicht abnehmen, da es sich um eheliche Pflichten handelt, die offensichtlich nicht zu kurz kommen dürfen.60 Im sich anschließenden Abschnitt mKet 5,6 geht es ebenfalls explizit um eine sexuelle Thematik, nun jedoch mit Blick auf die ehelichen Pflichten des Mannes, wenn erörtert wird, wie oft ein Ehemann mit seiner Frau intim sein soll (jKet 30a–30b). Bemerkenswert ist, dass das Salben des Körpers vor dem Waschen der Füße genannt wird.61 Möglicherweise ist das Salben als Abschluss eines vorausgehenden Vollbades zu verstehen, während die Reinigung der Füße unmittelbar vor dem Zubettgehen stattfindet. In Pereq 11 wird mit Blick auf die Verpflichtungen einer Witwe festgehalten, dass sie gegenüber den Erben ihres Mannes nicht verpflichtet ist, diese intimen

59 Übersetzt

nach Morgenstern, Ketubbot, 237 f.  Eine homosexuelle Beziehung zwischen Hausherrn und Sklaven ist hier offensichtlich nicht als Problem und Begründung im Blick. Dass dies bei Sklaven durchaus auch eine mögliche Konnotation der genannten „initimen Aufgaben“ sein kann, zeigt Josephus mit seiner Darstellung in Jos.Ant. 16.230: König Herodes hat hübsche Eunuchen, die ihm besonders vertraut sind, und von denen einer ihm das Getränk bringt, einer das Essen serviert und einer, der ihn zu Bett bringt. Letzterer teilt mit ihm auch die Regierungsverantwortung. 61 Vgl. zu den unterschiedlichen Praktiken der Salbung Rouwhorst, Salbung, 340–370. 60

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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Tätigkeiten zu verrichten. Hier ist das Waschen der Füße durch das Waschen des Gesichts ersetzt. Rabbi Immi (sagte) im Namen des Rabbi Yose ben Ḥanina: Auch ist sie nicht (verpflichtet), ihnen intime Dienste zu verrichten. Welches sind intime Dienste62? (Wenn) sie ihnen ihre Körper salbt und ihre Gesichter wäscht und (wenn) sie ihnen den Becher einschenkt. (jKet 34a)63

Nach der Meinung der Gelehrten im Babylonischen Talmud sind bei vier Dienerinnen das Richten des Bettes, das Einschenken des Bechers und das Waschen von Gesicht, Händen und Füßen exklusive Pflichten der Ehefrau, welche nicht delegiert werden können. Im Anschluss daran diskutieren die Rabbinen, welche Aufgaben eine Frau während der Menstruation verrichten kann, wobei das Bettmachen eingeschränkt möglich ist und das Einschenken des Bechers sowie das Waschen ausgeschlossen werden. Wenn vier, so kann sie im Lehnstuhl sitzen. R. Jiçḥaq b. Ḥananja sagte im Namen R. Honas: Obgleich sie gesagt haben, sie könne im Lehnstuhl sitzen, dennoch muß sie ihm einen Becher einschenken, das Bett machen und Gesicht, Hände und Füße waschen. R. Jiçḥaq b. Ḥananja sagte [ferner] im Namen R. Honas: Alle Verrichtungen, die eine Frau für ihren Mann zu leisten hat, darf auch eine Menstruierende für ihren Mann verrichten, ausgenommen ihm einen Becher einschenken, das Bett machen und Gesicht, Hände und Füße waschen. Vom Bett machen gilt dies, wie Raba sagte, nur in seiner Gegenwart, in seiner Abwesenheit aber ist nichts dabei. (bKet 61a)64

Dass die genannten Tätigkeiten anders zu beurteilen sind als die übliche Hausarbeit, bestätigen auch hier die Vorschriften für die Zeit nach dem Tod des Ehemannes, wenn die Witwe bei ihren Erben wohnt. Zwar muss die Witwe alle anfallenden Aufgaben im Haushalt verrichten, ausgeschlossen sind jedoch wieder das Einschenken des Bechers, das Richten des Bettes und das Waschen von Gesicht, Händen und Füßen: Rabbi Jose b. Ḥanina sagte: Alle Arbeiten, die eine Frau für ihren Ehemann verrichten muß, verrichte auch die Witwe für die Erben, ausgenommen einen Becher einschenken, das Bett machen und Gesicht, Hände und Füße waschen. (bKet 96a)65

Die Beschreibung der exklusiv der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann vorbehaltenen Aufgaben zeigt, dass die genannten Tätigkeiten weder als alltägliche Hausarbeit noch als typische Sklavenaufgaben betrachtet werden. Es handelt sich 62  Morgenstern übersetzt hier mit „Diensten“, obwohl im hebräischen Text derselbe Ausdruck steht, wie in jKet 30a,62–63: devarim shel yiḥud, wo Morgenstern mit „itimen Dingen“ übersetzt hat, vgl. Morgenstern, Ketubbot, 237 f.392. Mit dem deutschen Lexem ‚Dinge‘ werden jedoch andere Assoziationen wachgerufen als mit dem Begriff ‚Dienste‘, der an der vorliegenden Stelle eher durch den neutraleren Begriff ‚Tätigkeiten‘ ersetzt werden sollte. 63  Übersetzt nach Morgenstern, Ketubbot, 392. 64  Übersetzt nach Goldschmidt, Talmud V, 190. 65 Übersetzt nach Goldschmidt, Talmud V, 305.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

bei diesen Aufgaben, zu denen die Fußwaschung gehört, vielmehr um Liebeserweise, ja gewissermaßen um intime Zärtlichkeitsbekundungen, die nur die Ehefrau gegenüber dem Ehemann verrichten darf bzw. muss.66 Die folgenden Belege illustrieren, wie das Waschen der Füße auch außerhalb von Ehebeziehungen nicht nur mit persönlicher Nähe und dem Erweis einer besonderen Ehre, sondern ebenfalls mit Intimität und erotischer Berührung konnotiert sein kann. Dabei ist zu bedenken, dass die Sklaventerminologie im Bereich von Beziehungen auch metaphorisch verwendet werden kann, indem ausgedrückt wird, dass eine Frau ganz (zu) ihrem Geliebten gehören will. Dass mit der Verwendung von Sklaventerminologie in Liebesbeziehungen, auch im Zusammenhang mit einer Fußwaschung, nicht zwingend auf eine untergeordnete Rolle der späteren Ehefrau angespielt wird, zeigt eine sorgfältige Lektüre des Romans Joseph und Aseneth: Aseneth verschmäht als hübsche, aber hochmütige junge Frau die Liebe aller Männer (JosAs 2,1) und erschrickt, als sie sich in Joseph verliebt (JosAs 6,1–6), den sie, ohne ihn zu kennen, kurz zuvor grundsätzlich abgelehnt hatte (JosAs 4,9–12). Angesichts dieser Situation wünscht sie sich, wenigstens Josephs Sklavin zu sein, um so ständig in seiner Nähe weilen zu dürfen (JosAs 6,8). Sicherlich steht dabei auch die Vorstellung im Hintergrund, dass Eigentümer sexuelle Beziehungen mit Sklavinnen haben konnten, wobei die Kinder aus diesen Beziehungen als eigene Kinder des Eigentümers angesehen wurden. Aseneth empfindet sich aufgrund ihrer voreiligen Absage an Joseph offensichtlich nicht mehr als würdig, dessen Ehefrau zu sein, wünscht sich aber auf Dauer eine intime Nähe zu ihm, die sie wenigstens als seine Sklavin erlangen möchte. Sie bittet Gott: Und du Herr, gib mich ihm als Magd und Sklavin hin. Ich will ihm sein Bett ausbreiten, seine Füße waschen und ihm aufwarten (διακονήσω αὐτῷ) und seine Sklavin sein (καὶ ἔσομαι αὐτῷ δούλη) und ihm als Sklavin dienen (δουλεύσω αὐτῷ) für ewige Zeiτ. (JosAs 13,15)67

Was in der deutschen Übersetzung von Reinmuth zwei Sätze sind, die nahelegen, dass mit den zunächst genannten Tätigkeiten Bettmachen, Fußwaschung und Bedienen bzw. Aufwarten auf die Rolle einer Sklavin angespielt wird, ist in Wirklichkeit eine einzige Parataxe, bei der alle Verben gleichwertig mit καί nebeneinandergestellt sind.68

66  Diese Regelung findet sich bis heute im orthodoxen Judentum; vgl. Kötting, Fußwaschung, 757. 67  Übersetzt in Anlehnung an Reinmuth, Joseph und Aseneth, 85. Die kursiv gesetzten Abschnitte sind eigene Übersetzungen. Hier übersetzt Reinmuth: „Und du Herr, gib mich ihm als Magd und Sklavin hin. Ich will ihm sein Bett ausbreiten, seine Füße waschen und ihm dienen. Ich will seine Sklavin sein und ihm als Sklavin dienen für ewige Zeit.“; ebd. 68  JosAs 13,15: καὶ σύ, κύριε, παράθου με αὐτῷ εἰς παιδίσκην καὶ δούλην· κἀγὼ στρώσω τὴν κλίνην

αὐτοῦ καὶ νίψω τοὺς πόδας αὐτοῦ καὶ διακονήσω αὐτῷ καὶ ἔσομαι αὐτῷ δούλη καὶ δουλεύσω αὐτῷ εἰς τὸν αἰῶνα χρόνον.

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

143

Zum Bettmachen, zum Waschen der Füße und zur Aufwartung69 kommt also die Absicht hinzu, Josephs Sklavin zu sein und ihm Sklavendienste zu leisten (δουλεύω).70 Zuerst werden die spezifischen, mit Intimität verbundenen Verpflichtungen einer Ehefrau genannt, mit der eine Frau ihre Liebe zum Ehemann ausdrücken kann: das Bereiten des Bettes, die Fußwaschung und die Aufwartung. Diese Tätigkeiten fließen hier mit der Rolle einer Sklavin zusammen. Damit wird jedoch gerade nicht ausgedrückt, dass Bettmachen, Fußwaschung und die Aufwartung bei Tisch typische Sklavendienste seien, sondern sie sind in der vorliegenden Situation vielmehr als Liebesdienste zu betrachten, die Aseneth, die sich selbst in der Rolle einer Sklavin und darin vor allem als Geliebte des Joseph darstellt, ausführen will.71 Die Erzählung nimmt jedoch für Aseneth einen günstigen Verlauf, sie wird nicht die Sklavin Josephs, sondern dessen geliebte Ehefrau. Der Bote Gottes offenbart Aseneth nach ihrer Bekehrung zum Gott Josephs, dass sie dessen Braut werden wird (JosAs 15,6.9; 19,5 f.). Trotz dieser Ankündigung bezeichnet sich Aseneth später bei der Begegnung mit Joseph zunächst noch als seine Sklavin (JosAs 19,5), nun jedoch deutlich in einem metaphorischen Sinn, um ihre vollständige Zugehörigkeit zu ihrem Mann auszudrücken. Für eine metaphorische Interpretation der Sklaventerminologie spricht, dass sie sich unmittelbar nach der Fußwaschung selbst zu Josephs rechter Seite auf den Thronsessel ihres Vaters setzt (JosAs 20,5). Auch der weitere Verlauf der Erzählung bestätigt diese Interpretation: Nach der Eheschließung ist Aseneths Rolle alles andere als die einer untergeordneten Dienerin oder ausschließlich treusorgenden Ehefrau: Für ihre Zukunft hat ihr der göttliche Bote bereits offenbart, dass durch sie viele Völker zu Gott finden werden und ihr Name „Stadt der Zuflucht“ bedeuten werde (JoasAs 19,5) und sie wie eine unbezwingliche Festung sein werde (JosAs 19,5.8). Diese Beschreibungen zeigen, dass Aseneth als Josephs Frau eine eigenständige zentrale Rolle im Miteinander der Völker zukommen soll. Nachdem Joseph im Haus Aseneths angekommen ist, klären beide zunächst ihre Beziehung und geben der gegenseitigen körperlichen Anziehung einen ersten Ausdruck. Erst dann begrüßt Aseneth Joseph als Gastgeberin in dem Haus, das sie – nach ihren Worten – zusammen mit einer Mahlzeit für ihn vorbereitet habe (JosAs 20,1). 69  Das griechische Lexem διακονέω kann neben der allgemeinen Bedeutung „Aufträge ausführen“ insbesondere die Aufwartung mit Speisen und Getränken bezeichnen. Vgl. dazu Hentschel, Diakonia, 85–89. Gemäß JosAs 20,8 findet nach der Fußwaschung eine festliche Mahlzeit statt, bei der die feierliche Aufwartung durch die Hausherrin und Gastgeberin ein Zeichen guten Benehmens und der Wertschätzung der Gäste ist. 70 Es geht hier also gerade nicht darum, dass typische Aufgaben einer Sklavin genannt werden, so zum Beispiel Kötting, Fußwaschung, 756. Es handelt sich vielmehr um Tätigkeiten, die eine intime Nähe ermöglichen und zu den spezifischen Aufgaben einer Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann gehören; vgl. Abschnitt 3.2.2. 71 Vgl. auch Hentschel, Fußwaschung, 70 f.

144

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Und sie umschlangen einander lange und verflochten die Bande ihrer Hände. Und Aseneth sprach zu Joseph: „Wohlan, mein Herr, tritt ein in unser Haus. Ich habe nämlich unser Haus vorbereitet und ein großes Mahl gemacht (διότι ἐγὼ ἡτοίμασα τὴν οἰκίαν ἡμῶν καὶ δεῖπνον μέγα πεποίηκα).“ Sie ergriff seine rechte Hand, führte ihn in ihr Haus und setzte ihn auf den Thronsessel ihres Vaters (καὶ ἐκράτησε τὴν χεῖρα αὐτοῦ τὴν δεξιὰν καὶ εἰσήγαγεν αὐτὸν εἰς τὴν οἰκίαν αὐτῆς καὶ ἐκάθισεν αὐτὸν ἐπὶ τοῦ θρόνου τοῦ πατρὸς αὐτῆς). Und sie brachte Wasser, um seine Füße zu waschen (καὶ ἤνεγκεν ὕδωρ τοῦ νίψαι τοὺς πόδας αὐτοῦ). Joseph sprach zu ihr: „Es soll doch eine deiner Jungfrauen kommen und meine Füße waschen (ἡκέτω μία ἐκ τῶν παρθένων σου καὶ νιψάτω τοὺς πόδας μου)!“ Und Aseneth sagte: „Mitnichten, mein Herr, denn von jetzt an bist du mein Herr, und ich bin deine Sklavin. Warum sagst du das, eine andere Jungfrau solle deine Füße waschen? Deine Füße sind ja meine Füße, deine Hände sind meine Hände, deine Seele ist meine Seele (οὐχί, κύριέ μου, ὅτι σύ μου εἶ κύριος ἀπὸ τοῦ νῦν

καὶ ἐγὼ παιδίσκη σου. καὶ ἵνα τί σὺ τοῦτο λαλεῖς ἄλλην παρθένον νίψαι τοὺς πόδας σου; διότι οἱ πόδες σου πόδες μού εἰσι καὶ αἱ χεῖρές σου χεῖρές μού εἰσι καὶ ἡ ψυχή σου ψυχή μου).“ Sie bedrängte ihn und wusch seine Füße (καὶ ἐβιάσατο αὐτὸν καὶ ἔνιψε τοὺς πόδας αὐτοῦ). Joseph betrachtete ihre

Hände. Sie waren wie die Hände des Lebens und ihre Finger wie Finger eines von Liebe ergriffenen Schnellschreibers. Danach ergriff Joseph ihre rechte Hand und küsste sie. Und Aseneth küsste sein Haupt und setzte sich zu seiner Rechten. (JosAs 20,1–5)72

In JosAs 20,1 wird es von Aseneth so dargestellt, als ob sie das Herrichten des Hauses und das Kochen der Mahlzeit persönlich ausgeführt hätte, die Lesenden wissen jedoch bereits (JosAs 17,2; 18,2), dass die Hausangestellten auf ihren Befehl hin alles gerichtet haben. Aseneth kann sich als Hausherrin und als Gastgeberin präsentieren, die selbst alles vorbereitet hat, unabhängig davon, wer die Arbeit konkret – in ihrem Namen – ausgeführt hat. Die Gastfreundschaft und die damit verbundene Ausführung von Aufgaben wird einem Hausherrn bzw. in diesem Fall einer Hausherrin als Ehre angerechnet, nicht jedoch als ein Sklavendienst, der ihren Status begrenzen würde. Auch wenn Dienerinnen und Diener die notwendigen Aufgaben in ihrem Namen verrichten, gilt das im Rahmen der Erzählung als Leistung der Hausherrin. Aseneth handelt hier also in der Rolle der Hausherrin, die Joseph gegenüber betont, dass sie alles selbst gerichtet hat, auch wenn dies auf ihren Befehl hin von Dienerinnen und Dienern erledigt wurde. Auch die gastfreundschaftliche Fußwaschung vor der Mahlzeit wird im Hause des Pentephres bei angesehenen Gästen wohl üblicherweise von Sklaven oder Sklavinnen durchgeführt (vgl. 7,1; 20,3).73 Später besteht Aseneth jedoch darauf, Joseph selbst die Füße zu waschen (JosAs 20,2). Als Joseph protestiert, antwortet sie mit dem Hinweis, dass sie doch von nun an seine Sklavin sei (JosAs 20,4). Die Sklaventerminologie bezeichnet hier in metaphorischer Weise den Wunsch der Aseneth, ganz zu ihrem Geliebten gehören. Im Anschluss daran stellt sie sofort fest: „Deine Füße sind ja meine Füße, deine Hände sind meine Hände, deine  Zitiert nach Reinmuth, Joseph und Aseneth, 102–105. Subjekte der Fußwaschung werden nicht genannt, es wird nur erzählt, dass Josephs Füße gewaschen werden. 72

73 Die

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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Seele ist meine Seele“ (JosAs 20,4). Nicht nur Aseneth ist von nun an Josephs Eigentum, metaphorisch ausgedrückt durch die Selbstbezeichnung „Sklavin“ (παιδίσκη), sondern auch Joseph wird von ihr in analoger Weise als ihr Eigentum betrachtet. Ihre Seelen sind  – nach Aussage der selbstbewussten Braut  – im wahrsten Sinne des Wortes eins. Indem Aseneth ihrem zukünftigen Ehemann Joseph die Füße wäscht, zeigt sie ihm ihre innige Liebe, sie wird dadurch jedoch weder als Sklavin noch als unterwürfige Ehefrau dargestellt (JosAs 20,2–6). Ihre Selbstbeschreibung als „Sklavin des Joseph“ ist ein metaphorischer Ausdruck für ihren Wunsch, ganz zu ihm zu gehören. Dass sich Aseneth selbst als Sklavin des Joseph beschreibt, ist möglicherweise auch im Kontext des vorausgehenden Handlungsverlaufs zu interpretieren, da Aseneth Joseph zunächst hochmütig verschmähte (JosAs 4,9–11), dies jedoch später bereute und sich wünschte, wenigstens als Sklavin des Joseph bei ihm sein zu können (vgl. JosAs 4,6–6,8). Auch narratologisch ist Aseneth hier die aktive Figur, welche die Handlung vorantreibt: Aseneth drängt Joseph regelrecht, dass er sich von ihr die Füße waschen lässt, sie deutet ihre Handlung im Sinne der Zugehörigkeit Josephs zu Aseneth und setzt sich im Anschluss selbst als aktive und selbstbewusste junge Frau zu seiner Rechten auf den väterlichen Thronsessel. Ein gemeinsames Festmahl schließt sich an (JosAs 20,8). Obwohl bei der Darstellung der Szene in JosAs 20 Sklavenmetaphorik verwendet wird, ist die Fußwaschung in diesem Kontext keineswegs ein niedriger oder gar typischer Sklavendienst74, sondern vielmehr ein Zeichen der intimen Liebe zwischen Mann und Frau, die sich gemäß der narratologischen Darstellung in diesem besonderen Fall gegenseitig an Schönheit und Klugheit und Glaubenstreue übertreffen.75 74 Auch bei Josephs erstem Besuch wird die Fußwaschung nicht als Sklavendienst dargestellt, sondern als Ausdruck der Gastfreundschaft, bei dem nur die Handlung an sich, nicht jedoch die ausführenden Subjekte erwähnt werden; vgl. JosAs 7,1. 75 Von David und Abigail wird überliefert, dass die Frau nicht nur dem begehrten Mann, sondern auch dessen Dienern oder Schülern die Fußwaschung anbietet. Als David seine Knechte als Boten zu Abigail schickt, die ihr den Heiratswunsch Davids übermitteln, signalisiert Abigail ihre Liebe und ihr Einverständnis mit der Hochzeit, indem sie den Knechten Davids anbietet, als ihre Sklavin ihre Füße zu waschen (1 Sam 25,41). In der Nacherzählung der Geschichte bei Josephus ist die Reaktion Abigails etwas zurückhaltender: Sie merkt an, dass sie nicht würdig sei, seine Füße zu berühren (Jos.Ant. 6.308). Es ist fraglich, ob Abigails Angebot, den Knechten als Repräsentanten Davids die Füße zu waschen, im Sinne von Unterwürfigkeit bewertet werden kann, da Abigail doch bereits in 1 Sam 25 als eine prophetisch, politisch selbstbewusst und klug agierende Frau beschrieben wird; vgl. Schmidt, Abigajil. Josephus weist explizit daraufhin, dass Abigail nicht primär wegen ihrer Schönheit, sondern wegen ihrer klugen und gerechten Lebensweise der Ehre dieser Hochzeit würdig gewesen sei (Jos.Ant. 6.308). Ein weiteres Beispiel nennt Kötting mit dem Hinweis: „Nicht alles, was in der jüd. Sozialordnung aussieht wie Sklavendienst, ist es.“ (Kötting, Fußwaschung, 757). Rabbi Eliezer habe seine Nichte, die bei ihm aufgewachsen ist, mehrfach gebeten, sich einen Mann zum Heiraten zu suchen, worauf sie antwortete, dass sie doch seine Magd sei, welche die Füße seiner Schüler wasche. Dies hat der Rabbi offensichtlich als Heiratswunsch ihm gegenüber verstanden und sie schließlich zur Frau

146

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Catull (85/87 v. Chr. – frühestens 55 n. Chr.), ein römischer Dichter aus Verona76, besingt in seinem 64. Gedicht eine weitere antike Heldin, die in Liebesdingen jedoch nicht so viel Glück wie Aseneth hat, die jedoch ebenfalls ihre Liebe in Form einer Fußwaschung zum Ausdruck bringt: Ariadna wird von Theseus zunächst geliebt, er nimmt sie jedoch nicht zur Ehefrau. Schließlich klagt die Verlassene ihr Leid und wirft Theseus vor, dass er sie doch – wenn er sie schon nicht heiratet – wenigstens als Sklavin in sein Haus aufnehmen könne, damit sie ihm auf diese Weise gerne dienen könne, indem sie seine Füße mit klarem Quellwasser liebkose und eine purpurfarbene Decke auf seinem Bett ausbreite.77 Welche Löwin hat dich geboren unter einsamen Felsen welches Meer dich empfangen und mit schäumenden Wellen ausgespuckt, welche Syrte, welche räuberische Skylla, welche wüste Charybdis, der du mir solchen Lohn gibst für die Rettung deines süßen Lebens? Wenn dir nicht am Herzen lag unser Ehebund, weil du die grausamen Vorschriften des strengen Vaters fürchtetest, hättest du mich dennoch zu eurem Wohnsitz führen können, damit ich dir als Sklavin mit willkommener Arbeit dienen würde, deine weißen Füße mit klarem Wasser umschmeichelnd oder eine Purpurdecke über dein Lager breitend. Doch was trage ich, ganz außer mir vor Leid, nutzlos meine Klagen vor den ahnungslosen Lüften, die weil sie keine Sinne haben, gesprochene Worte weder hören können noch erwidern? (Catull, Carmina 64.154–166)78

Auch in Catulls Gedicht werden – gerade auch mit der fast schon zärtlich anmutenden Beschreibung der Fußwaschung und dem sorgfältigen Herrichten einer verführerischen Liegestatt – wieder diejenigen Aufgaben von Ariadna in ihrer Rolle als Sklavin hervorgehoben, die auch in den Bereich der intimen Liebesbeziehung gehören. Nicht zuletzt durch die Wortwahl in diesen Versen erscheint Ariadna hier primär in der ersehnten Rolle der dauerhaften Geliebten, auch wenn sie dafür zu Theseus’ Sklavin werden muss. Es geht in diesem Text folglich nicht darum, typische Sklavendienste zu beschreiben, auch wenn die Fußwaschung und die Vorbereitung eines Bettes auch zu den Aufgaben von Sklavinnen und Sklaven gehören konnten. Die ausgewählten Tätigkeiten mit dem Richten des Bettes und der Fußwaschung beschreiben Ariadna vielmehr als Geliebte, die sie gerade bleiben oder zur Not als seine Sklavin wieder werden will.

genommen; vgl. den Text aus dem Traktat Avot de Rabbi Nathan bei Strack-Billerbeck, Kommentar III, 653. 76  Vgl. Gall, Catull, 156. 77  Vgl. Catull, Carmina 64, 158–163:si tibi non cordi fuerant conubia nostra, saeva quod horrebas prisci praecepta parentis, attamen in vestras potuisti ducere sedes, quae tibi iucundo famularer serva labore, candida permulcens liquidis vestigia lymphis, purpureave tuum consternens veste cubile; zitiert nach Holzberg, Catull, Carmina, 118. 78 Übersetzt nach Holzberg, Catull, Carmina 119.

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

147

Die Fußwaschung kann in einer Beziehung Liebe und Zuneigung ausdrücken, auch über den Tod hinaus, während die Ablehnung der Fußwaschung zeigen kann, dass der Geliebte in den Augen der Frau ihrer Liebe nicht länger wert ist.79 Athenaios berichtet von Diphilus, der nach einem Wettkampf unehrenhaft aus dem Theater geschickt wurde und von seiner Geliebten, Gnathaena zu Hause eine Fußwaschung erhofft. Sie verwehrt ihm jedoch diesen Liebeserweis mit der Begründung, dass er nicht in Ehren aufrecht auf seinen Füßen zu ihr gekommen sei (Athen. Deipn. 13.583–584).80 Meleager (ca. 130 v. Chr. – ca. 60 v. Chr.), der Epigramme in einer Anthologie zusammengestellt hat und dessen eigene Gedichte ihn als „einen begabten, rhetorisch geschulten und in der poetischen Tradition versierten Dichter“ ausweisen, kennt die „Paradoxien der Liebe“.81 In einem Gedicht über den verstorbenen Charidemus bittet dessen trauernde Geliebte, dass ein Bote ihre Tränen zum Olymp bringe, um damit seine Füße in Erinnerung an ihre Liebe zu waschen, die damit als erotische Handlung erscheint (Meleager, Anthologie 12.68): Ein gleiches Mag Charidemos denn gehen! Er schaut ja zu Zeus schon, der Schöne, gleichsam als gäb er bereits Nektar dem Gotte als Trank. Mag er denn gehen! Ich will nicht den König der himmlischen Götter zum Rivalen im Kampf, wenn um die Liebe es geht. Nimmt der Bub meine Tränen von hier zum Olympos nur mit sich, daß er die Füße drin wäscht und meiner Liebe gedenkt, ist es mir selber genug. Ich wünsche mir nur einen süßen, zärtlichen Blick noch von ihm und einen flüchtigen Kuß. Alles andre sei Zeus, so wie sich gebührt. Aber will er, fällt vielleicht noch für mich etwas Ambrosia ab. (Meleager, Anthologie 12.68)82

Auch bei der Fußwaschung an dem noch als Bettler verkleideten Odysseus im 19. Kapitel der Odyssee von Homer geht es nicht um einen üblichen Bestandteil der Gastfreundschaft, sondern vielmehr um die innige Beziehung zwischen ihm und seiner Ehefrau Penelope bzw. zwischen ihm und seiner alten Amme, die ihn gestillt und erzogen hat. Beide Frauen empfinden Trauer und eine tiefe Sehnsucht nach dem geliebten Hausherrn. Der Bettler, der Odysseus so ähnlich 79  Vgl. auch das Ritual, das einer Witwe zusteht, wenn ihr Schwager die Leviratsehe verweigert. Sie darf ihm als Ausdruck ihrer Verachtung einen Schuh vom Fuß ziehen und ihm ins Gesicht spucken (Dtn 25,7–10). „Diese Beschämung ist drastisch und wirkt sich auf den Namen des Schwagers und seines Hauses unauslöschlich aus“; Volgger, Levirat. 80  Vgl. Abschnitt 3.3.1. 81 Vgl. Gall, Meleager, 454. 82  Übersetzt nach Beckby, Anthologia IV, 47; Meleager, Anthologie 12.68.5–7: ἤν μοῦνον ὁ παῖς ἀνιὼν ἐς Ὄλυμπον ἐκ γῆς νίπτρα ποδῶν δάκρυα τἀμὰ λὰβῃ, μναμόσυνον στοργῆς·; zitiert nach Beckby, Anthologia IV, 46.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

ist und gute Nachrichten von ihm übermittelt, ruft tiefgehende Emotionen in den Frauen wach, die ihn mit einer Fußwaschung auf die Nacht vorbereiten wollen. Doch Odysseus will nicht von den spottenden Dienerinnen, sondern nur von der liebenden Amme berührt werden. Nur so ist die mit Berührung verbundene Waschung für ihn eine Annehmlichkeit. Die Amme Eurykleia, die des Bettlers Ähnlichkeit mit Odysseus deutlich wahrnimmt und ihn schließlich an einer Narbe beim Waschen der Füße erkennt, erledigt die Fußwaschung gern und freiwillig: So wie all diese Hündinnen hier dich spottend verhöhnen, Deren Beschimpfungen du und schmähende Reden vermeidend Dich nicht waschen läßt (οὐκ ἐάᾳς νίζειν), mir trug es nicht auf wider Willen Des Ikarios Tochter, die kluge Penelopeia, Darum wasche ich dir die Füße (τῶ σε πόδας νίψω), um Penelopeias und um deinetwillen, da mich in meinem Gemüte Kummer bewegt; (Hom.Od. 19,372–378)83

Auf der Grundlage relevanter antiker Texte zur Fußwaschung im Kontext intimer Beziehungen erscheint eine Interpretation der Aufforderung Davids an Uria, daheim seine Füße zu waschen (2 Sam 11,8), im Sinne von zu Hause zu schlafen und dadurch auch eine Gelegenheit zu schaffen, um mit seiner Frau Batseba intim zu werden, keineswegs abwegig.84 Einerseits zeigen gerade auch die Texte in Homers Odyssee, dass die Formulierung, sich selbst zu baden oder zu waschen, durchaus auch mit der Vorstellung verbunden sein kann, dass jemand anderes diese Waschung ausführt.85 Die Subjekte der Waschung werden in den Texten nicht immer präzise bestimmt. Andererseits wird bei den unterschiedlichen Belegen deutlich, wie etwa bei Homer (Hom.Od. 19), im Hohelied der Liebe (Hld 5,3), bei Juvenal 3,268–27786 oder im Talmud (zum Beispiel jKet 30a), dass die Waschung der Füße am Abend zur Vorbereitung auf den Schlaf dient.87 Gemäß 2 Sam 11,9 ignoriert Uria die Aufforderung Davids, seine Füße 83 Übersetzt nach Hampe, Odyssee, 609. Zu einer ausführlichen Besprechung der in Hom. Od. 19 dargestellten Ereignisse rund um die Fußwaschung, vgl. Abschnitt 3.2.4. 84 Vgl. Thomas, Footwashing, 32; Thomas diskutiert verschiedene Forschungspositionen zu der von Uria geforderten Fußwaschung, unter anderem die alltägliche Reinigung, ein Verständnis der Fußwaschung als Euphemismus für Geschlechtsverkehr sowie eine kultische Reinigung vor einem Heiligen Krieg. Die Fußwaschung reinige nach James Swetnam in diesem Fall von der Verunreinigung durch den Geschlechtsverkehr. Zurecht kritisiert Thomas die nur spekulative, da an Texten nicht belegbare Verbindung von Fußwaschung und ritueller Reinheit eines israelitischen Kriegers, vgl. a. a. O. 31–33. Vgl. dazu auch Abschnitt 3.2.2. Er selbst kommt zu dem Ergebnis, dass die Aufforderung zur Fußwaschung vermutlich nicht mehr bedeutet, als gemütlich daheim zu schlafen, a. a. O. 33. 85  Vgl. dazu ausführlich Abschnitt 3.2.6. 86 Vgl. Abschnitt 3.1. 87  Im Kontext von Hld 5,3 wird angesichts der Situation mit den verschiedenen Konnotationen der Fußwaschung als Handlung der täglichen Hygiene und als Vorbereitung auf das Schlafen gespielt, um zugleich erotische Konnotationen wachzurufen.

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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zu Hause zu waschen, indem er mit den anderen Soldaten vor dem Königshaus schläft. Im unmittelbaren literarischen Kontext werden also Fußwaschung und Schlafen verbunden. Außerdem ist zu bedenken, dass bei einer Rückkehr Urias in sein Haus die Ehefrau aus Liebe, verbunden mit der zu erwartenden Freude über die Anwesenheit ihres Mannes, dazu verpflichtet wäre, ihm vor dem Schlafen die Füße zu waschen und damit eine angesichts der Situation durchaus erotische Handlung durchzuführen. Die Aufforderung Davids an Uria, sich zu Hause die Füße zu waschen, würde also beinhalten, dass er zu Hause schläft und dass seine Frau als gute Ehefrau ihm vor dem Schlafen als erotisch konnotierte Handlung die Füße wäscht. Damit wäre eine Ausgangssituation geschaffen, die im Verlauf der weiteren Nacht Davids Problem lösen könnte, indem die von ihm verursachte Schwangerschaft der Batseba durch eine Liebesnacht mit ihrem Ehemann vertuscht werden könnte. Angesichts des dargestellten Befundes ist die Fußwaschung jedoch nicht als euphemischer Ausdruck für den Geschlechtsverkehr selbst zu verstehen, David fordert also Uria nicht einfach plump zum Geschlechtsverkehr auf. Er möchte jedoch, dass er komfortabel zu Hause schläft, dort die Füße wäscht bzw., präzise formuliert, von seiner Frau gewaschen bekommt und so eine Situation entsteht, die im Laufe der Nacht seine Probleme lösen würde. Von daher ist die Aufforderung Davids zwar nicht im Sinne der expliziten Forderung von Geschlechtsverkehr zu verstehen,88 aber David strebt doch in diplomatischer Manier auf sprachlich unverfängliche Art und Weise eine Situation an, die eine Übernachtung im eigenen Haus impliziert und damit auch den Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau mehr als nahelegt. Die Fußwaschung erscheint in diesen exemplarisch ausgewählten Texten aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen als intime Berührung, die sowohl durch die Ehefrau als auch durch Sklavinnen erfolgen kann. Eine freie Frau ist nur dem Ehemann gegenüber verpflichtet, das Bett zu machen und die Füße zu waschen, da es sich um Aufgaben handelt, die zum Bereich der intimen Liebesbeziehung gehören. Diese Beobachtung deckt sich mit den Vorstellungen des Jerusalemer Talmuds, die einer jüdischen Ehefrau nicht erlauben, diese Aufgaben an ihre Dienerinnen zu delegieren.89 Es ist gewissermaßen das Vorrecht der Ehefrau, mit der Fußwaschung – wie auch mit der Vorbereitung des Bettes und dem Servieren des Getränks – die intime Nähe zu ihrem Mann auszudrücken. Keiner der analysierten Texte legt nahe, dass Fußwaschung mit Sklavenarbeit gleichzusetzen wäre oder als typische Aufgabe einer Sklavin betrachtet wird. In JosAs 13,15 sind die drei Aufgaben des Bettmachens, der Fußwaschung und des Bedienens parataktisch dem ‚Sklavin Werden‘ und dem ‚als Sklavin Dienen‘ beigeordnet. Im 64. Gedicht von Catull sind Fußwaschung und Bettmachen angesichts der Thematik und der erotischen Wortwahl ebenfalls nicht als exem88 So

richtig Thomas, Footwashing, 33.  Vgl. z. B. jKet 30a.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

plarische Tätigkeiten einer Sklavin, sondern als erotische Handlungen einer verschmähten Geliebten dargestellt. Die dargestellten Szenen erklären sich vielmehr, wenn man von der Fußwaschung als einem Bestandteil der täglichen Hygiene ausgeht, der mit Berührung verbunden ist und zum Wohlbefinden beiträgt. Die Fußwaschung ist in den dargestellten Quellen je nach Situation mit unterschiedlichen Bedeutungsaspekten verbunden, welche von der Reinigung über die Aspekte Pflege und Verwöhnen bis hin zur Ehrerbietung, zum Liebeserweis und zur erotischen Intimität reichen.

3.2.3. Fußwaschung in der Schüler-Lehrer-Beziehung Interessant ist, dass unmittelbar im Anschluss an die Darstellung der Verpflichtung einer Witwe zur Mitarbeit im neuen Haushalt und dem Ausschluss der exklusiven Ehepflichten gegenüber dem neuen Hausherrn in bKet 96a90 auch die Verpflichtung eines Schülers verhandelt wird, für seinen Lehrer Dienstleistungen zu erbringen. R. Jehošua b. Levi sagte: Alle Arbeiten, die ein Sklave für seinen Herrn verrichten muß, verrichte auch ein Schüler für seinen Lehrer, ausgenommen den Schuh lösen. Raba sagte: Dies nur in Orten, wo man ihn nicht kennt, in Orten aber, wo man ihn kennt, ist nichts dabei. R. Aši sagte: Auch in Orten, wo man ihn nicht kennt, gilt dies nur dann, wenn er keine Tephillin anlegt, wenn er aber Tephillin anlegt, ist nichts dabei. R. Ḥija b. Abba sagte im Namen R. Joḥanans: Wenn jemand seinen Schüler hindert, ihn zu bedienen, so ist es ebenso, als würde er ihm eine Gnade vorenthalten, denn es heißt: der seinem Freunde Liebe versagt. R. Naḥman b. Jiçḥaq sagte, er bürdet ihm auch die Gottesfurcht ab, denn es heißt: und die Furcht vor dem Allmächtigen läßt er fahren. (bKet 96a)91

Zunächst wird festgehalten, dass der Schüler alle Aufgaben eines Dieners gegenüber seinem Lehrer verrichten soll, nicht jedoch das Lösen der Schuhe.92 Im  Vgl. Abschnitt 3.2.2.  Übersetzt nach Goldschmidt, Talmud V, 305 f. Die bei Goldschmidt kursiv gedruckten Textabschnitte beziehen sich wohl auf Hiob 6,14. Vgl. dazu auch jPea 15c,41–46, wo das Gewähren der Fußwaschung als mögliche Verehrung der Mutter durch den Sohn in Übereinstimmung mit dem vierten Gebot angesehen wird. 92 Unter dem Lösen der Schuhe ist wohl das Waschen und möglicherweise auch Salben der Füße zu verstehen, vgl. Plato Symp. 213b: Εἰπεῖν οὖν τὸν Ἀγάθωνα Ὑπολύετε, παῖδες, Ἀλκιβιάδην, ἵνα ἐκ τρίτων κατακέηται; zitiert nach Boll/Buchwald, Plato, Symposion, 112; vgl. Abschnitt 3.2.6. Von der Situation her legt es sich nahe, dass die Diener dem spät ankommenden Gast Alkibiades die Füße waschen sollen, bevor er sich zu Tische legt. Noch deutlicher erkennbar ist die Beschreibung „Schuhe zu lösen“ als pars pro toto bei Plut. Pomp. 73,6 f.: Favonius, beobachtet, wie Pompeius sich vor dem Abendessen „selbst die Schuhe ausziehen will, und er steht auf, hilft ihm beim Ausziehen der Schuhe und beim Salben“ (ἰδὼν ὁ Φαώνιος οἰκετῶν ἀπορίᾳ τὸν Πομπήϊον ἀρχόμενον αὑτὸν ὑπολύειν προσέδραμε καὶ ὑπέλυσε καὶ συνήλειψε.; Plut. Pomp. 73,6 f.); zitiert nach Perrin, Plutarch’s lives V, übersetzt nach Ziegler, Plutarch. Große Griechen und Römer III, 243. Der Text legt nahe, dass hier beim Ausziehen der Schuhe auch das Waschen 90 91

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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Anschluss daran wird dieses Verbot aber sofort eingeschränkt: Dort, wo er als Schüler bekannt oder durch seine Tephillin als solcher erkennbar ist, darf er seinem Lehrer auch die Schuhe lösen.93 Ein Verbot dieses Dienstes könnte nach der Meinung der Rabbinen sogar dahingehend gedeutet werden, dass der Lehrer dem Schüler seine Liebe vorenthält und ihm die Gottesfurcht begrenzt. Mit der Anspielung auf Hiob 6,14, wo Hiob festhält: „Wer seinem Freund die Treue versagt, der verlässt die Furcht des Allmächtigen“94, wird der Schüler dabei nicht mehr als Schüler, sondern als Freund seines Lehrers bezeichnet. Offensichtlich handelt es sich hier beim Lösen der Schuhe um einen Liebeserweis des Schülers gegenüber seinem Lehrer, der zugleich seine Gottesfurcht zeigt. Wenn der Lehrer diesen Dienst annimmt, erweist er seine Liebe zu seinem Schüler und ermöglicht ihm Gottesfurcht. Mit Blick auf das Verbot, dem Lehrer die Füße zu waschen, wenn man den Schüler nicht kennt und ihn deshalb mit einem Sklaven verwechseln könnte95, ist in dem gegebenen Kontext zu vermuten, dass hier die Grenze zwischen freundschaftlichem Liebeserweis und intimer Berührung problematisiert wird: Über seinen Sklaven verfügt ein Herr auch in körperlichsexueller Hinsicht, so dass die Fußwaschung als intime Berührung gelten oder missverstanden werden kann.96 Ein jüdischer Lehrer hat jedoch die sexuelle Integrität seiner Schüler zu respektieren und dies soll für Außenstehende offensichtlich durch den Verzicht auf die Fußwaschung deutlich gemacht werden, wenn der Schüler nicht als solcher bekannt ist.97 In diesem Zusammenhang ist auch 2 Kön 3,11 relevant: Elisa wird als Prophet des Herrn beschrieben und vorgestellt als einer, der Elia Wasser zum Waschen über die Hände gegossen hat. Kötting bezeichnet dies als Dienst, der „wie der Füße impliziert ist, so dass sich danach das Salben der Füße sinnvoll anschließt; vgl. zur Stelle Abschnitt 3.3.1. Auch Abigail, die nach 1 Sam 25,41 anbietet, Davids Knechten die Füße zu waschen, antwortet nach Jos.Ant. 6.308, dass sie nicht würdig sei, Davids Füße zu berühren. 93  Vgl. auch MekhJ zu Ex 21,2. Hier werden Tätigkeiten, die offensichtlich alle im Kontext eines öffentlichen Besuchs im Badhaus stattfinden, das Waschen der Füße, das Anziehen der Schuhe, das Tragen seiner Sachen auf dem Weg zum Badhaus, das Stützen an den Hüften und das Tragen in einem Sessel oder einer Sänfte, für den hebräischen Sklaven verboten, dem Sohn und dem Schüler sind diese Tätigkeiten aber explizit gestattet. Vgl. dazu Abschnitt 3.3.3. 94  Übersetzt nach der Elberfelder Übersetzung. Auch in Joh 15,15 werden die Jünger Jesu zu seinen Freunden erklärt. 95 Vgl. auch die Ausführungen zu Lev 25 in MekhJ zu Ex 21,2 für einen jüdischen Sklaven; dazu Abschnitt 3.3.3. 96  Vgl. Jos.Ant. 16.230, der von den explizit als hübsch bezeichneten Eunuchen des Königs Herodes berichtet, die ihn mit Essen und Trinken versorgen und ihn ins Bett bringen. Eine Fußwaschung ist hier nicht erwähnt. Auch mit Blick auf Petronius, Satyricon 70.8 sind aufgrund des Kontextes homosexuelle Konnotationen bei der Darstellung der gastfreundschaftlichen Fußwaschung durch Sklaven zu vermuten. 97  Vgl. dazu auch jKet 30a (s. Abschnitt 3.2.2.), wo eine homosexuelle Beziehung zwischen Ehemann und einem männlichen Sklaven bei den Begründungen nicht einmal in Erwägung gezogen wird, während die Fußwaschung durch eine Sklavin offensichtlich aufgrund einer möglichen sexuellen Beziehung zwischen ihr und dem Ehemann verboten wird.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

die Fußwaschung zu den Liebesdiensten der Frau u. des Schülers“ gehörte.98 Zwischen den Liebeserweisen einer Frau und den Dienstleistungen im Sinne von Ehrerweisen eines Schülers ist jedoch zu unterscheiden. Dass nicht nur ein Schüler, sondern auch weitere Personen einem angesehenen Lehrer durch die Fußwaschung eine Ehre erweisen können, zeigt bereits die kurze Erzählung in jPea 15c,41–46: Die Mutter von Rabbi Jischmael will diesem als Zeichen ihrer Verehrung die Füße waschen.99

3.2.4. Gastfreundschaft mit und ohne Fußwaschung nach Homer Die Gastfreundschaft ist ein Thema, das in der antiken Literatur und Philosophie häufig angesprochen wird und die Bedeutung der gastfreundlichen Aufnahme von Freunden und auch Fremden in der griechischen und römischen Kultur zeigt.100 Bereits die homerischen Epen belegen die hohe Bedeutung der Gastfreundschaft und der damit verbundenen Rituale. „Bad, Neueinkleidung und die Darreichung von Kleidergaben und Trinkgefäßen gehörten im homer. Epos zum Ritual der G., das zur Integration des Fremden in die häusliche Gemeinschaft und der lokalen Tischgemeinschaft führte und daher von Männern und Frauen vollzogen wurde (Hom.Od. 4,48–58; 8,430–432; 15,125–127; Xen. an. 7,3,16).“101 Homer (Mitte 8. Jh.v. Chr.)102 erzählt in der Odyssee wiederholt, dass und wie Gäste empfangen werden. Eine umfassende gastfreundliche Aufnahme erwartet zum Beispiel Telemachus und Peisistratus, die im Haus von Menelaus aufgenommen werden (Hom.Od. 4). Sie erhalten zunächst das Angebot, sich im Bad selbst zu baden (ἔς ῥ’ ἀσαμίνθους βάντες ἐϋξέστας λούσαντο; Hom.Od. 4,48).103 Doch unmittelbar im Anschluss daran wird erzählt, dass Sklavinnen die beiden baden und mit Ölivenöl salben, bevor sie diese neu einkleiden (τοὺς δ’ ἐπεὶ οὖν δμῳαὶ λοῦσαν καὶ χρῖσαν ἐλαίῳ, ἀμφὶ δ’ ἄρα χλαίνας οὔλας βάλον ἠδὲ χιτῶνας; Hom. Od. 4,49 f.). Sprachlich fließen hier also die gastfreundliche Ermöglichung, sich selbst zu baden, und der Service des Gastgebers ineinander, durch Sklavinnen gebadet, gesalbt und eingekleidet zu werden. Offensichtlich ist mit dem Angebot an die Gäste, sich (selbst) baden zu können, bereits auch die Möglichkeit impliziert, dass sie von Dienern bzw. Dienerinnen gebadet werden. Nach dem Bad, dem Salben und Einkleiden werden die Gäste zu ihren Plätzen geführt. Vor  Kötting, Handwaschung, 580.  Vgl. Abschnitt 3.2.1. 100 Vgl. Hiltbrunner/Gorce/Wehr, Gastfreundschaft, 1061–1123; Hiltbrunner, Gastfreundschaft in der Antike; Wagner-Hasel, Gastfreundschaft III. 101  Wagner-Hasel, Gastfreundschaft III. 102 Vgl. Bernard, Homer, 332 f. 103 Die Texte der Odyssee werden zitiert nach Von der Mühll, Homeri Odyssea.  98  99

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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dem Essen wird für sie dort aus einem Wasserkrug Wasser in eine silberne Schale geschüttet, so dass sie sich noch einmal (die Hände) waschen können (χέρνιβα δ’ ἀμφίπολος προχόῳ ἐπέχευε φέρουσα καλῇ χρυσείῃ, ὑπὲρ ἀργυρέοιο λέβητος, νίψασθαι; Hom.Od. 4,52–54).104 Nach einem Vollbad wird hier also unmittelbar vor dem Essen noch eine (Teil-)Waschung der Hände durchgeführt.105 Im Anschluss findet die Mahlzeit statt. Eine gesonderte Fußwaschung wird nicht erwähnt. Eine weitere Beschreibung einer gastfreundschaftlichen Aufnahme findet sich zu Beginn des Epos, wobei der Service hier nicht so umfassend ist. Athene in Gestalt des Mentes wird von Telemachus gastfreundlich aufgenommen, indem er sie zu einem schön hergerichteten Stuhl bei Tisch führt und ihr von Dienern – vor der Mahlzeit – die Hände durch Übergießen waschen lässt (Hom.Od. 1,144– 147).106 Hiltbrunner führt Hom.Od. 7,133–174 als typisches Beispiel einer gastfreundlichen Aufnahme an.107 Odysseus wird nach seiner Aufnahme im Haus des Alkinoos zu einem Sessel geführt und kann vor dem Mahl seine Hände waschen. Im dritten Kapitel erfahren wir, dass Telemachus am zweiten Tag seines Aufenthalts im Hause Nestors als Gast gebadet und gesalbt wird. Telemachus, der bereits eine Nacht bei Nestor verbracht hat, wird erst am zweiten Tag und damit vor seinem Abschied mit einem festlichen Mahl bewirtet (Hom.Od. 3,464–497). In diesem Fall ist es die jüngste Tochter des Gastgebers, die Telemachus badet und salbt und kleidet (Hom.Od. 3,464–467)108. Das Baden und Ölen wird hier 104  Ein ähnlicher Ablauf wird auch in Hom.Od. 8,416–468 beschrieben. An dieser Stelle zeigt sich, dass wir die kulturellen Gepflogenheiten der Antike nicht mit unserem modernen Hygieneverständnis analysieren dürfen. Wenn zum Beispiel Fridrichsen bei der Analyse von Joh 13,9 f. selbstverständlich voraussetzt, dass die Jünger vor dem Mahl gebadet hätten und dass nach einem Vollbad „natürlich die Händewaschung weg[fällt]“, geht er von modernen Vorstellungen aus. Der von ihm angenommene „alte jüdische Grundsatz: ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν νίψασθαι“ konnte bis heute nicht verifiziert werden, weil es ihn nicht gab; Fridrichsen, Bemerkungen, 96. Auch im Judentum ist, zum Beispiel für die Priester, durchaus belegt, dass nach einem Vollbad noch Hände und/oder Füße gewaschen werden; vgl. Abschnitt 3.4. 105 Eine Handwaschung, aber keine Fußwaschung, im Anschluss an ein Bad und unmittelbar vor der Mahlzeit findet sich z. B. auch in Od. Hom. 7,133–174; 8,416–468; 17,91–93. Damit ist eine Interpretation des Langtextes von Joh 13,10 im Sinne eines vorangehenden Vollbades und einer sich anschließenden Teil-Waschung der Füße durchaus im Rahmen der antiken Gepflogenheiten vorstellbar. Problematisch bei dieser Deutung bleibt jedoch der Hinweis auf die bereits vorhandene Reinheit der Jünger in 13,10 f., welche als starkes inhaltliches Argument gegen den Langtext spricht. Zur Handwaschung vgl. Kötting, Handwaschung, 575–584. 106  Hom.Od. 1,144–147: ἐς δ’ ἦλθον μνηστῆρες ἀγήνορες· οἱ μὲν ἔπειτα ἑξείης ἕζοντο κατὰ κλισμούς τε θρόνους τε. τοῖσι δὲ κήρυκες μὲν ὕδωρ ἐπὶ χεῖρας ἔχευαν, […]. Eine Handwaschung durch Übergießen der Hände bei Tisch vor der Mahlzeit ohne ein Bad findet sich z. B. auch in Hom.Od. 7,172–174; 15,125–127. Auch als Abschluss des Symposiums und vor der Trankspende werden noch einmal die Hände gewaschen; vgl. Hom.Od. 3,330–341; detaillierte Informationen bei Athen. Deipn. 9.408–411; vgl. den Überblick bei Kötting, Handwaschung, 575–585. 107  Hiltbrunner, Gastfreundschaft, 1081 f. 108  Hom.Od. 3,464–467: τόφρα δὲ Τηλέμαχον λοῦσεν καλὴ Πολυκάστη, Νέστορος ὁπλοτάτη θυγάτηρ Νηληϊάδαο. αὐτὰρ ἐπεὶ λοῦσέν τε καὶ ἔχρισεν λίπ’ ἐλαίῳ, ἀμφὶ δέ μιν φᾶρος καλὸν βάλεν ἠδὲ χιτῶνα;

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

als besonderer Ehrerweis gegenüber dem Gast Telemachus verstanden, der durch die Kinder des Hauses ausgeübt wird, ohne dass es deren Status mindert. Eine gewisse erotische Konnotation mit Blick auf die Beziehung zwischen der Tochter und dem mutigen und reichen Telemachus mag hier durchaus mitschwingen, wird aber nicht expliziert. Im Schutzraum des väterlichen Hauses hat diese Reinigung durch die Tochter offensichtlich weder für sie selbst noch für Telemachus einen ehrenrührigen Beigeschmack. In einem anderen Textabschnitt wird der erotisch-intime Aspekt einer solchen Handlung jedoch explizit mitbedacht: Als Nausicaa, Tochter des Alkinoos, mit ihren Jungfrauen im Fluss ihre Kleider wäscht, stoßen sie auf den unbekleideten Odysseus, der dort nach einer Seenot gestrandet ist. Nachdem Odysseus die jungen Frauen höflich-distanziert begrüßt hat, bietet Nausikaa an, ihn im Fluss zu baden und danach zu bewirten. Odysseus macht dies aus Scham jedoch selbst, bekommt dazu Öl und Kleider von den jungen Frauen und wird abschließend mit Essen versorgt (Hom.Od. 6,198–250). Auch im Verlauf der weiteren, sich an das Bad anschließenden Handlung ist Odysseus darauf bedacht, die jungen Frauen nicht zu kompromittieren, und hält sich stets in einem angemessenen Abstand zu ihnen. Die Epen Homers gelten im griechischen und römischen Kontext als prägend für die Vorstellung der Gastfreundschaft. Hiltbrunner hält fest: „Sowohl in Griechenland wie unter griechischem Kultureinfluß im römischen Reich orientiert sich die Idee der G. dauernd an den von Homer gesetzten Normen“.109 Eine explizit erwähnte Fußwaschung spielt jedoch in all diesen von Homer ausführlich beschriebenen Szenen einer gastfreundlichen Aufnahme keine Rolle! Auch in den Tischgesprächen des Athenaios erfahren wir nur einmal ganz nebenbei etwas von Fußwaschungen, wenn das schmutzige Wasser vom Waschen der Hände und Füße beschrieben wird.110 Dennoch wird in der Sekundärliteratur die Fußwaschung als charakteristische Waschung im Kontext der Gastfreundschaft in der Regel mit Homer begründet. Im Gegensatz dazu ist hier als auffälliger Befund festzuhalten, dass eine Fußwaschung bei literarischen Darstellungen zur Gastfreundschaft im Kontext der gastfreundlichen Aufnahme kaum eine Rolle spielt.

 Hiltbrunner, Gastfreundschaft, 1082. Athen. Deipn. 9.409 f. Der gesamte Abschnitt Athen. Deipn. 9.408–411 dreht sich jedoch vor allem um die Praxis der Handwaschung. 109

110 Vgl.

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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3.2.5. Die Fußwaschung Eurykleias an Odysseus als besondere Fußwaschung für den Hausherrn als ungewöhnlichen Ehrengast Untersuchungen zur Fußwaschung verweisen meistens grundlegend auf Hom. Od. 19 und dessen Rezeptionsgeschichte111, um die Fußwaschung als typischen Sklavendienst im Kontext der Gastfreundschaft zu belegen. Doch weder geht es in Od. 19 um eine Fußwaschung als typischen Sklavendienst, noch stehen die gastfreundliche Aufnahme in das Haus oder die Teilnahme an einem Gastmahl im Zentrum der ausführlich erzählten Fußwaschung. Die Analyse wird zeigen, dass in Hom.Od. 9 mit der Fußwaschung vor allem die Bedeutungsaspekte der angenehmen oder unangenehmen Berührung, der Vorbereitung auf das Schlafen, des Ehrerweises für einen besonders geschätzten Menschen und die innig-vertraute Beziehung zu dem vermissten Hausherrn, den die Sklavin als Amme großgezogen hat, eine Rolle spielen. Odysseus wurde bereits einige Zeit vorher als unerkannter Fremder und unerwünschter Bettler in seinem eigenen Haus gastfreundlich aufgenommen und mit Essen und Trinken versorgt (Hom.Od. 17,328–395), ohne dass ein Vollbad, eine Fuß- oder Handwaschung erwähnt werden. Der späteren Fußwaschung geht ein längeres Gespräch der Hausherrin Penelope mit Odysseus voraus, den sie in seiner Verkleidung als Bettler nicht als ihren Ehemann erkennt. Erst nach dieser ausführlichen Unterhaltung, in der Penelope zuversichtlich stimmende Informationen über das Schicksal ihres Ehemannes erhält, sieht sie in dem Gast nicht mehr einen hilfsbedürftigen Bettler, dem man die Gastfreundschaft nun einmal schuldig ist, sondern einen besonders ehrenwerten Gast (Hom.Od. 19,220–307). Nachdem Odysseus ihr die Rückkehr ihres Ehemannes prophezeit hat (Hom.Od. 19, 308 ff.), weist Penelope ihre Sklavinnen an, den Fremden zu waschen (ἀπονίψατε) und ein Bett zu richten; am Morgen danach soll er gebadet und gesalbt werden, bevor es ein Mahl gibt (Hom.Od. 19,317–322).112 ,Möge sich doch dies Wort, o Fremder, wirklich erfüllen; Freundschaft empfingest du bald von mir und viele Geschenke, So daß jeder, der dir begegnete, selig dich priese. Aber schon ahnt es mir im Herzen, wie es geschehn wird: Weder kehrt Odysseus nach Haus, noch wirst ein Geleit du Selber finden; es sind ja keine Gebieter im Hause, Wie es Odysseus war unter Männern – wenn je er gewesen –, Die zu ehrende Fremde geleiteten oder empfingen.

111  Vgl. zum Beispiel Kötting, Handwaschung, 745–747; Thomas, Footwashing, 46 f. Niemand sieht in dieser Szene immerhin eine Bedeutungskombination aus einer Gastfußwaschung und einem Liebeserweis; vgl. Niemand, Fußwaschungserzählung, 180 f. 112  Hom.Od. 19,317–322: ἀλλά μιν, ἀμφίπολοι, ἀπονίψατε, κάτθετε δ’ εὐνήν, δέμνια καὶ χλαίνας καὶ ῥήγεα σιγαλόεντα, ὥς κ’ εὖ θαλπιόων χρυσόθρονον Ἠῶ ἵκηται. ἠῶθεν δὲ μάλ’ ἦρι λοέσσαι τε χρῖσαί τε, ὥς κ’ ἔνδον παρὰ Τηλεμάχῳ δείπνοιο μέδηται ἥμενος ἐν μεγάρῳ.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Aber ihr Mägde, wascht ihm die Füße (ἀπονίψατε) und richtet ein Lager, Eine Bettstatt und Decken darüber und schimmernde Laken, Daß er, sich gut wärmend, den goldenen Morgen erreiche. Morgen sollt ihr ihn dann in der Frühe baden und salben (λοέσσαι τε χρῖσαί τε), Daß er drin in der Halle, neben Telemachos sitzend, Dann des Mahles gedenke, […]. (Hom.Od. 19,309–322)113

Das Verbum ἀπονίζω bzw. ἀπονίπτω wird für eine (Teil-) Waschung verwendet, vor allem für das Waschen der Füße und/oder der Hände.114 Auch wenn hier zunächst im griechischen Text nicht eindeutig ausgedrückt wird, welche Körperteile gewaschen werden sollen, ist vor dem Schlafengehen doch am ehesten an ein Waschen der Füße zu denken. Dies wird durch die weitere Handlung in Hom. Od. 19,343 f. explizit bestätigt. Damit ist festzuhalten: Die Fußwaschung an dem als Fremden verkleideten Odysseus ist nicht mit einer Mahlzeit verbunden, sondern bereitet ihn auf das Schlafen vor. Penelope erweist dadurch dem Gast, den sie (erst) nach seinen Reden nicht mehr als bemitleidenswerten Bettler, sondern als liebens- und verehrenswerte Person betrachtet, eine – besondere – Ehre. Odysseus jedoch möchte das Angebot, im Haus der Penelope zu schlafen, mit Verweis auf sein Schicksal nicht annehmen (Hom.Od. 337–340). Das Waschen der Füße lehnt er mit der Begründung ab, dass die Fußwaschung für ihn kein Vergnügen darstelle und er nicht von einer der Dienerinnen berührt werden wolle (οὐδέ τί μοι ποδάνιπτρα ποδῶν ἐπιήρανα θυμῷ γίνεται· οὐδὲ γυνὴ ποδὸς ἅψεται ἡμετέροιο τάων; Hom.Od. 19,343–345). ‚Liegen möcht ich, wie sonst ich lag in schlaflosen Nächten. Viele Nächte verbrachte ich so auf ärmlichem Lager Und erwartete Eos, die Göttin auf prächtigem Throne. Und nicht ist mir erwünscht, daß mir für die Füße ein Fußbad Werde, und keine der Frauen möge den Fuß mir berühren, Derer, die hier im Haus als Arbeitsmägde beschäftigt, Außer wenn da eine Greisin ist, eine sorgliche Alte, Welche bereits so viel im Leben ertrug wie ich selber, Der verwehrte ich nicht, die Füße mir zu berühren.‘ (Hom.Od. 19,341–348)115

Gerade durch diese unerwartete Ablehnung des Odysseus’ werden wesentliche Bedeutungsaspekte der Fußwaschung formuliert und auch für die heutigen Leserinnen und Leser erkennbar: Offensichtlich sind die Annehmlichkeit und die Berührung für Odysseus zentrale Aspekte einer Fußwaschung, die er aber aus gegebenem Anlass nicht schätzen kann: Manche der Sklavinnen Penelopes haben den als Bettler verkleideten Odysseus vorher bereits wiederholt verspottet und verärgert (vgl. Hom.Od. 18,321–336; 19,65–69). Die Fußwaschung und die damit  Übersetzt nach Hampe, Odyssee, 605–607.  Vgl. Liddell/Scott, ad verbum. 115 Übersetzt nach Hampe, Odyssee, 607. 113 114

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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verbundene Berührung durch eben diese Sklavinnen, die für Odysseus eigentlich angenehm sein sollten, wären ihm deshalb unangenehm und werden abgelehnt. Odysseus räumt dann jedoch ein, dass er nichts dagegen habe, wenn eine treue, alte Frau, die selbst schon Leid in ihrem Leben erfahren habe, seine Füße berühre (εἰ μή τις γρηῦς ἐστι παλαιή, κεδνὰ ἰδυῖα, ἥ τις δὴ τέτληκε τόσα φρεσὶν ὅσσα τ ’ ἐγώ περ· τῇ δ’ οὐκ ἂν φθονέοιμι ποδῶν ἅψασθαι ἐμεῖο; Hom.Od. 18,345–348). Zum zweiten Mal wird damit sprachlich explizit die Berührung hervorgehoben, die mit der Fußwaschung verbunden ist. Die Berührung steht hier sogar als Substituens für die Fußwaschung. Angenehm und erwünscht ist eine Fußwaschung für Odysseus nur dann, wenn eine Frau weise, lebenserfahren und ihm gegenüber loyal ist. Penelope schlägt daraufhin Eurykleia vor, die Sklavin, die Odysseus bereits als Baby und Kind versorgt hat – was hier auch die Lesenden erfahren –, und beauftragt sie mit der Fußwaschung, auch wenn Eurykleia schon sehr alt ist (Hom. Od. 19,350–360). ‚Lieber Gast, denn es kam mir nie von den Fremden der Ferne Ein verständiger Mann ins Haus, der lieber mir wäre; Alles, was du da sagst, ist wohlüberlegt und verständig. Ja, mir ist eine Alte, die kluge Gedanken im Sinn hat, Die den Unglückseligen gut ernährte und aufzog Und auf die Arme ihn nahm, als die Mutter ihn eben geboren; Die soll die Füße dir waschen, auch wenn sie an Kräften nur schwach ist. Stehe nun auf und komm, verständige Eurykleia, Wasche den Altersgenossen deines Gebieters; Odysseus Ist nun wohl schon auch ein solcher an Füßen und Händen; denn es altern die Menschen rasch in Kummer und Elend.‘ (Hom.Od. 19,350–360)116

Die Amme Eurykleia erinnert sich daraufhin voll Wehmut an ihren Herrn, der möglicherweise an einem anderen Ort von anderen Sklavinnen genauso schamlos wie der Fremde hier behandelt wird und ebenfalls eine Fußwaschung ablehnen würde (Hom.Od. 19,361–374). ‚O mir, um dich, mein Kind, ich Ratlose; über die Maßen Haßte dich unter den Menschen Zeus, so fromm du gesinnt warst. Hat dem donnerfreudigen Zeus doch keiner so viele Fette Schenkel verbrannt und erlesene Festhekatomben, Wie du sie ihm gegeben, betend, du mögest gelangen In ein glänzendes Alter, den strahlenden Sohn zu erziehen. Nun hat er dir allein geraubt den Tag deiner Heimkehr. Also treiben wohl auch ihren Spott die Weiber mit jenem Unter den Fremden der Ferne, wenn er in ihr rühmliches Haus kommt. So wie all diese Hündinnen hier dich spottend verhöhnen, Deren Beschimpfungen du und schmähende Reden vermeidend Dich nicht waschen läßt (οὐκ ἐάᾳς νίζειν), mir trug es nicht auf wider Willen 116 Übersetzt

nach Hampe, Odyssee, 607–609.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Des Ikarios Tochter, die kluge Penelopeia, Darum wasche ich dir die Füße (τῶ σε πόδας νίψω), um Penelopeias Und um deinetwillen, da mich in meinem Gemüte Kummer bewegt; doch auf, und höre nun, was ich dir sage: Viele leiderprobte Fremde kamen hierher schon, Aber noch keiner, meine ich, habe so ähnlich gesehen, Wie an Gestalt und Stimme und Füßen du gleichst dem Odysseus.‘ (Hom.Od. 19,363– 381)117

Aus Treue zu ihrer Hausherrin und in Erinnerung an ihren eigenen Herrn Odysseus, dem der Fremde so ähnlich ist, wäscht sie seine Füße jedoch gern (Hom. Od.19,374–381). Eurykleia bereitet sorgfältig ein heißes Fußbad vor und erkennt dann beim Waschen – genauer gesagt beim Berühren des Beines – an einer Narbe, dass Odysseus selbst vor ihr sitzt, der sich diese Narbe als Kind zugezogen hat (Hom.Od. 19,386–396.467–475). Die Fußwaschung wird hier also mit der innigen Beziehung, die zwischen der ehemaligen Amme und Odysseus besteht, auf das Engste verwoben. Als die alte Magd ihren geliebten Odysseus schließlich bei der Berührung erkennt, kippt sie vor lauter Erschrecken und Freude sogar das Fußwaschwasser aus. Penelope hat von dem emotionalen Zwischenfall nichts mitbekommen, und Odysseus drängt Eurykleia mit deutlichen Worten bzw. Gesten zum Verschweigen seiner Identität, bevor sie endlich seine Füße wäscht und mit Öl salbt (Hom.Od. 19, 476–507), nun im Wissen um die Identität des Fremden.118 Also sprach er; die Alte jedoch ging hinaus aus der Halle, Um ein Fußbad zu bringen; das erste war alles verschüttet. Als sie ihn nun gewaschen und eingerieben mit Salböl, Rückte Odysseus wieder den Sessel näher zum Feuer, Sich zu wärmen, verhüllte die Narbe jedoch mit den Lumpen. Und es begann mit Worten die kluge Penelopeia: ,Fremder, nur noch ein weniges möcht ich dich selber befragen; Denn es naht schon bald die Stunde erquickenden Schlummers Dem, den süßer Schlaf überkommt, auch wenn er bekümmert. Mir jedoch beschied unendlichen Kummer ein Dämon; (Hom.Od. 19,503–512)119

Die ausführliche Beschreibung der Ereignisse rund um die Fußwaschung im 19. Gesang der Odyssee Homers lässt also zahlreiche Informationen über die Fußwaschung deutlich werden, die ansonsten in kurzen Erwähnungen von Fußwaschungen in anderen Texten nicht thematisiert werden: Zu den Aufgaben der Sklavinnen gehört gemäß der Aufforderung Penelopes (Hom.Od. 19,317–322), dem nun als Ehrengast behandelten Fremden als Vor117 Übersetzt

nach Hampe, Odyssee, 609.  Hom.Od. 503–505: ὣς ἄρ’ ἔφη, γρηῢς δὲ διὲκ μεγάροιο βεβήκει οἰσομένη ποδάνιπτρα· τὰ γὰρ πρότερ’ ἔκχυτο πάντα. αὐτὰρ ἐπεὶ νίψεν τε καὶ ἤλειψεν λίπ’ ἐλαίῳ. 119 Übersetzt nach Hampe, Odyssee, 617. 118

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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bereitung auf das Schlafen die Füße zu waschen und ihm ein Bett zu richten, ihn am nächsten Morgen zu baden und mit Öl zu salben und ihn dann zum Frühstück zu bringen. Die Sklavinnen widersprechen dieser Anweisung nicht, sie würden diese also vermutlich selbstverständlich  – wenn auch mit Verachtung gegenüber dem Bettler  – ausführen. Die Fußwaschung ist eine von mehreren Handlungen, die hier selbstverständlich als eine der Aufgaben der Sklavinnen genannt wird. Odysseus ist es, der die Sklavinnen bereits von ihrer wahren Seite kennengelernt hat und eine Fußwaschung von ihnen deshalb ablehnt. Nur eine treue und weise Frau soll seine Füße bei der Fußwaschung berühren, damit es ihm angenehm ist. Spätestens ab diesem Zeitpunkt geht es also nicht mehr um die Aufgaben von Sklavinnen, sondern um die mit der Fußwaschung verbundene Nähe, um Wertschätzung und Berührung, die für den Gast und unerkannten Hausherrn angenehm sein soll. Auch Eurykleia verrichtet die Fußwaschung nicht als einen typischen Sklavendienst, den sie nur aus Gehorsam gegenüber ihrer Herrin, das heißt wegen Penelope, aber ansonsten ungern ausführen würde, wie man häufig in der Sekundärliteratur zum Thema ‚Fußwaschung‘ lesen kann, unter anderem grundlegend bei Kötting, der immer wieder zitiert wird.120 Gegen diese Interpretation der Fußwaschung Eurykleias als unbeliebter Sklavendienst spricht die literarische Gestaltung des Abschnitts, insbesondere die Charakterisierung der alten Amme: Bereits in der Beauftragung Eurykleias verweist Penelope auf ihre Weisheit, aber auch auf das Alter und die Ähnlichkeit, die den Gast mit Odysseus verbindet, zu dem Eurykleia als Amme eine innige, mütterliche Beziehung hat. Die Aussage über Eurykleias Reaktion in Hom.Od. 19,374 f.121 ist deshalb so zu interpretieren, dass sie die Fußwaschung „nicht unfreiwillig“ (οὐκ ἀέκουσαν) im Sinne einer doppelten Verneinung und damit „freiwillig“, das heißt gerade aufgrund eines eigenen Antriebs ausführt. Eine deutsche Übersetzung mit „willig“ gibt die Bedeutung des mit Alpha privatum verneinten Adjektivs nicht korrekt wieder, da die doppelte Verneinung im Griechischen deutlich macht, dass es ohne Zwang geschieht, sie also nicht einfach „willig“ erledigt, was ihre Herrin verlangt, sondern vor allem aufgrund ihrer Beziehung zu dem in ihren Gedanken anwesenden Herrn. In Hom.Od. 19,376 f. erfahren die Lesenden explizit, dass sie die Füße nicht nur wegen ihrer Herrin, sondern auch wegen des Fremden selbst wäscht.

120  Kötting, Fußwaschung, 746: „Die F. soll eine Auszeichnung für Odysseus sein, denn Eurykleia findet sich nur ‚Penelopes wegen‘ (Od. 19,376) zu diesem Sklavendienst bereit“. Während der erste Teil des Satzes die Bedeutung der Fußwaschung an dieser Stelle zutreffend beschreibt, ist der zweite Teil schlicht und ergreifend falsch. 121 Hom.Od. 19,374–378: ἐμὲ δ’ οὐκ ἀέκουσαν ἄνωγε κούρη Ἰκαρίοιο, περίφρων Πηνελόπεια. τῶ σε πόδας νίψω ἅμα τ’ αὐτῆς Πηνελοπείης καὶ σέθεν εἵνεκ’, ἐπεί μοι ὀρώρεται ἔνδοθι θυμὸς κήδεσιν.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Gemäß der Darstellung im Text wird als Einwand, dass ausgerechnet Eurykleia diese Fußwaschung durchführen soll, auch nicht angeführt, dass es sich um einen – besonders verachteten – Sklavendienst handelt, den die jungen Dienerinnen ablehnen würden, sondern dass Eurykleia kraftlos (ὀλιγηπελέουσα; Hom.Od. 19,356)122, das heißt aufgrund ihres Alters schon recht schwach ist, um alles zu erledigen, was für eine Fußwaschung nötig ist, wie zum Beispiel das Wasser zu wärmen, es zum Fremden zu tragen und vor diesem kniend die Füße zu waschen. Damit kann als Ergebnis festgehalten werden: Die Fußwaschung wird im 19.  Kapitel der Odyssee nicht als besonders typischer oder gar unbeliebter Sklavendienst dargestellt. Die Fußwaschung ist vielmehr ein von Penelope gewünschter besonderer Ehrerweis und ein von Odysseus mit Vertrauen, Berührung und Vergnügen verbundener und ein von Eurykleia (nicht un-)freiwillig erbrachter Ehrund Liebeserweis gegenüber Odysseus, der mit körperlicher Berührung, mit Intimität, Vertrauen und emotionaler Nähe verbunden ist. Es handelt sich hier außerdem um eine Fußwaschung vor dem Schlafengehen und nicht um eine Fußwaschung vor einem Gastmahl, auch nicht um eine Fußwaschung, mit der ein Gast freundlich begrüßt und in das Haus aufgenommen wird. Die Fußwaschung der Eurykleia an Odysseus weckt angesichts dieser Situation vor dem Schlafen eher Konnotationen der vertrauten bzw. sogar intimen Beziehung zwischen den Beteiligten.123 Die Fußwaschung gehört in Hom.Od. 19 also weder zu einer typischen gastfreundlichen Aufnahme124 oder in einen Mahlkontext noch ist sie ein typischer oder gar besonders verachteter Sklavendienst, sondern sie ist ein sinnlich-körperlicher Ehrerweis, den Penelope durch ihre Sklavin dem Fremden zukommen lassen will, nachdem er ihr so gute Nachrichten von ihrem Ehemann überbracht hat. Für Odysseus ist die Fußwaschung ein Ehr- und Liebeserweis und eine Annehmlichkeit, verbunden mit einer innigen Berührung, die ihn auf das Schlafen vorbereitet. Entsprechend wird hier von Homer durchgehend mit der Ähnlichkeit zwischen dem geliebten Ehemann bzw. dem vermissten Sohn und dem geheimnisvollen Fremden argumentiert und das Motiv der Anagnorisis steht im Mittelpunkt der Darstellung.

122  Hom.Od. 19,356–360: ἥ σε πόδας νίψει, ὀλιγηπελέουσά περ ἔμπης. ἀλλ’ ἄγε νῦν ἀνστᾶσα, περίφρων Εὐρύκλεια, νίψον σοῖο ἄνακτος ὁμήλικα·καί που Ὀδυσσεὺς ἤδη τοιόσδ’ ἐστὶ πόδας τοιόσδε τε χεῖρας·αἶψα γὰρ ἐν κακότητι βροτοὶ καταγηράσκουσιν.

123  Die literarische Darstellung in Hom.Od. 19 und die hier nahegelegten Konnotationen der Fußwaschung sind ein starkes Argument, um auch die Aufforderung Davids an Uria in 2 Sam 11,8 f., daheim seine Füße zu waschen, dahingehend zu verstehen, dass er zu Hause schlafen solle und dabei die Möglichkeit nutzen könne, mit seiner Frau intim zu werden. 124  So jedoch Niemand, Fußwaschung 181, der ansonsten völlig richtig darauf hinweist, dass Fußwaschung als Ehrerweis zu verstehen sei und eine erotische Komponente haben kann.

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

161

3.2.6. Fußwaschung im Kontext von Gastmählern und Gastfreundschaft Abraham kann als ein Exempel par excellence für Gastfreundschaft im Judentum gelten.125 Eine im jüdischen Kontext bedeutsame und oft rezipierte Erzählung einer Fußwaschung gegenüber Gästen findet sich in der Überlieferung von Abraham in Gen 18. Als Abraham von drei göttlichen Boten besucht wird, lässt er ihnen Wasser zum Waschen der Füße bringen (Gen 18,4) und wartet ihnen persönlich bei Tisch auf (Gen 18,5.8), nachdem seine Knechte und seine Frau die Speisen auf seinen Befehl hin, möglicherweise auch mit seiner aktiven Mithilfe zubereitet haben (Gen 18,6 f.). Während nach dem Masoretentext die Fremden ihre Füße wahrscheinlich selbst waschen, lässt die Septuaginta offen, wer die Fußwaschung durchführt. Gen 18,4: Man hole doch ein wenig Wasser, dann wascht eure Füße, und ruht euch aus unter dem Baum!126 MT: ‫ט־מיִם וְ ַר ֲח ֖צו ָה ֵ ֽעץ׃‬ ַ֔ ‫ח־נ֣א ְמ ַע‬ ָ ‫ט־מיִם וְ ַר ֲח ֖צו יֻ ַ ֽקּ‬ ַ֔ ‫ח־נ֣א ְמ ַע‬ ָ ‫יֻ ַ ֽקּ‬ Gen 18,4 (LXX): Wasser soll geholt werden und man soll euch die Füße waschen und erfrischt euch unter dem Baum!127 LXX: λημφθήτω δὴ ὕδωρ, καὶ νιψάτωσαν τοὺς πόδας ὑμῶν, καὶ καταψύξατε ὑπὸ τὸ δένδρον·

Spätere Darstellungen Abrahams gehen immer mehr dazu über, Abraham als aktives Subjekt der Fußwaschung zu beschreiben.128 Im Testament Abrahams129 schickt Abraham seinen Sohn Isaak zum Wasserholen, damit nach Abrahams Worten beide zusammen dem fremden Gast, dem von ihnen nicht erkannten Erzengel Michael als Boten Gottes, die Füße waschen können (TestAbr A 3,7). Gemäß TestAbr 3,9 wäscht allerdings Abraham allein die Füße des Fremden. Während der Fußwaschung wird Abraham innerlich zutiefst emotional berührt und bricht in Tränen aus, was wiederum auch den Boten Gottes zu Tränen rührt, die sich im Fußwaschwasser in kostbare Edelsteine verwandeln (TestAbr A 3,10–12).130 Da sprach Abraham zu Isaak, seinem Sohn: ‚Isaak, mein Sohn, schöpfe Wasser aus dem Brunnen und bringe es mir in der Schüssel, damit wir die Füße dieses Gastes waschen,  Vgl. Gorce, Gastfreundschaft, 1071.1073.  Übersetzt nach der Elberfelder Bibel. 127 Übersetzt nach Septuaginta Deutsch. 128  Vgl. dazu auch Niemand, Fußwaschung, 182. Nicht überzeugen kann die Interpretation des Materials zur Fußwaschung durch Abraham von Weiss, der versucht, die Fußwaschung als ein wenig bekanntes Ritual der hellenistischen Synagoge darzustellen; Weiss, Foot, v. a. 302–305; vgl. dazu die berechtigte Kritik durch Niemand, Fußwaschung, 30–32. 129  Im Folgenden wird stets die Fassung A verwendet, zitiert nach Janssen, Testament Abrahams. Zu den Einleitungsfragen vgl. Janssen, Testament, 195–204. 130  Die Fassung B des Testaments Abraham erklärt Abrahams Weinen sogar mit der Aussage, dass dieser ahne, dass er „in dieser Schüssel nicht mehr die Füße eines Menschen, der zu uns zu Gast kommt, waschen werde“ (TestAbr B 3,8). Zugleich wird damit implizit vorausgesetzt, dass Abraham wiederholt seinen Gästen selbst die Füße wäscht bzw. gewaschen hat. 125 126

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

denn er ist von einem weiten Wege zu uns gekommen und erschöpft.‘ Da lief Isaak zu dem Brunnen, schöpfte Wasser in die Schüssel und brachte sie zu ihnen. Da trat Abraham hinzu und wusch die Füße des Archistrategen Michael. Da wurde das Innere Abrahams bewegt, er weinte (, und die Tränen fielen) auf den Fremden. Als Isaak seinen Vater weinen sah, klagte auch er. Als der Archistratege sie weinen sah, kamen auch ihm die Tränen mit ihnen, und es fielen die Tränen des Archistrategen in die Schüssel, in das Wasser des Waschbeckens, und sie wurden kostbare Steine. Als Abraham dieses Wunder sah, war er erschrocken und nahm die Steine heimlich und verbarg das Geheimnis, er allein hielt es in seinem Herzen. (TestAbr A 3,6–12)131

Danach befiehlt Abraham seinem Sohn, das Haus für eine Mahlzeit vorzubereiten, und er und sein Gast setzen sich schließlich zu Tisch (TestAbr A 4,1–4). In TestAbr A 6 erinnern sich Abraham und Sara an ihren Gast und auch zurück an den Besuch der drei Fremden in Mamre, und Abraham stellt fest: „Denn in der späten Nacht, als ich seine Füße in dem Waschbecken wusch, sprach ich in meinem Herzen. ‚Diese Füße gehören einem der drei Männer, die ich einst wusch.‘ (Test Abr A 6,6b).132

Hier wird vorausgesetzt, dass Abraham auch bei der gastfreundlichen Aufnahme der drei Männer in Mamre die Füße selbst gewaschen hat, während in Gen 18 sowohl durch den hebräischen Text als auch durch die Septuaginta nahegelegt wird, dass nicht Abraham, sondern die Gäste selbst bzw. Diener die Waschung durchführen. Bei der Frage nach den Subjekten ist mit Blick auf Waschungen im Rahmen der Gastfreundschaft wiederholt zu beobachten, dass die Subjekte selbst oft nicht eindeutig benannt werden, ja zum Teil trotz eindeutiger Benennung im Verlauf der Darstellung noch wechseln. In Hom.Od. 4,48–50 bekommen zum Beispiel Telemachus und Peisistratus zunächst das Angebot, sich selbst baden zu können, im weiteren Verlauf der Erzählung wird deutlich, dass die Gäste von Dienerinnen gebadet, gesalbt und neu eingekleidet werden. In TestAbr A 6,6 wird jedoch explizit betont, dass Abraham sowohl den drei Männern von Mamre als auch dem göttlichen Boten in der aktuellen Situation persönlich die Füße gewaschen hat. Der göttliche Bote beschreibt später im Gespräch mit Gott Abraham als einen Menschen, der „barmherzig, gastfrei, gerecht, wahrhaftig, gottesfürchtig“ ist und „der sich jeglicher üblen Sache enthält“.133 Abraham wird mit unterschiedlichsten Attributen charakterisiert, insbesondere als gastfrei, gerecht und gottesfürchtig, eine besondere Dienstbarkeit und Demut Abrahams werden jedoch nicht erwähnt. Die Fußwaschung und die gastfreundliche Aufwartung bei Tisch sind offensichtlich kein Hinweis auf eine besondere Demut Abrahams, sondern auf seine Gerechtigkeit und Gastfreundschaft. Der  Übersetzt nach Janssen, Testament, 209 f.  Übersetzt nach Janssen, Testament, 218. 133 Übersetzung nach Janssen, Testament, 218. 131 132

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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Text legt damit auch nicht nahe, dass das Waschen der Füße und die Aufwartung bei Tisch niedere Arbeiten oder Sklavendienste seien, deren Ausübung eine besondere Demut des Gastgebers erweist. Sowohl die Fußwaschung als auch die Aufwartung gehören in den Bereich der Gastfreundschaft. Unabhängig davon, ob diese Aufgaben vom Hausherrn selbst oder von dessen Angestellten oder Kindern ausgeführt werden, werden sie dem Gastgeber angerechnet.134 Wenn ein Gast besonderer Ehre wert ist, erweist der Gastgeber und Hausherr seine Tugendhaftigkeit, wenn er diese Aufgaben eigenhändig ausführt.135 Eine Fußwaschung im Rahmen der Gastfreundschaft lässt sich nicht nur im Alten Orient, wie etwa in Ägypten und den mesopotamischen Kulturen nachweisen, sondern war auch im griechisch-römischen Kontext verbreitet.136 Dass die Fußwaschung vor einem Gastmahl, bei dem man sich zu Tische legt, zwar üblich, aber kaum der Rede wert war, zeigt zum Beispiel Platos Symposium. Nur zweimal wird eine Fußwaschung angesprochen: Als Aristodemus gemeinsam mit Sokrates zu einem Gastmahl bei Agathon kommt, bittet der Gastgeber seinen Gast, sich hinzulegen. Daraufhin kommt ein Knecht, um ihn zu waschen, d. h. offensichtlich seine Füße zu waschen, damit er sich zu Tisch legen kann.137 „Willst du nicht nachsehen,“ – so seine Worte – habe da Agathon zu seinem Diener gesagt, „und Sokrates hereinführen? Du aber, Aristodem, nimm deinen Platz neben Eryximachos!“ Und ihm, sagte er, habe der Diener Waschwasser gebracht, damit er sich hinlegen könnte; (Plato Symp. 175a)138

Auch der Hinweis auf das „Ausziehen der Sandalen“ (Plato Symp. 213b), bevor sich ein Symposiumsteilnehmer zu Tisch legt, lässt wahrscheinlich auf eine Fußwaschung schließen. Und er [Alkibiades, Erg. der Verf.in] sei eingetreten, geführt von seinen Leuten, habe sich gleich die Bänder abgenommen, um sie ihm anzulegen, und dabei, wie er sie so dicht vor den Augen hatte, Sokrates nicht gesehen, sondern sich neben Agathon gesetzt, zwischen Sokrates und ihn; denn Sokrates sei zur Seite gerückt, als er ihn bemerkt hatte. Als er sich

134  Ein Vergleich der Stellen JosAs 17,2; 18,2; 20,1 zeigt, dass die Hausarbeiten der Dienerschaft zur Vorbereitung von Josephs Empfang, die im Auftrag von Aseneth ausgeführt wurden, später als ihre eigene Vorbereitung für den Gast bezeichnet werden können. 135  Im Midrasch zu Sprüche 15,17 wird z. B. erzählt, wie Salomo bei einem wohlhabenden Mann zwar üppig bewirtet, aber schlecht aufgenommen wird, während ein armer Mann ihm nur wenig Speisen anbieten kann, sich aber mit einer Fuß- und Handwaschung und der persönlichen Aufwartung und einfühlsamen Gesprächen als vorzüglicher Gastgeber präsentiert; vgl. Wünsche, Bibliotheca Rabbinica IV, 48. 136 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 743.151 f. Kötting nennt als Beispiele Plaut.Pers.  791 f.; Petronius 31,3 f.; 70,8; zu Belegen im jüdisch-christlichen Bereich vgl. a. a. O. 753 f. 137  Dieser Text kann jedoch kaum als Beleg dafür gelten, dass Fußwaschung per se Sklavenaufgabe sei; so jedoch Kötting, Fußwaschung, 749, der außerdem auf Hom.Od. 19 verweist. 138  Plato Symp. 175a: Οὐ σκέψῃ, ἔφη, παῖ, φάναι τὸν Ἀγάθωνα, καὶ εἰσάξεις Σωκράτη; σὺ δ’, ἦ δ’ ὅς, Ἀριστόδημε, παρ’ Ἐρυξίμαχον κατακλίνου. Καὶ ἓ μὲν ἔφη ἀπονίζειν τὸν παῖδα ἵνα κατακέοιτο·; zitiert und übersetzt nach Boll/Buchwald, Plato, Symposion 13–15.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

setzte, habe er Agathon begrüßt und ihm die Bänder umgelegt. Darauf Agathon: ‚Diener, nehmt dem Alkibiades die Sandalen ab, damit er sich hier als dritter niederlegt‘. (Plato Symp. 213b)139

Das umfangreiche Werk Deipnosophistae von Athenaios erwähnt zum Beispiel gelegentlich das Waschen der Hände vor einem Mahl, äußert sich jedoch nicht zur Fußwaschung im Rahmen von Gastmählern. Nur nebenbei erfährt man an einer Stelle, dass das benutzte Wasser vom Waschen der Hände und Füße ἀπόνιπτρον genannt wird.140 Das Waschen der Füße bzw. von Händen und Füßen im Rahmen der Gastfreundschaft wird also in antiken Texten über Gastmähler kaum explizit erwähnt, ist aber offensichtlich als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Das Salben mit Öl nach der Waschung erhöhte den Komfort und gehörte häufig zu einer Fußwaschung, außerdem konnte das Fußwaschwasser mit Wein und Gewürzen verfeinert werden, was ein Zeichen für Luxus war.141 Übermäßiger Luxus findet jedoch auch seine Kritiker: Gemäß Plutarch beklagt sich Phokion, ein Schüler Platos, dass bei einem Siegesfest für seinen Sohn, dessen Gesellschaft als Ehrengast offensichtlich angesichts seines Erfolgs gesucht wurde, zu viel Aufwand betrieben werde, unter anderem indem das Wasser zum Waschen mit Wein und Gewürzen vermischt werde, wodurch sein Sieg in den Schmutz gezogen werde (Plut. Phok. 20,1–3).142 Auch hier ist jedoch erkennbar, dass die gastfreundliche Aufnahme eng mit einer Ehrerbietung gegenüber dem Gast und mit dem erwünschten, von Phokion kritisch als Verweichlichung betrachteten Komfort verknüpft ist. Ein Bad oder auch eine Hand- oder Fußwaschung sind ein Ausdruck von Gastfreundschaft, welche dem Gast die Ehre körperlich spürbar zukommen lässt, die er in den Augen des Gastgebers verdient.143 In der Regel wird diese selbstverständliche Geste der Gastfreundschaft jedoch in den Texten nicht explizit erzählt.144 Die Fußwaschung gehört, wie die Einladung zum Essen und die damit verbundene Aufwartung bei Tisch, zu den Pflichten eines guten Gastgebers bzw. einer Gastgeberin und sie wird, auch dann wenn sie vom Dienstpersonal oder den Kindern des Hauses ausgeführt wird, als tugendhaftes Verhalten 139  Plato Symp. 213b: Εἰπεῖν οὖν τὸν Ἀγάθωνα Ὑπολύετε, παῖδες, Ἀλκιβιάδην, ἵνα ἐκ τρίτων κατακέηται, zitiert und übersetzt nach Boll/Buchwald, Plato, Symposion 113–115. 140  Vgl. Athen. Deipn. 9.409 f.: ἐκάλουν δ’ ἀπόνιπτρον τὸ ἀπόνιμμα τῶν χειρῶν καὶ τῶν ποδῶν,

zitiert nach Olson, Banqueters IV, 414. Vgl. dazu auch Thomas, Footwashing, 48. 141 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 747 f. 142  Vgl. Plut. Phok. 20,3: ὡς δ’ ἐλθὼν ἐπὶ τὸ δεῖπνον ἄλλην τε σοβαρὰν ἑώρα παρασκευὴν καὶ ποδανιπτῆρας οἴνου δι’ ἀρωμάτων προσφερομένους τοῖς εἰσιοῦσι, καλέσας τὸν υἱὸν ‚οὐ παύσεις‘ ἔφη ‚τὸν ἑταῖρον ὦ Φῶκε διαφθείροντά σου τὴν νίκην;‘, zitiert nach Ziegler, Plutarchi vitae parallelae II.1. 143  Vgl. den Vorwurf Jesu an den Pharisäer Simon in Lk 7,44, der Jesus als Gastgeber kein Wasser für die Füße gereicht bzw. ihm die Füße nicht gewaschen hat. 144 Auch in der Kunst findet sich die Darstellung einer Fußwaschung vor einem Gastmahl eher selten, vgl. Kötting, Fußwaschung, 748.

3.2. Fußwaschung als Zeichen von Ehre und Liebe

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den Gastgebenden angerechnet.145 Wird eine Fußwaschung erwähnt, zeigt sich, dass dabei den Gästen entweder nur das Wasser zur Verfügung gestellt werden kann oder dass Sklaven bzw. Sklavinnen, die Kinder des Hauses oder auch der Gastgeber selbst die Füße waschen. Häufig werden die Subjekte der Fußwaschung nicht einmal eindeutig oder explizit benannt, so dass in den Texten unklar bleibt, ob sich Gäste selbst die Füße waschen oder sie tatsächlich gewaschen bekommen. Wichtig ist den Texten offensichtlich vor allem, dass damit zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Hausherr bzw. eine Hausherrin den mit der Gastfreundschaft verbundenen Verpflichtungen nachgekommen ist. Je höher der Status bzw. die Bedeutung einer Person in den Augen des Gastgebers ist, umso mehr wird er versorgt und verwöhnt. Eine aufwändig oder sogar persönlich vom Gastgeber bzw. der Gastgeberin durchgeführte Fußwaschung oder Aufwartung sagt also immer etwas über die Beziehung zu den Gästen aus. Was man bei der Mahlzeit mit Blick auf die Aufwartung beobachten kann, gilt offensichtlich auch für die Fußwaschung vor dem Mahl: Wenn die Fußwaschung nicht durch das Hauspersonal, sondern durch die Gastgeber bzw. deren Kinder durchgeführt wird, handelt es sich um einen Ausdruck besonderer Ehre, der zugleich zeigt, dass ein Hausherr bzw. eine Hausherrin über gute Sitten verfügt und in der Gastfreundschaft die eigene Menschenfreundlichkeit und Tugendhaftigkeit zeigt.146 Die Texte legen nicht nahe, dass die Fußwaschung für den Gastgeber mit einer Erniedrigung oder einem Statusverzicht verbunden ist. Die alltagspraktische Notwendigkeit, schmutzige Füße zu waschen, bevor man sich zu Tische legt, verbindet sich mit dem Anspruch oder Wunsch, einer Person die ihr gebührende Ehre körperlich spürbar und sichtbar zu erweisen. Die in Hom.Od.19 überlieferte Fußwaschung, welche in der Sekundärliteratur üblicherweise unter dem Fokus „Gastfreundschaft“ und „Sklavendienst“ auf145  Vgl. z. B. die Rolle Abrahams in Gen 18,4 MT mit Gen 18,4 LXX TestAbr A 3,8 f.; 6,6; mit Blick auf die Vorbereitung des Gastmahls JosAs 17,2; 18,2; 20,1. 146  Vgl. Hentschel, Diakonia, 44 f.; dies lässt sich z. B. an der Erzählung über die mehr oder weniger gastfreundliche Aufnahme des Königs Salomo im Midrasch zu Sprüche 15,17 illustrieren: Während ein reicher Gastgeber ein herrschaftliches Mahl serviert, aber im Blick auf seine Höflichkeit viele Wünsche offenlässt, nimmt ein armer Mann den König mit Ehre und Anstand auf: „Ich bin ein armer Mann, wenn du bei mir vorsprechen willst, ich habe ein wenig Gemüse, was ich dir vorsetzen will. … Als er da angelangt war, wusch er [der arme Gastgeber] ihm seine Hände und Füße und setzte ihm ein wenig Gemüse vor“. MidrSpr 15,17, zitiert nach Wünsche, Bibliotheca Rabbinica IV, 48. Vgl. dazu auch Hofius, Fußwaschung, 174 f.; Niemand, Fußwaschung, 182 f. Das Verhalten des armen Mannes illustriert die Aussage von Sprüche 15,17, dass ein „Gemüsegericht mit Liebe“ besser sei als ein „gemästeter Ochse mit Hass“. Die gastfreundliche Aufwartung sowie das Waschen von Händen und Füßen sind Zeichen der – liebenden – Ehrerbietung, wie Hofius zurecht herausarbeitet; Hiltbrunner weist daraufhin, dass Gastfreundschaft und (Nächsten-)Liebe eng verknüpft wurden; vgl. Hiltbrunner, Gastfreundschaft, 1072–1073. In den Lehren der Philosophen wurden Menschenfreundlichkeit, Freundschaft und Liebe häufig verbunden, so dass bei den Stoikern die Liebe sogar zum Oberbegriff für Gastfreundschaft werden konnte; a. a. O. 1085 f.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

geführt wird, gehört eigentlich nicht in den Bereich der gastfreundlichen Aufnahme in ein Haus zur Vorbereitung auf ein Gastmahl. Die Fußwaschung durch die Magd Eurykleia bereitet Odysseus vielmehr auf das Schlafen vor und spielt vor allem mit den Aspekten des Ehrerweises, der zärtlich-intimen Berührung und des Wiedererkennens eines verloren geglaubten geliebten Mannes. Sie ist primär ein Ausdruck der Ehrerbietung sowie der intimen Nähe und Vertrautheit zwischen Odysseus und den beiden Frauen.147

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt 3.3.1. Fußwaschung als Zeichen der Verehrung Der Aspekt des Ehrerweises durch eine Fußwaschung spielt als Konnotation häufig eine Rolle, wenn Fußwaschungen angesichts von unterschiedlichen Anlässen in der Literatur explizit erwähnt werden. Auch bei der bekannten Fußwaschung Eurykleias an Odysseus (Hom.Od. 19), die sie als Vorbereitung auf die bevorstehende Nacht im Auftrag von Penelope durchführt, geht es der Gastgeberin primär darum, dem als Bettler verkleideten Mann eine Ehre zu erweisen, weil er ihr unmittelbar zuvor mit wichtigen und vor allem guten Nachrichten in ihrer verzweifelten Situation neuen Mut machte. Ebenso ist es auch für die Mutter von Rabbi Jischmael eine Frage der Ehre, dass sie ihrem Sohn als angesehenem Lehrer durch die Fußwaschung ihre Verehrung zeigen kann (vgl. jPea 15c). Dass eine gastfreundliche Fußwaschung selbst in einer Liebesbeziehung zur Frage der Ehre werden kann, belegt eine kurze Episode des Athenaios über eine junge Frau namens Gnathaena, die ihren Geliebten Diphilus bei seinem Besuch gerade nicht mit einer zärtlich-gastfreundlichen Fußwaschung begrüßt, nachdem er im Anschluss an eine schlechte Vorstellung unehrenhaft aus dem Theater geworfen wurde. Sie sieht sich nach ihren eigenen Worten nicht zur Fußwaschung verpflichtet, da er doch nicht auf den Füßen gekommen, sondern vielmehr durch die Luft zu ihr geflogen sei (Athen. Deipn. 13.583 f.). As was noted earlier, the comic poet Diphilus was deeply in love with Gnathaena, as Lynceus of Samos reports in his Memoirs. It happened at one point, therefore, after he thoroughly disgraced himself and had been thrown out of the Theater, that Diphilus went to visit Gnathaena anyway. So when he asked Gnathaena to wash his feet, she said: „Why? Didn’t you travel here by air?“ Gnathaena was very good at generating witty responses. (Athen. Deipn. 13.583 f.)148 147

 Vgl. Abschnitt 3.2.4. Athen. Deipn. 13.583 f.: τῆς δὲ Γναθαίνης ἤρα δεινῶς, ὡς καὶ πρότερον εἴρηται, Δίφιλος

148 Vgl.

ὁ κωμῳδιοποιός, ὡς καὶ Λυγκεὺς ὁ Σάμιος ἐν τοῖς Ἀπομνημονεύμασιν ἱστορεῖ. ἐν ἀγῶνι οὖν ποτε αὐτὸν

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

167

Dieser Text spielt in satirischer Weise mit den verschiedenen Konnotationen einer Fußwaschung, die von der Reinigung vom Schmutz über die gastfreundliche Begrüßung bis hin zum Ehr- und intimen Liebeserweis reichen, jeweils verbunden mit der Frage, ob die Person dieser Ehre überhaupt würdig ist. Da Diphilus hinausgeworfen wurde und durch die Luft geflogen sei, habe er sich seine Füße nicht schmutzig gemacht. Da er unehrenhaft das Theater verlassen musste, habe er die Ehre einer Fußwaschung nicht verdient. Und angesichts des spottenden Tonfalls ist Gnathaena auch nicht in der richtigen Stimmung für eine liebevoll-zärtliche Berührung, die als Liebeserweis verstanden werden könnte. Explizit um eine Frage der Ehre und Wertschätzung geht es Epiktet (55 n. Chr. – 135 n. Chr.) in Dissertationes I,19:149 Epiktet thematisiert, wie man sich einem Herrscher gegenüber verhalten muss (Πῶς ἔχειν δεῖ πρὸς τοὺς τυράννους; Epiktet, Diss. I.19). Bereits im ersten Satz problematisiert er die Macht des Herrschers, die sowohl eine tatsächliche als auch eine nur vermeintliche sein könne, welche besonders schnell zur Einbildung führe.150 Danach werden Allmachtsphantasien des Herrschers mit dem Hinweis auf begrenzte Fähigkeiten in Frage gestellt: Zum Beispiel müsse auch ein Herrscher bei einer Schifffahrt weniger seiner eigenen Macht als vielmehr dem Können des erfahrenen Kapitäns vertrauen (I,19,1–4). Schließlich geht es  – mit einem Wortspiel rund um das griechische Verb θεραπεύω – explizit um die Frage der Verehrung: „Alle Menschen verehren (bedienen) mich (πάντες με θεραπεύουσιν)!“, denkt der Herrscher (I,19,4). Das griechische Verb θεραπεύω kann sowohl mit ‚bedienen, Dienste erweisen‘ als auch mit ‚verehren, Ehre erweisen‘ übersetzt werden.151 Epiktet nutzt in dem gesamten folgenden Abschnitt die Mehrdeutigkeit des Verbs, um zwischen der Erbringung einer Dienstleistung und der damit gegebenenfalls verbundenen Verehrung zu differenzieren. Bei der vorliegenden Verwendung steht die Bedeutung der Verehrung im Vordergrund. Der eingebildete Herrscher erwartet, dass alle Menschen ihn verehren, indem sie ihm – für alle sichtbar – dienen. Darauf reagiert Epiktet mit dem Hinweis, dass man bedient, im Sinne von ‚versorgt‘, was einem nützlich ist, ohne dass diese Dinge jedoch dem, der sie bedient, verehrenswert erscheinen müssen oder gar übergeordnet wären ἀσχημονήσαντα σφόδρα ἀρθῆναι ἐκ τοῦ θεάτρου συνέβη καὶ οὐδὲν ἧττον ἐλθεῖν πρὸς τὴν Γνάθαιναν. κελεύοντος οὖν τοῦ Διφίλου ὑπονίψαι τοὺς πόδας αὐτοῦ τὴν Γνάθαιναν, ἡ δὲ ‚τί γάρ;‘ εἶπεν, ‚οὐκ ἠρμένος ἥκεις;‘ σφόδρα δ’ ἦν εὔθικτος πρὸς τὰς ἀποκρίσεις ἡ Γνάθαινα. Zitiert und übersetzt nach Olsen,

Banqueters VI, 372 f. 149  Die Texte von Epiktet werden zitiert nach Oldfather, Epictetus. Vgl. zur Stelle auch Wehner, Funktion, 139–142. 150  Epiktet Diss I,19,1–2: Ὅτι ἄν τινι προσῇ τι πλεονέκτημα ἢ δοκῇ γε προσεῖναι μὴ προσόν, τοῦτον πᾶσα ἀνάγκη, ἐὰν ἀπαίδευτος ᾖ, πεφυσῆσθαι δι’ αὐτό. Zitiert nach Oldfather, Epictetus I, 126. 151 Oldfather schreibt in einer Anmerkung zu Epiktet, Diss. I,19,5: „The whole passage turns on the various meanings of θεραπεύω, which include serve, attend to, give medical care to, pay attention to, pay court to, flatter, etc.“; Oldfather, Epictetus I, 129 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Liddell/Scott, ad verbum.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

(I,19,4 f.). Als erstes Beispiel nennt Epiktet seinen Teller, den er wäscht und abtrocknet, weil er ihn brauche, nicht weil er ihn verehre (I,19,4). In der bewusst eingesetzten Mehrdeutigkeit der griechischen Begriffe bedeutet dies auch, dass dem Empfänger der Dienstleistung durch sie gerade keine besondere Ehre zukommt. Epiktet negiert also die Erwartung des Herrschers, dass er Verehrung erzwingen könnte bzw. ein Bedienen durch seine Untertanen automatisch mit einer Verehrung152 seiner Person verbunden sei. ‚Alle beachten mich (θεραπεύουσιν).‘ Auch ich beachte (θεραπεύω) meinen Teller und wasche ihn und wische ihn ab, und für meine Ölflasche schlage ich einen Nagel in die Wand. Was ergibt sich daraus? Sind mir diese Dinge überlegen? Nein, aber sie bieten mir einen gewissen Nutzen. Deswegen beachte (θεραπεύω) ich sie. Was weiter? Beachte ich etwa nicht (οὐ θεραπεύω) meinen Esel? Wasche ich nicht seine Hufen [οὐ νίπτω αὐτοῦ τοὺς πόδας; wörtlich: Füße; Anm. der Verf.in]? Reinige ich nicht sein Fell? Weißt du nicht, daß jeder Mensch sich selbst beachtet (ἑαυτὸν θεραπεύει), dich aber so wie einen Esel? Denn wer beachtet (θεραπεύει) dich als einen Menschen? Zeig ihn mir. Wer will dir ähnlich werden, wer eifert dir so nach wie dem Sokrates? ‚Aber ich kann dich enthaupten.‘ Richtig. Ich habe vergessen, daß man dich beachten muß (δεῖ θεραπεύειν) wie Fieber und Cholera und (dir) einen Altar errichten muß, wie es in Rom einen Altar des Fiebergottes gibt. (Epiktet, Diss. I,19,4–6)153 ‚Macht es dir nichts aus?‘ ‚Nein, mir macht es nichts aus.‘ ‚Ich werde dir zeigen, daß ich der Herr bin.‘ Wie (kannst) du (mein Herr) sein? Zeus hat mich als freien Mann (in die Welt) entsandt. Oder glaubst du, daß er seinen eigenen Sohn einen Sklaven werden lassen wollte? Du bist Herr über meinen Leichnam, nimm ihn!‘ ‚Wenn du zu mir kommst, beachtest du mich also nicht (οὐ θεραπεύεις)?‘ ‚Nein, sondern (nur) mich selbst. Wenn du willst, daß ich sage, daß ich auch dich (beachte), dann sage ich dir, (daß ich dich) so wie den Kochtopf (beachte).‘ (Epiktet, Diss. I,19,8–10)154

Als Beispiel für ein Bedienen, ohne dass damit ein Ehrerweis verbunden ist, nennt Epiktet die Art und Weise, wie man seinen Esel versorgt: Ein Mensch wird selbstverständlich seinen Esel „bedienen“ – erneut kommt das griechische Verb 152  Insbesondere in Epiktet, Diss. I,19,6 zeigt sich, dass mit der Verwendung von θεραπεύω auf die Verehrung des Herrschers angespielt wird, so wie man auch eine Gottheit durch den Kult verehrt. Oldfather weist in einer Fußnote auf das Wortspiel rund um das Verbum und auf das Bedeutungsspektrum von θεραπεύω hin, vgl. Oldfather, Epictetus I, 129. 153  Epiktet, Diss. I,19,4–6: ‚πάντες με θεραπεύουσιν.‘ καὶ γὰρ ἐγὼ τὸ πινάκιον θεραπεύω καὶ πλύνω αὐτὸ καὶ ἐκμάσσω καὶ τῆς ληκύθου ἕνεκα πάσσαλον πήσσω. τί οὖν; ταῦτά μου κρείττονά ἐστιν; οὔ· ἀλλὰ

χρείαν μοι παρέχει τινά. ταύτης οὖν ἕνεκα θεραπεύω αὐτά. τί δέ; τὸν ὄνον οὐ θεραπεύω; οὐ νίπτω αὐτοῦ τοὺς πόδας; οὐ περικαθαίρω; οὐκ οἶδας ὅτι πᾶς ἄνθρωπος ἑαυτὸν θεραπεύει, σὲ δ’ οὕτως ὡς τὸν ὄνον; ἐπεὶ τίς σε θεραπεύει ὡς ἄνθρωπον; δείκνυε. τίς σοι θέλει ὅμοιος γενέσθαι, τίς σου ζηλωτὴς γίνεται ὡς Σωκράτους; ‚ἀλλὰ δύναμαί σε τραχηλοκοπῆσαι.‘ καλῶς λέγεις. ἐξελαθόμην ὅτι σε δεῖ θεραπεύειν καὶ ὡς πυρετὸν καὶ ὡς χολέραν καὶ βωμὸν στῆσαι, ὡς ἐν Ῥώμῃ Πυρετοῦ βωμός ἐστιν. Übersetzt nach Wehner, Funktion, 139. Eine Übersetzung von θεραπεύω mit ‚verehren‘ statt mit ‚beachten‘ würde den gemeinten

Sinn besser treffen. Dies zeigt sich vor allem bei der Errichtung eines Altars zur Verehrung bzw. Beachtung in I,19,6. Doch auch Oldfather übersetzt mit ‚appoint to‘; vgl. Oldfather, Epictetus I, 129–133; vgl. jedoch die Anmerkung zur Bedeutung des Verbums a. a. O. 129. 154 Übersetzt nach Wehner, Funktion, 141.

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

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θεραπεύω mit den beiden Bedeutungsaspekten ‚bedienen‘ und ‚verehren‘ zum Einsatz –, „seine Füße waschen und ihn striegeln“ (τί δέ; τὸν ὄνον οὐ θεραπεύω; οὐ νίπτω αὐτοῦ τοὺς πόδας; οὐ περικαθαίρω; I,19,4). Doch das Versorgen des Esels geschieht aus gänzlich eigennützigen Motiven, da der Eigentümer den Esel als Nutztier braucht, dem Esel selbst kommt dadurch keine Ehre zu. Und hier liegt der Vergleichspunkt zu dem eingebildeten Herrscher: auch der Herrscher wird nach Epiktet nicht um seiner selbst willen bedient und darin als Person verehrt. Der zu Dienstleistungen gezwungene Untertan ist bei der Ausführung der Dienste nur auf seinen eigenen Nutzen bedacht und ‚dient‘ deshalb dem Herrscher nur so bzw. ‚verehrt‘ den Herrscher nur so, wie man einen Esel bedient, nämlich mit Blick auf den persönlichen Vorteil (οὐκ οἶδας ὅτι πᾶς ἄνθρωπος ἑαυτὸν θεραπεύει, σὲ δ’οὕτως ὡς τὸν ὄνον; ἐπεὶ τίς σε θεραπεύει ὡς ἄνθρωπον; I,19,5). Bezogen auf die Bedeutung der Fußwaschung klingen hier vor allem zwei Aspekte an: Einerseits gehört die Fußwaschung wie das Striegeln des Fells zur täglichen Versorgung des Tiers, im Hinblick auf die kulturellen Bedeutungsaspekte einer Fußwaschung geht es also zunächst um eine Frage der Hygiene und Körperpflege. Andererseits kann eine Fußwaschung durch ihre spezifischen kulturellen Konnotationen in der Antike gerade auch ein Zeichen der ernstgemeinten, wenn freiwillig erfolgenden Ehrerbietung unter Menschen sein. Genau dies lässt sich jedoch nach Epiktet gerade nicht erzwingen. Wenn der Herrscher die Ehre persönlich nicht verdient, kann er eine solche Verehrung auch nicht mit Gewalt erreichen, denn die Menschen werden ihm zwar dienen (θεραπεύω im Sinne von ‚bedienen‘), d. h. konkret zum Beispiel seine Füße waschen und ihn damit reinigen, aber sie werden ihm die mit dieser Handlung erwartete Ehrerbietung (θεραπεύω im Sinne von ‚verehren‘) gerade nicht zukommen lassen. Sie vollziehen die erzwungene Fußwaschung nur als einen notwendigen Dienst und zwar aus ganz eigennützigen Motiven (θεραπεύω auf die eigene Person bezogen), so wie man den Esel durch die Fußwaschung versorgt: der Untergebene will keinen Ärger mit dem Herrscher und bezeugt ihm deshalb nur zum Schein eine Ehre, indem er ihm, wie gefordert, die Füße wäscht. Die Fußwaschung wird hier einerseits als Bestandteil der alltäglichen Körperpflege und andererseits – situationsabhängig – als möglicher Ausdruck von Verehrung betrachtet. Wenn etwa Christopher Thomas in dieser Stelle einen Beleg dafür sieht, dass jeder Mensch bestimmte unangenehme Aufgaben verrichten müsse und die „lowly nature of the service of washing the feed“ dabei anschaulich zum Ausdruck komme, hat er die Ironie und Mehrdeutigkeit des Textes gerade nicht verstanden.155 Die Fußwaschung ist im vorliegenden Kontext nicht als Beispiel gewählt, weil es sich bei ihr üblicherweise um einen erniedrigenden Dienst oder sogar um einen typischen Sklavendienst handeln würde, sondern weil sie – ver155 Vgl.

Thomas, Footwashing, 53.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

gleichbar mit dem Verb θεραπεύω – diese Doppeldeutigkeit zwischen einer Handlung/einem Dienst im Rahmen der alltäglichen Hygiene und einem Dienst zum Erweis einer Ehre enthält. Auch das von Plutarch überlieferte und oft zitierte Beispiel einer Fußwaschung durch Favonius, der dem römischen Politiker und Heerführer Pompeius nach seiner größten Niederlage die Treue hält, ist im thematischen Kontext des Ehrerweises zu betrachten (Plut. Pomp. 73). Plutarch erzählt die Begebenheit anschaulich: Nach der verlorenen Schlacht gegen Caesar flieht Pompeius und begibt sich schließlich mit zwei treuen Anhängern, aber ansonsten ganz ohne Gefolgschaft auf ein römisches Frachtschiff. Als das Abendessen bevorsteht, beobachtet Favonius, einer der treuen Anhänger des Pompeius, wie sich dieser selbst die Schuhe ausziehen will und er steht auf, hilft ihm beim Ausziehen der Schuhe und beim Salben (ἰδὼν ὁ Φαώνιος οἰκετῶν ἀπορίᾳ τὸν Πομπήϊον ἀρχόμενον αὑτὸν ὑπολύειν προσέδραμε καὶ ὑπέλυσε καὶ συνήλειψε.; Plut. Pomp. 73,6 f.).156 Vermutlich ist bereits hier beim Ausziehen der Schuhe auch das Waschen der Füße impliziert, so dass sich danach ein Salben der Füße sinnvoll anschließt. Zusammenfassend stellt Plutarch schließlich fest, dass Favonius für Pompeius alle Dienste leistet, wie es sonst Sklaven für ihren Herrn tun, bis hin zum Waschen der Füße und der Vorbereitung des Essens (καὶ τὸ λοιπὸν ἐκ τούτου περιέπων καὶ θεραπεύων ὅσα δεσπότας δοῦλοι, μέχρι νίψεως ποδῶν καὶ δείπνου παρασκευῆς, διετέλεσεν; Plut. Pomp. 73,7). Plutarch bewertet die Dienste des Favonius explizit als eine „einfache und natürliche“ Tätigkeit, die zeige, dass „dem Edlen alles wohl sich schickt“ (ὥστε τὴν ἐλευθεριότητα τῆς ὑπουργίας ἐκείνης θεασάμενον ἄν τινα καὶ τὸ ἀφελὲς καὶ ἄπλαστον εἰπεῖν·Φεῦ τοῖσι γενναίοισιν ὡς ἅπαν καλόν; Plut. Pomp. 73,7): Als die Zeit zum Abendessen da war und der Schiffherr es nach dem Maße des Vorhandenen bereiten ließ, sah Favonius wie Pompejus in Ermangelung von Dienern sich selbst die Schuhe auszuziehen begann, lief hinzu und half ihm dabei wie beim Salben. Auch in der Folge umsorgte er ihn und leistete ihm beständig die Dienste wie sonst die Sklaven ihren Herren bis zum Waschen der Füße und der Bereitung des Mahles, so daß, wer diese edelmütige, schlichte und unverstellte Dienstleistung beobachtet hätte, wohl hätte sagen können: ‚Wie doch dem Edlen alles wohl sich schickt!‘ (Plut. Pomp. 73,6–7)157

Die umfassende Versorgung eines reichen mächtigen Mannes, zu der auch das Baden bzw. Waschen, Salben und Einkleiden sowie das Bewirten gehört, geschieht in der Regel durch Sklaven.158 Favonius übernimmt hier also für Pompeius in der Tat Sklavendienste, zu denen auch die Fußwaschung gehört.159 Dennoch geht die textpragmatische Bedeutung der Fußwaschung hier über ein  Der Text von Plut. Pomp. wird zitiert nach Perrin, Plutarch’s lives V.  Übersetzt nach Ziegler, Plutarch. Große Griechen und Römer III, 243; vgl. zur Stelle auch Lohse, Fußwaschung, 10. 158  Vgl. auch Lk 17,7–10. 159  Kötting bemerkt unter der Überschrift „F.[ußwaschung] als Sklavendienst“ zurecht, dass „nur selten mitgeteilt“ werde, „wer die F. vornahm.“; Kötting, Fußwaschung, 753. 156 157

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

171

Verständnis im Sinne eines Sklavendienstes hinaus.160 Die explizite Erwähnung der Fußwaschung bringt in den vorliegenden Kontext ihre ganz eigenen Konnotationen mit den Aspekten Körperhygiene, Dienst und vor allem Ehrerbietung in die Szene ein. Dass die Fußwaschung sowohl am Beginn, wenn auch nur implizit, als auch gegen Ende des Abschnitts, nun explizit, erwähnt wird, gibt dem ganzen Text eine eigene spezifische Färbung: Favonius leistet nicht einfach nur Sklavendienste für Pompeius, sondern er lässt ihm damit vor allem die Ehre zukommen, die er verdient, die ihm jedoch aufgrund seiner Niederlage ansonsten niemand mehr erweist. Die Fußwaschung in ihrer Doppeldeutigkeit als eine Handlung der täglichen Körperhygiene einerseits und der Ehrerbietung andererseits – vor allem wenn sie durch eine Salbung ergänzt wird – ermöglicht es Plutarch zu zeigen, dass dem ehrbaren, wenn auch sieglosen Pompeius (nur noch) durch das Handeln des Favonius die Ehre erwiesen wird, die ihm eigentlich zusteht. Der abschließende Satz bestätigt diese Interpretation, macht er doch deutlich, dass die ‚DienstLeistungen‘ des Favonius gegenüber Pompeius ihn selbst nicht statusmäßig erniedrigen, sondern vielmehr gerade auch dessen eigene Größe sichtbar machen und bestätigen. Das Baden oder Waschen, das Zubereiten und Auftragen von Speisen sind vor allem im Bereich der Gastfreundschaft, aber offensichtlich auch im Einzelfall darüber hinaus, Handlungen, mit denen ein ehrbarer freier Mann einer angesehenen Person eine Ehre erweisen kann, indem er sie entweder durch seine Dienerschaft ausführen lässt oder – im Fall besonderer Wertschätzung – sie sogar persönlich leistet. Damit belegt er zugleich seine eigene Tugendhaftigkeit. Die analysierten Texte zeigen, dass eine Fußwaschung primär als eine alltägliche Handlung im Rahmen der Körperhygiene angesehen wird. Bei reichen Menschen wird die Fußwaschung von Sklavinnen oder Sklaven durchgeführt und gehört offensichtlich selbstverständlich zu deren Aufgaben. Auch wenn es für einen freien Mann nicht üblich ist, einem anderen Mann die Füße zu waschen, gilt eine Fußwaschung in bestimmten Situtationen dennoch als ein Zeichen der Ehrerbietung, das von freien Männern ohne Statusverlust anderen ehrbaren, in der Regel höhergestellten Personen erwiesen werden kann. Die Annahme, Fußwaschung sei primär oder ausschließlich als typischer oder sogar besonders verachteter Sklavendienst konnotiert, lässt sich durch die hier analysierten Texte nicht belegen.161 160 Die Fußwaschung wird hier nicht bzw. nicht nur als der unterste und am wenigsten angesehene Dienst eines Sklaven dargestellt; so jedoch zum Beispiel Kötting, Fußwaschung, 753; Thomas, Footwashing, 52; die Erwähnung der Fußwaschung spielt hier wichtige Bedeutungsaspekte in den Zusammenhang ein, die weit über das Verständnis der Fußwaschung als einfacher Sklavendienst hinausgehen; dies erkennt zutreffend Niemand, der es zurecht im Sinne besonderer „Anhänglichkeit, Treue und Wertschätzung“ (Hervorhebung im Original) deutet; Niemand, Fußwaschung, 183. 161  So jedoch zum Beispiel Niemand, Fußwaschung, 181, der die unterschiedlichen Kon-

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

3.3.2. Erzwungene Fußwaschung als Zeichen der Demütigung Eine freiwillig ausgeführte Fußwaschung gegenüber einer anderen Person, die der Reinigung, der Pflege und dem Wohlbefinden dient und immer auch mit einer Berührung verbunden ist, ist ein Zeichen von Gastfreundschaft, Ehrerbietung und persönlicher Nähe. Wenn eine Fußwaschung jedoch erzwungen wird, stellt sie gerade aufgrund dieser Konnotationen für die ausführenden Subjekte eine besondere Erniedrigung und Demütigung dar. Ein Mensch zwingt einen anderen, ihm Ehre zu erweisen. Wiederholt wird in antiken Texten die Begebenheit erzählt, wie Skiron sich an einer engen Passage am Meer aufstellte und Reisende dort zwang, ihm die Füße zu waschen, unter anderem von Plutarch (Plut. Theseus 10,1–4).162 Wenn die Passanten sich auf die Forderung einließen und sich zur Fußwaschung niederbeugten, trat Skiron sie im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen und stieß sie so ins Meer. Plutarch diskutiert die Wahrscheinlichkeit dieser Behauptung (Plut. Theseus 10,2–4). Einerseits werde Skiron unterstellt, dass er ein Dieb sei, der die Passanten ausraube und aus Übermut ihnen den Fuß zum Waschen hinhalte, bis er seine Gewaltbereitschaft beim Todesstoß zeige. Andererseits gebe es Überlieferungen zu Skiron, die ihm wohl mit Blick auf seine edle Verwandtschaft ein solch niederträchtiges Verhalten nicht zutrauten, sondern ihn als Rächer deuteten, der nur die bestrafe, die es selbst verdienten.163 Nach Plutarch habe Theseus ihn deshalb nicht auf seiner ersten Reise nach Athen getötet, sondern erst später im Kampf um die Stadt Eleusis.164 Unter der Voraussetzung, dass die Passanten keine Schuld an ihrem Schicksal haben, wirft die erzwungene Fußwaschung ein negatives Licht auf Skiron: […] Nach der herrschenden Überlieferung beraubte Skeiron die Vorübergehenden; wie einige sagen, streckte er in frevlerischem Übermut den Fremden die Füße hin und befahl ihnen, sie zu waschen (ὡς δ’ ἔνιοι λέγουσιν ὕβρει καὶ τρυφῇ προτείνοντα τὼ πόδε τοῖς ξένοις καὶ κελεύοντα νίπτειν), und wenn sie es taten, gab er ihnen einen Tritt und warf sie ins Meer. (Plut. Theseus 10,1).165

Die gewählten Nomen Hochmut (ὕβρις) und Üppigkeit (τρυφή) zeigen, dass das so beschriebene Verhalten Skirons einerseits als Ausdruck einer angemaßten notationen der Fußwaschung in seinem kurzen Überblick ansonsten sehr differenziert wahrnimmt, vgl. a. a. O. 177–191. 162 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 749. 163  Vgl. Plut. Theseus 10,2 f. 164  Plut. Theseus 10,4. 165 Plut. Theseus 10,1: Σκείρωνα δὲ πρὸ τῆς Μεγαρικῆς ἀνεῖλε ῥίψας κατὰ τῶν πετρῶν, ὡς μὲν ὁ πολὺς λόγος λῃστεύοντα τοὺς παριόντας, ὡς δ’ ἔνιοι λέγουσιν ὕβρει καὶ τρυφῇ προτείνοντα τὼ πόδε τοῖς ξένοις καὶ κελεύοντα νίπτειν, εἶτα λακτίζοντα καὶ ἀπωθοῦντα νίπτοντας εἰς τὴν θάλασσαν. Zitiert nach Ziegler, Plutarchi vitae parallelae I.1. Übersetzt nach Ziegler, Große Griechen und Römer I, 48.

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

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Machtposition gesehen wird, andererseits mit einem falschen Streben nach Luxus und der damit einhergehenden Verweichlichung verbunden wird. Damit klingen bezüglich der Fußwaschung als Bedeutungsaspekte die mit Wohlbefinden oder Komfort verbundene Körperhygiene sowie der Ehrerweis gegenüber einer hochgestellten Person an. Dass die Fußwaschung hier als „niedrigster Sklavendienst“ konnotiert sei, lässt sich dem Text jedoch nicht entnehmen, da weder implizit noch explizit zum Ausdruck gebracht wird, dass Skiron die Passanten wie Sklaven behandelte oder zu Sklaven degradierte.166 Die erzwungene Fußwaschung wird zum Ausdruck von Machtanmaßung und unangemessenem Streben nach Luxus im Gegenüber zu einer freiwillig durchgeführten Fußwaschung, die eine Annehmlichkeit und eine Ehrerbietung darstellt.167 Die ‚Schmach der Frauen von Milet‘, die Herodot (ca. 484 – ca. 425 v. Chr.)168 im sechsten Buch seines großen Geschichtswerks zu den Perserkriegen beschreibt (6,19), wird häufig dahingehend erklärt, dass hier Fußwaschung als Sklavendienst schlechthin im Text vorkomme, Thomas spricht sogar von einem „synonym for slavery“.169 Die Unterscheidung von Bild- und Sachhälfte und die angemessene Berücksichtigung der metaphorischen Sprache der Gattung Orakel legen jedoch eine andere Interpretation nahe, welche dem Orakeltext – in sorgfältiger Differenzierung zu den später tatsächlich eintretenden historischen Ereignissen – angemessener ist. Ein Orakel von Delphi an die Argiver, die sich nicht am Kriegsgeschehen zwischen den Griechen und den Persern beteiligen wollten, gibt in bildhafter Sprache unter anderem die Niederlage der Stadt Milet gegenüber den Persern bekannt. Das Orakel lautet: Und dann wirst du, Milet, du Urheberin böser Taten, vielen zum Mahl und zur herrlichen Gabe für viele geraten. Deine Frauen, sie werden vieler Langhaariger Füße waschen, und für meinen Tempel in Didyma werden andere sorgen. (Herodot 6,19,2)170

In einem weiteren Abschnitt ergänzt Herodot die Interpretation des Orakels, indem er das tatsächlich eingetretene Schicksal der Stadt Milet beschreibt: Damals nun traf dies die Milesier, als die meisten ihrer Männer von den Persern, die langhaarig sind, getötet wurden, ihre Frauen und Kinder aber zu Sklaven wurden und das Heiligtum in Didyma – sowohl der Tempel als auch die Orakelstätte – geplündert und in Brand gesteckt wurde. 166 So

jedoch grundlegend Kötting, Fußwaschung, 749.  Vgl. dazu vor allem die entsprechenden Überlegungen des Odysseus in der Darstellung von Hom.Od. 19,343–345. 168 Bachmaier, Herodot, 305. 169  Thomas, Footwashing, 51; vgl. auch grundlegend Kötting, Fußwaschung, 749. 170  Herodot 6,19,2: καὶ τότε δή, Μίλητε, κακῶν ἐπιμήχανε ἔργων, πολλοῖσιν δεῖπνον τε καὶ ἀγλαὰ δῶρα γενήσῃ, σαὶ δ’ ἄλοχοι πολλοῖσι πόδας νίψουσι κομήταις, νηοῦ δ’ ἡμετέρου Διδύμοις ἄλλοισι μελήσει. Zitiert nach Feix, Herodot II, 774, übersetzt nach Nesselrath, Herodot, 445. 167

174

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Von den in diesem Heiligtum befindlichen Schätzen habe ich schon oft an anderen Stellen meiner Erzählung gesprochen. (Herodot 6,19,3)171

Zuerst soll der Orakeltext, im Anschluss daran dessen Anwendung auf die geschichtlichen Ereignisse interpretiert werden. Nur in dem vom Orakel entworfenen Bild, nicht jedoch in der sich anschließenden Darstellung der geschichtlichen Ereignisse, wird die Fußwaschung explizit erwähnt. Das Orakel zeichnet das Bild eines Gastmahls mit scheinbar ehrenwerten Gästen, die sogar die religiösen Schätze der Gastgebenden bewahren. Deutlich kritisch wird Milet in der ersten Zeile als aktiv tätige Verursacherin von bösen Taten dargestellt. In der zweiten Zeile des Orakels wird den Einwohnern von Milet angekündigt, dass sie wie ein „Mahl“ (δεῖπνον) und wie „herrliche (Gast-) Geschenke“ (ἀγλαὰ δῶρα) für die Fremden sein werden. Es handelt sich hier um metaphorische Rede. Die skizzierte Situation ist das – für sich genommen positiv besetzte  – Bild eines Gastmahls mit reichen Gastgeschenken. Die wegen ihrer Bosheit kritisierte Stadt wird mit der positiv besetzten Vorstellung eines Gastmahls und wertvollen Gastgeschenken in eine spannungsvolle Beziehung gesetzt. In der vierten Zeile wird hervorgehoben, dass sich andere um den Tempel kümmern. Auch hier handelt es sich um metaphorische Rede. Das Orakel skizziert mit Blick auf den Tempel ein Bild für die Zukunft, das nahelegt, dass die Heiligtümer bei anderen in guten, fürsorglichen Händen sein werden. Die in der dritten Zeile erwähnte Fußwaschung der Frauen gehört zu dem entworfenen Bild vom Gastmahl und ist ebenfalls metaphorisch zu verstehen. Das heißt, die Fußwaschung der Frauen findet im Rahmen der in der zweiten Zeile angedeuteten Gastfreundschaft statt und ist – vergleichbar mit den reichen Gastgeschenken beim Gastmahl – in diesem Kontext als Ausdruck einer kulturell positiv besetzten Geste der Gastfreundschaft zu deuten. Für diese Interpretation spricht auch, dass das Tempus der drei Prädikate γενήσῃ, νίψουσι und μελήσει jeweils Futur Indikativ ist. Alle drei Aussagen werden als zukünftig eintretendes Geschehen bzw. als zukünftige Handlungen dargestellt, die sich in dem hier entworfenen Bild des Orakels ohne erkennbaren Zwang ereignen werden. Die griechische Formulierung enthält also keinen Hinweis darauf, dass die Frauen zur Fußwaschung verpflichtet oder gar gezwungen werden. Es handelt sich vielmehr um eine freiwillig durchgeführte Fußwaschung im Kontext eines Gastmahls als Zeichen der Gastfreundschaft und Ehrerbietung. Damit entwirft das Orakel in den Zeilen 2 und 3 eine Vorstellung, in der die Stadt Milet mit ihren Bewohnern den Fremden gastfreundlich offensteht: Diese 171  Herodot 6,19,3: τότε δὴ ταῦτα τοὺς Μιλησίους κατελάμβανε, ὅτε γε ἄνδρες μὲν οἱ πλεῦνες ἐκτείνοντο ὑπὸ τῶν Περσέων ἐόντων κομητέων, γυναῖκες δὲ καὶ τέκνα ἐν ἀνδραπόδων λόγῳ ἐγίνοντο, ἱρὸν δὲ τὸ ἐν Διδύμοισι, ὁ νηός τε καὶ τὸ χρηστήριον, συληθέντα ἐνεπίμπρατο. τῶν δ’ ἐν τῷ ἱρῷ τούτῳ χρημάτων πολλάκις μνήμην ἑτέρωθι τοῦ λόγου ἐποιησάμην. Zitiert nach Feix, Herodot II, 774, übersetzt nach

Nesselrath, Herodot, 445.

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

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finden dort Essen, Gastgeschenke und eine gastfreundliche Waschung der Füße. Das Orakel lässt keine Zweifel daran, dass diese skizzierte Gastfreundschaft in der vorliegenden Situation für das kritisierte Milet eine Bedrohung darstellt, die im Fehlverhalten und der unzutreffenden Situationsanalyse durch die Stadtbevölkerung begründet ist. Die damit verbundenen Fehler machen die Mileter aufgrund ihrer eigenen Entscheidung. Ihr eigenes Handeln wird ihnen deshalb zum Verhängnis. Erwähnenswert ist noch, dass die Frauen im Orakeltext nicht mit dem gebräuchlichen Nomen γυνή für ‚Frau‘ oder ‚Ehefrau‘ bezeichnet werden, sondern mit dem seltenen Begriff ἄλοχος, das wörtlich übersetzt werden kann mit ‚Bettgenossin‘ oder auch mit ‚Geliebte‘ oder ‚Nebenfrau‘.172 Es findet sich hier also ein Begriff, der die Subjekte der Fußwaschung als Geliebte und Sexualpartnerinnen konnotiert. Durch die Verbindung dieses Nomens mit der Handlung der Fußwaschung werden neben der gastfreundlichen Aufnahme und Ehrerbietung auch die Assoziationen der intimen Nähe hervorgerufen, die sich mit dem Waschen der Füße in bestimmten Kontexten üblicherweise verbinden kann. Damit wird hier nicht nur angedeutet, dass die Frauen die Fremden gastfreundlich mit einer Fußwaschung vor dem Mahl begrüßen – was eine der Gastfreundschaft entsprechende, ehrenwerte Handlung ist –, sondern ihnen wahrscheinlich auch sexuell zur Verfügung stehen, was den üblichen Rahmen der Gastfreundschaft verlässt, zumindest wenn als Subjekte die Ehefrauen der Gastgeber angesprochen sind. Dieser Aspekt bleibt jedoch im Orakeltext durch die Wortwahl in der Schwebe, er wird nur angedeutet.

Das Orakel entwirft also insgesamt ein Bild, gemäß dem die Stadt Milet die Fremden gastfreundlich empfängt und diesen ermöglicht, all ihre Bedürfnisse zu befriedigen, wobei die Fußwaschung hier sowohl den Aspekt der Ehrerbietung in Form einer gastfreundlichen Begrüßung als auch, durch die Bezeichnung der Subjekte als ‚Bettgenossinnen‘, den der sexuellen Intimität impliziert. Da im Bild des Orakels keinerlei Zwang angedeutet wird, sondern die Stadt den Fremden vielmehr freiwillig gastfreundlich offensteht, ist auch mit der Fußwaschung in diesem Bild gerade keine Assoziation an eine erzwungene Handlung verbunden. Milet ist – gemäß der Darstellung der im Orakel gewählten Metapher! – also wie ein offenes Haus, das seine Gäste wohlwollend nach den Regeln der Gastfreundschaft empfängt und ihnen sogar den Tempel zum Hüten anvertraut. Damit entspricht das im Orakel entworfene Bild der im vorangehenden Textabschnitt beschriebenen Situation, dass die griechischen Städte nicht bereit waren, sich selbst durch harte Arbeit zu trainieren und sich so vor fremden Übergriffen zu schützen und Sorge dafür zu tragen, dass sie nicht in Sklaverei fallen (Herodot 6,11–17; vor allem 6,11). Ihrer geäußerten Meinung nach könne Sklaverei nicht schlimmer sein als die harte Arbeit, die Dionysios von ihnen verlange (Herodot 6,12). Die metaphorische Rede des Orakels nimmt diese Fehleinschätzung der Situation auf: Freiwillig, das heißt aus selbstverschuldeter Dumm172  Vgl. Liddell/Scott, ad verbum; hier werden als Bedeutungen ‚leman‘ und ‚concubine‘ genannt.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

heit und Bequemlichkeit, lädt man die Fremden/Feinde gastfreundlich ein, in Milet all ihre Bedürfnisse zu stillen, wobei ihnen ein Gastmahl, Gastgeschenke und das Waschen der Füße angeboten werden. Die historische Realität skizziert Herodot im Anschluss an den Orakeltext in knappen Sätzen. Die Perser nehmen Milet durch einen militärischen Angriff ein, die Männer werden getötet, die Frauen und Kinder werden versklavt und die Tempel ausgeraubt und zerstört. Von einer Fußwaschung ist hier nicht mehr die Rede. Frauen und Kinder stehen nun als Sklavinnen und Sklaven in der vollen Verfügungsgewalt ihrer Herren, müssen Dienstleistungen aller Art verrichten und auch sexuelle Bedürfnisse stillen.173 Das wird jedoch nicht im Einzelnen ausgeführt, sondern ist im Sklavenstatus impliziert. Wenn man nun mit Hilfe des Orakelbildes die historische Realität, das heißt den Sieg der Perser über Milet, deutet, so erscheint die Stadt einerseits als leichte Beute – die eigentlich wehrfähigen Männer übergeben sich gewissermaßen selbst auf dem Silbertablett – und andererseits als Ort der Ausbeutung, wo die Feinde sich Nahrung, materielle Güter und Dienstleistungen aller Art ohne Widerstand abholen können. Für die Bedeutung der Fußwaschung, die in der dritten Zeile des Orakeltextes erwähnt wird, trägt die detaillierte Analyse des Orakels und der sich anschließenden knappen Beschreibung der historischen Realität folgende Ergebnisse aus: Die Fußwaschung kommt nur in der metaphorischen Rede des Orakels vor, wo sie im Rahmen der Gastfreundschaft stattfindet und Bestandteil einer freiwilligen gastfreundlichen Aufnahme von Fremden durch die Einwohner Milets ist. Das Orakel lässt durch die skizzierten Elemente ‚Gastmahl‘, ‚herrliche Geschenke‘ und eine ‚Fußwaschung durch Bettgenossinnen‘ ein bestimmtes Bild vor dem Auge der Lesenden entstehen, in welchem die Fußwaschung mit Gastfreundschaft, Ehrerbietung und intimer Nähe assoziiert wird.174 Die im Orakeltext benannte Fußwaschung ist zu unterscheiden von der sich anschließenden Beschreibung des späteren Sklavinnenstatus der Frauen, wo keine Fußwaschung erwähnt wird. Bei der Beschreibung des in der Realität eintretenden Schicksals der Stadt wird nur knapp darüber informiert, dass Frauen und Kinder versklavt werden. Selbst wenn die Fußwaschung zu den Aufgaben von Sklavinnen und Sklaven gehörte, was hier nicht bestritten werden soll, 173  Zur Verfügbarkeit von Sklavinnen und Sklaven durch ihre Eigentümer in Griechenland vgl. Gehrke, Sklaverei III; zur Situation in Rom vgl. Heinrichs, Sklaverei IV, vgl. auch Schumacher, Sklaverei, bes. 265–276, zur Situation der hausgeborenen Sklavinnen und Sklaven vgl. Herrmann-Otto, Ancilla. 174  Es ist nicht ungewöhnlich, dass zur Gastfreundschaft nicht nur das Angebot von Reinigung und Essen gehört, sondern auch die Möglichkeit sexueller Kontakte; dazu Stein, Mahlfeiern, 36.42–49. Plutarch verweist darauf, dass es zum Schutz der Frauen sei, wenn sie die Männer mit Prostituierten und Sklavinnen beim Symposium allein ließen; Plut. mor. 140b; Sueoton erzählt von nackten Sklavinnen; Sueton, Tiberius 42,2; auch Homosexualität hatte ihren festen Platz, vgl. Athen. Deipn. 13,555a–610b; vgl. dazu Stein, Mahlfeiern, 46.

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

177

lässt sich mit dem Orakeltext nicht die Hypothese begründen, dass „die ‚Inbesitznahme‘ von Sklaven/Sklavinnen“ darin vollzogen wurde, „daß jene diesen Dienst erstmals am neuen Herrn leisten mußten.“175 Sowohl gattungsmäßig als auch sachlich ist die im Orakel skizzierte Situation der Gastfreundschaft zu unterscheiden von der sich anschließenden Beschreibung der geschichtlich eintretenden Versklavung der Frauen und Kinder. Die Lesenden erfahren zwar von der Versklavung, über die Aufgaben oder gar über die ersten von ihnen zu verrichtenden Dienste wird jedoch nichts gesagt. Angesichts der metaphorischen Rede im Orakel kann das in diesem Zusammenhang erwähnte Waschen der Füße nicht einfach als typischer Sklavendienst in die Darstellung des späteren real eintretenden Sklavinnenstatus der Frauen eingetragen werden. Bei der letzten Zeile des Orakels wird die Unterscheidung von Orakeltext und der später eingetroffenen Realität am deutlichsten. Im Bild des Orakels werden sich die Fremden um die Schätze im Tempel fürsorglich kümmern, in der Realität werden die Tempel ausgeraubt und niedergebrannt. Das mit dem positiv besetzten Bild eines Gastmahls arbeitende Orakel bietet also nur eine metaphorisch verhüllte Andeutung dessen, was später Schlimmes eintreten wird. Von daher macht es einen gravierenden Unterschied, ob die Fußwaschung im Orakelbild genannt wird, wo sie im Kontext einer Gastmahl-Szene steht, oder ob sie in der Beschreibung der späteren Realität mit der Versklavung von Frauen und Kindern verbunden wird. Das wäre zwar möglich, ist aber hier nicht der Fall. Der vorliegende Textabschnitt bei Herodot kann aus den genannten Gründen nicht als Beleg dafür angeführt werden, dass in der Antike eine Fußwaschung grundsätzlich als der typische Dienst von Sklavinnen und Sklaven betrachtet wurde oder dass eine Sklavin als erstes, gewissermaßen zur Initiation, dem neuen Herrn die Füße waschen müsse.176 Vielmehr werden auch hier kulturell mit der Fußwaschung verbundene Aspekte  – Gastfreundschaft, Ehrerbietung, intime Nähe – aufgerufen und genutzt, um durch das Orakel ein ganz bestimmtes Bild von Milet als einer den Feinden gastfreundschaftlich offenstehenden Stadt zu entwerfen. In dem Orakeltext selbst geht es nicht um eine erzwungene, sondern um eine im Rahmen der Gastfreundschaft freiwillig erbrachte Fußwaschung der Frauen. Der Orakeltext mit allen enthaltenen Elementen ist gattungsmäßig und inhaltlich von der Beschreibung der später eintretenden Realität zu trennen, auch wenn mit Hilfe des Orakeltextes die Realität auf eine ganz bestimmte Art und Weise gedeutet wird – wozu die skizzierte Fußwaschung ihren spezifischen und wichtigen Beitrag leistet.

175  Niemand, Fußwaschung, 179 unter Bezugnahme auf Kötting, Fußwaschung, 749, der aber nicht von einer Inbesitznahme oder dem ersten Dienst eines Sklaven bzw. einer Sklavin gegenüber ihrem Eigentümer spricht, sondern nur von einem typischen Sklavendienst. 176  So die These von Niemand, Fußwaschung, 179.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Als Fazit aus den dargestellten Texten lässt sich festhalten, dass in wohlhabenden Haushalten die Fußwaschung im Kontext der alltäglichen Hygiene selbstverständlich auch von Sklavinnen bzw. Sklaven ausgeführt werden musste, dies jedoch in der Literatur gerade wegen ihrer Alltäglichkeit selten erwähnt wird. Nur weil diese Selbstverständlichkeit für Pompeius nicht mehr gegeben ist und ihm kein Sklave, sondern Favonius die alltäglichen Dienste erweist und dabei auch die Füße wäscht, ist die Episode einer Erzählung wert (Plut. Pomp. 73). Eine freiwillig für eine andere Person ausgeführte Fußwaschung ist Zeichen der Ehrerbietung, der Zuneigung oder auch der intimen Liebe, welche für die ausführenden Subjekte nicht mit einer Erniedrigung verbunden ist, sondern geradezu ein Zeichen von Ehrbarkeit und Tugend sein kann und oft einen Ausdruck inniger Nähe darstellt. Erst eine erzwungene Fußwaschung stellt für die ausführenden Subjekte – genau aus diesem Grund – eine besondere Demütigung dar (vgl. zum Beispiel Plut. Theseus 10,1–4).177 Die betroffenen Personen werden dazu genötigt, eine Handlung auszuführen, die unter normalen Umständen mit einer intimen Berührung, mit persönlicher Nähe oder einer besonderen Verehrung konnotiert ist. Durch den Zwang wird der Zweck dieser Handlung in ihr Gegenteil verkehrt und so wird die erzwungene Fußwaschung zu einem besonders perfiden Zeichen von missbrauchten Machtansprüchen, Demütigung und Gewalt.

3.3.3. Das Verbot der Fußwaschung für jüdische Sklaven Sklaven und Sklavinnen im Alten Orient hatten kein Recht auf die eigene Person, sondern gehörten als Eigentum ganz in die Verfügungsgewalt ihrer Herren. „Sk. konnten als Eigentum ihres jeweiligen Gewalthabers verkauft, vermietet, verpfändet, verschenkt, vererbt und freigelassen werden. Ein Recht, seinen Sk. zu töten, besaß der Eigentümer jedoch nicht, wohl aber ein Züchtigungsrecht.“178 Nach Gehrke sind in der homerischen Zeit „Sklavinnen und Sk. vornehmlich im häuslichen Bereich zu finden“ und es „sind demgemäß auch innige und loyale Beziehungen belegt, doch zeigt sich der Gewaltcharakter der S. darin, daß neben Menschenraub v. a. Kriegshandlungen der Rekrutierung von Sk. dienten und 177  Sogar der Empfang einer Fußwaschung kann für den Adressaten aufgrund der Berührung unangenehm sein, wenn er weiß, dass sich die ausführenden Personen abfällig über ihn äußern; vgl. Hom.Od. 19. 178  Neumann, Sklaverei I; vgl. auch Gehrke, Sklaverei III; Heinrichs, Sklaverei IV. In der Forschung finden sich unterschiedliche Bewertungen zum Phänomen der Sklaverei in der Antike, die zum Teil von einem eher humanen Umgang mit den versklavten Menschen ausgehen, während andere Positionen ein komplexes Phänomen voraussetzen und gerade auch die entwürdigende und mit Gewalt verbundene Behandlung von Sklavinnen und Sklaven hervorheben; vgl. dazu Martin, Blick, 251 f.

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

179

daß davon v. a. Frauen betroffen waren, die in die völlige – auch sexuelle – Verfügung der Sieger gerieten.“179 Sklaven konnten sowohl einfache als auch hochqualifizierte Aufgaben übertragen werden, so dass ihr sozialer und zum Teil auch ihr ökonomischer Status je nach Situation unterschiedlich ausfallen konnte.180 Auch für die alttestamentliche Zeit gilt, dass „[a]llen unterschiedlichen Formen von Sklaverei (zeitlich befristete Schuldsklaverei, Sklaverei infolge von Kriegsgefangenschaft, ‚hausgeborene Sklaven‘ usw.) […] die völlige Abhängigkeit vom Herren oder der Herrin gemeinsam“ ist.181 Außerdem ist zu bedenken, dass im Alten Orient auch die Untertanen des Königs und dessen ranghohe Minister, als ‚Sklaven des Königs‘ bezeichnet wurden, um so ihre Abhängigkeit und loyale Unterordnung zu verdeutlichen.182 Auch im antiken Judentum war die Sklaverei ein so vertrautes Phänomen, dass die Terminologie metaphorisch im religiösen, psychologischen, gesellschaftlichen und politischen Bereich verwendet werden konnte.183 Die Rede von den Israeliten als Sklaven Gottes ist vor allem mit der Exodus-Erfahrung verbunden, da Gott sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat und sie dadurch Gottes Eigentum geworden sind. Der Exodus wird zur Metapher für unterschiedliche Bindungs- und Befreiungserfahrungen, zum Beispiel die Befreiung von Leidenschaften und Begierden durch Gott bzw. mit Gottes Hilfe.184 Die Tora fordert, häufig begründet mit der Exodus-Erfahrung, humane Bedingungen für Sklavinnen und Sklaven, vor allem Personen aus dem eigenen Volk werden besonders geschützt. In der alttestamentlichen Rechtsprechung wird zwischen hebräischen und ausländischen Sklaven unterschieden: Hebräische Sklaven, die sich aufgrund von Schulden in die Sklaverei begeben, sollen nur sechs Jahre unfrei bleiben (vgl. Ex 21,2; Dtn 15,12; Jer 34,14).185 Während hebräische Sklavinnen und Sklaven in der Regel nicht vollständig und dauerhaft in den Besitz eines Herren oder einer Herrin übergingen und damit gerade nicht zum Eigentum anderer Menschen wurden, konnten Sklaven aus fremden Völkern als uneingeschränktes Eigentum angesehen und behandelt werden (Lev 25.44–46).186  Gehrke, Sklaverei III. Gehrke, Sklaverei III, Heinrichs, Sklaverei IV, auch Herrmann-Otto, Sklaverei, 340–411. 181  Kessler, Sklaverei. Vgl. auch Dandamayev, Slavery, 62–65; Hezser, Slavery. 182 Dandamayev, Slavery, 59. Dieser Sprachgebrauch findet sich auch in der Bibel, Paulus bezeichnet sich z. B. wiederholt als Sklave Gottes oder Christi (Röm 1,1; Gal 1,10; Phil 1,1) im Sinne eines Ehrentitels. Auch Gemeindeglieder kann Paulus als Sklaven Christi oder Gottes bezeichnen, warnt sie aber, sich zu Sklaven von Menschen zu machen, z. B. 1 Kor 7,22 f.; nur ausnahmsweise verwendet er Sklaventerminologie, um den gegenseitigen Dienst der Gemeindeglieder (Gal 5,13) oder seinen Dienst an der Gemeinde (2 Kor 4,5) zu bezeichnen. Vgl. auch Hezser, Slavery, 377. 183 Hezser, Slavery, 377–379. 184  Vgl. Hezser, Slavery, 363–376. 185  Dandamayev, Slavery, 63. 186 Dandamayev, Slavery, 64. 179

180 Vgl.

180

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

In Ex 21,2–11 finden sich Rechtsbestimmungen zum Schutz für hebräische Sklaven (21,2–6) und Sklavinnen (21,7–11). Dabei geht es vor allem um die Begrenzung der Versklavung, besonders um die Forderung einer späteren Freilassung und um die familiären Beziehungen von hebräischen Sklavinnen und Sklaven. Ex 21,2–11: 2 Wenn du einen hebräischen Sklaven kaufst, so soll er dir sechs Jahre dienen; im siebenten Jahr aber soll er freigelassen werden ohne Lösegeld. 3 Ist er ohne Frau gekommen, so soll er auch ohne Frau gehen; ist er aber mit seiner Frau gekommen, so soll sie mit ihm gehen. 4 Hat ihm aber sein Herr eine Frau gegeben und hat sie ihm Söhne oder Töchter geboren, so sollen Frau und Kinder seinem Herrn gehören, er aber soll ohne Frau gehen. 5 Spricht aber der Sklave: Ich habe meinen Herrn lieb und meine Frau und Kind, ich will nicht frei werden, 6 so bringe ihn sein Herr vor Gott und stelle ihn an die Tür oder den Pfosten und durchbohre mit einem Pfriem sein Ohr, und er sei sein Sklave für immer. 7 Verkauft jemand seine Tochter als Sklavin, so darf sie nicht freigelassen werden wie die Sklaven. 8 Gefällt sie aber ihrem Herrn nicht, nachdem er sie für sich bestimmt hat, so soll er sie auslösen lassen. Er hat aber nicht Macht, sie unter ein fremdes Volk zu verkaufen, nachdem er sie verschmäht hat. 9 Hat er sie aber für seinen Sohn bestimmt, so soll er nach dem Recht der Töchter an ihr tun. 10 Nimmt er sich aber noch eine andere, so soll er der ersten an Nahrung, Kleidung und ehelichem Recht nichts abbrechen. 11 Erfüllt er an ihr diese drei Pflichten nicht, so soll sie umsonst freigelassen werden, ohne Lösegeld.187

In Ex 21,2–6 wird zunächst verfügt, dass ein hebräischer Sklave maximal sechs Jahre dienen darf (21,2) und dass er mit oder ohne Ehefrau freiwerden soll, je nachdem, in welchem Stand er versklavt wurde (21,3). Wenn sein Herr ihm eine Frau gegeben hat, gehören Ehefrau und Kinder des Sklaven dauerhaft dem Herrn und müssen bleiben (21,4). Der Sklave hat deshalb die Möglichkeit, wenn er seinen Herrn, die Frau und die Kinder liebt (MT: ‫אהב‬, LXX: ἀγαπάω), für immer bei seinem Herrn zu bleiben und sich mit einem Pfriem ein Zeichen am Ohr anbringen zu lassen (21,5 f.). In Ex 21,7–11 geht es um hebräische Frauen, die als Sklavinnen verkauft werden müssen. Sie dürfen nicht wie Sklaven entlassen werden, vorausgesetzt ist vielmehr, dass sie wie Ehefrauen zu behandeln sind (21,7). Wenn sie dem Mann, der sie zu seiner Frau bestimmt hat, missfällt, darf er sie nicht an einen nicht-jüdischen Herrn verkaufen (21,8). Wenn sie die Frau seines Sohnes geworden ist, muss er sie sogar nach dem Töchterrecht behandeln (21,9). Die Sklavin hat als Ehefrau ein bleibendes Anrecht auf Nahrung, Kleidung und ehelichen Verkehr, selbst wenn sich der Mann eine weitere Frau nimmt (21,10). Wenn der Herr diesen drei Ehepflichten nicht nachkommt, hat die Frau ein Recht auf ihre unentgeltliche Freiheit (21,11). In dem entsprechenden Abschnitt Dtn 15,12–18 wird zusätzlich gefordert, dass ein Bruder, ein hebräischer Sklave bzw. Sklavin, nicht mit leeren Händen,

187 Übersetzt

nach der Lutherübersetzung.

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

181

sondern mit Lohn entlassen werden soll. Das freiwillige Bleiben im Haus des Herrn wird hier ausschließlich mit der Liebe zum Herrn verbunden (15,16 f.). Dtn 15,12–18: 12 Wenn sich dein Bruder, ein Hebräer – oder eine Hebräerin –, dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen; im siebenten Jahr sollst du ihn als frei entlassen. 13 Und wenn du ihn freigibst, sollst du ihn nicht mit leeren Händen von dir gehen lassen, 14 sondern du sollst ihm aufladen von deinen Schafen, von deiner Tenne, von deiner Kelter, sodass du ihm gibst von dem, womit dich der HERR, dein Gott, gesegnet hat, 15 und sollst daran denken, dass du auch Knecht warst in Ägyptenland und der HERR, dein Gott, dich erlöst hat; darum gebiete ich dir solches heute. 16 Wird er aber zu dir sprechen: Ich will nicht fortgehen von dir, denn ich habe dich und dein Haus lieb – weil ihm wohl bei dir ist –, 17 so nimm einen Pfriem und durchbohre ihm sein Ohr an dem Pfosten der Tür und lass ihn für immer deinen Knecht sein. Mit deiner Magd sollst du ebenso tun. 18 Und lass dir’s nicht schwerfallen, dass du ihn freilässt, denn er hat dir sechs Jahre wie zwei Tagelöhner gedient; so wird der HERR, dein Gott, dich segnen in allem, was du tust.188

In Lev 25,39–55 geht es vor allem um die Grenzen der Verfügung über hebräische Sklavinnen und Sklaven. Der Bruder soll nicht als Sklave dienen, sondern nur wie ein Tagelöhner oder Fremder bis zum Jobeljahr arbeiten (25,39 f.).189 Lev 25,39–46: 39 Wenn dein Bruder neben dir verarmt und sich dir verkauft, so sollst du ihn nicht als Sklaven dienen lassen; 40 sondern wie ein Tagelöhner, wie ein Beisasse soll er bei dir sein und bis an das Erlassjahr bei dir dienen. 41 Dann soll er von dir frei ausgehen und seine Kinder mit ihm und soll zurückkehren zu seiner Sippe und wieder zum Besitz seiner Väter kommen. 42 Denn sie sind meine Knechte, die ich aus Ägyptenland geführt habe. Darum soll man sie nicht wie einen Sklaven verkaufen. 43 Du sollst nicht mit Gewalt über sie herrschen, sondern dich fürchten vor deinem Gott. 44 Willst du aber Sklaven und Sklavinnen haben, so sollst du sie kaufen von den Völkern, die um euch her sind, 45 und auch von den Beisassen, die als Fremdlinge unter euch wohnen, und von ihren Nachkommen, die sie bei euch in eurem Lande zeugen. Die mögt ihr zu eigen haben 46 und sollt sie vererben euren Kindern zum Eigentum; für immer könnt ihr sie als Sklaven arbeiten lassen. Aber von euren Brüdern, den Israeliten, soll keiner über den andern mit Gewalt herrschen. Lev 25,53–55: 53 Wie ein Tagelöhner soll er von Jahr zu Jahr bei ihm sein, doch soll er nicht mit Gewalt über ihn herrschen vor deinen Augen. 54 Wird er aber nicht auf diese Weise eingelöst, so soll er im Erlassjahr frei ausgehen und seine Kinder mit ihm. 55 Denn mir gehören die Israeliten als Knechte; meine Knechte sind sie, die ich aus Ägyptenland geführt habe. Ich bin der HERR, euer Gott.190

In Lev 25,42 f. wird untersagt, den jüdischen Mitbruder wie einen Sklaven zu verkaufen oder mit Gewalt über ihn zu herrschen (MT) oder ihn in der Mühsal zu quälen (LXX). Im Gegensatz dazu dürfen gemäß Lev 25,44–46 Sklaven bzw. Sklavinnen aus anderen Völkern gekauft und wie Eigentum behandelt werden, 188 Übersetzt

nach der Lutherübersetzung. Masoretentext verwendet in Lev 25,39 den Wortstamm ‫ר־לְ֑ך‬ ָ ‫אָחיָך ִע ָ ֖מְּך וְ נִ ְמ ַכּ‬ ֛ ִ ‫י־יָמוְּך‬ ֥ ‫ וְ ִ ֽכ‬:‫עבד‬ ‫א־ת ֲע ֥בֹד ֖בֹּו ֲע ֥בֹ ַדת ָ ֽע ֶבד׃‬ ַ ֹ ‫ל‬. Die Septuaginta spricht explizit vom Sklavendienst: Ἐὰν δὲ ταπεινωθῇ ὁ 189 Der

ἀδελφός σου παρὰ σοὶ καὶ πραθῇ σοι, οὐ δουλεύσει σοι δουλείαν οἰκέτου· 190 Übersetzt

nach der Lutherübersetzung.

182

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

das man an die eigenen Nachkommen vererben kann, während man über die eigenen Brüder nicht mit Gewalt herrschen darf (MT) bzw. sie nicht quälen darf (LXX). Wenn ein Angehöriger des jüdischen Volkes sich an einen ausländischen Besitzer verkaufen muss, besteht sogar eine Loskaufspflicht (Lev 25,47–54). Offensichtlich werden die jüdischen Sklavinnen und Sklaven durch die Bestimmungen in Lev 25,39–55 davor geschützt, dass sie in die dauerhafte und vollständige Verfügungsgewalt ihrer Herren kommen, die auch Gewaltausübung und Eigentumsrechte wie Vererben und Verkaufen einschließt. Als Begründung wird wiederholt angeführt, dass Gott sein Volk aus der Sklaverei in Ägypten losgekauft hat und nun ihr – sozusagen rechtmäßiger und einziger – Herr und Eigentümer ist (Lev 25,42.55). Auf diesem Hintergrund sind nun die Ausführungen der Mekhilta de Rabbi Jischmael zu Ex 21,1–3 im Abschnitt Nezikin zu interpretieren, welche immer wieder mit Blick auf die dort erwähnte Fußwaschung zitiert werden. Mit Blick auf Ex 21,2 wird in MekhJ diskutiert, welche Aufgaben der hebräische Sklave verrichten muss, da er gemäß der Schrift (Lev 25,39 f.) nicht als Sklave oder Leibeigener, sondern nur wie ein Tagelöhner oder wie ein vorübergehend im Land wohnender Fremder und auch nur zeitlich begrenzt bis zum Jobeljahr dienen soll. Alle in diesem Rahmen üblichen Arbeiten muss er erledigen. Der öffentliche Dienstleistungsbereich ist jedoch vollständig ausgenommen, außer wenn er dort vorher schon beruflich gearbeitet hat. Sechs Jahre soll er dienen. Da könnte ich meinen: Jeder Dienst ist in dem Wortlaut enthalten? deshalb heißt es (Lev. 25,39): „Du sollst ihn nicht dienen lassen Dienst des Sklaven“. Von hier haben sie (die Weisen) gesagt: Nicht soll er ihm seine Füße waschen und nicht ihm seine Sandalen ausziehen, und nicht darf er ihm Geräte nach dem Badehause tragen, und nicht darf er ihn an den Lenden stützen, wenn er eine Stufe hinaufsteigt, und nicht darf er ihn tragen in einer Sänfte (lectica), wie die Sklaven tun, denn es heißt (Lev. 25,40): „Und über eure Brüder, die Söhne Israels, einer über den andern – nicht sollst du über ihn herrschen mit Strenge“. Jedoch bei seinem Sohne und Schüler ist es erlaubt. Sechs Jahre soll er dienen. Da könnte ich meinen: sowohl einen Dienst, an welchem Verächtlichmachung ist, wie einen, an welchem nicht Verächtlichmachung ist? Daher heißt es (das. 25,40): „Wie ein Mietling, wie ein Beisaß“. Wie du hinsichtlich des Mietlings das Handwerk nicht ändern darfst, so darfst du auch hinsichtlich des hebräischen Sklaven das Handwerk nicht ändern. Von hier haben sie (die Weisen) gesagt: Nicht darf ein Herr ihn in ein Handwerk einsetzen, welches der Oeffentlichkeit dient, z. B. Schneider, Bader, Barbier, Schlächter, Bäcker. R. Jose sagt: Wenn sein Handwerk (seine Berufsarbeit) hierfür (zum öffentlichen Dienst) bestimmt war, soll er es verrichten, aber sein Herr darf für ihn nicht ändern. „Wie ein Mietling, wie ein Beisaß“, d.i. wie der Mietling am Tage dient, aber nicht in der Nacht dient, so dient auch der hebräische Sklave am Tage, aber er dient nicht in der Nacht. R. Jose sagt: Alles nach seinem Handwerk.191

191 Übersetzt

nach Wünsche, Mechiltha, 236.

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

183

Durch die Bestimmungen werden dem Eigentümer des versklavten Israeliten bestimmte Verfügungsrechte über die Person des Sklaven entzogen, der nicht als Leibeigener dienen soll. Explizit ausgeschlossen wird nicht eine einzelne Handlung wie zum Beispiel die Fußwaschung, sondern eine Zusammenstellung von Tätigkeiten, die offensichtlich alle im Kontext eines öffentlichen Besuchs im Badhaus stattfinden: das Waschen der Füße, das Anziehen der Schuhe, das Tragen seiner Sachen auf dem Weg zum Badhaus, das Stützen an den Hüften und das Tragen in einem Sessel oder einer Sänfte. Begründet wird dies unter Bezug auf Lev 25,46 (vgl. auch 25,43) damit, dass ein Israelit nicht mit Gewalt oder Härte über den anderen herrschen darf, wobei es in Lev 25,43–46 besonders darum geht, dass ein Israelit nicht Eigentümer eines Bruders sein darf. Offensichtlich sind die genannten Tätigkeiten hier also mit der Vorstellung verbunden, dass es sich um Aufgaben handelt, deren Ausführung das Machtgefälle zwischen Herrn und Sklave in besonderer Weise ausdrückt und öffentlich sichtbar macht. Interessant und bei der Interpretation zu beachten ist in diesem Zusammenhang die kurze Nebenbemerkung, dass ein Sohn oder Schüler diese Aufgaben ausführen darf.192 Das heißt, wenn die genannten Tätigkeiten in einer klar bestimmten und öffentlich bekannten Beziehung zwischen Vater und Sohn bzw. zwischen Lehrer und Schüler stattfinden, haben sie scheinbar nichts Anstößiges. Die aufgeführten Dienste zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit Berührungen verbunden sind (Fußwaschung, Anziehen der Schuhe, Stützen an der Hüfte), mit einem Bad und mit einer öffentlich sichtbaren hierarchischen Unterordnung (das Tragen der Sachen; das Tragen in einer Sänfte; evtl. auch die Ehrerbietung durch die Fußwaschung). Die Situation insgesamt kann sexuelle Assoziationen wachrufen (Fußwaschung, Bekleiden, Kleidung tragen, die Abläufe im Badhaus). Es ist also vorstellbar, dass hier Aufgaben eines versklavten, aber aufgrund der Bestimmungen der Tora nach wie vor als freier Israelit betrachteten Mannes für seinen Herrn abgewehrt werden, die in Richtung einer völligen, möglicherweise sexuellen Verfügbarkeit interpretiert werden könnten. Während Sklavinnen und Sklaven üblicherweise auch sexuell in der Verfügungsgewalt ihrer Herren standen, werden israelitische Sklaven grundlegend vor einem solchen Übergriff geschützt. In Ex 21,2–11, deren erster Abschnitt hier in MekhJ interpretiert wird, geht es zentral um die intimen Beziehungen im Haushalt des Sklaveneigentümers mit Blick auf seine hebräischen Sklaven bzw. Sklavinnen. Unter Bezugnahme auf Lev 25,39–55 wird das Verhältnis des Herrn zu seinem hebräischen Sklaven dahingehend konkretisiert, dass diese Grenze der Verfügbarkeit auch für andere in der Öffentlichkeit sichtbar wird, indem bestimmte mit einer Berührung verbundenen Handlungen im Kontext eines öffentlichen 192  Vgl. dazu auch Abschnitt 3.2.3. zur Fußwaschung im Rahmen einer Schüler-LehrerBeziehung.

184

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Badbesuchs verboten werden. Da das Waschen der Füße und die Begleitung zum Badhaus nicht zwingend sexuelle Handlungen nach sich zog – auch bei der Verrichtung dieser Tätigkeiten durch Schüler oder Söhne ist zwar eine intime Nähe gegeben, aber gerade kein sexuelles Verhältnis vorhanden193 – geht es dem Text möglicherweise vor allem darum, öffentlich deutlich zu machen, dass eine sexuelle Verfügbarkeit des Herrn über seinen israelitischen Sklaven im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten gegenüber Sklaven ausgeschlossen ist.194 Die aufgeführten Tätigkeiten, zu der die Fußwaschung gehört, werden an dieser Stelle also möglicherweise nicht verboten, weil es sich um erniedrigende Sklavendienste handelt, sondern weil sie sexuelle Implikationen wachrufen können.195 Dadurch ergibt sich eine mögliche Erklärung, warum Schüler und Söhne die genannten Aufgaben ohne Einschränkung verrichten dürfen, während es für hebräische Sklaven verboten wird.196 Dieser Interpretation entspricht, dass mit Blick auf Lev 25,39 in unserem Abschnitt einleitend formuliert wird, dass ein versklavter Israelit nicht jede Art von Diensten leisten soll, weil die Schrift verbietet, ihn zum Leibeigenen zu machen. Auch die thematische Schwerpunktsetzung des zweiten Abschnitts mit Blick auf Lev 25,40 bestätigt die vorgelegte Deutung, denn ab hier geht es nun explizit um 193 Vgl.

die Abschnitte 3.2.1 und 3.2.3.  Zur Homosexualität in der Antike vgl. Winterer, Sexualität, 31–114; zur Homosexualität mit einer Problematisierung des modernen Begriffs in seiner Anwendung auf Phänomene der Antike vgl. Zehnder, Homosexualität. Vgl. dazu auch Jos.Ant. 16.230, der von den Eunuchen des Königs Herodes berichtet, die ihn mit Essen und Trinken versorgen und ihn ins Bett bringen. Mit Blick auf Petronius, Satyricon 70.8 sind aufgrund des Kontextes homosexuelle Konnotationen bei der Darstellung der gastfreundschaftlichen Fußwaschung durch Sklaven zu vermuten; kritisch zur Differenzierung zwischen hebräischen und nicht-hebräischen Sklaven Hezser, Slavery, 27–54. 195 In dieser Hinsicht ist auch die in dem außerkanonischen Traktat Avot de Rabbi Nathan erzählte Fußwaschung möglicherweise von Bedeutung: Rabbi Eliezer der Ältere erzieht die Tochter seiner Schwester, die bis zur Pubertät auch in seinem Bett schläft. Dann fordert er von ihr, dass sie sich einen Mann sucht. Die Reaktion der Frau ist, dass sie seine Dienerin sein will, um als solche die Füße seiner Schüler zu waschen. Ihr Ansinnen, seine Sklavin zu werden und den Schülern die Füße zu waschen, versteht Rabbi Eliezer als ein Heiratsgesuch, woraufhin er als Reaktion sein Alter als Hinderungsgrund für eine Ehe anführt und möchte, dass sie sich mit einem jüngeren Mann verlobt. Sie wiederholt ihre Willenserklärung und schließlich nimmt er sie zur Frau; vgl. dazu Niemand, Fußwaschung, 185 f., der darin die Bedeutungsaspekte von Sklavendienst, Ehrung des Rabbi und intimen Liebeserweis sieht. Auch Abigail bietet sich nach dem Heiratsgesuch von David an, seinen Dienern als Sklavin die Füße zu waschen und nimmt auf diese Weise offensichtlich seinen Heiratsantrag an, vgl. 1 Sam 25,41. 196 Vgl. auch bKet 96a. Hier wird das Lösen der Schuhe als einzige Sklavenaufgabe für den Schüler ausgenommen. Möglicherweise steht das Lösen der Schuhe jedoch als pars pro toto für die in der MekhJ zu Ex 21,1–3 genannten Aufgaben oder auch nur für die Fußwaschung, die jeweils Assoziationen an eine intime Nähe zulassen und den Schüler in der Öffentlichkeit in Verruf bringen könnten. Entsprechend wird das Lösen der Schuhe erlaubt, wenn der Schüler in der Öffentlichkeit als Schüler bekannt oder erkennbar ist. In diesem Fall gehört das Lösen der Schuhe bzw. der damit verbundene Aufgabenkomplex in den Bereich der (körperlichen) Ehrung, aber ohne sexuelle Konnotationen; vgl. dazu Abschnitt 3.2.3 und 3.3.3. 194

3.3. Ehre, wem Ehre gebührt

185

die Frage nach „Verächtlichmachung“ und damit nach erniedrigenden Aufgaben, die man von einem israelitischen Sklaven fordern bzw. nicht fordern darf – d. h. offensichtlich stand die Thematik der Erniedrigung im ersten Abschnitt noch nicht im Fokus der Aufmerksamkeit. Im anschließenden Gedankengang steht zunächst die These, dass ein für sechs Jahre versklavter Israelit jede Art von Dienst, ob erniedrigend oder nicht, ausführen muss. Diese These wird jedoch mit Verweis auf Lev 25,40 widerlegt. Demnach darf ein Sklave nur wie ein Tagelöhner arbeiten, kann also bei seinem üblichen Arbeitsbereich bleiben, muss nicht nachts arbeiten und nichts für ihn Erniedrigendes tun.197 Abschließend lässt sich festhalten, dass die für einen israelitischen Sklaven von der Mekhilta des Rabbi Jischmael verbotenen Aufgaben, zu denen die Fußwaschung nur als eine Handlung unter mehreren gehört, Tätigkeiten umfassen, welche mit körperlicher Nähe und einem öffentlich sichtbaren Machtgefälle zwischen Herrn und Sklaven verbunden sind. Während in der Antike Sklavinnen und Sklaven grundsätzlich mit ihrem ganzen Körper als Besitz ihrer Eigentümer galten und auch sexuell in der Verfügungsgewalt ihrer Herren standen, wird die Verfügungsmacht über hebräische Sklaven begrenzt und dies durch das Verbot entsprechend öffentlich sichtbar gemacht. Die Fußwaschung wird damit nicht als besonders erniedrigender oder typischer Sklavendienst verstanden, sondern als eine Aufgabe unter mehreren. Der israelitische Sklave, der genauso wie sein Herr „Sklave Gottes“ ist (Lev 25,42), wird davor geschützt, in eine unbegrenzte, vor allem auch körperlich-sexuelle Verfügungsgewalt seines Herrn zu geraten. Während die freiwillig erfolgende Fußwaschung ein Zeichen der Ehrerbietung, der Liebe oder auch der intimen Nähe sein kann, die in bestimmten Beziehungen weder statusmindernd ist noch gegen die guten Sitten verstößt, kann die erzwungene Fußwaschung genau das Gegenteil bedeuten. In diesem Fall wird die Fußwaschung zu einem Zeichen der ganzheitlichen Unterwerfung, da man dem anderen Gehorsam und Ehrerbietung, zum Teil auch im Sinne sexueller Verfügbarkeit, erweisen muss. Aus diesem Grund wird die Fußwaschung in Verbund mit anderen Tätigkeiten im Rahmen eines öffentlichen Badbesuchs für einen israelitischen Sklaven zwar verboten, in geregelten Beziehungen zwischen Vater und Sohn oder Lehrer und Schüler ist sie jedoch erlaubt.198 Ein Sohn darf seinem Vater und ein Schüler darf seinem Lehrer also die Füße waschen, auch öffentlich 197  Diese Interpretation für den Ausschluss von Dienstleistungen rund um den Badbesuch, bei denen auch die Fußwaschung genannt wird, mit Blick auf sexuelle Konnotationen müsste jedoch in einer ausführlichen Forschungsarbeit noch eingehender untersucht und überprüft werden. 198 Vgl. bQuid 22b. Eine ähnliche Beobachtung lässt sich auch bei Homer machen: Während die Tochter des Hauses einen Gast im Haus baden, salben und ankleiden kann, ist Odysseus außerhalb eines Hauses darauf bedacht, junge Frauen nicht zu kompromittieren: er wäscht, ölt und kleidet sich selbst und hält auch sonst gebührenden Abstand zu den jungen Frauen; vgl. Hom.Od. 6,198–250; vgl. dazu Abschnitt 3.2.4.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

im Rahmen eines Badhausbesuchs. Wenn ein Israelit auf diesen Dienst nicht verzichten will, soll er also seinen Sohn oder seinen Schüler damit beauftragen, nicht jedoch einen hebräischen Sklaven dazu zwingen. Die Grenze zwischen Pflicht und Zwang ist hier zwar schmal, aber deutlich markiert und entscheidet darüber, ob die Fußwaschung als eine unzumutbare Erniedrigung angesehen und deshalb verboten wird oder auch nicht. Dieser Interpretation entspricht die Beschreibung der Aneignung eines kanaanitischen Sklavens im Traktat Qiddushin des Babylonischen Talmuds, der durch „Geld, Urkunde und Besitznahme“ für immer in das Eigentum des Herrn übergeht, wobei die Besitznahme mit einem Anfassen durch den Herrn verbunden ist und der Sklave danach (wie ein Tier) nicht mehr nach seinem eigenen Willen handelt, sondern nach dem des Herrn (bQuid 22b): Die Besitznahme wird konkret durch die Ausführung einer Mehrzahl von Handlungen beschrieben, die ebenfalls im Rahmen eines Badbesuchs stattfinden: „Durch Besitznahme auf folgende Weise: wenn er ihm den Schuh löst, seine Sachen nach dem Badehaus trägt, ihn auszieht, wäscht, schmiert, frottiert, anzieht und anschuht, oder wenn er ihn hochhebt, so hat er ihn geeignet. R. Simon sagte: Die Besitznahme ist nicht wirksamer als das Hochheben, denn durch das Hochheben erwirbt man immer.“199 Das Lösen der Schuhe entspricht vermutlich der Fußwaschung, die auch hier nur eine unter mehreren Handlungen ist. Dennoch wird die Fußwaschung hier nicht explizit genannt – auch das spricht dafür, dass nicht die Fußwaschung isoliert als die typische Sklavenaufgabe zur Aneignung eines Sklaven betrachtet werden kann! Im Vergleich zur MekhJ zu Ex 21,1–3 werden hier die Handlungen mit Berührung stärker in den Fokus gerückt. Bemerkenswert ist auch, dass die Rabbinen im Anschluss an das Thema „Hochheben“ explizit die Besitznahme einer Sklavin durch Geschlechtsverkehr diskutieren, da die Frau den Herrn dabei auf ihrem Körper trägt und so hochhebt (bQuid 22b).200 Die Grenze zwischen einem hebräischen Sklaven, der wie ein Tagelöhner zu behandeln ist, und einem nicht-hebräischen Sklaven, der wie ein Tier Eigentum werden kann, hängt offensichtlich mit der Verfügung über den eigenen Körper zusammen und damit auch mit sexueller (Un-)Verfügbarkeit. Für einen Sohn bzw. ein Kind gilt die Versorgung des Vaters bzw. der Eltern, auch die körperliche, jedoch als Pflicht im Rahmen des vierten Gebots: „Was heißt [Ehr]furcht und was heißt Ehrung? [Ehr]furcht: er stehe nicht auf seinem Platze, er sitze nicht auf seinem Platze, er widerspreche ihm nicht und er überstimme ihn nicht. Ehrung: er speise ihn, tränke ihn, kleide ihn, hülle ihn und führe ihn ein und aus.“ (bQuid 31b–32a)201 In tQid 1,11 wird hier explizit die Fußwaschung mit genannt: „Welches sind die Pflichten des Kindes gegenüber dem Vater? Man speist und tränkt ihn, man kleidet und bedeckt ihn, man führt in ein und aus, man wäscht ihm sein Gesicht, seine Hände u. seine Füße, gleichviel ob Sohn oder Tochter“.202 Im Midrasch Rabba zu Exodus 25,6 wird die Fürsorge Jahwes für sein Volk Israel mit vergleichbaren Tätigkeiten beschrieben: Waschen, Kleiden, Schuhe Anziehen und Tragen.203 Das fürsorgliche Handeln Gottes wird nicht mit den Pflichten von Kindern, sondern explizit mit den Pflichten von Sklaven gegenüber ihrem Herrn verglichen. In199 Übersetzt

nach Goldschmidt, Talmud VI, 580 f.  Übersetzt nach Goldschmidt, Talmud IV, 581. 201  Übersetzt nach Goldschmidt, Talmud IV, 612. 202 Übersetzt nach Strack-Billerbeck, Kommentar I, 706. 203  Vgl. Niemand, Fußwaschungserzählung, 184. 200

3.4. Fußwaschung im Rahmen kultischer Reinigungen

187

teressanterweise fehlt auch hier – obwohl es ganz konkret um Sklavendienste geht – die Erwähnung der Fußwaschung. Wenn die Fußwaschung als der prototypische Sklavendienst betrachtet worden wäre, könnte man erwarten, dass sie hier explizit genannt wird.

Da die Fußwaschung nicht als einzige und für sich allein stehende Handlung für hebräische Sklaven ausgeschlossen wird, sondern im Verbund mit anderen Handlungen im Kontext eines öffentlichen Badbesuchs, lässt sich die Mekhilta des Rabbi Jischmael zu Ex 21,1–3 nicht als Beleg dafür verwenden, dass ausgerechnet die Fußwaschung als prototypische oder gar in den Sklavendienst einführende Sklavenaufgabe gilt, auch wenn sie selbstverständlich zu den Aufgaben von Sklaven gehörte. Vielmehr lässt sich auch das Verbot der Fußwaschung im Rahmen eines öffentlichen Badbesuchs für hebräische Sklaven mit den Bedeutungsaspekten interpretieren, die bereits bei anderen Darstellungen von Fußwaschungen in der Literatur eine besondere Rolle gespielt haben: die Fußwaschung könnte auch hier neben dem Aspekt der Reinigung vor allem als eine Handlung gesehen werden, die Ausdruck der Verehrung und der Zuneigung sein kann und die in intimen Beziehungen sogar in den Kontext der Sexualität gehört. Dass für die Rabbinen bei der Auslegung von Ex 21,1–6 die sexuelle (Un-)Verfügbarkeit eines Sklaven eine besondere Rolle spielt, ist wahrscheinlich kein Zufall, da in Ex 21,2–6 die Rechte eines Sklaven mit Blick auf Ehefrau und Kinder im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Hebräische Sklaven werden durch diese Regelung und die Auslegung der Rabbinen davor geschützt, in die vollständige, auch körperlich-sexuelle Verfügungsgewalt ihrer Herren zu geraten. Diese Begrenzung der Macht der Eigentümer und der damit verbundene Schutz der Würde der nur für eine begrenzte Zeit versklavten Hebräer ist insbesondere im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Aus diesem Grund verbieten sich für hebräische Sklaven bestimmte mit Berührung verbundene Tätigkeiten, zu denen auch die Fußwaschung gehört, im Rahmen eines öffentlichen Badbesuchs. Für Söhne gegenüber ihrem Vater und für Schüler gegenüber ihrem Lehrer ist es jedoch offensichtlich kulturell fest verankert, dass die Fußwaschung ein Ausdruck von Liebe und Ehrerbietung ist, der als erwünscht und ehrbar angesehen wird.

3.4. Fußwaschung im Rahmen kultischer Reinigungen Reinheitsvorstellungen und Waschungen unterschiedlichster Art spielen im Kult eine zentrale Rolle und sind in den verschiedenen Kulturen zu finden.204 „Wie der Ort des K.[ultes] durch besondere Sakralität abgegrenzt ist, so sind die Teil204  Vgl. zu Reinheitsvorstellungen und Reinigungsritualen in der Antike Heinze/Sallaberger/Felber, Kathartik; Renger/Quack/Podella, Reinheit; vgl. auch Bürkle/Schenker/ Kwasman/Backhaus, Kult, 503–509.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

nehmer am K. durch bes. rituelle Reinheit hervorgehoben. Rituelle vorbereitende Waschungen sind für jeden Teilnehmer notwendig (deswegen stehen am Eingang ant. Heiligtümer Waschbecken, leitet Verrius delubrum ‚Heiligtum‘ von luere/ ‚waschen‘ ab).“205 In der altbabylonischen Fassung des Totenbuchs wird Gilgamesch aufgefordert, seine Füße in Huwawas Fluss zu waschen, wobei der Kontext eine kultische Waschung nahelegt.206 Darstellungen von Fußwaschungen finden sich zum Beispiel auch in ägyptischen Tempeln, im „Totenbuch“ wird eine Fußwaschung beim göttlichen See erwartet, so dass der Verstorbene rein ins Jenseits eintreten kann.207 Im griechischen Kontext gibt es zwar kaum Texte, welche die Fußwaschung in kultischen Zusammenhängen erwähnen, allerdings werden in den Invertarlisten von Tempeln Fußwaschbecken aufgeführt, so dass anzunehmen ist, dass zur Reinigung beim Betreten des Heiligtums das Waschen der Füße selbstverständlich dazugehörte.208 Wenn beispielsweise Iulius Pollux, ein Sophist und Grammatiklehrer aus Naucratis in Ägypten, der im 2. Jahrhundert v. Chr. in Athen wirkte, voraussetzt, dass man den Göttern gereinigt gegenübertreten soll und dafür das Verbum ἀπονίπτω verwendet, so ist mit großer Wahrscheinlichkeit von einer Teilwaschung mit Blick auf Hände und Füße auszugehen (Onomastikon I, 25).209 Aus dem Befund, dass eine Fußwaschung kaum explizit in kultischen Zusammenhängen erwähnt wird, lässt sich nicht schließen, dass kaum Fußwaschungen stattgefunden haben, sondern nur, dass sie möglicherweise einer expliziten Erwähnung nicht wert waren, gerade weil sie regelmäßig praktiziert wurden und deshalb selbstverständlich waren. Für den jüdischen Bereich lässt sich an wenigen, aber doch bedeutsamen Texten zeigen, dass das Waschen der Füße im Rahmen der kultischen Reinheitsvorstellungen einen zentralen Platz einnahm. Gewaschene Füße waren im Judentum Voraussetzung für das Betreten des Heiligtums und spielten vermutlich auch für häusliche religiöse Vollzüge eine Rolle. Bis heute kann im Judentum ein Fußwaschbecken als „Mutter des Gebets“ bezeichnet werden.210  Graf, Kult III. auch Fuhrmann/Uhlenbruch, Footwashing, 390. Vgl. den Text des Yale Tablet 265 bei George, Epic, 114. 207  Vgl. Fuhrmann/Uhlenbruch, Footwashing, 390; s. auch Assmann, Tod, 343–345. 208 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 749; zur unterschiedlich stark ausgeprägten Bedeutung von Reinigungsriten im jüdischen, griechischen und römischen Bereich vgl. auch Heinze/Sallaberger/Felber, Kathartik. 209 So richtig Kötting, Fußwaschung, 749. Pollux, Onomastikon I,25: δεῖ δὲ προσιέναι πρὸς 205

206 So

τοὺς θεοὺς καθηράμενον, καθαρεύσαντα, φαιδρυνάμενον, περιρρανάμενον, ἀπορρυψάμενον, ἀπονιψάμενον, ἁγνισάμενον, ἁγνεύσαντα, ἡγνευμένον, ὡσιωμένον, καθαρῷ νῷ, ὑπὸ νεουργῷ στολῇ, ὑπὸ νεοπλυνεῖ ἐσθῆτι. προσιέναι θεοῖς, πρόσοδον ποιεῖσθαι πρὸς τοὺς θεούς, εὔχεσθαι θεοῖς, ἀνατείνειν τὰς χεῖρας. Zitiert nach

Bethe, Pollucis onomasticon. 210  Vgl. Kötting, Fußwaschung, 755. Auch diese Bezeichnung spricht gegen die Vorstellung, dass die Fußwaschung in erster Linie als eine wenig angesehene Arbeit von Hausangestellten oder sogar als verachteter Sklavendienst betrachtet wird.

3.4. Fußwaschung im Rahmen kultischer Reinigungen

189

Ein Priester, der wegen der erforderlichen Reinheit häufig zu Waschungen verpflichtet war, konnte umschreibend als jemand bezeichnet werden, „der Hände u. Füße gewaschen hat“.211 In Ex 30,18–21 findet sich die grundlegende Weisung, dass Aaron und seine Söhne sich jedes Mal in einem bronzenen Becken Hände und Füße waschen sollen (30,19: ‫יהם‬ ֽ ֶ ‫ת־רגְ ֵל‬ ַ ‫יהם וְ ֶא‬ ֖ ֶ ‫וּב ָנ֖יו ִמ ֶ ֑מּנּוּ ֶאת־יְ ֵד‬ ָ ‫אַה ֥ר ֹן‬ ֲ ‫)וְ ָר ֲח ֛צוּ‬, bevor sie das Heiligtum betreten, sich dem Altar nähern und ihren liturgischen Dienst verrichten.212 In Ex 40,30–32 wird berichtet, dass die Anweisungen Gottes erfüllt wurden. Das Becken ist so platziert, dass die eintretenden Priester die Waschungen nicht vergessen können, damit sie der Heiligkeit Gottes gemäß auch selbst geheiligt sind. Die Beschreibungen ‚rein‘ bzw. ‚geheiligt‘ sind dabei nicht gleichzusetzen mit ‚sauber‘, ebenso wenig ist ‚unrein‘ gleichbedeutend mit ‚schmutzig‘ oder ‚sündig‘.213 „Reinheit ist dagegen die Voraussetzung für die Nähe Gottes, für seinen Segen, aber ebenso für die Möglichkeit, sich Gott zu nahen.“214 Diese grundlegende Reinigungsverpflichtung der Priester wird in der jüdischen Literatur jedoch nur vereinzelt und eher beiläufig erwähnt215: Josephus spricht zum Beispiel in Ant. 3.114 und in Ant. 8.87 davon, dass sich Priester Hände und Füße in diesem Wasserbecken waschen müssen, und er verwendet für die Reinigung der Füße die Verben καταχέω und νίπτω. Jos.Ant. 3.114: Innerhalb des Thores stand ein ehernes Wasserbecken mit einem Sockel von demselben Stoff, aus dem die Priester ihre Hände wuschen und ihre Füße übergossen. So war die Einfriedigung des Vorhofes ausgestattet.216 Jos.Ant. 8.87: und sodann alle Becken mit Wasser gefüllt. Das eherne Meer war bestimmt für die Reinigung der Hände und Füße der Priester, bevor sie zum Altare stiegen; die anderen Waschbecken aber dienten dazu, die Eingeweide und Füße der zum Brandopfer benutzten Tiere zu säubern.217

 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 756; Kötting verweist exemplarisch auf bSev 17b. 2 Chron 4,6 wird auch das „Meer“ erwähnt, in dem sich die Priester waschen sollen, die konkrete Erwähnung einer Fuß- und Handwaschung fehlt jedoch. Bei seiner an der Darstellung der Chronik orientierten Beschreibung des Tempelbaus konkretisiert Josephus das Waschen der Priester im bronzenen Becken wieder als ein Waschen von Händen und Füßen, vgl. Jos.Ant. 8.87. 213  Vgl. Ego, Reinheit; Paschen, Rein passim; Rudnig, Heilig. 214 Deines, Rein, 1126. 215  Vgl. auch die weiteren Beispiele bei Kötting, Fußwaschung, 755 f.; Niemand, Fußwaschungserzählung, 277 f. 216 Jos.Ant. 3.114: ἐντὸς δὲ τῶν πυλῶν περιρραντήριον ἦν χάλκεον ὁμοίαν αὐτῷ καὶ τὴν κρηπῖδα 211

212 In

παρεχόμενον, ἐξ οὗ τοῖς ἱερεῦσι τὰς χεῖρας ἀποπλύνειν καὶ τῶν ποδῶν καταχεῖν παρῆν. καὶ ὁ μὲν τοῦ αἰθρίου περίβολος τοῦτον τὸν τρόπον ἦν ιακεκοσμημένος. Zitiert nach Niese, Flavii Iosephi opera; übersetzt

nach Clementz, Josephus Altertümer, 156. 217 Jos.Ant. 8.87: πληρώσας δὲ ὕδατος τὴν μὲν θάλασσαν ἀπέδειξεν εἰς τὸ νίπτειν τοὺς εἰς τὸν ναὸν

εἰσιόντας ἱερεῖς ἐν αὐτῇ τὰς χεῖρας καὶ τοὺς πόδας μέλλοντας ἀναβαίνειν ἐπὶ τὸν βωμόν, τοὺς δὲ λουτῆρας εἰς τὸ καθαίρειν τὰ ἐντὸς τῶν ὁλοκαυτουμένων ζῴων καὶ τοὺς πόδας αὐτῶν. Zitiert nach Niese, Flavii

Iosephi opera; übersetzt nach Clementz, Josephus Altertümer, 482.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

In Jos.Bell. 4.150 wird das Betreten des Tempels mit beschmutzten Füßen von Josephus als höchster Frevel von Priestern, als exemplarische Verfehlung gegenüber Gott erwähnt: Jos.Bell. 4.150: Die Vornehmen hetzten sie durch allerlei Kniffe und Ohrenbläsereien gegeneinander, und die Reibereien unter denen, die ihnen noch in den Weg treten konnten, nützten sie für ihre Zwecke aus, bis sie endlich, übersättigt von den Freveln gegen Menschen, ihre Frechheit auch gegen die Gottheit kehrten und mit befleckten Füssen das Allerheiligste zu betreten wagten.218

Auch der Historiker und Philosoph Lucius Cornelius Alexander Polyhistor (1.  Jh. v. Chr.)219 erwähnt das bronzene Becken des Tempels, in dem die Priester ihre Füße und Hände waschen, bevor sie das eigentliche Heiligtum betreten, und belegt damit, dass die Waschungen der jüdischen Priester über das Judentum hinaus bekannt waren.220 Die Mischna fordert für alle, dass der Tempel nicht mit ungewaschenen Füßen betreten werden darf: „Man gehe nicht auf den Tempelberg mit Stock, Schuhen, Geldgürtel und Staub auf den Füßen.“221 Wiederholt bezieht sich der babylonische Talmud auf diese Stelle.222 Auch das im Dezember 1905 bei Ausgrabungen in Oxyrhynchus in Mittelägypten gefundene Evangelienfragment P.Oxy. V 840 lässt die Bedeutung der Reinigung beim Betreten eines Tempels erkennen.223 Die Datierung ist umstritten.224 Ein Ober- oder Hoherpriester wirft Jesus vor, dass er mit seinen Jüngern das Heiligtum betreten habe, ohne dass Jesus gebadet noch seine Jünger die Füße gewaschen hätten. Jesus anwortet mit einem Vergleich von äußerer und innerer Reinheit, wobei er letztere als die maßgebliche ansieht.225 218 Jos.Bell. 4.150: συνέκρουον δὲ καὶ τοὺς ἐν τέλει ποικίλαις ἐπινοίαις καὶ λογοποιίαις, καιρὸν ἑαυτοῖς ἐν ταῖς πρὸς ἀλλήλους τῶν κωλυόντων φιλονεικίαις ποιούμενοι, μέχρι τῶν εἰς ἀνθρώπους ὑπερεμπλησθέντες ἀδικημάτων ἐπὶ τὸ θεῖον μετήνεγκαν τὴν ὕβριν καὶ μεμιασμένοις τοῖς ποσὶ παρῄεσαν εἰς τὸ ἅγιον. Zitiert

nach Niese, Flavii Iosephi opera; übersetzt nach Clementz, Josephus Geschichte, 397. 219  Vgl. Romanov, Alexander Polyhistor. 220  Alexander Frag. 18.136–145: Ποιῆσαι δὲ ἐπ’ αὐτῷ στεφάνην πρὸς τὴν βάσιν ἔξω ὑπερέχουσαν πῆχυν ἕνα πρὸς τὸ τοὺς ἱερεῖς τούς τε πόδας προκλύζεσθαι καὶ τὰς χεῖρας νίπτεσθαι ἐπιβαίνοντας· ποιῆσαι

δὲ καὶ τὰς βάσεις τοῦ λουτῆρος τορευτὰς, χωνευτὰς δώδεκα, καὶ τῷ ὕψει ἀνδρομήκεις, καὶ στῆσαι ἐξ ὑστέρου μέρους ὑπὸ τὸν λουτῆρα, ἐκ δεξιῶν τοῦ θυσιαστηρίου. Ποιῆσαι δὲ καὶ βάσιν χαλκῆν τῷ ὕψει πηχῶν δυοῖν, κατὰ τὸν λουτῆρα, ἵν’ ἐφεστήκῃ ἐπ’ αὐτῆς ὁ βασιλεὺς, ὅταν προσεύχηται, ὅπως ὀπτάνηται τῷ λαῷτῶν Ἰουδαίων.

 mBer. 9, übersetzt nach Goldschmidt, Talmud I 235.  bBer. 62b, bYeb. 6b. 223 Vgl. zu P.Oxy.V 840 Nicklas, Fragment, 357–359. 224  Bovon datiert das Fragment eher früh und hält eine Entstehung bereits im 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr. für möglich; Bovon, Fragment, 728. Nicklas geht von einer eher späteren Datierung aus, ohne sich konkret festzulegen; Nicklas, Fragment, 358. 225  Vgl. Nicklas, Fragment, 358, der Mk 7,1–23; Mt 15,1–20; 23,27 f. und Jer 2,13 oder Sach 14,8 als thematisch verwandte Stellen anführt, den Nachweis einer direkten literarischen Abhängigkeit von einer dieser Stellen jedoch als nicht möglich zurückweist. 221 222

3.4. Fußwaschung im Rahmen kultischer Reinigungen

Haarseite „… Vorher, vor dem Tun des Unrechten, klügelt er alles aus. Aber achtet darauf, daß nicht auch ihr das gleiche wie sie erleidet. Denn nicht nur unter den Lebendigen empfangen die Übertäter unter den Menschen, was ihnen gebührt, vielmehr müssen sie auch Strafe erdulden und gro[ß]e Qual.“ Und er nahm sie mit sich, trat in den Reinheitsbezirk selbst ein und ging im Heiligtum umher. Und hin[zu kamen ein Pharisäer, ein Oberpriester, L[evi mit Namen, traf mit ihnen zusammen und s[agte zum Heiland: „Wer hat dir erlaubt, zu ge[hen in diesen Reinheitsbezirk und anzusehen die[se heiligen Geräte, ohne daß du dich ba[d]ete[st] (λουσα[μ]έν[ω]), n[och gar deine Jünger die Fü[ße ein- (τοὺς π[όδας βα) getaucht haben (πτισθέντων)? Vielmehr hast du befl[eckt dieses Heiligtum betreten, einen O[rt, der rein ist, den niemand, w[enn er nicht gebadet (λουσάμενος) und die Kleider gewe[chselt hat, betritt, noch es [wagt, anzusehen diese heiligen Geräte.“ und s[ofort blieb der Heiland mit sei]nen Jüngern s[tehen und antwortete ihm: Fleischseite „Du also, der du doch auch hier im Heiligtum bist, du bist rein?“ Da sagte jener zu ihm: „Ich bin rein. Ich habe mich nämlich im Davidsteich gebadet und bin auf der einen Treppe hinunter- und auf der anderen h[in]aufgestiegen, habe weiße Kleider angelegt und reine, bin dann gekommen und habe betrachtet diese heiligen Geräte.“ Der Heiland antwor]tete ihm: „Wehe, ihr Blinden, die nicht seh[e]n! Du hast dich gebadet in diesen ausgeschütteten W[a]ssern, in denen Hunde und Schweine Tag und Nacht liegen, hast beim Was]chen die äußere Haut abgewischt, wie au]ch die Huren und d[ie] Flötenspielerinnen sich salb]e[n], baden, abwischen und sich schminken zur Begierde d]er Menschen. Im Innern aber sind jene vo]ll von Skorpionen und jeglicher Schle]chtigkeit. Ich aber und meine Jünger], von denen du sagst, daß sie nicht eingetaucht seien, wir sind einge]taucht in Wassern ewigen Le]bens, die kommen von ..[. A]ber wehe [de]nen [226 226 Übersetzt

nach Nicklas, Fragment, 358 f.

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

Das Fragment zeigt die Erwartung, dass zusätzlich zu einem Vollbad beim Betreten des Tempels die Füße gewaschen werden mussten. Während das Vollbad mit λούω ausgedrückt wird, ist die Teilwaschung der Füße mit dem in diesem Zusammenhang eher ungewöhnlichen Verb βαπτίζω umschrieben. Zugleich bestätigt dieser Text erneut, dass bei rituellen Waschungen die Konnotation der ethischen Reinheit naheliegend war. Die Füße gehörten – wie die Hände und der Kopf – zu den Körperteilen, die nach einem Bad am schnellsten wieder schmutzig wurden und deshalb häufiger durch Teilwaschungen gereinigt werden mussten. Von daher ist es nicht überraschend, dass die Fußwaschung auch im kultischen Bereich, insbesondere beim Betreten von Heiligtümern, eine selbstverständliche, wenn auch nicht unbedingt häufig erwähnte Reinigungshandlung darstellt.

3.5. Fußwaschung im metaphorischen Sinn Insbesondere im Zusammenhang der Ethisierung des Kultes konnten gewaschene Hände und Füße schließlich auch symbolisch für gute Werke und die Ausrichtung auf das Gute verstanden werden. Vor allem in der weisheitlichen Literatur lässt sich eine Ethisierung der Reinheitsvorstellung beobachten. „Reinheit erscheint als Reinheit im Sinne von Sündlosigkeit (Spr 20,9; vgl. Ps 24,4, wobei der Aspekt des Bezugs von ‚Reinheit‘ als Ermöglichung des Kontakts mit dem Heiligtum immer noch anklingt). In Ps 51 bittet der Beter um Reinigung von seinen Sünden; die kultische Reinheit, die mithilfe von Reinigungsriten erreicht werden kann, wird nun durch eine Art ‚Herzensreinheit‘ überboten. Spr 30,12 konkretisiert diese reine Gesinnung im Hinblick auf das Gebot der Elternehrung; in Spr 15,26 und Spr 22,11 wird Reinheit mit der Vorstellung einer positiven, lebensfördernden Redegabe in Verbindung gebracht. Im Sinne eines gemeinschaftstreuen Handelns erscheint der Begriff schließlich als Parallelbegriff zu dem hebräischen Terminus ṣaddîq in Hi 4,17 (vgl. Sir 38,10).“227

Philo sieht beispielsweise in den kultischen Reinheitsvorschriften Ermahnungen zu einem sittlichen Lebenswandel: „Die in den Tempel eintretenden Priester waschen die Füße und die Hände zum Zeichen eines tadellosen Lebens und reinen Wandels (πόδας μάλιστα καὶ χεῖρας ἀπονιπτόμενοι σύμβολον ἀνυπαιτίου ζωῆς καὶ βίου καθαρεύοντος ἐν πράξεσιν ἐπαινεταῖς)“ (Vit Mos 2.138).228 Im Zusammenhang 227  Ego, Reinheit. Vor allem die Rede von der ‚Reinheit der Hände‘, die auch bei der Unschuldsbeteuerung eine Rolle spielt (vgl. v. a. Dtn 21,6 f.; Ps 26.6.; 73,13), wird zunehmend metaphorisch verwendet. Vgl. dazu auch Paschen, Rein, 70. 228  In Philo Mos 2.150 beschreibt Philo die Priesterweihe und interpretiert die Salbung mit Blut von Ohr, Hand und Fuß des Initianden damit, dass das Hören, das Handeln und die Lebensweise rein und vollkommen sein sollen: τοῦ δ’ αἵματος αὐτοῦ τὸ μὲν ἐν κύκλῳ τοῦ βωμοῦ

σπένδει λαβών, τὸ δὲ φιάλην ὑποσχὼν δέχεται καὶ ἀπὸ τούτου τρία μέρη τοῦ σώματος χρίει τῶν τελουμένων

3.5. Fußwaschung im metaphorischen Sinn

193

einer allegorischen Deutung der Handlungen im Zusammenhang eines Opfers kann Philo in allegorischer Weise bei der Interpretation der Fußwaschung sogar den Boden der Tatsachen verlassen, wenn er schreibt: „Das Waschen der Füße aber bedeutet, daß wir nicht mehr auf der Erde gehen, sondern in Äthers Höhen schweben sollen (διὰ δὲ τοῦ τοὺς πόδας ἀπολούεσθαι τὸ μηκέτι βαίνειν ἐπὶ γῆς, ἀλλ᾿ αἰθεροβατεῖν·)“. (Philo Spec 1.207)229 Über Mose schreibt Philo an anderer Stelle bewundernd, dass dieser sowohl seinen Bauch gewaschen und sich damit von allen irdischen und unlauteren Bedürfnissen befreit habe, als auch seine Füße von Schmutz und damit von unangemessener Lust gereinigt habe (Philo LA 3.141–143).230 Mose wird als der perfekte Weise vorgestellt, der es schafft, seine Bedürfnisse ganz zurückzustellen, um vierzig Tage ohne Essen und Trinken auf dem heiligen Berg in der Gegenwart Gottes auf dessen Offenbarungen der Gebote zu hören (Philo LA 3.142; vgl. Ex 34,28). Unter Bezugnahme auf Lev 19,14 – der Masoretentext nennt mit Blick auf das Opfertier zusätzlich zur Waschung des Bauches die Waschung der Unterschenkel, während die Septuaginta von der Waschung der Füße spricht – beschreibt Philo Mose als den perfekten Weisen, der sich nicht nur von all seinen Begierden verabschiedet, indem er den Bauch wäscht, sondern der auch die Mittel bzw. Schritte zur Umsetzung der Lust verabschiedet, das heißt die Füße ebenfalls reinigt (Philo LA 3.142).231 Die Füße werden hier als das ausführende Medium betrachtet, die Reinigung von Bauch und Füßen dient dazu, sich ethisch von der Lust zu befreien, um sich ganz auf die Offenbarung Gottes konzentrieren zu können. Auch die von Jamblich in Protreptikos 21 beschriebene Rechts-LinksSymbolik der Pythagoreer, die den linken Fuß zuerst wuschen, um sich von Schlechtigkeit zu reinigen, und den rechten Fuß zuerst in die Sandale stellten, um sich in Richtung des Guten auf den Weg zu machen, zeigt eine metaphorische Deutung der Handlungen rund um die Fußwaschung.232 Dass man etwas „mit gewaschenen Füßen“ gut vorbereitet in Angriff nimmt, ist ebenfalls eine

ἱερέων, οὖς ἄκρον, ἄκραν χεῖρα, ποδὸς ἄκρον, | δεξιὰ τὰ σύμπαντα, αἰνιττόμενος ὅτι δεῖ τὸν τέλειον καὶ λόγῳ καὶ ἔργῳ καὶ βίῳ παντὶ καθαρεύειν· λόγον μὲν γὰρ ἀκοὴ δικάζει, χεὶρ δ’ ἔργου σύμβολον, διεξόδου δὲ τῆς περὶ τὸν βίον πούς (Philo Mos 2.150), zitiert nach Cohn, Philonis Alexandrini opera IV, 235.

229  Übersetzt nach Kötting, Fußwaschung, 759; vgl. Cohn, Philonis Alexandrini opera V, 49 f. Es geht hier darum, dass dem Opfer sowohl der Bauch als auch die Füße gewaschen werden sollen (Philo Spec 1.205–207). Die im Rahmen der Opferung anfallenden Handlungen werden jedoch alle auf den Opfernden selbst übertragen. 230  Vgl. Cohn, Philonis Alexandrini opera V, 190 231 Philo LA 3.142: ἀλλ᾿ οὐ μόνον ὅλῃ τῇ γαστρὶ ἀποτάττεται, ἀλλὰ καὶ τοὺς πόδας αὐτῇ συναπορρύπτεται τουτέστι τὰς ἐπιβάσεις τῆς ἡδονῆς· ἐπιβάσεις δὲ ἡδονῆς εἰσι τὰ ποιητικὰ αὐτῆς·, zitiert nach Cohn, Philonis Alexandrini opera V, 190. 232 Vgl. Abschnitt 3.1.

194

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

metaphorische Übertragung dieser alltäglichen Handlung, bei der die Fußwaschung mit Vorbereitung gleichgesetzt wird (vgl. Lukian, Demonax 4).233 Die Aussage, dass eine Person ‚nicht würdig genug sei, einer anderen Person die Schuhe zu lösen‘ oder auch ‚nicht würdig, die Füße einer anderen Person zu berühren‘, greift auf die mit der Fußwaschung in bestimmten Situationen verbundene Ehrerbietung zurück, ohne dass jedoch bei dieser Formulierung eine Fußwaschung explizit angesprochen wird.234 Josephus beschreibt die Beziehung zwischen David und Abigail so, dass beide besonders ehrbar erscheinen. Als David Abigail holen lässt, um sie zu heiraten, erwidert diese nur, dass sie nicht wert sei, seine Füße zu berühren (ἡ δὲ ἀναξία μὲν εἶναι καὶ ποδῶν ἅψασθαι τῶν ἐκείνου πρὸς τοὺς παρόντας ἔλεγεν) – Josephus betont unmittelbar im Anschluss ihre Weisheit und Gerechtigkeit (σώφρονα εἶναι καὶ δίκαιον), nicht jedoch ihre Demut oder Dienstbarkeit (Jos.Ant. 6.308).235 Die dargestellten Beispiele genügen, um zu zeigen, dass sowohl die Füße als auch die Fußwaschung sich angeboten haben, um auf unterschiedliche Weise im übertragenen Sinn interpretiert zu werden. Zum Tragen kommen dabei vor allem die Aspekte der Vorbereitung, der Reinheit und der Wertschätzung.

3.6. Ergebnisse Eine Durchsicht ausgewählter Texte zur Fußwaschung bestätigt das Urteil Köttings: „Eine Handlung, fast so häufig wie Essen u. Trinken, kann also leicht einen vielfältigen Symbolgehalt erhalten u. dann wiederum als Träger solchen Gehaltes in vielfacher Weise zur Verdeutlichung religiöser u. sozialer Ordnungen benutzt werden.“236 Die Fußwaschung war in den verschiedenen antiken Kulturen eine selbstverständliche und alltägliche Handlung, um die Füße – die wie Kopf und Hände, die anderen unbedeckten Körperteile, ganz besonders dem Staub ausgesetzt waren – zu reinigen. Im übertragenen Sinn kann eine Fußwaschung Ausdruck von körperlicher oder moralischer Reinheit, von Tugendhaftigkeit oder Liebe bzw. Verehrung sowie der Vorbereitung auf etwas sein.  Vgl. Abschnitt 3.1.  Vgl. Mk 1,7; Lk 3,16; Joh 1,27; vgl. dazu auch Plut. Pomp. 73,6 f. 235  Jos.Ant. 6.308: ἡ δὲ ἀναξία μὲν εἶναι καὶ ποδῶν ἅψασθαι τῶν ἐκείνου πρὸς τοὺς παρόντας ἔλεγεν, 233 234

ὅμως δὲ μετὰ πάσης τῆς θεραπείας ἧκε. καὶ συνῴκησε μὲν αὐτῷ ταύτην λαβοῦσα τὴν τιμὴν καὶ διὰ τὸ τὸν τρόπον σώφρονα εἶναι καὶ δίκαιον, τυχοῦσα δ᾿ αὐτῆς καὶ διὰ τὸ κάλλος. Zitiert nach Niese, Flavii

Iosephi opera. Gemäß 1 Sam 25,41 bietet Abigail an, Samuels Boten als Sklavin die Füße zu waschen. Das Ausziehen oder Lösen der Schuhe kann als pars pro toto für eine Fußwaschung verstanden werden, vgl. auch Plato Symp 213b; Plut. Pomp. 73,6 f. Auch das Berühren der Füße kann für eine Fußwaschung stehen bzw. auf diese anspielen, z. B. Jos.Ant. 13.8 im Vergleich mit 1 Sam 25,41 und auch Hom.Od. 18,345–348. 236 Kötting, Fußwaschung, 743.

3.6. Ergebnisse

195

Die Analyse der exemplarisch ausgewählten Texte hat jedoch gezeigt, dass Fußwaschung nicht grundsätzlich als Sklavendienst konnotiert ist, auch wenn sie durchaus zu den Aufgaben von Sklavinnen und Sklaven gehörte. Fußwaschung gehörte zur alltäglichen Hygiene, die zum Teil auch mit einem gewissen Komfortfaktor verbunden war. Doch weder die alltägliche Fußwaschung noch deren Subjekte finden in der Literatur ein besonderes Interesse. Sie wurde vor allem durchgeführt nach dem Betreten eines Hauses, auch bevor man sich zu Tisch legte oder zu Bett ging. Es ist anzunehmen, dass man sich in der Regel die eigenen Füße gewaschen hat, bei wohlhabenden Menschen gehörte die Fußwaschung zu den Pflichten der Sklavinnen und Sklaven. Auch in kultischen Kontexten, insbesondere vor dem Betreten eines Heiligtums, war die Fußwaschung selbstverständlich, ohne dass dies eigens erwähnt werden musste. Eine Fußwaschung war über die Reinigung hinaus eine wohltuende Angelegenheit. Wenn man sie nicht selbst durchführte, war sie mit einer Berührung durch eine andere Person verbunden. Die Texte zeigen jedoch, dass mit der Fußwaschung weitere Bedeutungsaspekte verbunden werden, die häufig die Aufmerksamkeit in der Literatur auf sich ziehen. Im Bereich der Gastfreundschaft gehört es zu den Pflichten eines guten Hausherrn bzw. einer Hausherrin, den Gästen je nach Situation ein Bad oder zumindest eine Handwaschung, zum Teil auch eine Fußwaschung zu ermöglichen. Im griechischen und römischen Kontext gelten die Epen Homers als prägend für die Vorstellungen von Gastfreundschaft. Eine explizit erwähnte Fußwaschung kommt in den Epen Homers jedoch nicht so häufig vor, als dass man die Fußwaschung grundsätzlich im Rahmen der Gastfreundschaft voraussetzen könnte. Hiltbrunner führt Hom.Od. 7,133–174 als typisches Beispiel für eine gastfreundliche Aufnahme an, gemäß der Odysseus nach seiner Ankunft zu Tisch geführt wird und (nur) die Hände gewaschen bekommt.237 In anderen Situationen wird von Homer zunächst ein Bad beschrieben, an das sich unmittelbar vor dem Essen noch eine Handwaschung anschließt.238 Dies ist relevant für Joh 13,9 f., da es offensichtlich durchaus vorstellbar wäre, dass sich an ein Vollbad noch eine Teilwaschung der Hände anschließen kann: Die Forderung des Petrus erscheint damit nicht so abwegig und auch der Langtext in Joh 13,10 ist mit einer an das Vollbad anschließenden Teilwaschung nicht unsinnig, sondern als lectio facilior zu bewerten. Wenn sich die Teilnehmenden eines Mahls zu Tisch legen, sind gereinigte Füße und damit ein Bad oder eine Fußwaschung zwar vorauszusetzen,

237  Hiltbrunner, Gastfreundschaft, 1081 f.; vgl. Abschnitt 3.2.4. Ähnlich auch Hom.Od. 1,144–147; 15,125–127. 238  Z. B. Hom.Od. 4,48–50; 8,416–468; 17,91–93.

196

Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

dennoch findet die Fußwaschung eher selten Eingang in die Texte, wie sich anhand von Platos Symposium oder Athenaios Deipnosophistae zeigen lässt.239 Den antiken Texten lässt sich oft nicht eindeutig entnehmen, ob die Gäste sich selbst waschen oder ob die Waschungen von Knechten oder Mägden durchgeführt werden. Je höher jedoch der Status des Gastes ist, desto mehr Mühe gibt sich ein Gastgeber und desto häufiger findet auch eine Fußwaschung Erwähnung in literarischen Texten. Der Gast bekommt die Füße gewaschen, das Wasser kann mit bestimmten Essenzen angereichert und durch Salbungen ergänzt werden oder der Hausherr bzw. die Hausherrin wäscht in Ausnahmefällen sogar persönlich die Füße des Gastes. Eine vom Gastgeber persönlich durchgeführte oder besonders komfortable Fußwaschung sind Möglichkeiten, dem Gegenüber eine besondere Ehre zu erweisen. Es ist durchaus vorstellbar und belegt, dass die Fußwaschung freiwillig von freien Personen durchgeführt wird: Im Rahmen der Gastfreundschaft ist hier die Fußwaschung Abrahams zu nennen, auch Aseneth wäscht aus Liebe gegenüber Joseph ebenfalls im Rahmen der Gastfreundschaft dessen Füße, Favonius erweist Pompeius dadurch eine Ehre und die jungen Frauen von Kios waschen den Familien ihrer Geliebten die Füße als Zeichen ihrer Tugendhaftigkeit, wobei diese Fußwaschung möglicherweise sogar während des Mahls stattfindet.240 Auch die Sklavin und Amme Eurykleia wäscht dem unbekannten Bettler die Füße nicht gezwungenermaßen aufgrund der Anweisung ihrer Herrin, sondern gerne und freiwillig als Ehrerweis gegenüber dem Fremden und in liebevoller Erinnerung an Odysseus, den sie von Kindesbeinen an kennt.241 In vertraut-familiären Beziehungen ist die Fußwaschung ein Liebes- und Ehrerweis. Im Bereich der Familie gehört die Fußwaschung zu den Pflichten der Kinder, die ihren Eltern dadurch eine Ehre erweisen, zum Beispiel wenn die Eltern nach Hause kommen, oder im Rahmen der Versorgung der (altgeworden) Eltern, wozu auch das Waschen und Kleiden gehört. In intimen Beziehungen hat die Fußwaschung aufgrund der Berührung und der Vorbereitung auf das Schlafen erotische Konnotationen. Wenn es der Ehefrau oder Geliebten vorbehalten ist, für ihren Mann das Bett zu richten und die Füße zu waschen, so wird aus der Fußwaschung ein Liebeserweis, der angenehm und erotisch zugleich ist. Bei der Beschreibung von Liebesbeziehungen können sprachlich sowohl die Bezeichnung als Sklave bzw. Sklavin als auch die Fußwaschung 239 Nur zweimal wird bei Plato eine Fußwaschung vor dem Gastmahl erwähnt bzw. nahegelegt: Plato Symp. 175a; 213b (Ausziehen der Sandalen). Das umfangreiche Werk Deipnosophistae von Athenaios erwähnt die Fußwaschung im Rahmen von Gastmählern überhaupt nicht, nur nebenbei erfährt man, dass das benutzte Wasser vom Waschen der Hände und Füße ἀπόνιπτρον genannt wird; Athen. Deipn. 9.409 f. 240  Vgl. Gen 18,4 LXX und TestAbr 3,8 f.; 6,6; JosAs 20,1–5; Plut. Pomp. 73; Plut. De Mul. virt. 249d. 241 Hom.Od. 19,350–378; v. a. 19,372–378.

3.6. Ergebnisse

197

metaphorisch genutzt werden, um den Wunsch nach intimer Nähe und Zusammengehörigkeit auszudrücken. Auffallend ist, dass in einzelnen Texten die Bereitschaft einer Frau, als eine Sklavin nicht nur dem geliebten Mann, sondern auch dessen Dienern oder Schülern die Füße zu waschen, zum Ausdruck des Wunsches wird, mit diesem Mann verheiratet zu sein. Offensichtlich konnten nicht nur Eltern, sondern auch Lehrer als Vertrauensund Autoritätspersonen erwarten, dass ihre Schüler ihnen  – zum Zeichen der Anerkennung und Zuneigung – die Füße waschen. Im babylonischen Talmud wird unter Verweis auf Hiob 6,14 nahegelegt, dass ein Lehrer, der die Fußwaschung seines Schülers nicht zulässt, diesem als seinem Freund nicht nur seine Liebe verweigert, sondern ihm auch die Gottesfurcht verstellt.242 Ehrengästen oder sonstigen verehrenswerten sowie geliebten Personen konnte man durch eine Fußwaschung spürbar-körperlich und für Dritte sichtbar eine Ehre erweisen. In den genannten sozialen Beziehungen ist das Waschen der Füße einer anderen Person nicht mit einer Abwertung verbunden. Weder wird die Fußwaschung in diesen Fällen als erniedrigender (Sklaven-)Dienst konnotiert noch als sexuell zweideutige Handlung. Denys Gorce weist daraufhin, dass Gastfreundschaft und (Nächsten-)Liebe eng verknüpft waren.243 Nach der Durchsicht exemplarischer Texte zur Fußwaschung kann dies noch dahingehend ergänzt werden, dass gerade auch eine Fußwaschung aufgrund der in der Regel als angenehm empfundenen Reinigung sowie der Berührung geeignet war, um Ehrerbietung oder liebevolle Zuneigung auszudrücken. Nur wenn eine Fußwaschung erzwungen wird, obwohl einem das Gegenüber nichts bedeutet, ist die Fußwaschung in der Literatur erkennbar mit einer Erniedrigung des ausführenden Subjekts verbunden. Sogar dem Empfänger der Fußwaschung kann diese unangenehm sein, wenn sie als unpassend empfunden wird oder wenn die Waschenden dem Adressaten nicht den nötigen Respekt entgegenbringen. Angesichts der zahlreichen Assoziationen, die sich in der Antike mit einer Fußwaschung verbinden konnten, ist es besonders wichtig, auf den jeweiligen situativen bzw. literarischen Kontext zu achten. Nicht immer ist es möglich, eine einzelne Bedeutung als die (einzig) zutreffende herauszufinden, da es gerade typisch für diese Handlung ist, dass sie verschiedene Bedeutungsaspekte mitbringt und anklingen lässt. Dass eine Fußwaschung auch zu den Aufgaben von Sklavinnen und Sklaven gehörte, spielt in den literarischen Texten nur selten eine Rolle. Als wichtige Bedeutungsaspekte einer Fußwaschung haben sich bei der Analyse der ausgewählten Texte die Reinigung mit den übertragenen Kon242 Vgl.

bKet 96a; dazu Abschnitt 3.2.3.  Vgl. Gorce, Gastfreundschaft, 1072 f. Im philosophischen Diskurs wurden Menschenfreundlichkeit, Freundschaft und Liebe häufig eng verknüpft, so dass bei den Stoikern die Liebe zum Oberbegriff für Gastfreundschaft werden konnte; vgl. Hiltbrunner, Gastfreundschaft, 1085 f. 243

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Kapitel 3: Fußwaschung in der Antike

notationen von Vorbereitung und ethischer Reinheit, die Wertschätzung sowie die Berührung und die damit verbundene enge oder auch intime Beziehung herauskristallisiert.

Kapitel 4

Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11) 4.1. Zur Textauswahl Die Auswahl der Texte, die im Folgenden analysiert und interpretiert werden sollen, orientiert sich an der Fußwaschungserzählung und deren zentralen Sinnlinien. Die Fußwaschung Jesu ist eine Zeichenhandlung, die im Rahmen des letzten Mahls Jesu mit seinen Jüngern stattfindet und den Auftakt zur Abschiedsrede darstellt. Damit steht Joh 13,1–20 im Kontext von Joh 13–17. Insbesondere zwischen Joh 13,1–3 und Joh 17,21–26 lassen sich viele Bezüge beobachten, so dass beide Texte eine Art Inklusion um die Abschiedsszene bilden. Thematisch sind vor allem die Aspekte Tod und Auferstehung, Jüngerschaft und Imitatio Jesu, Freundschaft, Liebe und Nachfolge zu berücksichtigen. In Joh 13 ist neben dem Abschnitt 13,1–20 vor allem Joh 13,31–38 für das Verständnis der Fußwaschung wichtig. Narratologisch sind die direkten Reden in Joh 13,31–38 sowie das abschließende Gebet Jesu ebenfalls als Ereignisse zu bewerten, welche die Geschichte weiter vorantreiben.1 Eine Analyse von Joh 13,1–30 oder auch von Joh 13,1–20 genügt also nicht, um die Bedeutung der Fußwaschung zu bestimmen, die bereits ab Joh 13,6 im Rahmen von sich anschließenden Gesprächen und Reden erläutert wird. Die Sendungsvorstellung aus Joh 13,16 wird außerdem in Joh 15,20 mittels eines markierten Zitats aufgegriffen und weiter entfaltet. Die Salbung der Füße Jesu durch Maria in Joh 12,1–8 wirkt wie eine Vorausdarstellung der Fußwaschung mit zahlreichen Anklängen, die auf Joh 13,1–20 verweisen. Da in der Erzählung des Johannesevangeliums die Fußsalbung vor der Fußwaschung kommt und die erste Szene die Deutung der zweiten Szene

1 Vgl. zu Definitionen und Begriffsbestimmungen rund um die erzählte Handlung Lahn/ Meister, Einführung, 210–231. Lahn und Meister zitieren Lessing, um eine Verengung des Handlungsbegriffs auf das konkrete Tun zu kritisieren: „Gibt es aber doch wohl Kunstrichter, welche einen […] so materiellen Begriff mit dem Worte Handlung verbinden, daß sie nirgends Handlung sehen, als wo Körper so tätig sind, daß sie eine gewisse Veränderung des Raumes erfordern. Sie finden in keinem Trauerspiele Handlung, als wo der Liebhaber zu Füßen fällt, die Prinzessin ohnmächtig wird, die Helden sich balgen […]. Es hat ihnen nie beifallen wollen, daß auch jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von Gedanken […] eine Handlung sei […].“; Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie (1767/1973), S. 373 zitiert nach Lahn/Meister, Einführung, 220.

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

im Sinne eines primacy effects beeinflusst, soll mit der Analyse der Salbung der Füße Jesu durch Maria begonnen werden.2 Joh 15,9–17 bezieht sich zurück auf die Fußwaschung und auf das Liebesgebot in Joh 13,34 f. und kann als deren weiterführende Interpretation angesehen werden. Da dieser Abschnitt, insbesondere bzgl. der Einsetzung oder Beauftragung zum Fruchtbringen (15,16), eng mit Joh 15,1–8 verbunden ist, ist auch der erste Teil von Kapitel 15 in die Analyse einzubeziehen. Joh 15,3 stellt neben Joh 13,10 f. die einzige Belegstelle dar, in der im Johannesevangelium von der Reinheit der Jünger die Rede ist. Beide Stellen sind zu berücksichtigen, wenn die Interpretation von Joh 13,10 f. diskutiert wird.3 Die einzelnen Texte werden jeweils in ihrem Kontext analysiert und interpretiert. Weitere Themen und Texte, insbesondere intertextuelle Bezüge und sich daraus ergebende weitere Sinneffekte,4 die bei der abschließenden Interpretation der Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium berücksichtigt werden können, ergeben sich aus den Analysen der genannten zentralen Texte.

4.2. Zur Stellung von Joh 11–12 im Kontext des Johannesevangeliums Die Kapitel Joh 11–12 werden in der Regel als Abschluss des ersten Hauptteils des Johannesevangeliums betrachtet und eher selten bei der Interpretation der Fußwaschungserzählung berücksichtigt. Die Forschungsmehrheit gliedert das Johannesevangelium in zwei Hauptteile, wobei es zunächst um die Offenbarung Jesu in der Welt (Joh 1,19–12,50) und danach um die Offenbarung Jesu vor den Seinen (Joh 13,1–20,29) gehe.5 Dabei wird vor der Fußwaschungserzählung ein so deutlicher Einschnitt vorausgesetzt, dass Joh 13 üblicherweise im Zusammenhang des zweiten Hauptteils und damit im Kontext der Abschiedsrede sowie der Passion Jesu wahrgenommen und interpretiert wird. Diese Gliederung ist

2  Zum primacy effect vgl. Lahn/Meister, Einführung, 179; dazu auch Finnern, Narratologie, 118. Intertextuell betrachtet könnte man formulieren, dass die Salbungserzählung einen „Resonanzraum“ für die Fußwaschungserzählung öffnet; vgl. Alkier, Konzeptionen, 35. 3  Vgl. dazu auch Hentschel, Frage. 4 Hier sind vor allem intertextuelle Lektüren mit den Synoptikern zu berücksichtigen, wie sie von Hartwig Thyen in seinem Kommentar als intertextuelle Disposition des vierten Evangeliums aufgezeigt werden; vgl. Thyen, Johannesevangelium. Die Vielfalt in produktions- oder rezeptionsorientierter Perspektive zu berücksichtigender möglicher Texte und Fragestellungen kann nur ansatzweise und exemplarisch geleistet werden kann; vgl. Alkier, Konzeptionen, 37. 5  Vgl. exemplarisch Schnelle, Einleitung, 515 f.; Labahn spricht von einem „statischen Gliederungsmodell“; Labahn, Bedeutung, 432 Anm.

4.2. Zur Stellung von Joh 11–12 im Kontext des Johannesevangeliums

201

jedoch nicht unumstritten.6 Die Zweiteilung verhindert die Wahrnehmung, wie das Evangelium als Ganzes die Sendung des Sohnes beschreibt und welche zentrale Rolle die Fußwaschungserzählung für die gesamte Darstellung hat.7 Rainer Hirsch-Luipold bezeichnet sie sogar als „Zentrum und Scharnierstelle des gesamten Evangeliums“.8 Weiterführend ist hier der Ansatz von Michael Labahn, der in Joh 11–12 „eine Art Linse" sieht, welche die Linien der vorausgehenden Erzählung bündelt und auf die nun immer mehr in den Fokus rückenden Themen von Abschied, Tod und Auferstehung Jesu hin ausrichtet.9 Kap. 11–12 öffnen also gleichzeitig eine Blickrichtung auf bisher Erzähltes, indem dies in den Doxa-Aussagen zusammengeführt wird, sowie eine Blickrichtung zum Ende des Evangeliumstextes auf Passion und Auferstehung, die mit den Stichworten ‚Verherrlichung‘ und ‚Verherrlichen‘ verbunden wird.10

Unter narratologischen Gesichtspunkten ist vor allem festzuhalten, dass in Joh 10,40–42 ein expliziter Rückbezug zu Joh 1 stattfindet, wobei mittels zweier Analepsen (10,40.41) explizit auf das Wirken des Täufers zu Beginn des Evangeliums Bezug genommen wird.11 Lokal kehren wir am Ende von Joh 10 nicht nur an den Beginn des Geschehens zurück, sondern Jesus kommt danach mit seinen Jüngerinnen und Jüngern auch wieder in die Nähe von Jerusalem (Joh 11,7 f.18) und damit in die Nähe der Stadt, die bereits seit Joh 2,13–22 mit einer Lebensgefahr für Jesus verbunden wurde. In Joh 11–12 klingen viele Aspekte an, die für die Interpretation der folgenden Passions- und Auferstehungserzählung des Johannesevangeliums besonders relevant sind. Die Einführung der Geschwister Maria, Martha und Lazarus sowie das neue Thema, das mit der Krankheit des Lazarus angesprochen wird, markieren narratologisch eine neue Szene. Ab hier wird außerdem im Johannesevangelium explizit die Liebe Jesu zu seinen Jüngerinnen und Jüngern thematisiert.12 Dass Jesus Lazarus bzw. die drei bethanischen Geschwister liebt, wird auf der ersten Erzählebene vom Erzähler (11,5) und auf der zweiten Er 6   Vgl. z. B. Thyen, Johannes 10, 145–148; Thyen, Johannesevangelium, 509; Sabbe, John 10, 75–93; Labahn, Bedeutung, 432–436.442.  7 Labahn hält zurecht fest, dass Joh 20,30 f. sich nicht auf bestimmte vor Passion und Auferstehung gewirkte Zeichen Jesu bezieht, sondern das ganze Wirken Jesu als Erfüllung seiner Sendung wahrnimmt; Labahn, Bedeutung, 442. Zu den zahlreichen Verweisen und der daraus resultierenden vernetzten Struktur im vierten Evangelium vgl. Popp, Grammatik.  8  Hirsch-Luipold, Gott, 215.  9  Vgl. Labahn, Bedeutung, 434 f.; die Schwellen- oder Übergangsposition der Kapitel wird auch bei der traditionellen Zweiteilung wahrgenommen; z. B. Busse, Johannesevangelium, 185; Zumstein, Johannesevangelium, 412. 10  Labahn, Bedeutung, 440; vgl. auch Mathew, Footwashing, 130. 11 Moloney, Gospel, 322.327. 12 Vgl. die Übersicht zum Vorkommen der Liebessemantik unter Berücksichtigung der jeweils genannten Liebesbeziehungen bei Popkes, Theologie, 19: Jesu Liebe zu den Glaubenden wird v. a. in Joh 11,3.5.11.36; 13,1.23.34; 14,15.21; 15,9.12.13.14.15.17; 19,26; 20,2; 21,7.15.16.17.20 thematisiert.

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

zählebene von den Schwestern (11,3) und von den Juden (11,36) festgestellt. Ab Joh 11 rückt zunehmend die Liebe Jesu zu den Seinen in den Fokus der Erzählung, die auch den roten Faden für die Fußwaschung und die Passion Jesu darstellt (vgl. 13,1; 15,12 f.; 17).13 Während in Joh 15,15 Jesus die Seinen explizit als Freunde bezeichnet, wird in Joh 11–12 exemplarisch erzählt, was Freundschaft bedeutet, Lazarus wird von Jesus Freund genannt (11,11).14 Die Salbung der Füße Jesu durch Maria (Joh 12,1–8) erscheint als eine Art Vorabbildung der Fußwaschung durch Jesus.15 Die Salbung wird bereits in Joh 11,2 bei der Einführung Marias in die Erzählung durch eine Analepse erwähnt, die eine proleptische Funktion hat.16 Das Wunder der Auferweckung des Lazarus knüpft an das zurückliegende, in Joh 2–9 erzählte Wunderhandeln Jesu an und ist zugleich transparent für das bevorstehende Sterben und Auferstehen Jesu. Lieben, Sterben und Leben werden auf differenzierte Weise miteinander verbunden. Mit Blick auf die Entwicklung der erzählten Handlung ist festzuhalten, dass ausgerechnet das vollmächtige Geschenk des Lebens zum Anlass für den Beschluss des Synhedriums wird, dass Jesus gemäß dem Vorschlag des Hohepriesters als der eine Stellvertreter für das ganze Volk sterben soll (Joh 11,47–53). Bereits in Joh 11,7–16 hat Jesus entschieden, trotz Todesgefahr seinem Freund zu helfen, indem er ihm neues Leben schenkt. Außerdem haben die Jünger entschieden, dass sie als Gemeinschaft17 Jesus auf seinem Weg in die Todesgefahr nachfolgen und mit ihm sterben wollen (11,16). Die Ankunft von Griechen, die Jesus sehen wollen (12,20 f.), wird durch die Reihenfolge der erzählten Ereignisse als Anlass dafür präsentiert, dass Jesus den Beginn seiner Stunde verkündet und die Bedeutung seines Todes mit dem Bildwort vom Weizenkorn erläutert. Dabei wird sowohl das Sterben Jesu als auch die Nachfolge der Seinen mit der Bereitschaft, ebenfalls zu sterben, thematisiert (12,23–26). In Joh 11–12 werden also bereits in prominenter Weise Themen verhandelt, die in Joh 13–17 ausführlich zur Sprache kommen. Jesus begibt sich auf den 13  Zur Bedeutung der Liebessemantik für die johanneische Theologie Popkes, Theologie, v. a. 19–21.169–191. 14  Zur Konzeption von Freundschaft vgl. Konstan, Friendship, v. a. 24–148; Culy, Echoes, 34–62; zur Freundschaft zwischen Jesus und den Seinen bei Johannes vgl. Culy, Echoes, 130–177; Ringe, Wisdom, 64–83; Tilborg, Love, 11–168. 15  Zur kompositorischen Zusammengehörigkeit von Joh 12,1–11 mit Joh 11 vgl. HirschLuipold, Gott, 193–200; insbesondere der Zusammenhang von Duft des Lebens und Duft des Todes in 11,39 und 12,3 ist hier zu beachten, a. a. O. 197–199. 16  Vgl. Culpepper, Anatomy, 60. 17  Hier ist offensichtlich der Zusammenhalt der Jünger besonders gefragt, denn der Erzähler lässt Thomas zu seinen Mitjüngern (συμμαθητής) sprechen, als er sie zur Nachfolge in den Tod auffordert. „Zum ersten Mal taucht hier die Wahrheit auf, daß die Jünger das Schicksal Jesu für sich übernehmen müssen; die Abschiedsreden werden dieses Thema entwickeln“, Bultmann, Evangelium, 305.

4.2. Zur Stellung von Joh 11–12 im Kontext des Johannesevangeliums

203

Weg zu seiner „Stunde“18, und die Jünger erklären ihre Bereitschaft, Jesus auf diesem Weg zu folgen (Joh 11,16; vgl. 12,23–26). Damit haben die beiden Kapitel eine Überleitungsfunktion, bei der „durch die von Johannes hergestellte Verknüpfung von Auferweckungs- und Salbungsgeschichte (Joh 11 und 12) und durch den im Beisein des Lazarus sich ausbreitenden Lebensgeruch der Narde die Todesgeschichte des Lazarus (und damit mittelbar auch die Todesgeschichte Jesu) von vornherein als Lebensgeschichte in den Blick genommen wird“.19 Folgende Gliederung wird deshalb der weiteren Analyse zugrunde gelegt: Joh 11,1–54: Die Lebensgabe führt zum Tod 11,1–6: Geliebte Freunde bitten um Hilfe 11,7–16: Jesu Entscheidung für die Hilfe trotz Lebensgefahr und die Entscheidung der Jünger zur Todesnachfolge 11,17–27: Jesus als die Auferstehung – Begegnung mit Martha 11,28–37: Jesu Mitleiden und Traurigkeit – Begegnung mit Maria 11,38–44: Die Auferweckung des Lazarus 11,45–54: Der Todesbeschluss Joh 11,55–12,36: Der Tod Jesu führt zum Leben 11,55–57: Vorbereitungen für das Passafest 12,1–11: Die Salbung Jesu 12,12–19: Der Einzug Jesu in Jerusalem 12,20–36: Die Erhöhung Jesu Joh 12,37–50: Jesu Wirken und Wirkung

Joh 11,1–57, insbesondere 11,47–53.55–57, bereitet die narratologische ‚Bühne‘ für die Passionserzählung vor. Joh 12,1–19 setzt in Szene, wie Jesus als Messias, als ‚Gesalbter‘ und ‚König‘ in der Nachfolgegemeinschaft (12,1–8) und im Volk Israel (12,9–19) empfangen, verehrt und wahrgenommen wird, ohne dass die Menschen, die sich ihm in den Weg stellen, etwas effektiv dagegen ausrichten können. Joh 12,20–36 löst ein, was unter anderem in Joh 7,35 durch ein Missverständnis der Erzählfiguren angedeutet wurde. Jesus erläutert, dass sich mit seinem Weggang und seiner Verherrlichung (12,23) die Nachfolgegemeinschaft um Menschen erweitern wird, die nicht zum jüdischen Volk gehören (12,24.32; vgl. 10,15 f.). Zugleich fordert Jesus die Seinen zur Nachfolge unter Einsatz des eigenen Lebens auf und verheißt seinen aktiven Nachfolgerinnen und Nachfolgern Gemeinschaft mit ihm und Ehre durch Gott (12,25 f.). Nur hier greift Gott selbst im Johannesevangelium unmittelbar sichtbar und hörbar in die Handlung ein. In Joh 12,37–50 werden, bevor die Handlung an einem neuen Ort mit einem Mahl und einem sich anschließenden ausführlichen Gespräch im Nachfolgekreis weitergeht, die Reaktionen auf Jesu Sendung sowohl auf der ersten (Erzäh18 Vgl.

die Gliederung von Moloney, Gospel, vii.322.  Hirsch-Luipold, Gott, 199.

19

204

Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

lerkommentar) als auch auf der zweiten Erzählebene (Rede Jesu) grundlegend reflektiert, ohne dass dafür Ort, Zeit oder Adressaten genannt werden. Als Fazit ist festzuhalten, dass in Joh 11–12 für die weitere Handlung zentrale Themen angesprochen werden: die Liebe Jesu zu seinen Freundinnen und Freunden, seine zunächst ausbleibende Hilfe und seine von Gott verliehene Vollmacht zur Auferweckung sowie die von der Liebe motivierte Auferweckungshandlung und der damit verbundene Einsatz seines eigenen Lebens als Konsequenz seiner Liebe und der Auferweckung des Lazarus. Im Fokus steht außerdem die Liebesgemeinschaft zwischen Jesus, den bethanischen Geschwistern und den Jüngerinnen und Jüngern. Der weitere Personenkreis reagiert auf die Ereignisse, die sich in der Gemeinschaft von Jesus und seinen Freundinnen und Freunden abspielen, vor allem auf die Auferweckung des Lazarus, mit zustimmender oder ablehnender, aber doch jeweils mit zuverlässiger Bezeugung, mit Nachfolge und Glauben, mit Aufnahme und Verehrung, mit Ablehnung und Verfolgung bzw. Todesbeschluss. Besondere Berührungspunkte zu Joh 13 ergeben sich insbesondere in Joh 12,1–11.

4.3. Narratologische Analyse von Joh 12,1–11 Der Abschnitt Joh 12,1–11 ist weitgehend auf der ersten Erzählebene erzählt. Nur Judas und Jesus ergreifen mit kurzen Redebeiträgen das Wort, um die Handlung Marias zu kommentieren (12,5.7 f.), die dadurch im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und aus verschiedenen Perspektiven gedeutet wird.

4.3.1. Erzählte Situation: Schauplatz, Zeit, Personen Als Schauplatz der Handlung wird Bethanien angegeben, das als der Ort beschrieben wird, wo Jesus Lazarus von den Toten auferweckt hat (12,1). Ab Joh 12,2 spielt die Handlung in einem Haus. Wer Jesus ein festliches Abendessen bereitet, bleibt unbestimmt, ebenso die Zahl der Anwesenden.20 Jesus und Lazarus liegen gemeinsam mit anderen bei Tisch.21 Martha erweist Jesus die Ehre einer 20  Allein die Beschreibung der Mahlzeit sowie ihr Kontext sprechen für ein festliches Mahl, da eine feierliche Aufwartung (διακονέω) stattfindet und die Teilnehmenden bei Tisch liegen (ἀνάκειμαι), auch der Kontext mit der machtvollen Auferweckung des Lazarus und dem königlichen Einzug in Jerusalem sind weitere Argumente dafür. Es ist jedoch irrelevant, ob es sich um ein Festmahl (z. B. Behm, δεῖπνον, 33) oder um eine festliche Abendmahlzeit (Wanke, δεῖπνον, 674) handelt. Zur Praxis der Gemeinschaftsmähler vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl; zu Gemeinschaftsmählern im Judentum auch Smith, Symposium, 133–172. 21 Zumstein hält zurecht fest, dass „das gemeinsame Festmahl in Bethanien das letzte Mahl Jesu mit den Seinen vorwegnimmt“; Zumstein, Johannesevangelium, 441.

4.3. Narratologische Analyse von Joh 12,1–11

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Aufwartung als Gastgeberin, Maria salbt ihn in einer vertraut-innigen Handlung mit wertvollem Öl. Es ist eine freundschaftlich-vertraute, von Liebe und Wertschätzung bestimmte Gemeinschaft im geschützten Rahmen des Hauses, in dem Jesus gastfreundlich aufgenommen wird, insbesondere wenn man bedenkt, dass sich draußen die Tötungspläne gegenüber Jesus und sogar gegen Lazarus konkretisieren (11,45–53; 12,9–11).22 Die Verantwortung für die Zubereitung des Essens liegt bei den drei Geschwistern, die Gastgeber sind und Jesus einladen. Selbst wenn Bedienstete der Geschwister das Essen zubereitet haben sollten, kann die Formulierung so gewählt sein, als ob die Gastgeber selbst das Essen vorbereiten, da die Arbeit in ihrem Namen geschieht. Das unbestimmte Subjekt legt die Vermutung nahe, dass im Namen der Geschwister das Essen von Mägden und Knechten zubereitet wurde.23 Die Aufwartung, d. h. das Servieren der Speisen und Getränke, ist ein weiterer Arbeitsschritt. Diese wird in der Regel ebenfalls von den Hausangestellten ausgeführt. Wenn jedoch ein Ehrengast anwesend ist, gilt es als ein Zeichen der guten Sitten des Gastgebers und als besonderer Ehrerweis für den Gast, wenn ein Hausherr bzw. eine Hausherrin oder deren Kinder selbst die Aufwartung durchführen.24

Kommt ein Gast im Haus an, in dem die Mahlzeit stattfindet, wird ihm üblicherweise Wasser gereicht, um seine Füße zu waschen, zum Teil wird diese Fußwaschung auch von Sklavinnen oder Sklaven durchgeführt oder ein Bad ermöglicht.25 Diese alltägliche Handlung findet jedoch kaum einen Niederschlag in der Literatur. Nur wenn die Situation ungewöhnlich oder mit der Fußwaschung eine besondere Bedeutung verbunden ist, wird sie literarisch festgehalten. Auch die gastfreundliche Fußwaschung beim Betreten eines Hauses kann in besonderen Situationen durch die Gastgebenden selbst vollzogen werden und stellt in diesem Fall einen besonderen Ehrerweis dar. Ob und wie Jesus bei der Ankunft im Haus der drei Geschwister seine Füße gewaschen hat, erfahren wir im Johannesevangelium jedoch nicht. Allerdings ist im Rahmen der den zeitgenössischen Lesenden vertrauten allgemeinen Szenographien vorauszusetzen, dass eine Reinigung bereits geschehen ist, bevor sich Jesus zu Tisch gelegt hat (12,2). Die Salbung seiner Füße findet während des Mahls statt.26 Es ist anzunehmen, dass die Szene im Haus von Maria, Martha und Lazarus spielt, dies wird jedoch nicht benannt (12,1–2). Im Laufe der Darstellung wird 22  Vgl. Neyrey, Gospel, 211, der aufgrund der intimen Vertrautheit von „elites and genuinely ‚beloved ones‘“ spricht. 23  Vgl. JosAs 20,1 mit JoasAs 17,2; 18,2. Aseneth erweist Joseph durch ihre Gastfreundschaft eine besondere Ehre, ja durch die gastfreundliche Fußwaschung schließlich sogar ihre Liebe (20,2–4), ohne dadurch ihm gegenüber unterwürfig zu sein, vgl. Abschnitt 3.2.2. Auch für Favonius ist es keine Demütigung, sondern ein Zeichen von Tugend, wenn er dem verlassenen Pompeius u. a. die Schuhe auszieht und die Füße salbt (Plut. Pomp. 73,6 f.), vgl. Abschnitt 3.3.1. 24 Vgl. z. B. die Darstellung von Aufwartungen im Euboikos von Dion Chrysostomus (7,65– 67.82); dazu Hentschel, Diakonia, 44–49.85–89. 25  Vgl. Abschnitt 3.2.4. 26 Dies gilt entsprechend auch für Joh 13,4 f.

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

ergänzt, dass der Duft des Salböls als Duft des Lebens das ganze Haus erfüllt (12,3).27 In 12,9 verlässt die Erzählung das Haus wieder und die Lesenden erfahren von der Bedrohung, die sich draußen entwickelt, ohne dass jedoch Bethanien oder Jerusalem genannt werden. Der Raum außerhalb des Hauses ist zwar verbunden mit der Lebensbedrohung für Jesus und auch für Lazarus (12,10), es finden sich dort aber auch „viele der Juden“, die an Jesus glauben (12,11). Als Fazit ist festzuhalten, dass die Erzählung keine strikte räumliche Trennung zwischen der Jesus freundschaftlich verbundenen Gemeinschaft im Haus und der ihm feindlich gesinnten Gesellschaft außerhalb des Hauses vornimmt. Der Zeitpunkt der Handlung ist sechs Tage vor dem Passafest. In einer Analepse wird an die Auferweckung des Lazarus von den Toten erinnert (12,1). Damit wird ein unmittelbarer Bezug zu den Ereignissen in Joh 11 hergestellt. Die Mahlgemeinschaft wird dadurch als Gemeinschaft von Freundinnen und Freunden charakterisiert, die sich gegenseitig lieben (v. a. 11,3.5.11.16.36) und die das Geschenk des Lebens feiern.28 Die Darstellung entwickelt das Bild eines feierlichen Gastmahls im vertrauten Familien- und Freundeskreis, doch nicht alle Anwesenden zeichnen sich durch ihre Treue aus. In einer Prolepse wird darauf hingewiesen, dass Judas Jesus später ausliefern wird (12,4; vgl. auch 6,71), wodurch explizit auf die in Joh 13 erzählte Handlung angespielt wird. Der Tod Jesu wirft seine Schatten voraus, wenn Jesus in einer Figurenrede einen Bezug zwischen der Salbung Marias und seinem späteren Begräbnis herstellt (12,7; vgl. 19,38–42) und auf seinen Abschied hinweist (12,8). Damit greift er ein zentrales Thema der Abschiedsrede und der Begegnungen mit dem Auferstandenen auf (12,8; vgl. Joh 13–21 passim). Die Handlung selbst füllt eine erzählerische Lücke, die entstanden ist, als in Joh 11,2 in Form einer Analepse mit proleptischer Funktion auf das Salben und das Abtrocknen der Füße Jesu durch Maria verwiesen wird, ohne dass dies zuvor erzählt wurde.29 Die dadurch entstehende Irritation, die für Johannes nicht ungewöhnlich ist, weist auf die Bedeutung des Ereignisses hin.

27  Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund des Geruchs Hirsch-Luipold, Gott, 200– 214; vgl. auch Kügler, Duftmetaphorik, 123–171, mit Blick auf das Motiv des Wohlgeruchs als Duft des Lebens. 28  Zur Freundschaft im griechisch-römischen Kontext vgl. Konstan, Friendship, 24–148; zur Freundschaft zwischen Jesus und den Seinen v. a. Culy, Echoes, 130–177; Ringe, Wisdom, 64–83; Tilborg, Love, 11–168; vgl. auch Joh  15,13–15; dazu Popkes, Theologie, 308–313; Scholtissek, Liebe, 437 f.; Van Tilborg, Love, 150–153. 29  Culpepper spricht mit Blick auf 11,2 von einer „misplaced analepsis which functions as a prolepsis“ und von einer der „well-known anomalies of the gospel“; Culpepper, Anatomy, 60.

4.3. Narratologische Analyse von Joh 12,1–11

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4.3.2. Erzählte Handlung Die narratologische Analyse der erzählten Handlung soll klären, welche Aspekte des Geschehens zur Darstellung ausgewählt wurden und ob sich durch die literarisch-narratologische Gestaltung bestimmte Bedeutungszuschreibungen finden lassen, die für die Interpretation der erzählten Szene relevant sind. Es geht nicht darum, die chronologische Abfolge der Ereignisse in der Geschichte (fabula) zu rekonstruieren. Jesu Ankunft in Bethanien wird sowohl mit der vergangenen Auferweckung des Lazarus als auch mit dem bevorstehenden Passahfest verknüpft (12,1). Martha agiert als Hausherrin und Gastgeberin und wartet feierlich bei der vorbereiteten Mahlzeit auf (12,2). Geschieht die Aufwartung nicht durch Dienstpersonal, sondern durch den Hausherrn oder die Hausherrin, ist dies ein Zeichen von Höflichkeit, mit dem man dem Gast, in diesem Fall Jesus, eine besondere Ehre erweist.30 Auch wenn dabei die Aufgabe des Dienstpersonals von Martha durchgeführt wird, begibt sie sich nicht in die Rolle einer Sklavin, ihr Handeln führt auch nicht zu einem Statusverlust. Sie erweist vielmehr Jesus die Ehre, die ihm als Freund und Boten Gottes, der die Vollmacht hat, Leben zu geben, angemessen ist. Das Erzähltempo verlangsamt sich. Detailliert wird die Salbung Marias beschrieben (12,3)31, die im Anschluss aus unterschiedlichen Perspektiven bewertet wird und damit im Fokus der Szene steht (12,4–8).32 Damit wird nun eingeholt, was in Joh 11,2 bei der Vorstellung Marias bereits in einer Analepse festgestellt wurde, ohne dass diese einen Bezugspunkt in der zuvor erzählten Handlung hatte.33 Das Salböl, ein Pfund34 kostbaren Nardenöls, war ungewöhnlich teuer – 30 Vgl. den Tischdienst in Mk 1,31 par. Lk 4,39 sowie Lk 10,38–42, dazu Hentschel, Diakonia, 200–205.236–245. Auch die zwölf Apostel Jesu bereiten nach Lukas für Jesus die Mahlzeit vor oder sind an der Aufwartung beteiligt; vgl. Lk 9,10–17; 22,7–13; den treuen Knechten wird in Gleichnissen die Ehre erwiesen, dass ihnen vom Herrn oder Bräutigam aufgewartet wird, so wie auch den Jüngern von ihrem Herrn; vgl. Lk 12,37; 22,26; vgl. auch Lk 22,19 f.30. Dieser in besonderen Situationen ausnahmsweise stattfindende Ehrerweis von Herren gegenüber ihren Knechten ist auch in der griechischen Literatur bekannt, z. B. anlässlich der Saturnalien, vgl. z. B. Lukian, Saturnalia 17 f.32 oder bei kultischen Feiern, vgl. Athen. Deipn 263a. Auch Philo würdigt es positiv, wenn bei den Therapeuten freie junge Männer bei Tisch aufwarten; Philo VitCont 70.1; 71.2. 31 Die detailreiche Beschreibung der Salbungshandlung entspricht der detaillierten Schilderung der Fußwaschung in Joh 13,4 f. 32  Dieses Phänomen, das von Mieke Bal als Fokalisierung bezeichnet wird, ist für die Bedeutung und Interpretation eines dargestellten Sachverhalts besonders relevant, vgl. Abschnitt 2.3.3. Zur „Interferenz von Erzählertext (ET) und Figurentext (FT)“, Lahn/Meister, Einführung, 139. 33 Vgl. Culpepper, Anatomy, 60; Moloney, Gospel, 335. 34  Das λίτρα genannte römische Maß fasst 327 Gramm, das Lexem findet sich im Neuen Testament nur hier und in Joh 19,39 bei der Salbung des Leichnams Jesu, vgl. Thyen, Johannesevangelium, 549 f.

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

ein Tagelöhner hätte dafür mehr als zehn Monate arbeiten müssen – und zeichnet sich durch seinen Duft aus.35 Die Narde wird auch in Hld 1,12 erwähnt, wo die Geliebte ihren Duft an den König abgibt, der mit ihr an der Tafel liegt.36 Offensichtlich ist es möglich, den Duft zu teilen. Da Maria die Füße Jesu mit ihren Haaren abtrocknet, oszilliert die Handlung zwischen einer Salbung (vgl. 12,7; 19,38–42)37 und einer Waschung der Füße Jesu (vgl. Joh 13,5). Das Ausziehen der Schuhe, das Waschen und Salben der Füße und auch das Abtrocknen von Wasser bzw. überschüssigen Öl waren in der Antike miteinander verbundene Aspekte der Körperpflege, auch wenn in der literarischen Darstellung oft nur ein oder zwei Handlungsaspekte genannt werden.38 Dass Maria bei der Salbung zu Jesu Füßen kniet, ist Bestandteil der Handlung und kein Ausdruck von „Demut und Respekt“39, sie agiert hier auch nicht in der Rolle einer „ergebenen“ Sklavin40.

Ungewöhnlich ist an der Handlung Marias im konkreten Fall vor allem, dass die eigenen Haare zum Abtrocknen verwendet werden. Das wäre beim Abtrocknen von Wasser schon auffallend, besonders irritierend für die heutigen Lesenden ist es jedoch, wenn mit den Haaren überschüssiges, wenn auch extrem wertvolles Salböl abgetrocknet wird. In der Antike wurde jedoch auch der Kopf gesalbt und man hat, anders als heute, nicht versucht, die Haare vom Öl freizuhalten.41 Ein Vergleich mit den Gepflogenheiten der Antike in Sachen Körperpflege zeigt also, dass vor allem die Verwendung der Haare für das Abtrocknen überflüssigen Öls an der Szene überrascht. Indem Maria für das Abtrocknen des Öls ihre Haare benutzt, kommt es bei der Fußsalbung zu einer besonders innigen Berührung zwischen ihr und Jesus. Auch eine „normale“ Fußwaschung oder Fußsalbung ist schon mit Berührung verbunden und kann in bestimmten Kontexten eine freundschaftliche oder sogar intime Handlung darstellen.42 Bei Maria führt nun 35 Vgl.

Theobald, Evangelium I, 775.  So Thyen, Johannesevangelium, 550; Theobald, Evangelium I, 775, wobei die Narde in der LXX nur in Hld 1,12; 4,13 f. erwähnt wird. Von hier aus kann mit Blick auf den Einzug und das Begräbnis Jesu festgehalten werden, dass Jesus als gesalbter König betrachtet wird; ebd. Vgl. dazu auch Kügler, Duftmetaphorik, 165. 37 Im Neuen Testament ist das Verbum ἀλείφω insgesamt neun Mal belegt; in Mk 6,13 und Jak 5,17 zur Salbung von Kranken; in Mk 16,1 geht es um die Salbung des Leichnams Jesu; in Mt 6,17 werden Waschen und Salben nebeneinander erwähnt, allerdings auf unterschiedliche Körperteile bezogen; in Lk 7,38.46 werden die Waschung der Füße und danach eine Salbung Jesu erzählt. 38  Vgl. Rouwhorst, Salbung, 340–369. So kann das Waschen häufig auch das Salben implizieren bzw. das Salben eine vorausgehende Waschung voraussetzen; vgl. z. B. Hom.Od. 4, wo den Gästen zunächst angeboten wird, sich selbst (!) zu baden, sie aber im Endeffekt gebadet, gesalbt und eingekleidet werden (Hom.Od. 4,48 f.); vgl. dazu Abschnitt 3.2.4. 39   So z. B. Zumstein, Johannesevangelium, 443; ähnlich Thyen, Johannesevangelium, 550 f., der in der als Fußwaschung gedeuteten Fußsalbung einen Sklavendienst sieht; a. a. O. 551. 40  So jedoch Thyen, Johannesevangelium, 550. 41  Vgl. Rouwhorst, Salbung. 42 Vgl. Kapitel 3, insbesondere Abschnitt 3.2.2. und Abschnitt 3.2.5. 36

4.3. Narratologische Analyse von Joh 12,1–11

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das Abtrocknen der Füße Jesu mit ihren Haaren dazu, dass auch Maria selbst das kostbare, duftende Salböl auf ihrem Kopf trägt – sie teilt mit Jesus sowohl das wertvolle Öl als auch den Duft. Beides wird vom Erzähler jedoch nicht fokussiert. Der Erzähler hält nur fest, dass der Duft des Öls danach das ganze Haus erfüllt (vgl. Joh 11,39). Weder das Abtrocknen der Füße mit den Haaren noch der sich ausbreitende Duft werden weiter gedeutet, die Erzählstimme beschreibt wie ein anwesender, aber unsichtbarer Zeuge unkommentiert das Geschehen im Haus.43 Die folgenden Verse konzentrieren sich auf den Wert des kostbaren Öls und die damit vollzogene Salbung Jesu. Die aufmerksamen Lesenden bleiben also mit der Frage nach der Bedeutung des ungewöhnlichen Abtrocknens sich selbst überlassen und suchen möglicherweise im Verlauf der weiteren Handlung des Johannesevangeliums nach Interpretationsmöglichkeiten. Unter Berücksichtigung von motivgeschichtlichen Hintergründen zur ägyptischen Deutung des Geruchsmotivs hält Rainer HirschLuipold als „Proprium der johanneischen Rezeption des Geruchsmotivs“ fest: „Die Einbalsamierung des Pharao markiert die Überwindung des Todesgeruchs bei einem herausgehobenen, in die Nähe des Göttlichen gerückten oder gar mit ihm identifizierten menschlichen Individuum, demgegenüber ergibt sich bei Johannes eine entscheidende ‚Demokratisierung‘ der Verwendung des Geruchsmotivs bei Johannes: Jesus wird bei Johannes als der gekennzeichnet, der göttliches Leben nicht nur repräsentiert, sondern auch zueignet.“44 In der erzählten Salbungsgeschichte teilt Jesus diesen Duft des Lebens bereits mit Maria, die ihn durch ihre Salbung gewissermaßen ‚erfahrbar‘ gemacht hat. Maria selbst wird, gemeinsam mit Jesus, zum Medium dieses Lebensduftes. Im Fortgang der Erzählung wird Jesus mit seiner zu Marias Salbung auffallend analog gestalteten Fußwaschung „Teilhabe an sich“ ermöglichen, die darauf zielt, dass die Seinen wie Jesus selbst Füße waschen (Joh 13,8). Maria nimmt hier als Jüngerin vorweg, was Jesus später von den Seinen fordert. Die Erzählstimme übergibt mit einer Redeeinleitung das Wort an Judas (12,4 f.), nicht jedoch ohne ihn vorher als den zu charakterisieren, der Jesus später ausliefern wird.45 Die Lesenden können allein dadurch Judas und seine Aussage 43  Einer Brautmetaphorik in Anspielung auf Hld 1,12 und Joh 3,29 widerspricht Kügler jedoch; vgl. Kügler, Duftmetaphorik, 164. Davon abgesehen ist beachtenswert, dass Maria und Jesus diesen Duft teilen bzw. dass der Duft die beiden verbindet und nicht nur von Jesus, sondern auch von Maria selbst ausgeht. Sowohl die Namen Martha und Maria als auch das Abtrocknen der Füße mit den Haaren können als intertextuelle Disposition mit Blick auf Lk 7,36–50 und 10,38–42 betrachtet werden. Wie stark die lukanischen Texte die Wahrnehmung der Schwestern in Joh 11–12 intertextuell beeinflussen, zeigt ein Blick in die Kommentare. Vgl. Abschnitt 4.4. 44 Hirsch-Luipold, Gott, 203 als wichtige Weiterführung der Beobachtungen von Kügler, Nase, 47. 45  Es handelt sich um eine nicht autonome direkte Rede. Mit der Redeeinleitung bewertet die Erzählstimme die Glaubwürdigkeit der folgenden Aussage; vgl. Lahn/Meister, Einführung, 131.

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

als unglaubwürdig einordnen. Auch nach der Frage des Judas schaltet sich der Erzähler erneut ein und kommentiert sie, indem er seine Motivation als eine scheinheilige offenlegt, da ihm nicht das Wohl der Armen, sondern sein eigener Profit am Herzen liege (12,6). Durch den Diebstahl an der gemeinsamen Kasse verletzt Judas das Vertrauen, das ihm im Rahmen der Nachfolgegemeinschaft als Freundeskreis zukommt, die ihm die Verantwortung für die gemeinsamen finanziellen Ressourcen anvertraut hat. Erst danach meldet sich Jesus zu Wort und deutet die Salbung als Vorbereitung Jesu für sein Begräbnis (12,7).46 Das griechische Lexem ἐνταφίασμος ist mit ‚Vorbereitung für die Beerdigung‘ zu übersetzen, so dass in diesem Moment der Tag gekommen ist, an dem Jesus durch die Salbung Marias auf sein Begräbnis und damit auch auf seinen unmittelbar bevorstehenden Tod (vgl. 12,23) vorbereitet wird.47 Danach geht Jesus auf den Vorwurf des Judas ein (12,8). Jesus hält die Nächstenliebe gegenüber den Armen als bleibende Pflicht fest, die Priorität liege aber jetzt – wie Maria richtig erkannt habe – auf der ihm erwiesenen Liebe und Verehrung, da sein Abschied bevorsteht.48 Die narratologische Analyse zeigt, dass im Fokus der erzählten Handlung die Salbung Jesu durch Maria und ihre angemessene Deutung stehen. Sie ist zwischen der Auferweckung des Lazarus als Zeichen für das Geschenk des Lebens durch Jesus und seinem bevorstehenden Tod aus Liebe für die Seinen eingezeichnet. Die Salbung der Füße Jesu wird narratologisch aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet und bewertet49: Zuerst tritt Judas unglaubwürdiger Sprecher und Fokalisator auf (12,6). Glaubwürdig ist Jesu Bewertung der Handlung am Ende der Szene, die auch im Sinne des recency effects eine besonders leserlenkende Bedeutung hat. Es fehlt die Perspektive Marias. Diese erzählerische Leerstelle wird häufig bei der Interpretation gefüllt.50 Der Erzähler selbst stellt das Geschehen zwar detailliert (vgl. Joh 13,4 f.), aber unkommentiert dar, eine Kritik 46 Der Verlauf der Handlung legt nahe, dass das gesamte Öl verwendet wurde, um Jesus zu salben, nicht jedoch, dass ein Teil des Öls für einen späteren Zeitpunkt aufgehoben wird; so z. B. Zahn, Evangelium, 204; vgl. zu den Argumenten gegen diese Interpretation, welche die Pointe der Darstellung verfehlt, Theobald, Evangelium I, 778; Thyen, Johannesevangelium, 552 f. 47  Vgl. Liddell/Scott, ad verbum; BDAG, ad verbum; Moloney, Gospel, 357 f.; Theobald, Evangelium I, 778; Thyen, Johannesevangelium, 552 f. Dies betrifft auch die Übersetzung von Joh 19,40. 48  Mit Blick auf die johanneische Ethik ist hier festzuhalten, dass das Johannesevangelium die Versorgung der Armen als selbstverständliche Pflicht der Jüngerinnen und Jüngern voraussetzt (s. auch 13,29b), auch wenn es diese nicht eigens thematisiert. 49  Zumstein hält knapp und präzise fest, dass Maria selbst ihr Handeln nicht deutet; vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 443. Doch auch die Erzählstimme deutet Marias Handeln nicht und bietet auch keinen Einblick in ihre Motivation. 50  Marias Motivation wird in den Kommentaren oft diskutiert und ergänzt; vgl. z. B. Theobald, Evangelium I, 776, der darin ihre Dankbarkeit aufgrund der Auferweckung des Lazarus sieht.

4.3. Narratologische Analyse von Joh 12,1–11

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des Erzählers an Maria wird nicht geäußert.51 Durch die Prolepse in Joh 11,2 im Kontext von Joh 11 sowie durch die – sich auf Joh 11 zurückbeziehende – Situationsbeschreibung in Joh 12,1 f. wird Maria als vertraute Freundin Jesu charakterisiert, die Jesus durch die Salbung mit dem kostbaren Öl ihre Liebe erweist. Nächstenliebe und die Liebe zu Jesus werden einander hier priorisierend gegenübergestellt, ohne dass die Nächstenliebe für irrelevant erklärt wird. Zugleich ermöglicht Maria, dass sich der Duft des Lebens, der im Gegensatz zum Verwesungsgeruch des Lazarus steht, im ganzen Haus verbreitet. Weil Maria das kostbare Öl mit ihren Haaren abtrocknet, hat sie auch nach der Salbung noch Anteil an diesem Duft, der sowohl von Jesus als auch von ihr ausgeht. Marias Handlung wird in Joh 12,1–8 grundlegend positiv bewertet, während die Bewertung der Salbung durch Judas als Verschwendung auf Kosten der Armen durch den Erzählerkommentar und den Einspruch Jesu als unglaubwürdig dargestellt wird und narratologisch dazu dient, ein falsche Deutung abzuwehren. Joh 12,1–8 gibt jedoch keinen Einblick in die Motive Marias für ihr Tun und lässt damit eine Leerstelle, welche das Interesse der Lesenden weckt. Im Verlauf der weiteren Lektüre legt sich eine Erklärung aus der Analogie zu Joh 13,4 f. und dem Nachahmungsbefehl in Joh 13,14 f. nahe, dem Maria hier zuvorgekommen ist. Blickt man von Joh 13,1–20 zurück auf Joh 12,1–8, dann handelt Maria aus eigener Initiative so, wie eine Schülerin gegenüber ihrem Lehrer Jesus zu handeln verpflichtet ist, insbesondere aufgrund der freundschaftlich-vertrauensvollen und liebevollen Beziehung zwischen Jesus, Maria und ihren Geschwistern (Joh 11,3–5; 13,1.34 f.). Maria erweist sich als verständnisvolle Schülerin und Freundin Jesu, welche durch ihr Handeln das realisiert, was Jesus im Anschluss an die Fußwaschung detailliert erläutern und von den Seinen fordern wird.

4.3.3. Zur Charakterisierung Marias Insbesondere bei der Interpretation von Joh 12,1–8, die oft durch die Erzählung in Lk 7,36–50 beeinflusst wird, ist methodisch zu beachten, dass Erzählfiguren – und das gilt gerade für die johanneischen – nicht einfach als Abbilder von 51  Marias Art der Huldigung werde mit Blick auf 6,15 und 12,12–19 nach Theobalds Interpretation vom Evangelisten kritisch betrachtet; vgl. Theobald, Evangelium I, 776. Theobald sieht in Martha die rechte, in Maria die weniger adäquate Christusverehrung; ebd.; ähnlich, wenn auch etwas zurückhaltender in der Kritik an Maria auch Thyen, Johannesevangelium, 528 f.531 f. Zu einer entgegengesetzten Bewertung der Schwestern kommt z. B. Moloney, Gospel, 330, der in Marias Salbung einen Ausdruck ihrer Liebe und ihres Verständnisses für den Tod Jesu sieht; a. a. O. 349 f. Die Charakterisierung der Schwestern in Joh 11,1–12,8 legt jedoch nahe, dass die beiden nicht als Konkurrentinnen zu betrachten sind, sondern als gleichwertige geliebte Jüngerinnen und Freundinnen Jesu, die in ihrem Glauben nicht perfekt sein müssen, um in einer Liebesbeziehung zu Jesus zu stehen, die vorbildlich ist; vgl. dazu Hylen, Believers, 77–89.

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

historischen Personen gezeichnet werden, sondern in der Erzählung eine Funktion haben, für die sie gestaltet werden. „Obwohl wir Figuren bei der Lektüre durchaus als quasi-reale Personen erfahren, sollten wir nicht vergessen, dass sie Textkonstrukte sind, die mit den Mitteln der Sprache erzeugt werden. […] Vielmehr übernehmen sie eine für die Gesamterzählung relevante Funktion der Bedeutungsvermittlung.“52 Weder wird in Joh 11,1–12,11 Martha als arrogant oder als begriffsstutzig beschrieben, noch wird Maria als emotional und unselbständig gezeichnet.53 Maria und Martha tragen als Erzählfiguren in Joh 11,1–3.20–44 zur Entwicklung und zum Verstehen der Handlung bei. Eine Bevorzugung Marthas lässt sich am Text selbst nicht belegen, sondern legt sich erst nahe, wenn man Worte (des Bekenntnisses) höher bewertet als Taten (der Liebe).54 Beide Schwestern handeln in Joh 12,1–3 mit der Vorbereitung eines festlichen Mahls, der Aufwartung und der Salbung  – ob bewusst oder unbewusst ist narratologisch zweitrangig und wird auch vom Erzähler nicht thematisiert (vgl. Mk 14,3–9; Mt 26,6–13)55 – in Übereinstimmung mit den Zeichen der Zeit und dem bevorstehenden Abschied Jesu. Die erste und letzte Erwähnung Marias, die narratologisch für die Sinnkonstitution im Sinne von primacy und recency effect56 besonders wichtig sind, sprechen eine deutliche Sprache: Am Ende des Erzählabschnitts steht als letzte Wertung der Handlung Marias die Aussage Jesu, die keinen Zweifel an der positiven Bedeutung der Salbung seiner Füße durch Maria lässt (12,7 f.). Am Beginn des Erzählabschnitts, in dem die beiden Figuren im Johannesevangelium eingeführt werden, werden sie als Freundinnen Jesu beschrieben und vom Erzähler wird explizit festgehalten, dass die Schwestern um die Liebe Jesu zu ihnen und zu Lazarus wissen (11,3). Ihr Handeln zeigt, dass sie das Vertrauen haben,

52  Lahn/Meister, Einführung, 235. Die Missverständnisse im Johannesevangelium zeigen z. B. auch nicht, dass die Personen rund um Jesus besonders dumm oder begriffsstutzig sind, sondern sie sollen textpragmatisch die Lesenden auf ein tieferes Verständnis des jeweils problematisierten Sachverhalts aufmerksam machen. 53 Diese und ähnliche Interpretationen werden in Kommentaren jedoch häufig in die Interpretation eingetragen: Theobald sieht bei Maria viel Emotionalität, Theobald, Evangelium I, 737 f.; Zumstein betrachtet Maria unter dem Aspekt der Trauer; Zumstein, Johannesevangelium, 430 f.; Moloney unterstellt Martha Arroganz Moloney, Gospel, 348. 54  Vgl. z. B. Bultmann, Evangelium, 316; Boismard/Lamouille, Werkstatt, 110; Schnackenburg, Johannesevangelium II, 460, Theobald, Evangelium I, 714.719; Thyen, Johannesevangelium, 528; Zumstein, Johannesevangelium, 413 f.429. Gerade im Johannesevangelium sind die Übergänge zwischen Worten und Taten fließend, beide haben Zeugnis- bzw. Bekenntnischarakter, vgl. z. B. Joh 5,36; 10,25.37 f.; 14,10 f.; 15,24. 55  Dies spricht gegen ein Leistungsdenken mit Blick auf Jüngerschaft im Johannesevangelium. Es ist nicht relevant, wie Maria selbst ihr Handeln deutet, von daher sollte dieses am Verstehen orientierte Bewertungsmuster auch nicht an die johanneische Erzählung bzw. ihre Figuren herangetragen werden; vgl. z. B. hier konkret Moloney, Gospel, 330.349. 56 Vgl. Lahn/Meister, Einführung, 179; dazu auch Finnern, Narratologie, 118.

4.3. Narratologische Analyse von Joh 12,1–11

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in ihrer Not nach Jesus zu schicken (11,3). In einer direkten Charakterisierung wird betont, dass Jesus die Geschwister liebt (11,5). Maria wird vor allem indirekt durch ihre Handlungen charakterisiert, sie agiert jedoch nicht als Erzähler zweiter Ebene. Dies ist zunächst einmal als eine Möglichkeit der Charakterisierung in einer Erzählung wahrzunehmen, ohne dass es zu bewerten ist.57 Dass eine Erzählfigur sich in einer direkten Rede äußert, ist bei Johannes auch nicht grundsätzlich positiv mit Blick auf die Erzählfigur zu bewerten. Mit Blick auf die Charakterisierung durch Analogie ist relevant, dass Judas, der in 12,5 redet, vom Erzähler in einer direkten Charakterisierung kritisch hinterfragt wird (12,4.6) und von Jesus in einer direkten Rede zurechtgewiesen wird (12,7). Das Salben und das Abtrocknen der Füße Jesu werden bereits unmittelbar bei Marias erster Erwähnung im Johannesevangelium benannt (11,2), so dass sie von Anfang an durch diese Handlung charakterisiert wird. Beides steht dort im Kontext der beschriebenen Vertrauens- und Liebesbeziehung zwischen Jesus und Maria sowie ihren beiden Geschwistern (11,1–5). Auch Marias Begegnung mit Jesus, die in Joh 11,28–37 erzählt wird, lässt deutlich die emotionale Verbundenheit zwischen Jesus, Maria und Lazarus erkennen: Dass Maria und die Juden, die ihr nachfolgen, weinen, wird nicht aus der Perspektive des Erzählers wahrgenommen, sondern durch die Augen Jesu (11,33), der hier als Fokalisator wirkt.58 Die genannten Emotionen haben im antiken Freundschaftsverständnis als Ausdruck der Vertrautheit und Verbundenheit unter Freunden einen eigenständigen Platz und sind nicht in einem erotischen Sinn oder als Ausdruck einer besonderen Emotionalität einer Erzählfigur zu deuten.59 Das Weinen 57 Das Handeln/Weinen der Maria in Joh 11 wird oft negativ im Vergleich mit der positiv betrachteten Rede der Martha bewertet (vgl. Bultmann, Evangelium, 309; Schnackenburg, Johannesevangelium II, 418; Theobald, Evangelium I, 713.737 f.; Zumstein, Johannesevangelium, 413 f.429). Thyen kritisiert zurecht, dass ein Vergleich der Schwestern in der Exegese häufig zu einem unangemessenen Urteil über sie führt; Thyen, Johannesevangelium, 534. Doch auch Thyen hat ein hohes Interesse daran, Marthas Bekenntnis in Joh 11,27 im Vergleich mit Joh 11,39 als Ausdruck ihres festen Glaubens zu verstehen, der jedoch nicht im Sinne vom Verstehen einer Glaubensaussage, sondern im Sinne eines Vertrauens in Jesus als das Wort des ewigen Lebens verstanden wird, vgl. Thyen, Johannesevangelium, 528. 58 Hier findet sich das Phänomen, das Mieke Bal zur Weiterentwicklung der von Genette in die Diskussion eingebrachten Fokalisierung veranlasst hat: Wer in einer Erzählung spricht (narrator /Erzählstimme) und wer in einer Erzählung etwas sieht/wahrnimmt/bewertet (focalisator /Fokalisator oder wahrnehmende Instanz), muss nicht in einer Person zusammenfallen, da eine Person erzählen kann, was eine andere sieht; vgl. Bal, Narratology, 145–153. In Joh 11,33 berichtet der Erzähler, was Jesus sieht. Diese Wahrnehmung Jesu wird vom Erzähler jedoch unkommentiert weitergegeben – es findet sich keinerlei positive oder negative Bewertung des Weinens. Aufgrund der Charakterisierungen Jesu und der bethanischen Geschwister in Joh 11 f. ist nicht davon auszugehen, dass Jesus das Weinen Marias und der sie begleitenden Juden kritisch oder negativ bewertet. Jesu Weinen wird durch seine Liebe zu Lazarus und die damit zusammenhängende Trauer erklärt (Joh 11,35 f.). Jesu Erregung kann durch die Begegnung mit dem Tod und dessen lebensbedrohlicher Macht gedeutet werden; vgl. Joh 11,33 f.38; vgl. auch 12,27; 13,21. 59  Vgl. Konstan, Friendship, 5 f.

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

wird weder vom Erzähler noch von einer der Figuren negativ oder abwertend beurteilt. Mit Blick auf den Fortgang der Handlung wird das Weinen zum Auslöser dafür, dass Jesus sich zum Grab führen lässt, so dass die Handlung zu ihrem positiven Ausgang findet (11,34). Als Jesus ebenfalls weint, erfolgt eine Interpretation seines Weinens durch eine direkte Rede der Juden, die sein Weinen als Zeichen seiner Liebe deuten (11,35 f.). Dieser Interpretation wird weder vom Erzähler noch von anderen Figuren widersprochen. Der Gedankengang wird vielmehr weitergeführt zu der Frage, warum Jesus denjenigen, den er doch liebte, mit seiner Krankheit im Stich gelassen hat (11,36 f.). Sowohl das Handeln als auch die Emotionen Marias sind im Kontext der Freundschaft zwischen Jesus und den Geschwistern zu verstehen und zeigen im positiven Sinn die Nähe und Vertrautheit, die zwischen ihnen besteht. Die freundschaftlichen Beziehungen, die von Liebe geprägt sind und die Bereitschaft einschließen, für den anderen das eigene Leben einzusetzen, sind eine Vorabbildung der Gemeinschaft, die der johanneische Jesus gemäß Joh 13–17 von den Seinen erwartet. Maria wird in Joh 11–12 folglich als eine Jüngerin charakterisiert, die in einer vertrauensvollen Freundschaftsbeziehung zu Jesus steht und keine Mühe und Kosten scheut, um ihre Liebe gegenüber Jesus zum Ausdruck zu bringen. Sie steht hier in Opposition zu Judas, der sich durch Diebstahl an der Nachfolgegemeinschaft bereichert, kein echtes Interesse an den Armen hat und auch Jesus gegenüber durch seinen Weggang und Verrat untreu werden wird. Maria und Judas konturieren sich in Joh 12,1–8 als Charaktanten gegenseitig, so dass die Treue der Jüngerin Maria, die keine Kosten scheut, gegenüber der Untreue und Gewinnorientierung des Judas besonders deutlich wird.60 Als Fazit lässt sich festhalten, dass Maria, ebenso wie ihre Schwester, im Johannesevangelium als vorbildliche Schülerin Jesu betrachtet wird.61 Vorbildlich ist jedoch nicht im Sinne eines perfekten Glaubens oder Nachfolgeverhaltens zu verstehen.62 Judas und Maria werden durch die Darstellung in Joh 12,3–8 in Analogie zu einander charakterisiert und stehen dabei in Opposition. Während Judas durch eine direkte Charakterisierung des Erzählers als der Jünger beschrieben wird, der die Gemeinschaft egoistisch für sich ausnutzt und Jesus später den Gegnern ausliefern wird (Joh 12,4–6), ist Maria eine Jüngerin, die gemeinsam mit ihren Geschwistern in einer auf Gegenseitigkeit und Vertrauen beruhenden  Vgl. Lahn/Meister, Einführung, 243.  So Hylen, Believers, 77 f. zum Forschungsstand. 62 Oft werden die Schwestern auch im Vergleich zu einander bewertet. Wenn Sandra Schneiders Martha als „true and perfect Johannine belief in the Word of Jesus“ (Schneiders, Death, 52) und Moloney Maria als „the character in the story that reflecting true faith“ (Moloney, Gospel, 330) bezeichnet und dabei jeweils die eine der anderen vorgezogen wird, trägt dies ein Konkurrenzdenken in die johanneische Darstellung ein, das dort gerade nicht zu finden ist. Das Johannesevangelium kennt keine perfekten Jüngerinnen und Jünger (vgl. Hylen, Believers, 88 f.153 f.), auch nicht in Bezug auf ihren Glauben, was sich v. a. an der Darstellung der Zwölf beobachten lässt (vgl. Joh 6,66–71; 20,24–29). 60 61

4.3. Narratologische Analyse von Joh 12,1–11

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Freundschafts- und Liebesbeziehung zu Jesus steht (Joh 11,1 f.5). Es handelt sich hier überhaupt um die ersten Jüngerinnen und Jünger im Johannesevangelium, von denen explizit ausgesagt wird, dass Jesus sie liebt. Die drei Geschwister bilden eine Gemeinschaft, die sich durch gegenseitige Liebe und Unterstützung beschreiben lässt: Die Schwestern holen für ihren Bruder bei Jesus Hilfe (11,3), beerdigen ihn schließlich und trauern um ihn (11,17–38). Außerdem vertrauen sie auf die Liebe und Hilfe Jesu, selbst wenn sie nicht immer mit Sicherheit sagen können, wie diese konkret aussehen wird (11,3.21.25–27.32.39 f.). Die Szenen mit Missverständnissen dienen auch hier primär dem vertieften Verständnis der Bedeutung Jesu durch die Lesenden. Sie sind in erster Linie als narratologisches Stilmittel des Johannesevangeliums wahrzunehmen und nicht einseitig als Hinweis auf die Verständnislosigkeit oder einen unvollkommenen Glauben der jeweiligen Figuren auszuwerten.63 Martha und Maria werden auch nicht als Konkurrentinnen gezeichnet, keine von beiden wird von der Erzählstimme – wie etwa Judas – negativ oder auch nur kritisch betrachtet! Maria entspricht – bzw. korrekter formuliert – die bethanischen Geschwister entsprechen mit ihrem Verhalten den auf Gegenseitigkeit und auf die Gemeinschaft bezogenen Forderungen in der Abschiedsrede Jesu (Joh 13,14 f.34 f.; 15,9.12.17; vgl. 17,23–26).64 Die Erläuterungen Jesu beim letzten Mahl zeigen, wie das Johannesevangelium auf eine Gemeinschaft von Jüngerinnen und Jüngern zielt, die sich gegenseitig lieben, stärken und tragen (13,34 f.; 15,1–17; 21,1–14) und die zugleich auf die Unterstützung Gottes bzw. Jesu angewiesen sind und vertrauen können (vor allem 14,18). Dieser Glaubens- und Liebesgemeinschaft gilt die Verheißung, dass Gott und Jesus in ihr wohnen und sich ihr offenbaren werden (14,24 f.).65 Eine solche als Freundschaft beschriebene Gemeinschaft ist in Joh 11–12 mit den bethanischen Geschwistern und Jesus bereits exemplarisch dargestellt (11,1–5.11 f.; 12,1–3; 13,1–20.34 f.). Maria und ihre Geschwister sind insgesamt als vorbildliche Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu zu betrachten, besonders jedoch mit Blick auf ihre Liebesgemeinschaft untereinander und mit Jesus (11,1–5; 12,1–3). Maria bildet durch ihre Salbung narratologisch die Fußwaschung Jesu im Voraus ab (12,3; 13,4 f.), wodurch sie sowohl an Jesu Duft des Lebens, als auch an der Liebesgemeinschaft, die er ermöglicht und später erläutern wird (13,8.34 f.; 14,23; 17,23–26), Anteil hat. 63 Mit Blick auf Martha und Maria hält das Zumstein prägnant fest, vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 534. 64  So richtig Theobald, Evangelium I, 739, der von der „familia dei“ spricht. Die in der Forschung häufig gestellte Frage, welche der beiden Schwestern eine angemessenere Haltung zu Jesus bzw. einen überzeugteren Glauben habe, wobei das Urteil durchaus unterschiedlich ausfällt, führt in eine falsche Richtung. Für Martha z. B. Theobald, Evangelium I, 733–740. 776–779; Schneiders, Death, 52; für Maria Moloney, Gospel, 327–335.348–350. 65 Zum Zusammenhang von Wohlgeruch und Epiphanie vgl. Hirsch-Luipold, Gott, 209.

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

4.4. Intertextuelle Lektüre von Joh 12,1–8 Intertextuelle Bezugnahmen auf andere Texte können unter anderem durch Figuren- und Ortsnamen, durch Zitate und Anspielungen, durch die Struktur einer Erzählung oder durch einzelne hervorgehobene Erzählzüge markiert werden, wobei diese Markierungen nicht eindeutig sind, sondern immer vom Wissensstand und der Interpretation der Lesenden abhängig bleiben.66 „Wenn man sich auf die Suche nach verborgenen Anspielungen macht, ist es schwer zu sagen, ob der Autor recht hat, der nichts von ihnen wußte, oder der Leser, der sie gefunden hat.“67 Dass man eine intertextuelle Lektüre jedoch nicht nur produktionsästhetisch68, sondern auch rezeptionsästhetisch begründen kann, relativiert die Frage nach der Autorintention. Die Relationen zwischen den Texten erschließen Sinneffekte, die über den johanneischen Text hinausgehen und zu Ergänzungen, Verdeutlichungen und Verschiebungen führen können. Bei der Analyse ist jedoch darauf zu achten, dass nicht Bedeutungsmomente der synoptischen Texte in den johanneischen Text eingetragen werden, die dort nicht angelegt sind bzw. ausgeschlossen werden, auch wenn sich diese Sinneffekte aus dem Zusammenlesen der verschiedenen Überlieferungen ergeben.69

4.4.1. Joh 12,1–8 und Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13 Die Erzählung in Joh 12,1–8 enthält eine Vielzahl an Motiven, die eine intertextuelle Lektüre mit Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13 nahelegen70: eine Salbung Jesu mit einem kostbaren Öl durch eine Frau in einem Haus in Bethanien während 66 Vgl. Alkier, Konzeptionen, 35 f.; Orosz, Intertextualität, 27 f.; Lahn/Meister, Einführung, 214. 67  Eco, Bücher, 230. 68 An Joh 12,1–8 knüpft eine breite Forschungsdiskussion mit Blick auf die Entstehungsgeschichte des Textes an; vgl. zur Forschung mit einem eigenen Entwurf ausgehend von der Voraussetzung, dass Johannes die Synoptiker nicht kennt, Theobald, Evangelium I, 766–780; unter der Voraussetzung eines direkten Bezugs zu synoptischen Evangelien vgl. u. a. Barrett, Gospel, 405; Thyen, Johannesevangelium, 510 f.548 f.; Sabbe, Anointing, 2080–2082. 69  Eine Konkurrenz bzw. ein Konflikt zwischen Martha und Maria wird in Lk 10,38–42 durchaus nahegelegt, findet sich in Joh 11–12 jedoch gerade nicht. Dennoch wird von vielen Exegetinnen und Exegeten die – in die falsche Richtung führende – Frage gestellt, welche der beiden Schwestern in ihrem Glauben vorbildlicher sei. 70  Einen guten Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der vier Salbungserzählungen ermöglicht der tabellarische Vergleich bei Theobald, Evangelium I, 767 f. Allerdings wird die Dankbarkeit, die Theobald als Gemeinsamkeit von Lk 7 und Joh 12 festgestellt hat, in keinem der beiden Texte benannt. In Lk 7,36–50 geht es explizit um Fußwaschung und Salbung sowie um Vergebung als Ausdruck oder Konsequenz von Liebe, in Joh 12 wird die Liebe im Kontext ausführlich thematisiert, Sünde oder Vergebung spielen keine Rolle (Joh 11–13). Sabbe geht gut begründet davon aus, dass Lk 7,36–50 auf Mk 14,3–9 zurückgeht und Johannes beide Texte voraussetze; Sabbe, Footwashing, 300–302.

4.4. Intertextuelle Lektüre von Joh 12,1–8

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einer Mahlzeit zu Beginn der Passionszeit, der Protest weiterer anwesender Personen wegen des Geldes, das man besser für die Armen hätte nutzen können, sowie der Hinweis Jesu auf seine bevorstehende Abwesenheit und die Deutung der Salbung mit Blick auf seine Beerdigung.71 Abgesehen von kleineren Details stimmt die Erzählstruktur von Joh 11,1–8 mit den Salbungserzählungen des Markus- und Matthäusevangeliums überein72, so dass eine intendierte Bezugnahme des Johannesevangeliums auf diese Salbungserzählungen naheliegend ist, wenn man die Kenntnis synoptischer Evangelien beim Autor des vierten Evangeliums voraussetzt. Informierte Lesende, die die synoptischen Evangelien kennen, werden diese auffallende Ähnlichkeit, aber auch die Unterschiede um so deutlicher wahrnehmen: Jesus befindet sich gemäß Joh 12,1–8 nicht im Hause eines Simons, der an Aussatz erkrankt war (Mk 14,3 par. Mt 26,6), sondern bei den Geschwistern Martha, Maria und Lazarus. Gesalbt wird Jesus von Maria, nicht von einer namenlosen Frau. Sie hat kein Alabastergefäß mit Öl (Mk 14,3 par. Mt 26,7), sondern ein Pfund Öl (Joh 12,3).73 Als Kritiker der Salbung treten nicht unbekannte Anwesende bzw. namentlich nicht genannte Jünger auf (Mk 14,4 f.; Mt 26,8 f.), sondern Judas, der ausführlich charakterisiert wird (Joh 12,4–6). Dadurch stehen sich Maria und Judas als zwei Jünger Jesu gegenüber und charakterisieren sich auf diese Weise jeweils gegenseitig: Während Maria, gemeinsam mit ihren Geschwistern, in einer auf Vertrauen und Treue basierenden Liebesbeziehung zu Jesus steht (11,1–5; 12,1–3), handelt Judas aus egoistischen Motiven und wird Jesus und die Nachfolgegemeinschaft später verlassen (12,4.6). Marias Handlung wird bei Johannes nicht als „gute Tat“ (Mk 10,6 par. Mt 26,10)74 bezeichnet, zu denen im antiken Judentum sowohl die Armenfürsorge als auch die Salbung eines Toten gezählt wurde. Die Salbung wird vielmehr als eine Tat innerhalb einer von gegenseitiger Liebe geprägten Freundschaftsbeziehung gedeutet, welche der Beziehung zu Jesus angemessen ist und ihn angesichts seiner bevorstehenden Stunde für sein Begräbnis vorbereitet. Sie erscheint als Ausdruck der Liebe Marias zu Jesus, die der besonderen Situation kurz vor Jesu Abschied angemessen ist und in dieser eine prophetische Bedeutung entfalten kann. Die christologische Bedeutung ihrer Tat geht durch die zeitliche Anordnung der Ereignisse bei Johannes über die Salbung anlässlich einer Beerdigung hinaus. Nur im Johannesevangelium findet die Salbung unmittelbar vor dem Einzug 71  Die Beschreibung des Öls als πιστικός legt eine Kenntnis des markinischen Texts durch den Verfasser des Johannesevangeliums nahe, da das Lexem in der Antike in diesem Sinn nur an diesen beiden Stellen sowie in Texten, die darauf Bezug nehmen, vorkommt; vgl. Liddell/ Scott, ad verbum. 72 So auch Theobald, Evangelium I, 769. 73  Das Lexem λίτρα findet sich im Neuen Testament nur in Joh 12,3 und bei Jesu Beerdigung in Joh 19,39. 74 Vgl. dazu Jeremias, Salbungsgeschichte, 76–82.

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

in Jerusalem statt: Als der von Maria Gesalbte wird der johanneische Jesus in Jerusalem einziehen.75 Damit hat im Johannesevangelium die Frau einen Namen, deren Erinnerung nach Jesu Worten gemäß Mk 14,9 par. Mt 26,13 dort bewahrt werden soll, wo das Evangelium verkündigt wird. Durch die intertextuellen Bezüge werden bei der Salbung vor allem die Interpretamente der Liebe zu Jesus, – die bei Johannes über eine karitative Tat einer unbekannten Frau hinausgeht und in den Kontext einer Freundschaft zwischen Jesus und Maria eingebunden ist –, und der vorbildlichen Nachfolge vertieft. Darüber hinaus wird auch der Aspekt der Verkündigung des Evangeliums in den vorliegenden Kontext eingetragen, der in Joh 12,1–11 durch den sich auch von Maria ausgehenden Duft des Öls als Wohlgeruch des Lebens angedeutet wird. Der johanneische Text, der selbst das Evangelium Jesu verkündet (vgl. Mk 14,9 par.), erzählt damit auch von der Salbung einer Frau, die nun einen Namen erhält und als vorbildliche Schülerin Jesu charakterisiert wird. Diese Sinneffekte, die sich nicht alle aus Joh 12,1–11 erschließen, sondern erst durch eine intertextuelle Lektüre ergeben, werden durch die Fußwaschung Jesu und deren Deutung für den Nachfolgekreis in ihrer Relevanz bestätigt und verdichtet. Damit nimmt Maria mit Blick auf Joh 13,12–20 aus eigener Initiative vorweg, was Jesus im Anschluss an die Fußwaschung seinen Schülern aufträgt. Indem sie Jesus vor seinem Einzug in Jerusalem salbt, bereitet sie ihn nicht nur mit Blick auf sein Begräbnis, sondern sogar in einem christologischen Sinn mit Blick auf seinen bevorstehenden Weg durch den Tod zur Erhöhung beim Vater vor.

4.4.2. Joh 12,1–8 und Lk 10,38–42 sowie Lk 16,9–31 Auch die Schwestern Martha und Maria sowie der Name Lazarus sind in der synoptischen Überlieferung keine Unbekannten:76 Von einem Besuch Jesu bei den beiden Schwestern erzählt Lk 10,38–42, wobei Martha hier ebenfalls mit Tischdienst und Hausarbeit beschäftigt ist (Lk 10,40; vgl. Joh 12,2), während 75 Im Johannesevangelium geht die Salbungserzählung dem Einzug in Jerusalem voraus, diff. Mk 11,1–10; 14,3–9 par. Mt 21,1–11; 26,6–13. 76  Vgl. den detaillierten Vergleich von Joh 12,1–8 mit lukanischer Überlieferung bei Dauer, Johannes, 126–206. Zur Umstellung von Salbungserzählung und Einzug bei Johannes im Vergleich mit den Synoptikern vgl. Schnelle, Evangelium, 222 f.; Theobald, Evangelium I, 767–773. Auf die umfangreiche literarkritische Forschung zu einer möglichen Entstehungsgeschichte von Joh 12,1–8 kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu Theobald, Evangelium I, 767–773; Zumstein, Johannesevangelium, 441 f.; kritisch aufgearbeitet bei Sabbe, Anointing, 2051–2082. Im Anschluss an Sabbe sieht Thyen in Joh 11,1–8 ein intertextuelles Spiel sowohl mit Mk 14,3–11; Mt 26,6–13 und Lk 7,36–50 als auch mit Lk 10,38–42 und Lk 16,19–31 und interpretiert die johanneischen Texte als intendierte Bezugnahmen auf diese als Prätexte definierten Texte; vgl. Thyen, Johannesevangelium, 548–553. Thyen und Sabbe ist zuzustimmen, dass Johannes sich wahrscheinlich nicht auf eine vormarkinische Tradition bezieht, sondern die Synoptiker kennt und kreativ in seinem Evangelium aufgreift.

4.4. Intertextuelle Lektüre von Joh 12,1–8

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Maria zu Jesus Füßen wie eine Schülerin zuhört (Lk 10,39).77 Die Informationen zu den beiden Schwestern Martha und Maria in Joh 11 f. reichen aus, um einen intertextuellen Bezug von Joh 12,1–8 zu Lk 10,38–42 zu markieren. Lazarus jedoch hat in der lukanischen Jesus-Geschichte keine Rolle als Erzählfigur, sondern kommt in einer Binnenerzählung, einem Gleichnis, vor.78 Wenn man die Namensgleichheit und die Anspielung auf eine mögliche Auferstehung des Lazarus als ausreichend beurteilt, um Lk 16,9–31 bei der Interpretation von Joh 11 f. im Sinne einer produktionsorientierten Intertextualität zu berücksichtigen, ist zu beachten, dass hier nicht eine affirmierende, sondern eine differenzierende Bezugnahme vorliegen würde: Entgegen des abschließenden Fazits in Lk 16,31 kommen im Johannesevangelium sehr wohl Menschen zum Glauben an Jesus, weil Lazarus auferstanden ist (Joh 11,45.47 f.; 12,11).79 In Lk 10 sehen wir in Maria die vorbildliche Schülerin, die lernend zu Jesu Füßen sitzt und von ihrem Lehrer dafür gelobt wird. Die lukanische Martha jedoch wirft ihr vor, dass sie untätig zu Jesu Füßen sitzt und ihr alleine die gastfreundliche Versorgung Jesu überlässt. Die johanneische Maria erscheint durch diese intertextuellen Bezüge zwischen den johanneischen und lukanischen Texten nicht nur als geliebte Freundin Jesu (Joh 11), sondern zugleich auch als vorbildliche Schülerin (vgl. Lk 10,38–42; Joh 13,13–15), die nicht nur aufmerksam zuhört, sondern die Jesus zum Zeichen ihrer Liebe die Füße salbt (Joh 12,1–8). Damit unterstützt und ergänzt die johanneische Maria zugleich das Handeln ihrer Schwester Martha, die aufwartet und Jesus damit ebenfalls eine Ehre erweist (Joh 12,2 f.; vgl. Lk 10,40). Eine Beschwerde Marthas, dass Maria ihr nicht helfen würde, ist im Johannesevangelium entsprechend überflüssig. Zugleich bestätigt die spätere Fußwaschungserzählung, insbesondere Joh 13,13–15, dass Maria als Schülerin Jesu dessen Worte – gewissermaßen in vorauseilendem Gehorsam – verstanden und erfüllt hat. Zwischen Hören und Handeln besteht folglich keine Spannung. Die in Lk 10,38–42 mögliche Interpretation, dass die beiden Schwestern als Konkurrentinnen um das richtige Nachfolgeverständnis verstanden werden können, wird in Joh 12 abweichend dargestellt. Die johanneischen bethanischen Geschwister handeln nicht in Konkurrenz zu einander. Das gemeinsame Feiern und Essen hat genauso einen wichtigen Platz im Rahmen der Liebesbeziehung zu Jesus wie die Aufwartung und die Fußsalbung, ebenso wie die geteilte Not in Joh 11. Auch die theologische Diskussion (Joh 11,20–28) sowie die geteilte Emotion (Joh 11,29–36) haben beide einen gleichberechtigten Platz in dieser Beziehung. Das Lernen Marias, das sie nach Lk 10,38–42 als vorbildliche Schülerin charakterisiert, ist nun eingebettet in ein von 77 Vgl.

dazu Hentschel, Diakonia, 236–246. literarische Abhängigkeit sieht auch Busse, Johannesevangelium, 304, wobei seiner Meinung nach Johannes Lk 19,31 im bleibenden Unglauben der Juden im Johannesevangelium bestätigend aufnehme. 79 So zurecht Theobald, Evangelium I, 722. 78 Eine

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

Liebe bestimmtes Freundschaftsverhältnis, wo man sich in der Not aufeinander verlassen kann, und zeigt sich in der Fußsalbung, die als Ausdruck von Liebe der freundschaftlichen Beziehung angemessen ist. Jesus eine Liebe zu erweisen ist genauso wertvoll wie eine gute Tat gegenüber den Armen, die letztere ergänzt, aber nicht ersetzt (Joh 12,8). Zudem salbt Maria Jesus unmittelbar vor seinem bevorstehenden Einzug in Jerusalem. Lazarus ist in einem lukanischen Gleichnis Jesu (Lk 16,9–31) ein Bettler vor dem Haus eines Reichen, dem die barmherzige Nächstenliebe während seines Lebens verweigert wurde. Die Bitte des verstorbenen Reichen, Lazarus erneut auf die Erde zu schicken, um seine Brüder zu warnen, wird mit dem Hinweis abgelehnt, dass die Menschen auch dann nicht glauben, wenn ein Toter aufersteht (Lk 16,31). Während der namenlose reiche Mann dem armen Bettler Lazarus weder Armenfürsorge noch Gastfreundschaft gewährt, wird Lazarus im Jenseits von Abraham persönlich gastfreundlich aufgenommen und erhält den Ehrenplatz bei Abraham. In der intertextuellen Lektüre mit Joh 11 f., wo Lazarus von den Toten auferweckt wird, sein Zeugnis von Jesus jedoch auf ein geteiltes Echo stößt, stellt sich aufgrund der intertextuellen Lektüre die Frage nach dem Erfolg der Zeugenschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu angesichts der Möglichkeit der Auferstehung. Werden die Menschen – nach Jesu Tod – dem Nachfolgekreis glauben (vgl. Joh 15,1–16,3a)? Und wie muss ihr Zeugnis beschaffen sein, damit die lebensschaffende Macht Jesu, die in Joh 12,1–8 im sich verbreitenden Duft des Öls angedeutet wird, glaubwürdig verkündigt werden kann? Mit diesen Fragen, die sich aus Joh 12,1–11 ergeben und durch die intertextuelle Lektüre verdichtet werden, entlässt Joh 12,1–11 gewissermaßen seine Lesenden, damit sie in der folgenden Fußwaschungserzählung und der sich anschließenden Abschiedsrede nach Antworten suchen. Der johanneische Jesus fordert beim letzten gemeinsamen Mahl in ebenfalls freundschaftlicher Runde die Seinen auf, sein Vorbild nachzuahmen und sich gegenseitig die Füße zu waschen bzw. sich gegenseitig zu lieben (13,12–20.34 f.). In Joh 12,1–8 wird Maria bereits vorher als eine Jüngerin beschrieben, die diesen Auftrag Jesu erfüllt, bevor er ihn ausgesprochen hat. Die Liebe zu Jesus und seinen Worten (Lk 10,38–42), die Liebe zu den Armen (Lk 16,9–31) und die Liebe untereinander gehören nach der johanneischen Darstellung zusammen (Joh 12,1–11; 13,12–20.34 f.), um glaubwürdig das Evangelium zu verkündigen, und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

4.4.3. Joh 12,1–8 und Lk 7,36–50 Eine weitere Erzählung des Lukasevangeliums, die bestimmte, besonders markante Motive der Salbungshandlung mit Joh 12,1–8 teilt und ihrerseits auch viele gemeinsame Erzählzüge mit Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13 aufweist, ist Lk

4.4. Intertextuelle Lektüre von Joh 12,1–8

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7,36–50.80 Während einer Mahlzeit, allerdings bei einem Pharisäer namens Simon, kommt eine Sünderin mit einem Alabastergefäß voll Öl und benetzt Jesu Füße mit ihren Tränen, trocknet sie mit ihren Haaren ab, liebkost sie und salbt Jesus abschließend (Lk 7,37 f.). Die Handlung der Frau wird – im Vergleich zu Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13 – nicht als eine prophetische mit Blick auf den Tod Jesu gedeutet, sie steht auch nicht am Beginn der Passionserzählung. Jesus wird in der Episode vorgeworfen, dass er kein Prophet sei, weil er nicht erkenne, wer ihn hier berühre (Lk 7,39). Der lukanische Jesus deutet das Waschen und Abtrocknen seiner Füße durch die Frau im Vergleich mit einer gastfreundschaftlichen Fußwaschung, ihre Liebkosung seiner Füße im Vergleich mit einem Begrüßungskuss und ihre Salbung (der Füße oder möglicherweise doch des Kopfes) Jesu im Vergleich mit einer Salbung seines Kopfes durch den Gastgeber (Lk 7,44–46). Alle drei Aspekte ihrer Handlung werden hier von Jesus mit offensichtlich vorstellbaren Handlungen im Rahmen der Begrüßung eines Gastes verglichen, die – so der transportierte Vorwurf – der Gastgeber Jesus schuldig geblieben ist (Lk 7,39).81 Die negative Bewertung der Frau und ihres Handelns durch den Gastgeber Simon und dessen Kritik, dass Jesus ihre Berührung einfach akzeptiere, wird durch die Antwort Jesu relativiert. Der lukanische Jesus deutet die Handlung der Frau, die aus Waschen, Abtrocknen und Liebkosen der Füße sowie einer Salbung besteht, als Zeichen ihrer Liebe. Diese Liebe wird durch das Gleichnis (primacy effect) als Folge von Vergebung (Lk 7,40–42) und durch den abschließenden Satz Jesu (recency effect) als Ursache der Vergebung (Lk 7,47 f.) dargestellt. Auch die detaillierte Beschreibung ihrer Handlung, zu der im Unterschied zu den synoptischen Salbungserzählungen auch die Liebkosung der Füße Jesu gehört, verweist bereits auf die Liebe als Motivation für ihr Tun. Der lukanische Jesus reagiert also auf den Liebeserweis einer Frau mit Sündenvergebung (Lk 7,47–50). Darüber hinaus zeigt die lukanische Erzählung, dass im ersten Jahrhundert n. Chr. Fußwaschung, Liebkosung und Salbung sowohl im Kontext der Gastfreundschaft als auch im Kontext einer intimen Liebesbeziehung vorstellbar waren und Konnotationen wie ‚Ehrerbietung‘, ‚Liebeserweis‘ sowie ‚erotische Nähe‘ damit verbunden werden konnten. 80  Vgl. den tabellarischen Vergleich bei Theobald, Evangelium I, 767 f. Allerdings wird die Dankbarkeit, die Theobald als Gemeinsamkeit von Lk 7 und Joh 12 benennt, in keinem der beiden Texte thematisiert! In Lk 7,36–50 geht es explizit um Fußwaschung und Salbung sowie um Vergebung als Ausdruck oder Konsequenz von Liebe, in Joh 12 wird die Liebe im Kontext ausführlich thematisiert (Joh 11–13). Vgl. Sabbe, Footwashing, 300–302, der die plausible These vertritt, dass Lukas die markinische Salbungserzählung umgestaltet hat und Johannes beide Traditionen kennt. 81  Eine Salbung in Verbindung mit einer Fußwaschung ist eher die Regel als die Ausnahme und nicht nur als seltene Höflichkeitsgeste zu bewerten, so Schürmann, Lukasevangelium I, 435 f. Vgl. Rouwhorst, Salbung, 340–370; s. auch Kapitel 3.

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Allerdings wird Dankbarkeit, die sowohl für Lk 7,36–50 als auch für Joh 12,1–8 in der Exegese oft als Motivation angeführt wird, in keinem der beiden Texte benannt.82 Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen Lk 7,36–50 und Joh 12,3–8 ist das Abtrocknen der Füße Jesu mit den Haaren. Diese Gemeinsamkeit ist besonders einprägsam, da dieses Detail der Handlung Marias die Lesenden im Kontext von Joh 12,3–8 irritiert und zu der Frage führt, warum eine Frau Öl, das zum Salben der Füße verwendet wurde, mit ihren Haaren wieder abtrocknet.83 Die Irritation kann als intertextuelle Disposition verstanden werden, um in den anderen Evangelien nach vergleichbaren Erzählzügen zu suchen.84 Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Joh 12,1–8 mit Lk 7,36–50 ist die Deutung der Salbung Jesu als Ausdruck von Liebe, die sich auch für die johanneische Handlung im Kontext von Joh 11,1–12,11 nahelegt. Außerdem wird in den vier Salbungserzählungen nur in Lk 7,38.46 und in Joh 12,3 (vgl. Joh 11,2) explizit von einer Salbung gesprochen (ἀλείφω) gesprochen, während in Mk 14,3 par. Mt 26,7 nur von einem Ausgießen (καταχέω)85 des Öls auf Jesu Kopf die Rede ist. In Lk 7,36–50 wird die Fußwaschung und Salbung als Ausdruck einer erotisch konnotierten Liebe einer sündigen Frau dargestellt, welche jedoch weder als prophetische Handlung beschrieben noch in den Kontext der späteren Evangeliumsverkündigung eingebunden wird (diff. Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13). Die Sündenthematik wird in Joh 12,1–8 nicht angesprochen, der Aspekt der Liebe findet sich jedoch als zentrale Deutung auch für die Handlung Marias, allerdings nicht im Sinne einer erotischen Zuwendung, sondern im Kontext der Freundschaft zwischen Jesus und den bethanischen Geschwistern. Das Fehlen der Liebkosung bei Johannes bestätigt die Interpretation, dass der erotische Aspekt, der in Lk 7 mitschwingt, in der johanneischen Erzählung keine Rolle spielt. Dass sich von den vier Handlungsschritten aus Lk 7,37 f. ausgerechnet das Salben und das ungewöhnliche Abtrocknen mit den Haaren in Joh 12,3 finden, ermöglicht die Analogie der Salbung Marias zur Fußwaschung Jesu (Joh  Vgl. z. B. Theobald, Evangelium I, 767.774. wird zum Teil sogar als „unsinnig“ bezeichnet, Becker, Evangelium II, 438. Barrett erklärt dies als Folge der Auslassung des Weinens; Barrett, Gospel, 408. 84  Eine Übersetzung von ἐκμάσσω mit ‚abtrocknen‘ bei Lukas und ‚abwischen‘ bei Johannes würde zwar dem jeweiligen Kontext etwas besser entsprechen (so der Vorschlag von Theobald, Johannesevangelium I, 765.770), lässt aber die sprachliche Übereinstimmung zwischen Lk 7,37 f. und Joh 12,3 im Deutschen verschwinden. Von daher wird hier auch für Joh 12,3 grundsätzlich vom ‚Abtrocknen‘ gesprochen. Der Vorgang, dass Maria überschüssiges Öl mit ihren Haaren entfernt, bleibt identisch. 85  Das Ausgießen (καταχέω) des Öls findet sich bei alttestamentlichen Königssalbungen; vgl. 1 Sam 10,1; 2 Kön 9,3.6; auch Ex 29,7; während ἀλείφω in diesem Zusammenhang kaum vorkommt; vgl. dazu Theobald, Evangelium I, 771; BDAG, ad verbum; Liddell/Scott, ad verbum. Theobald nimmt dies als Argument gegen eine Abhängigkeit von Markus, da Johannes ansonsten die „königlich-messianische Assoziation von Mk 14,3 unterdrückt haben“ müsste; a. a. O. 772. 82

83 Dies

4.4. Intertextuelle Lektüre von Joh 12,1–8

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13,4 f.). Die Salbung der Frau in Lk 7,36–50 wird vom lukanischen Jesus mit einer gastfreundlichen Fußwaschung verglichen und als Ausdruck von Liebe bewertet. In der johanneischen Erzählung sind die Salbung Marias und die Fußwaschung Jesu jeweils für sich ein Ausdruck der Liebe, welche die Nachfolgegemeinschaft als Heilsgemeinschaft konstituiert bzw. verbindet. Auch wenn die Sündenvergebung in der johanneischen Darstellung keine Rolle spielt, so gilt doch auch hier, dass Sünde, welche die Beziehung zu Gott sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen stören würde, durch das Heilshandeln Jesu bereits vergeben ist (Joh 13,10 f.). Die intertextuelle Lektüre von Joh 12,1–8 mit Lk 7,36–50 legt nahe, dass sowohl die Fußsalbung als auch die später erzählte Fußwaschung als zeichenhafte Handlungen zu deuten sind, in denen es primär um die Liebe und das damit verbundene Heil im Sinne von Leben ermöglichenden Beziehungen zu Jesus, zu Gott und auch untereinander im Nachfolgekreis geht.

4.4.4. Bedeutungsdimensionen von Joh 12,1–8 nach der intertextuellen Lektüre Liest man Joh 12,1–8 intertextuell zusammen mit Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13 und Lk 7,36–50 ergeben sich zahlreiche neue bzw. vertiefende Bedeutungsaspekte für den johanneischen Text. Die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der jeweiligen Salbung Jesu sowie der jeweils beschriebenen Beziehung zwischen Jesus und den Schwestern Martha und Maria bzw. der unbekannten salbenden Frau treten miteinander in einen Dialog und öffnen einen Raum für unterschiedliche Fragestellungen und Interpretationen. Im Johannesevangelium wird zwar die Salbung Jesu durch Maria nicht explizit als Handlung aus Liebe bezeichnet, durch die Situation, vor allem auch mit Blick auf Joh 11,2 im Kontext von Joh 11,1–6, und die Charakterisierung Marias in Joh 11–12,8 legt sich jedoch die Liebe als Motiv für ihr Handeln in Joh 12,3 nahe. Ihre Handlung steht im Kontext einer von Liebe und Freundschaft geprägten innigen Beziehung mit Jesus und muss – in diesem Rahmen – vom Erzähler offensichtlich nicht weiter kommentiert werden.86 Während Judas als ihr Gegenspieler in Joh 12,1–8 aus selbstsüchtigen Motiven handelt und Jesus später übergeben und damit verlassen wird, handelt Maria uneigennützig und scheut keine Kosten, um Jesus ihre Liebe zu zeigen. Durch die gegenüberstellende Charakterisierung von Maria und Judas in Joh 12,3–8, die sich in Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13 in dieser Form nicht findet, wird die Salbung Marias nicht zwischen den Alternativen einer „guten Tat“ entweder für die Armen oder für die Beerdigung Jesu eingeordnet, sondern in einem christologisch qualifizierten Sinn 86  Die Beziehung zwischen Jesus und den Geschwistern wird mit Freundschaftsterminologie beschrieben, so dass auch die Liebe zwischen Jesus und Maria in diesem Kontext zu verstehen ist, v. a. weil der Text keine Hinweise auf eine erotische oder intime Beziehung enthält.

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tiefergehend der Liebe bzw. Treue oder Untreue zu Jesus zugeordnet (vgl. Joh 13,10 f.18 f.; 15,1–17): Maria liebt Jesus und scheut keine Kosten, um ihm diese Liebe angesichts seines bevorstehenden Abschieds zu erweisen.87 Sie belegt damit ihre treue Freundschaft zu Jesus. Judas jedoch liebt sich selbst, während er Jesus später ausliefern wird. Die Fürsorge für die Armen nimmt er nur als Vorwand, um sich bereichern zu können. Der in Joh 11–12 bereits angelegte Bedeutungsaspekt der Liebe zu Jesus wird durch den intertextuellen Bezug zwischen Joh 12,1–8 und Lk 7,36–50 verstärkt. Von den vier Teilhandlungen der Frau  – Benetzen der Füße Jesu mit ihren Tränen, Abtrocknen mit ihren Haaren, Liebkosen und Salben – finden sich im Johannesevangelium das Salben und das ungewöhnliche Abtrocknen mit den Haaren wieder. Durch diese eigenwillige Kombination bzw. Auswahl entstehen bei den Lesenden sowohl Assoziationen an eine Fußwaschung – Waschen und Abtrocknen  – als auch an eine Salbung  – Salben und Abwischen von überschüssigem Öl. Dadurch wird die Fußsalbung Marias auch transparent für die spätere Fußwaschung Jesu. Marias Handlung ist verbunden mit einer zärtlich-liebkosenden Berührung, die hier über das Waschen bzw. Salben und Abtrocknen hinaus noch durch das Berühren mit den Haaren verstärkt wird. Allerdings wird dieser Aspekt im Johannesevangelium gerade nicht explizit benannt oder hervorgehoben, obwohl die Liebkosung den Aspekt der liebevollen Zuwendung verstärken könnte. Die beschriebene Handlung ist nicht zwingend mit sexuellen Konnotationen verbunden, wie bereits eine aufmerksame Lektüre von Lk 7,44–46 zeigt: Auch ein ehrenwerter Hausherr konnte durch eine Fußwaschung, eine Salbung und einen Begrüßungskuss dem Gast eine Ehre erweisen und sich damit als guter Gastgeber ausweisen, ohne sich selbst in irgendeiner Form zu kompromittieren. Erst durch die spezifische Charakterisierung der Frau in Lk 7,37 und die entsprechende Beschreibung des Schauplatzes werden im Lukasevangelium die erotischen Obertöne der Handlung wachgerufen, die sich jedoch weder in den anderen beiden synoptischen Salbungserzählungen noch in Joh 12,1–8 finden. Erotische Aspekte werden in Joh 12,1–8 gerade nicht thematisiert und sollten deshalb auch nicht in den Text eingetragen werden.88

87  Wenn man diese Gegenüberstellung der beiden Jüngerinnen und Jüngern noch etwas weiter treiben will, sind die Anspielungen zwischen der Bezeichnung des Judas als Dieb und dem schlechten Hirten in Joh 10,10.13 zu erwähnen; vgl. Becker, Evangelium II, 439. Damit bliebe für Maria mit ihrer treuen, keinen Einsatz scheuenden Liebe auch die Rolle der guten Hirtin! 88  Im Vergleich mit der lukanischen Salbungserzählung fällt auf, dass Johannes das Liebkosen der lukanischen Sünderin gerade nicht übernimmt, obwohl ihm ja offensichtlich der Aspekt der Liebe durchaus ein Anliegen war. Er hat damit gerade die erotischen Obertöne ausgelassen, während er die liebevoll-zärtliche Berührung einer Salbung mit Anklängen an die Fußwaschung der Frau aus Lk 7,36–50 durch die Berücksichtigung des Abtrocknens mit den eigenen Haaren bewusst aufgegriffen hat.

4.5. Die Salbung der Füße Jesu als Zeichen der Liebe zu Jesus

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Im Johannesevangelium ist durch die Erzählstruktur in Analogie zu Mk 14,1– 9 par. Mt 26,6–13 und die abschließenden Worte Jesu in Joh 12,7 f. deutlich erkennbar, dass es sich hier – trotz der mitschwingenden Bedeutungsmomente einer Fußwaschung  – um die Salbung Jesu angesichts seines bevorstehenden Todes bzw. Abschieds handelt, die den informierten Lesenden aus dem Markusund Matthäusevangelium bereits bekannt ist. Die Salbung der namenlosen Frau erscheint dort als prophetische Handlung (diff. Lk 7,36–50) und wird mit der Verheißung verbunden, dass wo auch immer auf der Welt das Evangelium verkündet wird, ihrer gedacht wird (Mk 14,9 par. Mt 26,13). Bei Johannes wird nun sogar ihr Name genannt, wenn nun vom vierten Evangelisten erneut das Evangelium verkündigt wird, das sich in Joh 12,1–8 in Form des Wohlgeruchs ausbreitet, der im Gegensatz zum Verwesungsgeruch des Lazarus auf das Leben verweist, das Jesus vermittelt. Maria handelt  – unabhängig davon, ob ihr das selbst bewusst ist, denn diese Fragestellung spielt für die johanneische Erzählung keinerlei Rolle! – in Übereinstimmung mit dem bevorstehenden Abschied Jesu, da Jesus nur noch eine begrenzte Zeit bei ihnen sein wird. Die Salbung findet unmittelbar vor dem Einzug in Jerusalem statt. Maria bereitet Jesus vor für seinen Tod bzw. sein Begräbnis, der aus Liebe geschieht und den Seinen den Weg in das Leben und zum Vater eröffnet. Und sie hat durch ihre Liebestat Anteil an der Verbreitung des Wohlgeruchs, der von der lebensschaffenden Liebe Jesu ausgeht. Die johanneische Maria erweist sich darin als Schülerin Jesu, die sowohl zuhört und versteht (vgl. Lk 10,38–42), als auch aktiv handelt und darin ihre Schwester Martha unterstützt (diff. Lk 10,38–42). Martha und Maria erweisen durch die Aufwartung und die Salbung Jesus die Ehre, die ihm zukommt. Eine Konkurrenz ist zwischen den beiden Schwestern nicht erkennbar, vielmehr ergänzen sie sich mit ihrem Handeln und verhalten sich Jesus gegenüber, zusammen mit ihrem Bruder Lazarus, als treue Freundinnen und Freunde. Die johanneische Maria erweist sich damit aus eigener Initiative als treue Schülerin und auch als Zeugin Jesu, so wie dieser es von allen seinen Jüngerinnen und Jüngern erwartet (Joh 13,13–15.34 f.). Maria handelt also bereits im Vorfeld der Fußwaschungserzählung als treue und vorbildliche Jüngerin Jesu und erfüllt seinen Auftrag.

4.5. Die Salbung der Füße Jesu als Zeichen der Liebe zu Jesus Maria wird in Joh 11,1–12,8 als eine vorbildliche, von Jesus geliebte Jüngerin charakterisiert. Weder Jesus noch der Erzähler kritisieren sie oder ihre Geschwister in irgendeinem Punkt. Sie wird vielmehr vor den massiven Angriffen des Judas sowohl durch den Erzähler als auch durch Jesus selbst in Schutz genommen: Sie hat zu Jesus eine vertrauensvolle und von gegenseitiger Liebe geprägte freund-

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schaftliche Beziehung (vor allem 11,1–5):89 Maria ruft, zusammen mit ihrer Schwester, Jesus zur Hilfe, wenn sie in Not ist (11,3). Sogar ihre Vorwürfe kann sie Jesus gegenüber offen äußern sowie ihre Gefühle zeigen (Joh 11,32 f.), die Jesus teilt. Sie und ihre Geschwister nehmen Jesus gastfreundlich in ihr Haus auf (12,2 f.). Damit nehmen sie zugleich auch den auf, der Jesus gesandt hat (13,20) und erweisen sich so als Kinder Gottes (1,12; 14,23). Maria steht nicht in Konkurrenz zu ihrer Schwester, sondern Martha, Maria und Lazarus bilden eine Liebesgemeinschaft mit Jesus, an der sich exemplarisch ablesen lässt, wie der johanneische Jesus sich die gegenseitige Liebe zwischen ihm und den Seinen sowie unter den Seinen vorstellt. Die Liebe, die Jesus unter Einsatz seines eigenen Lebens schenkt, eröffnet neues Leben (Joh 11 f.). Die Liebe, die in Marias Salbung der Füße Jesu eine sichtbare Gestalt gewinnt, verbreitet den Wohlgeruch, der von Jesus – und zugleich von ihr – ausgeht und auf die lebensschaffende Vollmacht Jesu verweist (12,3). Maria handelt so, wie Jesus es später im Anschluss an die Fußwaschung von den Seinen fordern wird (vor allem 13,12–20.34 f.; 15,1–17). In der Antike war eine (Fuß-)Waschung oft mit einer Salbung verbunden. Zum Teil wurden auch dem Waschwasser selbst schon ätherische Öle beigemischt. Da die Salbung der Füße Jesu jedoch nicht vor, sondern während der Mahlzeit stattfindet, geht es hier nicht darum, die Füße Jesu im Rahmen einer gastfreundlichen Begrüßung zu reinigen. Bezogen auf den kulturellen Hintergrund ist die Salbung der Füße vergleichbar mit einer Fußwaschung und im vorliegenden Kontext vor allem ein Ehr- und Liebeserweis. Dies entspricht der Situation, die das Johannesevangelium in Joh 12,1–8, aber auch von Joh 11,1–12,11 insgesamt und in Analogie dazu in Joh 13,1–20 selbst zeichnet. Marias Handlung wird hier nicht als Zeichen besonderer Demut oder als unangemessenes Verhalten einer Frau qualifiziert – sei es im Sinne eines erniedrigenden Sklavendienstes90 oder einer unangebrachten erotischen Handlung  –, da die Salbung im geschützten familiär-freundschaftlichen Rahmen einer von gegenseitiger Liebe geprägten Gemeinschaft stattfindet. Mit der Salbung durch das teure Öl erweist Maria Jesus ihre Liebe, so wie er später in der Fußwaschung den Seinen seine Liebe erweisen wird. Auch die – angemessene – Verehrung des Boten und Sohnes Gottes, der sich in der Auferweckung des Lazarus als die Auferstehung in Person und als treuer Freund der Geschwister erwiesen hat, sind im vorliegenden Kontext mögliche Assoziationen ihrer Handlung (vgl. Joh 14,21–24.28; 16,27). Die Salbung der Füße Jesu durch Maria, die sprachlich mit deutlichen Anklängen an eine Fußwaschung erzählt wird, ist eine Handlung inniger körperlicher Nähe. Nicht nur mit ihren Händen berührt Maria Jesus, auch mit ihren Haaren und mit 89  Dies entspricht dem offenen und solidarischen Umgang von Freunden; vgl. Konstan, Friendship, v. a. 5 f.40–44.56–59. 90  So z. B. Thyen, Johannesevangelium, 550 f.; Keener, John II, 863.

4.5. Die Salbung der Füße Jesu als Zeichen der Liebe zu Jesus

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ihrem Kopf kommt sie ihm nahe. Sie teilt mit ihm das Öl und dessen Duft, seine Füße sowie ihre Hände und ihr Kopf duften nach diesem Öl. Die Erzählung lässt keinen Zweifel daran, dass die Handlung Marias der Situation und der Beziehung zu Jesus völlig angemessen ist, denn sie hat ihr kostbares Öl aufbewahrt für den Tag der Vorbereitung Jesu auf sein Begräbnis und verwendet es für die Stunde seiner Verherrlichung und seines Abschiedes, die unmittelbar bevorsteht. Alle im Haus können dies sehen und den Duft des Öls riechen. Der Einwand des Judas zeigt, wie wertvoll das Öl war und dass Maria für die Salbung Jesu keine Kosten scheut. Während Judas als untreuer Jünger dargestellt wird, der Jesus und die Nachfolgegemeinschaft verlassen wird, wird Maria durch die Charakterisierung in Analogie zu Judas als treue und zuverlässige Schülerin gezeichnet. Jesus selbst deutet ihr Verhalten so, dass sie die Zeichen der Zeit erkannt hat und ihn für den bevorstehenden Tod salbt, der jedoch gerade keinen Verwesungs- oder Todesgeruch (Joh 11,39) verbreitet, sondern einen Duft des neuen Lebens. Die Jesus erwiesene Liebe und Verehrung ist in dieser Stunde angesichts der bevorstehenden Erhöhung Jesu wichtiger als alles andere, auch wichtiger als die Nächstenliebe im Sinne der Fürsorge für Arme (12,7 f.). Liest man Joh 12,1–8 intertextuell mit den drei synoptischen Salbungstexten (Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13; Lk 7,36–50), bestärkt dies einerseits die Interpretation der Salbung als Ausdruck von Liebe und andererseits die Vorstellung einer prophetischen Handlung angesichts des bevorstehenden Todes Jesu. Eine intertextuelle Lektüre mit Lk 10,38–42 macht zudem darauf aufmerksam, dass die johanneische Maria sich als vorbildliche Schülerin Jesu erweist, die in ihrem Handeln seine  – späteren  – Worte an die Seinen erfüllt (Joh 13,13–15.34 f.). Im Unterschied zu Lk 10,38–42 erscheint sie nicht in Konkurrenz zu ihrer Schwester, sondern während Martha durch ihre Aufwartung Jesu eine Ehre erweist, unterstützt und vertieft Maria die Handlung Marthas durch ihre Salbung. Eine intertextuelle Lektüre mit Lk 16,9–31 wirft die Frage auf, wie es möglich ist, die Botschaft Jesu bzw. Gottes so zu bezeugen, dass die Menschen sie glauben. Auch die Salbungserzählungen in Mk 14,3–9 und Mt 26,6–13 sahen die Handlung der namenlosen Frau bereits im Kontext der Verkündigung des Evangeliums. Diese Thematik, die in Joh 12,1–8 vor allem durch die Ausbreitung des Duftes angedeutet wird, der sowohl von Jesus als auch von Maria ausgeht, wird in Joh 12,9–11 aufgenommen und in Joh 13–17 ausführlich behandelt und vertieft. Liest man Joh 12,1–11 intertextuell mit den relevanten synoptischen Texten, entsteht ein differenziertes und vielfältiges Bild und ein weites Spektrum an Deutungsmöglichkeiten, das auf die Themen verweist, die in der Fußwaschungserzählung erneut behandelt werden. Während später bei der Fußwaschung Jesu die gegenseitige Liebe als diejenige Handlung bestimmt wird (Joh 13,34 f.), mit der sich die Seinen als Jesu Schülerinnen und Schüler zu erkennen geben, wird in Joh 12,1–8 erkennbar, dass in der Nachfolge Jesu sowohl die Liebe zu Jesus,

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Kapitel 4: Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11)

die eingebettet ist in eine freundschaftliche Gemeinschaft, als auch die Liebe zu den Armen von Bedeutung sind. Nach der Salbung durch Maria wird Jesus als der ‚Gesalbte‘, als der verheißene und erwartete König in Jerusalem einziehen (Joh 12,12–19). Wenig später wird Jesus während einer Mahlzeit im vertrauten Jüngerkreis als Ausdruck seiner Liebe (13,1) selbst deren Füße waschen und abtrocknen, um danach von seinen Jüngerinnen und Jüngern angesichts seines bevorstehenden Abschieds zu fordern, was Maria bereits erfüllt hat (13,4 f.14 f.33 f.).

Kapitel 5

Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls 5.1. Zur Stellung von Joh 13,1–20 im Kontext des Johannesevangeliums Die Kapitel Joh 13,1–17,26 bilden insgesamt eine in sich geschlossene Szene im Rahmen des gesamten Johannesevangeliums, wobei der Fußwaschung als einer vorangehenden bedeutsamen Handlung Jesu besonderes Gewicht für die Interpretation dieser Kapitel zukommt.1 Wie in Joh 12,1–8 wird auch in Joh 13–17 ein Mahl erzählt, an das sich ausführliche Gespräche und Unterweisungen an die Jünger und ein Fürbittengebet anschließen.2 Dieser Abschnitt wird in Joh 13,1–3 mit einer sprachlich anspruchsvollen Satzkonstruktion kunstvoll eröffnet und mit den thematisch daran anknüpfenden Versen Joh 17,24–26 feierlich abgeschlossen. Die Kapitel Joh 15–17 galten literarkritisch arbeitenden Exegetinnen und Exegeten seit Julius Wellhausen wegen der Entsprechung zwischen 14,313 mit dem Appell Jesu zum  Thyen betrachtet die Kapitel 13 und 17 als „Inclusio um den Block des abschiedlichen Redens Jesu in den Kapiteln 14–16“; Thyen, Johannesevangelium, 681; vgl. auch Culpepper, Hypodeigma, 133; Hoegen-Rohls, Johannes, 97; Moloney, Gospel, 370–372; Stibbe, John, 175 f. Insbesondere das letzte Gebet Jesu, das zu den „dichtesten und reifsten Texten der joh. Theologie“ gehört (so Scholtissek, Gebet, 119), ist in seinem Bezug zur Fußwaschungserzählung zu berücksichtigen. Die zunehmende Konzentration auf Gespräche ist narratologisch kein Argument gegen eine entsprechende Gliederung; vgl. Lahn/Meister, Einführung 220. Zu einem Überblick über die literarkritisch traditionell festgestellten Spannungen in der Abschiedsrede vgl. Brown, Gospel II, 581–604. Eine explizit integrativ-literarische Perspektive bieten Thyen, Johannesevangelium, 582 f.; Segovia, Farewell, 1–58, die sich beide von der literarkritisch-redaktionsgeschichtlichen Methode abgewandt haben. Erst das Gebet Jesu beendet die Szene und leitet zur Passionserzählung über. 2  Auch im Lukasevangelium schließen sich an das letzte Mahl Tischgespräche an; vgl. Lk 22,21–38. 3 Vgl. zur Problematik und einem knappen Überblick über die Forschungsgeschichte mit unterschiedlichen Lösungsmodellen Schnelle, Evangelium, 261–263, der mit Blick auf den „Verweischarakter“ des Befehls Jesu präzise ein symbolisches Verständnis von Joh 14,31 begründet; a. a. O. 262. Ein vergleichbares Phänomen findet sich in Mk 14,42 par. Mt 26,46; vgl. Barrett, Evangelium, 454. Hoegen-Rohls sieht hier eine inhaltliche „Zäsur“ zwischen der vor- und nachösterlichen Zeit; vgl. Hoegen-Rohls, Johannes, 120–122. Thematisch liegt der Fokus ab Joh 15 auf der Situation der Glaubensgemeinschaft nach Jesu Abschied, aller1

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Gehen und dem in 18,1 erzählten Aufbruch in der Regel als redaktionelle Hinzufügung. Daraus ergab sich die grundlegende Unterscheidung von zwei Abschiedsreden für Joh 14–16 (14,1–31 und 15,1,–16,33), die sowohl mit Blick auf die Gliederung von Joh 13–16 als auch bezüglich der Nomenklatur bis heute die Forschung bestimmt.4 Kontrovers diskutiert wird auch, ob 13,31–38 den Schluss von Joh 13 bildet oder bereits den Anfang der ersten Abschiedsrede, zum Teil werden die fünf Kapitel insgesamt als Abschiedsreden bezeichnet (13,1–17,26), manchmal auch die Redeteile ab 13,31–17,26 oder auch nur 14,1–16,33.5 Die literarkritischen Modelle lassen die grundlegende Frage unbeantwortet, warum ein Redaktor seine Bearbeitung nach 14,31 und nicht – inhaltlich passgenauer – vor diesem Vers eingefügt haben sollte. Als Problemanzeige für die Interpretation ist festzuhalten, dass diese Gliederungsmodelle dazu führen, dass bestimmte Abschnitte auch thematisch als eigenständige Zusammenhänge behandelt werden und die enge inhaltliche Zusammengehörigkeit von Joh 13–17 aus dem Blick gerät.6 Joh 13–17 teilt viele Charakteristika mit der in der Antike verbreiteten Testamentenliteratur, für die folgende Merkmale nach Fernando F. Segovia besonders typisch sind: der Empfang der Offenbarung des nahen Todes und dessen Bekanntgabe, die Formulierung letzter Wünsche, die Bekanntgabe eines Nachfolgers, eine Rede, in welcher der Protagonist Rechenschaft über sein Handeln ablegt, Trost spendet und Verheißungen mitteilt, den Sinn der Ereignisse darlegt, seine Feinde verflucht und für die ihm Anvertrauten betet und sie segnet.7 Aus der jüdischen Testamentenliteratur nennt Francis J. Moloney sechs Merkmale, die sich auch bei Johannes finden: „1. Prediction of death and departure“, „2. Predictions of future attacks upon the dying leader’s disciples“, „3. An exhortation to ideal behavior“, „4. A final commission“, „5. An affirmation and a renewal of the neverfailing covenant promises of God“, „6. A closing doxology“.8 In einen weiteren gattungsgeschichtlichen Kontext stellt George L. Parsenios die johanneischen Abschiedsreden, wenn er bei seiner Analyse nicht nur die Testamentenliteratur berücksichtigt, sondern auch das antike Drama, die konsolatorische Literatur sowie das literarische Symposion: „Far from being merely an example of the testament, the Farewell Discourses reflect generic polyphony.“9 Vor allem in der Betonung der bleibenden Gegenwart Jesu sieht dings ändern sich die textinternen Adressaten nicht. In einen weiteren gattungsgeschichtlichen Kontext stellt Parsenios die Abschiedsreden und bietet eine eigenständige Erklärung von Joh 14,31 im Kontext der antiken Tragödie als „delayed exit“, so dass Joh 14,31 im Rahmen des vorliegenden Textes den anschließenden Monolog Jesu als besonders wichtig hervorhebt; vgl. Parsenios, Departure, 152 f. 4  Vgl. aus der umfassenden Forschungsliteratur zu den johanneischen Abschiedsreden grundlegend Dettwiler, Gegenwart; Dietzfelbinger, Abschied; Frey, Eschatologie III, 102– 239; Hoegen-Rohls, Johannes; Lang, Abschiedsreden; Onuki, Abschiedsreden; Segovia, Farewell. 5 Vgl. den Überblick bei Hoegen-Rohls, Johannes, 82–86. 6  Dies lässt sich zum Beispiel in der Forschungsgeschichte zur Fußwaschung mit Blick auf Joh 13,6–11 und 13,12–20 (oder 13,12–17) beobachten, die auch unter der Voraussetzung der literarischen Einheitlichkeit des Johannesevangeliums häufig noch als zwei Interpretationen der Fußwaschung mit verschiedenen Schwerpunkten – soteriologisch und ethisch – betrachtet werden; vgl. dazu die Forschungsgeschichte in Kapitel 1. 7  Vgl. Segovia, Farewell, 2–20; v. a. 2–6; zur Gattung der Testamentenliteratur vgl. auch Dettwiler, Gegenwart, 53–55; Dietzfelbinger, Abschied, 16–18; Kurz, Luke 22:13–38, 251–268; Winter, Vermächtnis, 45–211. 8  Moloney, Gospel, 377 f. 9 Vgl. Parsenios, Departure, 152.

5.1. Zur Stellung von Joh 13,1–20 im Kontext des Johannesevangeliums

231

Parsenios einen wesentlichen Unterschied zu den literarischen Testamenten, der sich jedoch im Vergleich mit der antiken Konsolationsliteratur und dem Symposion erschließe.10

Narratologisch kann festgehalten werden, dass die Kapitel Joh 13–17 eine einzige Erzählszene im Kontext eines gemeinsamen Mahls bilden, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem festgelegten Ort und mit gleichbleibenden anwesenden Personen ereignet; nur Judas verlässt die Szene (13,30). Der Fokus von Joh 13–17 liegt auf dem letzten Mahl Jesu mit der grundlegenden Zeichenhandlung der Fußwaschung und dem sich anschließenden ausführlichen Gespräch Jesu mit den Seinen bzw. der Unterweisung der Seinen.11 Der Weggang des Judas genügt nicht, um Joh 13,1–30 von den sich anschließenden Gesprächen oder Reden abzutrennen.12 So wie sich in der Antike das Symposion an die Hauptmahlzeit anschloss, so schließen sich in der Erzählung des Johannesevangeliums die Tischgespräche an die Mahlhandlung an und bilden mit ihrem starken Bezug auf die in 13,1–3 beschriebene Situation und die in 13,4–5 beschriebene Fußwaschung die Vorbereitung Jesu für die Seinen angesichts seines bevorstehenden Abschieds. Der Fußwaschung kommt eine Schlüsselrolle für das Verständnis der Reden zu, weshalb eine Interpretation der Fußwaschung nur unter Berücksichtigung der sich anschließenden Reden und des Gebets Jesu sachgerecht möglich ist.13 Narratologisch sind die direkten Reden ebenfalls Ereignisse, welche die Geschichte voranbringen und zur Bedeutungskonstruktion mit Blick auf die Fußwaschung sogar einen wesentlichen Beitrag leisten (vgl. bereits 13,6–20).14 Auch mit dem Gebet in Joh 17 verfolgt der johanneische Jesus nicht das Ziel, sich selbst angesichts seines bevorstehenden Todes des Beistands seines Vaters zu vergewissern, sondern er will die Jünger durch seine Fürbitte trösten und stärken (vor allem 17,13. vgl. auch 11,41 f.)15. Entsprechend endet das Gebet in der eschatologischen Schlussbitte, welche sowohl auf die gemeinsame Zeit der  Vgl. Parsenios, Departure, 152–154. Thema des Abschieds Jesu zieht sich als Hinweis auf die Stunde Jesu durch das Johannesevangelium und wird nun in 13,1–3 zur Situationsbestimmung für die Lesenden. In 13,31 formuliert Jesus es explizit als Thema der folgenden Ausführungen; vgl. dazu Frey, Eschatologie III, 124; vgl. bereits 12,23–28 sowie die Deutung des Todes Jesu in 12,31–33. 12  Zur narratologischen Definition von „Handlung“ vgl. Lahn/Meister, Einführung, 199 f.; vgl. Culpepper, Hypodeigma, 133; Moloney, Gospel, 370–372. 13 Eine Beschränkung auf einzelne Abschnitte der sogenannten Abschiedsrede(n) Jesu in der vorliegenden Studie wird nur vorgenommen, um den Umfang der Arbeit zu begrenzen. Zur detaillierten Untersuchung der Struktur von Joh 13–17 bzw. Joh 15–16 unter Berücksichtigung narratologischer Textmerkmale v. a. Tolmie, Farewell, 28–32 und mit einer Verbindung von Redaktionskritik, analytischer Sprachphilosophie und Rezeptionsästhetik Haldimann, Rekonstruktion, 94–135. 14 Zu Begriffsbestimmungen und Analysemodellen zur Handlung vgl. Lahn/Meister, Einführung, 210–231. Nicht nur das Tun der Erzählfiguren führt zu einer Zustandsveränderung, sondern auch ihr Denken und Reden; Lahn/Meister, Einführung, 220. 15 Sogar die einzige erzählte direkte Rede Gottes mit Jesus dient explizit (!) der Information der Anwesenden; vgl. Joh 12,28–30. 10

11 Das

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Seinen mit Jesus zurückblickt als auch auf die nachösterliche Offenbarung der Liebe Jesu und damit der Liebe Gottes in der Einheit der Glaubenden vorausschaut (17,20–26).16 Als zentrales Thema wird durch die Rahmenverse die bleibende Liebe Jesu zu den Seinen genannt (13,1; 17,24–26), die sowohl die Handlungen als auch die Reden der Erzählfiguren sowie das abschließende Gebet bestimmt und sich wie ein roter Faden durch die Kapitel zieht.17 Nach dem Weggang des Judas (13,30) finden sich fast nur noch die direkten Reden als Handeln der Figuren18, in 15,1– 16,15 hält Jesus sogar einen langen Monolog, der weder von Kommentaren des Erzählers noch durch Gesprächsbeiträge der Jünger unterbrochen wird. Diesem kommt textpragmatisch eine besondere Bedeutung zu, da er sich an den Aufbruchsbefehl Jesu (14,31) anschließt und doch zugleich den tatsächlichen Aufbruch verzögert.19 Von daher kann der Abschnitt 13,31–16,33 als eine ausführliche Abschiedsrede Jesu an seine treuen Jünger betrachtet werden, allerdings ist diese Rede Jesu eingebettet in die Gesprächssituation im Kontext des Mahls und weder von der Fußwaschungserzählung und der Identifizierung des Judas noch vom abschließenden Gebet zu trennen (vor allem 13,2.4.12.23.25 f.28; 16,17; vgl. 18,1). Nicht nur Joh 13,31–38, sondern der gesamte Abschnitt Joh 13,7–17,26 greift Themen und Gesprächskonstellationen auf, die mit der Fußwaschung eingebracht werden und die Jünger auf die Zeit nach dem Abschied Jesu vorbereiten sollen. Bei den Tischgesprächen geht um die Frage, wie Nachfolge sich nach Jesu Weggang gestalten kann20, wobei dieses Thema nicht erst in 13,31–38 auf16 Vgl. zum eschatologischen Ausblick und der Verbindung der verschiedenen Zeitebenen Frey, Eschatologie III, 224–231; Hoegen-Rohls, Johannes, 230–255. Eine explizit nachösterliche Situation der Rede Jesu kann jedoch narratologisch nicht belegt werden. Jesus spricht nicht als Auferstandener, sondern im Rahmen seiner irdischen Wirksamkeit mit dem Wissen um die bevorstehenden Ereignisse. Mit diesem Wissen um die – von der Erzählsituation aus betrachteten Zukunft Jesu – teilt Jesus als Erzählfigur jedoch das umfassende Wissen des Erzählers der ersten Erzählebene, der aus der rückblickenden Perspektive die Geschichte darstellt (vgl. 13,1–3; auch 2,22; 12,16). 17 Eine sorgfältige Analyse dieser abschließenden Verse bzgl. der Semantik der Liebe findet sich Popkes, Theologie, 172–191. 18  Die einzelnen Redebeiträge werden zum großen Teil vom Erzähler eingeleitet. Fragen der Jünger sind Ausgangspunkt für die ausführlichen Darstellungen Jesu. In 16,17 findet sich ein Dialog der Jünger. Auch dass Jesus ihre Fragen erkennt (16,19), ist ein Handeln, das über die Reden hinausgeht und zeigt, dass die Erzählfiguren in Joh 13,31–16,33 mit ihren Reden, aber auch über ihr Reden hinaus miteinander interagieren. 19 Parsenios weist auf die textpragmatische Funktion dieser Darstellungsweise hin: „Jesus’ ‚Big Speech‘ evokes the tragic practice of reflecting on an exit to death before carrying through with it. Like other such speeches in exits to death, the setting of the speech is somewhat unclear. […] In the tragic last speech, the speaking figure is abstracted from his or her immediate surroundings, in order to place absolute focus on the speaker and the speech“; Parsenios, Departure, 153. 20 Vgl. Frey, Eschatologie III, 131–134.

5.1. Zur Stellung von Joh 13,1–20 im Kontext des Johannesevangeliums

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gegriffen wird, sondern bereits in 13,4–20 im Zentrum steht und mit Blick auf die Sendung/Mission der Seinen ausgelegt wird (vor allem 13,8.13–17.20). Joh 13,31–38 ist mit dem Liebesgebot als wichtige Interpretation der Fußwaschung Jesu zu betrachten und nicht von Joh 13,1–20 zu trennen, konkretisiert der Abschnitt doch mit erzähltechnischen und inhaltlichen Bezugnahmen auf Joh 13,4– 20 nicht nur, wie die Jünger nach Jesu Abschied mit ihm verbunden bleiben können, sondern auch, wie die Liebe Gottes in der Welt präsent und erkennbar bleibt (13,20; 13,34 f.;17,26).21 Die Verse 13,18–20 bilden die Ausgangssituation für die Frage nach der Identität des Judas in 13,21–30, wobei hier bereits Joh 13,2 und 13,11 zu berücksichtigen sind. Explizite Bezugnahmen auf Joh 13 finden sich zudem in Joh 15,1–16,4a, so dass auch dieser Abschnitt bei der folgenden Interpretation genauer zu analysieren ist.22 Im Gebet von Joh 17 bezieht sich der johanneische Jesus auf den Inhalt seiner Sendung, die Liebe, welche durch die Fußwaschung zeichenhaft und zugleich erfahrbar symbolisiert wurde (13,1.4 f.). Abschließend hält Jesus in Joh 17,26 fest, „daß die Glaubenden zur Wohnstätte der ewigen Liebe zwischen Gott und Jesus werden sollen (17,26bα ἵνα ἡ ἀγάπη ἣν ἠγάπησάς με ἐν αὐτοῖς ᾖ …). Dieses Motiv einer inhabitatio der göttlichen Liebe korrespondiert unterschiedlichen Themenkomplexen des vorhergehenden Erzählverlaufs des vierten Evangeliums“.23 Durch die Zeitangabe in 13,124 wird der Abschnitt Joh 13–17 narratologisch in den Zeitraum der Ereignisse eingeordnet, die seit 11,55 beschrieben werden und zu denen vor allem die Salbung Jesu, der Einzug in Jerusalem, die Himmelsstimme (12,28) und die Informationen aus 12,23–50 gehören.25 Das Geschehen aus Joh 11,55–12,50 ist zudem durch zahlreiche Analepsen mit der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus und dem Todesbeschluss des Hohen Rates in Joh 11 verbunden. Die Fußwaschung in Joh 13 nimmt eine zentrale Stellung in der Erzählung des Johannesevangeliums ein: In Joh 13,1 wird das folgende Geschehen analeptisch bezogen auf die Ereignisse seit Beginn des Johannesevangeliums, insbesondere aber auf das Geschehen seit Joh 11,1. Außerdem weist

21  Von den zahlreichen Bezügen kann hier nur auf die Thematik der Liebe in 13,1 und 13,34 f., auf die strukturell analoge Aufforderung zur Nachahmung eines Verhaltens Jesu im Miteinander der Jünger (13,14 f.34 f.) und auf die besondere Rolle des Petrus (13,6–10.36–38) hingewiesen werden; zur Gliederung von Joh 13,1–38 als einen Unterabschnitt vgl. besonders Culpepper, Hypodeigma; Mathew, Footwashing, 130; Moloney, Gospel, 371 f. 22  Hier ist v. a. die Frage der Reinheit (13,10 f.; 15,3) sowie das markierte Zitat von Joh 13,16a in Joh 15,20 zu nennen. Vgl. dazu auch Thyen, Johannesevangelium, 603, im Anschluss an Moloney, Reading, 237–256. 23  Popkes, Theologie, 188; vgl. das Schaubild zum Vorkommen der Liebesthematik a. a. O. 174. 24 Vgl. 11,55; 12,1; zur Bedeutung des Passafests im Johannesevangelium vgl. grundlegend Felsch, Feste, 246–270. 25  Zur komplexen Struktur von Analepsen und Prolepsen im Johannesevangelium vgl. Culpepper, Anatomy, 54–70.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

die Zeitangabe proleptisch voraus auf die angekündigte Erhöhung bzw. Stunde Jesu, zu der sowohl die dramatischen Ereignisse in Joh 18 f., die zur Kreuzigung des Königs der Juden führen (vgl. 18,28; 18,39; 19,14), als auch das in Joh 20 f. dargestellte Geschehen der Auferstehung gehört. Kreuzigung, Auferstehung und Parusie sind im Blick, wenn auf den Weggang zum Vater und das erneute Kommen verwiesen wird. Sowohl durch die Fußwaschung selbst als auch durch die sich anschließenden Erläuterungen und das Gebet bereitet Jesus seine Jünger darauf vor, in der Zeit nach seinem Abschied mit ihm und Gott in der Liebe verbunden zu bleiben und durch diese Liebe zugleich ihn und Gott in der Welt bleibend zu repräsentieren (17,20–26).26 Die von Jesus angekündigte veränderte Form der Gemeinschaft durch die wechselseitige Immanenz von Gott, Jesus und den Seinen in Jesu Liebe, die alle Zeiten umfasst und gerade nicht mit dem Kreuzestod endet (13,1; 17,26), betrifft nicht nur diejenigen, die Jesus während seines irdischen Lebens nachfolgten, sondern auch alle, die nach Ostern durch deren Zeugnis in Wort und Tat zur Nachfolgegemeinschaft hinzukommen. Von daher ist die Lehre Jesu beim letzten Mahl in besonderer Weise transparent für die Situation der textexternen Lesenden, auch wenn textintern Jesus zunächst einmal zu den während der Mahlzeit anwesenden, noch ahnungslosen und verständnislosen Jüngern spricht. Die textexternen Lesenden haben durch ihre nachösterliche Perspektive und die an sie gerichteten Erzählerkommentare einen Wissensvorsprung gegenüber den Erzählfiguren.

5.2. Zur Gliederung von Joh 13–17 Folgende Gliederung von Joh 13–17 wird der weiteren Analyse zugrundgelegt, wobei die Gliederung vor allem als ein Arbeitsinstrument zu betrachten ist.27 Gerade auch in Joh 13–17 wird deutlich, dass die johanneischen Reden bzw. 26 So

zutreffend auch Caragounis, Abide, 258.  Eine narratologische Analyse mit detaillierter Gliederung unternimmt Tolmie, Farewell, 28–32; er unterscheidet als Unterabschnitte zwar 13,1–30; 13,31–14,31; 15,1–16,33 und 17,1–26, betont aber die enge Zusammengehörigkeit der Kapitel 13–17 unter narratologischen Gesichtspunkten. Sprachphilosophische und rezeptionsästhetische Gliederungssignale berücksichtigt Haldimann in seiner sorgfältigen Analyse zur Struktur von Joh 15 f.; vgl. Haldimann, Rekonstruktion, 94–135; die Argumente für eine Abgrenzung und Gliederung des Redenteils im Umfang von Joh 13,31–16,33 reflektiert auch Dettwiler, Gegenwart, 53–59. Die enge Zusammengehörigkeit von Mahl und Reden betont auch Caragounis, der aufgrund eines veränderten thematischen Zugriffs zu einer völlig eigenständigen Gliederung von Joh 13–17 kommt, vgl. Caragounis, Abide, 258, und damit zugleich belegt, wie schwierig – bzw. von eigenen Interpretationsansätzen abhängig – eine Gliederung von Joh 13–17 ist. Von daher kann nur immer wieder betont werden, dass – gerade für eine narratologische Analyse – eine Gliederung nicht durch die Abtrennung einzelner Perikopen bestimmte Interpretationsansätze festschreiben darf. 27

5.3. Übersetzung und Textüberlieferung von Joh 13,1–38

235

Gespräche Themenbereiche umkreisen und dabei immer wieder neu aus unterschiedlichen Blickrichtungen beleuchten. Die Fußwaschung bietet als zeichenhafte Handlung Jesu den Ausgangs- und Bezugspunkt der weiteren Gespräche, Reden sowie des abschließenden Gebets. In Joh 13,21–17,26 wird inhaltlich stets neu auf Joh 13,1–20 Bezug genommen, zum Teil sogar in Form von expliziten Zitaten oder Hinweisen. Joh 13,1–38: Die Liebe Jesu zu den Seinen als Gabe und Aufgabe 13,1–20: Die Fußwaschung als Zeichen der Liebe und Sendung 13,21–30: Die Identifizierung des Judas 13,31–38: Das Liebesgebot als Auftrag zur Mission Joh 14,1–31: Jesu Weggang zum Vater und sein Bleiben bei den Seinen 14,1–11: Jesus als Weg zu Gott 14,12–24: Die Seinen als Ort der bleibenden Gegenwart Jesu 14,25–31: Verheißung des Parakleten, Friedenszuspruch und Situationsansage mit Befehl zum Aufstehen und Weggehen Joh 15,1–16,4a: Die Nachfolgegemeinschaft als Ort der Gottesbegegnung in der Welt 15,1–11: Die Nachfolgegemeinschaft als Reben am Weinstock Jesus 15,12–17: Die Nachfolgegemeinschaft als Liebesgemeinschaft 15,18–16,4a: Die Nachfolgegemeinschaft als Zeugen und Zielscheibe für den Hass der Welt Joh 16,4b–33: Freude trotz Trauer angesichts Jesu Abschied 16,4b–15: Jesu Abschied und das Kommen des Parakleten 16,16–33: Die Freude der Jünger im Angesicht der Trauer Joh 17,1–26: Das Gebet Jesu 17,1–8: Bitte um Verherrlichung Jesu – die Vollendung seines Auftrags 17,9–19: Bitte für die Seinen in der Welt – die bleibende Präsenz Jesu 17,20–26: Bitte um Einheit der Nachfolgegemeinschaft als Erweis der Herrlichkeit und Liebe Gottes in der Welt

5.3. Übersetzung und Textüberlieferung von Joh 13,1–38 Die folgende Übersetzung des Textes wird nach Erzählebenen differenziert dargestellt. Die Figurenreden sind zu diesem Zweck jeweils kursiv gesetzt. Da der Abschnitt auf der Handlungsebene weder Anachronien noch Ortswechsel enthält, ist eine mit Blick auf die Zeitstruktur differenzierte Darstellung nicht nötig. Joh 13,1 Vor dem Passafest wusste Jesus, dass seine Stunde gekommen war, hinüberzugehen aus dieser Welt zu dem Vater; und wie er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, so liebte er sie bis zur Vollendung.28 2 Und während eines Mahls – der Teufel hatte 28  Das Partizip Aorist kann sowohl vorzeitig als auch gleichzeitig verwendet werden; vgl. BDR § 339. Die vorzeitige Übersetzung von ἀγαπήσας gibt m. E. die sowohl temporal als auch

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

schon Judas Iskariot, Simons Sohn, ins Herz gegeben, ihn zu übergeben,29 3 und er wusste, dass ihm der Vater alles in die Hände gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott hingehe30 – 4 steht er von dem Mahl auf und legt die Obergewänder ab und umgürtete sich, indem er ein Leinentuch nahm. 5 Dann gießt er Wasser in das Waschbecken und fing an, die Füße der Schüler zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war. 6 Er kommt nun zu Simon Petrus. Er sagt zu ihm: Herr, du wäschst die Füße von mir? 7 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich tue, weißt du jetzt nicht, erkennen wirst du es aber danach31. 8 Petrus spricht zu ihm: Du sollst meine Füße nicht waschen in Ewigkeit! Jesus antwortete ihm: Wenn ich dich nicht wasche, so hast du keinen Anteil an mir. 9 Simon Petrus spricht zu ihm: Herr, nicht meine Füße allein, sondern auch die Hände und den Kopf. 10 Jesus spricht zu ihm: Der Gebadete hat es nicht nötig, sich zu waschen, sondern er ist ganz rein; und ihr seid rein, aber nicht alle. 11 Denn er kannte den, der ihn übergab; darum sagte er: Nicht alle seid ihr rein. 12 Als er nun ihre Füße gewaschen und seine Obergewänder genommen und sich wieder zu Tisch gelegt hatte, sprach er zu ihnen: Erkennt ihr, was ich euch getan habe? 13 Ihr nennt mich: der Lehrer, und: der Herr, und ihr sagt es mit Recht, denn ich bin es. 14 Wenn nun ich eure Füße gewaschen habe, der Herr und der Lehrer, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen. 15 Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit  – wie ich getan habe euch –, auch ihr tut! 16 Amen, amen, ich sage euch: Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr, noch ein Gesandter größer, als der ihn gesandt hat. 17 Wenn ihr dies wisst, glücklich seid ihr, wenn ihr es tut. 18 Nicht von euch allen rede ich, ich weiß, welche ich erwählte; aber damit die Schrift erfüllt würde: Der mein Brot isst [wörtlich: beißt]32, hat gegen mich seine Ferse aufgehoben. 19 Von jetzt an sage ich es euch, bevor es geschieht, damit ihr glaubt, wenn es geschieht, dass ich (es) bin.33 qualitativ umfassende Liebe Jesu zu den Seinen am besten wieder (vgl. Joh 1,1–18; 3,16). Entsprechend wird versucht bei der Übersetzung von τέλος durch den deutschen Begriff ‚Vollendung‘ sowohl den temporalen als auch den qualitativen Aspekt des griechischen Lexems anklingen zu lassen; vgl. Liddell/Scott, ad verbum; Schnackenburg, Johannesevangelium III, 15 f. 29  Das für den Verrat des Judas verwendete Verbum παραδίδωμι bezeichnet ein Übergeben, Ausliefern, Übermitteln oder Anvertrauen; vgl. BDAG, ad verbum; es findet sich bezogen auf Judas in Joh 6,64.71; 13,2.11.21; 18,2.5; 21,20; vgl. auch 19,11. 30  Zu den semantischen und syntaktischen Problemen in 13,1–3 vgl. ausführlich Schnackenburg, Johannesevangelium III, 15–19. 31 Der spätere Zeitpunkt wird hier mit μετὰ ταῦτα angegeben, einer Verbindung der Präposition μετά mit Demonstrativpronomen, die im Johannesevangelium häufig verwendet wird, um Abläufe zu bezeichnen, die unmittelbar aufeinanderfolgen; vgl. auch Joh 2,12; 3,22; 5,1.14; 6,1; 7,1; 11,7.11; 19,28; 21,1. Die für das Johannesevangelium zentralen Verweise auf ein nachösterliches Verstehen der Jünger in 2,22 und 12,16 werden im Unterschied dazu mit temporalen Nebensätzen explizit auf die Zeit nach der Auferweckung Jesu bezogen. 32 Das griechische Lexem τρώγω findet sich auch in Joh 6,54 und wird dort parallel zu ἐσθίω in Joh 6,53 verwendet, vgl. zu möglichen intra- und intertextuellen Bezügen Thyen, Johannesevangelium, 594 f. 33 Zur absoluten Verwendung von ἐγώ εἰμι unter Berücksichtigung von Ex 3,14; Dtn 32,39 und Jes 43,10 f.; 45,3 vgl. Thompson, John, 157–160.

5.3. Übersetzung und Textüberlieferung von Joh 13,1–38

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20 Amen, amen, ich sage euch: Wer aufnimmt irgendjemand34, den ich senden werde, nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat. 21 Als Jesus dies gesagt hatte, wurde er betrübt im Geist und bezeugte und sprach: Amen, amen, ich sage euch: Einer von euch wird mich übergeben. 22 Da blickten die Jünger einander an, ratlos, von wem er rede. 23 Da lag einer von seinen Jüngern im Schoß Jesu, einer, den Jesus liebte. 24 Diesem nun gibt Simon Petrus einen Wink und spricht zu ihm: Sage, wer es ist, von dem er spricht. 25 Jener lehnt sich an die Brust Jesu und spricht zu ihm: Herr, wer ist es? 26 Jesus antwortete: Der ist es, dem ich den Brotbrocken eintauchen und geben werde. Und er tauchte den Brotbrocken ein und gab ihn Judas Iskariot, des Simons Sohn. 27 Und sogleich nach dem Bissen fuhr der Satan in jenen ein. Jesus spricht nun zu ihm: Was du tust, tu schnell! 28 Keiner aber von denen, die zu Tisch lagen, verstand, wozu er ihm dies sagte: 29 Einige meinten, weil Judas die Kasse hatte, dass Jesus zu ihm sage: Kaufe, was wir für das Fest benötigen, oder dass er den Armen etwas geben solle. 30 Als nun jener den Brotbrocken genommen hatte, ging er sogleich hinaus. Es war aber Nacht. 31 Als er nun hinausgegangen war, spricht Jesus: Jetzt ist verherrlicht worden der Sohn des Menschen, und Gott ist verherrlicht worden in ihm. 32 Gott wird ihn durch sich verherrlichen, und er wird ihn sogleich verherrlichen. 33 Kinder, noch eine kurze Zeit bin ich bei euch; ihr werdet mich suchen, und wie ich den Juden gesagt habe: ‚Wohin ich gehe, könnt ihr nicht hinkommen‘, so sage ich es jetzt auch euch. 34 Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. 35 Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt. 36 Simon Petrus spricht zu ihm: Herr, wohin gehst du? Jesus antwortete ihm: Wohin ich gehe, kannst du mir jetzt nicht folgen. Du wirst aber später folgen. 37 Petrus spricht zu ihm: Herr, warum kann ich dir jetzt nicht folgen? Mein Leben werde ich für dich hingeben. 38 Jesus antwortet: Dein Leben wirst du für mich hingeben? Amen, amen, ich sage dir, der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast.

Eine Stelle in Joh 13 ist für die Interpretation der Fußwaschungserzählung textkritisch von entscheidender Bedeutung. In Joh 13,10 ist im kritischen Text des Nestle-Aland 28 zu lesen, dass ein Gebadeter keinen Bedarf mehr hat, sich zu waschen, abgesehen von den Füßen (ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν εἰ μὴ τοὺς πόδας νίψασθαι).35 Dieser sogenannte Langtext wird zwar von der Mehrzahl der Hand34  Die Verwendung des Indefinitpronomens anstelle der direkten Anrede der anwesenden Jünger fällt hier auf, insbesondere im Vergleich mit Mt 10,40 und dem verwandten Logion Lk 10,16; vgl. jedoch die direkte Anrede in Joh 15,20. 35  Zur Textkritik in Joh 13,10 vgl. grundlegend Bultmann, Evangelium, 357 f. Anm.; Boismard/Lamouille, L’Évangile, 330; Mathew, Footwashing, 41–68; Niemand, Fußwaschungserzählung, 196–198.252–256; Thomas, Footwashing, 19–25. Vgl. ausführlich Hentschel, Reinheit.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

schriften bezeugt, allerdings in verschiedenen Fassungen mit jeweils weiteren kleineren Abweichungen.36 Die Kurzfassung lässt „außer die Füße“ (εἰ μὴ τοὺς πόδας) weg und findet sich im Sinaiticus, in der Itala, der Stuttgarter Vulgata-Fassung, im Kommentartext des Origenes und in Zitaten der ältesten lateinischen Kirchenväter wie Tertullian, Optatus von Mileve, Ambrosius, Hieronymus und Augustin. Eine weitere lectio brevissima lautet: „Der Gebadete bedarf nichts (ὁ λελουμένος οὐ χρείαν ἔχει)“ und wird überliefert von der Minuskel 579 aus dem 13. Jh., die von Marie-Émile Boismard und Pier Beatrice als ursprünglich angesehen wird.37 Gemäß der äußeren Bezeugung könnte sowohl die kurze als auch die lange Lesart als ursprünglich angesehen werden, während die kürzeste Fassung aufgrund der späten und geringen Bezeugung als älteste Textfassung nicht in Frage kommt. Gemäß den Regeln der inneren Textkritik ist üblicherweise der lectio brevior und der lectio difficilior der Vorzug zu geben. Beides trifft auf die Kurzfassung zu.38 Die Schwierigkeit dieser Textüberlieferung liegt darin, dass in Joh 13,10 f. nicht mehr von einer Fußwaschung, sondern unvermittelt von einem Vollbad die Rede ist, wobei das Vollbad zur vollständigen Reinheit führt. Dies lässt die zuvor durchgeführte und als bedeutsam herausgestellte Fußwaschung – zumindest unter dem Reinigungsaspekt – als obsolet erscheinen. Bei der abweichenden Lesart mit der Ergänzung „außer die Füße“ in 13,10 wird die durch das Vollbad ermöglichte Reinheit so eingeschränkt, dass das Vollbad zumindest durch eine Fußwaschung ergänzt werden kann und muss. Damit ist durch eine entsprechende Erweiterung der Bezug zur vorangehenden Thematik der Fußwaschung (Joh 13,5–9) wieder hergestellt. Da es in der Antike durchaus verbreitet und vorstellbar war, nach einem Vollbad in bestimmten Situationen – zum Beispiel beim Betreten eines Hauses oder vor einer Mahlzeit – einzelne Körperteile wie Kopf, Hände oder Füße erneut zu waschen,39 ist dieser Zusatz als Erleichterung des Textverständnisses durchaus plausibel und damit als lectio facilior anzusehen.40 Die lectio brevior bringt die Schwierigkeit mit sich, dass Jesus in seiner letzten Antwort an Petrus das Bild wechselt und unvermittelt von einem Gebadeten 36 Die Lesart εἰ μὴ τοὺς πόδας νίψασθαι bieten B C* (K) L W Ψ ƒ13 892 it vgcl syh; Ortxt. Mit weiteren Abweichungen wird diese Lesart auch bezeugt von 𝔓66 Θ sys.p (ει μη τους ποδας μονον νιψασθαι) und von 𝔓75 A C3 Γ Δ ƒ1 700. 1241. 1424. ℓ 844 𝔐 (η τους ποδας νιψασθαι; (+ μονον 1424). Eine längere, noch ausführlichere Lesart bietet auch D mit: την κεφαλην νιψασθαι ει μη τους ποδας μονον; vgl. Mathew, Footwashing, 42 f.; Thomas, Footwashing, 19 f. 37  Vgl. Boismard, Lavement, 10–13; Beatrice, John 13,1–10, 375 f. 38 Bereits Bultmann hat die wesentlichen Argumente für den Kurztext aufgeführt, vgl. Bultmann, Evangelium, 357 f. Anm.; dafür auch Lohse, Geschichte, 6–8; für den Langtext entscheiden sich die Monographien zur Fußwaschung von Niemand, Fußwaschungserzählung, 252–256; Mathew, Footwashing, 67 f. und Thomas, Footwashing, 19–25. 39  Vgl. Abschnitt 3.2.4 40  Dies entspricht aktuell der Mehrheitsmeinung; anders jedoch erneut Mathew, Footwashing, 58–68.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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spricht, der keinerlei zusätzliche Waschung – auch keine Fußwaschung – nötig habe. Diese zunächst irritierende Aussage ist aber verständlich, wenn die Antwort Jesu mit Blick auf die Reinigungswirkung der gerade durchgeführten Fußwaschung ein Missverständnis durch Petrus abweisen will. Jesus erläutert mit dem neu gewählten Bild vom Vollbad, dass alle Jünger abgesehen von Judas völlig rein seien, so wie jemand, der ein Vollbad genommen habe (13,10 f.). Damit fügt sich die kurze Lesart problemlos in den Kontext ein und steht nicht in Spannung zu den folgenden Erläuterungen. Wenn die längere Lesart aufgrund eines Zusatzes entstanden ist, der die – als fehlend betrachtete – Fußwaschung in die letzte Antwort Jesu an Petrus einträgt, obwohl dieser Zusatz zu den sich anschließenden Aussagen über die Reinheit der Jünger in Spannung steht, erklärt sich auch, warum die längere Lesart in unterschiedlichsten Varianten überliefert wurde.41 Nach den Regeln der inneren Textkritik ist die kurze Lesart als ursprünglich anzusehen und wird der folgenden Analyse zugrunde gelegt.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38 5.4.1. Erzählzeit und erzählte Zeit Das Erzähltempo des Johannesevangeliums verlangsamt sich nun immer mehr, so dass gerade während der Gespräche die Erzählzeit sich der erzählten Zeit annähert und ein zeitdeckendes Erzählen vorliegt. Dies steigert die Spannung und lässt das Geschehen für die Lesenden anschaulich werden. Die Kapitel Joh 13–19 behandeln einen Zeitraum von 24 Stunden, die in Joh 13–17 dargestellten Ereignisse geschehen an einem Abend.42 Die gesamte Szene spielt am Vorabend des Rüsttages zum Passafest, am Abend vor dem Todestag Jesu (19,30). Textpragmatisch ist relevant, dass es keine Anachronien zwischen Erzählung (story) und Geschichte (fabula) gibt: Die Ereignisse werden alle genau in der Reihenfolge erzählt, in der sie sich ereignen. Daraus ergibt sich für die Lesenden der Eindruck, das Geschehen unmittelbar mitzuerleben.

41  Die Uneinheitlichkeit in der Bezeugung des Langtextes wird von Lohse aufgezeigt und zurecht als zentrales Argument gegen dessen Ursprünglichkeit angeführt; vgl. Lohse, Geschichte, 7 f. 42  Genette behandelt diesen Aspekt einer Erzählung als ‚duration‘; vgl. Genette, Discourse, 87 f.; zur Entwicklung des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit bei Johannes vgl. Culpepper, Anatomy, 70–73; Tolmie, Farewell, 145–165.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Jesus weiß, dass „seine Stunde“ gekommen ist (13,1). Die Stunde der Rückkehr zum Vater und die damit verbundene Thematik der Verherrlichung43 ziehen sich wie ein roter Faden durch Joh 13–17 und finden sich prominent in Joh 13,1.31 f. ‚Die Stunde Jesu‘ bildet den zentralen Kontext für Joh 13–17. Joh 13,1 verortet die Erzählung vom letzten Mahl theologisch und christologisch im Kontext der Sendung Jesu durch den Vater, deren Inhalt als bleibende und vollkommene Liebe charakterisiert wird. Die gekommene Stunde (12,23; 13,1; 17,1; auch 12,27) bestimmt seit der Ankunft der Griechen die erzählte Zeit. Jesus stellt in 12,23 fest, dass die Stunde „bereits eingetreten ist, wie die drei νῦν in den folgenden Versen (27.31a.b) bestätigen. Ölbergstunde (V 27), Verrat (13,31 νῦν), Erhöhung am Kreuz (12,31) und Verherrlichung (V 23) sind ein einziges Geschehen, im Rückblick des Evangelisten die ‚Stunde Jesu‘, die für ihn auch in der Berufung der Heiden und ihrer Heilserlangung wirksam bleibt und sich erfüllt.“44 In Joh 12,28 bittet Jesus im öffentlichen Gebet darum, dass der Vater sich verherrlicht, und Gott antwortet in einer für alle hörbaren, aber nicht von allen verstandenen Himmelsstimme, dass er bereits verherrlicht habe und weiter verherrlichen werde, wobei interessanterweise kein Objekt genannt wird. In Joh 17,1 stellt Jesus im Gebet erneut fest, dass die Stunde gekommen ist (Perfekt) und bittet den Vater nun darum, den Sohn zu verherrlichen, damit der Sohn ihn verherrlichen könne. Zeugen des Gesprächs zwischen Gott und Jesus sind alle Anwesenden (12,27–36) beziehungsweise die Seinen (Joh 17). Diese ‚Stunde des Abschieds‘ wird im Johannesevangelium als eine Schwellensituation beschrieben, die den Abschied Jesu einerseits seit 12,23 als gegenwärtiges und die Gegenwart bestimmendes Geschehen charakterisiert, andererseits den Abschied noch als unmittelbar bevorstehend und zukünftig beschreibt.45 Außerdem hat die ‚Stunde Jesu‘ Auswirkungen auf die Menschen, die ihm nachfolgen (vgl. 16,4a.25.32, auch 16,21). Vor allem in 16,32 werden der gegenwärtige und zukünftige Aspekt des Kommens der Stunde mit Blick auf die Nachfolgenden unmittelbar nebeneinander ausgedrückt.

Die Stunde Jesu umfasst also nicht nur den Kreuzestod46, sondern es handelt sich vielmehr um die Abschiedsstunde Jesu, eine Schwellensituation sowohl für Jesus 43  Die Verherrlichungsvorstellung lässt sich jedoch nicht auf die Stunde Jesu begrenzen, sondern sie charakterisiert – vergleichbar mit der Liebe – seine gesamte Existenz (17,1–5); zur Verherrlichungsvorstellung im Johannesevangelium vgl. Frey, Herrlichkeit 639–662; ChibiciRevneanu, Herrlichkeit; Schwindt, Gesichte, 277–448; Thüsing, Erhöhung. Bei Markus, Matthäus und Lukas führen die Sündenvergebung und die Wunder Jesu als Zeichen der von Gott verliehenen Vollmacht zur Verherrlichung Gottes (Mk 2,12; Mt 9,8; 15,31; Lk 5,25 f.; 13,12; 18,42). Bei Lukas führen darüber hinaus auch die Geburt und der Tod Jesu zur Verherrlichung Gottes (Lk 2,20; 23,47), ein Aspekt, der bei den anderen Synoptikern fehlt, sich jedoch zentral bei Johannes findet. Interessant ist außerdem, dass in Apg 3,13 angesichts des Todes Jesu die Übergabe und Verleugnung Jesu der Verherrlichung Gottes gegenübergestellt werden. 44  Schnackenburg, Johannesevangelium II, 480; vgl. auch den Exkurs zu Erhöhung und Verherrlichung Jesu, a. a. O. 498–512. 45  Vgl. den aktuellen Forschungsüberblick zum komplexen Thema der Zeit bei Johannes Rahmsdorf, Zeit, 8–39. 46 Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu im Johannesevangelium wird seit Käsemanns 1966 veröffentlichter Studie kontrovers und ausführlich diskutiert; Käsemann, Jesu letzter Wille; vgl. dazu insbesondere Ehler, Herrschaft, auch Zahl, Rechtfertigungslehre, außerdem den Forschungsüberblick bei Frey, Eschatologie I, 160–170; vgl. auch Frey, Herrlichkeit, 485–584;

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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als auch für die Seinen und für die Welt. In die wechselseitige Verherrlichung von Gott und Jesus werden in der Abschiedsrede Jesu auch die Seinen mit hineingenommen (Joh 14,13; 15,8; 17,10; 21,19). Jesus selbst wird in den Seinen verherrlicht (Joh 17,10) und diese verherrlichen durch ihr Fruchtbringen (Joh 15,8; vgl. 12,23–28) und in einzelnen Fällen auch durch ihr Sterben (Joh 21,19 diff. 21,20). Dies ist relevant für die Interpretation der Fußwaschungserzählung, da in Joh 13,1 mit der Stunde Jesu nicht ausschließlich auf den Tod Jesu Bezug genommen wird, auch wenn sein Tod zentraler Bestandteil oder auch Kern dieser Stunde ist. Doch genauso wenig, wie die Sendung Jesu im Johannesevangelium auf seinen Tod eingeengt werden kann (13,3), lässt sich das Geschehen beim letzten Mahl verstehen, wenn es ausschließlich auf den Kreuzestod bezogen wird. Die Stunde Jesu im Johannesevangelium und die damit zusammenhängenden Deutungen der Situation für die Jüngerinnen und Jünger werden erst sachgerecht verstanden, wenn sie als eine Schwellensituation für die Beziehung aller beteiligten Figuren wahrgenommen wird (13,1), bei der es um den Abschied Jesu aus der Welt geht und eine veränderte Art der Präsenz Jesu und damit Gottes in der Welt zur Diskussion steht (17,21 f.). Diese betrifft nach Jesu Abschied zunächst die textinternen Jüngerinnen und Jünger Jesu (17,12–18), dies gilt jedoch auch noch für die textexternen Jüngerinnen und Jünger (17,20).

5.4.2. Erzählte Situation: Zeit und Schauplatz Die Szene spielt unmittelbar vor dem Passafest (13,1–3; vgl. 11,55; 12,1), am Vorabend des Rüsttages zum Passafest und – wie sich erst im Laufe der weiteren Erzählung zeigen wird  – dem Todestag Jesu (19,30).47 Was diese Zeitangabe bedeutet, erläutert der Erzähler aus der Perspektive Jesu: Jesus weiß, um seine Stunde des Abschieds aus der Welt hin zum Vater48 (13,1) und um seine Vollmacht (vgl. 3,35; 10.17) und – als variierende Repetition zu 13,1 am Ende des Abschnitts – dass er von Gott gekommen ist und zu Gott zurückkehrt (13,3).49 Dieses Wissen Jesu wird in zwei parallelen, jeweils von εἰδώς abhängigen Partizipialsätzen (13,1.3) festgehalten, die den einleitenden Abschnitt rahmen und somit Thyen, Liebe, 468–481; Schröter, Sterben, 263–288; Wengst, Gemeinde, 185–240. Diese Diskussion kann im Rahmen der vorliegenden Studie jedoch nicht eingehend verfolgt werden. 47  Zu einem Überblick über die Zeitgestaltung mit Blick auf das Passafest vgl. Culpepper, Gospel, 199–201. 48 Vgl. die vorangehenden Hinweise auf das Noch-Nicht-Gekommensein der Stunde Jesu (2,4; 7,30; 8,20; ähnlich 7,6), sowie die Hinweise auf ihr Gekommensein in 12,23; 13,1; 17,1 (vgl. auch 12,27; 16,4.25.32); vgl. Popkes, Theologie, 170. 49 Damit greift der Erzähler in 13,1.3 in diesem Abschnitt zweimal auf die Botenvorstellung zurück, gemäß der Jesus als der autorisierte Bote Gottes nach Erfüllung seines Auftrags zu seinem Auftraggeber zurückkehrt, um die Zeit mit Blick auf Jesu Sendung zu bestimmen (vgl. v. a. 4,34; 5,19–26; 6,37–40.46).

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

die erste und auch die letzte Aussage der Situationsbeschreibung darstellen.50 Joh 13,1.3 bleibt auf der ersten Erzählebene, d. h. die Lesenden sind informiert, die textinternen Figuren nicht. Die vorliegende Fokalisierung ermöglicht den Lesenden sogar einen Einblick in Jesu Kenntnisstand.51 In das „Wissen Jesu“52 um die Stunde und seinen Weg ist eine weitere Situationsbeschreibung aus der Perspektive des Erzählers eingebettet, der einerseits die alles umfassende Liebe Jesu beschreibt und andererseits die Pläne des Teufels mit Blick auf Judas offenlegt: Das gesamte Wirken Jesu wird analeptisch und proleptisch als Liebe zu den Seinen (13,1) dargestellt, auf welcher der Schwerpunkt der Situationsbeschreibung liegt, da sich hier die einzige finite Verbform in den ersten drei Versen findet.53 Zugleich hat der Teufel Judas bereits ins Herz gegeben, Jesus auszuliefern (13,2; vgl. 6,70 f.). Die Pläne des Teufels stellen bei der Situationsbeschreibung jedoch nicht den zuletzt genannten Aspekt dar, sondern das Wissen Jesu um seine Vollmacht und seinen Weg bilden den Abschluss und vergewissern die Lesenden, dass Jesus als vollmächtig beauftragter Sohn Herr der Lage ist (13,3). Der Schauplatz wird nicht näher beschrieben, es handelt sich wohl um einen Raum, in dem man im Liegen essen kann (13,3.12). Weder über die Größe oder Ausstattung des Raums noch über den Ablauf der Mahlzeit erfahren die Lesenden weitere Details, so dass die Erzählung offenlässt, wie groß die Versammlung ist oder wie festlich die Mahlzeit und wie umfangreich die Menge der Speisen ist. Der Ablauf einer gemeinschaftlichen Abendmahlzeit war den Lesenden im Sinne einer „allgemeinen Szenographie“54 ihres enzyklopädischen Wissens vertraut. Die Hauptmahlzeit am späten Nachmittag oder frühen Abend diente nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern auch der Pflege von Gemeinschaft. Ein Gemeinschafts- oder Gastmahl bestand aus zwei Teilen, der vorangehenden Mahlzeit (δεῖπνον) mit Vor- und Hauptspeise und dem sich anschließenden Trinkgelage (συμπόσιον) mit Nachtisch, das eine Gelegenheit zur geselligen oder 50  Vgl. zur Textpragmatik mit Blick auf primacy effect und recency effect Finnern, Narratologie, 118. 51 Vgl. Joh 13,31 f., wo Jesus sich in Form einer Figurenrede an die Seinen wendet und ihnen die Gegenwart als Zeit der gegenseitigen Verherrlichung erläutert. 52 Im Wissen Jesu im Vergleich mit dem Unwissen seiner Jünger sieht Culpepper einen zentralen Erzählaspekt in Joh 13, der das seiner Meinung nach zentrale Thema von Glaube und Unglaube variiert; vgl. Culpepper, Gospel, 201. Eine Überblicksdarstellung zur Frage, wer in Joh 13 was weiß, bietet Neyrey, Gospel, 232. 53 Dies spricht m. E. bereits dagegen, den Fokus zu sehr auf den Wissensaspekt zu legen; so jedoch Culpepper, Gospel, 201; ders., Hypodeigma. Auch in der Beziehung zwischen Jesus und Gott sollte nicht zu sehr das Wissen betont werden – so Neyrey im Anschluss an Culpepper; vgl. Neyrey, Gospel, 232 –, sondern die Liebe, aus der dann die Offenbarung des Wissens folgt; vgl. v. a. Joh 3,16; 15,15. Auch bzgl. des primacy effects ist zu bedenken, dass die Liebe, nicht das Wissen, zu Beginn des Abschnitts (13,1) thematisiert wird. 54 Vgl. Eco, Grenzen, 96–105.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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auch gelehrten Unterhaltung darstellte.55 Dem Mahl ging in der Regel ein Bad oder zumindest eine Reinigung voraus, da man sich nicht mit schmutzigen Händen oder Füßen zu Tisch legte, und auch während der Mahlzeit mussten die Hände wiederholt durch Übergießen mit Wasser gereinigt werden, da man vieles mit den Fingern aß.56 Die aus mehreren Gängen bestehende Mahlzeit wurde durch das Hinaustragen der Tische und eine Mahlabschlusszeremonie abgeschlossen.57 In diesem Kontext hatten auch Lobreden und Ehrungen ihren Platz, die vor allem in Form von Zutrinken oder Bekränzungen erfolgten.58 Der gemütliche Teil der Mahlzeit, das Symposion, begann mit dem Auftragen des Nachtischs, die Mahlteilnehmenden konnten bekränzt oder gesalbt werden und Duftkräuter wie Weihrauch konnten auf Räucherpfannen gelegt werden.59 Jetzt war Zeit – je nach Anlass – für gesellige Unterhaltung, für Tischgespräche oder gelehrte Diskussionen. Die ausführlich dargestellten Gespräche in Joh 13–16 legen nahe, dass hier vor allem das gemeinsame Symposion beschrieben wird, während die Erzählung nicht eindeutig erkennen lässt, wo das Deipnon, von dem Jesus aufsteht um die Füße seiner Jünger zu waschen (13,3), endet, und wo das Trinkgelage beginnt.60

5.4.3. Erzählte Situation: Personen Im freundschaftlich-vertrauten Kreis findet erneut ein gemeinsames Abendessen mit Jesus statt (13,2; vgl. 12,1 f.).61 Wer konkret anwesend ist, wird jedoch nicht genauer bestimmt, damit aber auch nicht eindeutig auf die Zwölf eingegrenzt62,  Vgl. zum Folgenden Heininger, Tischsitten, 34–37. Da mit συμπόσιον (lat. convivium) auch die ganze Veranstaltung bezeichnet wird, kann das Trinkgelage auch als πότος bzw. commisatio vom Mahl (δεῖπνον bzw. cena) unterschieden werden; vgl. auch Klinghardt, Gemeinschaftsmahl 99. 56 Zu den Reinigungsmöglichkeiten vgl. Klinghardt, Tischsitten, 47–49. 57  Heininger, Tischsitten, 36. 58  Klinghardt, Gemeinschaftsmahl, 109 f. 59 Vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl, 100 f. 60 In Lk 22,20 wird der gedeutete Becher als Abschluss des Mahls festgehalten, so dass die Ankündigung des Verrats und der sich anschließende Rangstreit (Lk 22,21–30) sowie die folgenden Tischgespräche (Lk 22,31–38) im Rahmen des Symposions stattfinden. 61 Zu den Motiven der Freundschaftsethik bei Johannes vgl. Scholtissek, Liebe, 413–439; zu antiken Freundschaftskonzepten vgl. Konstan, Friendship; den Sammelband Fitzgerald, Friendship; sowie Theobald, Freundschaft I, 132 f.; da Jesus in der Rolle als Lehrer agiert, ist auch die rabbinische Freundschaftsvorstellung relevant, welche v. a. die Freundschaft unter den Rabbinen selbst betont, nicht jedoch die Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler; vgl. dazu Hezser, Rabbis, 189–254. Allerdings ist die Beziehung als „Freund“ nicht exklusiv, sondern lässt weitere Beziehungsebenen gleichzeitig zu, so dass Jesus für die Seinen Freund und Lehrer sein kann; vgl. Konstan, Friendship, 7. 62  Bultmann geht von einer bewussten Vermeidung der Bezeichnung δώδεκα aus, Bultmann, Evangelium, 349. 55

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

die im Johannesevangelium insgesamt als eigene Gruppe nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen.63 Zu „den Seinen“, die Jesus liebt, gehören etwa auch die in Joh 11 f. erwähnten Geschwister Martha, Maria und Lazarus, mit denen Jesus erst vor kurzem bei Tisch lag. In Joh 13 werden Petrus und Judas Iskariot namentlich genannt. Unter den Anwesenden ist außerdem ein hier zum ersten Mal erwähnter anonym bleibender Jünger, der nur dadurch näher bestimmt wird, dass Jesus ihn liebt und dass er auf einem Platz mit besonderer Nähe zu Jesus liegt (13,23).64 Er wird nicht mit bestimmtem Artikel eingeführt, d. h. eine Kenntnis dieses Jüngers wird bei den Lesenden nicht vorausgesetzt. Insgesamt zeigt sich, dass es dem Erzähler offensichtlich nicht wichtig ist, den Personenkreis näher zu bestimmen bzw. einzugrenzen, die Darstellung der Anwesenden bleibt im wahrsten Sinne des Wortes offen. Mit Blick auf die häufige Erwähnung von Frauen in der Nachfolge Jesu im Johannesevangelium, insbesondere mit Blick auf Joh 12,1–8, ist deshalb bei der Analyse von Joh 13–17 stets zu berücksichtigen, dass die in Joh 13–17 namentlich genannten Jünger zwar ausschließlich Männer sind, der anwesende Jüngerkreis jedoch zumindest transparent ist für die gesamte Gruppe der „Seinen“ (vgl. 13,1), zu der Männer und Frauen gehören.65 Der hier erstmalig erwähnte ‚geliebte Jünger‘ bleibt ein Anonymus und verhindert textpragmatisch ebenfalls eine eindeutige Bestimmung der Anwesenden! Auch wenn ausgehend von den Synoptikern die informierten Lesenden von einem Mahl Jesu mit dem Zwölferkreis ausgehen und möglicherweise auch das Johannesevangelium diese Jüngergruppe als Mahlteilnehmende voraussetzt, so lässt die Erzählung selbst diesen Aspekt jedoch auffälligerweise im Ungewissen. Wenn im Folgenden von den Jüngern gesprochen wird, ist deshalb zu bedenken, dass im Johannesevangelium eine unbestimmte Gruppe von Jüngern beim letzten Mahl versammelt ist, die transparent ist für alle „Seinen“ (13,1), zu denen Frauen und Männer gehören. Die Erzählung legt nahe, dass gerade diese Unbestimmtheit der Teilnehmenden ein Anliegen des Johannesevangeliums ist. Die erzählerische Lücke sollte deshalb bei der Interpretation nicht unreflektiert gefüllt werden. Dies scheint naheliegend, wenn man bedenkt, wie sorgfältig Matthäus und Lukas den Teilnehmerkreis auf die zwölf Apostel beschränken (Mt 26,20; Lk 22,8.14), Im Markusevangelium wird vorausgesetzt, dass zwei 63 Trotzdem wird immer wieder vorausgesetzt, dass auch im Johannesevangelium nur die Zwölf beim letzten Mahl anwesend sind; exemplarisch seien hier Culpepper zu Joh 17,6 zitiert: „After three years, he had only twelve disciples, and he thanks God for them!“, Culpepper, Gospel, 220; vgl. Thyen, Johannesevangelium, 597; zu den Jüngern im Johannesevangelium vgl. Hylen, Believers, 59–76 mit weiterer Literatur; Schultheiss, Petrusbild, 232–279; vgl. auch die Charakterisierung der Jünger in Abschnitt 5.4.4., zur Charakterisierung des Petrus vgl. Abschnitt 5.4.5. und zur Charakterisierung des sogenannten Lieblingsjüngers vgl. Abschnitt 5.4.6. 64 Vgl. Abschnitt 5.4.6. 65  Vgl. Bultmann, Evangelium, 349. Er sieht in den ἴδιοι die „Gemeinde, deren Konstituierung symbolisch durch 13,1–20 beschrieben wird, und deren Lebensgesetz – in 13,12–20 schon angedeutet – in 13,34 f.15,1–17 entwickelt wird“; ebd.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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Jünger vorausgesandt werden, um das Mahl vorzubereiten (Mk 14,12–16), während Jesus mit den Zwölf am Abend dazukommt und offensichtlich mit einer größeren Gruppe isst (Mk 14,17; auch 14,20). Die Zwölf werden im Johannesevangelium nur in Joh 6,67.70 f. und in Joh 20.24 genannt.66 Ihre Existenz wird vorausgesetzt, doch es wird weder eine spezifische Berufung oder Auswahl der Zwölf als Zwölferkreis erzählt, noch werden ihre Namen vollständig aufgezählt.67 Joh 6,67–71 verhandelt Themen, die in der synoptischen Tradition „jeweils zentral mit dem Zwölferkreis“ verbunden sind,68 wobei es bei Johannes vor allem um die kritische Frage geht, ob die Zwölf in der Nachfolge Jesu bleiben. Zwischen der Erwählung einerseits und der Treue bzw. Verlässlichkeit andererseits besteht offensichtlich eine Spannung. In Joh  20,24 wird Thomas als einer der Zwölf charakterisiert, der die erste Begegnung mit dem Auferstandenen nicht erlebt hat und in der Folge ohne eine eigene Erfahrung auch nicht an die Auferstehung glauben will. Auch der Apostelbegriff spielt für die Zwölf im Johannesevangelium keine Rolle. „There is no mention of their being appointed or commissioned (see however 6,70; 13,18; 15,16.19)“.69 Culpepper begründet es damit, dass sich bei der Bezeichnung ‚Jünger‘ auch die Lesenden leichter mit ihnen identifizieren können.70 Dieser Aspekt ist entscheidend, gerade auch für das Konzept von Sendung und Leitungsfunktionen, die üblicherweise mit den Zwölf verbunden werden. Nur in Joh 13,16 wird ein einziges Mal das Verbalsubstantiv ἀπόστολος verwendet, allerdings bezeichnenderweise ohne Einschränkung der damit angesprochenen und bezeichneten Jünger Jesu. Auch von Erwählung, Sendung und Beauftragung wird ja durchaus gesprochen, auch wenn dies meistens nicht in exklusiver oder expliziter Verbindung mit den Zwölf geschieht (6,70; vgl. aber 13,18; 15,16.19 f.27;17,18).71

Folglich lässt sich festhalten, dass die anwesenden Jünger als Gruppe, als die „Seinen“ betrachtet werden, sie lassen sich jedoch nicht auf die Zwölf reduzieren. Diese Jünger sind, mit Ausnahme von Judas, bis zum Aufbruch Jesu seine Gesprächspartner, unmittelbare Adressaten seiner Erläuterungen und Zeugen seines abschließenden Gebets. Die Fürbitte Jesu gilt ebenfalls zunächst den Jüngern, die mit Jesus bei Tisch liegen, und damit zugleich all denen, die er aufgrund seines bevorstehenden Abschieds zurücklassen wird, d. h. den vorösterlichen Jüngerin66  Vgl. die prägnante Übersicht über die wenigen Belegstellen bei Johannes Theobald, Evangelium I, 498 f., der darin jedoch keine „Abwertung ihres Kreises“ sieht; a. a. O. 499. 67  Vgl. Thompson, John, 162–164.303–305. Thompson berücksichtigt bei der Darstellung der Jüngerschaft auch die wichtigsten johanneischen Metaphern und betont die „corporate dimensions of discipleship“; a. a. O. 304. Oft wird jedoch der Textbefund im Sinne der jeweils eigenen Interpretation „kreativ“ ergänzt: Thyen z. B. interpretiert die Jüngerberufungen in Joh 1,35–50 als „pars pro toto für die Einsetzung der Zwölf“; Thyen, Johannesevangelium, 380. 68 Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 277. In Joh 6,66–71 werden von den Synoptikern bekannte Überlieferungen zu Petrus und dem Zwölferkreis aufgenommen und verhandelt (Mk 8,27–30; Mk 3,16–19 und Mk 14,18 f. mit den jeweiligen Parallelen), vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 277–283. Zu beachten ist, dass in Joh 13 nicht einmal mit Blick auf Judas der Zwölferkreis erwähnt wird (vgl. Mk 14,18 f. mit Joh 13,21; auch 13,2.11.18.26 f.30). 69  Culpepper, Anatomy, 115. 70  Vgl. Culpepper Anatomy, 115. 71  Sogar 20,18–23 ist nicht explizit und eindeutig nur auf die Zwölf bezogen.

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nen und Jüngern. Erst in Joh 17,20 werden explizit weitere Jüngerinnen und Jünger in den Blick genommen und in die Fürbitte Jesu integriert, und zwar als Personen, die auf Vermittlung der anwesenden Jünger zur Glaubensgemeinschaft dazukommen, aber in der erzählten Situation nicht anwesend sind. Auch wenn die Abschiedsrede Jesu in besonderer Weise transparent ist für die Situation der nachösterlichen Lesenden, werden diese doch – anders als in Joh 19,35; 20,30 f. – nicht unmittelbar angesprochen. Diese (fehlenden) Textsignale sind narratologisch zunächst einmal ernst zu nehmen. Die Aufforderung zum Aufbruch in Joh 14,31 kann zwar als literarisches Mittel betrachtet werden, um die Thematik des unmittelbar bevorstehenden Aufbruchs in Erinnerung zu rufen und die Erläuterungen inhaltlich weiter auf die sich dadurch ändernden Bedingungen für die Jünger zu konzentrieren, sie enthält jedoch keinen Hinweis auf eine tatsächlich erfolgende Veränderung der erzählten Situation oder der textintern von Jesus angesprochenen Adressaten.72

Die Einleitung lässt folglich sowohl die anwesenden Personen als auch den Raum und die Ausstattung des Mahls unterbestimmt, während die Zeit und die damit verbundenen Rahmenbedingungen für Jesus und die Seinen aus der Perspektive Jesu und des Erzählers eingehend beschrieben werden. Diese Situationsbeschreibung gilt bis Joh 17,26, mit der Einschränkung, dass Judas in Joh 13,30 den Raum verlässt. Außerdem merkt der Erzähler ergänzend an, dass es Nacht war (13,30). Angesichts der Tatsache, dass es sich gemäß Joh 13,2 um ein gemeinsames Abendessen handelt, dient diese Information weniger der Zeitangabe, als vielmehr einer metaphorischen Beschreibung der Situation, in die Judas hinausgeht bzw. die er für Jesus und die anderen Jünger durch sein Gehen auslöst.

5.4.4. Zur Charakterisierung der Jünger Für die Interpretation der Fußwaschungserzählung ist entscheidend, welche Vorstellungen das vierte Evangelium mit den Jüngern in Joh 13–17 verbindet. Gerade weil die Fußwaschung Jesu einerseits die Sendung Jesu selbst symbolisiert (13,1.3–5.8), andererseits jedoch durch den Nachahmungsbefehl die Jünger in diese Sendung integriert (13,13–17.20), ist es mit Blick auf ekklesiologische Vorstellungen des Johannesevangeliums von höchster Relevanz, ob sich die 72  Schenke beschreibt nachvollziehbar die textpragmatische Funktion eines symbolischen Verständnisses von Joh 31,31, doch seine Annahme, mit Joh 14,31 ändere sich die unmittelbare Zielgruppe, so dass in 13,31–14,31 die um Jesus versammelten Jünger und in 15,1–16,27 die nachösterlichen Jünger einschließlich der Leser angesprochen seien, lässt sich narratologisch vom Text her nicht belegen; vgl. Schenke, Johannesevangelium, 216 f.; vgl. zu weiteren Lösungsansätzen für das literarkritisch gesehene Problem in 14,31 auch Parsenios, Departure. Ab 15,1 ist allerdings thematisch stärker die Nachfolge nach Jesu Weggang im Blick; vgl. HoegenRohls, Johannes, 120–122.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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Lesenden unter den anwesenden Seinen den Zwölferkreis vorstellen, der in besonderer Weise berufen und beauftragt ist, oder Jünger Jesu, die grundsätzlich für alle Schülerinnen und Schüler Jesu transparent sind und die im Rahmen des Mahls von Jesus besonders unterwiesen und beauftragt werden. Eine ausführliche Analyse der Charakterisierung der Jünger im Johannesevangelium würde die vorliegende Studie sprengen, so dass einzelne Beobachtungen nur knapp angeführt werden können, während der Fokus der Analyse auf Joh 13–17 liegt.73 Besonders berücksichtig werden zudem die wenigen Erwähnungen der Zwölf und ekklesiologisch relevante Aspekte. Zunächst ist zu klären, welche Personengruppe nach der Darstellung des Johannesevangeliums am letzten Mahl Jesu teilnimmt und welche narratologische Bedeutung ihr zukommt. In einem zweiten Schritt ist die direkte und indirekte Charakterisierung der Jünger zu analysieren. Abschließend wird gefragt, wie Jesus seine Jünger beurteilt und welche Verantwortung er dem Nachfolgekreis zuweist. Bei einer Figurengruppe ist mit Blick auf die Charakterisierung grundlegend nach ihrer Bezeichnung und den damit verbundenen typischen Eigenschaften und Merkmalen, nach zugehörigen Einzelfiguren und nach ihrer Identität als Gruppe zu fragen.74 In Joh 13,1 werden diejenigen, denen die Liebe Jesu gilt, als „die Seinen“ benannt und als Gemeinschaft durch ihre Zugehörigkeit zu Jesus bestimmt.75 Ihnen galt die Sendung Jesu durch Gott in die Welt, die er nach Vollendung seines Auftrags wieder verlassen wird, um zu Gott zurückzukehren. In 73  Vgl. den konzisen Forschungsüberblick bei Schultheiss, Petrusbild, 232–279. Die Sekundärliteratur zum Thema kann hier nur punktuell und exemplarisch berücksichtigt werden. Wie so oft bei der Exegese des Johannesevangeliums gibt es bei der Beschreibung des Textbefundes an sich wenig Divergenzen, bei der Interpretation sind die Thesen und Ergebnisse jedoch detailreich, komplex und disparat, da sie immer von der Gesamtperspektive der jeweiligen Exegetinnen und Exegeten auf das Johannesevangelium abhängen. Die bild- und assoziationsreiche johanneische Darstellung führt zur Polysemie nicht nur bei einzelnen Begriffen und Bildern, sondern auch bei den behandelten Themenkomplexen. 74  Poplutz, Pharisäer, 24. Bei der Identität ist nach Poplutz auch zu prüfen, ob die Darstellung einer Figurengruppe im Rahmen einer Erzählung einheitlich ist, ob also immer von denselben Jünger gesprochen wird, ob diese stets vergleichbar beschrieben werden oder in unterschiedliche, unterscheidbare Fraktionen aufgespaltet werden; ebd. Diese Fragestellung sollte mit Blick auf die Charakterisierung der johanneischen Jünger noch einmal genauer nachgegangen werden, da die Abgrenzung der Gruppe bzw. die Zugehörigkeit und die damit verbundenen Glaubensvorstellungen und Aufgaben auffälligerweise immer wieder vage bleiben und diskutiert werden. Dies lässt sich sowohl an der Gruppe der Zwölf zeigen als auch an den Frauenfiguren. Genau in dieser Offenheit der Gruppe der Jünger Jesu liegt die Besonderheit der johanneischen Darstellung. 75  Thompson weist explizit auf die „corporate dimensions“ der johanneischen Metaphern für die Jünger hin; Thompson, John, 304. Mit Blick auf die Textpragmatik dieser Formulierung betont Thyen zurecht den integrativen Aspekt, da sich auch die Lesenden einordnen können, indem sie sich mit den Erzählfiguren identifizieren, vgl. Thyen, Johannesevangelium, 584. Vgl. weiterführend auch den Zusammenhang von Liebe und Familienmetaphorik bei Van der Watt, Family, v. a. 304–323; ders., Redefinition, 121–127.

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eben diesem Bewusstsein seiner Sendung steht Jesus schließlich auf und beginnt, die Füße ‚der Jünger‘ zu waschen (13,3–5). Als ‚Jünger‘ bzw. ‚Schüler‘ (μαθητής) werden sie in Joh 13–17 wiederholt sowohl von der Erzählstimme (13,5.22 f.; 16,17.29) als auch von Jesus selbst (13,35; 15,8) bezeichnet. Joh 13,1–5 legt nahe, dass die beim Mahl anwesenden ‚Jünger‘ mit den eingangs genannten ‚Seinen‘ identisch sind oder zumindest zu diesen gehören. Diese Bezeichnung der Jünger in Joh 13,1 ist für das Johannesevangelium ungewöhnlich. Die aufmerksamen Lesenden werden sich deshalb daran erinnern, dass bereits im Prolog – und nur dort – von „den Seinen“ die Rede war, denen die Sendung des Logos galt, die aber gerade dadurch charakterisiert werden, dass sie Jesus nicht aufnahmen (1,11) bzw. nur zum Teil (1,12). Die Formulierung legt nahe, dass die ‚Jünger‘, denen Jesus die Füße wäscht, stellvertretend für alle diese ‚Seinen‘ stehen, denen die Sendung Jesu von Anfang an gilt (vgl. auch Joh 10,3 f.).76 In Joh 15,19 wird entsprechend differenziert zwischen den „Eigenen“ der Welt, die von der Welt geliebt werden, und den Jüngern, die zu Jesus gehören. Im abschließenden Gebet (Joh 17) bittet Jesus für alle „Seinen“, die zugleich auch Eigentum Gottes seien und nun in der Welt bleiben, die er verlässt (17,10; vgl. 17,13).77 Diesen Jüngern hat Jesus in der Welt das Wort Gottes vermittelt, und weil sie deshalb nicht mehr zur Welt gehören, gilt ihnen der Hass (17,14–16). Es geht folglich um alle, die dem irdischen Jesus nachgefolgt sind. Jesus erweitert diese Gruppe am Schluss seines Gebets explizit um diejenigen, die später – nach Ostern – durch das Zeugnis der aktuell angesprochenen Jünger zur Glaubensgemeinschaft dazukommen (17,20). Die angesprochenen Jünger werden im Gebet Jesu nicht nur als Eigentum Jesu und Gottes, sondern zugleich als Jesu Gesandte betrachtet (17,18–23). „In praying for the work and mission of his disciples in the world, Jesus reveals the striking parallels between his status, mission, and purpose and theirs: sanctified by the Father, they are sent into an indifferent or hostile world; they will bear witness to the life that the Father gives to the Son, in order that together the Father and the Son may be glorified and others may be brought to faith and life.“78

Namentlich genannt bzw. individuell angesprochen werden im Laufe des Mahls folgende Jünger: Petrus (13,6–11.24.36–38), ein anonymer Jünger, den Jesus liebt und der als einer von seinen Jüngern ausgewiesen wird (13,23–25), Judas Iskariot (13,26–31; 14,22; auch 13,12.18; 17,12), Thomas (14,5), Philippus (14,8 f.) und Judas (14,22). 76  Vgl. auch Joh 10,4, wo explizit von allen „eigenen (Schafen)“ (τὰ ἴδια πάντα) des guten Hirten gesprochen wird. 77 Vgl. Joh 11,41 f.: Auch hier dient das Gebet Jesu der Erkenntnis der Zuhörenden und nicht in erster Linie der Kommunikation zwischen Gott und Jesus. Auch die im Johannesevangelium einzige in direkter Rede übermittelte Kommunikation Gottes mit Jesus in Joh 12,28 zielt nach den Worten Jesu nicht auf ihn, sondern auf die anwesenden Menschen. 78 Thompson, John, 346.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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Bemerkenswert ist auch, was fehlt: „Die Zwölf“ als feste Gruppe werden beim letzten Mahl nicht erwähnt und spielen damit erzählerisch im wahrsten Sinne des Wortes keine Rolle.79 Der Zwölferkreis wird überhaupt nur in Joh 6,67.70 f. und in Joh 20,24 explizit erwähnt. Seine Existenz wird offensichtlich als bekannt vorausgesetzt, allerdings wird weder eine spezifische Berufung oder Auswahl der Zwölf erzählt80, noch wird eine Namensliste überliefert.81 In Joh 6,67–71 werden zwar Aspekte aufgegriffen, die in den Synoptikern zentral mit Petrus und dem Zwölferkreis verbunden sind,82 doch geht es bei Johannes weniger um die Zwölf als Gruppe und deren Bedeutung, sondern vielmehr um die Treue der Zwölf. Für einen aus der Gruppe der Zwölf wird dessen Untreue angekündigt (6,70 f.), was ein kritisches Licht auf den Zwölferkreis insgesamt wirft, vor allem, weil der Name des untreuen Jüngers bis zum Schluss offenbleibt (vgl. auch 13,10 f.18– 20). Der Zwölferkreis steht also insgesamt unter dem Verdacht, dass einer von ihnen Jesus untreu werden und ihn sogar an seine Feinde übergeben wird. In Joh 20,24, dem zweiten Beleg für die „die Zwölf“ im Johannesevangelium, wird Thomas als einer der Zwölf ausgewiesen: Er hat die erste Begegnung mit dem Auferstandenen verpasst und ist nicht fähig, den anderen Jüngern, seinen Mitjüngerinnen und Mitjüngern, zu vertrauen und ohne eigene Begegnung mit Jesus an den Auferstandenen zu glauben (20,25). Auch sind die Zwölf – bzw. zehn von den Zwölf – offensichtlich nicht in der Lage, einen der Ihren durch ihre Verkündigung von der Auferstehung Jesu zu überzeugen! Als Fazit zur Bestimmung der Jünger als Gruppe in Joh 13–17 ist festzuhalten, dass Johannes die beim letzten Mahl anwesende Personengruppe unbestimmt hält. Sie zeichnen sich aus durch ihre Liebesgemeinschaft mit Jesus (13,1), die zu einer Liebesgemeinschaft mit Gott führt (vor allem 17,20–26). Durch die Zugehörigkeit zu Jesus und Gott unterscheiden sie sich von denen, die Eigentum des Kosmos sind (15,19; 17,14). Viele Metaphern und Beschreibungen zeigen die Nachfolgegemeinschaft Jesu als eine Gruppe mit einer engen Verbundenheit, wie zum Beispiel die Familienmetaphorik (vgl. die Anrede als Kinder in 13,33), die auf Gegenseitigkeit fokussierten Weisungen Jesu (unter anderem 13,14 f.; 13,34 f.) oder die Bildrede vom Weinstock mit der Freundschaftsvorstellung  Vgl. dazu auch Abschnitt 5.4.3. zum anwesenden Personenkreis und zur Rolle der Zwölf. zum Beispiel Thyen ausgehend von Joh 6,66–71 in den Jüngerberufungen von Joh 1,35–50 ein „pars pro toto für die Einsetzung der Zwölf“ sehen will (Thyen, Johannesevangelium, 380), so ist dies doch eher als Eisegese denn als Exegese zu bewerten und nimmt den spezifischen und sich durch das ganze Johannesevangelium durchziehenden Textbefund zu den Zwölf nicht ernst; vgl. demgegenüber die Ergebnisse der narratologischen Analyse von Moloney, Gospel, 229 f. 81  Vgl. Thompson, John, 162–164.303–305. 82 Vgl. Mk 8,27–30; Mk 3,16–19 und Mk 14,18 f. mit den jeweiligen Parallelen, dazu Zumstein, Johannesevangelium, 277–283. Nicht einmal Judas wird in Joh 13 als ein Mitglied des Zwölferkreises bezeichnet (13,2.11.18.21.26 f.30), was im Vergleich mit Mk 14,18 f. parr. überrascht. 79

80 Wenn

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(15,1–17).83 Johannes beschreibt oder bezeichnet die Anwesenden jedoch nicht als ‚die Zwölf‘. Vom Text her wird nahegelegt, dass die zu Jesus gehörenden ‚Seinen‘ anwesend sind, womit narratologisch in der Schwebe bleibt, ob nicht möglicherweise sogar alle seiner aktuellen Nachfolgerinnen und Nachfolger teilnehmen (13,1; 17,13–16.20). Diese Beobachtung ist nicht historisch auszuwerten mit Blick auf die Frage, ob nach der Vorstellung des Johannesevangeliums Jesus nun nur noch eine kleine Gruppe von Nachfolgenden hat oder ihm sogar nur die Zwölf treu geblieben sind (vgl. Joh 6,67).84 Diese Beobachtung ist vielmehr narratologisch ernst zu nehmen, wenn es um die Frage geht, wer zu ‚den Seinen‘ gehören kann oder könnte, die hier bei einem letzten intimen Mahl mit Jesus seine Zuwendung und seine Weisungen erhalten: ihr Kreis bleibt offen!85 Sogar bei den individuell hervorgehobenen Jüngern sind nicht alle namentlich genannt, da ausgerechnet derjenige, der auf dem hervorgehobenen Ehrenplatz liegt und räumlich die größte Nähe zu Jesus hat, anonym bleibt (13,23–25). Die beim letzten Mahl anwesende Jüngergruppe repräsentiert damit im Johannesevangelium alle Jüngerinnen und Jünger Jesu.86 In einem zweiten Schritt soll nun untersucht werden, wie die bei Jesu letztem Mahl anwesende Jüngergruppe in Joh 13–17 direkt und indirekt durch Beschreibungen, durch ihr Handeln und Reden sowie durch Analogie charakterisiert wird. Direkte Charakterisierungen der Jünger durch die Erzählstimme finden sich in Joh 13–17 kaum. Judas Iskariot wird beschrieben als jemand, der mit der Auslieferung Jesu die Pläne des Teufels ausführt (13,2.27) und der unrein ist (13,11). Damit wird zugleich die von Jesus bereits ausgesagte Reinheit aller anderen Jünger (13,10) vom Erzähler bestätigt. Wiederholt heben Erzählerkommentare das Unverständnis der Jünger hervor (13,28; vgl. auch 11,12 f.; 21,4). Bereits in Joh 13,21 wird ihre Ratlosigkeit beschrieben (vgl. auch 11,12 f.; 21,4). Der Erzähler kündigt zwar an, dass die Jünger nach der Auferstehung Jesu Wirken besser verstehen werden, (2,22; 12,16), dies wird jedoch innerhalb der Erzählung nicht eingelöst (21,4) – es handelt sich um externe Prolepsen.87 83  Vgl. v. a. Van der Watt, Redefinition, 115 f.126 f.; ders., Family, 304–323; Thompson verweist auf die „corporate dimensions of discipleship“; Thompson, John, 304. 84  Thyen geht explizit davon aus, dass „nur die Zwölf mit Petrus als ihrem Sprecher Jesus treu geblieben sind“; Thyen, Johannesevangelium, 597; ähnlich Culpepper, Gospel, 220. 85  Vgl. Joh 13,20, wo Jesus nicht nur eine bestimmte Gruppe ausgesandter Jünger als seine Boten und Botinnen anspricht, sondern durch die Formulierung der Botenformel in der dritten Person alle, die er sendet, in gleicher Weise in die Botenvorstellung aufnimmt! 86  Diese Transparenz hat Bultmann festgehalten, wenn er davon spricht, dass im Johannesevangelium beim letzten Mahl Jesu die Gemeinde Jesu konstituiert und ihr ein eigenes Gesetz gegeben werde; vgl. Bultmann, Johannesevangelium, 349.361.365. Auch Schnackenburg spricht explizit vom Mahl „im Kreis der Seinigen“, Schnackenburg, Johannesevangelium, 6. 87  Vgl. Hylen, Disciples, 220; zu den Analepsen und Prolepsen im Johannesevangelium vgl. Culpepper, Anatomy, 56–70.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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Indirekte Charakterisierungen der Jünger durch ihr Handeln und Reden finden sich ebenfalls nur wenige. Die namentlich genannten Jünger Petrus (13,6– 11.24.36–38), Thomas (14,5), Philippus (14,8 f.) und Judas (14,22) zeichnen sich insgesamt vor allem durch ihre Fragen aus, die ihre Unwissenheit zeigen und zum Teil auch weitergehendes Missverstehen ausdrücken.88 In Joh 13 zeigt sich das vor allem im Gespräch mit Petrus und bei der Ankündigung des Verräters. In Joh 13,22 reagieren die Jünger als Gruppe voller Ratlosigkeit (ἀπορούμενοι) auf die Verratsankündigung Jesu. Obwohl Jesus ankündigt und auf Nachfrage erläutert, was geschehen wird (13,10.18 f.21.26), verstehen explizit „alle“ nicht, was passieren wird (13,28).89 Durch eine Fokalisierung der Gedanken der Jünger, bei der die Lesenden von der Erzählstimme mehrere falsche Deutungen des Geschehens erfahren (13,29; vgl. auch 11,13), wird ihre Verständnislosigkeit für die Lesenden sogar exemplarisch vor Augen geführt. In Joh 16,16–19 wird die Ratlosigkeit der Jünger als Gruppe mit Blick auf die Aussage Jesu von der „kleinen Weile“ erneut sichtbar, und das bei einem Thema, das bereits in Joh 13,33 von Jesus angesprochen wurde und sich wie ein roter Faden durch die Abschiedsrede zieht (vgl. 14,19). Sie verstehen Jesu Rede nicht und wenden sich nicht einmal mit ihrer Frage an Jesus, der ihr Frage jedoch erkennt und von sich aus den Sachverhalt erklärt (16,17–19; ähnlich auch 21,12). Kurz vor Abschluss der Tischgespräche erklären die Jünger, dass sie „jetzt“ Jesus umfassend erkannt haben und glauben, dass er von Gott ausgegangen sei (16,30). Diese Aussage wird vom Erzähler nicht kommentiert, allerdings sofort von Jesus in Frage gestellt (16,31). Für die Lesenden wird damit die Selbstbeschreibung der Jünger mit Blick auf ihre Glaubwürdigkeit grundlegend in Zweifel gezogen.90

Die indirekte Charakterisierung der Jünger durch ihr Handeln in Joh 13–17 und die direkte Charakterisierung durch den Erzähler legen folglich nahe, dass alle Jünger in ihrem Glauben unverständig und gefährdet sind und der Ermutigung und Fürbitte Jesu bedürfen (16,32 f.; 17).91 Ein abschließender Blick soll nun auf die in den Reden bzw. im Gebet Jesu (Joh13–17) enthaltenen, auf die Gegenwart und die Zukunft bezogenen Zuschreibungen Jesu sowie auf die Forderungen Jesu an seine Jünger gelenkt werden. Hier zeigt sich ein überraschend anderes Bild. Denn sowohl mit Blick auf die Gegenwart als auch für die Zukunft macht Jesus weitreichende, zum großen Teil 88  Ein für die Darstellung des Johannesevangeliums typischer Zug der Jünger; vgl. Hylen, Disciples, 218, die von „blatant incomprehension“ spricht; zu ihrer textpragmatischen Funktion vgl. Culpepper, Anatomy, 115: „not exemplars of perfect faith, but of posivite responses and typical misunderstandings“. 89  Vgl. dazu die Charakterisierung des anonymen Jüngers. 90 Vgl. ausführlich Hylen, Disciples, 219. Auch Culpepper sieht, dass der Glaube der Jünger nach wie vor „imperfect“ sei, geht aber davon aus, dass Tod, Auferstehung und Verherrlichung Jesu die Jünger befähigen, alles zu verstehen; Culpepper, Anatomy, 119. Damit unterstellt Culpepper implizit eine Entwicklung von unverständigen zu verständigen Jüngern. Dies nimmt jedoch das eigenwillige johanneische Nebeneinander von Bestätigungen ihres Glaubens einerseits und Offenlegung ihres Missverstehens oder ihrer Untreue andererseits gerade nicht ernst. 91 Vgl. z. B. Lk 22,32, wo die Fürbitte Jesu ausschließlich dem Petrus verheißen wird.

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nicht an Bedingungen geknüpfte Aussagen über den Glauben und die Verantwortung der Seinen, während er zugleich ihre Aufnahmefähigkeit, ihr Verständnis und auch ihre Treue wiederholt in Frage stellt. Mit Blick auf die Gegenwart macht Jesus zahlreiche positive Aussagen über ihren Glauben und ihre Rolle. Er stellt grundlegend fest, dass die Jünger rein und geheiligt sind (13,10; 15,3). Die Heiligkeit der Jünger geht auf die andauernde Initiative Jesu zurück (17,19; vgl. 17,17). Die Jünger wissen über Jesus, Gott und die Ereignisse Bescheid bzw. sind von Jesus umfassend informiert (13,13; 14,4.7.17; 17,14; vgl. 14,9). Die Jünger wurden von Jesus  – mit Ausnahme von Judas  – vor Untreue und Abwendung bewahrt (17,12). Die Seinen sind Jesu Freunde und Vertraute, Erwählte, Gesandte und Zeugen (13,16.17.20; 15,15.16.19.27; 17,14.16.18). Durch die Frucht, welche die Jünger bringen, tragen sie zur Verherrlichung Gottes bei (15,5.8). Die Jünger werden von Gott und Jesus geliebt (vor allem 13,1; 16,27). Die Jünger lieben Jesus und glauben an ihn (16,27). Sie partizipieren an der gegenseitigen Einwohnung von Gott und Jesus und an deren Einheit (vor allem 17,22). Und trotzdem werden Glaube und Verständnis der Jünger von Jesus auch in Zweifel gezogen, ohne ihnen deshalb ihren Status als Jünger und die damit verbundenen Verheißungen und Aufgaben abzusprechen (16,12.31). Die weitreichenden Zusagen, die Jesus im Rahmen des letzten Mahls macht, werden durch den Unglauben, das mangelnde Vertrauen und Verstehen der Jünger folglich nicht aufgehoben. Mit Blick auf die Zukunft beschreibt Jesus noch deutlicher die Treue seiner Jünger und deren bleibende Gemeinschaft miteinander, mit Gott und mit ihm, außerdem ihre Aufgabe als seine Gesandten: Sie werden nach Jesu Abschied seine Nähe suchen und finden und in Beziehung zu Jesus bleiben, glauben und erkennen (13,33; 14,19.20; 16,20.25). Die Jünger werden als Jesu Schülerinnen und Schüler wirken und erkennbar sein (13,35; 14,12.15). Sie werden wie Jesus Akzeptanz und Aufnahme einerseits, Hass und Verfolgung andererseits erfahren (15,20; 16,2). Gott, Jesus und der Paraklet werden den Jüngern beistehen und ihre Bitten erhören (14,3.14.16–18; 15,26; 16,7.13.14.22). Es wird eine Liebesgemeinschaft zwischen Gott, Jesus und den Seinen entstehen (14,21.23.26 f.). Doch bei all den Zusagen gilt auch, dass ihre Gemeinschaft zunächst durch Jesu Abschied gefährdet ist und sie alle Jesus untreu werden, wenn er seinen letzten Weg geht (16,32). Die direkten Befehle Jesu an seine Jünger sind überschaubar und decken sich zum Teil inhaltlich mit den Zuschreibungen Jesu für ihre Gegenwart bzw. für ihre Zukunft. Zum Teil sind die Aufforderungen Jesu jedoch nur indirekt als Weisungen oder Erwartungen formuliert, ohne dass sprachlich ein Imperativ verwendet wird, was für die Aufforderung zur Nachahmung der Fußwaschung ebenso wie für das Liebesgebot gilt: Die Seinen sind verpflichtet – wie ihr Lehrer und Herr  – sich gegenseitig die Füße zu waschen und nach seinem Vorbild handeln (13,14 f.). Sie sollen sich – nach dem Vorbild Jesu – gegenseitig lieben,

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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was von Jesus als neues Gebot eingeführt und im Laufe der Abschiedsrede wiederholt gefordert wird (13,34 f.; 15,12.17). Weitere Forderungen werden explizit als Imperative formuliert92: Judas’ Handeln geht auf einen Befehl Jesu zurück, der von ihm verlangt, schnell zu handeln (ὃ ποιεῖς ποίησον τάχιον) (13,27). Die Jünger werden aufgefordert, sich nicht verunsichern zu lassen und keine Angst zu haben (14,1.27). Sie sollen an Gott und an Jesus glauben (14,1), Sie sollen an die Immanenz von Vater und Sohn glauben (14,11). Die Jünger werden während des Mahls aufgefordert, aufzustehen und wegzugehen (14,31). Die Seinen sollen in der Immanenz mit Jesus bleiben (15,4), in seiner Liebe (15,9). Sie sollen bitten, was sie wollen, mit der Verheißung, dass ihre Bitte erfüllt wird (15,7). Sie sollen daran denken, dass die Welt Jesus vor ihnen gehasst hat (15,18). Sie werden in diesem Zusammenhang explizit aufgefordert, sich an ein – ergänztes – Logion aus Joh 13,16 zu erinnern: „Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie mein Wort gehalten haben, werden sie auch das eure halten“ (15,20). Die Jünger sollen bitten, so dass sie empfangen, um vollkommene Freude zu haben (16,24). Sie sollen mutig sein im Wissen, dass Jesus die Welt bereits besiegt hat (16,33). Insgesamt zeigen die Zuschreibungen, Aufforderungen und als direkte Befehle Jesu formulierten Forderungen in Joh 13–17 ein umfassendes Bild von Jüngerschaft im Johannesevangelium. Der Schwerpunkt dabei liegt nicht auf den Schwächen der Seinen, obwohl Jesus das mangelnde Vertrauen, die große Verunsicherung und ihr Missverstehen durchaus wahrnimmt. In den Reden Jesu überwiegen vielmehr die Zusagen. Die Seinen sind durch die Liebe Jesu – zeichenhaft dargestellt durch die Fußwaschung  – in die Liebesgemeinschaft zwischen Vater und Sohn aufgenommen und sie können sich der bleibenden Treue und Unterstützung des Vaters, des Sohnes und des Parakleten gewiss sein. Zugleich sind sie aufgefordert, zu vertrauen, zu bitten, zu lieben, Frucht zu bringen und Gott zu verherrlichen und darin an der Sendung teilzuhaben, die Jesus selbst lebt, und so die Liebe Gottes nach Jesu Abschied in der Welt präsent zu halten. Als wichtiges Ergebnis mit Blick auf die Charakterisierung der Jünger in Joh 13–17 lässt sich festhalten, dass diese sowohl vom Erzähler als auch von Jesus eindeutig als die geliebten und zu Jesus gehörenden Seinen bezeichnet werden und dass sie dennoch in ihrem Verstehen, in ihrem Glauben und in ihrer Treue zu Jesus als unvollkommen dargestellt werden (vgl. vor allem 13,1–3.10 f.; 16,17.29– 33; 17,20–26). Sie bedürfen seiner Ermutigung und Fürbitte, wie vor allem Joh 92 Zum Teil sind die Formen unklar und können sowohl als Imperativ als auch als Indikativ verstanden werden, das gilt z. B. für πιστεύετε: 14,1; 14,11. Das gilt auch für Joh 13,12, wo die Frage nach dem Verstehen als Imperativ (vgl. 15,18) interpretiert werden könnte, im Sinne von: „Erkennt, was ich euch getan habe!“ Doch auch die Frage hat appellativen Charakter.

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13,21–38 und Joh 16,17.29–33 zeigen, sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft. Dieses ambivalente Bild der Seinen hält Jesus jedoch nicht davon ab, sie schon in der Gegenwart in seine Sendung einzubeziehen. Jesus sieht seine Nachfolgegemeinschaft verpflichtet, sich gegenseitig Füße zu waschen, sich gegenseitig zu lieben und in der Liebesgemeinschaft von Gott und Jesus zu bleiben (vor allem 13,1–20; 13,34 f.; 15,1–16,4a). Auf diese Weise werden seine Schülerinnen und Schüler Jesus und Gott verkünden und als Jünger Jesu erkennbar sein (13,14 f.34 f.; 15,4.9.12.17; 17,20.23–26). Dabei ist bemerkenswert, dass die Jünger gemäß den Formulierungen Jesu schon gegenwärtig Zeugnis für Jesus und Gott ablegen und von Jesus als seine Gesandte sowie als Gesandte Gottes bezeichnet und betrachtet werden (13,20; 15,18–20.27; 17,18).93 In den Zusagen für die Gegenwart und in den Verheißungen für die Zukunft in Joh 13–17 erscheinen die Seinen in der Rolle von Gesandten und Zeugen, in denen die Liebe Gottes und die Liebe Jesu in der Welt präsent und erkennbar ist und sein wird. Wichtig ist hier vor allem die Beobachtung, dass diese vom johanneischen Jesus für die Seinen vorgesehene Rolle nicht in den explizit formulierten Imperativen sichtbar wird, die eher auf der allgemeinen Ebene des Zuspruchs und der Ermutigung im Angesicht des Abschieds Jesu bleiben. Wenn in der Exegese schwerpunktmäßig nach Imperativen gefragt wird, um die Rolle der Jünger zu bestimmen, führt die Analyse der johanneischen Darstellung zu dem Ergebnis, dass die Jünger in der Abschiedsrede Jesu vor allem als Verängstigte und Verunsicherte in den Blick geraten, die deshalb von Jesus zum Bleiben, zur Zuversicht und zum Glauben angesichts seines Abschieds aufgefordert werden. Damit wird das johanneische Bild der Jünger zum Zeitpunkt des letzten Mahls Jesu und seines Abschieds jedoch nicht sachgerecht wahrgenommen. Erst wenn der Fokus auf die eher wenigen Imperative aufgegeben und die zahlreichen Be- und Zuschreibungen Jesu wahrgenommen und berücksichtigt werden, ist es möglich, die Rolle der Seinen adäquat zu beschreiben. In diesem Kontext wirken auch Verse wie Joh 13,16.20 oder 15,20 nicht mehr als Fremdkörper in der Rede Jesu während des letzten Mahls mit den Seinen. Für die Ekklesiologie ist außerdem bedeutsam, dass gemäß der Darstellung in Joh 13–17 die Seinen nicht als Einzelne und auch nicht aus sich selbst heraus aktiv werden, sondern als Nachfolgegemeinschaft und in der Gemeinschaft mit Jesus, Gott und dem Parakleten (vor allem 15,1–17). Das bleibende Angewiesensein der Seinen auf Jesus zeigt sich bereits in der besonderen Formulierung des Liebesgebots, welches die Liebe Jesu zu den Seinen als Grundlage und Norm propagiert (13,34 f.; vgl. auch 13,14 f.; 15,5.9.12.16). 93  Van der Watt bewertet die Beteiligung der Jünger an der Mission Jesu als „significant (habitual) action that can be identified among the followers of Jesus“ und verweist neben Joh 17,18; 20,21 f. auch auf 15,26; 16,13 sowie 3,14–21; 12,36 und 1,33; Van der Watt, Redefinition, 127.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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Die Beauftragungen zum Lieben und zum Bezeugen sowie Aussagen zum bereits stattfindenden Wirken der Jünger werden in Joh 13–17 ausnahmslos mit Blick auf die ganze Gruppe formuliert (vor allem Joh 13,12–20; 34 f.;15,1– 17.20.27; 17,18.20–23). Auch die zukünftigen Nachfolgenden schließt Jesus am Ende seines Gebets in die Fürbitte nach Bewahrung und Einswerdung ein (17,20–26). Daraus geht hervor, dass bis Joh 17,20 zwar ausschließlich die in der erzählten Situation anwesenden Jünger als (textinterne) Adressaten angesprochen sind,94 dass die Erzählung jedoch auch die (textexternen) Lesenden und damit die nachösterlichen Jünger und Jüngerinnen Jesu im Blick hat. Gerade die Transparenz und Offenheit der anwesenden Jüngergruppe für alle Seinen lässt als Erzählstrategie erkennen, dass es in Joh 13–17 um die Nachfolgegemeinschaft insgesamt geht, oder wie es schon Rudolf Bultmann für den Abschnitt über die zugrundeliegende Zeichenhandlung in 13,1–30 formulierte, um die „Konstituierung der Gemeinde und ihr Gesetz“95. Ernst zu nehmen ist für die Interpretation der Fußwaschungserzählung, dass in Joh 13–17 der Zwölferkreis nicht einmal Erwähnung findet. Während in Joh 6,70 f. (vgl. Lk 22,3.47) Judas als derjenige charakterisiert wird, der von Jesus erwählt wurde und auch zum Zwölferkreis gehört, spielt dies in Joh 13 mit Blick auf Judas keine Rolle mehr (Joh 13,11.18 f.21–29). Obwohl Jesus in Joh 15,16–19 die Erwählung thematisiert, werden die ‚Zwölf‘ hier nicht erwähnt. Dem entspricht die Erläuterung Jesu in Joh 17,6–12: Jesus hat bis auf Judas all die Menschen bewahrt, die der Vater ihm gegeben hat und für diese bittet Jesus jetzt. Die ‚Zwölf‘ werden auch in diesem zentralen Gebet an der Schwelle zum Abschied Jesu und zur nachösterlichen Zeit nicht einmal als eigene Gruppe benannt. Es wird vielmehr auch im abschließenden Gebet Jesu vorausgesetzt, dass die Gruppe seiner Jüngerinnen und Jünger, die er gesandt hat, wie Gott ihn gesandt hat (17,18), größer ist als die namentlich bekannten bzw. als der Zwölferkreis. Durch das Zeugnis seiner – unbestimmt bleibenden – Jünger wird die Gruppe der in Zukunft Jesus nachfolgenden Seinen größer werden (17,18–20). Und auch für diese gilt, was Jesus erläutert, erwartet und verheißt.

Auch wenn in Joh 1–12 keine Aussendung der Jünger in Entsprechung zu Aussendung der Zwölf bei den Synoptikern (Mk 6,6b–13; Mt 10,1.5–14; Lk 9,1–6)96 während des Wirkens Jesu erzählt wird, setzen der johanneische Jesus ebenso wie der Erzähler voraus, dass die Jünger in Jesu Namen von Jesus Zeugnis ablegen und Menschen in die Nachfolge rufen.97 Bereits Culpepper hat beobachtet, 94  Dieser Personenkreis entspricht der erzählten Situation, gemäß der Jesus als Erzählfigur sich von seinen bei einem letzten Mahl mit begrenzten Sitzplätzen anwesenden Jüngern verabschiedet und ihnen wichtige Weisungen erteilt, die für die unmittelbar bevorstehende Zeit seines Abschieds gelten. 95  Bultmann, Johannesevangelium, 351. 96  Vgl. außerdem die Aussendung der Siebzig in Lk 10,1–12 mit Mt 9,37 f. und Joh 4,35 sowie Lk 22,35–38. 97  Beasley-Murray weist daraufhin, dass Johannes Material mit Anweisungen Jesu für seine Jünger, das sich in den Synoptikern während des gesamten Wirkens Jesu findet, in Joh 13–16 konzentriert, wobei er v. a. auf Lk 22,14–38 verweist, wo sich ebenfalls in konzentrierter Form

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

dass sich ausgerechnet mit Blick auf die Berufung und Beauftragung der Jünger mehrere Anachronien in der Erzählung des Johannesevangeliums finden lassen und verweist auf Joh 4,38; 6,70; 15,15; 15,16 (mit Verweis auf 13,18 und 15,19) sowie auf 17,18:98 „These verses are peculiar because they point to a calling and commissioning scene (like Mark 3:13–19) which is omitted from John.“99 Er stellt fest, dass auf der anderen Seite die Jünger Jesu von Anfang an – selbst wenn sie nicht von Jesus selbst in die Nachfolge gerufen wurden – andere Menschen in die Nachfolge rufen und zu Jüngern machen, ein Phänomen, das sich bereits in Joh 1 zeige und der Erfahrung der nachösterlichen Lesenden entspreche, die nach Ostern ebenfalls selbst nicht unmittelbar von Jesus berufen worden seien.100 Das Handeln der Jünger im Sinne einer Beauftragung durch Jesus sowie die zahlreichen Hinweise Jesu auf eine geschehene, wenn auch nicht erzählte Erwählung (6,70; 15,16) und die damit verbundene Sendung bzw. Beauftragung durch Jesus (4,38; 15,16; 17,18) ist im Sinne einer elliptischen Darstellung des Johannesevangeliums ernst zu nehmen. Culpepper bezeichnet dies zurecht als „internal analepse“ bzw. als „completing analepse“ im Sinne von Genette.101 D. h. es wird mit Blick auf die Zeugenfunktion der Jünger eine Beauftragung der Jünger durch Jesus zwar als geschehen vorausgesetzt, aber nicht erzählt. Bei der Erzählweise des Johannesevangeliums kann nicht immer vorausgesetzt werden, dass alle wichtigen Ereignisse der Geschichte auch in der Erzählung formuliert werden. So kann sich Jesus auch auf Aussagen berufen, die er – gemäß der Erzählung des Johannesevangeliums – nicht gemacht hat, bzw. richtig formuliert: die gemäß der Erzählung des Johannesevangeliums zwar stattgefunden haben, aber nicht oder erst nachträglich erzählt werden (vgl. 4,8; 11,40). Diese Ellipsen werden nur zum Teil durch interne Analepsen sichtbar gemacht.102 „Interne Analepsen füllen Lücken auf, die der Erzähler beim Erzählen der Basiserzählung zunächst gemacht hat. Wenn er dies nicht markiert, wird dem Leser erst in Folge der internen Analepse bewusst, dass der Erzähler ihm zu dem früheren Zeitpunkt seines Berichts Wissen vorenthalten und Leerstellen gelassen hat.“103 Mit Blick auf die „Dauer“ im Kontext der Zeitstruktur entspricht dies einer „extremen Zeitraffung“: Sie liegt vor, „wenn der Erzähler das Erzähltempo so stark beschleunigt, dass Zeiträume übersprungen werden und so gewisse Geschehenselemente gar nicht zur Darstellung kommen. Dieser Sonderfall heißt Ellipse oder auch Aussparung oder Zeitsprung […]. Eine Ellipse kann entweder markiert oder unmarkiert sein: Wir sprechen dann von einer expliziten

Anweisungen zu Aussendung und Rolle der zwölf Apostel findet; Beasley-Murray, John, 222.  98  Vgl. Culpepper, Anatomy, 59.  99  Culpepper, Anatomy, 59. 100  Vgl. Culpepper, Anatomy, 59. 101  Culpepper, Anatomy, 58 f. mit Verweis auf Genette, Discourse, 51. 102  Es ist möglich, dass in einer Erzählung Elemente des Geschehens nicht explizit erzählt werden. In diesem Fall spricht man narratologisch von einer Ellipse; vgl. Lahn/Meister, Einführung, 153. 103  Lahn/Meister, Einführung, 150. Vgl. z. B. Joh 12,40, wo sich Jesus auf eine Aussage beruft, die im Rahmen der Erzählung nicht geschildert wurde.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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bzw. impliziten Ellipse“.104 Anhand von Joh 1,19–34 hat Culpepper ausführlich untersucht und dargestellt, wie stark das Johannesevangelium mit Anachronien, mit Analepsen und Prolepsen arbeitet, und er kommt zu dem Ergebnis, dass die entstehenden offenen Fragen textpragmatisch das besondere Interesse der Lesenden wecken.105

Narratologisch ist es dann jedoch inkonsequent, Aussagen Jesu zur Sendung der Jünger (wie 4,38; 6,70; 13,16.20; 15,16.27; 17,18) und das entsprechend beschriebene Handeln der Jünger zu übergehen, indem man das Ereignis einer Beauftragung und Aussendung der Jünger erst in Joh 20,21–23 verortet und zu erklären versucht, warum alle vorausgehenden, auf eine Ellipse hindeutenden Erzählzüge auf etwas verweisen, was „eigentlich“ noch nicht geschehen ist. Culpeppers Fazit, das einem Forschungskonsens der aktuellen Johannesexegese entspricht, kann folglich nicht überzeugen: „The choosing of the twelve begins in the first chapter, but it is not completed and their commissioning does not come until 20:21–23“.106 „The disciples are finally commissioned and inspired (literally) for their work as apostles (20:21–23).“107 Die Analyse der Fußwaschungserzählung wird zeigen, dass an der These, eine Aussendung und Beauftragung der Jünger Jesu finde erst nachösterlich in 20,21–23 statt, nicht festgehalten werden kann. Vielmehr ist mit Blick auf die Beauftragung oder Aussendung festzuhalten, dass vor der Fußwaschungserzählung mit den sich anschließenden Erläuterungen Jesu keine Erwählung oder Beauftragung der Jünger durch Jesus erzählt wird, auch wenn diese offensichtlich vorausgesetzt ist. In Joh 13–17 werden die Seinen schließlich als von Jesus erwählte und beauftragte Jünger angesprochen und explizit in die Sendung Jesu (vor allem 13,16.20; 15,20.27; 16,2; 17,14.18) und damit zugleich in die Liebesgemeinschaft zwischen Gott und Jesus einbezogen (14,21.23; 16,27; 17,20–23), in denen die Liebe Gottes und die Liebe Jesu wohnen. Die Seinen sind so als Nachfolgegemeinschaft Jesu in der Welt präsent und erkennbar (vor allem 13,35; 15,8.19; 17,23). Dies gilt, obwohl die Treue der Jünger zu Jesus als eine gefährdete und unsichere beschrieben wird, so dass alle Jünger auf die Fürbitte Jesu angewiesen sind (Joh 17).108

104 Lahn/Meister,

Einführung, 153.  Culpepper, Anatomy, 55 f.; vgl. auch Attridge, Signs, 267–288. 106  Culpepper, Anatomy, 59. 107 Culpepper, Anatomy, 119. 108  Vgl. Lk 22,31 f., wo nur Petrus als dem Sprecher und der Leitungsfigur der zwölf Apostel die Fürbitte Jesu zugesagt wird. Damit wird einerseits seine Gefährdung im Glauben von Jesus im Vorfeld der Verleugnungsankündigung benannt, andererseits wird deutlich gemacht, dass Petrus nicht vollkommen sein muss, um seiner Beauftragung als Apostel nachzukommen. 105

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

5.4.5. Zur Charakterisierung des Petrus An der Figur des Petrus (13,37 f.) wird ebenso wie an der Gruppe der Zwölf mit Blick auf Judas und Thomas gezeigt, dass die Zugehörigkeit zu Jesus im Verlauf des Johannesevangeliums aus der Perspektive der Jünger immer wieder gefährdet ist (vgl. 6,70 f.; 13,18 f.;20,24 f.). Ausgerechnet Petrus, einer der geliebten Jünger Jesu, Mitglied der Zwölf und zum Teil auch deren Sprecher, der als der „Fels“ bekannt ist (1,42), verleugnet seine Zugehörigkeit zu Jesus als dessen Schüler im entscheidenden Moment (18,17.25.27, vgl. 18,19–21) und erfährt nach Jesu Auferstehung als erster, dass die Liebe Sündenvergebung ermöglicht und einen Neuanfang auch mit Blick auf die Verpflichtung bzw. Beauftragung in der Nachfolgegemeinschaft möglich macht (20,22; 21,7.15–19; vgl. Lk 7,47).109 Erst nach einer individuellen (erneuten) Beauftragung wird Jesus ihm ankündigen und auftragen (21,15–19), was Petrus selbst in Joh 13,37 zugesagt hat: die Nachfolge bis in den Tod. Es stellt sich deshalb die für die Interpretation von Joh 13 bedeutsame Frage, wie die Rolle des johanneischen Petrus einzuschätzen ist: Agiert er in Joh 13 als ein Jünger mit einer besonderen Rolle bzw. Beauftragung als Leitungsfigur, der sich als Fels, als Sprecher der Zwölf und mit der späteren Beauftragung als Hirte (Joh 21,15–18) von den anderen Jüngern unterscheidet, oder ist Petrus – sowohl mit seinen Schwächen als auch mit seiner besonderen Beauftragung – ein typischer Jünger110. Was zum Beginn der Analyse der Charakterisierung der Jünger mit Blick auf den Forschungsstand festgestellt wurde, muss mit Blick auf Petrus noch deutlicher wiederholt werden.111 Angesichts der weitgehend fehlenden direkten Charakterisierungen durch den Erzähler gründet sich die Beurteilung der Rolle des Petrus auf die Interpretation der erzählten indirekten Charakterisierungen,112 die mit den jeweiligen Einschätzungen der Exegetinnen und Exegeten zur Christologie und Ekklesiologie sowie zur Entstehung und zur Gemeindesituation des Johannesevangeliums in Verbindung stehen.113 Nicht zuletzt bedingen sich die Beurteilung der Charakterisierung von Petrus und dem ‚geliebten Jünger‘, die wiederholt exponiert paarweise in Schlüsselszenen zur Nachfolge und damit in ekklesiologisch relevanten Zusammenhängen des Johannesevangeliums auf109  Die These, gemäß der Petrus reifen und Demut lernen musste, um dann doch eine Leitungsrolle unter den Jüngern zu haben (so z. B. Culpepper, Anatomy, 121; ähnlich Schultheiss, Petrusbild, 305–308), ist jedoch differenzierter zu betrachten, wenn die Fußwaschung nicht als Sklavendienst mit Verweis auf den Tod Jesu interpretiert wird. 110  So ein wichtiges Ergebnis von Schultheiss, Petrusbild, 274–280.305–314. 111 „The Johannine Peter is a complex narrative figure who appears in a number of episodes that depict him in positive, neutral, and negative ways“, Labahn, Simon, 152. 112  Vgl. Labahn, Simon, 152; vgl. ausführlich Blaine, Peter, 29–183; Dschulnigg, Jesus, 51–81; Hartenstein, Charakterisierung, 157–211; Schultheiss, Petrusbild, 80–188.232–279; Wucherpfennig, Petrusamt, 72–100; knapp und präzise Culpepper, Anatomy, 119–121. 113  Vgl. dazu die Studie von Schultheiss, Petrusbild, zu einem Forschungsüberblick insbesondere a. a. O. 8–47.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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treten, wobei in der neutestamentlichen Forschung vor allem die Überlegenheit des Anonymus vertreten wird, nur zum Teil eine Gleichrangigkeit und kaum eine Vorrangstellung des Petrus.114 Im Johannesevangelium findet sich nur eine einzige direkte Charakterisierung des Petrus durch einen Erzählerkommentar, welche sich auf seine Nacktheit bezieht (Joh 21,7). Alle weiteren Charakterisierungen erfolgen indirekt durch sein Reden und Handeln115, durch Jesus und durch Analogie zu anderen Erzählfiguren. Insgesamt fällt auf, dass er den anderen Jüngern gegenüber oft nicht die beste Figur abgibt.116 Dies ist besonders augenscheinlich im Vergleich mit dem ‚geliebten Jünger‘, der häufig mit Petrus gemeinsam auftritt, so dass die beiden Erzählfiguren ab Joh 13 in Analogie zueinander stehen und sich auf indirekte Weise gegenseitig charakterisieren. Die erste Erwähnung des Petrus im Johannesevangelium geschieht zur Identifizierung seines Bruders Andreas (1,40; vgl. 6,8; ähnlich auch 1,44).117 Petrus wird zwar in Joh 1,42 von Jesus als „Fels“ bezeichnet118, gehört aber im Johannesevangelium nicht zu den Jüngern, die unmittelbar von Jesus selbst berufen und zur Nachfolge aufgefordert werden (1,41 f.).119 Berücksichtigt man zudem 114 Zu

dieser Frage Schultheiss, Petrusbild, 42–45.  Auch seine Niedergeschlagenheit in Joh 21,17 wird mit einem finiten Verb als Handlung des Petrus ausgedrückt. 116 Hunt bringt es auf den Punkt: „And, as is often the case, when juxtaposed with someone else in this Gospel, it is Peter who looks the poorer for it“; Hunt, Nathanael, 197. Dies wird besonders deutlich, wenn man die johanneische Darstellung mit den Synoptikern vergleicht. Hengel schreibt knapp: „Erst Joh durchbricht mit dem Petrus in bezug auf die Nähe zu Jesus überlegenen Lieblingsjünger, mit Philippus, Thomas und einigen anderen Namen diese typisch synoptische Reduktion [auf Petrus als die maßgebliche Jüngergestalt; Erg. der Verf.in], die bei Mt am stärksten ist.“; Hengel, Petrus, 41 f. 117 Auch wenn der Verfasser voraussetzen kann, dass den Lesenden Petrus bekannt ist, worauf zurecht hingewiesen wird (u. a. Hartenstein, Charakterisierung, 206; Schultheiss, Petrusbild, 87), ist diese knappe Einführung des Petrus als völlig passive Erzählfigur für die johanneische Erzählung nicht ohne Belang; vgl. dazu Culpepper, Anatomy, 105. Gerade die Einführung einer Erzählfigur ist im Sinne des primacy effect besonders ernst zu nehmen, vgl. Lahn/Meister, Einführung, 179. Es ist nicht auszuschließen, dass dies den zeitgenössischen Lesenden möglicherweise sogar noch mehr als den heutigen Exegetinnen und Exegeten aufgefallen ist; im Vergleich der johanneischen Darstellung mit den synoptischen Berufungserzählungen zeigt sich dies noch deutlicher; vgl. dazu Bultmann, Evangelium, 76; Brown, Gospel I, 77; Theobald, Evangelium I, 175–178. 118  Während viele Exegetinnen und Exegeten in dieser knapp erzählten Namensänderung des Petrus selbstverständlich die spätere bedeutsame Rolle des Simon Petrus angelegt sehen (z. B. Theobald, Evangelium I, 183–185; Thyen, Johannesevangelium, 136 f.; Zumstein, Johannesevangelium, 109), wird und kann diese Stelle – insbesondere mit Blick auf die weitere Rolle des Petrus im Johannesevangelium – auch als Abwertung oder zumindest als ein Nivellieren oder Übergehen der Bedeutung des Petrus betrachtet werden; z. B. Hunt, Nathanael, 198 f. 119  Zur auffälligen Form der vermittelten oder indirekten Berufung vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 105 f.108 f. Die exklusiv an Petrus gerichtete Nachfolgeaufforderung erfolgt erst in Joh 21,18, nachdem Jesus ihm seinen Märtyrertod als einen unfreiwilligen, fremdbestimmten Abschnitt seines Lebensweges angekündigt hat. Und auch in diesem Moment muss Petrus mit 115

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

die Charakterisierung durch Analogie, ergeben sich durch den Kontext weitere wichtige Beobachtungen. Während Andreas, Philippus und auch Nathanael bei den Berufungserzählungen im Johannesevangelium aktiv handeln (1,40–51), verhält sich Petrus bei seinem ersten Auftreten ausschließlich passiv.120 Insbesondere im Vergleich mit Nathanael fällt die Passivität des Petrus auf: Auch Nathanael wird nur indirekt von Philippus berufen, er reagiert aber aktiv. Er fragt bei Philippus nach, geht dann selbst auf Jesus zu und führt mit Jesus ein Gespräch (1,45–50).121 In dessen Verlauf äußert er ein überraschendes Bekenntnis (1,49), auf das Jesus mit einer an Nathanael persönlich adressierten Verheißung antwortet (1,50). Die Namensänderung des Petrus erfolgt dagegen ohne Begründung, während Nathanael seinen Namen behält und von Jesus als „wahrhaftiger Israelit“ beschrieben wird (1,42.47). Die Schlussfolgerungen, die daraus für die Bedeutung der Petrusfigur gezogen werden, sind in der Johannesforschung denkbar disparat. Steven Hunt vergleicht ausgehend von dieser Bezeichnung Nathanael mit Jakob und Petrus mit Esau (Gen 32)122 und sieht Petrus entsprechend von Anfang an im Johannesevangelium als kritisch betrachtete Erzählfigur. Michael Labahn hält ausgehend vom gleichen Textbefund in 1,42 als Ergebnis fest, dass Petrus als „Fels“ zum Jünger berufen wurde und in seiner Berufung bereits seine spätere Rolle als Hirte impliziert sei.123 Es fehlt ein Erzählerkommentar, der in einer direkten Charakterisierung die Bedeutung des Petrus festhält oder auch in Frage stellt.

Als auffallende Textbeobachtung ist jedenfalls festzuhalten, dass Petrus als aktiv handelnde Erzählfigur erst in Joh 6,68 f. in Erscheinung tritt.124 Hier formuliert er als Sprecher des Zwölferkreises in der ersten Person Plural ein Bekenntnis. Jesus antwortet jedoch nicht ihm, sondern der gesamten Gruppe,125 indem er zwar ihre Erwählung feststellt, aber sofort die Integrität eines Jüngers aus ihrer Zwölfergruppe in Frage stellt (6,70; vgl. dagegen 1,50 f.).126 Petrus bekommt weeinem kurzen Blick auf den anonym bleibenden geliebten Jünger noch feststellen, dass dieser ihm bereits wieder voraus ist (21,20). 120 So richtig Hunt, Nathanael, 197; Zumstein, Johannesevangelium, 109; vgl. zu Joh 1,40– 42 auch Theobald, Johannesevangelium I, 175 f. 121  Vgl. Hunt, Nathanael, 197 f. 122 Hunt, Nathanael, 198 f. 123 Labahn, Simon, 152 f. 124  Bei Markus und Lukas ist die Namensgebung des Petrus mit der Berufung und Konstituierung des Zwölferkreises verbunden (Mk 3,16; Lk 6,14), während Matthäus diese in Mt 16,18 mit dem Christusbekenntnis des Petrus und einem Hinweis auf seine wichtige Rolle für die Gemeinde verknüpft; auch in der Johannesexegese wird sein Bekenntnis oft als theologischer Höhepunkt betrachtet, Theobald, Evangelium I, 495; Thyen, Johannesevangelium, 381 f.; Zumstein, Johannesevangelium, 281–283. 125  In Joh 1,50 antwortet Jesus auf das Bekenntnis des Nathanael ausschließlich an diesen einen Jünger. Ihm allein wird verheißen, dass er Größeres sehen wird. Sogar die alle betreffende Verheißung des offenen Himmels, die Jesus in der zweiten Person Plural spricht, ist als unmittelbare Antwort Jesu an Nathanael formuliert. 126  Vgl. Mk 8,29 par. Lk 9,18 par. Mt 16,16, wobei in Mt 16,17–19 Jesus explizit auf Petrus reagiert und ihm eröffnet, dass er sein Bekenntnis einer spezifischen Offenbarung des Vaters

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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der eine weitergehende Information zu der Person des späteren Verräters noch eine besondere Verheißung, Aufgabe oder Verantwortung für die Gruppe.127 Vielmehr wird durch diesen Abschluss des kurzen Dialogs die Integrität und Treue des gesamten Zwölferkreises in Frage gestellt. Thyen spricht von einer „heilsame[n] Unsicherheit“ für alle Zwölf.128 Zum Heil bzw. einer positiven Veränderung führt diese Ankündigung jedoch gerade nicht, da ja alles so eintritt, wie Jesus es hier voraussagt (vgl. Joh 13,1–30). Ein Rückbezug auf die zu Beginn der Szene gestellte Frage Jesu führt textpragmatisch vielmehr dazu, dass hier sowohl die erste als auch die letzte Erwähnung der Zwölf die Treue des Zwölferkreises problematisiert (6,67.70 f.).129 Erst in Joh 13 wird Petrus wieder erwähnt. Petrus lässt sich, im Unterschied zu den anderen Jüngern, von Jesus nicht einfach die Füße waschen, sondern beginnt ein Gespräch über den Sinn und Nutzen der Fußwaschung (13,6–11). Textpragmatisch eröffnen die wiederholten Missverständnisse des Petrus dem johanneischen Jesus die Möglichkeit, den Sinn der Fußwaschung zu erläutern und Missverständnisse abzuwehren, so dass man von den dumm und unreflektiert erscheinenden Fragen nicht zu schnell auf die Dummheit einer Erzählfigur schließen sollte. Vielmehr wird es im Johannesevangelium teilweise durchaus positiv gesehen, wenn Schülerinnen und Schüler ihre Fragen an Jesus nicht nur bedenken, sondern auch wirklich stellen (vgl. zum Beispiel 1,48; 9,2; 11,8; vgl. 4,27;16,16–19; 21,12). Andererseits stellen sie nach der Darstellung des Johannesevangeliums an einzelnen Stellen Jesu Lehren und Handeln auf eine für Jünger unangemessene Art und Weise in Frage und versuchen ihn von seinem Weg abzuhalten (6,60; 11,8), was auch für Petrus gilt (13,6.8.9; 18,10–11). Der Textbefund kann mit Blick auf die Charakterisierung durch Handlung dahingehend bewertet werden, dass Petrus in Joh 13,6–11 nicht nur verständnislos ist und Erläuterungen benötigt, sondern als ein Schüler agiert, der sich seinem Lehrer widersetzt und dessen Tun in Frage stellt.130 Letzten Endes muss auch er verdanke. Daraufhin charakterisiert der matthäische Jesus Petrus als den „Fels“, auf dem er seine Gemeinde bauen will und sagt ihm die Schlüsselgewalt zu (Mt 16,18–19)! Jesus spricht Petrus dabei in der zweiten Person Singular an und spricht folglich gerade nicht zur ganzen Gruppe der Jünger. Diese Beobachtung ist mit Blick auf die rezeptionsorientierte Intertextualität auch dann von Relevanz, wenn man eine Kenntnis oder Benutzung des Matthäusevangeliums durch Johannes ausschließt. Zur Diskussion um das christologische Bekenntnis des Petrus und dessen Bedeutung im Johannesevangelium vgl. Brown, Gospel I, 301–302; Dietzfelbinger, Evangelium I, 186–189; Schnackenburg, Johannesevangelium II, 112. 127  So z. B. in Mt 16,13–20 diff. Mk 8,27–30 par. Lk 9,18–21. 128 Thyen, Johannesevangelium, 382. 129  Dies ist als primacy und recency effect einer Erwähnung durchaus gravierend. Im Verhältnis dazu ist auch die Ratlosigkeit der Jünger zu beachten, wenn sie von Jesus beim letzten Mahl auf den Verrat durch einen Freund hingewiesen werden (13,18–29). 130  Vgl. Labahn, Simon, 157, der auf die Verletzung der sozialen Hierarchien in der Antike hinweist, wenn Petrus als Schüler seinem Lehrer nicht nur widerspricht, sondern sich auch seinem Handeln widersetzt.

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sich – wie die anderen auch – mit dem Waschen der Füße zufriedengeben. Petrus erhält im Rahmen des letzten Mahls Jesu keine Sonderbehandlung. Die sich an die Fußwaschung anschließende Lehre Jesu mit den darin enthaltenen Beauftragungen (13,14–17) und der Ausweitung der Botenbeziehung zwischen Gott und Jesus auf die Jünger (13,20) richtet sich in gleicher Weise an alle anwesenden Jünger mit Ausnahme von Judas.131 In Joh 14–17 wird Petrus nicht einmal mehr eigens erwähnt, auch die Fürbitte Jesu gilt allen Jüngern.132 Nach der Ankündigung des Verräters (13,10.17 f.21) stellt Petrus seine Frage nicht direkt an Jesus, sondern vermittelt durch den Anonymus, der auf dem Ehrenplatz in unmittelbarer Nähe zu Jesus liegt (13,23 f.).133 Petrus ergreift zwar als erster das Wort, kann aber keine leitende Rolle für sich in Anspruch nehmen.134 Auch die Antwort Jesu versteht er nicht, denn weder der anonyme Jünger noch Petrus werden vom allgemeinen Missverstehen der Situation im Jüngerkreis ausgenommen (13,28 f.)!135 Als Jesus seinen Abschied erläuternd das neue Gebot (13,31–38) einführt, kommt es erneut zu Missverständnissen von Seiten Petri.136 Textpragmatisch tragen seine Fragen zum Verständnis der Szene bei (13,36 f.). Es geht um die Nachfolge Jesu bis in den Tod, die Ausdruck tiefster Liebe ist (15,13; vgl. 11,16; 14,24–26) und zu der sich Petrus bereiterklärt (13,37). Ob diese Zusage des Petrus mutig und selbstbewusst oder leichtfertig und überheblich ist, bleibt offen, da der Erzähler weder die Motive des Petrus kommentiert noch sich zu dem erwartenden Erfolg oder Misserfolg äußert, wie es in der Salbungserzählung etwa mit Blick auf Judas geschieht (Joh 12,6).137 Angesichts von Joh 12,24– 131 Das gilt auch für Joh 13,34 f., auch wenn Petrus mit Blick auf seine Liebe zu Jesus ihm Treue bis in den Tod verspricht; vgl. 13,36–38. 132  Vgl. jedoch Lk 22,32, wo Jesus nur Petrus seine Fürbitte zusagt und ihm für die anderen Apostel eine Verantwortung überträgt. 133  In der Forschung gehen die Meinungen auseinander, wie das Verhältnis des Petrus zum anonymen Jünger zu beurteilen ist. Eine Unterordnung sieht z. B. Moloney, Glory, 20; eine Befehlsgewalt sieht z. B. Schnackenburg, Johannesevangelium III, 30; eine Gleichwertigkeit wird z. B. von Keener vertreten; Keener, Gospel II, 917, andere halten diplomatisch fest, dass Petrus auf Unterstützung angewiesen ist; z. B. Schnelle, Evangelium, 243; Tolmie, Shepherd, 358. 134  Vgl. dazu ausführlich den Abschnitt zur Charakterisierung des anonymen Jüngers, Abschnitt 5.4.6! Interessant ist an dieser Stelle auch der intertextuelle Vergleich von Joh 13,21–30 und Lk 22,21–30. 135  Dies geschieht jedoch in der Forschung häufig angesichts der Vorstellung, dass der Anonymus als ein idealer Jünger oder als Hermeneut Jesu gezeichnet werde, vgl. z. B. Culpepper, Anatomy, 121 f.; Schultheiss, Petrusbild, 121. 136  Vgl. Labahn, der 13,34 f. mit 13,6–11 vergleicht; Labahn, Simon, 159. 137  Thompson bleibt nahe am Text mit ihrer Vermutung, dass seine Kraft zum Bekenntnis aufgrund von Angst im Moment nicht ausreicht (vgl. Joh 18,15–27); Thompson, John, 303; ein in der neutestamentlichen Johannesforschung verbreitetes Argument lautet, dass es vorösterlich vermessen sei, Jesus in den Tod nachfolgen zu wollen; so z. B. Schultheiss, Petrusbild, 118 f., die entsprechend auch 12,24–26 als erst nachösterlich relevant deutet; a. a. O. 241. Diese Interpretation steht häufig mit einer Deutung der Fußwaschung Jesu auf den Kreuzestod im

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

263

26 kann die Nachfolge Jesu bis in den Tod jedoch nicht grundsätzlich falsch sein. Auch die Antworten Jesu an Petrus bleiben ambivalent. Einerseits erhält Petrus die Zusage, dass er seine Nachfolgeabsicht später in die Tat umsetzen wird, allerdings erneut offen formuliert als ein „später Nachfolgen“ und nicht präzise im Sinne eines Martyriums (ἀκολουθήσεις δὲ ὕστερον) (13,36b; vgl. aber 12,26).138 Auch Petrus hat zunächst nicht gesagt, dass er bereit ist, für Jesus zu sterben, sondern durch eine Nachfrage nur signalisiert, dass er das Weggehen Jesu nicht einfach hinnehmen will (13,36). Andererseits kündigt Jesus Petrus seine bevorstehende dreimalige Verleugnung an (13,36.38). Petrus reagiert auf diese gewichtige Ankündigung nicht mehr, sondern verschwindet mit der Ansage seiner Verleugnung für den Rest der Tischgespräche von der Erzählbühne. Im Verlauf des letzten Mahls Jesu gibt es also mehrere Anlässe, um an der Treue des Schülers Petrus zu seinem Lehrer zu zweifeln, vor allem die Infragestellung als letzte Aussage Jesu zu Petrus (recency effect) wird nicht aufgelöst (diff. Lk 22,31 f.). Im Anschluss an das letzte Mahl wird von Petrus erzählt, wie er Jesus mit Hilfe eines Schwertes vor der Gefangennahme zu bewahren sucht (18,10). Durch die Heilung Jesu wird der Versuch des Petrus, Jesus so von seinem Weg abzuhalten, ad absurdum geführt (18,10–11; vgl. 12,27).139 Damit zeigt Petrus durch sein Handeln, dass er die Erläuterungen Jesu zu seinem Weg in den Tod gerade nicht verstanden hat (vgl. vor allem Joh 10,11–18; 12,23–34). Er erweist sich als ein typischer Jünger, der vor Ostern nicht mehr verstehen kann (vgl. 2,22; 12,16), währenden die Lesenden durch Erzählerkommentare informiert sind und an der nachösterlich-retrospektiven Erzählperspektive des Erzählers teilhaben und damit der Petrusfigur mit Blick auf ihr Verständnis überlegen sind.140 Anschließend wird die Verleugnung des Petrus ausführlich erzählt (18,15– 27). Auch hier liegt eine Charakterisierung durch Analogie vor, die beachtet werden muss. Die Fragen an Petrus erfolgen erzählerisch im Wechsel mit der ersten Befragung Jesu und lassen die dem Johannesevangelium eigene Ironie erkennen. Während Petrus bereits bei der ersten Frage seine Zugehörigkeit als Zusammenhang, deren Dienst sich die Jünger zunächst wegen der soteriologisch einmaligen Bedeutung gefallen lassen müssen, bevor sie selbst – nach Jesu Tod – aktiv Jesus dienen sollen respektive ihm nachfolgen können; vgl. Schultheiss, Petrusbild, 110–120. 138  Vgl. zur Semantik Schnackenburg, Johannesevangelium III, 61 f. 139  Wenn man diese Episode intertextuell mit Lk 22,49–51 vergleicht, fällt auf, dass bei Lukas einem namenlosen Begleiter, im Johannesevangelium jedoch Petrus dieser unsinnige Versuch, Jesu zu schützen, zugeschrieben wird. Während das Eingreifen mit dem Schwert im Lukasevangelium noch als ein Missverständnis von Jesu Abschiedsworten mit Blick auf die Sendung der Apostel erklärt werden kann (Lk 22,36), erscheint das Verhalten des Petrus im Johannesevangelium kaum nachvollziehbar, da ein vergleichbares Jesuswort fehlt und der johanneische Jesus immer wieder deutlich gemacht hat, dass er dem ihm bevorstehenden Tod nicht ausweichen will (v. a. Joh 12,23–28; 13,27; 15,13; diff. Lk 22,41–44). 140 Vgl. Dschulnigg, Jesus, 62.

264

Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Schüler (!) zu Jesus abstreitet (18,17), verweist Jesus beim Verhör auf seine öffentliche Lehre und damit indirekt auch auf die Auskunftsfähigkeit seiner Schülerinnen und Schüler (18,19–21). Auch der Hohepriester fragt Jesus explizit nach seinen Schülern (!) und nach Jesu Lehre (18,19), und zwar in dieser Reihenfolge. Während Jesus zu Kaiphas gebracht wird, leugnet Petrus zweimal Jesus zu kennen (18,25–27), einmal gegenüber einem Knecht des Hohenpriesters, der zugleich als ein Verwandter von Malchus ausgewiesen wird, dem Petrus das Ohr abgeschlagen hatte (18,10 f.26). Damit werden sowohl der übereifrige Schwertangriff des Petrus als auch seine Verleugnung der Standhaftigkeit Jesu angesichts seines Todes gegenübergestellt.141 Mit dem Krähen des Hahns verlässt Petrus, vom Erzähler erneut unkommentiert, die Erzählbühne, und zwar ohne, dass eine Reaktion des Petrus erzählt wird (18,27; vgl. 13,38).142 Nach der Auferstehung Jesu ereignet sich ein eigenwilliger Wettlauf zwischen Petrus und dem anonymen Jünger zum leeren Grab (20,1–10)143, wobei letzterer die Nase immer etwas vorne hat, selbst wenn er Petrus den Vortritt lässt: Sie laufen zusammen, und doch ist der Anonymus schneller als Petrus und explizit als Erster am Grab (20,3 f.). Danach sieht der Anonymus schon von außen, was Petrus nach dem Betreten des Grabes wahrnimmt (20,5 f.). Schließlich betritt auch der Anonymus das Grab, die Erzählstimme kommentiert, dass er sieht und glaubt (20,8). Von Petrus fehlt bezeichnenderweise eine vergleichbare Beschreibung. Abschließend wird von beiden festgehalten, dass sie die Schrift noch nicht verstehen, weil Jesus erst auferstehen musste (20,9). Obwohl Maria Magdalena die Botschaft zuverlässig vermittelt und sie eigene entsprechende Beobachtungen am Grab machen, ja sogar obwohl der Erzähler festhält, dass der Anonymus sieht und glaubt, attestiert der Erzähler beiden Jüngern ein unzulängliches vorösterliches Verstehen der Schrift (vgl. Joh 13, 28 f.).144 Damit werden am Ende dieser Episode Petrus und der anonyme Jünger durch den Erzähler auf eine Stufe gestellt. In Joh 20,19–29, der Szene über die Jünger, die vom Auferstandenen besucht, (erneut) gesandt und mit dem Geist begabt werden und die Fähigkeit zur Sündenvergebung zugesprochen bekommen, spielt Petrus erneut keine Rolle. Von daher ist es problematisch, diesen Textausschnitt zur Begründung einer 141  Labahn spricht vom „pseudo-hero“, dessen Mut ihn erst in die falsche Richtung führt und schließlich ganz verlässt; Labahn, Simon, 160. Auch Hartenstein sieht die gute Absicht trotz fehlender Einsicht; Hartenstein, Charakterisierung, 166 f. 142  Vgl. Culpepper, Anatomy, 120 f., der die Ironie der johanneischen Darstellung knapp und präzise erfasst. 143  Hartenstein stellt richtig fest, dass sowohl Petrus als auch der Lieblingsjünger hier noch einmal Maria Magdalena gegenübergestellt werden; vgl. ausführlich Hartenstein, Charakterisierung, 119–124.151. 144  Dies wird deutlich herausgearbeitet bei Bennema, Jesus, 57; Dschulnigg, Jesus, 66; die Rolle Maria Magdalenas betont Hartenstein, Charakterisierung, 151.154. Sie spricht von einer „Herabsetzung des Petrus“ in Joh 20 und von seiner Rehabilitierung in 21; a. a. O. 154.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

265

besonderen Rolle des Petrus zu verwenden.145 Weder werden die Zwölf in Joh 20,19–29 als „Zwölf“ oder als „Apostel“ bezeichnet, noch wird in Joh 21 – wo es noch einmal zentral um Petrus geht – auf Joh 20 Bezug genommen. Jedoch gibt es in Joh 21 explizite Bezugnahmen und Anspielungen auf Joh 13!146 In Joh 21,1–14 wird Petrus nach dem auf Jesu Befehl hin erfolgten zweiten und nun endlich erfolgreichen Fischfang vom anonymen Jünger auf die Identität des Auferstandenen hingewiesen.147 Petrus erkennt daraufhin seine Nacktheit148, kleidet sich und wirft sich in den See (20,7) – vom Schwimmen zu Jesus wird nichts erzählt!149 Wahrscheinlich handelt es sich hier, vergleichbar mit Gen 3,7–11, um einen symbolischen Hinweis auf die gestörte Vertrauensbeziehung zwischen Petrus und Jesus aufgrund seines Versagens. Dieser Interpretation entspricht, dass sich an das gemeinsame Mahl nahtlos die dreimalige Frage an Petrus nach seiner Liebe zu Jesus anschließt (21,15–18), die sein Versagen aufgreift und ihn betrübt und verunsichert erscheinen lässt (21,18). In der lukanischen Erzählung vom Fischfang – der Berufungsgeschichte von Simon Petrus im Lukasevangelium  – reagiert Petrus auf den zweiten äußerst erfolgreichen Fang mit einem Sündenbekenntnis, bevor er von Jesus zum Menschenfischer beauftragt wird (Lk 5,1–11).150 Obwohl auch Andreas und die zwei Söhne des Zebedäus anwesend sind, steht 145  So z. B. Labahn, Simon, 163. Beachtenswert ist außerdem, dass Thomas bei der Geistbegabung durch Jesus nicht anwesend war, aber offensichtlich vorausgesetzt wird, dass dieser sowohl am Geist als auch am Auftrag Anteil hat (20,21 ff.), auch wenn es ihm – wie anderen auch – noch etwas Glauben fehlt (21,25.27). 146 Es besteht nach wie vor ein breiter Konsens in der Forschung, dass es sich bei Joh 21 um einen späteren Zusatz handelt; zum aktuellen Forschungsstand vgl. Schnelle, Evangelium, 339 f. Doch gerade die Charakterisierung des Petrus sowie des anonymen Jüngers mit den zahlreichen Anspielungen auf Joh 13 sprechen nicht für einen späteren korrigierenden oder ergänzenden Zusatz, sondern für den ursprünglichen Abschluss des Evangeliums; dazu Thyen, Johannesevangelium, 182 f.; ders., Johannes 21, 252–293. Durch die Hirtenmetaphorik finden sich auch Bezüge zu Joh 10. Vgl. zur narratologischen Rolle des Petrus in Joh 21 besonders Culpepper, Designs, 369–402; Schultheiss, Petrusbild, 149–183. 147 Thyen sieht darin einen Hinweis auf die Arbeitsweise eines Fischers; Thyen, Johannesevangelium, 782 f. Selbst wenn die Nacktheit bei der Arbeit eines Fischers üblich gewesen sein sollte, lässt der prominente Hinweis durch die Erzählstimme – die einzige direkte Charakterisierung des Petrus im Johannesevangelium – auf eine weitergehende, symbolische Bedeutung schließen. 148  Die Nacktheit kann als Verweis auf Gen 3,7.10 und damit zugleich als ein Hinweis auf die Sünde des Petrus verstanden werden, der auf Vergebung angewiesen ist (21,15–18; vgl. 20,23). Oft wird in Joh 21 jedoch in Verbindung mit der Annahme einer ekklesiologischen Schwerpunktsetzung die Rolle des Petrus als die im Vergleich mit dem anonymen Jünger hervorgehobene betrachtet; so interpretiert Zumstein mit Verweis auf Gen 3,7.10 das Ankleiden als „Respekt“ für seinen Herrn, so dass nun „nicht mehr der Lieblingsjünger das Monopol des Eifers und der Liebe [habe], sondern Petrus“; ähnlich Barrett, Gospel, 555. 149  Ein „Vorrang des Glaubens und der Erkenntnis“ sei dem Anonymus weder in Joh 13,21– 29; 20,1–9 noch in 21,1–4 im Vergleich zu Petrus abzustreiten; Dschulnigg, Jesus, 77 f., der in der Figur des anonymen Jüngers auch die „Grenzen des Hirtenamtes des Petrus“ abgesteckt sieht. 150 Dafür spricht auch ein intertextueller Vergleich mit Lk 5,8, der von Thyen hier jedoch nicht berücksichtigt wird; Thyen, Johannesevangelium, 784.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

im Lukasevangelium von Anfang an Simon Petrus im Fokus und nur Petrus wird von Jesus explizit angesprochen und zum Menschenfischer beauftragt (Lk 5,10).

Im Anschluss an das gemeinsame Frühstück fragt der Auferstandene Petrus dreimal nach seiner Liebe – in Erinnerung an die dreimalige Verleugnung – um Petrus dabei jeweils mit der Fürsorge für Jesu Herde zu beauftragen (21,15–17; vgl. 13,38; 18,15–27). Darin erfährt Petrus eine Art Rehabilitation, d. h. doch wohl die Sündenvergebung, welche die Jünger Jesu in seinem Auftrag auch selbst zusprechen werden (20,23) und die es Petrus nun ermöglicht, seiner Sendung (21,15–17; vgl. 20,21) nachzukommen. Schließlich kündigt Jesus Petrus seinen Märtyrertod an und fordert ihn abschließend zur Nachfolge auf (21,18–19; vgl. 13,36–38). Joh 21,15–19 ist damit auf Joh 13,35–38 bezogen und zeigt in einem Ausblick, wie sich das Wort Jesu aus Joh 13,36 erfüllt. Zugleich illustriert die Geschichte des Petrus damit die – spätere – Erfüllung des Liebesgebots Jesu durch Petrus und zwar unter Einsatz des eigenen Lebens (13,34 f.; 15,9–17): Petrus wird Jesus in den Tod nachfolgen (12,24–26; 13,36–38) und aus Liebe sein Leben für die Glaubensgeschwister (13,34 f.; 15,13) hingeben. Die Liebe des Petrus zu Jesus soll sich in der Fürsorge für die Schafe Jesu – nicht für die Schafe des Petrus –, zu denen er gemäß Joh 10 auch selbst gehört. Dennoch erscheint Petrus auch hier nicht als das strahlende Vorbild für diese Hirtenaufgabe oder Fürsorgetätigkeit.151 Die dreimalige Beauftragung des Petrus durch Jesus erfolgt jeweils nach der dreimaligen Befragung in Erinnerung an sein dreimaliges Versagen (13,38; 18,15–27). Diese eigenwillige Form der Beauftragung lässt keinen starken und selbstbewussten, von Jesus mit der Leitung der Glaubensgemeinschaft beauftragten „Felsen“ erkennen. Vielmehr zeichnet die Erzählung durch den Gesprächsverlauf einen zunehmend ratloseren Petrus (ἐλυπήθη ὁ Πέτρος), der die dritte und letzte Frage Jesu nach seiner Liebe nur noch indirekt mit Verweis auf das Wissen Jesu beantwortet (21,17). Selbst die abschließende Ankündigung seines Märtyrertodes durch Jesus klingt nicht nach einem starken und selbstbewussten Petrus, der – wie in Joh 13,36–38 – voller Selbstvertrauen und Todesmut Jesus bis zum bitteren Ende nachfolgen will. Vielmehr verheißt Jesus ihm, dass Petrus im Alter nicht mehr selbständig entscheiden kann, wie er sich gürtet und wohin er geht, ja, dass er sogar gegen seinen Willen geführt werden wird (21,18 diff. 13,36). Erst ein Erzählerkommentar weist die Lesenden daraufhin, dass diese wenig optimistische und relativ vage bleibende Beschreibung eines gerade nicht selbstbestimmten Lebens sich auf den Märtyrertod Petri bezieht (21,19). Trotz allem wird dieser wenig glorreiche Tod Gott verherrlichen, denn schließlich hat Jesus den Seinen ja zugesagt, dass 151  Dies widerspricht der weit verbreiteten Annahme einer Rehabilitation des Petrus, der nun doch in sein Leitungsamt eingesetzt werde; so z. B. Culpepper, Anatomy, 121; Schultheiss, Petrusbild, 305–308.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

267

mit seiner Hilfe Früchte zur Verherrlichung Gottes wachsen, wenn sie nur bei ihm bleiben (15,5.8). Jesus fordert Petrus abschließend – jetzt am Ende des Johannesevangeliums, nicht am Anfang des Wirkens Jesu  – zur Nachfolge auf! Damit realisiert sich – exemplarisch an Petrus – was Jesus in der Abschiedsrede allen Jünger verheißen hat, dass sie Gott durch reiche Frucht verherrlichen und so Jesu Jünger werden, indem sie sich als Jünger Jesu erweisen (15,8).152 Bereits in Joh 12,26 nimmt Jesus das Ausführen der Aufträge als Ausgangspunkt, um die (Kreuzes-)Nachfolge zu fordern (12,23–26), wobei das Ausführen von Auftragen vorausgesetzt wird (διακονέω)153, bevor das Nachfolgen als Konsequenz formuliert wird. Doch Petrus kommt dieser Aufforderung Jesu erneut nicht einfach nach, sondern dreht sich nach dem geliebten anonymen Jünger um, der wie in Joh 13 direkt charakterisiert wird. Auf diese Weise wird die Szene aus Joh 13,21–29 erneut mit wenigen, aber präzisen Andeutungen plastisch vor Augen gemalt. Und diesen Jünger sieht Petrus nun genau das schon machen, wozu Petrus gerade erst von Jesus aufgefordert wurde: Der Anonymus folgt Jesus nach!154 Auf die Frage nach dem Schicksal des Anonymus antwortet Jesus in einem typisch johanneischen Stil (21,22). Einerseits zeigt die abweisende und mehrdeutige Antwort Jesu, dass das Schicksal des anderen Jüngers Petrus nicht zu interessieren braucht, dieser solle sich stattdessen auf die Umsetzung seiner eigenen Nachfolge konzentrieren.155 Andererseits wird dem anonymen Jünger etwas zugesprochen, was in Übereinstimmung mit der Erzählung des Johannesevangeliums als erstrebenswert erscheint, nämlich dass er – möglicherweise – bleibt, bis Jesus wiederkommt. Das daraufhin entstehende Missverständnis, dass der anonyme Jünger nicht sterben wird, bis Jesus wiederkommt, wird in einem Erzählerkommentar benannt und korrigiert (21,23). Ob und wie lange der anonyme Jünger nun bleibt, lässt das Ende der Erzählung offen, seinem mündlich und schriftlich überliefertem Zeugnis wird – im Rahmen einer Verfasserfiktion156 – allerdings Glaubwürdigkeit zugesprochen (21,24), eine Glaubwürdigkeit, die bleibt!

Analysiert man die Charakterisierung des Petrus im Johannesevangelium, so ist durchgehend ein ambivalentes Bild festzustellen. Erkennbar wird ein Jünger, der zwar zum Zwölferkreis gehört, dessen Weg mit Jesus jedoch von Höhen und Tiefen, von Missverständnissen, von Auflehnung und Versagen ebenso wie 152  So auch Schultheiss, Petrusbild, 186, trotz teilweise abweichender Bewertungen seiner Rolle in einzelnen Texten. 153 Vgl. zur Semantik Hentschel, Diakonia, 6–89. 154  Durch die Charakterisierung in Analogie ist es auch für die Petrusfigur zentral, dass Petrus auch bei seiner letzten Erwähnung im Johannesevangelium die Bühne nicht für sich hat, sondern sie erneut mit dem Anonymus teilen muss. Die Zukunft des Anonymus ist gerade nicht „of less interest for the characterization of Peter“, so jedoch Labahn, Simon, 166. 155  So richtig Schnelle, Evangelium, 344: „Jesu Antwort hat zurückweisenden Charakter, das weitere Schicksal des Lieblingsjüngers geht Petrus nichts an, er hat keine Befugnis über ihn.“ 156  Zur absichtsvollen Gestaltung eines anonym bleibenden Verfassers des Johannesevangeliums vgl. Attridge, Quest, 20–29; vgl. auch Schultheiss, Petrusbild, 277–279.282–291; Thyen, Johannesevangelium, 791–796.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

von Berufung, Annahme und Vergebung durch Jesus, von Erkenntnis, Glauben und treuem Nachfolgen gekennzeichnet ist. Petrus erscheint darin als typischer, vielleicht manchmal etwas impulsiver und unüberlegter Jünger und wird von Jesus auch als solcher behandelt. Er bekommt, abgesehen von Joh 21,15–19, von Jesus weder individuelle Offenbarungen oder Beauftragungen noch eine besondere Verantwortung oder Ehre im Jüngerkreis. Es ist fraglich, ob sich das in Joh 21,15–23 ändert und er tatsächlich in ein hervorgehobenes ‚Leitungsamt‘ eingesetzt wird. Wenn Petrus im Johannesevangelium als Leiter und Hirte verstanden werden soll, der sich darin von den anderen Jüngern unterscheidet, dann genau in diesem Sinne: Als typischer, unvollkommener und auf Hilfe angewiesener Schüler Jesu – als ein Schüler unter anderen, wenn auch mit hoher Bekanntheit und späteren reichlichen Früchten –, tritt Petrus in Jesu Fußspuren und bleibt ihm trotz aller inneren und äußeren Anfechtungen treu, so dass Gott und Jesus diejenigen sind, die dann die Früchte auch seines Wirkens wachsen lassen (15,4 f.8).157 Das Johannesevangelium hätte damit einerseits die bekannte Führungsrolle des Petrus im Kreis der Zwölf aufgenommen und bestätigt, diese andererseits jedoch dahingehend relativiert, dass auch Petrus nur aufgrund der Unterstützung und Vergebung Jesu seinem Auftrag gerecht geworden ist (13,31–38; 15,4.8; 21,15–19). Meines Erachtens ist es jedoch überzeugender, Petrus sogar mit seiner besonderen Beauftragung zum Hirten der Schafe Jesu als typischen und exemplarischen Jünger Jesu zu verstehen.158 Wie Petrus sind alle anderen Jüngerinnen und Jünger auch zur gegenseitigen Liebe und damit zum Hirtendienst in der Nachfolge Jesu aufgefordert (vgl. vor allem Joh 12,24–26; 13,34; 15,1–17 und die Bezüge zu Joh 10). Petrus ist – wie alle anderen auch – auf die Liebe Jesu und der anderen Jünger (13,1–20; 15,9–17), auf die Vergebung Jesu und der anderen Jünger (13,10; 15,3; 17,17–19 ; 20,19–29; 21,1–23) und auf die stärkende Gemeinschaft mit Jesus, Gott und den anderen Jüngern (13,1–20; 15,1–17) angewiesen, um Frucht zu bringen und ein Jünger zu werden (15,8), so wie Jesus ihn und alle Seinen erwählt und beauftragt hat (vor allem 13,12–20.34 f. 15,9–17.20.27; 17,18). Wenn Petrus es schafft, mit der Vergebung und der erneuten Beauftragung durch Jesus seiner Aufgabe als beauftragter Jünger nachzukommen, gelingt das auch allen anderen. Das Beispiel des Petrus ist Vorbild und Ermutigung zugleich, gerade mit seinen Grenzen und Versagen. Denn die Darstellung in Joh 13–17 und 20 f. legt nahe, dass alle Schülerinnen und Schüler Jesu in gleicher Weise von Jesus gesandt und beauftragt werden, um zu lieben, Früchte zu bringen, Zeugnis 157  In dieser Richtung zieht Labahn sein Fazit: „Within the Gospel narrative, Peter acts as a spokesman full of courage and also full of failure. Finally, Peter is the Rock and becomes the Pastor who loves Jesus and who is loved by Jesus even if he had failed from time to time – as such, he serves as a reminder for anyone who holds authority in a Christian community“; Labahn, Simon, 167; vgl. auch Dschulnigg, Jesus, 77 f. 158  So auch das wichtige Ergebnis von Schultheiss, Petrusbild, 308.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

269

zu geben und auf diese Weise Jesus und Gott in der Welt zu repräsentieren und dass sie dafür auf die Liebe, Fürbitte und Unterstützung durch Gott, Jesus und den Parakleten angewiesen sind.

5.4.6. Zur Charakterisierung des anonymen, von Jesus geliebten Jüngers Da neben Petrus in Joh 13 auch der anonyme Jünger, den Jesus liebte, einen zentralen Platz einnimmt, ist es erforderlich, auch die Charakterisierung dieser Erzählfigur noch einmal genauer zu betrachten. Ausgerechnet beim letzten Mahl Jesu mit den Seinen taucht im Johannesevangelium erstmalig ein namentlich ungenannter Jünger auf, der dadurch charakterisiert wird, dass er von Jesus geliebt wird und auf dem Platz unmittelbar neben Jesus liegt (13,23). In der Forschung wird es deshalb oft als der „Lieblingsjünger“ bezeichnet.159 Diese Formulierung legt jedoch eine deutlich hervorgehobene Position als „der eine Liebling“ Jesu nahe160, während die Bezeichnung „geliebter Jünger“ (beloved disciple) die griechische Umschreibung semantisch besser trifft. Denn der namentlich ungenannte Jünger ist nicht der einzige, der von Jesus geliebt wird (13,1!) bzw. explizit als von Jesus geliebter Jünger oder geliebte Jüngerin in die Erzählung eingeführt wird (vgl. 11,1–5), sondern explizit „einer“ von vielen Jüngern (εἷς ἐκ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ; 13,23). Von daher wird in der vorliegenden Arbeit auch weitgehend auf diese Bezeichnung verzichtet. Er wird im Folgenden als der ‚anonyme Jünger, den Jesus liebte‘ bzw. als der ‚anonyme Jünger‘ bezeichnet, da dies die durchgehende und augenfälligste Beschreibung der Erzählfigur darstellt. Es ist unbestritten, dass die Anonymität dieser Figur narratologisch beabsichtigt ist und textpragmatische Auswirkungen hat.161 Adele Reinhartz verweist auf einen 159  Vgl. zu einem Forschungsüberblick besonders Bauckham, Eyewitnesses, 550–589; Charlesworth, Disciple, 127–224; Kügler, Jünger, 439–448; Simon, Petrus, 34–103; vgl. zur Rolle des Anonymus in narratologischer und textpragmatischer Perspektive u. a. Attridge, Quest, 20–29; Dunderberg, Disciple, 243–269; Culpepper, Anatomy 121–123; Kügler, Jünger; Resseguie, Disciple, 537–549. 160  So jedoch explizit Theobald, der von einem „bevorzugten Schüler auf dem Ehrenplatz an seiner Seite“ spricht und seine Sonderrolle darin sieht, „nach Jesu Tod sein Nachfolger und Interpret zu werden (19,25–27)“; Theobald, Jünger, 517. Theobald verweist auf antike Philosophenschulen, in denen es durchaus bevorzugte Schüler des Schulhaupts gab; ebd. Da Jesus gemäß Joh 13 allen Jüngern in gleicher Weise seine Liebe zukommen lässt – sogar Judas hat Teil an der Fußwaschung –, erscheint es nicht plausibel, den Anonymus aufgrund seiner Beschreibung als Geliebter von den anderen „abzusetzen“. Dies geschieht narratologisch jedoch durch den besonderen Ehrenplatz und die damit verbundene Nähe des Anonymus zu Jesus. 161  Dies wurde v. a. reflektiert von Kügler, Jünger, der das Konstrukt eines fiktiven und deshalb anonymen Jüngers mit Blick auf angenommene Lehrstreitigkeiten reflektiert (vgl. Kügler, Jünger, 477), und Thyen, Johannes 21, 262–264; zu den Funktionen von Anonymität in Erzählungen, vgl. Reinhartz, Name, passim; zur textpragmatischen Funktion des Unbekannten bei Johannes vgl. Attridge, Signs, 267–288; ders., Quest, 20–29; zur Fiktionalität vgl. Frey, Leser,

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

ebenso simplen wie bedenkenswerten Aspekt, der mit dem Fehlen des Namens zusammenhängt: „that is, we cannot know what the person is, whether he or she is important, and how we might relate to the person, based on anonymity alone.“162 Auf die Frage, ob sich dieser Jünger mit einer literarischen und / oder historischen Person identifizieren lässt, wird hier nicht eingegangen, da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde.163 Der Fokus soll hier auf die Aspekte der Erzählung gelegt werden, die narratologisch analysiert werden können, während Versuche, über das Erzählte hinaus- oder dahinter zurückzufragen, sowohl aus methodischen als auch aus Platzgründen unterlassen werden. Bereits die Frage, in welchen Texten der anonyme Jünger überhaupt erwähnt wird, ist nicht eindeutig zu beantworten. In Joh 13,25–29 taucht er zum ersten Mal auf. In Joh 19,26 f.; 20,2–10; 21,7.20–24 ist der anonyme Jünger aufgrund seiner typischen Beschreibung leicht zu identifizieren. Sprachlich nicht eindeutig, aber doch sehr wahrscheinlich ist, dass der „andere Jünger“ in Joh 18,15 f. ebenfalls mit dem „anonymen Jünger“ identisch ist.164 Unsicher bleibt jedoch, ob der „Ich-Erzähler“ in Joh 19,34 f. mit ihm gleichgesetzt werden kann.165 Zum Teil wird auch in dem ungenannten Begleiter des Andreas in 1,35–40 bereits der Anonymus gesehen, dies lässt sich jedoch kaum überzeugend belegen.166 All

276–278; zum Verhältnis von Geschichte und Narration vgl. auch den Sammelband Luther/ Röder/Schmidt (Hg.), Geschichten. 162  Reinhartz, Name, 188; vgl. zu den textpragmatischen Effekten von Anonymität und ihrer Berücksichtigung in narratologischen Konzepten v. a. 4–15. Zu den zentralen Funktionen eines Namens in einer Erzählung vgl. a. a. O. 6: Ein Eigenname transportiert in der Regel eine Bedeutung (vgl. z. B. den Beinamen Petrus Joh 1,42), ermöglicht eine rasche und eindeutige Bezugnahme auf die Person und die Abgrenzung von weiteren Erzählfiguren, gerade auch dann, wenn sie ähnliche Rollen- und Verhaltensmuster aufweisen. 163  Der Anonymus wurde in der Forschung bereits mit unterschiedlichsten literarischen und  / oder historischen Figuren in Verbindung gebracht, vgl. Bauckham, Eyewitnesses, 550–589; Charlesworth, Disciple, 127–224; Kügler, Jünger, 439–448. Intratextuell wird er unter anderem mit Thomas (Charlesworth, Disciple, 436), mit Andreas (Berger, Anfang, 96–106), mit Lazarus (Becker, Evangelium II, 515 f.517 f.) oder mit dem Zebedaiden Johannes (Thyen, Johannesevangelium, 597–602.782.790–796) gleichgesetzt. 164  Vgl. dazu Neirynck, Disciple, 335–363; s. auch Kügler, Jünger,421–424; Theobald, Jünger, 494–498. V.a. ein Vergleich mit Joh 20,2–10 legt nahe, dass es sich hier um den Anonymus handelt. 165  Vgl. Kügler, Jünger, 424–428. Dagegen spricht v. a., dass sich der Anonymus mit der Mutter Jesu gemäß 19,26 f. unmittelbar nach Hause begibt. 166 Vgl. die zentralen Argumente für und gegen eine Identifizierung des ungenannten Jüngers in Joh 1,35–40 mit dem ‚anonymen geliebten Jünger‘ aus Joh 13,23 f. bei Theobald, Evangelium I, 181–183; für eine Gleichsetzung der beiden z. B. Theobald, Evangelium I,182, der darin eine Ergänzung des Redaktors sieht; dazu Thyen, Johannesevangelium, 132 f.; Resseguie sieht hier den geliebten Jünger, so dass dessen Erwähnung als treuer Jünger in 1,35–40 und 21,20–22 seiner Meinung nach eine Inklusio um den Weg der Jünger mit Jesus bildet; Resseguie, Disciple, 548 f. Während sich Resseguie insgesamt methodisch und exegetisch streng an den Text hält und wertvolle Beobachtungen zur Charakterisierung des geliebten Jüngers und – in Analogie mit ihm – auch zu Petrus macht, überzeugt diese These nicht. Zur Problematisierung der Gleichsetzung vgl. die grundlegenden Argumente bei Becker, Evangelium I, 122 f.; Kügler, Jünger, 423 f.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

271

dies lässt sich am Text nicht verifizieren. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass im Johannesevangelium wiederholt namentlich ungenannte Jünger erwähnt werden, wie zum Beispiel der Begleiter des Andreas in 1,35–42 und die zwei ungenannten Jünger in Joh 21,2. Da das Johannesevangelium keinen Wert auf eine vollständige namentliche Erfassung der Jünger Jesu legt, bleiben die Anzahl und die Namen der Nachfolgenden und auch der Beginn von Nachfolgebeziehungen offen. Aufgrund seiner Einführung in 13,23 kann der anonyme Jünger ab dem Beginn des Mahls in Joh 13 zur anwesenden Gruppe der Jünger gerechnet werden, in Joh 21 gehört er zur Gruppe der sieben Jünger. Damit ist naheliegend, dass er als ein Mitglied der Gruppe der Jüngerinnen und Jünger Jesu bereits vor dem letzten Mahl Jesus nachgefolgt ist und dies möglicherweise bereits seit Beginn des Wirkens Jesu.

Der anonyme Jünger tritt in Joh 13,23–25 beim letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern in Erscheinung, nachdem Jesus die anwesenden Jünger als seine Repräsentanten in seine Botenfunktion einbezogen (13,16.20) und zugleich den Verrat durch Judas angekündigt hat (13,11.18 f.21).167 Alle, auch der noch nicht eingeführte Anonymus168, reagieren ratlos auf die Ankündigung des Verrats (13,22). In diesem Moment wird der anonyme „geliebte Jünger“ erstmals erwähnt (13,23). Sein Platz im Schoß Jesu erinnert an Joh 1,18, wo dieser als Ausdruck der intimen Nähe zwischen Gott und Jesus angesprochen wurde. Mit beiden Charakterisierungen wird eine innig-vertraute Beziehung zwischen Jesus und dem anonymen Jünger skizziert, die ihn sowohl von den anderen Jüngern unterscheidet – nur einer kann auf dem begehrten, mit Nähe und Vertrautheit, auch mit Ehre verbundenem Platz in der unmittelbaren Nähe Jesu sitzen – und ihn zugleich auch in die Nachfolgegemeinschaft integriert, da die Liebe Jesu allen Jüngern gilt (13,1.34).169 Petrus macht dem anonymen Jünger körpersprachlich deutlich, dass er bei Jesus nach dem Verräter fragen solle (13,24).170 Diese doch eher umständliche Ausdrucksweise des Petrus hat zur Folge, dass sich nicht einschätzen lässt, ob er sein Anliegen eher als Bitte oder als Befehl verstanden haben will, d. h. die Beziehung zwischen Petrus und dem Anonymus bleibt angesichts der nicht ein167  Charlesworth spricht hier vom Zentrum der Erzählung, welches die Bedeutung des geliebten Jüngers unterstreichen würde; Charlesworth, Disciple, 52. 168 Dies wird sorgfältig analysiert von Hylen, Believers, 96 f., die dadurch auch mit Blick auf das Verhältnis von Petrus und dem Anonymus in Joh 13 zu einem differenzierten Ergebnis kommt. 169  Vgl. Resseguie, Disciple, 539, der von einem „place of intimacy“ spricht und auf Joh 1,18 verweist. 170 Dies spricht m. E. gegen die Interpretation, dass Petrus dem anonymen Jünger übergeordnet sei und ihm etwas befehlen könne, so z. B. Quast, Peter, 69. Vielmehr gilt, nimmt man den Text wörtlich, gerade das Gegenteil, nämlich dass Petrus seinem Gegenüber im Sinne einer direkten Rede gerade „nichts zu sagen hat“; vgl. für eine Überordnung des Anonymus z. B. Moloney, Gospel, 383. Genau hier zeigt sich die Schwierigkeit, die sich aus den fehlenden Erzählerkommentaren ergibt: eine eindeutige Klärung der Beziehung zwischen Petrus und dem anonymen Jünger bleibt angesichts der vorliegenden, ausschließlich indirekten Charakterisierung ambivalent und hängt von der Bewertung der Textsignale durch die Interpretierenden ab.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

deutig zu bewertenden indirekten Charakterisierung durch Handlung – und damit vermutlich narratologisch mit Absicht – unbestimmt.171 Fest steht nur, dass der Anonymus einen Platzvorteil hat, der in 13,25 erneut erwähnt wird. Die Adressaten der Antwort Jesu in 13,26 werden nicht näher bestimmt, weshalb davon auszugehen ist, dass sie sich an alle Anwesenden richtet.172 Auch der Befehl Jesu an Judas wird von allen Anwesenden gehört (13,27–29). Trotz der folgenden Erläuterungen Jesu wird in einem Erzählerkommentar festgehalten, dass niemand am Tisch, d. h. auch nicht der anonyme Jünger, den Befehl Jesu versteht.173 Das Missverstehen der Jünger wird durch eine Fokalisierung der Gedanken der Jünger, durch welche zwei falsche Deutungen für Judas Verhalten weitergegeben werden, sogar anschaulich dargestellt (13,29). Im Unterschied zu den Jüngern haben die Lesenden einen deutlichen Wissensvorsprung. Die Lesenden haben bereits mehrere zusätzliche Hinweise durch den Erzähler zur Rolle des Judas erhalten (6,71; 12,24; 13,2.11; auch 6,64) und sie sind somit bestens informiert, um Handeln und Reden Jesu in Joh 13,21–29 verstehen zu können.

Der Anonymus zeichnet sich in Joh 13 also durch seine besondere räumliche Nähe zu Jesus aufgrund des hervorgehobenen Platzes aus, nicht jedoch durch ein besseres Verständnis. Gail O’Day hält fest: „The Beloved Disciple has only one role: to embody the love and intimacy with Jesus, that is the goal of discipleship in John.“174 Theobald zeigt auf, wie Joh 13 „atmosphärisch an griechischhellenistische Philosophenschulen“ erinnert, „die das besondere Verhältnis des Schulhaupts zu einem bevorzugten Schüler durchaus kannten“.175 Dafür spricht auch eine intertextuelle Lektüre mit Lk 22,24–30, wo Lukas in einer vergleichbaren Situation einen Rangstreit zwischen den zwölf Aposteln erzählt, der damit endet, dass diesen zwölf Aposteln von Jesus Ehrenplätze im Reich Gottes zugesagt werden (Lk 22,28–30). Im Johannesevangelium gibt es bei Gott zwar Ehre (12,26) und viele Wohnungen (14,2), doch keine Ehrenplätze für namentlich benannte, besonders ausgewählte Jünger, auch nicht für den anonymen Jünger.

171  So auch Resseguie, Disciple, 539, der sehr präzise unterscheidet zwischen dem, was der johanneische Text sagt, und dem, was der johanneische Text offenlässt. Viele Exegetinnen und Exegeten gehen jedoch davon aus, dass nur der geliebte Jünger die Antwort erhält; vgl. z. B. Culpepper, Anatomy, 121; Thyen, Johannesevangelium, 600; 772. 172 Wenn es Johannes ein Anliegen gewesen wäre, dass nur der anonyme Jünger eine Antwort erhält, hätte er dies auch entsprechend markiert; ein expliziter Wechsel der jeweils angeredeten Personen kommt im Johannesevangelium häufiger vor, vgl. z. B. Joh 6,67–70; 13,10 f.; 14 passim; auch 21,20–23. 173  Vgl. Abschnitt 5.4.6. 174  O’Day, John, 840. Reinhartz hält fest, dass gerade auch die Anonymität dazu führt, dass eine Rollenbeschreibung eine gewisse paradigmatische Qualität erhält; Reinhartz, Name, 188. Dem ist sicherlich zuzustimmen, allerdings trifft das auf den johanneischen Anonymus v. a. im Sinne eines Vorbilds, nicht jedoch im Sinne eines idealen oder perfekten Jüngers zu. 175 Theobald, Jünger, 517 f.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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Er wird in Joh 13,21–30 jedoch nicht als idealer im Sinne von perfekter176 Jünger gezeichnet, der Jesu Worte immer verstehen würde, sondern er ist vielmehr einer aus der Gruppe der von Jesus geliebten Jünger.177 Der Anonymus erhält entsprechend keine nur an ihn adressierte Offenbarung Jesu, so dass er nicht als Geheimnisträger charakterisiert wird,178 und er wird, anders als Jesus in Joh 1,18, in Verbindung mit dem Platz im Schoß auch nicht als ‚Exeget‘ charakterisiert. D. h. er wird gerade nicht als besonders aufmerksamer Schüler und damit prädestinierter Nachfolger oder Zeuge seines Lehrers im Vergleich zu den anderen beschrieben. Und so verschwindet er nach dem kurzen Intermezzo wieder von der Erzählbühne in der Gruppe der anderen Jünger. Nur der hervorgehobene Platz neben Jesus bleibt nun bis zum Ende des Mahls besetzt (21,20). Niemand, nicht einmal Petrus als Mitglied und wiederholter Wortführer der Zwölf, kann diesen Ehrenplatz einnehmen. In Joh 19,26 f. vertraut Jesus dem anonymen Jünger seine Mutter zur Versorgung an, indem er ihn an seine Stelle als ihr Sohn setzt. Der Anonymus erfüllt darin die Aufgabe eines Freundes, der nach dem Tod die Fürsorge für die Mutter als eine versorgungsbedürftige Verwandte übernimmt.179 Somit wird ein weiterer „Platz“, der mit einer engen, vertrauten Beziehung – und damit indirekt mit einer besonderen Nähe auch zu Jesus – verbunden ist, von einem bestimmten Jünger besetzt, dessen Name unbekannt bleibt. Petrus erkennt den anonymen Jünger in Joh 21,20 erneut als denjenigen, der beim Mahl eben diesen Platz der Nähe hatte und der Jesus die Frage nach dem zukünftigen Schicksal des Judas stellen konnte. Während Jesus die Frage des Anonymus in Joh 13,26 beantwortet, erhält Petrus in Joh 21,21 f. keine zufriedenstellende Antwort auf seine Frage nach dem Schicksal des anonymen Jüngers. Das heißt, ausgerechnet in der Szene, in der Jesus Petrus mit einer Hirtenfunktion beauftragt und ihm den Märtyrertod angekündigt (13,34; 21,21,15–19), wird die innige Beziehung zwischen Jesus und dem Anonymus erneut vergegen-

176 Es gibt keinerlei Hinweise im Johannesevangelium, dass dieses ein Interesse an ‚idealen‘ Jüngern hat bzw. beschreibt, wie ‚ideale‘ Jünger – denn eine solche Wertung ist ja stets abhängig von Definitionen – aussehen müssten. 177 Häufig wird er als idealer Jünger Jesu eingeschätzt, z. B. Barrett, Gospel, 373; Culpepper, Anatomy, 121–123; Koester, Symbolism, 242 vgl. die Gegenargumente bei Bauckham, Testimony, 82–85; Bauckham selbst betrachtet den anonymen Jünger nicht als vorbildlichen Jünger in Konkurrenz zu Petrus, sondern als vorbildlichen Zeugen in Ergänzung zu Petrus, ebd.; zur Kritik an einer Idealisierung des Anonymus und gegen die Reduktion einer Erzählfigur auf einen einzigen Aspekt oder Erzählzug; vgl. Conway, Ambiguity, 324–341. 178  Vgl. zurecht Dunderberg, Disciple, 258–260. 179 Vgl. Hock, Disciple, 210; Dunderberg sieht hier v. a. die Einsetzung des Anonymus an die Stelle der Brüder Jesu, Dunderberg, Disciple, 253f; seine These, dass durch die Rolle des Anonymus Autoritätsansprüche der Familienmitglieder Jesu abgewehrt werden sollen, kann nicht überzeugen; a. a. O. 269.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

wärtigt (21,22–23).180 Vor allem Joh 20,2–10181 und 21,20–24 bestätigen die von einem Wettstreit um Kompetenzen geprägte Beziehung zwischen Petrus und dem anonymen Jünger, wobei letztendlich unklar bleibt, wer von beiden den Rangstreit gewinnt, der in Joh 13,21–30 begonnen hat. Es geht im Johannesevangelium offensichtlich gerade nicht darum, dass einer von den Jüngern eine ausgewiesene Sonderrolle bekommt. Petrus und der Anonymus begrenzen als Erzählfiguren jeweils in ihrem Zusammenspiel sowohl die jeweils eigene Bedeutung als auch die des jeweils anderen. Dies illustriert der Erzähler am eindrücklichsten in Joh 20,2–10, wo beide am Ende ohne ausreichendes Schriftverständnis zu den anderen Schülerinnen und Schülern heimkehren (20,9 f.). Weder Petrus noch der anonyme Jünger, sondern vielmehr Maria wird dem Auferstandenen als erste begegnen und die Auferstehungsbotschaft den anderen Jüngern überbringen (20,11–18). In Joh 20,2–10 veranstalten Petrus und der anonyme Jünger, die beide von Maria aus Magdala über das leere Grab informiert wurden, einen gemeinsamen Wettlauf zum Grab, bei dem es letztendlich keine Gewinner oder Verlierer und auch keine Konflikte gibt, denn beiden fehlt am Ende das entscheidende Verständnis der Schrift über die Auferstehung Jesu (20,9 f.). Dennoch hat der anonyme Jünger die Nase im Vergleich mit Petrus eine Nuance weiter vorne, denn er ist der Erste am Grab, legt aber keinen Wert darauf, erster zu sein (20,4.8). Außerdem wird nur vom Anonymus explizit ausgesagt, dass er das Gesehene richtig deutet und glaubt (20,8).182 Doch am Ende stehen beide mit ihrer christologischen Erkenntnisfähigkeit wieder auf einer Stufe (20,9), gehen ohne weitere Erleuchtung wieder heim und reihen sich ein in die Gruppe der anderen. Interessant ist, dass ausgerechnet in Joh 21,1–23, wo im Anschluss an den wunderbaren Fischfang die Beauftragung des Petrus mit der Hirtenfunktion, die Ankündigung seines Märtyrertodes und seine erneute Berufung in die Nachfolge stattfinden, die Figur des anonymen Jüngers wiederholt mit direkten und indirekten Anspielungen auf Joh 13 auftaucht (21,20)183. Erneut trägt der Lieblingsjünger zum Erkenntnisgewinn des Petrus bei (21,7) und erneut wird die innige Beziehung zu Jesus betont, die nun sogar für eine unbestimmte Zu Vgl. Resseguie, Disciple, 547.  Resseguie verweist hier auf die wiederholte Verwendung von πρῶτος mit Blick auf den anonymen Jünger (20,4.8); Resseguie, Disciple, 545. 182  Für Bultmann ist diese Feststellung offensichtlich so irritierend, dass er den Glauben des Petrus annimmt, obwohl er im Text selbst gerade nicht ausgesagt wird; vgl. Bultmann, Johannes 684. 183  Diese Charakterisierung des anonymen Jüngers zeigt, dass der Erzähler des Johannesevangeliums eindeutige Lesehilfen bzw. Leseanweisungen geben kann, wenn er möchte, dass die Lesenden bestimmte Aspekte wahrnehmen und Bezüge herstellen. Der Rückbezug auf Joh 13,23 ist semantisch eindeutig markiert; vgl. die Kritik an der Bestimmung der Lieblingsjüngerbezüge im Johannesevangelium bei Becker, Evangelium I, 123. 180 181

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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kunft als eine bleibende Beziehung ausgegeben und der Anonymus als treuer Freund Jesu charakterisiert wird (21,20–23; vgl. Joh 151–17). Der Ehrenplatz in der Nähe Jesu, der in Joh 13,23 vom Erzähler als erstes beschrieben und in Joh 21,20 von Petrus erinnert wird, bleibt bis zum Ende der Erzählung und sogar darüber hinaus durch den anonymen Jünger besetzt. Gerade weil der Name dieses an einzelnen Stellen hervorgehobenen Jüngers nicht genannt wird, steht die Frage im Raum, sowohl textpragmatisch mit Blick auf die Funktion in der Erzählung aber auch innerhalb der erzählten Welt mit Blick auf seine Rolle im Kreis der Jünger Jesu. „Indeed, the principal effect of the absence of a proper name is to focus the reader’s attention on the role designations that flood into the gap that anonymity denotes.“184 Adele Reinhartz erläutert, dass die Anonymität in der Regel dazu führt, dass Rollenbeschreibungen eines Anonymus mit bekannten Rollenmustern verglichen werden.185 Im Johannesevangelium kann dies sogar noch konkreter gefasst werden: Der anonyme Jünger wird mit Petrus und dessen skizzierter Rolle im Jüngerkreis parallelisiert und verglichen, so dass Petrus und der anonyme Jünger in Analogie zueinander charakterisiert werden. Diese narratologischen Beobachtungen sprechen dafür, dass Joh 21 kein Nachtragskapitel ist, sondern Themen aufgreift, die vor allem in Joh 13 eingespielt und zum Teil als Prolepsen thematisiert werden, bevor sie in Joh 21 nach der Auferstehung Jesu umgesetzt werden. Im letzten Kapitel wird noch einmal explizit auf Aspekte angespielt, die bereits in Joh 13 thematisiert wurden und die durch die erneute Aufnahme in Joh 21 nicht korrigiert, sondern vielmehr bestätigt und vertieft werden. Damit wird durch die Charakterisierung des Petrus und des Anonymus ein enger Bezug von Joh 13 und Joh 21 bestätigt, auf den etwa Hartwig Thyen in seinem Kommentar aufmerksam macht.186 Dem entspricht, dass sowohl Joh 13 als auch Joh 21 Texte sind, in denen ekklesiologisch relevante Themen verhandelt werden. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass der anonyme geliebte Jünger sich vor allem durch seine intime Nähe und hervorgehobene Beziehung (13,23; 21,20) zu Jesus und durch das Bleiben bei Jesus (21,22) auszeichnet, während er – wie die anderen Jünger auch – im Glauben und im Verstehen nicht perfekt ist (13,22.28; 20,9).187 Im Wettstreit um Nähe und Treue zu Jesus will das Johannesevangelium offensichtlich keinen eindeutigen Sieger zu erkennen geben,  Reinhartz, Names, 188. Names, 188 f. 186  Thyen, Johannesevangelium, 559 f. Allerdings sieht Thyen den Zielpunkt von Joh  21 v. a. in der Verfasserfiktion von Joh 21,24 f. Ähnlich sieht Resseguie in dem anonymen Jünger den idealen Zeugen bzw. die ideale Erzählperspektive des Evangeliums („ideal point of view of the gospel“), der deshalb an zentralen Stellen des Johannesevangeliums erscheine (1,35–40; 13,23–36; 18,15 f.; 19,26 f.; 20,2–10; 21,7.20–23); Resseguie, Disciple, 549. 187 So zutreffend Hylen, Believers, 96 mit Verweis auf O’Day, John, 840. 184

185 Reinhartz,

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

da Joh 21 die Charakterisierung von Petrus und dem Anonymus in Joh 13 nicht korrigiert, sondern vielmehr bestätigt und vertieft. Trotz seines Ehrenplatzes und seines gelegentlichen Vorsprungs gegenüber Petrus will der Anonymus kein Erster sein. Petrus wird Jesus nun in den Tod folgen (13,36; 21,18 f.), doch er wird deshalb im Vergleich zu den anderen Jüngern keine herausgehobene Ehrenposition erhalten, denn der Ehrenplatz ist und bleibt besetzt, wenn Jesus will, dass der Anonymus bleibt (13,23.25; 21,20–23).188 Sowohl Petrus als auch der anonyme Jünger sind ‚typische Jünger‘, die mit Jesu Unterstützung ihrem Auftrag nachkommen, der ihnen – ebenso wie allen anderen Jüngerinnen und Jüngern auch – gilt. Weder ist Petrus der einzige, der wie ein guter Hirte bereit ist, für Jesu Schafe in den Tod zu gehen, noch ist der anonyme Jünger der einzige, der in alle Wahrheit geführt wird und diese für sich exklusiv beanspruchen könnte (14,26; 15,26 f.; vgl. auch 20,29).189 Indem die beiden narratologisch als Paar auftreten, relativieren sie sich gegenseitig dahingehend, dass keiner von ihnen einen eindeutigen und exklusiven Vorrang erhält. Dies entspricht der textpragmatischen Funktion des ersten Auftretens des Anonymus in einer Situation, wo es um die Frage geht, wer sich in der bevorstehenden Krise als treuer Jünger Jesu erweist (Joh 13,20–30), eine Situation zum Beginn eines Symposions, die möglicherweise zu einem Rangstreit unter den Anwesenden führen könnte (vgl. Lk 22,24–30). Durch die Charakterisierung in Analogie gilt für beide, dass sie jeweils nur „einer“ in der Gruppe der Jüngerinnen und Jünger sind, die Jesus liebt und zugleich beauftragt, als seine Freundinnen und Freunde bei ihm zu bleiben, zu lieben und viel Frucht zu bringen (12,24–26; 13,1–20.34 f.; 15,1–17.20).

5.4.7. Erzählte Handlung Als Situation wird ein gemeinsames Abendessen im freundschaftlich-vertrauten Kreis beschrieben, bei dem man zu Tisch liegt. Es ist folglich anzunehmen, dass alle Anwesenden sich und ihre Füße gereinigt haben, bevor die Mahlzeit begann.190 Detailliert wird die Fußwaschung beschrieben (13,4 f.). Auch die Art Jesu, sich zu kleiden, wird ohne Kommentierung dargestellt. Sie wird nicht als Kleidung eines Sklaven ausgewiesen und sie ist auch nicht eindeutig als solche bestimm-

188  Vgl. Lk 22,29–32: Im Lukasevangelium geht die Verheißung der Ehrenplätze im Reich Gottes an die zwölf Apostel (Lk 22,30) sowie die individuelle Zusage der Fürbitte Jesu für Petrus (Lk 22,32a) und dessen Beauftragung mit einer besonderen Verantwortung für die anderen Apostel (Lk 22,32b) der Ankündigung seiner Verleugnung (Lk 22,34) bereits voraus. 189  Vgl. Attridge, Quest, 28 f. 190 Vgl. Abschnitt 5.4.2.

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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bar.191 Die Kleidung Jesu erscheint für das Waschen und Abtrocknen der Füße zweckmäßig, sie dient ebenso wie das Eingießen des Wassers der Vorbereitung der Fußwaschung. Wichtig ist, dass keine dieser einzelnen Handlungsschritte für sich allein später gedeutet oder gar metaphorisch aufgeladen wird. In Joh 13,12 wird der Abschluss der Fußwaschung festgehalten, der Mahlkontext bleibt bestehen. Die Fußwaschung findet während der Mahlzeit statt (13,4.12) und dient in Übereinstimmung mit dem kulturellen Wissen vom Ablauf eines Deipnons nicht der Reinigung. Aufgrund der hier beschriebenen Situation handelt es sich in Joh 13 nicht um eine Fußwaschung, die zur Begrüßung bei der Aufnahme in ein Haus stattfindet oder als Reinigung auf das gemeinsame Mahl vorbereitet und entsprechend im Kontext der gastfreundlichen Begrüßung zu verorten wäre.192 Sollte die Fußwaschung  – entgegen der Situationsbeschreibung  – im übertragenen Sinn als eine Handlung Jesu mit dem Ziel der „gastfreundlichen Aufnahme“ oder „der Reinigung zur Begrüßung durch einen Sklaven des Hauses“ verstanden werden, müsste der Text deutliche Interpretationshinweise geben, um ein solches Verständnis der Fußwaschung für die Lesenden erkennbar zu machen.193 Das kulturell konventionalisierte Wissen der damaligen Zeit zur Fußwaschung, das mit Blick auf die möglichen Anlässe und Formen von Fuß191  Auch ein Vergleich mit Lk 17,8 zeigt mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Womit der Sklave sich gürtet wird in Lk 17,8 nicht erwähnt, außerdem findet sich als Verb περιζώνυμμι, während in Joh 13,4 διαζώνυμμι vorkommt. Die Bewertung, dass sich Jesus hier wie ein Sklave kleide, lässt sich vom Text her nicht eindeutig feststellen, findet sich jedoch häufig in neueren Kommentaren; vgl. z. B. Schnelle, Evangelium, 355–357, Thyen, Johannesevangelium, 585. Kritisch zu der pauschalen Einordnung der Fußwaschung als Sklavendienst z. B. Kötting, Fußwaschung, 760; auch 757; Hentschel, Fußwaschung, 67 f.70 f.; auch Niemand, Fußwaschungserzählung, 177–187, der jedoch an der Grundbedeutung als Sklavendienst festhält, a. a. O. 181. Im Johannesevangelium findet sich das Verb διαζώνυμμι nur hier und bezeichnenderweise in Joh 21,7, wo sich Petrus nach seiner Arbeit, die er nackt verrichtet hat, gürtet. Als Jesus Petrus wenig später dessen Märtyrertod voraussagt, geschieht dies interessanterweise mit der Metapher, dass Petrus sich später nicht (!) mehr selbst gürtet: Αμὴν ἀμὴν λέγω σοι, ὅτε ἦς νεώτερος,

ἐζώννυες σεαυτὸν καὶ περιεπάτεις ὅπου ἤθελες· ὅταν δὲ γηράσῃς, ἐκτενεῖς τὰς χεῖράς σου, καὶ ἄλλος σε ζώσει καὶ οἴσει ὅπου οὐ θέλεις (Joh 21,18).

192 Holtzmann bestätigt dieses Textverständnis gerade dadurch, dass er ohne Anhalt am Text festhält, die Fußwaschung als Sklavendienst im Kontext der Gastfreundschaft sei ausnahmsweise vor dem Mahl vergessen worden, vgl. Holtzmann, Evangelium, 234. 193 Vgl. Eco, Grenzen, 44–48. Der Kontext Gastfreundschaft wird häufig vorausgesetzt, z. T. ist er zentraler Bezugspunkt der Interpretation der Fußwaschung, so v. a. Hultgren, Footwashing, 540–542; auch Brown, Gospel II, 564; Holtzmann, Evangelium, 234; Lohmeyer, Fußwaschung, 79–81; Thomas, Footwashing, 90 f.; Wengst, Johannesevangelium II, 92–94. Immer wieder wird Jesus dabei in der Rolle des Sklaven gesehen, vgl. u. a. Augenstein, Liebesgebot, 31; Brown, Gospel II, 562–564; Bultmann, Evangelium, 355–357, Keener, Gospel, 907; Mathew, Footwashing, 133 f.124–127; Schnelle, Evangelium, 234–238; Richter, Kreuzestod, 59; Thyen, Johannesevangelium, 551; Wengst, Johannesevangelium II, 92–94; Thomas sieht die Fußwaschung zwar ebenfalls als Sklavendienst, will sie aber nicht auf diesen reduziert wissen, vgl. Thomas, Footwashing, 90 f.; ähnlich geht auch Niemand von einer Erweiterung der Grundbedeutung aus; Niemand, Fußwaschungserzählung, 181.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

waschung im Rahmen dieser Studie erhoben wurde und sich von der in der neutestamentlichen Forschung weit verbreiteten Forschungsmeinung deutlich unterscheidet, welche Fußwaschung grundlegend als Sklavendienst konnotiert, ist bei der Interpretation von Joh 13 zu berücksichtigen.194 Wenn Joh 13 entgegen einer ‚allgemeinen Szenographie‘ nach Eco interpretiert werden sollte,195 dann müsste der Text deutliche Lesehinweise in dieser Richtung geben. Doch weder in Erzählerkommentaren noch in den Gesprächen wird die Fußwaschung in Joh 13 als Reinigungshandlung zu Beginn einer Mahlzeit ausgewiesen.196 Es wird auch nicht erwähnt, dass die Fußwaschung vor dem Mahl ausnahmsweise unterblieben wäre und deshalb von Jesus nun nachgeholt werden müsste.197 Auch im übertragenen Sinn kommt ihr keine Bedeutung als Reinigungshandlung zu.198 Die Reinheit der Anwesenden wird vielmehr explizit als bereits gegeben festgestellt (13,10; vgl. 15,3) bzw. kann, im Falle des Judas, auch durch die Fußwaschung nicht erreicht werden (13,11). Die erzählte Handlung in der dargestellten Situation widerspricht also sowohl einer Deutung der Fußwaschung Jesu im Sinne der gastfreundlichen Aufnahme in ein Haus als auch der Interpretation als Reinigung durch einen Sklaven zur Vorbereitung auf eine Mahlzeit. Die Fußwaschung Jesu sowie die Einsprüche und die sich anschließenden Gespräche und Erläuterungen lassen sich jedoch sinnvoll im Rahmen einer Schüler-Lehrer-Beziehung verstehen.199 In der Antike war es vorstellbar, dass die Schüler ihrem Lehrer durch eine Fußwaschung eine Ehre erwiesen haben.200 Jesus selbst wird in Joh 13 sowohl in der direkten Rede von Jüngern als auch in seiner eigenen Figurenrede als Herr (13,6.9.13.14.25.36.37) und zweimal als Lehrer (13,13.14) beschrieben. Die Fußwaschung gilt den „geliebten Seinen“ (13,1), seinen „Schülern“ (13,5), zu denen auch Judas (13,10 f.) gehört.201 In Übereinstimmung mit den kulturellen Gepflogenheiten wäre es eine Aufgabe der Schüler, ihrer Wertschätzung und Verbundenheit mit Jesus als ihrem Lehrer 194 Vgl.

dazu Kapitel 3.  Vgl. Eco, Lector, 96–105. 196  Dass Jesus tatsächlich die schmutzigen Füße seiner Jünger gewaschen habe, wird erneut vorausgesetzt in der Monographie von Mathew, Footwashing, 418. 197 So jedoch Holtzmann, Evangelium, 234. 198  So bereits Wellhausen, Evangelium, 60. Auch Bultmann geht ausgehend vom Kurztext in Joh 13,10 grundlegend davon aus, dass die Reinheit der Jünger bereits vorausgesetzt sei, während die Fußwaschung symbolisch für das Heil insgesamt stehe, das Jesus durch sein Leben den Jüngern vermittle; vgl. Bultmann, Evangelium, 359 f. Ausgehend von literarischen Texten zu Fußwaschungen in engen Beziehungen zwischen Liebespartnern, Eltern und Kindern sowie Lehrern und Schülern hält auch Niemand den Ehrerweis, nicht die Reinigung für zentral, vgl. Niemand, Fußwaschungserzählung, 177 f.189. 199  Vgl. bereits die Textbeobachtungen von Niemand, Fußwaschungserzählung, 180–187. 200 Vgl. Abschnitt 3.2.3. 201  Vgl. Joh 6,70 f.; auch in 17,12 wird Judas zu denen gezählt, die Gott Jesus gegeben hat, auch wenn Jesus ihn nicht davor bewahren konnte, verloren zu gehen, damit die Schrift erfüllt werde. 195

5.4. Narratologische Analyse von Joh 13,1–38

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durch eine Fußwaschung Ausdruck zu verleihen. Ein solcher Ehr- und Liebeserweis gegenüber dem Lehrer ist für die Schülerinnen und Schüler eine Ehre, da sie doch von und mit diesem Lehrer lernen dürfen. Wenn Johannes der Täufer formuliert, dass er nicht würdig sei, dem von ihm Angekündigten die Schuhe zu lösen (1,27), wird wahrscheinlich genau auf diesen Aspekt der Ehrerbietung durch eine Fußwaschung angespielt, welche für das Subjekt der Fußwaschung ebenfalls eine Ehre darstellt.202 Im babylonischen Talmud wird die Fußwaschung gegenüber einem Lehrer als Ehre für die Schüler erkennbar, wenn die Rabbinen erörtern, dass ein Schüler – wenn er als Schüler bekannt oder erkennbar ist  – einem Lehrer auch den Schuh lösen bzw. Füße waschen darf:203 Die Ablehnung dieses Dienstes würde nach Ansicht der Rabbinen bedeuten, dass der Lehrer einem Schüler sowohl seine persönliche Gnade, die hier mit der Liebe eines Freundes (!) verglichen wird, versagt, als auch dessen Gottesfurcht begrenzt. Die Akzeptanz der Fußwaschung eines Schülers durch den Lehrer kann also in dieser vom babylonischen Talmud überlieferten Tradition von Seiten des Lehrers als Liebeserweis und als Förderung der Gottesbeziehung bei dem Schüler verstanden werden. Auch in einer Überlieferung im palästinischen Talmud wird diese Bedeutung der Fußwaschung als Ehre sowohl für das Subjekt als auch für das Objekt im Kontext von Rollenzuschreibungen im Rahmen sowohl von Eltern-Kind-Beziehungen als auch von LehrerSchüler-Beziehungen in ihrer ganzen Komplexität erkennbar:204 Rabbi Jischmael erlaubt seiner Mutter mit Verweis auf das vierte Gebot nicht, dass sie ihm nach seiner Heimkehr die Füße wäscht. Daraufhin beklagt sich die Mutter bei den anderen Rabbinen, dass ihr Sohn gegen das vierte Gebot verstoßen habe, weil er ihr nicht die Ehre zugestanden habe, ihm als angesehenen Rabbi die Füße zu waschen. Auch wenn diese Textcorpora deutlich später entstanden sind als das Johannesevangelium, ist das in ihnen beschriebene Phänomen der Fußwaschung doch offensichtlich über mehrere Jahrhunderte und kulturelle Kontexte hinweg relativ konstant geblieben205, so dass die Texte hier zum Verständnis der neutestamentlichen Erzählung im Sinne einer kulturellen Enzyklopädie herangezogen werden können.

Irritierend ist in Joh 13 folglich, dass Jesus als Lehrer den Schülern die Füße wäscht und so die üblichen Rollenerwartungen verlässt (vgl. Joh 13,1.14 f.). Jesus erweist durch die Fußwaschung den Jüngern seine Verehrung und Liebe und behandelt sie gewissermaßen wie Lehrer, während er die Aufgabe des Schülers übernimmt. Für einen Schüler bedeutet es jedoch keine Erniedrigung, sondern selbst eine Ehre, einem Lehrer durch die Fußwaschung Verehrung zu erweisen. 202  Es gibt mehrere Texte, die nahelegen, dass das Lösen der Schuhe als pars pro toto für die Fußwaschung verstanden werden kann; vgl. z. B. Platon, Symposion 213b; Plut. Pomp. 73,6 f.; auch 1 Sam 25,41 im Vergleich mit Jos.Ant. 6.308. Zur Fußwaschung als Zeichen der Ehrerbietung vgl. Abschnitt 3.3. Die Funktion und Freude des Johannes als Boten Jesu ist in dem Moment erfüllt, als die Hochzeit seines Freundes stattfindet und für ihn als Boten gilt: „Er muss wachsen, ich muss abnehmen“ (3,27–29). 203  S. bKet 96a; vgl. dazu Abschnitt 3.2.3. 204  S. jPea 15c; vgl. dazu Abschnitt 3.2.1. 205 Vgl. dazu Kapitel 3.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Die Geschichte von Rabbi Jischmael und seiner Mutter zeigt, dass der Verstoß gegen die Rollenerwartungen zwar ungewöhnlich ist, allerdings nicht mit Erniedrigung auf Seiten der Mutter konnotiert wird, wenn sie ihrem Sohn – allerding in seiner Rolle als Rabbi – eine Ehre erweisen will (jPea 15c). Den Jüngern wird in Joh 13 eine ungewöhnliche Ehre erwiesen, ihnen kommt eine Statuserhöhung zu, die sie als Schüler so nicht erwarten können, denn sie werden von Jesus wie Lehrer behandelt.206 Die Fußwaschung vermittelt nach Jesu Erläuterung Teilhabe an Jesus (13,8) und wird als zeichenhafte Handlung Jesu in den sich anschließenden Gesprächen und Reden mit Blick auf die gegenwärtige und zukünftige Situation seiner anwesenden Schüler interpretiert. Die weiteren Erläuterungen Jesu im Rahmen der Gespräche werden zeigen, dass Jesus seinen Jüngern mit der Fußwaschung zeichenhaft an seiner eigenen Rolle Anteil gibt (15,20), auch wenn sie trotz allem als seine Schüler von ihm abhängig bleiben. Es findet also kein dauerhafter Rollenwechsel statt, Jesus bleibt ihr Lehrer und Herr (13,12.16).

5.4.8. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse aus der narratologischen Exegese Die umfassende Liebe Jesu zu den Seinen, die vor der Inkarnation begann und in der Parusie nicht endet, ist narratologisch der Ausgangspunkt (13,1) für das gemeinsame Mahl, die Fußwaschung, die Gespräche und das abschließende Gebet vor Jesu Rückkehr zum Vater. Das letzte Mahl ist ein Abschiedsmahl in einer von Liebe geprägten vertrauten Gemeinschaft. Damit werden auch Assoziationen an Joh 12,1–8 wachgerufen, wo Maria als Zeichen ihrer Liebe und Verehrung Jesus die Füße salbt und abtrocknet. Die mit einer innig-vertrauten Berührung verbundene Salbungshandlung führt dazu, dass sie an ihren Haaren, d. h. ihrem Kopf, mit Jesus den Duft des Salböls teilt, der als Duft des Lebens charakterisiert wird, der sich durch ihr Handeln verbreiten kann. Als Freundin Jesu steht sie gemeinsam mit ihren Geschwistern in einer von Liebe und Vertrauen geprägten Beziehung zu Jesus.207 Diese vorausgehende Szene mit deutlichen Anklängen an Joh 13 gibt narratologisch ebenfalls Interpretationshinweise für Joh 13–17. In Joh 13 sind bei dem Mahl im vertraut-freundschaftlichen Kreis außer Jesus eine unbestimmt bleibende Anzahl von Jüngern anwesend. Weder lässt sich 206  Vgl. dazu insbesondere Neyrey, der in Joh 13,4–11 ein Ritual sieht, das den Status der Jünger erhöhe und sie auf ihre zukünftige Aufgabe als „elite disciples“ vorbereite; Neyrey, Gospel, 227. Allerdings geht Neyrey dabei nicht von der Fußwaschung als Ehrerweis aus, sondern von einer Reinigung, die im Sinne einer Vorbereitung interpretiert wird; a. a. O. 230. 207  Zur antiken Konzeption von Freundschaft vgl. v. a. Konstan, Friendship; Culy, Echoes, 34–62; zur Freundschaft zwischen Jesus und den Jüngerinnen und Jüngern bei Johannes vgl. Culy, Echoes, 130–177; Ringe, Wisdom, 64–83; Tilborg, Love, 11–168.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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der Kreis auf die Zwölf begrenzen, die kein einziges Mal in Joh 13–17 genannt werden, noch kommt den individuell genannten Jüngern eine übergeordnete Rolle zu. Auch Petrus und der Anonymus gehören als Jünger wie alle anderen Schülerinnen und Schüler zum Kreis der von Jesus in gleicher Weise geliebten Seinen (13,1). In der Interaktion mit einzelnen Jüngern werden jedoch von Jesus jeweils bestimmte Aspekte der Bedeutung der Fußwaschung sowie der besonderen Situation unmittelbar vor Jesu Abschied erläutert. In den Gesprächen im Anschluss an die Fußwaschung beauftragt Jesus seine Schüler, sich gegenseitig die Füße zu waschen, sein Vorbild nachzuahmen und sich gegenseitig zu lieben, wie er sie geliebt hat (13,14 f.34 f.; vgl. 15,12.17). Jesus spricht die Seinen dabei als Repräsentanten und Gesandte an, die mehr oder weniger treu zu ihm stehen, für ihn zeugen und wie er Anerkennung und Ablehnung erfahren werden (vor allem 13,16.20; 15,20). Die Liebe zur Welt, die Jesus im Auftrag Gottes vermittelt (3,16 f.; 13,1), bleibt in der gegenseitigen Einwohnung von Gott, Jesus und den Seinen in der Welt präsent und erfahrbar (17,20–26).208 Damit steht das letzte Mahl Jesu und die sich anschließende Abschiedsrede durch ihren Rahmen in einem christologischen Kontext, in dem es um die Sendung Jesu zur Vermittlung der Liebe Gottes geht, und in einem ekklesiologischen Kontext, in dem es um die Sendung der Seinen in die Welt geht. Angesichts seines unmittelbar bevorstehenden Abschieds aus der Welt zeigt und erklärt Jesus den Seinen durch die Fußwaschung mit den anschließenden Erläuterungen, wie sie nach seinem Abschied in seiner Gemeinschaft bleiben können und so zugleich als seine Nachfolgegemeinschaft Gottes Liebe in der Welt repräsentieren.

5.5. Einzelexegese von Joh 13 Der folgende exegetische Durchgang soll die Beobachtungen und Ergebnisse der narratologischen Analyse auf den Text von Joh 13 anwenden und überprüfen bzw. darstellen, inwiefern sich auf diese Weise eine konzise synchrone Interpretation des gesamten Textes mit seinen einzelnen Details und Themenschwerpunkten im Kontext des Johannesevangeliums erreichen lässt. Dabei wird Joh 13,1–38 als ein zusammenhängender einheitlicher Text betrachtet, im Wissen darum, dass die in Joh 13,1–3 beschriebene Szene mit der Mahlsituation im vertraut-freundschaftlichen Kreis der Jünger mit Jesus erst in Joh 17,26 zu einem Abschluss kommt209 und eingebettet ist in die gesamte Erzählung des Jo208  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 583–585; Zur zentralen Bedeutung der liebessemantischen Motive für die Abschiedsrede vgl. grundlegend Popkes, Theologie, 249–251. 209 Weder aus erzähltheoretischer Perspektive noch aufgrund von Textsignalen im Johannesevangelium selbst lässt sich eine Trennung der Mahlsituation mit der Fußwaschung Jesu und den

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

hannesevangeliums in Joh 1–21. Der johanneische Text selbst kann wiederum in rezeptionsorientierter, zum Teil auch begründet in produktionsorientierter Perspektive intertextuell mit den Synoptikern gelesen und interpretiert werden. Auch dies kann in der vorliegenden Studie aufgrund der zentralen christologisch-ekklesiologischen Thematik mit ihren vielen Bezügen nur sehr begrenzt und exemplarisch eingeholt werden. Sowohl die Erarbeitung der Forschungsgeschichte zur Fußwaschungserzählung als auch die vorangehenden narratologischen Analyseschritte haben gezeigt, dass sich die Interpretation der vielen Details in Joh 13 sehr komplex darstellt und jeweils auf den Gesamtentwurf der Exegetinnen und Exegeten zum Verständnis der Fußwaschung Jesu bezogen ist, der wiederum von den je unterschiedlichen Vorannahmen zur Entstehung und Deutung des Johannesevangeliums abhängt. Von daher ist es nicht sinnvoll, bei der folgenden Einzelexegese von Joh 13 bei den vieldiskutierten Details der Fußwaschungserzählung erneut vertieft in die Forschungsdiskussion einzusteigen. Die Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur wird deshalb hier auf ein Minimum begrenzt und auf die entsprechenden Abschnitte zur Forschungsgeschichte verwiesen.

5.5.1. Joh 13,1–5 Joh 13,1–3: In Joh 13,1, vor allem in 1b, wird die gesamte Sendung Jesu unter das Vorzeichen der Liebe Jesu zu den Seinen gestellt (vgl. Joh 3,16).210 Narratologisch wird damit auch für das weitere erzählte Geschehen im Rahmen des letzten Mahls das grundlegende Thema vorgegeben: Joh 13,1: … ἀγαπήσας τοὺς ἰδίους τοὺς ἐν τῷ κόσμῳ εἰς τέλος ἠγάπησεν αὐτούς.

Die Liebe Jesu wird durch das einzige finite Verb der komplexen Satzkonstruktion in Joh 13,1–3 formuliert. Das Attribut εἰς τέλος steht so zwischen dem sich anschließenden Gesprächen begründen. Redebeiträge sind erzähltheoretisch als Handlung zu betrachten. Mit Blick auf die Situation wird ein Mahl mit anschließenden Tischgesprächen detailliert beschrieben, wie es in der Antike im Rahmen einer Abendmahlzeit als Deipnon mit anschließendem Symposion üblich war. Die johanneische Konzeptualisierung des letzten Mahls Jesu ist in dieser Hinsicht nicht einmal als neuer Entwurf zu sehen, da sich bereits in Lk 22,14–38 eine Beschreibung des letzten Mahls Jesu mit den zwölf Aposteln nach der Struktur Deipnon – Symposion findet, wobei die Ankündigung des Verrats durch Judas am Beginn des Symposions stattfindet und zum Rangstreit überleitet, an den sich Belehrungen Jesu zu Ehre und Autorität im Apostelkreis sowie Konkretisierungen zur Verantwortung der Apostel angesichts von Jesu Tod anschließen. 210  Die Einleitung verdeutlicht: „Die christologische Pointe von Joh 13,2 ff. liegt darin, daß die Fußwaschung nicht etwa die Liebe zu Jesus ausdrückt (so etwas Lk 7,36 ff.), sondern die Liebe Jesu zu seinen Jüngern“; Popkes, Theologie, 252.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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Partizip und dem finiten Verb, dass eine eindeutige Zuordnung nicht möglich ist, zudem lässt es sich sowohl temporal ‚bis zum Ende‘ als auch qualitativ ‚bis zur Vollendung‘ verstehen.211 Da der Erzähler an anderen Stellen durchaus die sprachlichen Mittel nutzt, um zunächst ebenfalls nur vage angedeutete Sachverhalte zu vereindeutigen, ist hier davon auszugehen, dass diese Offenheit gewollt und die Formulierung sowohl temporal als auch qualitativ zu verstehen ist. Die Sendung Jesu und seine damit verbundene Beziehung zu den Seinen wird unter das Vorzeichen umfassender Liebe gestellt, die bis zur Parusie ihre Gültigkeit nicht verliert. Narratologisch ist hier primär ein Bezug auf die Fußwaschung212 und die sich anschließenden Gespräche im Rahmen des letzten Mahls im Blick zu behalten. Ausgehend von εἰς τέλος wird in der Forschung über Joh 15,13 und den Hinweis auf den Einsatz des eigenen Lebens als Zeichen der größtmöglichen Liebe ein Bezug von Joh 13,1 zu Joh 19,30 hergestellt (vgl. bereits 19,28),213 doch Jesu Liebe endet nicht mit der Kreuzigung, auch wenn diese der tiefste und deutlichste Ausdruck seiner Liebe ist (vgl. 15,13).214 Mit seiner Erhöhung und der Rückkehr zum Vater hat Jesus sein Wirken in der Welt zu einem Abschluss gebracht und damit seinen Auftrag vollendet, mit dem Gott ihn in die Welt gesandt hat (Joh 3,16; vgl. 4,34; 13,1; 17,4). Die Liebe Jesu zu den Seinen reicht jedoch über seine Zeit in der Welt hinaus und zielt auf die bleibende Einwohnung der Liebe Gottes und Jesu in den Seinen, wie vor allem die eschatologische Schlussbitte des Gebets Jesu zeigt (17,26).215 Dies betrifft gemäß Joh 17,20 nicht nur diejenigen, die Jesus während seines irdischen Lebens nachgefolgt sind, sondern explizit auch diejenigen, die nach Ostern zu der Nachfolgegemeinschaft dazukommen.

In Joh 13,1–3 wird ein Konflikt zwischen Jesus und dem Diabolos als seinem Gegenspieler angedeutet, bei dem es darum geht, dass die Sendung Jesu zu ihrem Ziel kommt. Als der Gesandte Gottes bringt Jesus die Liebe (13,1; 17,26) und das Leben (17,2; vgl. 13,3) zu den Seinen und besiegt darin die todbringende Macht des Diabolos, so dass er nun zu Gott zurückkehren kann (13,1–3; 17,4). Während Jesus in einer Liebesbeziehung zu Gott steht und den Seinen Gottes Liebe vermittelt, macht der Teufel Judas zu einem Instrument seines zerstörerischen, todbringenden Wirkens. Doch Jesus ist dem nicht hilflos oder unwissend aus211 Zur Diskussion der möglichen temporalen und qualitativen Konnotationen von εἰς τέλος vgl. Hoegen-Rohls, Johannes, 97. 212  Schnackenburg weist daraufhin, dass antike und ältere Kommentare v. a. einen Bezug der Liebe Jesu zur Fußwaschung sehen, während neuere Kommentare eher an die Kreuzigung denken; Schnackenburg, Johannesevangelium III, 17 Anm. 213   Vgl. u. a. Schnackenburg, Johannesevangelium III, 11.17; Thyen, Johannesevangelium, 585. Als ein für Lesende erkennbarer Hinweis auf die Kreuzigung ist der semantische Bezug von εἰς τέλος zu τετέλεσται in 19,30 jedoch eher schwach, auch wenn er oft aufgegriffen wird. Bereits in 19,28, also noch kurz vor seinem Tod, erkennt Jesus, dass alles schon vollendet ist. 214 Vgl. auch Joh 11,8–16, wo sowohl Jesus als auch die, die ihm nachfolgen, aus Liebe zu dem geliebten Freund Lazarus die Gefahr in Kauf nehmen, zu sterben, wenn Jesus hingeht, um den Geschwistern zu helfen. 215 Frey, Eschatologie III, 223–231; Popkes, Theologie, 188 f.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

geliefert, er weiß vielmehr genau, was passiert und in welcher Vollmacht er von Gott gekommen ist und dorthin zurückkehrt (13,1.3). Joh 13,4–5: In Joh 13,4 f. beschreibt der Erzähler in allen Details, wie Jesus im Wissen um diese Situation während der Mahlzeit aufsteht, seine Oberkleider ablegt, ein Leinentuch nimmt und sich damit gürtet, Wasser eingießt und beginnt, den Jüngern die Füße zu waschen und sie abzutrocknen (13,4 f.).216 Der Erzähler kommentiert oder interpretiert das Geschehen hier nicht (vgl. jedoch bereits 13,1–3), sondern berichtet davon unaufgeregt und sachlich, indem er das Präsens verwendet und die Lesenden so gewissermaßen in die gegenwärtig stattfindende Handlung mit hineinnimmt. Die Fußwaschung findet während der Mahlzeit statt, sie dient also nicht der Reinigung der bereits zu Tisch liegenden Jünger.217 Auch die Art Jesu, sich zu kleiden, wird ohne Kommentierung dargestellt. Sie wird nicht als Kleidung eines Sklaven ausgewiesen.218 Das Waschen und Abtrocknen der Füße bedarf gemäß der Darstellung dieser zweckmäßigen Kleidung. Die Fußwaschung Jesu oder auch die Rolle Jesu wird weder in Joh 13 noch sonst im Johannesevangelium als Sklavendienst bezeichnet.219 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass das Waschen der Füße häufig zu den Aufgaben von Sklaven und Sklavinnen gehörte, allerdings ist die umgekehrte Schlussfolgerung von einer Fußwaschung auf einen Sklavendienst gerade nicht möglich,220 da eine Fußwaschung in der Antike viel differenzierter praktiziert und konnotiert wurde. Auch durch intertextuelle Bezüge zu Lk 7,36–50; 22,27 216  Eine vergleichbar detaillierte Beschreibung einer Fußwaschung – wenn auch in mehreren Anläufen – findet sich in Hom.Od.19,374–381; vgl. dazu Abschnitt 3.2.5. Dies spricht gegen die These Mathews, die in der detaillierten Beschreibung der Fußwaschungshandlung ein Alleinstellungsmerkmal für die johanneische Erzählung in Joh 13 sieht, um damit zu begründen, dass sich für die Fußwaschung Jesu keine Parallelen zu anderen Fußwaschungen in der antiken Literatur finden lassen; vgl. Mathew, Footwashing, 124–127. 217  Vgl. insbesondere Abschnitt 5.4.7. sowie Abschnitt 3.2. 218 So jedoch z. B. Keener, Gospel 903 f.; Mathew, Footwashing, 215; Thyen, Johannesevangelium, 585. Auch ein Vergleich mit Lk 17,8 zeigt mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Womit der Sklave sich gürtet, wird in Lk 17,8 nicht erwähnt, außerdem findet sich als Verb περιζώννυμι, während in Joh 13,4 διαζώννυμι vorkommt. Im Johannesevangelium findet sich das Verb διαζώννυμι nur hier und bezeichnenderweise in Joh 21,7, wo sich Petrus nach seiner Arbeit, die er nackt verrichtet hat, gürtet. Als Jesus Petrus wenig später dessen Märtyrertod voraussagt, geschieht dies interessanterweise mit der Metapher, dass er sich später nicht (!) mehr selbst gürten wird: Αμὴν ἀμὴν λέγω σοι, ὅτε ἦς νεώτερος, ἐζώννυες σεαυτὸν καὶ περιεπάτεις ὅπου ἤθελες· ὅταν δὲ γηράσῃς, ἐκτενεῖς τὰς χεῖράς σου, καὶ ἄλλος σε ζώσει καὶ οἴσει ὅπου οὐ θέλεις (Joh 21,18). 219  Vgl. dazu die Analyse von Texten zur Fußwaschung in Kapitel 3; insbesondere die Abschnitte 3.2. und 3.3. Δοῦλος wird im Johannesevangelium überhaupt nur in Joh 4,51; 8,34 f.; 13,16; 15,15.20; 18,10.18.26, δουλεύω nur in 8,33 verwendet und an keiner einzigen Stelle auf Jesus selbst bezogen. 220 Dies wird bei der Analyse von Joh 13 jedoch häufig vorausgesetzt, wie die Forschungsgeschichte zeigt; vgl. dazu Kapitel 1 und Abschnitt 5.4.7. Kritisch zur pauschalen Einordnung der Fußwaschung als Sklavendienst z. B. Kötting, Fußwaschung, 760; Niemand, Fußwaschungserzählung, 177–187; Hentschel, Fußwaschung, 67 f.70 f.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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und Mk 10,42–45 lässt sich eine Deutung der johanneischen Fußwaschung als niedriger Dienst oder Sklavendienst nicht erhärten, unabhängig davon, wie man diese Texte im Sinne von Prätexten versteht und wie man in ihnen den Dienst Jesu interpretiert, denn auch in diesem Fall müsste sich im johanneischen Text selbst ein Hinweis auf diese – doch gravierende Konnotation – der Fußwaschung Jesu finden lassen.221 Dies ist jedoch nicht der Fall. Auch in dem Joh 13,4 f. nahestehenden Text Joh 12,1–8 wird die Fußsalbung nicht als Sklavendienst konnotiert und Maria nicht in der Rolle einer Sklavin gezeichnet. Von daher ist festzuhalten, dass Jesus in Joh 13,4 f. weder direkt als Sklave bezeichnet noch indirekt durch seine Kleidung oder sein Handeln in der Rolle eines Sklaven dargestellt wird. Auch ein Hausherr konnte im Rahmen der Gastfreundschaft einem Gast eine besondere Ehre erweisen, wenn man diesem nicht nur Wasser zum Waschen der eigenen Füße zur Verfügung stellte oder ihm durch Diener die Füße waschen ließ, sondern dies als Hausherr oder auch als Hausherrin selbst verrichtete.222 Der Hausherr übernahm in diesem Fall zwar die Aufgabe der Fußwaschung, die sonst von den Gästen selbst oder auch von Sklaven durchgeführt wurde, allerdings erniedrigt sich ein Hausherr dadurch nicht selbst zum Sklaven. Die eigenhändige Fußwaschung eines Gastgebers war mit Blick auf die antike Literatur eine außergewöhnliche, aber doch nicht ungehörige oder ehrenrührige Geste der Wertschätzung und Gastfreundschaft.223 Diese gastfreundliche Fußwaschung geschah aber in der Regel beim Betreten des Hauses und damit vor dem Beginn des Mahls. In Joh 13,3 f.12 wird jedoch festgehalten, dass Jesus vom Mahl aufsteht bzw. sich wieder zu Tisch legt. Zeitgenössische Lesende, die mit den kulturellen Gepflogenheiten rund um Mahlzeiten vertraut sind, erwarten entsprechend, dass die Teilnehmenden des Mahls ihre Füße bereits im Vorfeld gewaschen haben und dass die Fußwaschung Jesu nicht der Reinigung für ein Mahl dient und damit auch nicht im Sinne einer gastfreundlichen Aufnahme durch den Hausherrn zu interpretieren ist. Diese Situation gilt entsprechend auch für die Fußsalbung in Joh 12,3. Die Fußwaschung erscheint gemäß der Situationsbeschreibung in Joh 13 als Anlass und Auftakt für die sich an das Mahl anschließenden Tischgespräche, wie es beim Symposion üblich war. Dem entspricht, dass in der Beschreibung der Szene (13,1–3), anders als in Joh 12,1 f., gerade nicht die Situation eines gastfreundlichen Empfangs skizziert, sondern vielmehr ein gemeinschaftliches Abendessen im Freundeskreis mit anschließendem Symposion nahegelegt wird.

221  Auch wenn Joh 13 Lk 22,24–30 und Mk 10,35–45 voraussetzt, dazu Sabbe, Footwashing, 295 f., ist unabhängig von produktionsorientierten Hypothesen bei der Analyse der intertextuellen Bezüge zu bedenken, dass eine intertextuelle Bezugnahme nicht nur affirmierend, sondern auch negierend oder differenzierend geschehen kann; vgl. Pfister, Konzepte, 20. Vgl. dazu auch Abschnitt 2.2.1. Deshalb müssten Hinweise auf die Vorstellung, dass Jesus in Joh 13 wie ein Sklave agiert, auch in Joh 13 selbst nachweisbar sein; dies reflektiert Thyen zu wenig; vgl. zur Stelle Thyen, Johannesevangelium, 592. Wie stark die Vorstellung von Jesus „als Sklaven“ in der Exegese von Joh 13 verbreitet ist, zeigt zum Beispiel die Aussage Mathews, die festhalten kann, dass in Mk 10,45 διακονέω für das Handeln Jesu verwendet werde, aber „John has δοῦλος“ (Mathew, Footwashing, 214), obwohl δοῦλος in Joh 13 für Jesus gerade nicht verwendet wird. In Joh 13 wird Jesus in der Rolle des Herrn und Lehrers, nicht in der Rolle des Sklaven gesehen. Zum Verständnis von διακονέω und seinen Ableitungen im Sinne der Ausführung von Beauftragungen unterschiedlicher Art, die ebenfalls nicht grundsätzlich auf Sklaven oder Dienstpersonal als Subjekte schließen lassen, vgl. Hentschel, Diakonia, 24–89. 222  Vgl. Abschnitt 3.2.4 und 3.2.6. 223 So zum Beispiel TestAbr 3,9; 6,6; vgl. Abschnitt 3.2.6.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Allerdings ist es ungewöhnlich, dass Jesus als „Lehrer und Herr“, der er ist und bleibt (13,13), seinen Schülern während einer Mahlzeit die Füße wäscht. In der Beziehung zwischen Schülern und Lehrer wäre es vielmehr die Aufgabe der Schüler, durch die Fußwaschung ihrem Lehrer eine Ehre zu erweisen. Jesus verhält sich hier also nicht rollenkonform. Dieses Verhalten irritiert (13,7) und führt zu einer Diskussion über die Teilhabe an Jesus. Sowohl die Situation als auch Details der Handlung mit Waschen und Abtrocknen erinnern die aufmerksamen Lesenden an das Salben und Abtrocknen der Füße Jesu durch Maria (12,1–8), das vom Erzähler ebenso detailliert wie sachlich berichtet wurde und das im Laufe der Erzählung als ein Akt inniger Liebe gegenüber Jesus ausgewiesen wurde.224 Ein expliziter Bezug zu Joh 12,1–8 wird nicht hergestellt, was jedoch nicht bedeutet, dass die Beziehung zwischen den beiden Texten für den Erzähler nur zufällig oder gar zweitrangig wäre. Narratologisch gilt vielmehr, dass die vorausgehende Situation die folgende mit Blick auf ihr Verständnis und ihre Interpretation mitbestimmt.225

5.5.2. Joh 13,6–11 Joh 13,6: Jesus kommt zu Petrus, der ein Gespräch mit ihm beginnt (13,6a). Die Redeeinleitungen, die das Gespräch im Folgenden immer wieder unterbrechen, sind bis 13,10 knapp und ohne weiterführende Informationen für die Lesenden. Erst in 13,11 erläutert der Erzähler in einem Kommentar die vorangehende Aussage Jesu, die dadurch wiederholt und hervorgehoben wird. Mit der betont vorangestellten Anrede „Herr, du“ fragt Petrus, ob wirklich Jesus Füße waschen will (13,6b). Die Aussage zielt also auf die Feststellung, dass Jesus als der „Herr“ der Seinen handelt. Dass Jesus hier Füße wäscht, wird von Petrus zwar betont festgehalten, jedoch nicht weitergehend  – zum Beispiel als Sklavendienst  – gewertet. Von der Situation her ist nachvollziehbar, dass Petrus sich wundert und ablehnend reagiert, weil Jesus gegen die Rollenerwartungen verstößt.226 „A person of superior status  – be it master, parent, husband, or teacher – does not wash the feet of a subordinate – servant, child,

224 Thyen spricht aufgrund der Ähnlichkeiten der beiden Szenen sogar von der „Fußwaschung“ Marias; vgl. Thyen, Johannesevangelium, 550. 225  Von daher ist die klassische Zweiteilung des Johannesevangeliums in die Kapitel 1–12 und 13–20/21 problematisch, wenn sie dazu führt, dass die Fußwaschung isoliert von den vorausgehenden Ereignissen und nur mit Blick auf die Passion Jesu gedeutet wird. 226  Damit ist die Situation vergleichbar mit jPea 15c, wo Rabbi Jischmael es als einen Verstoß gegen das vierte Gebot betrachtet, wenn seine Mutter ihm die Füße waschen will, und dies deshalb ablehnt; vgl. Abschnitt 3.2.1.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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wife, or pupil.“227 Üblicherweise wurden Füße als Ehrerweis und als Zeichen einer vertrauten oder intimen Liebe zu unterschiedlichen Anlässen in Übereinstimmung mit den gesellschaftlichen Hierarchien bzw. Rollenvorstellungen gewaschen, wobei die Ehefrau dem Ehemann, die Kinder den Eltern und auch die Schüler ihren Lehrern die Füße waschen konnten.228 Die Beziehung zwischen Jesus als dem Herrn und Lehrer (vgl. 13,13 f.) und seinen Schülern wird im Laufe der Erzählung weiter thematisiert und bildet offensichtlich einen Fokus der Fußwaschung. Setzt man die Lehrer-Schüler-Beziehung und den darin gegebenen Statusunterschied als Basis für den Einspruch voraus, ergibt sich der folgende Sachverhalt: Jesus ist und bleibt der Herr und Lehrer seiner Schüler und hat als solcher ihre Füße gewaschen (13,13 f.). Petrus wehrt sich im damaligen kulturellen Kontext nachvollziehbar dagegen, dass Jesus als Lehrer gegen die Rollenerwartungen verstößt und ihm als seinem Schüler die Füße waschen will.229 Stattdessen wäre Petrus als Schüler dazu verpflichtet gewesen, Jesus die Füße zu waschen. Mit der Fußwaschung erweist Jesus als Lehrer seinen Schülern seine Liebe und Verehrung und behandelt sie damit in der Rolle von Lehrern (vgl. 13,1). Joh 13,7: Jesus reagiert ausweichend mit dem Hinweis, dass Petrus sein Tun nicht jetzt, aber später (μετὰ ταῦτα) verstehen werde (13,7).230 Eine Erklärung, wann dies 227  Thompson, John, 285. Sie benennt die für eine Fußwaschung in vertrauten Beziehungen relevanten Paare, berücksichtigt jedoch nicht ausreichend, dass eine Fußwaschung im Rahmen dieser Beziehungen nicht als (niedriger) Dienst oder Sklavendienst, sondern vielmehr als Ehrund Liebeserweis anzusehen ist. Auch wenn Thompson ausgehend vom Text erkennt, dass zwar die Erniedrigung kaum eine Rolle spiele, nimmt sie dennoch eine Identifikation Jesu mit denen an, die dienen; ebd. Diese Interpretationsmodell ist gravierend, denn in Joh 13 geht es um einen Liebeserweis an den Jüngern, nicht um eine Dienstethik; vgl. dazu Kapitel 3; ähnlich sieht auch Niemand, dass eine Fußwaschung auch Ehr- und Liebeserweis sein kann; vgl. Niemand, Fußwaschungserzählung, 180–187, hält jedoch trotz seiner weiterführenden Textbeobachtungen an der problematischen Grundannahme fest, dass Fußwaschung immer zuerst Sklavendienst sei; a. a. O. 181. 228 Inwiefern ein Ehrerweis gegenüber einem Lehrer auch von Frauen oder Schülerinnen durchgeführt wurde, müsste in einer eigenen Studie überprüft werden. In jPea 15c,41–46 ist zumindest einmal belegt, dass auch Frauen einem angesehenen Lehrer gegenüber durch eine Fußwaschung ihre Verehrung zum Ausdruck bringen konnten; vgl. auch Niemand, Fußwaschungserzählung, 180–188, der den Liebeserweis in engen Beziehungen deutlich herausarbeitet, jedoch zwischen Gastfreundschaft und Liebeserweis nicht ausreichend differenziert. 229  Auch in Hom.Od. 19 wird ausführlich beschrieben, wie Odysseus eine Fußwaschung als Ehrerweis ablehnt, die ihm wegen seines Wissens um die ihm entgegengebrachte Verachtung durch die Sklaven und Sklavinnen eine unangenehme Berührung und gerade keine Ehre wäre; vgl. Abschnitt 3.2.5.; vgl. Niemand, Fußwaschungserzählung, 180 f. 230 Vgl. zur Interpretation die Erläuterungen zu Joh 13,12. Die Verbindung der Präposition μετά mit Demonstrativpronomen wird bei Johannes häufig verwendet, um zeitliche Abfolgen zu beschreiben; vgl. Joh 2,12; 3,22; 5,1.14; 6,1; 7,1; 11,7.11; 19,28; 21,1. Ein eindeutiger Bezug zu 13,36 ist semantisch nicht gegeben, da dort ὕστερον verwendet wird.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

konkret sein wird, erfolgt nicht. Die Antwort Jesu zeigt jedoch, dass die Verwunderung des Petrus berechtigt und die Handlung zeichenhaft und deutungsbedürftig ist.231 Zugleich erzeugt die Aussage Jesu eine Spannung – auch die Lesenden wollen ja verstehen, was Jesus da macht –, welche die weitere Lektüre begleitet. Für die Lesenden ist nicht deutlich, worauf dieses „später“ in der direkten Rede Jesu bezogen ist. In Joh 2,22 und 12,16 verweist der Erzähler darauf, dass die Jünger eine Information Jesu „jetzt“ nicht verstehen können, er gibt allerdings zugleich den Zeitpunkt und die Voraussetzungen für das spätere richtige Erkennen an, wenn er ergänzt, dass und wie sie es nach Ostern verstehen werden. Diese Information über das erst „später“ mögliche Verstehen der Jüngerinnen und Jünger erhalten in 2,22; 12,16 aber nur die Lesenden, nicht jedoch die Figuren im Rahmen der erzählten Handlung, denn sie wird auf der ersten Erzählebene formuliert. In der vorliegenden Szene erfolgt die Information über das spätere Verstehen auf der zweiten Erzählebene in der Figurenrede von Jesus an Petrus. Wann und unter welchen Bedingungen er die Fußwaschung Jesu „später“ verstehen wird, bleibt jedoch offen, sowohl für die Erzählfigur Petrus als auch für die Lesenden, da ein erläuternder Erzählerkommentar fehlt. Durch die vorangehende Lektüre des Johannesevangeliums wissen die Lesenden bereits, dass ein umfassendes Verstehen der Ereignisse für die beteiligten Jünger erst nach der Stunde Jesu möglich sein wird. Es ist allerdings bis jetzt nicht deutlich markiert, ob es sich bei der Interpretation der Fußwaschung Jesu auch um einen Aspekt handelt, der grundsätzlich erst nachösterlich erkennbar ist. Während es in Joh 2,22 und 12,16 um ein Erkennen der Heilsbedeutung des Todes Jesu geht, ist diese bei der Fußwaschung Jesu nicht im Blick: Auch wenn die Fußwaschung im Kontext des bevorstehenden Abschieds Jesu und damit seines bevorstehenden Todes steht, dient sie – wie die hier vorgelegte Interpretation nahelegt – nicht der Deutung des Todes Jesu, sondern der Deutung der Sendung Jesu, in welche die Jünger angesichts des bevorstehenden Abschieds Jesu auf spezifische Art und Weise einbezogen werden.

Für die Interpretation von 13,7 ist festzuhalten, dass das „später“ in der Figurenrede Jesu an Petrus sowohl aus narratologischen als auch aus inhaltlichen Gründen nicht einfach mit den an die Lesenden gerichteten Erzählerkommentaren in Joh 2,22 und 12,16 gleichgesetzt werden kann.232 Da es sich um eine Figurenrede handelt, ist vielmehr naheliegend, dass Jesus in Joh 13,12 mit ausführlichen Erläuterungen beginnt, um das in 13,7 angekündigte Verstehen der Fußwaschung für Petrus und die anwesenden Jünger zu ermöglichen.233 231  Schnackenburg spricht zurecht von „Hintergründigkeit“ der Antwort Jesu; Schnackenburg, Johannesevangelium III, 20. Exegetisch kann man hier von einer Zeichenhandlung Jesu sprechen, auch wenn die Fußwaschung im Text selbst nicht als σημεῖον bezeichnet wird; Thyen, Johannesevangelium, 590. 232 So wird in der neueren Forschung jedoch häufig argumentiert, wobei damit nicht nur das nachösterliche Verstehen, sondern auch der Bezug der Fußwaschung auf die Kreuzigung festgehalten wird; vgl. die Forschungsgeschichte in Kapitel 2 sowie von den neueren Kommentaren exemplarisch Schnelle, Evangelium, 236; Thyen, Johannesevangelium, 588; Thompson, John, 268; Zumstein, Johannesevangelium, 488; auch Culpepper, Gospel, 204 f., anders z. B. Neyrey, Gospel, 232. 233  Diese Deutung findet sich oft in älteren Interpretationen bis hin zu den ersten Kommentaren der Alten Kirche; vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium III, 21 Anm., der u. a.

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Joh 13,8: Die Erzählfigur Petrus reagiert im nächsten Einwand auf den von Jesus angesprochenen Aspekt der Zeit und hält nun fest: „Du sollst nicht waschen meine Füße in Ewigkeit!“ (13,8). Der Gedanke der „Ewigkeit“ steht im Griechischen betont am Schluss seiner Aussage. Jesus geht in seiner folgenden Antwort auf die Bedeutung der Fußwaschung ein: „Wenn ich dich nicht wasche234, hast du keinen Anteil an mir (οὐκ ἔχεις μέρος μετ᾿ ἐμοῦ)“ (13,8b). Narratologisch hat also der Verweis Jesu auf das „spätere“ Verstehen (13,7) ein Missverständnis des Petrus ermöglicht, das den Zeitaspekt mit Blick auf die Fußwaschung in das Gespräch einbringt. Ausgehend von diesem zweiten Missverstehen des Petrus in 13,8 legt sich für die Lesenden die Assoziation nahe, dass die Handlung Jesu etwas mit der Zukunft und der Ewigkeit und damit möglicherweise mit dem Heil zu tun habe, das Jesus vermittelt.235 Jesus selbst beschreibt den Ertrag der Fußwaschung für die Jünger als „Teilhabe an ihm“.236 Da der johanneische Jesus sich im wahrsten Sinne des Wortes in personam als das Heil darstellt, das er im Auftrag Gottes nicht nur vermittelt, sondern das er selbst ist, kann eine Teilhabe an Jesus durchaus wörtlich verstanden werden.237 In Joh 13,1–3 wird Jesus als der beschrieben, der von Gott gesandt und bevollmächtigt ist, der von Gott kommt und zu diesem zurückkehrt und dessen Cyrill von Alexandrien, Thomas von Aquin und weitere Belege bei W. Bauer verweist; zur Geschichte der Interpretation der Fußwaschung vgl. grundlegend Richter, Geschichte; auch Lohse, Geschichte, 15–104. 234  In der Antwort Jesu werden die Füße nicht mehr explizit erwähnt! Dass Johannes keine Schwierigkeit mit Wiederholungen hat, zeigt sich jedoch in 12,3, wo die Füße betont zweimal kurz nacheinander genannt und nicht einmal durch Pronomen ersetzt werden; diff. 13,5. 235  Inwiefern für die Teilhabe an Jesus sein Tod vorausgesetzt wird, müsste erneut überprüft werden, unter der Voraussetzung, dass die Fußwaschung nicht den Tod Jesu deutet, sondern sich umfassender auf die Sendung Jesu bezieht. Vgl. z. B. Schnelle: „Dieser soteriologische Horizont der Fußwaschung setzt Jesu Tod voraus, der als ein Akt der Liebe den Raum der Liebe in der Gemeinschaft mit Jesus und im gegenseitigen Dienen in der Gemeinde erst ermöglicht (vgl. Joh 12,24–26)“; Schnelle, Evangelium, 238. Eine so weitgehende Konzentration auf den Tod Jesu ist als Engführung der johanneischen Soteriologie zu betrachten, da der johanneische Jesus durchgehend deutlich macht, dass er als Person das Heil Gottes umfassend vermittelt; vgl. v. a. die johanneischen Ich-bin-Worte. 236  Die Frage, worin die „Teilhabe an Jesus“ konkret besteht, wird in der Forschung breit diskutiert, so dass sich viele Bezüge, u. a. auf alttestamentliche Vorstellungen, und Deutungsmöglichkeiten respektive Heilsvorstellungen finden, vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium III, 21; Thyen, Johannesevangelium, 588 f.; Zumstein, Johannesevangelium, 488 f.; auch eine Taufvorstellung wird diskutiert, z. B. Moloney, John 375. Weiterführend ist hier Bultmann, der eng am Text bleibt und schlicht festhält, dass, wer die Fußwaschung Jesu annimmt, „Gemeinschaft mit ihm hat, mit ihm verbunden bleibt, nämlich auf seinem Weg in die δόξα“; Bultmann, Evangelium, 357. 237 Hirsch-Luipold schreibt mit Blick auf die Salbungserzählung in Joh 12,1–11, wo Jesus im Angesicht seiner bevorstehenden Beerdigung durch das Öl einen Duft des Lebens verbreitet, dass „Jesus nicht nur Leben bringen kann, sondern selbst das Leben ist“; Hirsch-Luipold, Gott, 217. Teilhabe an Jesus ist Teilhabe an allem, was er ist und auf diese Weise vermittelt.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Wirken umfassend von der Liebe zu den Seinen bestimmt war. Teilhabe an Jesus kann im vorliegenden Kontext also konkret bedeuten: Teilhabe an der Sendung, Teilhabe an der Bevollmächtigung, Teilhabe an der Liebe, Teilhabe am Leben, evtl. auch Teilhabe am Leiden, das Jesus im Rahmen der gehorsamen Ausführung seines Auftrags auf sich nimmt (13,2.36–38; vgl. 12,1–8.23–26). Mit Blick auf die Erzählung des Johannesevangeliums insgesamt, die von Joh 13,1.3 sowohl analeptisch als auch proleptisch in den Blick genommen wird, ist vor allem auf Joh 3,16 f. und 17,23–26 zu verweisen, welche dieses Interpretationsspektrum der Fußwaschung bestätigen.238 Als der gesandte Sohn wird Jesus von Gott geliebt und steht in einer Wirkeinheit mit Gott: Jesus kann all die Werke vollbringen, die Gott selbst wirkt und vermittelt dabei vollumfänglich das Heil Gottes (vgl. 5,17–22). Daran gibt er denen Anteil, die ihn aufnehmen bzw. seine Fußwaschung annehmen. Joh 13,9: Die strikte Ablehnung des Petrus schlägt nun – er könnte etwas verpassen – in eine über das Waschen der Füße hinausgehende Forderung um: „Herr, nicht meine Füße allein, sondern auch die Hände und den Kopf“ (13,9). Damit wird durch den dritten Einwand des Petrus der Aspekt der Reinigung angesprochen und in Joh 13 zum ersten Mal thematisiert. Kopf, Hände und Füße sind die Körperteile, die in der Antike unter den klimatischen Bedingungen des Mittelmeerraums unbedeckt sind und daher immer wieder staubig werden. Sie müssen deshalb zu unterschiedlichen Gelegenheiten durch eine Waschung gereinigt werden.239 Eben diese Reinigung verlangt Petrus jetzt von Jesus, eine umfassendere Reinigung als nur das Waschen der Füße. Dieses neuerliche Missverständnis der Erzählfigur ist narratologisch in Joh 13,8 durch die vorangehende Aussage Jesu ermöglicht und vorbereitet, da Jesus hier nicht mehr vom „Waschen der Füße“ als Voraussetzung für die Teilhabe an Jesus gesprochen hat, sondern nur noch vom „Waschen“, wobei νίπτω üblicherweise eine Teilwaschung bezeichnet und für das Waschen einzelner Körperteile verwendet wird, während λούω (vgl. Joh 13,10) vor allem das Bad bzw. die Waschung des ganzen Körpers beschreibt.240 Zuvor ging es in Joh 13,4–8 jedoch gerade nicht um den Aspekt der Reinigung. Eine Fußwaschung, die primär der Reinigung dient, wird sinnvollerweise vor einer Mahlzeit durchgeführt, damit man sich mit sauberen Füßen zu Tisch legen kann. Die Fußwaschung Jesu findet jedoch explizit während der Mahlzeit statt (13,4), d. h. die Füße 238  Vgl. zur Bedeutung der Liebessemantik in Joh 3,1–21 und Joh 17,24–26 Popkes, Theologie, 169–248. 239 Es geht hier nicht spezifisch um eine rituelle Reinigung, selbst wenn bei einer rituellen Reinigung ebenfalls Füße, Hände und Kopf zusammen gereinigt werden können. So jedoch z. B. Lohmeyer, Fußwaschung, 86, Thyen, Johannesevangelium, 589, der an eine levitische Reinigung denkt; auch Zumstein, Johannesevangelium, 489. 240 Vgl. BDAG, ad verbum; Liddell/Scott, ad verbum.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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sind als Vorbereitung auf das Mahl bereits gereinigt worden.241 Deshalb ist es für die zeitgenössischen Lesenden des Johannesevangeliums naheliegend, dass die Fußwaschung Jesu nicht die Funktion der Reinigung hat.242 Der Fortgang des Gesprächs bestätigt die Interpretation von Joh 13,5–9.

Joh 13,10: Jesus antwortet Petrus mit einer allgemeinen und einer auf die Jünger bezogenen Feststellung (13,10). Jesus stellt fest, dass ein Gebadeter „völlig rein“ sei. Mit diesem Gebadeten vergleicht Jesus die anwesenden Jünger: „Auch ihr seid rein, aber nicht alle.“ Joh 13,10: ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν [εἰ μὴ τοὺς πόδας] νίψασθαι, ἀλλ᾿ ἔστιν καθαρὸς ὅλος· καὶ ὑμεῖς καθαροί ἐστε, ἀλλ᾿ οὐχὶ πάντες.

Zwei grundlegende Interpretationsmöglichkeiten von Joh 13,10a unter der textkritischen Voraussetzung des Kurztextes sind hier denkbar: 1. Jesus könnte mit dieser Antwort Petrus darauf hinweisen, dass in diesem Fall allein das Waschen der Füße, ohne das zusätzliche Waschen von Händen und Kopf, zur völligen Reinheit (καθαρὸς ὅλος) führt (vgl. 13,8b). Bei dieser Interpretation von 13,10a ergibt sich jedoch die Schwierigkeit, dass Judas aus diesem Zustand der Reinheit ausgenommen wird, obwohl Jesus doch gerade allen Anwesenden die Füße gewaschen hat (13,10b–11). 2. Angesichts der im Johannesevangelium wiederholt eingesetzten Missverständnisse ist eine weitere Interpretation der Stelle möglich: Jesus könnte mit seiner Antwort ein weiteres Missverständnis des Petrus abwehren. Die Erzählung würde dann textpragmatisch für die Lesenden die falsche bzw. nicht gewollte Interpretation ausschließen, dass die Fußwaschung im übertragenen Sinn der Reinigung dienen könnte. Während die erste Interpretationsmöglichkeit zu logischen Schwierigkeiten führt, unabhängig davon, wie man sich textkritisch entscheidet,243 ist die zweite Interpretationsmöglichkeit widerspruchsfrei und deckt sich sowohl mit dem situativ-kulturellen Hintergrund als auch mit der vergleichbaren weiteren Aussage des Johannesevangeliums zur Reinigung in Joh 15,3: Im Kontext der Reinigung des Weinbergs stellt Jesus fest, dass die Jünger durch das Wort Jesu bereits 241  Vgl. die Abschnitte 4.3.4.2. und 4.3.4.7. Im Sinne von Umberto Eco ist hier konkret von einer „allgemeinen Szenographie“ zu sprechen, da die Lesenden wissen, dass man sich nicht mit schmutzigen Füßen zu Tisch legt; vgl. Eco, Lector, 96–105; vgl. Abschnitt 5.4.7. 242  Vgl. auch die scharfsinnige Beobachtung von Haenchen, der hinter der Fußwaschungserzählung eine stilisierte Handlung vermutet, die möglicherweise auf ein der johanneischen Gemeinde bekanntes Ritual zurückgeführt werden könne, da „niemand 24 schmutzige Füße in einem einzigen Waschbecken mit Wasser wasche“; Haenchen, Johannesevangelium, 456. Allerdings wird in Joh 13 an keiner Stelle erwähnt, dass die Füße schmutzig sind oder dass die anwesenden Mahlteilnehmer – deren Zahl unbestimmt bleibt – sich darüber Sorgen machen. Ähnlich spricht jedoch auch Mathew ohne Anhalt im Text vom Waschen der ‚schmutzigen‘ Füße; vgl. Mathew, Footwashing, 418. 243 Vgl. dazu Abschnitt 5.3.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

rein sind, das er zu ihnen geredet hat. Sie müssen sich folglich nicht um ihre Reinheit sorgen, sondern nur um ihr Bleiben bei Jesus. Da Judas das Wort Jesu nicht bewahrt, sondern sich aufgrund der Initiative des Teufels von der Gemeinschaft abwendet, um Jesus zu übergeben, erschließt sich die Einschränkung Jesu in Joh 13,10 f. problemlos. Jesus hält die Reinheit der Seinen grundlegend fest und nimmt nur Judas, der nicht treu bei ihm bleibt, davon aus.244 Damit wird in Joh 13,10 ein wichtiges Argument in den Zusammenhang eingespielt, mit dem angesichts und trotz des Verrats durch Judas erklärt werden kann, dass die Fußwaschung Jesu wirksam ist. Jesus kommt seiner Sendung zuverlässig und effektiv nach. Die Abkehr des Judas liegt gemäß Joh 13,10 f. nicht an der – mangelhaften – Vermittlung des Heils Gottes durch Jesus, sondern an der fehlenden Reinheit des Judas (vgl. 17,1–12 sowie 6,63b–65; 15,1–3; auch 13,2.27), die von der Fußwaschung unabhängig ist. Joh 13,11: Ein Erzählerkommentar gibt den Lesenden die Information, dass Jesus den kennt, der ihn überliefert (vgl. 13,2).245 Dabei wiederholt der Erzähler die Aussage Jesu zur Unreinheit des noch nicht namentlich genannten Judas als indirekte Rede, die so noch einmal besonders betont wird. Der Erzählerkommentar zeigt, wie bedeutsam die Feststellung zur fehlenden Reinheit des Judas, die sich in seiner Untreue zeigt, im vorliegenden Kontext ist, der den Lesenden erneut einen deutlichen Wissensvorsprung gegenüber den Erzählfiguren gibt.246 Mit diesem Erzählerkommentar endet der erste Gesprächsgang in Joh 13,6–11 zur Erschließung der Fußwaschung.

5.5.3. Zusammenfassung zu Joh 13,6–11 Im Dialog zwischen Jesus und Petrus (Joh 13,6–10) werden für die Lesenden mehrere Aspekte hervorgehoben bzw. geklärt: Es geht zunächst um die Frage, wer hier wem die Füße wäscht (13,6). Damit wird die Beziehung Jesu zu den Seinen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, die von Liebe bestimmt ist (13,1). 244  Die Untreue gegenüber einem Freund kann in antiken Texten auch als ἀκαθαρσία umschrieben werden; vgl. Konstan, Friendship, 88 f. und verweist z. B. auf die Rede des Demosthenes gegen Meidias: Demosthenes kritisiert das Verhalten von Meidias gegenüber seinem Tischgenossen und Freund, da Meidias Aristarchus vor Gericht zu Unrecht des Mordes beschuldigt habe, obwohl er dessen Haus am Tag zuvor erst verlassen habe (Demosthenes, Gegen Meidias 22.116–117) und sich danach erneut mit ihm zu Tisch gelegt (Demosthenes, Gegen Meidias, 22.119). Vgl. auch Lukian, Toxaris 7. 245  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 589. 246 Vgl. Kapitel 3, v. a. Abschnitt 3.2.4.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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Anschließend bringt Jesus als Herr (und Lehrer) seinen Wissensvorsprung zur Geltung, während Petrus den Sinn der Fußwaschung erst später verstehen wird (13,7). Die Fußwaschung ist deutungsbedürftig und hat offensichtlich einen tieferen Sinn hat, so dass man von einer Zeichenhandlung Jesu sprechen kann, auch wenn die Fußwaschung im Text selbst nicht als σημεῖον bezeichnet wird. Die Fußwaschung zielt auf die Teilhabe an Jesus (13,8). Dies verweist im weitesten Sinn auf eine bestimmte Gestalt der Beziehung oder Schicksalsgemeinschaft mit Jesus und kann mit Blick auf den unmittelbaren Kontext gemäß Joh 13,1–3 am ehesten als Teilhabe an Jesu Sendung, an Jesu Wissen und an Jesu Liebe verstanden werden. Da in der Antike eine Fußwaschung in Familien-, Freundschafts- und Schüler-Lehrer-Beziehungen247 einen Ehr- und Liebeserweis darstellt, legt sich hier vor allem eine Deutung der Fußwaschung als erfahrbares Zeichen der Liebe Jesu zu den Seinen und damit als Ermöglichung der Teilhabe an dieser Liebe nahe, die gemäß Joh 13,1 der Inhalt seiner Sendung ist. Die Fußwaschung dient nicht der Reinigung (13,9 f.). Als weiteres Missverständnis wird der Aspekt der Reinigung in das Gespräch eingebracht (13,9), vorbereitet durch 13,8b, indem die Waschung von mehreren Körperteilen und damit eine vollständige Reinigung gefordert wird. In seiner Antwort erklärt Jesus, dass die Jünger – mit einer Ausnahme – bereits rein seien (13,10 f.). Auch Judas hat vollumfänglich an der Fußwaschung teilgenommen, die eine bleibende Wirkung für die Seinen hat (vgl. 13,12), doch da sie nicht der Reinigung dient, ändert sie auch nichts an der Unreinheit des Judas, die sich in seiner Untreue zeigt (13,10 f.30; vgl. 15,2–4). Am Ende des Abschnitts (13,10 f.) sprechen sowohl Jesus als auch der Erzähler von der Nachfolgegemeinschaft insgesamt, von der nur Judas ausgenommen wird. Die Frage nach dem Sinn der Fußwaschung, die im Gespräch mit einem Jünger, in diesem Fall mit Petrus, erörtert wurde, betrifft nicht nur ihn, sondern alle.248 Petrus wird hier, wie die Analyse seiner Charakterisierung gezeigt hat, als ein typischer Jünger dargestellt, der sich über die Handlung Jesu wundert, so dass Jesus den Sinn der Fußwaschung erläutern und falsche Schlussfolgerungen abwehren kann.249 Textpragmatisch werden den Lesenden so angemessene und unangemessene Interpretationen der Handlung Jesu vor Augen geführt. Petrus 247  Das letzte Mahl Jesu im Johannesevangelium spielt mit all diesen Kontexten, vgl. die Anrede der Anwesenden als Schüler (Joh 13–17 passim), als Kinder (13,33) und als Freunde (15,13); vgl. dazu Van der Watt, Family, v. a. 304–323; ders., Redefinition, 115 f.126 f. Zentral ist in Joh 13 jedoch die Schüler-Lehrer-Beziehung (13,12 f.) im Zusammenhang mit der Reflexion von Nachfolge und Jüngerschaft; Thompson verweist zurecht auf die „corporate dimensions of discipleship“; Thompson, John, 304. 248 Im Unterschied dazu bleibt das Gespräch zwischen Jesus und Petrus über die Nachfolge in den Tod (13,36–38) durchgehend auf Petrus bezogen und wird nicht auf alle Jünger übertragen; vgl. dazu auch Joh 21,19–22. 249 Vgl. Abschnitt 5.4.5.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

wird in Joh 13,6–11 weder von Jesus noch vom Erzähler weitergehend charakterisiert. Die Analyse seiner Rolle im Johannesevangelium lässt vermuten, dass seine Wahl als Sprecher in Joh 13,6–11 nicht zufällig ist. Diese Interpretation wird auch durch die intratextuelle Lektüre von Joh 13,18–38 mit Lk 22,24–38 nahegelegt und bestätigt.250 Gerade als Sprecher der Jünger zeigt sich Petrus in Joh 13,6–11 jedoch nicht nur begriffsstutzig, sondern er versucht sogar, auf das Handeln seines Lehrers Jesu Einfluss zu nehmen. Darin erweist er sich als ein – für das Johannesevangelium – typischer Jünger, da die Jünger gerade als nicht perfekte Vorbilder im Glauben, Verstehen und Nachfolgen beschrieben werden. Alle Schülerinnen und Schüler Jesu sind bleibend auf Jesu Gemeinschaft und Fürbitte angewiesen (15,5; 17,11 f.). Textpragmatisch dienen die im Johannesevangelium häufig eingesetzten Missverständnisse dazu, den Lesenden auf die Deutungsbedürftigkeit und Deutungsmöglichkeiten einer zeichenhaften Handlung oder auch einer Aussage Jesu aufmerksam zu machen. Die wiederholten Einwände des Petrus in Joh 13,6–11 zeigen folglich, dass es sich bei der Fußwaschung Jesu um eine bedeutsame, nicht alltägliche (Zeichen-)Handlung Jesu handelt, welche nicht nur die anwesenden Jünger, sondern auch die Lesenden gut bedenken und richtig verstehen sollen. Die Fußwaschung Jesu wird in Joh 13,6–11 nicht mit Blick auf den Tod Jesu, sondern mit Blick auf die Teilhabe an Jesus, vor allem mit Blick auf die Liebesbeziehung zwischen Jesus und den Seinen gedeutet. Die Perspektive des Todes ist damit zwar nicht ausgeblendet, aber sie wird im Johannesevangelium „von Anfang an in das Drama der Durchsetzung des göttlichen Lebens in der Welt integriert (vgl. Joh 1,4)“251. Dem entspricht, dass Jesus im Rahmen des letzten Mahls vor allem erläutern wird, was sein bevorstehender Abschied aus der Welt für die Seinen in der Welt an Konsequenzen nach sich zieht und wie eine Teilhabe an ihm, eine Gemeinschaft mit ihm, über seinen Tod hinaus möglich sein kann.

5.5.4. Joh 13,12–20 Joh 13,12: Der Erzähler stellt detailliert und ohne weitere Erläuterungen dar, wie Jesus seine Fußwaschung abschließt, seine Kleider wieder nimmt und sich zu Tisch legt (13,12). Die Erzählung knüpft damit nach dem Dialog zwischen Jesus und Petrus (13,6–11) explizit wieder an das Geschehen in Joh 13,5 an. Es beginnt eine längere Rede Jesu an seine Jünger über die Bedeutung der Fußwaschung in Form eines Monologs, in dem es weder Zwischenfragen der Anwesenden noch Kommentare des Erzählers gibt. Der Text gibt keinerlei Hinweise, dass 250 Vgl. 251

dazu Abschnitt 5.6.3.  Hirsch-Luipold, Gott, 217.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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die folgende Rede Jesu einen neuen inhaltlichen Schwerpunkt hat oder sich nun primär an die textexternen Lesenden richten würde.252 Jesus beginnt mit der Frage: „Versteht ihr, was ich euch getan habe?“ Das Perfekt πεποίηκα zeigt an, dass die Fußwaschung zwar abgeschlossen ist, aber zum Zeitpunkt der Frage Jesu eine bleibende Wirkung auf die Jünger hat. Das griechische Lexem für Erkennen (γινώσκω) ist in 13,12 dasselbe wie in 13,7, auch auf die Fußwaschung wird jeweils mit dem Verb ποιῶ Bezug genommen.253 Offensichtlich soll die Bedeutung der Fußwaschung Jesu, die Petrus nicht verstanden hat, nun von allen seinen Schülerinnen und Schülern weiter reflektiert werden.254 Jesus setzt in Entsprechung zu 13,7b kein Verstehen der Anwesenden voraus: Er wartet keine Antwort ab, sondern geht sofort zu seinen Erläuterungen über.255 Von daher steht Vers 12 auch nicht im Widerspruch zu Vers 7.256 Man könnte die Verbform sogar als Imperativ deuten: „Erkennt, was ich euch getan habe!“, dann wäre der Übergang von 13,7 zu den Erläuterungen von 13,12 ff. sogar noch deutlicher. Textpragmatisch wird für die Lesenden jedenfalls nahegelegt, dass Jesus nun allen erklärt, was Petrus gemäß 13,7 nicht verstanden hat. Das Verstehen der Fußwaschung gemäß Joh 13,7.12 f. ist nicht einfach mit den Hinweisen des Erzählers in Joh 2,22 und 12,16 auf ein nachösterliches Verstehen der Erhöhung Jesu durch die Jünger vergleichbar.257 In Joh 13,7.12 wird die Frage nach dem Verstehen nur 252 Die in der Forschung verbreitete Unterscheidung einer soteriologischen (13,6–11) und einer ethisch-moralischen (13,12–17 bzw. 13,12–20) Interpretation der Fußwaschung wird oft mit einem Adressatenwechsel verbunden: „Was jetzt folgt, ist eine auf die Gemeinde bezogene, zu gleichem Tun verpflichtende Auslegung“, Schnackenburg, Johannesevangelium III, 27. Abgesehen davon haben wir bereits hier einen längeren Monolog Jesu, der ebenso wie 15,1– 16,4a die Bedeutung der Fußwaschung mit Blick auf den Abschied Jesu interpretiert, wobei beide Texte enge inhaltliche Bezüge aufweisen. 253  Die Feststellung, dass 13,12 ff. nicht „im Geringsten auf den vorherigen Dialog“ (Zumstein, Johannesevangelium, 491) eingehen würde, ist nicht nachvollziehbar. Hier zeigt sich, wie die Annahme verschiedener Verfasser von 13,7–11 und 13,12–17 im Relecture-Modell die Analyse und Interpretation der Texte beeinflusst. 254 Haenchen hält fest, dass  – selbst wenn der Evangelist ein volles Verständnis von Jesu Worten und Handeln erst nachösterlich voraussetzt  – er als Schriftsteller mit der Erklärung der Fußwaschung nicht bis Kapitel 20 warten könne oder müsse, um die Bedeutung der Fußwaschung zu erläutern; vgl. Haenchen, Johannesevangelium, 458 f. Dieser Beobachtung entspricht narratologisch die Unterscheidung von Erzählebenen: Die hermeneutisch wichtigen Hinweise auf das nachösterliche volle Verstehen (2,22; 12,16) richten sich als Erzählerkommentare an die Lesenden, Joh 13,7 ist jedoch auf der zweiten Erzählebene verortet, da es sich um einen Dialog der Erzählfiguren handelt. 255  Zumstein spricht zurecht von einer „rhetorischen Frage“; Zumstein, Johannesevangelium, 491. 256 In der Exegese wird hier oft ein Widerspruch gesehen, sogar wenn narratologisch kein Bruch gesehen wird; vgl. Moloney, der feststellt: „Despite the apparent contradiction between Jesus’ words on Peter’s lack of understanding in v. 7 and his question concerning the disciples’ understanding in v. 12, no break occurs in the narrative at v. 12.“; Moloney, Gospel, 375. Dieser Widerspruch ergibt sich jedoch nur, wenn man 13,7 analog zu 2,22 und 12,16 versteht und damit die unterschiedlichen Erzählebenen unberücksichtigt lässt. 257 Vgl. dazu auch die Exegese zu Joh 13,7.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

auf der zweiten Erzählebene in Figurenreden thematisiert.258 Das „spätere“ Erkennen des Petrus in 13,7 kann nicht mit dem nachösterlichen Verstehen in Joh 2,22; 12,16 gleichgesetzt werden, widerspricht diesem aber auch nicht.259 Der Text gibt auch keine Hinweise, dass Jesus jetzt nur einen Teilaspekt der Fußwaschung erklären würde, damit das Wesentliche einem nachösterlichen Verständnis vorbehalten werde, wie zum Beispiel Thyen vermutet.260 Die Lesenden erhalten in Joh 13,4–20, mit Ausnahme von Hinweisen auf die Identität des Judas (13,11), keine zusätzlichen Informationen im Vergleich zu den Jüngern, weder zur Bedeutung der Fußwaschung selbst noch zum Zeitpunkt, an dem ein Verstehen der Fußwaschung möglich sein wird. Auch wenn die Lesenden einen Wissensvorsprung mit Blick auf die bevorstehende Rückkehr Jesu zum Vater und auf die Rolle des Judas haben (13,1–3), sind sie mit Blick auf die Fußwaschung doch zunächst einmal genauso überrascht und auf Deutungen angewiesen wie die in der Situation anwesenden Jünger.

Das weitgehende Fehlen von erläuternden Kommentaren verbunden mit dem zeitdeckenden Erzählen führt textpragmatisch zu dem Effekt, dass die Lesenden wie stille Zeugen das Geschehen beim letzten Mahl miterleben können. Zugleich sind sie jedoch herausgefordert, sich mit den Informationen, die sie bisher erhalten haben, die Ereignisse und Reden zu erschließen. Dies führt wiederum dazu, dass eine Identifikation mit den in der erzählten Situation anwesenden Jüngern besonders naheliegend ist. Damit lässt sich auch erklären, warum in der Exegese oft festgestellt wird, dass die Abschiedsrede(n) Jesu sich eigentlich oder primär an die nachösterliche Gemeinde richten. Narratologisch ist diese Feststellung jedoch nicht korrekt, da sich bei der johanneischen Erzählung vom letzten Mahl Jesu keine unmittelbare Anrede der Lesenden findet. Die hier sparsam eingesetzten Erzählerkommentare deuten die Handlung gerade nicht aus der nachösterlichen Perspektive des Erzählers (vgl. zum Beispiel 13,11.22.28 f.;16,19 mit 2,21 f.; 12,15 f.33.37–43). In Joh 2,21 erklärt der Erzähler den Lesenden, dass sich das Tempelwort auf den Leib Jesu bezieht. In Joh 12,33 erläutert der Erzähler, dass mit der Erhöhung Jesu sein Tod gemeint ist. Ein vergleichbarer Erzählerkommentar zur Deutung der Fußwaschung fehlt in Joh 13,1–20 bzw. in Joh 13–17. Dass Petrus bzw. die Jünger und mit ihnen die Lesenden angesichts der Fußwaschung Jesu eine Erklärung Jesu als Verständnishilfe benötigen, ist nicht verwunderlich, denn das Tun Jesu erschließt sich nicht von selbst (13,7).261 Das 258  Dies gilt entsprechend auch für 13,36, wobei die spätere Nachfolge des Petrus in 21,18 f. noch einmal angesprochen wird und sich letzten Endes als eine externe Prolepse erweist, deren Erfüllung im Rahmen der von Johannes erzählten Handlung nicht eingelöst wird. Anders verhält es sich z. B. in 13,10 f., wo der anschließende Erzählerkommentar die von Jesus festgestellte Unreinheit eines Jüngers mit Blick auf Judas und dessen Verrat hin konkretisiert – eine Interpretation, die ein Wissen aus der nachösterlichen Retrospektive voraussetzt, das den Jünger als Erzählfiguren noch fehlt. 259 So richtig Haenchen, Johannesevangelium, 458 f. 260  Thyen, Johannesevangelium, 590–592. 261  Dies zeigen nicht zuletzt die exegetischen Kommentare, die trotz der Erläuterungen des johanneischen Jesu nicht zu einem übereinstimmenden Verständnis kommen.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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konventionalisierte Wissen über eine Fußwaschung reicht nicht aus, um Jesu Handlung, welche die üblichen Rollenerwartungen sprengt, zu verstehen. Die Funktion der Reinigung, die naheliegend und relativ leicht nachvollziehbar wäre, wird sowohl durch die Situation als auch durch die Erläuterung in 13,9 f. ausgeschlossen. Bei einem Verständnis als Ehr- oder Liebeserweis im vertrauten Rahmen einer Schüler-Lehrer-Beziehung irritiert, dass der Lehrer nicht Objekt, sondern Subjekt der Fußwaschung ist. Das Unverständnis der Anwesenden ist also unmittelbar einleuchtend (13,7.12) und eine Erklärung der Handlung Jesu ist nicht erst dann nötig, wenn man von einer – im Text nicht benannten – christologischen Deutung mit Blick auf den Kreuzestod Jesu ausgeht. Darin entspricht die johanneische Fußwaschung zum Beispiel der wunderbaren Speisung in Joh 6: Auch hier können die Menschen, die vom Brot satt werden, nicht wissen (6,26), dass Jesus nicht nur Brot gibt (6,11), sondern sich selbst als das wahre Brot des Lebens versteht (6,35). Deshalb muss Jesus diese Zusammenhänge den Menschen in einer langen und ausführlichen Rede erläutern, die letzten Endes aber auf so viel Unverständnis stößt, dass die Gruppe der Zuhörenden sich im Verlauf des Gesprächs sogar verändert (6,27–58; auch 6,60–71). Von daher ist es nicht überraschend, dass die Bedeutung der Fußwaschung nicht nur in Joh 13,12–20 weiter erläutert wird, sondern auch in den sich im Rahmen des Mahls danach noch anschließenden Reden und Gesprächen ausführlich und aus unterschiedlichen Perspektiven gedeutet wird. Nimmt man die narratologischen Signale der Einbettung und Wiederaufnahme der Fußwaschung und ihrer Bedeutungsaspekte in ihrem Kontext ernst, so ist der gesamte Abschnitt Joh 13–17 von der am Anfang stehenden zeichenhaften Handlung Jesu bestimmt.

Joh 13,13: Die Leseerwartung, dass nun das in 13,7 in Aussicht gestellte Verstehen ermöglicht werden soll, wird in 13,13 nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr bestätigt. Jesus geht zunächst auf die Anrede Jesu als Herr (κύριε, σύ) durch Petrus ein (13,6) und damit auf dessen Versuch, ihn an der Fußwaschung zu hindern. Er stellt fest, dass die Jünger ihn völlig zurecht „Herr“ und „Lehrer“ nennen (13,13), wobei Jesus den Lehrer-Titel im Vergleich zu Joh 13,6 ergänzt.262 Beide Titel werden in dieser Kombination bei Johannes ansonsten nicht verwendet und bestätigen im vorliegenden Zusammenhang die Beziehung Jesu zu den Jüngern als eine Lehrer-Schüler-Beziehung und seine damit verbundene Autorität.263 Die Fußwaschung hat also die Autorität Jesu in keiner Weise in Frage gestellt und auch an seinem Status als Herr und Lehrer in der Beziehung zu seinen Schülern

262  Die Bestätigung der Anrede Jesu als Lehrer und Herr ist mit einem schlichten „εἰμὶ γάρ“ formuliert und unterscheidet sich darin deutlich von dem emphatischen „ἐγώ εἰμὶ“ der

johanneischen Ich-bin-Worte Jesu. 263  Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 491, der hier zurecht von „seiner Autorität als Lehrer“ spricht. Insbesondere κύριος findet sich häufig als Anrede Jesu durch die Jünger; diese wird hier von Jesus um den Lehrer-Begriff ergänzt.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

hat sich nichts geändert.264 Allerdings ist die Fußwaschung gerade nicht der zu erwartende, adäquate Ausdruck der Beziehung eines Lehrers zu seinen Schülern, weshalb Petrus sich dagegen auflehnt und eine Erklärung braucht. Im Rahmen einer Lehrer-Schüler-Beziehung wäre es im Kontext der zeitgenössischen kulturellen Gepflogenheiten vielmehr angemessen, wenn die Schüler dem Lehrer die Füße waschen würden, denn mit einer Fußwaschung würden sie dem Lehrer ihre Verehrung und ggf. auch Zuneigung erweisen. Joh 13,13 legt entsprechend nahe, dass es bei der Fußwaschung nicht um Autorität bzw. um den Verzicht auf Autorität im Dienen geht,265 sondern vielmehr um den mit der Beziehung zwischen Lehrern und Schülerinnen und Schülern verbundenen Erweis von Ehre und Liebe. Durch die Fußwaschung wird die Qualität der Beziehung zwischen Jesus, der Lehrer und Herr ist und bleibt, zu seinen Schülern verändert, da sie durch den Ehr- bzw. Liebeserweis einen Statusgewinn erfahren. Schließlich werden sie von Jesus nicht mehr wie Schüler, sondern eigentlich selbst wie Lehrer behandelt. Joh 13,14: Jesus hat sich mit der Fußwaschung an den Jüngern nicht an die kulturell verankerten Rollenmuster gehalten und muss nun erklären, was es mit dieser ungewöhnlichen Handlung eines Lehrers gegenüber seinen Schülern auf sich hat (13,14). Das Verhalten des Lehrers hat eine unmittelbare Konsequenz für das Verhalten der Schülerinnen und Schüler, wobei sich Jesus nun selbst noch einmal als „Lehrer“ und „Herr“ bezeichnet266: Jesus erklärt – es erschließt sich offenbar 264  Jesus wird hier nicht als ein Herr und Lehrer beschrieben, der sich durch „seine Bereitschaft, unter ihnen […] Sklavendienste zu verrichten“ auszeichnet; so z. B. Busse, Johannesevangelium, 207; auch die Anrede der Jünger durch Jesus in Joh 31,33 zeigt und bestätigt seinen bleibenden Status als ihr Lehrer. 265  So jedoch Zumstein, Johannesevangelium, 491, der nun schon vom christologischen Zusammenhang ausgeht. Doch Joh 13,13 f. sagt nicht, dass Jesus durch die Fußwaschung seine Autorität ausüben will, sondern es wird festgehalten, dass die Fußwaschung an seiner Rolle als Lehrer und Herr nichts ändert. 266 Der johanneische Jesus wird wiederholt als ‚Rabbi‘ bezeichnet, die Anrede oder Bezeichnung als διδάσκαλος findet sich in 1,38; 3,2.10; (8,4); 11,28 und 20,16, zum Teil als Übersetzung des hebräischen Begriffs und damit offensichtlich gleichbedeutend mit diesem. Die Anrede oder Bezeichnung als κύριος findet sich im gesamten Evangelium: 4,11.15.19.49; 5,7; 6,23.34.68; 9,36.38; 11,2.3.12.21.27.32.34.39; 12,21; 13,6.9.25.36 f.; 14,5.8.22; 20,2.13.18.20.25.28; 21,7.12.15– 17.20 f. In Joh 20,15 sieht man, dass κύριος im Johannesevangelium auch als übliche Anrede verwendet werden kann. Angesichts der zahlreichen Belege im gesamten Evangelium lässt sich die These nicht aufrechterhalten, dass es sich bei Johannes um eine spezifische Bezeichnung des Erzählers für den Auferstandenen handelt; so z. B. Schnackenburg, Johannesevangelium III, 27, unter Bezug auf Joh 20,20 und mit Verweis auf 20,2.18.25.28. Auf der ersten Erzählebene findet sich κύριος als Bezeichnung für Jesus auch in Joh 6,23; 11,2; 20,20 und 21,12. In 20,20 und 21,12 erzählt der Erzähler zudem jeweils aus der Wahrnehmungsperspektive der Jünger. Die Belege in 20,2.18.25.28 finden sich im Mund der Jüngerinnen und Jünger Jesu. Es handelt sich folglich bei der Bezeichnung Jesu als „Herr“ im Johannesevangelium in der Regel um eine Anrede, die

5.5. Einzelexegese von Joh 13

299

nicht von allein –, dass sie deshalb nun in einem rechtlichen Sinn verpflichtet sind, einander die Füße zu waschen (13,14).267 Joh 13,14: εἰ οὖν ἐγὼ ἔνιψα ὑμῶν τοὺς πόδας ὁ κύριος καὶ ὁ διδάσκαλος, καὶ ὑμεῖς ὀφείλετε ἀλλήλων

νίπτειν τοὺς πόδας·

In den Fokus gerät nun die Gemeinschaft der Schülerinnen und Schüler, es geht um ein gegenseitiges Verhalten (ἀλλήλων) zwischen Personen, die sich statusmäßig auf Augenhöhe befinden. Joh 13,15: Die Jünger sollen tun, was ihr Lehrer und Herr getan hat, und sich so an Jesu Beispiel orientieren, mit dem er ein Exempel (ὑπόδειγμα) statuiert hat (13,15).268 Die letzte Aussage Jesu (15c) verallgemeinert bereits die Fußwaschung und deren Nachahmung in der Aufforderung, das Handeln Jesu ihnen gegenüber (καθὼς ἐγὼ ἐποίησα ὑμῖν) als Maßstab zu nehmen und es untereinander nachzuahmen269. Erneut zeigt sich die Zeichenhaftigkeit der Fußwaschungshandlung (vgl. 13,7), welche nicht nur ihre Bedeutung, sondern auch ihren Verpflichtungscharakter, das heißt die von den Jüngern geforderte Nachahmung betrifft. Sie sollen das tun, was Jesus mit der Fußwaschung zeichenhaft ausdrückt. Genau deshalb ist es wichtig, dass die Jünger verstehen, wozu Jesus ihnen die Füße gewaschen hat. Mit Blick auf Joh 13,1–3.8, was sich in 13,34 f. bestätigt, legt sich bereits an dieser Stelle die Interpretation nahe, dass es darum geht, zu lieben, denn die Sendung Jesu durch Gott zielt gemäß Joh 13,1–3 (vgl. Joh 3,16) darauf, dass Jesus die Seinen umfassend liebt. Diese Liebe als Erfüllung seiner Sendung hat für Jesus ernste Konsequenzen, führt sie doch aufgrund von Ablehnung und Hass zu einem tödlichen Konflikt (vgl. 11,8–11.47–53; 12,23–33; auch 1,11; 10,17 f.;

bei den Seinen natürlich mit der engen Beziehung zu Jesus als ihrem von Gott gesandtem Lehrer verbunden ist, die jedoch nicht explizit auf den auferstandenen Herrn bezogen werden kann. 267  Das Verbum ὀφείλω beinhaltet einen stark verpflichtenden, rechtlich oder moralisch bindenden Bedeutungsaspekt; vgl. Liddell/Scott, ad verbum. 268  Der griechische Begriff ὑπόδειγμα findet sich in der frühjüdischen Literatur v. a. als Bezeichnung für einen beispielhaften Tod für andere, z. B. in 2 Makk 6,28.31; 4 Makk 17,22 f.; Sir 44,16; vgl. ausführlich Culpepper, Hypodeigma, 141–148, ὑπόδειγμα lässt sich jedoch nicht auf dieses Verständnis reduzieren; vgl. BDAG, ad verbum; Liddell/Scott, ad verbum; zur Kritik auch Coloe, Sources, 78–80. 269 Eine Unterscheidung zwischen Nachfolge und Nachahmung, wie Schulz, Nachfolgen, 298–302, mit Blick auf Johannes annimmt, ist nicht überzeugend. Anselm Schulz sieht einen Unterschied zwischen Lebensnachfolge und sittlich-ethischer Nachahmung, wie sie sich in der griechischen Philosophie und im hellenistischen Judentum finden lasse. Vgl. dazu die kritische Anmerkung von Schnackenburg, Johannesevangelium III, 28 Anm. Auch Joh 12,24–26 spricht gegen diese These: Die Jünger sind aufgerufen, wie Jesus ihr Leben einzusetzen, um Frucht zu bringen, wobei die Ausführung dieses Auftrags (διακονέω) zugleich als Nachfolge (ἀκολουθέω) bezeichnet wird.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

15,13.20). Die Jünger werden in der Nachfolge Jesu nach Jesu Abschied aus der Welt selbst Objekt von Verfolgung und Hass sein (15,18–21).270 Joh 13,16: Das Verhältnis Schüler-Lehrer, das Jesus in Joh 13,13–15 herausgestellt hat, wird in dem folgenden, allgemeingültig formulierten Logion mit zwei weiteren Abhängigkeitsbeziehungen verglichen (13,16): Die unter- bzw. zugeordnete Person ist jeweils verpflichtet, die Anweisungen der weisungsbefugten Person treu und zuverlässig auszuführen. Der verbindende Aspekt zwischen 13,14 und 13,16 besteht also in der Verpflichtung, dem Lehrer bzw. Herrn bzw. dem Sender oder Auftraggeber gemäß zu handeln (so 13,15.17). Sowohl Sklaven und Sklavinnen als auch Gesandte (ἀπόστολοι) müssen und können, je nach Auftrag, im Namen des jeweiligen Herrn handeln und auftreten, sie werden dabei allerdings, wie Jesus pointiert festhält, immer von diesem abhängig bleiben (vgl. 15,5b). Mit Blick auf die prominente Sendungsvorstellung zwischen Jesus und seinem Vater im Johannesevangelium kann man vielleicht noch treffender von einer bleibenden „Verbundenheit“ sprechen271, die hier auch mit Blick auf das Verhältnis zwischen Jesus und den Seinen ausgesagt wird. Wenn man die Liebe als Inhalt der Sendung Jesu versteht (13,1.3), so überrascht es nicht, dass in Joh 13,16 prominent, zum ersten und einzigen Mal im Johannesevangelium, das Verbalsubstantiv ἀπόστολος verwendet wird, um die Beziehung der Seinen zu Jesus zu beschreiben.272 Indem die Seinen sich gegenseitig lieben (13,14 f.), partizipieren sie an der Sendung Jesu, die Liebe Gottes in die Welt zu bringen (3,16; 13,34 f.; 14,21; 15,19–27). In der gegenseitigen Liebe erfüllen sie Jesu Auftrag und handeln seinem Vorbild Jesu gemäß. Deshalb ist die gastfreundliche Aufnahme der Seinen gleichbedeutend mit der Aufnahme Jesu bzw. Gottes (13,20). Joh 13,16.20 sind entsprechend keine synoptischen Fremdkörper im johanneischen Text273, sondern traditionelle Beschreibungen der Jünger als Jesu Gesandte, die in den synoptischen Evangelien im Kontext von Aussendungserzählungen bzw. der Unterweisung von Leitungspersonen ihren Platz haben (Mt 10,24 f.; Lk 6,40) und auf diesem Hintergrund hier im Johannesevangelium verwendet werden. Jesus sieht und behandelt die

270  Hier liegt auch die Bedeutung der Wortwahl von ὑπόδειγμα in Joh 13,15 (vgl. Culpepper, Hypodeigma, 141–148; Thyen, Johannesevangelium, 592), welche zwar nicht ausschließlich in diesem Sinne zu interpretieren ist, aber durchaus diesen Aspekt beinhaltet; vgl. auch Joh 12,23–26. 271  So richtig Schnackenburg, Johannesevangelium III, 29. 272 Zum Apostelbegriff vgl. Bühner, ἀποστέλλω, 340–342; Bühner, ἀπόστολος, 342–351; Frey, Apostelbegriff, 91–188; Frey, Paulus, 192–227; Roloff, Apostolat; Roloff, Apostel, 430–445; Rengstorf, ἀποστέλλω, 397–448. 273 Vgl. dazu die Forschungsgeschichte in Kap. 2.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

301

Seinen in Joh 13,1–20 als seine Boten, die sowohl ihn als auch Gott selbst repräsentieren (13,20). Eine Botenvorstellung findet sich auch in Joh 12,26. Dort wird die enge Beziehung zwischen Jesus und seinen beauftragten Jüngerinnen und Jüngern thematisiert. Ein oder eine διάκονος Jesu soll immer dort sein wird, wo auch Jesus selbst ist, und kann für die gewissenhafte Ausführung des Auftrags sogar eine Ehrung durch Gott selbst erwarten.274 Nach Joh 15,20, das den ersten Teil des Logions aus Joh 13,16 explizit zitiert, werden die Gesandten Jesu wie er selbst bei ihrer Verkündigungstätigkeit (vgl. 15,19.27) sowohl Ablehnung in Form von Hass und Verfolgung als auch Zustimmung in Form von glaubender Annahme erfahren.275 Die Nachfolge Jesu wird in diesen Texten unmittelbar mit einer Sendung durch Jesus verbunden, die dazu führt, dass die Seinen sowohl im positiven als auch im negativen an Jesu Erfahrungen teilhaben. In Joh 13,16 werden die Jünger durch die Formulierung nicht auf einen niedrigen, ja nicht einmal explizit auf einen niedrigeren Status als Jesus festgelegt. Im Anschluss an die Nachahmungsforderung (13,14 f.) wird nur festgehalten, dass ein Sklave oder Gesandter nicht größer (μείζων) ist als sein Herr. Die Formulierung in Joh 13,16 lässt also zu, dass die Jünger maximal den gleichen Status wie ihr Herr erreichen können (vgl. Mt 10,24 f.; Lk 6,40). Während in Mt 10,24 und Lk 6,40 für den Vergleich die Präposition ὑπέρ verwendet wird und dadurch semantisch eher die Unter– bzw. Überordnung betont wird, findet sich bei Johannes der Komparativ von μέγας, der stärker die Bedeutung oder Wichtigkeit der jeweiligen Personen bzw. Funktionen betont.276 Obwohl die Rollenzuschreibungen erhalten bleiben – Lehrer und Schülerinnen bzw. Schüler, Herr und Sklaven bzw. Sklavinnen – werden die damit verbundenen Rollenerwartungen aufgebrochen, wenn Jesus als der Lehrer den Schülern die Füße wäscht. Ein spezifischer Bezug zwischen dem Beziehungspaar Sklave – Herr und der Fußwaschung wird von Jesus in seinen Erläuterungen nicht hergestellt. Nur wenn man die Fußwaschung als Sklavendienst interpretiert, würde sich ein thematischer Konnex zwischen Joh 13,4 f. und dem Vergleich der Jünger mit Sklaven (13,16) nahelegen. Doch Jesus verlässt bei der Fußwaschung seine Rolle als Lehrer gerade nicht.

Sowohl mit Blick auf das ungewöhnliche, die Rollenerwartungen verlassende Verhalten Jesu als auch mit Blick auf die starke Betonung der Gegenseitigkeit wird im vorliegenden Kontext ein Bild der Nachfolgegemeinschaft gezeichnet, in der die Einzelnen auf Augenhöhe lieben und geliebt werden. Auch dass die Jünger am Auftrag Jesu teilhaben sollen und dass von nun an auch für sie gilt, was bisher nur von Jesus ausgesagt wurde, spricht für eine hohe Wertschätzung der Jünger und ihrer Verantwortung, die Jesus ihnen hier zuschreibt. Es gilt: Wer einen aus dem Nachfolgekreis Jesu aufnimmt, nimmt zugleich Jesus und auch Gott auf (13,20). 274 Zu beachten ist, dass hier jeweils das Futur verwendet wird, kein Imperativ. Vorausgesetzt wird ebenfalls der Status der Jünger als „Beauftragte“, die zur Nachfolge (Imperativ!) aufgefordert werden. Vgl. Abschnitt 5.4.4. 275  Vgl. dazu auch Abschnitt 5.6.1. 276 Vgl. BDAG ad verba; Liddell/Scott, ad verba.

302

Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Dem entspricht auch, dass Jesus im Rahmen der Abschiedsrede allen Jüngern den gleichen Auftrag zuspricht – niemand wird namentlich hervorgehoben oder mit einer besonderen Aufgabe betraut. Auch Petrus, der sich in Joh 13 durch kritische Fragen und die explizit geäußerte Bereitschaft, Jesus bis in den Tod zu folgen, aus der Schar der Jünger heraushebt, wird im Erzählverlauf in seine Schranken gewiesen und kann weder den Ehrenplatz einnehmen (vgl. Joh 13,23– 26) noch mit Blick auf sein Handeln eine positiv hervorgehobene Sonderrolle spielen (13,36–38). Wie alle anderen namentlich genannten Jünger in Joh 13–17 „verschwindet“ Petrus nach seinen Gesprächsbeiträgen wieder in der Gemeinschaft der Jünger und wird bis zum Ende der Tischgespräche nicht mehr eigens erwähnt oder von Jesus angesprochen. Diese Gleichheit und Gleichbehandlung der anwesenden Jünger fällt insbesondere dann auf, wenn man Joh 13– 17 mit den biblischen Abschiedsreden in Gen 49 oder Dtn 33,1–28 vergleicht.277 Aufgrund von Situationsbeschreibung, Erzähl- und Gesprächsverlauf in Joh 13,1–20 ist die Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen Jesus und den Seinen die das Geschehen bestimmende Beziehung, die durch den Vergleich mit den Beziehungspaaren Sklaven – Herr und Gesandte – Sender in Joh 13,16 weiterführend bestimmt wird. Dabei gilt: Jesus als der Lehrer kann verbindliche Verhaltensanweisungen geben und hat eine Vorbildfunktion, so dass die Seinen ihm Treue und Vertrauen und – bei einer guten Schüler-Lehrer-Beziehung – auch Gehorsam, Verehrung und Liebe schuldig sind. Darüber hinaus sind Sklaven aufgrund der Eigentumsbeziehung zu ihrem Herrn zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet. „Das Logion in V. 16, das in Mt 10,24 eine nahe Parallele findet, verstärkt die Argumentation der V. 13–15 (besonders von V. 14), indem es das Wesen der Beziehung zwischen Jesus und seinen Jüngern erläutert.“278 Mit dem Paar Sklave  – Herr wird der κύριος-Titel für Jesus aufgenommen279 und die Seinen werden nun als Sklaven des Herrn und als das Eigentum Jesu (vgl. vor allem 1,11;10,12; 13,1) beschrieben. Sprachlich werden sie damit zugleich aus dem Zugehörigkeitsbereich der Welt (15,19) herausgenommen (vgl. 13,1b: ἀγαπήσας τοὺς ἰδίους τοὺς ἐν τῷ κόσμῳ εἰς τέλος ἠγάπησεν αὐτούς).280 Gott, dessen Eigentum sie 277 Vgl.

dazu Winter, Vermächtnis. Johannesevangelium, 492. 279  Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 492, der Joh 13,16 primär auf die Beziehung zwischen Jesus und den Seinen bezieht. Allerdings versteht er die Fußwaschung als „Ausdruck par excellence des demütigen Dienstes am Nächsten“, so dass er Joh 13,16 so versteht, dass Jesus als der Gesandte den Menschen in Liebe dient und die Jünger als seine Gesandten diesen Dienst nachahmen sollen; a. a. O. 492. 280 Bei der metaphorischen Verwendung der Sklaventerminologie macht es einen Unterschied, ob der johanneische Jesus die Jünger als Sklaven der Menschen bezeichnet bzw. sie auffordert, Sklavendienste für die Welt zu leisten, oder ob mit dem Vergleich auf die Beziehung zwischen Jesus und seinen Jünger angespielt wird: Hier stellt Jesus eine enge Beziehung zwischen sich selbst und seinen Jüngern her, die im Johannesevangelium positiv zu werten ist; vgl. Joh 13,16; 15,20; auch 15,15; der johanneische Jesus erwartet jedoch nicht, dass die Jünger anderen Menschen Sklavendienste leisten; vgl. dazu ähnliche Vorstellungen bei Paulus, v. a. 278 Zumstein,

5.5. Einzelexegese von Joh 13

303

ursprünglich sind, hat sie selbst in die Verfügungsgewalt Jesu gegeben und sie damit seinem Schutz und seiner Liebe anvertraut (17,2.6.9–16; vgl. 1,11). Mit dem Paar Gesandte – Sender wird für die Beziehung zwischen Jesus und den Seinen die Sendungsvorstellung aufgegriffen, die im Johannesevangelium das Verhältnis zwischen Gott und Jesus in prominenter Weise beschreibt und die jetzt, mit dem Abschied Jesu, auch für das Verhältnis der Jünger zu Jesus eine zunehmend wichtigere Rolle spielt (13,20; 17,18; 20,21; vgl. aber bereits 4,38; 12,26). Als Schüler, Sklaven und Gesandte Jesu stehen die Seinen in einer engen Beziehung zu Jesus und sind verpflichtet, wie er zu handeln.281 Sowohl die Sendung Jesu als auch die Sendung der Jünger wird im Johannesevangelium jedoch semantisch nicht als Dienen oder Sklavendienst beschrieben, sondern vor allem als Handeln (ἐργάξομαι κτλ) und Tun (ποιέω κτλ).282 Auftraggeber Jesu ist nur Gott, nicht die Menschen, die Jesus an keiner Stelle im Johannesevangelium weisungsbefugt wären. Jesus selbst „tut“, wenn er seinen Sendungsauftrag erfüllt, genau das, was Gott ihm aufgetragen hat. Gemäß Joh 13,1–3.8 erfüllt Jesus seine Sendung durch Gott, indem er die Seinen liebt, was in der Fußwaschung einen zeichenhaften und zugleich erfahrbaren Ausdruck findet. Darin erfüllt – tut – Jesus den Willen Gottes (vgl. Joh 4,34; auch 5,30; 6,38; 8,28 f.; 17,4 u. ö.) und Gott selbst wirkt in und durch Jesus (vor allem Joh 5,19 f.; 14,10). Entsprechend sind auch die Jüngerinnen und Jünger nur Jesus als ihrem Auftraggeber, Lehrer und Herrn verpflichtet. Sie sollen seine Weisungen nicht nur verstehen, sondern vor allem in die Tat umzusetzen. Joh 13,17: In Form einer Seligpreisung bestärkt Jesus seine Mahnung an die Jünger, das zu tun, was sie wissen (13,17) und stellt ihr Handeln unter eine Verheißung.283 Joh Gal 1,10; von der Beziehung Christus – Paulus her gedacht ist auch die Wortverwendung in 1 Kor 9,19 und 2 Kor 4,5; Phil 2,22; Phlm 16. Sobald die Menschen nicht mehr Sklaven Gottes, sondern Sklaven einer anderen Macht sind, wird dies im Johannesevangelium negativ bewertet (Joh 8,34 f.), vgl. dazu ebenfalls Röm 6,6.16–22; 7,6.25; 12,11; 14,18; 16,18; Gal 4,3–9. Paulus warnt in der Regel seine Lesenden davor, sich zu Sklaven von Menschen zu machen (1 Kor 7,23, vgl. auch Gal 3,28); nur an einer Stelle verwendet er ausnahmsweise den Sklavendienst als Bild für die gegenseitige Nächstenliebe (Gal 5,13; vgl. aber Gal 5,1), allerdings hier als bewusste Provokation auf dem Hintergrund einer falsch verstandenen Freiheit. 281 Thompson verweist hier zurecht auf die Botenformel der Mischna in mBer 5; vgl. Thompson, John, 291. 282  Von ποιέω finden sich im Johannesevangelium 110 Belege (Markus 47, Matthäus 86, Lukas 88), von ἐργάξομαι und ἔργον finden sich 35 Belege (Markus 3; Matthäus 4; Lukas 3), von δουλεύω κτλ finden sich bei Johannes 12 Belege (Markus 5, Matthäus 37, Lukas 31), von ὑπηρετέω und ὑπηρέτης finden sich bei Johannes 9 Belege (Markus 2, Matthäus 2, Lukas 2), von διακονέω κτλ finden sich bei Johannes 6 Belege (Markus 7, Matthäus 9, Lukas 9) und von παῖς ein Beleg (Markus 0, Matthäus 8, Lukas 9). Zur Semantik von ἐργάξομαι und ἔργον und deren ethischer Relevanz im Johannesevangelium vgl. auch die Arbeiten von Weyer-Menkhoff, Ethik und Drews, Semantik. 283  Im Vergleich mit Lk 12,37 f. wird deutlich, dass Jesus den Seinen bereits die Ehre erwiesen hat, dass sie sich zu Tisch legen dürfen, und er nicht nur aufwartet, sondern ihnen sogar die Füße

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

13,17 bezieht sich damit zurück auf die Frage Jesu nach dem Wissen oder Erkennen der Jünger in 13,12 und damit auf die sich anschließenden Erläuterungen zur Fußwaschung Jesu an den Seinen. Mit Blick auf Joh 13,14–16 werden diejenigen glücklich genannt, die Jesu Befehl tatsächlich nachkommen, indem sie tun, wie er getan hat. Als Jesu Schüler, Sklaven und Gesandte sind die Jünger gemäß Joh 13,14 f. aufgefordert, zu lieben, wie Jesus sie geliebt hat (13,34 f.). Joh 13,18–19: Joh 13,18 f. klärt, wer zu den Seinen gehört, die Jesu Auftrag ausführen. Jesus hat seine Jünger erwählt und beauftragt, doch einer von ihnen wird ihn verraten (vgl. 13,2.10 f.). Dies stellt nicht nur die Kompetenz der Jünger, sondern auch die Kompetenz Jesu in Frage, der ja schließlich „wissen“ sollte, wen er erwählt (13,18; vgl. auch 6,70).284 Abgesehen davon ist die Anwesenheit des Judas eine Bedrohung für die von Treue und Liebe geprägte Gemeinschaft, deren Werte und Fortbestand durch sein Verhalten gefährdet werden (13,19; vgl. 14,29). Mit Blick auf die anderen Schüler äußert Jesus im vorliegenden Kontext jedoch keine Zweifel daran, dass sie die ‚Lektion der Fußwaschung‘ verstanden und verinnerlicht haben, so dass sie seine Forderung, zu handeln wie er, erfüllen werden! In Joh 13 ist die Liebe und das Wissen Jesu nicht der Dummheit und dem Versagen der Jünger gegenübergestellt, sondern den Plänen des Teufels als dem Herrscher dieser Welt, der Judas als Medium nutzt (Joh 13,2.27).285 Mit einem Zitat aus Psalm 41,10, das der Evangelist offensichtlich für seinen Zweck angepasst hat, wird der Verrat des Judas als „Treubruch eines Tischgenossen“286 und damit eines Freundes charakterisiert, der jedoch in Übereinstimmung mit der Schrift und damit gemäß dem Willen Gottes geschieht.287 Judas ist ein Freund, der mit Jesus gemeinsam isst und ihm dennoch die Treue bricht, beschrieben im Bild des Anhebens der Ferse. Jesus weiß jedoch über alles wäscht und sie dadurch seine Liebe spürbar erfahren lässt. Zur Form des Makarismus und der damit verbundenen Mahnung zum Tun vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium III, 29; vgl. auch Zumstein, Johannesevangelium, 492 f.; in Lk 12,41–48 wird auf eine Nachfrage des Petrus die Verantwortung der Zwölf am Bild eines Verwalters geklärt, der in Lk 12,43 für das rechte Tun seliggepriesen wird: μακάριος ὁ δοῦλος ἐκεῖνος, ὃν ἐλθὼν ὁ κύριος αὐτοῦ εὑρήσει ποιοῦντα οὕτως. Bei Johannes selbst findet sich die Form des Makarismus nur noch in Joh 20,29; Thyen, der den Fokus v. a. auf das Wissen legt, unterschätzt die Bedeutung der Fußwaschung als Tun Jesu, das im Tun der Jünger nachgeahmt werden soll; vgl. Thyen, Johannesevangelium, 594. 284  Vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 493 f. 285  Moloney hält zurecht fest, dass weder das Versagen des Petrus noch der Verrat des Judas in Joh 14–16 von Jesus vertieft oder problematisiert werden; Moloney, Gospel, 371 f. Gerade wegen ihrer Unwissenheit haben die Jünger weder Einfluss auf das Geschehen noch Kenntnis von dem, was sich um sie herum abspielt. Dies wird besonders deutlich in Joh 13,28–30. 286 Vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium III, 31. 287  Wahrscheinlich benutzte der Verfasser den hebräischen Text aus Ps 41,10 als Vorlage; vgl. dazu grundlegend Menken, Quotations, 123–138; vgl. auch Zumstein, Johannesevangelium, 493 f., der zurecht die enge Zusammengehörigkeit von Glauben und Fehlbarkeit betont.

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Bescheid (13,1–3.18) und löst das Geschehen sogar durch sein eigenes Handeln aus (13,26 f.). Er offenbart den Jüngern im Vorfeld diese erschreckende Nachricht, damit sie sich in ihrem Glauben an Jesus nicht beirren lassen (13,19), macht ihnen jedoch keine Vorwürfe, auch Judas nicht. Joh 13,20: Die folgende Feststellung Jesu wird erneut mit einem doppelten Amen (vgl. 13,16) eingeleitet: Die gastfreundliche Aufnahme der Schülerinnen und Schüler als Gesandte Jesu bedeutet, dass mit ihnen Jesus selbst sowie der Vater aufgenommen werden. Zumstein hält prägnant fest: Das Logion „formuliert auf klassische Weise die für Joh wesentliche Sendungsthematik: Der Gesandte vertritt in vollkommener Weise denjenigen, der ihn sendet, unterscheidet sich aber gleichzeitig von diesem.“288 Damit knüpft Jesus an die antike Botenvorstellung an und schließt die Seinen in die eigene Sendung durch Gott ein. Die Seinen repräsentieren Jesus und damit zugleich Gott. In der Exegese wird zu Joh 13,20 mit Verweis auf Joh 4,38; 17,18 und 20,21 f. häufig festgehalten, dass es gemäß dem Johannesevangelium eine Aussendung der Jünger erst nach Ostern gebe.289 In Joh 20,21 formuliert Jesus explizit eine Aussendung der Jünger. Dennoch kann in Joh 20,21, vergleichbar mit Joh 17,18 und in Übereinstimmung mit Joh 4,38, vorausgesetzt sein, dass Jesus seine Jünger bereits ausgesandt hat und dass er diesen Aussendungsauftrag nun wiederholt bzw. bekräftigt und durch die Geistbegabung ergänzt.290 Der johanneische Jesus kann sich angesichts einer für Johannes nicht untypischen elliptischen Erzählweise durchaus auf Aussagen zurückbeziehen, die in dieser Form in der johanneischen Erzählung nicht erzählt wurden (vgl. zum Beispiel Joh 11,40). Auch die Zwölf werden als von Jesus berufene Jünger vorausgesetzt, ohne dass ihre Berufung erzählt wird oder ihre Namen vollständig genannt werden (6,67–70). Die Analyse der Charakterisierung der Jünger im Johannesevangelium hat gezeigt, dass Männer und Frauen in der Nachfolge Jesu von Anfang an als Gesandte und Zeugen bzw. Zeuginnen Jesu beschrieben werden, die andere Menschen in die Nachfolge rufen (vgl. zum Beispiel 1,35–46; 3,11; 4,28–30.39–42; 9,24– 34; 11,51 f.; 12,20–22).291 Es ist folglich von einer elliptischen Erzählweise aus Zumstein, Johannesevangelium, 495.   Vgl. z. B. Busse, Johannesevangelium, 209; Thyen, Johannesevangelium, 595 f., Zumstein, Johannesevangelium, 495. 290  Vgl. die lukanische Vorstellung von der Aussendung einerseits und der späteren Befähigung durch die Geistbegabung andererseits Lk 9,1–6; 10,1–12; 24,48 f. Im Lukasevangelium korrigiert Jesus beim letzten Mahl die Aussendung der Jünger: Lk 22,25–38. Sprachlich wäre es in Joh 20,20 sogar möglich, die Redeeinleitung „εἶπεν οὖν αὐτοῖς ὁ Ἰησοῦς πάλιν“ mit dem Hinweis auf eine wiederholte Rede Jesu nicht auf den Friedensgruß in Joh 20,19 zu beziehen, sondern die Aussendung der Jünger selbst als eine wiederholte darzustellen. 291  Popkes spricht von einer komplexen „missionstheologischen Konzeption“, bei der „missionarische Aktivitäten bzw. ein missionstheologisches Selbstverständnis der johanneischen 288 289

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

zugehen. Obwohl eine Aussendung der Jünger in Joh 1–12 nicht erzählt wird, wird ihre Erwählung und Sendung vorausgesetzt. Beim letzten Mahl werden sie explizit und wiederholt als von Jesus beauftragte und ausgesandte Jünger beschrieben und angesprochen. Angesichts des bevorstehenden Abschieds Jesu werden die Schüler Jesu durch die Fußwaschungserzählung sogar in die Sendung Jesu durch Gott hineingenommen, wie sich vor allem in Joh 13,20 deutlich zeigt. Wenn Jesus zu seinem Vater zurückkehrt, werden seine Schülerinnen und Schüler ihn und Gott repräsentieren und als Liebesgemeinschaft der Ort sein, wo die Liebe Gottes und Jesu weiterhin präsent und erkennbar ist (13,20.34 f.; 17,23). Dies bedeutet, dass in Joh 17,18 und 20,21 zwar auf die Aussendung Bezug genommen wird bzw. diese bestärkt wird, dass sie jedoch nicht erst nachösterlich erfolgt.

5.5.5. Zusammenfassung zu Joh 13,12–20 In Joh 13,12–20 werden die Jünger Jesu aufgefordert, nach seinem Vorbild zu handeln, und sie werden für ihr Handeln seliggepriesen. Durch die Fußwaschung Jesu, die mit der gegenseitigen Fußwaschung der Seinen beantwortet werden soll, entsteht eine Liebesgemeinschaft auf Augenhöhe.292 Nur einer seiner Tischgenossen und Freunde wird Jesus untreu werden, bei allen anderen scheint vorausgesetzt, dass sie den Auftrag Jesu erfüllen werden.293 Die Erwählung eines Jüngers, der die Nachfolgegemeinschaft verlässt und nicht treu bei seinem Lehrer bleibt, stellt jedoch sowohl das Wissen und die Wirksamkeit der Sendung Jesu in Frage als auch die Treue und damit die Kompetenzen der Nachfolgegemeinschaft insgesamt. Sie bedarf deshalb einer besonderen Begründung (13,18 f.). Als Schüler, Sklaven und Gesandte Jesu stehen die Jünger in einer engen Beziehung zu Jesus und sind  – als Gemeinschaft  – verpflichtet, wie Jesus zu Gemeinde dokumentiert sind“, auch wenn erst später der „johanneische Missionsauftrag zur Geltung gebracht (Joh 17,18; 20,21)“ wird; Popkes, Theologie, 253. Unter Berücksichtigung der elliptischen Erzählweise sollte man jedoch nicht von der Mission der Gemeinde, sondern vielmehr zunächst von der Mission der Jüngerinnen und Jünger sprechen, die transparent ist für die nachösterliche Gemeinde. 292  Das antike Konzept der Freundschaft ist inklusiv, so dass man Lehrer – oder z. B. auch Verwandter, Schüler oder Sklave – sein kann und gleichzeitig ein Freund; vgl. Konstan, Friendship, 7. 293  Das gilt trotz des Versagens von Petrus. Nur Judas wird hier aus der Gruppe der erwählten und beauftragten Jünger herausgenommen, mit dem Hinweis, dass er als einziger nicht rein ist und ein Einfallstor für den Satan darstellt. Dass Judas hier die Gruppe der treuen Jünger verlässt, sollte nicht generalisiert werden – vgl. Joh 6,64–71; so jedoch z. B. Moloney, Gospel, 371. Andererseits ist dem johanneischen Jesus wohl bewusst, dass er bzw. der Vater die Seinen in der Welt vor dem Bösen in der Welt und vor der Gefahr der Untreue bewahren muss; vgl. Joh 17,11–19.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

307

handeln. Der Text setzt voraus, dass sie als von Jesus Erwählte und Beauftragte dieser Aufforderung nachkommen werden und dass deshalb in Übereinstimmung mit der antiken Botenvorstellung alle Menschen, die sie gastfreundlich aufnehmen, zugleich mit ihnen Jesus und Gott aufnehmen werden (Joh 13,20). Der Auftrag Jesu zur Nachahmung der Fußwaschung entspricht damit der durch die Fußwaschung vermittelten Teilhabe an Jesus, welche die Teilhabe an dem Heil, das er vermittelt, ebenso einschließt, wie die Teilhabe an seiner Sendung: Als Gesandter Gottes bringt Jesus die Liebe Gottes zu den Menschen (13,1.3.8.14 f.; vgl. Joh 3,16) und erfüllt so seinen Auftrag. Indem die Jünger Jesu sich gegenseitig lieben, bleiben sie in der Liebe Jesu und werden zugleich zu Gesandten Jesu, die nach Jesu Abschied aus der Welt die Liebe Jesu und damit auch die Liebe Gottes zu den Menschen bringen. Indem sie Jesus repräsentieren, partizipieren sie an dessen Sendung und  – in Übereinstimmung mit der antiken Botenvorstellung – im Rahmen ihrer Botentätigkeit auch an seinem Status (13,16)294: Ihre gastfreundliche Aufnahme ist gleichbedeutend mit der Aufnahme Jesu und Gottes (13,20; vgl. vor allem 15,20.26 f.; 17,20–23).

5.5.6. Joh 13,21–30 Unmittelbar nachdem Jesus die Anwesenden als diejenigen ausgezeichnet hat, die ihn und Gott vollgültig repräsentieren, kommt Jesus, nun zutiefst erschüttert (vgl. 11,33; 12,27), wieder auf den Verrat zu sprechen. Danach richtet der Erzähler den Fokus auf die ratlosen Jünger (13,22).295 Die Situation könnte emotional nicht bedrängender sein: Gerade noch wurden sie mit der höchsten Ehre für Schüler ausgezeichnet, wenn sie als vollgültige Repräsentanten ihres Lehrers und Herrn angesprochen werden, nun wird ihnen Untreue und Versagen angekündigt. Die Jünger wollen vermutlich alle gerne Jesus und Gott repräsentieren, sie wollen jedoch nicht Jesu Gegner sein. Doch genau dieses Dilemma entwickelt sich während einer Mahlzeit, wo Nähe und Distanz, hoher und niedriger Status oft schon in der Sitzordnung ihren Ausdruck finden.296 294  Indem Jesus als Lehrer seinen Schülern die Füße wäscht, wird dieser Statusgewinn bereits angedeutet, da Jesus die Seinen nicht wie Schüler, sondern vielmehr selbst wie Lehrer behandelt; vgl. auch die Erörterungen von Neyrey zum Statusgewinn der Jünger durch die Fußwaschung Jesu; vgl. Neyrey, Gospel, 230. 295 Vgl. Mk 14,19 par. Mt 26,22, wo die Ankündigung Jesu bei den Anwesenden Sorge bzw. Schmerz auslöst; anders Lk 22,23–40, wo sich ein Rangstreit anschließt. 296  Vgl. Lk 14,7–14; vgl. auch den Streit um die Ehrenplätze im Himmel mit den sich anschließenden Rangstreit Mk 10,35–45 par. Im Johannesevangelium werden – bis auf 13,23) – keine Ehrenplätze ausgewiesen, weder in Joh 12,1–8 noch in 13,1–5 oder 14,2 f. Gemeinschaftsmähler boten die Gelegenheit, den eigenen Status darzustellen, insbesondere am Ende des Deipnons und zu Beginn des Symposions hatten Ehrenbekundungen und Lobreden ihren Platz; vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl, 109 f.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Meals are ceremonies because they confirm various roles and statuses in a given institution. Those sharing this meal with Jesus are the inner circle of his group, not just anyone; Jesus is ‚Lord and Teacher … Master‘ (13:14,16) a role confirmed by his commanding actions and words. The meal, moreover, is no ordinary consumption of food but a farewell meal that climaxes Jesus’ association with his disciples. Whereas the rule is ‚Likes eat with likes‘, in this case an enemy eats at the table and so poisons the commensality while present.297

In diesem Moment wird eine neue Erzählfigur eingeführt, ein Jünger, dessen Name ungenannt bleibt, der aber dadurch charakterisiert wird, dass er an der Brust Jesu liegt und dass Jesus ihn liebt (13,23).298 Die Liebe Jesu ist jedoch kein exklusives Unterscheidungsmerkmal dieses Anonymus, sie verbindet ihn vielmehr mit allen anderen (13,1). In Joh 13,1.3 wird festgehalten, dass Jesus die Seinen alle liebt, in Joh 11,5 werden die bethanischen Geschwister explizit als von Jesus Geliebte charakterisiert. Der Anonymus gehört also zum Kreis der von Jesus geliebten Jüngerinnen und Jünger, von denen nicht einmal Judas ausgeschlossen ist. Das eigentlich Besondere des Anonymus ist vielmehr der Platz, den er einnimmt: er liegt im Schoß Jesu, d. h. er hat einen hervorgehobenen Platz und zeichnet sich durch seine besondere Nähe zu Jesus aus. Und dies in einer Situation, wo es den anwesenden Jünger ein Anliegen sein dürfte, möglichst nah bei Jesus und damit ein möglichst treuer Schüler im Sinne von Joh 13,13–17.20 zu sein. Klaus Berger macht auf religionsgeschichtliches Material aufmerksam, das den genannten Platz mit der Weitergabe von religiösen oder philosophischen Traditionen oder Lehren verbindet.299 „Insbesondere im Jubliäenbuch (2. Jh. v. Chr.) ist das Ruhen im Schoß ein realsymbolisches Bild für Empfang und Weitergabe der religiösen Tradition Israels. Regelmäßig liegen die Enkel im Schoß ihres Großvaters, ja sie teilen mit ihm nächtens das Bett, und durch diese physische Nähe wird die Übergabe und integre Weitergabe der Tradition begründet. Das gilt regelmäßig für die Situation des Abschieds und Lebensendes.“300 Auch in Philosophenschulen gibt es die Vorstellung eines besonderen Lieblingsschülers, der dann zum Teil auch der Nachfolger des Lehrers wird.301 Diese Vorstellungen decken sich bei Johannes sowohl mit 1,18 als auch mit der möglichen Rolle des anonymen geliebten Jüngers als Erzähler des Evangeliums gemäß 21,24. Allerdings wird der Anonymus in Joh 13 nicht als Exeget Jesu (diff. Joh 1,18) bezeichnet, er erhält keine nur ihm geltende

297  Neyrey, Gospel, 233. Allerdings legt Johannes keinen Wert darauf, einen Teil der Jünger und Jüngerinnen als „inner circle“ hervorzuheben, vielmehr sind die anwesenden Schüler transparent für den gesamten Nachfolgekreis. 298  Vgl. zur Charakterisierung des anonymen Jüngers Abschnitt 5.4.6. 299  Vgl. Berger, Anfang, 108 f. 300 Berger, Anfang, 108 f. mit Verweis auf E. Rau, Kosmologie, Eschatologie und die Lehrautorität Henochs, Diss. Hamburg 1974. 301  Theobald verweist auf die platonische Akademie, deren Leitung gemäß Diogenes Laertius 4,19.21 f.29.32 von der Beziehung des Schülers zum Lehrer abhing, und verweist zurecht auch auf Joh 15,15; Theobald, Jünger, 518 Anm.; der Unterscheidung von zwei aufeinanderfolgenden Stufen der Jüngerschaft bei Johannes, zuerst als Jünger und danach als Freunde, kann ich nicht folgen, vgl. Berger, Anfang, 109.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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Offenbarung und verfügt auch nicht über ein besseres Verständnis der Ereignisse als die anderen. Gemäß Joh 1,18 kommt der Sohn aus dem Schoß des Vaters ist und ist dessen Exeget. Ansonsten kommt der Begriff im Neuen Testament mit Blick auf die Sitzordnung nur noch in Lk 16,22 f. vor, wo Lazarus im Reich Gottes in Abrahams Schoß liegt. Der Platz im Schoß oder an der Brust eines anderen Menschen ist ein Platz der besonderen Nähe verbunden mit einer gegenseitigen Vertrautheit zwischen der jeweiligen Person und dem Gastgeber. Mit Blick auf die Sitz- bzw. Liegeordnung gemäß der antiken Mahlpraxis ist davon auszugehen, dass der anonyme Jünger nicht auf dem rechten Platz neben dem Gastgeber und damit auf dem Ehrenplatz liegt, um den es zum Beispiel in Mk 14,39 oder Lk 14,7–14 geht, sondern vielmehr auf dem mittleren Platz auf der Kline des Hausherrn, was ihn als ranghöchstes Mitglied der Gastgeberfamilie ausweisen würde.302 Da jedoch in Joh 13 als Situation eine freundschaftlich-familiäre Mahlgemeinschaft beschrieben wird, macht es fast keinen Unterschied, welche Art von Ehrenplatz der anonyme Jünger einnimmt: er hat jedenfalls in der von Liebe bestimmten Nachfolgegemeinschaft den einzigen eigens erwähnten, durch eine besondere Nähe zu Jesus und die damit verbundene Intimität hervorgehobenen Ehrenplatz.

Die besondere Vertrautheit zwischen Jesus und dem Anonymus ist der Aspekt, der durch den weiteren Verlauf der Erzählung aufgenommen wird. Petrus, einer der unwissenden und verunsicherten Jünger und zugleich öfters deren Sprecher, gibt dem anonymen Jünger ein Zeichen und fordert ihn auf, zu offenbaren, von wem Jesus spricht. Petrus richtet hier also – anders als in 13,6–11, seine Fragen nicht unmittelbar an Jesus, sondern an eine Vermittlungsfigur. Der Anonymus weiß die Antwort ebenfalls nicht, er kann jedoch Jesus unmittelbar fragen: Er lehnt sich zurück an die Brust Jesu und wendet sich mit der Frage an ihn (13,25). Die eigens beschriebene Handlung des Zurücklegens illustriert anschaulich die körperliche Nähe und die damit verbundene Vertrautheit. Jesus antwortet auf die Frage mit einer direkten Rede und handelt sofort in Übereinstimmung mit seiner Ankündigung, indem er den Brotbrocken eintaucht und ihn Judas gibt (13,26). Es wird in Joh 13,25 f. nicht gesagt, dass die Antwort so leise ist, dass nur der fragende Jünger sie hören kann, der Anonymus wird nicht zum Geheimnisträger.303 Auch die vorausgehenden Hinweise auf Judas wurden für alle hörbar, wenn auch offensichtlich nur für die textexternen Lesenden verständlich, formuliert (13,10.18 f.21). Die Darstellung legt nahe, dass

302 Vgl.

Ebner, Stadt, 183; auch Barrett, Gospel, 437.  So richtig z. B. Dunderberg, Disciple, 258–260; damit wird fragwürdig, dass der Anonymus v. a. als zuverlässiger Zeugen und Autor des Evangeliums dargestellt wird, so prominent Bauckham, Jesus, 554. Die Funktion des Anonymus besteht nach Joh 13 offensichtlich ausschließlich darin, den mit einer besonderen Vertrautheit verbunden Ehrenplatz neben Jesus einzunehmen. Er ist derjenige, der aufgrund der Nähe zu Jesus alles fragen kann. Aber er bekommt keine exklusiven Informationen und darin einen Vorrang gegenüber dem fragenden Petrus hätte; vgl. auch Joh 20,9; vgl. zur ausführlichen Diskussion und zur Forschung Abschnitt 5.4.6. 303

310

Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

alle Anwesenden sowohl die Antwort Jesu hören als auch sein Verhalten beobachten können. Die Lesenden erfahren durch einen Erzählerkommentar, dass nach dieser Handlung Jesu der Satan von Judas Besitz ergreift. Danach befiehlt Jesus Judas in einer direkten Rede, schnell zu tun, was seine – bzw. eigentlich ja des Satans – Absicht ist (13,27). Dem Erzähler liegt daran, zu betonen, dass alle Anwesenden das Geschehen nicht zu deuten wissen (13,28). Er hebt die Unwissenheit der Jünger besonders hervor, indem er den Lesenden Einblick in ihre Gedanken gibt, mutmaßen sie doch fälschlicherweise, dass Judas mit dem Geld aus der gemeinsamen Kasse (vgl. 12,6) etwas für die Armen oder für das Fest kaufen solle (13,29). Das bedeutet auch, dass niemand von den Anwesenden in das Geschehen hätte eingreifen können, das sich zwischen Jesus, Judas und dem Teufel abspielt, und das Jesus nicht nur kennt und akzeptiert, sondern sogar durch seinen Auftrag aktiv anstößt.304 Obwohl die Abfolge der Ereignisse aus der rückblickenden Perspektive des Erzählers als der Weg des Sohnes zum Vater sinnvoll und konsequent ist, bleiben die Ereignisse für die Jünger in der Situation selbst unverständlich und dunkel. Hier handelt es sich folglich um ein Ereignis, das von den textinternen Jüngern erst nachösterlich verstanden werden kann (vgl. dazu 2,21 f.; 12,15 f.). Nur Jesus weiß über alles Bescheid, doch seine kryptischen Hinweise können die anwesenden Jünger nicht verstehen, wie der Erzähler in Kommentaren anschaulich darstellt und den Zusammenhang dadurch für die Lesenden nachvollziehbar macht! Dem Erzähler ist es also offensichtlich ein Anliegen, dass die Lesenden sowohl die christologisch-soteriologische Tiefendimension der Ereignisse als auch die Verständnisschwierigkeiten der in der Situation anwesenden Jünger verstehen und nachvollziehen können! Damit zeigt sich die Einsamkeit Jesu auf seinem letzten Weg schon in dieser Situation beim letzten Mahl, wo er eigentlich noch von seinen Jüngern umgeben ist.305 Judas macht, was Jesus befohlen hat und geht (13,30). Der Hinweis des Erzählers auf die Nacht ist im symbolischen Sinn zu verstehen und kann sowohl die Bedrohlichkeit der Situation als auch die Hilflosigkeit der Jünger aufzeigen (vgl. 9,4; 11,10; 21,3).306

304  Zur Interpretation des klassischen, ironisch gefärbten Missverständnisses im Sinne einer Unschuldserklärung für die Jünger vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 499.501. 305 Damit entspricht die Situation der Gethsemane-Erzählung der Synoptiker, wo die Jesus begleitenden Jünger nicht fähig sind, mit ihm zu wachen und ihm so beizustehen; vgl. Mk 14,32–43 par. 306 Vgl. Abschnitt 5.4.2.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

311

5.5.7. Zusammenfassung zu Joh 13,21–30 In Joh 13,21–30 wird erzählt, wie Jesus im Wissen um die Stunde Judas aktiv zu seinem Verrat beauftragt (13,27; vgl. auch 13,11.18 f.). Während der Satan Judas als Instrument gebraucht, stehen die Seinen der Situation verständnislos gegenüber. Nur Gott, Jesus und der Satan – sowie die Lesenden – wissen zu diesem Zeitpunkt der Erzählung um die besondere Bedeutung der Stunde für das Heil der Welt (13,1–3.18.27). Wie weit Judas das Geschehen versteht, bleibt offen. Der neu eingeführte anonyme Jünger wird wie die anderen Jünger auch von Jesus geliebt und unterscheidet sich darin nicht von ihnen, doch er belegt den Platz besonderer Nähe und Vertrautheit mit Jesus307, einen Platz, der sogar mit einem besonderen Wissen verbunden sein kann (vgl. Joh 1,18). Diesen Platz der Unmittelbarkeit im Zugang zu Jesus beim letzten Mahl kann weder Petrus noch irgendjemand sonst aus der Nachfolgegemeinschaft einnehmen, da ein namentlich unbekannter Jünger ihn belegt (vgl. 21,18–22). Vielmehr ist sogar Petrus – der öfters als Sprecher der Jünger auftritt und in Joh 13 eine herausgehobene Rolle als Erzählfigur hat, auch wenn er sich dabei nicht durch eine besondere Erkenntnisfähigkeit hervorhebt –, in dieser intimen Situation der äußersten Verunsicherung auf die Vermittlung des Anonymus angewiesen.

5.5.8. Joh 13,31–38 Joh 13,31–32: Der nächste Abschnitt beginnt mit einer Repetition, bei der noch einmal erzählt wird, dass Judas hinausgeht (13,31a). Dadurch wird sein Weggang als besondere Zäsur im Ereignisablauf markiert. Jesus stellt in einer direkten Rede die gegenseitige Verherrlichung von Gott und Menschensohn fest.308 Vergangenheit und Zukunft werden vom Verherrlichungsgeschehen bestimmt. Bereits in Joh 12,27 formulierte Jesus mit einem betont vorangestellten „jetzt“ seine innere Erschütterung wegen der bevorstehenden Stunde (vgl. 13,21), die in Joh 12,31 mit dem Gericht über die Welt und dem Sieg über deren Fürsten verbunden wird, wobei beide Aussagen ebenfalls mit einem „jetzt“ eingeleitet werden. Allerdings verwendet Johannes das kleine Wörtchen 29 mal309, so dass es zwar jeweils die Aufmerksamkeit des Lesenden wachruft, jedoch nicht exklusiv als Marker der Todesstunde Jesu verstanden 307 Vgl. Neirynck, Disciple, 25. Gerade mit Blick auf die Charakterisierung von Petrus und dem Anonymus in Analogie zueinander ist relevant, dass im weiteren Verlauf anaphorisch auf die innige Verbundenheit mit Jesus und explizit auch auf diesen Ehrenplatz beim Abschiedsmahl hingewiesen wird; vgl. 20,2; 21,20. 308 Zur Reziprozität der Verherrlichung von Vater und Sohn angesichts der Stunde vgl. 12,23–28; vgl. Theobald, Evangelium I, 808–810. Zu den textkritischen und sprachlichen Schwierigkeiten in 13,31 f. vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium III, 56–58. 309 Berücksichtigt sind alle Vorkommen im Text des Nestle-Aland 28.

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werden kann.310 Wenn nach Johannes die Stunde Jesu „schon beim Besuch der Griechen (12,20–24) gekommen (ἐλήλυθεν) und Jesus bei seiner ‚Erschütterung‘ in sie eingetreten ist (12,27), so ist klar: Sie bezeichnet nicht zeitlich-punktuell einen bestimmten Termin, sondern ein inhaltlich gefülltes Geschehen, das allerdings in der ‚Erhöhung‘ Jesu am Kreuz kulminiert.“311

Mit dem Hinweis auf die Verherrlichung werden die Lesenden daran erinnert, dass Jesus für diesen Zeitpunkt die Ankunft des Heiligen Geistes verheißen und zugesagt hat, dass von den Jüngern Ströme lebendigen Wassers fließen sollen (7,38 f.). Gemäß einem Erzählerkommentar sollen die Jünger nach der Verherrlichung Jesu diesen als verheißenen König erkennen (12,15 f.).312 Mit Blick auf die Ereignisse um Lazarus wissen die Lesenden außerdem, dass sich die gegenseitige Verherrlichung von Gott und Jesus  – bestätigt durch die Himmelsstimme  – gerade im Sieg Jesu über den Tod des Lazarus offenbart hat (11,4; 12,27 f.). Seinen Jüngern ebenso wie allen Anwesenden hat Jesus erklärt, dass die Todesstunde des Menschensohns dessen Verherrlichung mit sich bringt (12,23) und dass seine Beauftragten ihm auf diesen Weg nachfolgen und vom Vater für diese Nachfolge geehrt werden (12,24–26). Joh 13,33: Mit der Anrede „Kinder“ (13,33; vgl. 21,5) durch Jesus wird die familiäre Atmosphäre und die vertraute Gemeinschaft bestätigt, die nun nach dem Weggang des Judas ohne Einschränkung gegeben ist.313 Zugleich verdeutlicht diese Anrede erneut die Autorität Jesu gegenüber seinen Schülern, der sich bereits unmittelbar zuvor als ihr Lehrer und Herr mit verbindlichen Weisungen an sie gewandt hat (vgl. 13,13 f.).314 Jesus kündigt nun seinen Abschied an. Der Weggang Jesu angesichts seiner Stunde wurde in zwei vorausgehenden Gesprächen bereits diskutiert (7,30–39; 8,19–36). Mit einem explizit als Selbstzitat gekennzeichneten Satz verweist der johanneische Jesus auf vorangehende Aussagen (vgl. 7,33 f.; 8,21), wo er bereits über die Unmöglichkeit, ihm zu folgen, gesprochen hat. Durch das narratologische Mittel der Missverständnisse wurde die Stunde Jesu mit zwei Erläuterungen verbunden:  Vgl. dazu Schnackenburg, Johannesevangelium III, 55. Johannesevangelium III, 55. Vgl. Theobald, Evangelium I, 810, der ein mögliches Verständnis der „Hellenen“ als „österlichen Vorboten“ reflektiert, so dass die Erhöhung Jesu allen Menschen, die an Jesus glauben, „den Weg aus dem ‚Totenhaus‘ dieser Erde ins Leben eröffnet.“ 312  Der johanneische Jesus spricht wiederholt vom Kommen einer Stunde und deren bereits „jetzt“ gültiger Gegenwart, vgl. Joh 4,23; 5,25. 313 Vgl. die Bezeichnung der Jünger durch Jesus als Freunde in 15,15 und als Brüder in 20,17. 314  Thompson weist darauf hin, dass die Lernenden in der biblischen Weisheitsliteratur häufig als ‚Kinder‘ oder ‚Söhne‘ adressiert werden; z. B. Prov 1,8.10.15; 2,1; 3,1.11.21; Sir 2,1; 3,12.17; 4,1; 6,18; vgl. Thompson, John, 299 Anm. In den johanneischen Briefen findet sich τεκνία als Anrede wie in Joh 13,33 auch in 1Joh 2,1.12.28; 3,7.18; 4,4; 5,21, außerdem findet sich τέκνον für die Kinder Gottes u. a. in Joh 1,12; 8,39; 11,52 sowie in 1Joh 3,1.2.10; 5,2; 2Joh 1.4.13; 3Joh 4; vgl. ebd. 310

311 Schnackenburg,

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Durch seinen Weggang eröffnet Jesus einerseits die Möglichkeit, auch die Menschen aus den Völkern zu lehren (7,35). Andererseits beinhalten der Weggang Jesu und die damit verbundene Erhöhung die Zusage der Sündenvergebung und Kindschaft für alle, die im Erhöhten den erkennen, der von Gott gesandt wurde (8,22.24; vgl. 12,32).

Während in Joh 7,34.36; 8,21 noch gesagt wurde, dass die Gesprächspartner Jesus nicht finden bzw. in ihren Sünden, d. h. in der Gottesferne sterben werden, teilt Jesus seinen Jüngern in Joh 13,33 nur mit, dass sie nicht dorthin gehen können, wo er hingeht.315 Ein Finden Jesu durch die Jünger wird nicht ausgeschlossen. Für die Lesenden stellt sich damit die Frage, inwiefern es einen Weg gibt, wie sie trotz Jesu Abschied mit ihm in Verbindung bleiben können.316 Dieses Thema durchzieht wie ein roter Faden die Ereignisse und Gespräche beim letzten Mahl Jesu (Joh 13–17) und bestimmt in besonderer Weise das Gespräch in Joh 13,31–14,31. Wie können also die Seinen, deren enge Liebesgemeinschaft mit Jesus durch die Fußwaschung gerade in Szene gesetzt wurde, ihn finden und sehen, wenn sie ihn nach seinem Abschied suchen? Auf diese Frage antworten die Verse 34–35. Während Joh 13,34 f. und der sich anschließende Dialog zwischen Jesus und Petrus einen engen Bezug von Joh 13,31–38 zu Joh 13,1–30 herstellen, werden über die Thematik des Weggehens, Suchens und Findens die Gespräche und Erläuterungen in Joh 14,1–28 vorbereitet. Der Abschnitt Joh 13,31–38 hat damit eine Scharnierfunktion, da vorangehende Themen vertieft und die sich anschließenden Gedankengänge vorbereitet werden.

Jesus weiß, dass er den Weg ans Kreuz allein gehen muss und die Seinen ihn auf diesem Weg nicht begleiten können (16,32).317 Aber Jesus wird dafür sorgen, dass seine Jünger ihn auch in Zukunft ‚finden‘ können. Offensichtlich erwartet Jesus nicht, dass seine Jünger ihm jetzt folgen, sondern sein Trost lautet vielmehr, selbst wieder zu ihnen zu kommen.318 Jesus sorgt dafür, dass seine Jünger dort sein werden, wo er ist (vgl. vor allem 12,26; 14,3; 17,24) und dass sie nicht allein sind oder verlorengehen (14,11.13 f.16–18; vgl. 6,39; 18,9). Im abschließenden Gebet in Joh 17 bestätigt Jesus zurückblickend, dass er während seiner Anwesenheit alle Jüngerinnen und Jünger – bis auf einen – bewahrt hat (17,12), und er bittet darum, dass Gott selbst sich nach seinem Weggang um die Bewahrung der Seinen in der Welt kümmern soll (17,15.17). Deshalb stellt seine Forderung zur 315  Dieser Aspekt wird oft übersehen, zum Teil sogar in den Text Joh 13,33 eingetragen; so z. B. Moloney, Gospel, 386. Es ist jedoch bezeichnend, dass dieser Punkt im vorliegenden Kontext gerade fehlt. 316  Thompson hält zurecht fest, dass es in Jesu Abschiedsrede sowohl um Jesu Abschied als auch um seine bleibende Gegenwart geht: „The disciples hope for Jesus to come back so that they may be with him there, in the future, but all the while he assures them that he will be with them here, in the present“; Thompson, John, 298. Bereits im sich anschließenden Liebesgebot zeigt Jesus einen Weg der bleibenden Verbundenheit auf. 317  Vgl. zu den Deutungen des Kreuzestodes bei Johannes Frey, Theologia, 507–552. 318  In Joh 14 betont Jesus wiederholt, dass er selbst wieder zu ihnen kommen wird (14,​18.​ 23.​28).

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Nachahmung oder Nachfolge (13,14 f.34 f.; 17,18–26) auch keine Überforderung für die Seinen dar (vgl. auch Joh 3,27; 6,65; 10,28 f.). Während Jesus seinen Weg ans Kreuz allein geht, werden die Seinen bei ihrer Nachfolge, die ebenfalls Hass und Todesgefahr impliziert, stets einen Beistand haben (vor allem 15,18–16,4a). Doch wenn Jesus aufbricht, um zum Vater zu gehen, müssen auch die Seinen aufbrechen in eine Zukunft, in der Nachfolge unter veränderten Bedingungen stattfinden wird (14,31). Joh 13,34–35: Jesus hat für seine Jünger einen anderen Auftrag, ein „neues Gebot“ (13,34).319 Im unmittelbaren Erzählkontext hat er ihnen mit der Fußwaschung bereits ein verpflichtendes Beispiel gegeben320, verbunden mit der Aufforderung, sich gegenseitig die Füße zu waschen bzw. nach seinem Vorbild zu handeln (13,14 f.). Das Liebesgebot bezieht sich auf die vorausgehende Fußwaschung und die Erläuterungen Jesu.321 Mehrere zentrale Aspekte verbinden Joh 13,34 mit Joh 13,14 f.: Jesu Handeln an den Jüngern wird zur verpflichtenden Norm für ihr Handeln. „Jesu Tun ist nicht nur Vorbild, es ist zum Handeln befreiendes Urbild, Handeln an den Jüngern […], auf das auch sie […] entsprechend handeln.“322 Das von Jesus geforderte Handeln betrifft jeweils die gesamte Nachfolgegemeinschaft. Außerdem beziehen sich beide Forderungen auf die Liebe: das Liebesgebot unmittelbar, die Aufforderung zur Fußwaschung mittelbar, da Jesu Fußwaschung Ausdruck seiner Liebe zu den Seinen und damit Erfüllung seines Auftrags (vgl. 13,1.4–5) bzw. Gebotes (10,18; 12,49 f.) vom Vater ist. In der Fußwaschung gibt Jesus den Jüngern nicht nur ein Vorbild zur Nachahmung, sondern er lässt sie teilhaben an 319 Vgl. dazu Collins, Commandment, 217–256; Popkes, Theologie, 257–272; Wischmeyer, Gebot, 207–220; Wolter, Identität, 61–90; Van der Watt, Ethics, 158–166. Das Lexem ἐντολή findet sich bei Johannes zehnmal. Dreimal wird auf die göttliche Beauftragung durch Jesus verwiesen (10,18; 12,49 f.). Fünf Belege beschreiben Jesu Gebot(e) an die Jünger: sie stehen allesamt im Kontext der Liebe und finden sich in Joh 13–15 (Joh 13,34; 14,15; 14,21; 15,21). Außerdem wird auch der Befehl der Hohenpriester und Pharisäer zur Gefangennahme Jesu als Gebot beschrieben (Joh 11,57). 320 Moloney weist zurecht daraufhin, dass Jesus in Joh 13 den Seinen zwei Weisungen als Gaben übergibt: „He gives them a new commandment (vv. 34–35) that matches the gift of his example (v. 15). The footwashing is marked by the gift of an example (v. 15: hypodeigma gar edōka hymin) and the sharing of the morsel is marked by the gift of a new commandment (v. 34a: entolēn kainēn didōmi hymin). Both the example and the commandment are closely associated with Jesus’ demand that his disciples follow him into a loving self-gift in death“; Moloney, Gospel, 385 f. Die Verbindung des Liebegebots mit dem Brotbrocken wird jedoch vom Text in dieser Form nicht nahegelegt. 321  Vgl. Popkes, Theologie, 253.255; vgl. Collins, Commandment, 217–256; Van der Watt, Ethics, 147–176; Weder, Gebot, 147–176. 322  Theobald, Herrenworte, 133. In der Fußwaschung gibt Jesus den Jüngern nicht nur ein Vorbild zur Nachahmung, sondern er lässt sie teilhaben an seiner Liebe, die er im Namen Gottes bringt (3,16; 13,1).

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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seiner Liebe und an der Liebesgemeinschaft zwischen Gott und ihm (13,7.13 f.). Auf dieser Grundlage werden die Jünger selbst beauftragt zu lieben und können so – als Beauftragte Jesu (13,16) – Gott und Jesus repräsentieren (13,20). Damit „tritt insbesondere das Liebesgebot in das Zentrum ekklesiologischer und missionstheologischer Selbstreflexionen“323 und bestätigt zugleich die dargelegte Interpretation von Joh 13,1–20. Jesus ist beauftragt, die Liebe Gottes zu den Menschen zu bringen (Joh 3,16; 17,22–26). In Joh 10,18 bezeichnet Jesus seinen Auftrag als „Gebot vom Vater“, sein Leben hinzugeben und es wieder zu nehmen. Gemäß Joh 15,13 ist der Einsatz des eigenen Lebens der tiefste Ausdruck von Liebe. Das Gebot, das der Vater ihm gegeben hat, normiert sein ganzes Reden und Handeln (Joh 12,49 f.). Indem Jesus die Gebote Gottes hält, bleibt er in der Liebe Gottes (15,10). Jesus selbst kann seine Beauftragung auch als Empfang eines Gebotes von Gott formulieren, das sein Handeln und Reden, die Hingabe seines Lebens und das Geschenk des Lebens für alle umfasst und beinhaltet: Joh 10,18: οὐδεὶς αἴρει αὐτὴν ἀπ᾿ ἐμοῦ, ἀλλ᾿ ἐγὼ τίθημι αὐτὴν ἀπ᾿ ἐμαυτοῦ. ἐξουσίαν ἔχω θεῖναι αὐτήν, καὶ ἐξουσίαν ἔχω πάλιν λαβεῖν αὐτήν· ταύτην τὴν ἐντολὴν ἔλαβον παρὰ τοῦ πατρός μου. Joh 12,49 f.: ὅτι ἐγὼ ἐξ ἐμαυτοῦ οὐκ ἐλάλησα, ἀλλ᾿ ὁ πέμψας με πατὴρ αὐτός μοι ἐντολὴν δέδωκεν τί εἴπω καὶ τί λαλήσω. καὶ οἶδα ὅτι ἡ ἐντολὴ αὐτοῦ ζωὴ αἰώνιός ἐστιν. ἃ οὖν ἐγὼ λαλῶ, καθὼς εἴρηκέν μοι ὁ πατήρ, οὕτως λαλῶ. John 15,10: ἐὰν τὰς ἐντολάς μου τηρήσητε, μενεῖτε ἐν τῇ ἀγάπῃ μου, καθὼς ἐγὼ τὰς ἐντολὰς τοῦ πατρός μου τετήρηκα καὶ μένω αὐτοῦ ἐν τῇ ἀγάπῃ.

Auch die Jünger werden im Anschluss an Joh 13,34 wiederholt als Adressaten von Geboten Jesu beschrieben.324 Indem sie sich gegenseitig lieben, halten sie die Worte bzw. Gebote Jesu und sie werden zugleich eingebunden in die Liebesbeziehung zwischen Gott und Jesus (13,34 f.; 15,10; 17,21.23).325 Auf diese Weise werden die Jünger zu einem Raum, in dem die Liebe Jesu bzw. Gottes nach Jesu Abschied sichtbar und erfahrbar bleibt. Die gegenseitige Liebe wird für alle Menschen zum Erkennungszeichen ihrer Zugehörigkeit zu Jesus (13,34 f.; vgl. 15,12). Im weiteren Verlauf der Gespräche wird erläutert, wie sich das Lieben und Halten von Geboten gegenseitig bedingen (14,15.21) und dass durch das Halten dieser Gebote ein Bleiben in der Liebe Jesu bzw. sogar in der Liebe Gottes möglich wird (14,21; 15,10). 323  Popkes, Theologie, 349. Popkes stellt die Bewegung der Liebe von Gott über Jesus über die Nachfolgegemeinschaft präzise dar, nur dass er von der Sendung der „Gemeinde“ spricht; ebd. 324  Das griechische Lexem ἡ ἐντολή findet sich im Johannesevangelium mit Bezug auf Jesus in 10,18; 12,49 f.; 15,10 und mit Bezug auf die Jünger in 13,34; 14,15; 14,21; 15,10.12 und in 11,57 als Gebot von Hohenpriestern und Pharisäern. 325 Zur Dynamik der Liebesbeziehungen im Johannesevangelium vgl. Frey, Love, 743–765, der zeigt, wie der missionarische Aspekt der Liebe darauf zielt, dass Gottes Liebe in der Welt präsent bleibt und sich die johanneische Gemeinde gerade nicht konventikelmäßig von der Welt distanziert, v. a. 764 f.

316

Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Joh 13,34: Ἐντολὴν καινὴν δίδωμι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους, καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀγαπᾶτε ἀλλήλους. Joh 14,15: Ἐὰν ἀγαπᾶτέ με, τὰς ἐντολὰς τὰς ἐμὰς τηρήσετε· Joh 14,21: ὁ ἔχων τὰς ἐντολάς μου καὶ τηρῶν αὐτὰς ἐκεῖνός ἐστιν ὁ ἀγαπῶν με· ὁ δὲ ἀγαπῶν με ἀγαπηθήσεται ὑπὸ τοῦ πατρός μου, κἀγὼ ἀγαπήσω αὐτὸν καὶ ἐμφανίσω αὐτῷ ἐμαυτόν. Joh 15,10: ἐὰν τὰς ἐντολάς μου τηρήσητε, μενεῖτε ἐν τῇ ἀγάπῃ μου, καθὼς ἐγὼ τὰς ἐντολὰς τοῦ πατρός μου τετήρηκα καὶ μένω αὐτοῦ ἐν τῇ ἀγάπῃ. Joh 15,12: Αὕτη ἐστὶν ἡ ἐντολὴ ἡ ἐμή, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς.

Die gegenseitige Liebe der Jünger, ihre Liebe zu Jesus und die Liebe Jesu bzw. Gottes zu den Jüngern werden miteinander verbunden. Wenn die Beziehung der Seinen untereinander, zu Jesus und zu Gott von Liebe geprägt ist, dann werden Jesus und Gott kommen und eine Bleibe (μονὴν παρ᾿ αὐτῷ ποιησόμεθα), eine dauerhafte Wohnung in ihnen finden (14,23).326 In und durch die Liebe werden die Seinen zum Ort der Offenbarung Jesu (14,21) und zum Ort der Einwohnung Gottes und Jesu (14,23). Grundlage und Voraussetzung für die Liebe der Jünger ist jedoch die Liebe, die Jesus den Seinen bringt und die in der Fußwaschung zeichenhaft und mit allen Sinnen erfahrbar vergegenwärtigt wird. Eigentlich müssen die Jünger also nichts anderes tun, als in der Liebe zu bleiben, die Jesus vermittelt hat (13,1.4–5; 15,4; 17,21–23), um ihrer Beauftragung durch Jesus gerecht zu werden (13,14 f.34 f.; vgl. 15,10.12).327 Blickt man von 13,34 f. und 14,23 zurück auf Joh 13,20, so erschließt sich, dass die gastfreundliche Aufnahme dieser  – sich gegenseitig liebenden  – Jüngerinnen und Jünger bedeutet, dass mit ihnen auch Jesus und Gott selbst aufgenommen werden – denn in der Liebe sind Jesus, Gott und die Seinen bleibend verbunden.328 Blickt man von hier zurück auf Joh 13,14 f., so bestätigt sich, dass die Fußwaschung als Ausdruck der Liebe Jesu in die Beauftragung mündet, dass die Seinen sich nach Jesu Vorbild gegenseitig die Füße waschen und damit im übertragenen Sinn sich gegenseitigen lieben sollen. Damit bleiben die Schüler in enger Verbundenheit mit ihrem Lehrer so wie Gesandte in enger Verbundenheit mit ihrem Sender oder wie Sklaven in enger Verbundenheit mit ihrem Herrn (13,16), handeln in dessen Namen und können diesen – nach seinem Abschied – repräsentieren (13,20). Auf diese Weise werden sie als Schüler Jesu erkennbar sein (13,35). Wenn Jesus im Moment seines Abschieds den Jünger das Gebot – d. h. den Auftrag  – gibt, sich gegenseitig zu lieben, erschließt er den Seinen auch eine Möglichkeit der bleibenden Verbindung mit ihm. Für die Seinen gilt, dass sie Jesus nach seinem Weggang zum Vater suchen und finden können, und zwar 326 Die Frage nach der Gemeinschaft mit Jesus bzw. der Bleibe von Jesus wird bereits in Joh 1,38 thematisiert; vgl. Theobald, Evangelium I, 180 f. 327  Dies entspricht genau dem einzigen Imperativ, der in Joh 15,1–9 formuliert wird. 328 Zur johanneischen Immanenzvorstellung vgl. Scholtissek, Sprache.

5.5. Einzelexegese von Joh 13

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in ihrer eigenen Liebesgemeinschaft. An der Liebe wird die Gemeinschaft auch für die Welt in ihrer Zugehörigkeit zu Jesus und damit zu Gott erkennbar sein. Joh 13,36–38: Die umfassende Dimension der Nachfolge Jesu, die im gegenseitigen Lieben ein Bleiben in der Gemeinschaft mit Gott und Jesus ermöglicht, wird nun mit Hilfe eines Missverständnisses für die Lesenden weiter erläutert: Petrus versteht die Tiefendimension des Liebesgebots nicht. Er ahnt noch nicht, dass Jesus trotz seines Weggehens in der gegenseitigen Liebe der Jünger präsent bleibt und gefunden werden kann. Petrus will Jesus vielmehr jetzt konkret auf seinem Weg nachfolgen und ihm seine Liebe erweisen, indem er mit ihm in den Tod geht (13,37, vgl. 12,24–26; 15,13). Doch dafür muss er wissen, wohin Jesus geht. Jesus beantwortet die Frage nur indirekt, indem er ihm mitteilt, dass er noch nicht jetzt, sondern erst später folgen kann (13,36). Durch die Hartnäckigkeit bzw. Begriffsstutzigkeit der Erzählfigur Petrus wird deutlich, dass die Nachfolge Jesu durchaus die Bereitschaft voraussetzt, sein eigenes Leben einzusetzen und zu riskieren (13,37; vgl. 12,25 f.; 13,15; 15,20–16,5). Jesus wiederholt die Absicht des Petrus unkommentiert und sie bleibt dadurch als zutreffende Aussage im Raum stehen (13,38a; vgl. 21,19). Jesus kündigt stattdessen die Verleugnung an, d. h., dass die unmittelbare und konkrete Nachfolge gerade nicht der Weg für ihn – und auch nicht für die anderen – ist (13,38b). Die Thematik, wie Jesus und Gott in der Liebesgemeinschaft der Jünger gefunden werden können, wird in den folgenden Gesprächsgängen weiter vertieft. Die Ansage der Verleugnung durch den engagierten Jünger ist offensichtlich Grund genug, dass Jesus die Seinen zunächst erneut trösten und über seine Anwesenheit trotz Abwesenheit weiter belehren muss (14,1–29; vgl. 13,18–20).

5.5.9. Zusammenfassung zu Joh 13,31–38 Als Fazit lässt sich festhalten, dass Jesus in der Stunde des Abschieds den Seinen in der Liebe einen Weg aufzeigt, wie ihre Gemeinschaft miteinander und mit Jesus bewahrt werden kann und wie sogar die Außenstehenden erkennen können, dass sie (bleibend) zu Jesus gehören. Dafür gibt er ihnen das Gebot der gegenseitigen Liebe. Diese Liebe soll sich an Jesu Handeln orientieren, ja sie hat Jesu Liebe als Grundlage, da Jesu durch sein Lieben – durch die Ausführung seines Auftrags – ihre Gemeinschaft gestiftet hat. In der Fußwaschung hat Jesu diese Liebe zeichenhaft erfahrbar gemacht und die Seinen mit sich selbst und – durch die Aufforderung zur Nachahmung  – miteinander in Liebe verbunden. Das Liebesgebot hat damit eine wesentliche Gemeinsamkeit mit der Aufforderung, wie Jesus Füße zu waschen (Joh 13,14). Der Auftrag Jesu an die Seinen besteht

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

darin, aktiv durch ihr eigenes gegenseitiges Lieben in der Liebe Jesu und Gottes zu bleiben, die Jesus ihnen im Namen Gottes bereits vermittelt hat. Wenn die Jünger Jesus nachfolgen wollen, um dort zu sein, wo Jesus ist, so besteht die Nachfolge nicht darin, dass sie in dieser Nacht Jesus nachfolgen und mit Jesus sterben werden, sondern darin, dass sie wie Jesus lieben sollen. Schließlich sollen die Jünger als seine – und Gottes Gesandte – Gott und Jesus in der Welt bleibend repräsentieren (13,20.34 f.; 14,21–23; 15,20; 17,20–23), was jedoch nur geht, wenn die Jünger in der Welt bleiben (17,15). Dass diese Liebe auch die Bereitschaft einschließt, das eigene Leben aus Liebe hinzugeben (12,24–26; 15,13), wird Jesus den Seinen bzw. Petrus an anderer Stelle erneut erklären (15,18–16,4a; 21,15–19), dennoch ist ein Martyrium nicht die einzige oder typische Form der geforderten Nachfolge, wie das Beispiel des Anonymus zeigt (21,20–22).329 Das letzte gemeinsame Mahl ist eine Aufbruchssituation für Jesus und die Seinen: Wenn Jesus aufbricht, um am Kreuz zu sterben und so zum Vater zurückzukehren, müssen auch die Seinen aufbrechen, um Jesu Lehren und Jesu Liebe und darin auch Gottes Worte und Gottes Liebe in der Welt präsent zu halten (13,20; 14,31; 15,5.18–21.27; 18,21).

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38 5.6.1. Joh 13,16.36–38 und Joh 15,18–16,4a Dass sich der Hass der Welt auf die Jünger Jesu richtet, hängt unmittelbar mit deren Erwählung und Sendung bzw. Beauftragung zur gegenseitigen Liebe zusammen (15,18 f.).330 In diesem Kontext zitiert Jesus den ersten Teil von Joh 13,16 und ergänzt diesen in bezeichnender Weise: „Erinnert euch an das Wort, das ich euch gesagt habe: Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen. Wenn sie mein Wort gehalten haben, werden sie auch das eure halten“ (Joh 15,20). Annahme und Ablehnung werden formuliert! Die Jünger gehören – wie Jesus – nicht mehr zur Welt (15,19). Jesus kündigt den Seinen eine Stunde an, in der sie seinetwegen der Todesgefahr ausgesetzt sind (16,2–4a; vgl. 12,24–26). Solange Jesus selbst in der Welt ist, richtet sich der Hass auf ihn, während er die Seinen bewahrt (17,12). Nach seinem Abschied erbittet 329  Dies spricht auch gegen eine Engführung des griechischen Begriffs ὑπόδειγμα in Joh 13,15 auf einen vorbildlichen ehrenhaften Tod, wie dies Culpepper annimmt; vgl. Culpepper, Hypodeigma, 142 f. 330  Zumstein spricht zutreffend von einer Ausweitung der „ekklesiologischen Reflexion“ in 15,18–16,4a, bei der die Beziehung zwischen Gemeinde und Welt verstärkt in den Blick genommen wird; Zumstein, Johannesevangelium, 577 f.

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38

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Jesus für sie die Fürsorge Gottes (17,11–15). So wie Jesus von Gott in die Welt gesandt wurde – mit allen Konsequenzen – hat Jesus auch die Seinen aus der Welt erwählt (15,16.19)331 und in die Welt gesandt (17,18). So wie Jesus sollen sie dem Hass der Welt nicht mit Hass, sondern mit Liebe begegnen, die bereit ist, aus Liebe für die Seinen zu sterben (12,24–26; 15,13).332 Das den Seinen bevorstehende Schicksal wird in vier Abschnitten erläutert: Zunächst werden die Reaktion der Welt und ihre Gründe dargestellt (15,18– 21). In 15,22–25 werden die Gründe für den Hass theologisch reflektiert. Den Jüngern wird angesichts der bevorstehenden Ablehnung und Verfolgung Unterstützung durch den Parakleten zugesagt (15,26 f.), so dass sie auch in Zukunft ihrer Zeugenfunktion nachkommen können.333 Abschließend werden die Gefahren bis hin zur Todesgefahr konkretisiert (16,1–4a). Joh 15,18–21 stellt die grundlegenden Zusammenhänge fest:334 Wenn die Welt euch hasst, erkennt, dass sie mich zuerst gehasst hat. Wenn ihr aus der Welt wäret, so würde die Welt das Eigene lieben; weil ihr aber nicht aus der Welt seid, sondern ich euch erwählt habe aus der Welt, darum hasst euch die Welt. Erinnert euch an das Wort, das ich euch gesagt habe: Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen, wenn sie mein Wort gehalten haben, werden sie auch das eure halten. Aber dies alles werden sie an euch tun um meines Namens willen, weil sie den nicht kennen, der mich gesandt hat.

In der Mitte steht der Befehl Jesu, sich an sein Wort aus Joh 13,16 zu erinnern. Damit steht die Botenvorstellung mit Blick auf die Seinen im Zentrum des Gedankengangs und wird mit der Sendung Jesu verglichen (15,20). Wie Jesus aufgrund seiner Sendung sowohl Annahme als auch Ablehnung erfahren hat, werden auch die Jünger Annahme und Ablehnung erfahren (15,20).335 Jesus 331  Auch in der synoptischen Überlieferung kündigt Jesus den Jüngern unmittelbar vor seinem Leiden und Sterben bevorstehende Verfolgungen an (Mk 13,9–13 parr.); Johannes begründet diese mit ihrer Zugehörigkeit zu Jesus; vgl. Dodd, Interpretation, 412; vgl. Brown, Gospel II, 693–695, der besonders auf die Ähnlichkeiten zu Mt 10 verweist. 332 Dies wird in Joh 13 im Umgang mit Judas narrativ umgesetzt, denn Jesus schenkt auch ihm seine Liebe sowohl in der Fußwaschung als auch in der Tischgemeinschaft mit dem Brocken Brot (13,1–20.26; 17,12). 333 Vorausgesetzt ist offensichtlich, dass die Jünger zwar schon jetzt Zeugnis für Jesus ablegen, allerdings noch unter dem Schutz Jesu, während sie unter den bevorstehenden Bedingungen nach Jesu Abschied aus der Welt auf weitere Unterstützung angewiesen sind. 334 Zur kunstvollen Struktur aus Bedingungssätzen und Folgen vgl. Moloney, Message, 42. 335  Der Inhalt der Sendung der Jünger besteht  – wie bei Jesus  – in der Übermittlung der Liebe. Entsprechend hält Brown fest: „Love of Jesus has made the true Christian so much like Jesus that he is treated in the same manner as Jesus.“ Brown, Gospel II, 695; er verweist auf die Erwählung der Jünger, die im Sinne einer missionarischen Sendung zu verstehen sei (15,16.19 sowie 17,14), wie insbesondere ein Vergleich von 15,20 mit Mt 10,14.40 und Hes. 3,7 nahelege; a. a. O. 696.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

zitiert hier Joh 13,16a und fordert die Jünger explizit auf, sich an dieses Wort zu erinnern. Als erwählte und beauftragte Jünger Jesu (13,20; 15,16) werden sie nicht nur gastfreundlich aufgenommen, sondern wie Jesus wird sie auch der Hass der Welt treffen. Der tiefste Grund für ihre Verfolgung liegt darin, dass die Menschen Jesus nicht als Gesandten Gottes erkennen (15,21). Im vorliegenden Kontext wird jedoch nicht die Annahme und gastfreundliche Aufnahme vertieft (vgl. dazu jedoch Joh 13,20), sondern die Ablehnung und der Hass, die zunächst Jesus selbst (15,22–25) und erst nach dessen Abschied die Jünger treffen. Nach seiner Rückkehr zum Vater wird Jesus den Jüngern den Parakleten als Beistand schicken (15,26 f.; 17,12.14 f.):336 Dieser wird – in der zukünftigen Bedrohungssituation – von Jesus zeugen. Was für den Geist in Zukunft gilt, gilt für die Jünger sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft: Sie zeugen von Jesus, weil sie von Anfang an bei ihm gewesen sind (15,20.27).337 Angesichts der Gefahr bereitet Jesus die Seinen jetzt, vor seinem Abschied, auf ihre Aufgabe und deren Konsequenzen vor (16,1.4). Damit begründet der johanneische Jesus zugleich, warum diese Lehren erst in der gegebenen Situation unmittelbar vor seinem Tod ihren sinnvollen Ort haben. Die Erläuterungen Jesu schließen also nicht aus, dass sich die Jünger bereits vor dem letzten Mahl Jesu an der Verkündigung und Sendung Jesu beteiligt haben, aber den Hass als Konsequenz auf ihr Zeugnis werden sie erst nach Jesu Tod auf sich nehmen müssen. Erst jetzt erläutert Jesus deshalb die dramatischen Folgen, die seine Rückkehr zum Vater für die Seinen hat (15,18–16,4a). Mit der expliziten Aufforderung, sich eines oder der Worte Jesu zu erinnern (μνημονεύω), bezieht sich Joh 16,4a zurück auf Joh 15,20, so dass auch eine Verbindung zu Joh 13,16 im Kontext der Fußwaschungserzählung gegeben ist.338

336  Die Gefahren, die mit der Zeugenschaft verbunden sind, werden in den Synoptikern v. a. im Kontext der Endzeitrede Jesu (Mt 24,9–14; Mk 13,9–13; Lk 21,12–17) als auch im Zusammenhang der Sendungserzählungen (Mt 5,10 f.; 10,17–25; Lk 6,22 f.; 12,1–12; auch 22,35–38) thematisiert; vgl. Brown, Gospel II, 694 f.; Zumstein, Johannesevangelium, 578 f. 337 Geist und Jünger stehen nicht als unabhängige Zeugen nebeneinander, sondern vielmehr wird der Geist in den Jüngern wohnen und wirken, so dass sie Jesu Zeugen sein können; vgl. Brown, Gospel II, 698–700., der auf Mt 10,20 und Mk 13,11 verweist und die lukanische Parallele in Lk 12,12 sieht, wo der Heilige Geist als Lehrer verstanden wird (vgl. Joh 14,26); auch die Rolle Jesu als Lehrer in Joh 13–17 ist hier zu bedenken (vgl. Lk 21,15). 338  Das Verb μνημονεύω kommt im Neuen Testament nur 21-mal vor, in den Synoptikern je einmal, bei Johannes dreimal (15,20; 16,4.21), in der Apostelgeschichte zweimal. In der Briefliteratur finden sich zehn Belege, in den Johannesbriefen ist es nicht belegt, in der Offenbarung drei. Es ist verwandt mit dem Verb μιμνῄσκομαι, das sich bei Johannes dreimal findet (2,17.22; 12,16), bei Matthäus dreimal, bei Lukas sechsmal (u. a. bei der Auferstehungsbotschaft der Engel in Lk 24,6.8), in der Apostelgeschichte zweimal, in der Briefliteratur ohne johanneische Briefe achtmal und in der Offenbarung einmal; vgl. Michel, μιμνῄσκομαι, 678–687; Schnackenburg, Johannesevangelium III, 131; vgl. zur Interpretation der Form als Imperativ Zumstein, Johannesevangelium, 576 Anm.

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38

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Liest man Joh 15,18–16,4a intertextuell mit Joh 13,36–38, erschließen sich weitere Aspekte der Fußwaschungserzählung: Nachdem Jesus seinen Abschied angekündigt und das Liebesgebot mitgeteilt hat (13,33–35), erklärt sich Petrus sofort bereit, Jesus unter Einsatz seines Lebens nachzufolgen (13,37). Dies entspricht der Beschreibung von Nachfolge in Joh 12,24–27. Petrus kann dies jedoch nicht in der Todesstunde Jesu umsetzen (13,36). Jesus bis in den Tod nachzufolgen ist erst möglich, wenn Jesus zuerst seinen Weg in den Tod zu Ende gegangen ist. Joh 15,18–16,4a setzt genau diesen Zeitpunkt als entscheidende Wendemarke für das Schicksal der Jünger voraus (16,4a). Nach Jesu Tod und damit nach seinem Abschied aus der Welt wird sich der Hass der Welt auf die Seinen richten und damit wird auch für sie die Stunde der Todesgefahr kommen (15,20; 16,2). Interessant ist, dass sowohl Hass und Verfolgung als auch das Kommen und Zeugnis des Parakleten in der Zukunft liegen, während jedoch das Zeugnis der Seinen für Jesus bereits für die Gegenwart festgehalten wird (15,27). Diese bereits stattfindende Zeugenschaft für Jesus wird mit dem Hinweis verbunden, dass sie von Anfang an bei Jesus gewesen sind (vgl. Lk 1,2; auch Apg 1,21 f.). Die intratextuelle Lektüre von Joh 13,36–38 und Joh 15,18–16,4a lässt erkennen, wie bedeutsam der Tod Jesu als Zäsur für die Nachfolge und Zeugenschaft der Jüngerinnen und Jünger im Johannesevangelium ist. Im vierten Evangelium ist der zentrale Unterschied zwischen der vorösterlichen und nachösterlichen Nachfolge die Todesgefahr für die Jünger, die in dieser Form vor Jesu Abschied nicht besteht. Dass die Jünger – ebenso wie die Jüngerinnen – Jesus bereits zu Lebzeiten aktiv unterstützen und dabei auch Zeugnis für Jesus abgeben, wird im Johannesevangelium offensichtlich vorausgesetzt, auch wenn es keine explizite Aussendung der Jünger während des irdischen Wirkens Jesu im Johannesevangelium gibt.339 Nach Jesu Tod ist mit ihrer Zugehörigkeit zur Nachfolgegemeinschaft und der damit gegebenen Erkennbarkeit als Jesu Jünger, die sich sowohl durch die gegenseitige Liebe als auch durch ihr explizites Zeugnis zeigt, eine Gefahr für ihr eigenes Leben verbunden. Darauf bereitet sie Jesus in der Abschiedsrede vor.

339  Die Jünger sind, in Übereinstimmung mit 15,27, im Johannesevangelium seit Beginn ihrer Nachfolge in die Bezeugung Jesu involviert; vgl. z. B. Joh 1,35–46; 3,11; 4,28–30.39–42; 9,24–34; 11,51 f.; 12,20–22.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

5.6.2. Joh 13,16.20 und die synoptischen Parallelen Joh 13,16 hat seine nächsten Parallelen in Mt 10,24 und Lk 6,40340: Joh 13,16: ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν, οὐκ ἔστιν δοῦλος μείζων τοῦ κυρίου αὐτοῦ οὐδὲ ἀπόστολος μείζων τοῦ πέμψαντος αὐτόν. Mt 10,24 f.: Οὐκ ἔστιν μαθητὴς ὑπὲρ τὸν διδάσκαλον οὐδὲ δοῦλος ὑπὲρ τὸν κύριον αὐτοῦ. ἀρκετὸν

τῷ μαθητῇ ἵνα γένηται ὡς ὁ διδάσκαλος αὐτοῦ καὶ ὁ δοῦλος ὡς ὁ κύριος αὐτοῦ. εἰ τὸν οἰκοδεσπότην Βεελζεβοὺλ ἐπεκάλεσαν, πόσῳ μᾶλλον τοὺς οἰκιακοὺς αὐτοῦ. Lk 6,40: οὐκ ἔστιν μαθητὴς ὑπὲρ τὸν διδάσκαλον· κατηρτισμένος δὲ πᾶς ἔσται ὡς ὁ διδάσκαλος αὐτοῦ.

Mt 10,24 verwendet zur Beschreibung der Beziehung zwischen Jesus und den ausgesandten Aposteln die beiden Paare Lehrer – Schüler und Herr – Sklave. Lk 6,40 greift nur auf das Paar Lehrer – Schüler zurück.341 Die Zuordnung innerhalb der Paare wird jeweils mit Hilfe der Präposition ὑπέρ ausgedrückt und somit deutlicher als bei Johannes als Unterordnungsverhältnis charakterisiert. In Mt 10,25 wird festgehalten, dass es dem Jünger bzw. Sklaven genügt, wie (ὡς) sein Lehrer bzw. Herr zu sein. Diese Aussage steht bei Matthäus im Kontext der Verfolgung bzw. Anfeindung der Jünger bzw. Jesu, wie bereits die Fortsetzung in Mt 10,25b zeigt. Den Jüngern wird durch den Vergleich in Mt 10,24 zwar ein mit der Rolle Jesu vergleichbarer Status zugesagt, dies gilt jedoch mit Blick auf eine Bedrohungs- und Leidenssituation.342 Die ausgesandten Jünger werden angesichts des ihnen bevorstehenden schweren Schicksal dahingehend 340  Vgl. Brown, Gospel II, 569 f.; Thyen, Johannesevangelium, 596. Dies wird in der Literatur wiederholt festgestellt, jedoch unterschiedlich bewertet; vgl. z. B. Schnelle, Evangelium, 213 f.; Theobald, Herrenworte, 130–139; Thyen, Johannesevangelium, 596; Zumstein, Johannesevangelium, 481; vgl. dazu auch die Forschungsgeschichte in Kapitel 1. 341 Der lukanische Jesus vergleicht im Gespräch mit den Jüngern das Verhältnis zwischen ihm und seinen Aposteln nicht unmittelbar mit einem Herr-Sklaven-Verhältnis (vgl. v. a. auch Lk 24,26 diff. Mk 10,43 f.). Die Knechtsgleichnisse Jesu im Lukasevangelium sind gesondert zu betrachten, da sie die Rolle der späteren Apostel zwar im Vergleich mit Sklaven beleuchten und das Selbstverständnis der Apostel im Sinne von Pflichtbewusstsein gegenüber einer falschen Überheblichkeit korrigieren, ohne dass die Apostel selbst jedoch unmittelbar als Sklaven angesprochen werden (vgl. Lk 12,35–48; 17,7–10; vgl. Tannehill, Unity, 240–235) oder zur Erniedrigung aufgefordert werden (vgl. Lk 9,46–48 diff. Mk 9,33–37 und Mt 18,1–5). Wichtig ist v. a., dass die lukanischen Jünger in Lk 22,24–27 (diff. Mk 10,42–44 und diff. Mt 20,25–27) nicht aufgefordert werden, wie Sklaven zu werden; vgl. präzise Johnson, Luke, 206: „Authority is here expressed in table service.“; vgl. a. a. O. 344–346. Den Aposteln wird in Lk 22,28–30 ein Ehrenplatz im Reich Gottes zugesagt, während Jesus dies gemäß Mk 10,40 par. Mt 20,23 explizit ablehnt. Während in Mt 18,1–5 (par. Mk 9,33–37; vgl. auch Mt 23,8–12) die Jünger explizit zur Erniedrigung aufgefordert werden, wird in Lk 9,46–48 im Vergleich mit dem Kind nur dem Kleinsten der Jünger Größe im Reich Gottes zugesagt; vgl. dazu Hentschel, Diakonia, 258–297. 342  Zum Kontext der Aussendungsrede bei Matthäus im Rahmen einer Verfolgungssituation vgl. Frankemölle, Matthäuskommentar II, 87–97; Harrington, Gospel, 144–148; Konradt, Evangelium, 159–175. Lk 6,40 findet sich im Kontext von Weisheitslehren im Rahmen der lukanischen Feldrede; vgl. Johnson, Gospel, 113–117.

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38

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getröstet, dass sie in der Verleumdung und Verfolgung ihrem Lehrer und Herrn gleichgestellt sind. In Lk 6,40 wird betont, dass der Schüler im Falle der Bewährung „wie“ (ὡς) sein Lehrer werden kann. Die Feststellung steht im Kontext von Weisheitslehren im Rahmen einer Belehrung über gute und schlechte Leitung. Dass die Jünger wie ihr Lehrer werden ist hier ein erstrebenswertes Ziel der Nachfolge (diff. Mt 10,24 f.). In Joh 13,16 wird durch die Verwendung des Komparativs μείζων zwar die höhere Bedeutung von Jesus festgehalten, jedoch nicht so stark wie bei Matthäus die hierarchische Unterordnung der Jünger betont. Die Schüler werden aufgefordert, in ihrer Nachfolgegemeinschaft wie Jesus zu handeln, und darin sollen sie wie Jesus sein, der ihr Lehrer, Herr und Auftraggeber ist. Insgesamt gilt, dass Joh 13,16 sowohl sprachlich als auch inhaltlich näher bei Mt 10,24 als bei Lk 6,40 ist.343 Diese Beobachtung wird bestärkt, wenn man sowohl Joh 13,12 mit der Betonung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses als auch die Wiederaufnahme von Joh 13,16a in Joh 15,20 berücksichtigt, wo es explizit um die Verfolgung und Anfeindung der Jünger aufgrund ihrer Zeugenschaft für Jesus geht (15,18–16,4a). Die Botenvorstellung aus Joh 13,20 hat ihre nächsten Parallelen in Mt 10,40 und Lk 10,16:344 Joh 13,20: ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν, ὁ λαμβάνων ἄν τινα πέμψω ἐμὲ λαμβάνει, ὁ δὲ ἐμὲ λαμβάνων λαμβάνει τὸν πέμψαντά με. Mt 10,40: Ο δεχόμενος ὑμᾶς ἐμὲ δέχεται, καὶ ὁ ἐμὲ δεχόμενος δέχεται τὸν ἀποστείλαντά με. Lk 10,16: Ὁ ἀκούων ὑμῶν ἐμοῦ ἀκούει, καὶ ὁ ἀθετῶν ὑμᾶς ἐμὲ ἀθετεῖ· ὁ δὲ ἐμὲ ἀθετῶν ἀθετεῖ τὸν ἀποστείλαντά με.

343  Sparks hat anhand von Joh 13,16 versucht nachzuweisen, dass es gute Gründe gibt, auch eine Kenntnis des Matthäusevangeliums bei Johannes anzunehmen. Dabei hat er Joh 13,20 und 15,20 mit Mt 10,40 und Lk 10,16 verglichen und sein besonderes Augenmerk auf den Aussendungs- bzw. Missionskontext gelegt; Sparks, Knowledge, 59 f. Diese Zusammenhänge werden in der Johannesforschung angesichts der Annahme, dass Johannes keine Aussendung oder Beauftragung der Jünger zu Lebzeiten Jesu kenne (so z. B. Thyen, Johannesevangelium, 578.596.651), oft übersehen bzw. falsch bewertet. So geht z. B. Schnackenburg davon aus, dass Johannes zwar die entsprechende Sendungsvorstellungen und Logien aufnehme, aber nur um die Aufmerksamkeit „ganz auf den Sendenden“ zu lenken und nicht mit Blick auf eine Jüngeraussendung; vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium II, 525. Diese Annahmen können jedoch nicht überzeugen, wenn die Fußwaschung in ihrer ekklesiologischen Dimension wahrgenommen wird, so dass Joh 13,16.20 oder 13,34 f. nicht länger als Fremdkörper in Joh 13 betrachtet werden müssen. Auch Joh 15,1–16,4a ist entsprechend keine nachträgliche ekklesiologische Auslegung der ursprünglich soteriologisch gemeinten Fußwaschung, sondern vielmehr genuine Weiterführung von Joh 13. 344  Vgl. Brown, Gospel II, 572; Brown verweist auf Mk 9,37 par. Lk 9,48 sowie Lk 10,16, geht aber von einer unabhängigen Bezeugung aus; ebd.; vgl. Thyen, Johannesevangelium, 596. Lk 10,16 findet sich im Kontext der Aussendung der Siebzig (Lk 10,1–23); vgl. Johnson, Gospel, 166–171.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Auch wenn Mt 10,40 auf andere Verben zurückgreift, ist die Aussage von Joh 13,20 doch weitgehend identisch mit Mt 10,40, da in beiden Fällen mit Hilfe einer Sendungsvorstellung die Aufnahme der Jünger mit der Aufnahme Jesu und der Aufnahme Gottes gleichgesetzt wird. In Lk 10,16 findet sich zwar ebenfalls eine Sendungsvorstellung, diese wird aber im Hinblick auf das Hören und Verwerfen der Jünger bzw. Jesu konkretisiert. Nur mit Blick auf die Verwerfung wird ausgesagt, dass eine Verwerfung der Jünger sowohl einer Verwerfung Jesu als auch einer Verwerfung Gottes gleichkommt. In Lk 10,16 stärkt das Logion folglich die Autorität der ausgesandten Boten Jesu mit Blick auf die Akzeptanz, die man ihrer Botschaft entgegenbringt oder verweigert: Wenn Menschen nicht auf die Boten Jesu hören, verwerfen sie Jesus und Gott und müssen mit entsprechenden Konsequenzen rechnen (Lk 10,13–16). Auch für Joh 13,20 gilt, dass es seine nächste inhaltliche Parallele im Matthäusevangelium hat (Mt 10,40), während Lk 10,16 sowohl sprachlich als auch textpragmatisch in eine andere Richtung geht. Damit lässt sich als ein wichtiges Ergebnis festhalten, dass inhaltlich verwandte Logien zu Joh 13,16.20 in den Synoptikern im Kontext von Sendung, Verfolgung und Leitungsverantwortung der Jünger Jesu stehen. Insgesamt gilt, dass die Logien in Mt 10,24.40 sowohl semantisch als auch inhaltlich mehr Gemeinsamkeiten mit Joh 13,16.20 als Lk 6,40 und 10,16 aufweisen. Während im Matthäusevangelium im Kontext der beiden Logien Mt 10,24.40 den Jüngern Hass und Ablehnung angekündigt wird, die sie als Gesandte Jesu wie ihr Sender erleiden werden, geht es in Lk 6,39–49 im Rahmen der Feldrede um das rechte Verhalten von Leitungspersonen, bei denen Worte und Taten übereinstimmen müssen, damit sie glaubwürdig sind. Im Rahmen der Aussendungsrede der Siebzig wird die Botenvorstellung vom lukanischen Jesus aufgegriffen, um im Rahmen einer Strafankündigung an Chorazin und Betsaida abschließend darauf zu verweisen, dass ein Verwerfen der Jünger einer Verwerfung Jesu bzw. Gottes gleichkommt (Lk 10,13–16). Mit der Botenvorstellung in Lk 10,16 wird folglich angesichts von nicht umkehrwilligen Adressatinnen und Adressaten die Autorität der Jünger als Boten Jesu gestärkt. Berücksichtigt man den Kontext von Mt 10,24.40 lassen sich weitere Beobachtungen ergänzen, die für die Interpretation von Joh 13,16.20 und Joh 15,20 von Interesse sind: Die beiden Logien Jesu in Mt 10,24 und Mt 10,40 stehen im Kontext der Aussendung (Mt 10,1–11,1) der zwölf Jünger (Mt 10,1) die im Matthäusevangelium hier einmalig als Gesandte bzw. Apostel (ἀπόστολοι; Mt 10,2) bezeichnet werden. Im Rahmen dieses Textes findet sich eine Aufzählung aller Namen des Zwölferkreises mit dem expliziten Hinweis auf Judas als den späteren Verräter (Mt 10,2–4). Die Zwölf werden mit der Reich-Gottes-Botschaft und einem Heilungsauftrag zum Volk Israel gesandt (Mt 10,5–8). Die Boten sind dabei auf die Gastfreundschaft der Adressaten angewiesen, denen

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38

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Jesus je nach ihrem Verhalten Segen oder Gericht ankündigt (Mt 10,5–15). Abschließend warnt Jesus seine Jünger vor Verfolgung und Leid als Konsequenz aus dem Hass der Welt (10,16–39) und fordert sie auf, ihr Kreuz zu tragen und aus Liebe zu ihm ihr Leben einzusetzen (Mt 10,37–39).345 In diesem Kontext von Aussendung, Hass und Verfolgung findet sich bei Matthäus das Logion, das festhält, dass ein Jünger nicht über seinem Lehrer bzw. der Sklave nicht über seinem Herrn ist (Mt 10,24). Der Kontext von Mt 10,24.40 entspricht damit dem inhaltlichen Zusammenhang, in dem der johanneische Jesus das Logion aus Joh 13,16 als markiertes Zitat erneut verwendet (vgl. Joh 15,20; vgl. 15,18–16,4a). Bemerkenswert ist außerdem, dass das griechische Lexem ἀπόστολος sowohl in Mt 10,2 als auch in Joh 13,16 als Hapaxlegomenon in dem jeweiligen Evangelium vorkommt. Im Vergleich mit Mt 10,40 und Lk 10,16 fällt als Besonderheit von Joh 13,20 auf, dass es nicht als direkte Rede an die Jünger adressiert ist, sondern in der dritten Person von den Boten Jesu spricht. Die Gruppe dieser von Jesus angesprochenen Boten kann entsprechend größer sein als die Gruppe der anwesenden Jünger. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Joh 13,16.20  – insbesondere mit Blick auf Joh 15,20 und dessen Kontext  – mehrere auffallende Parallelen zur Aussendungsrede im Matthäusevangelium erkennen lässt. Den namentlich genannten und nur in Mt 10,2 als Gesandte (ἀπόστολοι) bezeichneten zwölf Jüngern wird von Jesus angekündigt, dass sie als seine Boten auf Gastfreundschaft angewiesen sind und all denen, die sie aufnehmen, die Gegenwart Jesu bzw. Gottes vermitteln (10,40). Zugleich müssen sie sich jedoch darauf einstellen, dass sie – wie ihr Lehrer und Herr Jesus – verkannt und verfolgt werden. In diesem Sinne haben die Jünger nichts anderes zu erwarten als ihr Lehrer Jesus, denn ein Schüler bzw. Sklave ist nicht über seinem Lehrer bzw. Herrn (vor allem Mt 10,16–25). Als ein wesentlicher Unterschied ist die Verortung der Belehrung Jesu zu nennen, die in Mt 10 in der Aussendungsrede und in Joh 13–17 in der Abschiedsrede im Kontext des letzten Mahls Jesu stattfindet. Als weitere Differenz fällt auf, dass in Joh 13 die angesprochenen Jünger nicht namentlich aufgezählt werden (diff. Mt 10,2–4), auch wenn insbesondere Judas als derjenige, der ihn übergeben wird, in beiden Evangelien eine Sonderrolle einnimmt (Mt 10,4). Während in Joh 6,70 f. noch explizit darauf hingewiesen wird, dass Judas zu den Zwölf gehört, spielt der Zwölferkreis in Joh 13 keine Rolle. In Joh 13–17 werden die Zwölf nicht einmal erwähnt, auch nicht im Kontext von 13,16, wo sich der einzige Beleg von ἀπόστολος im Johannesevangelium findet. Die intertextuelle Lektüre von Joh 13,16.20 mit Mt 10,40 und Lk 10,16 lässt deutlich erkennen, welche Schwerpunkte im Johannesevangelium bei der

345 Vgl.

Joh 12,24–26; 15,18–16,4a!

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Sendungsvorstellung für die Jüngerinnen und Jünger gesetzt werden, und vor allem, welche Aspekte gerade nicht thematisiert oder vertieft werden. Die Frage nach der Autorität der Gesandten, die für Lk 10,16 zentral ist, spielt bei der Verwendung der Sendungsvorstellung oder des Terminus ἀπόστολος im Johannesevangelium keine Rolle. Aufgrund der intertextuellen Lektüre ist dieses Schweigen jedoch nicht als zufällige Auslassung einer selbstverständlich vorausgesetzten Autorität der Gesandten Jesu anzusehen, sondern vielmehr als bedeutsam im Sinne einer bewussten Gestaltung der johanneischen Sendungsvorstellung. Die anwesenden Jünger werden in Joh 13 nicht mit einer besonderen Autorität ausgestattet, die ihnen im Kontext der Nachfolgegemeinschaft eine Sonderrolle mit Blick auf Status oder Ehre zuschreibt (diff. Lk 22,24–30). Die Ehre und Bürde der Sendung durch Jesus gilt vielmehr für jede und jeden, der von ihm gesandt wird (Joh 13,20). Die intertextuelle Lektüre mit Mt 10 lässt zudem weitere Zusammenhänge in Joh 13 sichtbar werden, die mit der Sendung oder Beauftragung der Jünger in Verbindung zu bringen sind. Im Matthäusevangelium wird den Gesandten Jesu angekündigt, dass sie sowohl in der gastfreundlichen Aufnahme (Mt 10,11– 13.40–42) als auch in der Verfolgung bis hin zur Todesgefahr und zur Verleumdung (Mt 10,14.17 f.22 f.25) wie Jesus selbst behandelt werden. Außerdem wird ihnen der Geist als Fürsprecher in Gefahrensituationen verheißen (Mt 10,19 f.) Diese Aspekte der Sendung der Jünger lassen sich auch in der Abschiedsrede des johanneischen Jesus wiederfinden (v. a. 13,16–20; 15,18–16,4a). Bemerkenswert ist außerdem, dass im Matthäusevangelium den Gesandten Jesu nicht nur eine institutionelle Gefährdung in Form von Gerichtsverhandlungen angekündigt wird, sondern auch eine individuelle Bedrohung in Form von Hass bis hin zur Zerstörung von Familienbeziehungen (Mt 10,34–36). Die Liebe zu den eigenen Familienmitgliedern wird vom matthäischen Jesus sogar exklusiv der Liebe zu ihm entgegengesetzt und die Kreuzesnachfolge wird verbunden mit der Auflösung aller bisherigen (Liebes-)Beziehungen (Mt 10,35–39). Auf diesem Hintergrund bekommt die in Joh 13 im Zentrum stehende Liebe eine weitergehende ekklesiologische Dimension: Jesus bringt nicht das Schwert (Mt 10,34 f.; vgl. Lk 22,36–38), sondern die Liebe (Joh 13,1.4–5; vgl. 15,25), sowohl für die Seinen als auch für die ganze Welt (3,16 f.). In der Nachfolge und auch bei der damit verbundenen Beauftragung bzw. Aussendung geht es nicht darum, Jesus „mehr“ zu lieben als andere Menschen, sondern der johanneische Jesus fordert gerade die gegenseitige Liebe nach seinem Vorbild (13,34 f.). Diese Liebe soll ausstrahlen in die Welt, mit Gottes Hilfe gerade auch dann, wenn sie vom Hass bedroht wird (13,35; vgl. 17,20–26).

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38

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5.6.3. Joh 13,1–38 und Lk 22,14–38 Da sowohl bei Lukas als auch bei Johannes das letzte Mahl Jesu nach dem Vorbild eines Symposions ausgestaltet ist, legt es sich nahe, Joh 13 intertextuell mit Lk 22,14–38 zu lesen.346 Dabei wird sich zeigen, dass es nicht nur Übereinstimmungen im Handlungsgerüst der Erzählung gibt, sondern auch inhaltlichthematische Bezüge. Besonders relevant mit Blick auf die in Joh 13 festgestellte ekklesiologische Dimension der Fußwaschung ist, dass Jesus in Lk 22,35–38 die bereits zuvor erfolgte Aussendung und Beauftragung der Apostel (Lk 9,1–6) im Angesicht seines bevorstehenden Todes aktualisiert. Der Abschied Jesu ist also nicht nur für Johannes, sondern auch für Lukas der geeignete Zeitpunkt, um die zurückbleibenden Apostel bzw. Jünger für ihre Aufgaben nach Jesu Abschied zu beauftragen und zu belehren. In beiden Evangelien enden die Gespräche damit, dass Jesus aufsteht und mit seinen Jüngern aufbricht (Joh 18,1; vgl. bereits Joh 14,31; Lk 22,39; vgl. bereits Lk 22,36). Das Mahl steht in beiden Evangelien im Kontext der Stunde: Gemäß Lk 22,14 sitzt Jesus, als die Stunde kommt (ὅτε ἐγένετο ἡ ὥρα), mit seinen Aposteln zu Tisch. Die Zeit dieses Passamahls wird von Jesus konkret bestimmt als Zeit „vor seiner Passion“ und „vor der Erfüllung im Reich Gottes (ἕως ὅτου πληρωθῇ ἐν τῇ βασιλείᾳ τοῦ θεοῦ)“ (Lk 22,15 f.). Was sich erfüllen soll, wird jedoch nicht weiter erläutert. Gemäß Joh 13,1.3 wird Jesus die Seinen lieben bis zur Vollendung und zu seinem Vater zurückkehren. Im Anschluss daran folgt bei Lukas die Mahlhandlung (Lk 22,17–20), bei Johannes die Fußwaschung (Joh 13,4–17). Im Johannesevangelium bleiben die Teilnehmenden unbestimmt (Joh 13,1– 5), im Lukasevangelium sind es die zwölf besonders ausgewählten Apostel (Lk 22,14). Zum Jünger- bzw. Apostelkreis gehört jeweils Judas, in den der Teufel gefahren ist (Joh 13,2.10 f.18 f.,27–30; Lk 22,21 f.; vgl. Lk 22,3). In beiden Erzählungen ist die Identifizierung des Judas Anlass für eine Interaktion zwischen den Anwesenden und eine daraus resultierende Belehrung durch Jesus (Joh 13,18– 30.34 f.; Lk 22,21–30). Nach Lukas führt die Ankündigung des Verrats zu einem Rangstreit unter den Aposteln (Lk 22,21–23).347 Wie die Diskussion von der Frage nach dem ‚untreuen Jünger‘ zur Frage nach dem ‚besten Jünger‘ umschlägt, wird nicht weiter 346  Ein detaillierter intertextueller Vergleich von Joh 13 mit den synoptischen Erzählungen vom letzten Mahl Jesu kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht geleistet werden. Vgl. dazu v. a. Sabbe, Footwashing, 279–308; vgl. auch Barrett, Evangelium, 428–440. 347  Ab hier weicht die lukanische Darstellung von den anderen beiden Synoptikern ab: Sowohl gemäß Mk 14,19 als auch gemäß Lk 26,22 reagieren die Jünger darauf mit Betrübnis und jeder fragt mit Blick auf sich selbst, ob er gemeint sei (Mk 14,20 f.; Mt 26,25). Vgl. dazu Johnson, Gospel, 343–349, der Lk 22,34–38 als zusammenhängenden Abschnitt eines „farewell discourse“ (a. a. O. 347 f.) analysiert. Johnson weist daraufhin, dass als Motiv das Streben nach Ehrenplätzen aus Lk 14,7; 20,46 aufgenommen wird; a. a. O. 344.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

erläutert.348 Es geht jedenfalls auf einmal nicht mehr darum, wer Jesus ausliefern wird, sondern wer ihm in besonderer Weise treu ist. Die Apostel fragen sich, wer als der Größte gelten könne (Ἐγένετο δὲ καὶ φιλονεικία349 ἐν αὐτοῖς, τὸ τίς αὐτῶν δοκεῖ εἶναι μείζων.; Lk 22,34). Damit greift Lukas hier den zweiten Teil der Erzählung aus Mk 10,35–45 par. Mt 20,20–28 auf. Anlass für die Belehrung Jesu ist bei Lukas nicht mehr die Frage einzelner Jünger nach Ehrenplätzen im Himmel (Mk 10,35–37 par. Mt 20,20 f.), sondern die Ankündigung des Verräters durch Jesus. Als Bedingung für das Erreichen von Ehrenplätzen wird in Mk 10,38 f. par. Mt 20,22 f. von Jesus angegeben, dass die Jünger Jesu Kelch des Leidens trinken können und bereit sind, wie er zu sterben. Bei Markus und Matthäus lehnt Jesus die Zusage von Ehrenplätzen im Himmel jeweils mit Verweis auf die Zuständigkeit Gottes ab (Mk 10,10; Mt 20,23). Diese explizite Ablehnung kommt überraschend, da Jesus bestätigt, dass auch Jakobus und Johannes den Kelch des Leidens trinken, d. h. den Märtyrertod sterben werden und damit die Bedingung erfüllen, die er selbst kurz zuvor aufgestellt hat (Mk 10,39; Mt 20,23). Im Gegensatz dazu bestätigt Jesus in Lk 22,28–30 den anwesenden Aposteln nicht nur ihre Treue, sondern spricht ihnen Ehren- und Herrschaftsplätze im Reich Gottes fest zu.350 Der lukanische Jesus vergibt bereits in der Gegenwart die Ehrenplätze, über die nach Markus und Matthäus allein Gott im Reich Gottes entscheiden wird. Im Markus- bzw. Matthäusevangelium lehnt Jesus die Bitte nach Ehrenplätzen ab und fordert alle Jünger – im Gegensatz zu Königen und irdischen Machthabern – zu einem alternativen Umgang miteinander in der Nachfolgegemeinschaft auf (Mk 10,40–45; Mt 20,24–28). Bei Lukas beginnt die Erzählung mit einem Rangstreit und endet mit der Zusage von Ehrenplätzen im Reich Gottes.

Der lukanische Jesus reagiert auf den Rangstreit seiner Apostel, indem er kritisiert, dass die Mächtigen in der Welt ihre Macht einsetzen, um nach Ehrentiteln zu streben (Lk 22,25).351 Daraufhin präsentiert der lukanische Jesus ein alternatives Konzept für Größe im Jüngerkreis und fordert die Apostel dazu auf, dass 348 Im Rahmen eines Gemeinschaftsmahls ist jedoch zum Abschluss des Deipnons und zum Beginn des Symposions die Zeit, in der üblicherweise Anwesende geehrt werden; vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl, 100–110. Statt des zu erwartenden Lobs hinterfragt Jesus mit seiner Ankündigung die Treue der Menschen, mit denen er freundschaftlich und vertrauensvoll zu Tisch liegt; vgl. Abschnitt 5.4.2. 349 Das griechische Lexem φιλονεικία ist im Neuen Testament Hapaxlegomenon und beschreibt den Umstand, dass Menschen ehrgeizig sind und den Wetteifer oder Wettstreit lieben; vgl. Liddell/Scott, ad verbum. 350 Vgl. unter Berücksichtigung der synoptischen und johanneischen Parallelen Fitzmyer, Gospel II, 1411–1419, der jedoch ausgehend von Lk 22,27 – in Entsprechung zu der als Dienst verstandenen Fußwaschung in Joh 13,3–16 – Jesus als Diener in der Vorbildrolle für die nach Ehre und Autorität strebenden Apostel sieht: „Real apostolic leadership must be service.“; a. a. O. 1415. Nach einem präzisen Vergleich mit den synoptischen Paralleltexten kommt Johnson bzgl. der Rolle der lukanischen Apostel gemäß Lk 22,24–30 zu einem anderen Ergebnis und hält zutreffend fest, dass die Zwölf in Lk 22,28–30 von Jesus in eine königliche Funktion eingesetzt werden, welche sie in Apg 1–6 in der Jerusalemer Gemeinde auch ausüben; Johnson, Gospel, 345.349. 351  In Mk 10,42 par. Mt 10,25 stehen eher der Machtmissbrauch und die Gewaltherrschaft als solche in der Kritik; vgl. Hentschel, Diakonia, 274–294.

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38

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der Größte unter ihnen (ὁ μείζων ἐν ὑμῖν) wie der Jüngste (ὡς ὁ νεώτερος) werde und der Leitende bzw. Herrschende (ὁ ἡγούμενος), wie einer der Aufträge ausführt (ὡς ὁ διακονῶν; Lk 22,26).352 Schließlich sei auch er, Jesus selbst, in ihrer Mitte wie einer, der aufwartet, und nicht wie einer der, zu Tische liegt (Lk 22,27b).353 Wahre Größe im Jüngerkreis wird folglich nach dem Vorbild Jesu neu definiert. Der lukanische Jesus wehrt zwar den Wettstreit um den ersten Platz unter den Aposteln ab, er gesteht ihnen aber zu, dass sie als Leitungsfiguren in seiner Nachfolge durchaus Leitende bzw. Herrschende sind (vor allem Lk 22,26.29 f.)354, die sich jedoch an Jesus orientieren sollen. Das bestätigt die Fortsetzung der Rede: Unmittelbar im Anschluss lobt Jesu die bereits erfolgte Bewährung seiner Apostel, die in den Versuchungen treu bei ihm geblieben seien (διαμεμενηκότες; Lk 22,28).355 Als Lohn sagt Jesus ihnen zu, dass sie im Reich Gottes an der Gottesherrschaft Anteil haben werden, die Gott Jesus übertragen hat und die Jesus ihnen übertragen wird (Lk 22,29). Sowohl im Lukasevangelium als auch im Johannesevangelium werden die Jünger von Jesus beim letzten Mahl in eine Aufgabe eingesetzt (κἀγὼ διατίθεμαι ὑμῖν Lk 22,29; Εντολὴν καινὴν δίδωμι ὑμῖν Joh 13,34 vgl. ἀλλ᾿ ἐγὼ ἐξελεξάμην ὑμᾶς καὶ ἔθηκα ὑμᾶς Joh 15,16), die mit der eigenen Beauftragung Jesu parallelisiert wird.356 Im Lukasevangelium wird dies als Teilhabe an der Gottesherrschaft formuliert und mit der Bestätigung ihrer bereits erwiesenen Treue begründet. Im Johannesevangelium wird den Jüngern in der Fußwaschung die Teilhabe an Jesus und damit an der Liebesgemeinschaft mit Gott und Jesus bereits in der Gegenwart zeichenhaft ermöglicht und sie werden beauftragt, in dieser Liebe zu bleiben und auf diese Weise Jesus und Gott als seine Boten in der Welt zu repräsentieren (13,8.12–20.34 f.). Im Johannesevangelium kommt es jedoch nicht zu einem Rangstreit, denn der Ehrenplatz in der Nähe von Jesus ist von einem Anonymus besetzt und nicht einmal Petrus erhebt Anspruch auf diesen Platz (Joh 13,23–25). Die Jünger bekommen bei Johannes auch keine Herrschaftszusage (Lk 22,29), sondern nur eine Zusage der bleibenden Verbundenheit mit Jesus in Form der Liebesgemeinschaft und des Liebesgebots (Joh 13,34 f.; vgl. 15,1–17). Im Bleiben müssen sich die johanneischen Jünger  – mit Gottes und Jesu Hilfe (Joh 15,5; 17)  – auch erst  Vgl. Hentschel, Diakonia, 281–286. zur Interpretation und Übersetzung von διακονέω in Lk 22,26 f. Hentschel, Diakonia, 286–289. 354  Der lukanische Jesus fordert seine Apostel nicht auf, wie ‚Sklaven‘ zu werden (Mk 10,44), sondern nur wie ‚Jüngere‘ (Lk 22,26). 355  Vgl. Hentschel, Diakonia, 289–292; Fitzmyer, Gospel II, 1411–1419; zum lukanischen Jünger- und Leitungsverständnis ausführlich Nelson, Leadership, 173–232; In dem Verbum διαμένω findet sich der Stamm μένω, der das Bleiben bei Jesus umschreibt, das in Joh 13–17 eine zentrale Rolle spielt. 356  Ein detaillierter Vergleich mit der johanneischen Darstellung wäre an dieser Stelle besonders spannend, kann hier aber nur angedeutet werden. 352

353 Vgl.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

bewähren, während den lukanischen Aposteln das erfolgreiche Bleiben in Jesu Versuchungen bereits bestätigt wird (Lk 22,28). Im Johannesevangelium wird den Jüngern eine bleibende Liebesgemeinschaft mit Jesus und Gott bis hin zur Parusie in Aussicht gestellt (17,23–26), während den lukanischen Aposteln eine gegenwärtige und zukünftige Herrschaftsgemeinschaft zugesagt wird (22,29 f.). Hier ist interessant, wie der lukanische Jesus die Beauftragung der Apostel parallel zu seiner eigenen Beauftragung formuliert: κἀγὼ διατίθεμαι ὑμῖν καθὼς διέθετό μοι ὁ πατήρ μου βασιλείαν (Lk 22,29).357 So wie Gott Jesus eingesetzt hat in eine Königsherrschaft, so setzt auch Jesus (Präsens!) die Apostel ein in eine Königsherrschaft, die sowohl eine gemeinsame Mahlzeit als auch ein gemeinsames Richten und damit Herrschen im Reich Gottes umfasst (Lk 22,30). Die Voraussetzung dafür ist zwar, dass die Apostel in seinen Versuchungen bei Jesus „bleiben“, allerdings wird diese Voraussetzung vom lukanischen Jesus bereits als erfüllt betrachtet. Vergleicht man Lk 22,28–30 mit der Erörterung in Joh 13,31–35, wo es ebenfalls um das Bleiben bei Jesus geht, werden die Gewichte anders verteilt: Verherrlicht werden zunächst einmal nur Gott und Jesus – nicht schon die Jünger mit der Zusage von Ehren- und Herrschaftsplätzen (Joh 13,31 diff. Lk 22,30). Den Jüngern wird außerdem aufgetragen, sich gegenseitig zu lieben, wie Jesus sie geliebt hat – aber sie werden nicht eingesetzt mit Jesus zu herrschen (Joh 13,34 f. diff. Lk 22,29). Durch die Liebe ermöglicht Jesus Gemeinschaft mit ihm und mit Gott (vgl. Joh 15,1–17), die mit der Verpflichtung verbunden wird, zu bleiben. Das Bleiben wird nicht als bereits erreichtes Ziel (Lk 22,28) vorgestellt. Den johanneischen Jüngern werden keine Macht- und Ehrenplätze im Reich Gottes verheißen, allerdings gibt es viele Wohnungen bei Gott, die für alle – nicht nur für besonders bewährte Jüngerinnen und Jünger – ausreichend zur Verfügung stehen (Joh 14,1–3 diff. Lk 22,30; vgl. Mk 10,40; Mt 20,23).

Nach der Zusage an alle Apostel in Lk 22,29 f. wendet sich Jesus in Lk 22,31 f. ausschließlich an Petrus: Der lukanische Jesus kündigt Petrus zwar eine Prüfung an, spricht ihm aber sofort seine Fürbitte und einen guten Ausgang zu: Petrus wird gestärkt aus der Versuchung hervorgehen und „seine Brüder stärken“ (καὶ σύ ποτε ἐπιστρέψας στήρισον τοὺς ἀδελφούς σου; Lk 22,32). Ausschließlich Petrus wird von Jesus in einer besonderen Fürbitte bedacht, und nur er bekommt einen Fürsorgeauftrag für die anderen Apostel. Petrus wird im Lukasevangelium damit eine hervorgehobene Führungsrolle im Apostelkreis zugestanden. Erst nach diesen Zusagen informiert Jesus Petrus über die bevorstehende Verleugnung (Lk 22,33 f.), der jedoch viel von ihrer Bedrohlichkeit genommen ist, weil der positive Ausgang bereits angekündigt wurde. Der Unterschied zum Johannesevangelium ist deutlich: Der johanneische Petrus muss mit der Ankündigung der Verleugnung klarkommen, ohne dass ihm Trost, Fürbitte oder gar eine besondere Leitungs- bzw. Fürsorgeaufgabe für die anderen Apostel zugesagt wird (Joh 13,38). Die Fürbitte Jesu gilt bei Johannes allen Jüngern und nicht nur Petrus (Joh 17; diff. Lk 22,32). Hier lässt sich im Vergleich zum Lukasevangelium erneut eine 357 Vgl.

dazu Fitzmyer, Gospel II, 1415 f.1418 f.; Johnson, Luke, 345 f.349.

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38

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gewisse Demokratisierung im Johannesevangelium erkennen, da kein einzelner Jünger durch eine besondere Verantwortung oder Rolle herausgehoben wird. Ein interessantes, aber für die Bedeutung von Joh 13–17 wichtiges Detail zeigt sich beim Abschluss der Tischgespräche in Lk 22. Der lukanische Jesus gibt allen seinen anwesenden Aposteln geänderte Anweisungen für ihre Sendung mit auf den Weg, er aktualisiert gewissermaßen die bereits zuvor geschehene Aussendung (Lk 22,35–38; vgl. Lk 9,1–6). Diese Informationen und Beauftragungen Jesu beziehen sich explizit auf die Aussendung der zwölf Apostel in Lk 9,1–6 zurück (Lk 22,35). Für sich selbst kündigt Jesus schließlich an, dass für ihn das Schriftwort „er wird unter die Gesetzlosen gerechnet“ (μετὰ ἀνόμων ἐλογίσθη) zu einer „Erfüllung“ (τέλος) kommen müsse (Lk 22,37). Die Apostel reagieren auf die dramatisch klingenden Aufforderungen Jesu, indem sie Jesus ihre Schwerter zeigen (Lk 22,38). Es bleibt zunächst offen, ob diese Reaktion im Sinne Jesu ist (vgl. aber 22,50). Im Anschluss daran endet das Gespräch, und es folgt der Aufbruch zum Ölberg (Lk 22,38 f.). Als Fazit der intertextuellen Lektüre von Joh 13 mit Lk 22 kann festgehalten werden, dass gerade dort, wo es zwischen der lukanischen und der johanneischen Darstellung Berührungspunkte gibt, die bekannten johanneischen Schwerpunktsetzungen besonders deutlich sichtbar werden. Für die Deutung der Fußwaschung sind als relevante gemeinsame Themen die Aussendung der Jünger und die Teilhabe an der Sendung oder Herrschaft Jesu zu benennen, die jeweils in spezifischer Weise dargestellt werden: Bei der lukanischen Erzählung vom letzten Mahl Jesu (Lk 22,14–28) schließt sich an die gedeutete Mahlhandlung (Lk 22,15–20) die Ankündigung des Verrates an (Lk 22,21 f.), was relativ unvermittelt zu einem Rangstreit unter den zwölf Aposteln führt (Lk 22,23 f.). Dies wiederum mündet ein in eine Belehrung der Apostel durch Jesus, in deren Rahmen es um rechte Leitung in Entsprechung zur Rolle Jesu (Lk 22,25–27), um die Zusage von Ehrenplätzen im Reich Gottes  – interessanterweise erneut mit Blick auf eine Mahlsituation  – (Lk 22,28–30), um Petrus und seine Leitungs- und Fürsorgefunktion gegenüber den anderen Aposteln (Lk 22,31–34) und um eine veränderte Aussendung bzw. Beauftragung der Zwölf angesichts des bevorstehenden Todes Jesu geht (Lk 22,35–38). Bei der johanneischen Erzählung vom letzten Mahl haben wir mit der Fußwaschung ebenfalls eine gedeutete Handlung Jesu (13,1–20), die in die Ankündigung des Verrats durch Judas übergeht (13,18–29), jedoch nicht zu einem Rangstreit führt, da der Ehrenplatz schon besetzt ist (13,23). Der johanneische Jesus belehrt seine Schüler, wie sie als (Liebes-)Gemeinschaft dauerhaft mit Jesus verbunden bleiben können (13,34 f.), bevor sie in die vorbereiteten Wohnungen im Himmel einziehen (14,2 f.). Nach der Ankündigung der Verleugnung des Petrus (Joh 13,36–38) belehrt der johanneische Jesus die Seinen weitergehend über seinen Abschied und ihre Rolle als Jesu beauftragte Repräsentanten (14–16). Dies entspricht der kürzeren Abschiedsrede bei Lukas, die ebenfalls die Aufgabe und Rolle der Apostel bedenkt.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Der johanneische Petrus bekommt jedoch keinen gesonderten Fürsorge-Auftrag (diff. Lk 22,32), die Fürbitte Jesu gilt allen Jüngern (Joh 17) in gleicher Weise, wobei hier auch die nachösterlichen Nachfolgenden im Blick sind. Aus der intertextuellen Lektüre ergeben sich weitere Bedeutungsdimensionen mit Blick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Aufwartung Jesu nach Lk 22,27 und der Fußwaschung Jesu nach Joh 13,4 f. Der lukanische Jesus vergleicht sich nur mit einem Aufwartenden (22,27)358 und nimmt damit den üblichen Statusunterschied zwischen Mahlteilnehmern und Tischdienern als Ausgangspunkt, um Größe neu zu definieren. Von den Aposteln wird damit gerade kein Verzicht auf Ehre erwartet, sondern nur ein angemessener Umgang mit Statusunterschieden gefordert, während (nur) den Aposteln die größte mögliche Ehre für das Reich Gottes verheißen wird: für die zwölf Apostel gibt es Ehrenplätze und Herrschaftsbeteiligung bei Gott. Im Johannesevangelium erweist Jesus den Seinen mit der Handlung der Fußwaschung nicht nur eine Ehre, sondern vor allem ein spürbares Zeichen seine Liebe, die Inhalt seiner Sendung ist. Zugleich begründet er mit der Forderung der gegenseitigen Fußwaschung bzw. der gegenseitigen Liebe eine Liebesgemeinschaft unter den Nachfolgenden. In dieser Liebesgemeinschaft sind bereits in der Gegenwart sowohl Jesus als auch Gott – und damit das ganze Heil, das Jesus vermittelt – präsent (13,20; 14,20–23; 17,20–26). Statusunterschiede spielen für den johanneischen Jesus gerade keine Rolle, der ohne Rücksicht auf Rollenerwartungen den Seinen die Füße wäscht und von ihnen gegenseitige Treue und Liebe erwartet. Weder Petrus noch den Zwölf kommt im Rahmen des letzten Mahls eine hervorgehobene Leitungsverantwortung oder Bedeutung zu, auch wenn Petrus sich mit seinen Fragen und Einwänden als besonders ehrgeizig und eigensinnig, dabei aber auch als begriffsstutzig und wenig vorbildlich erweist. Den Jüngerinnen und Jüngern, von denen konkret das gemeinsame Bleiben in der Liebe gefordert wird (13,12–20.34 f.; 14,15–25; 15,1–17), wird eine dauerhafte Liebesgemeinschaft mit Jesus und Gott bis hin zur Parusie in Aussicht gestellt (Joh 14,2f; 17,23–26), während den lukanischen Aposteln eine gegenwärtige und zukünftige Herrschaftsgemeinschaft zugesagt wird (22,29 f.).

358  Dies gilt im Kontext von Lk 22,22–30, selbst wenn der Tischdienst Jesu im übertragenen Sinn soteriologisch auch auf das Geben von Brot und Wein im Sinne seiner Lebenshingabe bezogen sein kann (22,17–20). Dieser Aspekt wird im Kontext des Rangstreits jedoch nicht aktualisiert. Enge Bezüge bestehen vielmehr zu Lk 12,35–40.41–48, wo es in Vers 37 ebenfalls zu einer Aufwartung kommt, die im Sinne einer Belohnung für die Bewährung der treuen Knechte, auch hier vor allem an die Apostel adressiert, dargestellt wird.

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38

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5.6.4. Bedeutungsdimensionen von Joh 13 nach der intratextuellen und intertextuellen Lektüre Die intertextuelle Lektüre von Joh 13,16.20 und Joh 13,18–38 führt zu Texten, in denen im Matthäus- bzw. Lukasevangelium die Sendung und Beauftragung der zwölf namentlich ausgewählten und auch zum Teil explizit als Apostel bezeichneten Jünger thematisiert und erläutert wird. Die mit Joh 13.16.20; 15,20 verwandten Logien Jesu in Mt 20,24.40 finden sich im Kontext der matthäischen Aussendungsrede der Zwölf. In Mt 20,16–39 wird die bleibende Verbundenheit zwischen Jesus und den von ihm ausgesandten Schülern thematisiert, die so weit geht, dass die ausgesandten Schüler das gleiche Schicksal wie Jesus zu erwarten haben, das ebenfalls von Hass, Verfolgung und Todesgefahr bestimmt sein wird. Dazu gehört auch, dass vertraute, auch familiäre Beziehungen in Hass umschlagen. Andererseits wird den Menschen, die Jesu Jünger gastfreundlich aufnehmen, Lohn verheißen, da sie mit den Jüngern zugleich Jesus und auch Gott selbst aufnehmen (Mt 10,40–42). Hier zeigt sich die antike Botenvorstellung, gemäß der ein Bote seinen Auftraggeber vollgültig vertritt und repräsentiert. Die Gefahren, die nachösterlich mit der Beauftragung der Jünger als Gesandte Jesu verbunden sind, werden im Johannesevangelium vor allem in Joh 15,18–16,4a erörtert: Jesus fordert seine Schüler dabei explizit auf, sich an die Worte aus Joh 13,16 zu erinnern (15,20), und zeigt sowohl die positiven als auch die negativen Folgen auf, die sich aus ihrer Sendung ergeben und auch im Johannesevangelium in Übereinstimmung mit der antiken Botenvorstellung formuliert werden (vgl. 15,20 mit Joh 13,20). Lk 6,40 fordert im Kontext von Lk 6,39–49 Adressaten mit Leitungsverantwortung dazu auf, der Lehre Jesu gemäß zu handeln, und Lk 10,16 stärkt mit Hilfe der Botenvorstellung die Autorität der ausgesandten siebzig Boten Jesu (Lk 10,1–16), falls sie von den Menschen nicht gehört, sondern verworfen werden. In Lk 22,21–38 geht es um verschiedene Dimensionen der Leitungsverantwortung und Autorität der ausgesandten Apostel mit Blick auf den bevorstehenden Tod Jesu. Der angekündigte Verrat durch Judas führt zu einer Diskussion um Ehre und Ansehen unter den Aposteln. Der lukanische Jesus definiert anhand von seinem eigenen Vorbild Größe im Jüngerkreis neu. Zugleich erläutert er, dass die Apostel sich bereits bewährt haben und im Reich Gottes auf Ehrenplätzen mit Jesus essen, herrschen und richten werden (Lk 22,21–30). Auch Petrus wird Jesus treu bleiben bis in den Tod, denn Jesus trägt mit seiner Fürbitte dazu bei, dass der Glaube des Petrus und damit die Fähigkeit, seine Brüder zu stärken, erhalten bleibt (Lk 22,31–34). Petrus wird damit eine Führungsrolle im Zwölferkreis zugesagt und zwar vor und trotz seiner Verleugnung, die eher im Sinne einer Bewährung und Stärkung denn als Niederlage gedeutet wird. Angesichts des bevorstehenden Todes korrigiert der lukanische Jesu die Aussendung bzw.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Beauftragung der Apostel (Lk 22,35–38359), mit der er sie bereits in Lk 9,1–6 ausgesandt hat. Sie dürfen jetzt Geld und Schwert mitnehmen! Aus der intertextuellen Lektüre ergeben sich für Joh 13 interessante Bedeutungsdimensionen, die aus der narratologischen Analyse hervorgehende Interpretationsmöglichkeiten verstärken bzw. vertiefen und erweitern: Als Boten Jesu können die Jüngerinnen und Jünger erwarten, dass sie wie Jesus selbst aufgenommen werden, da sie als Gesandte Jesu an seinem Status und an seiner Autorität partizipieren (Joh 13,16.20; Mt 10,40; Lk 10,16). Wer die Gesandten Jesu aufnimmt, nimmt gemäß der antiken Botenvorstellung zugleich Jesus und damit auch Gott auf. Als Gesandte Jesu begeben sie sich aber, wie Jesus selbst, auch in die Gefahr, abgelehnt und gehasst zu werden. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu müssen sich nach der Kreuzigung Jesu nicht nur mit dem Tod und der Abwesenheit Jesu arrangieren, sondern auch mit der dadurch ausgelösten Lebensgefahr für sich selbst, wenn sie als Gesandte Jesu aktiv werden (vgl. Joh 13,16; 15,18–16,4a; Mt 10,24 f. im Kontext von Mt 10,14–31; Lk 10,16; Lk 22,28.31–38; auch Mk 10,35– 40 par.). Sowohl die Sendung bzw. Beauftragung der Jünger durch Jesus als auch die Hoffnung auf Ehrenplätze angesichts der in Kauf genommenen Entbehrungen und Todesgefahr führen gemäß der synoptischen Darstellung zu einem Streben nach Autorität und Ansehen unter den Jüngern, das von Jesus korrigiert wird (Mk 10,35–45; Mt 20,20–28; Lk 22,24–30; vgl. dazu allerdings Joh 13,21–29.33– 38; 21,18–22). Nach Markus und Matthäus wird Gott selbst über die späteren Ehrenplätze entscheiden (Mk 10,40 par. Mt 20,23). Im Lukasevangelium wird den zwölf Aposteln im Unterschied zu Markus und Matthäus jedoch eine Teilhabe an der Gottesherrschaft und Ehrenplätze im Reich Gottes fest zugesagt (Lk 22,29 f.). Im Johannesevangelium werden alle in gleicher Weise Wohnungen bei Gott erhalten (Joh 14,1 f.). Ehrenplätze gibt es zwar auf Erden, doch der einzige erwähnte Ehrenplatz ist bleibend von einem Anonymus besetzt (Joh 13,23; 21,20) und Petrus kann sich selbst mit seinem Martyrium keinen Vorrang gegenüber diesem Anonymus erwerben (Joh 21,18–22). Im Reich Gottes gibt es nach Johannes keine Ehrenplätze, alle werden von Gott für ihre treue Nachfolge geehrt werden (Joh 12,26). Dies alles zeigt, dass im Johannesevangelium nicht ausgewählte Leitungsfiguren, sondern alle Jüngerinnen und Jünger als Gemeinschaft beauftragt werden, Jesus und Gott zu repräsentieren. Damit werden die demokratischen Momente bei der Beschreibung der Nachfolgegemeinschaft, die bei der narratologischen Analyse von Joh 13,1–38 bereits beobachtet wurden, durch die intertextuelle Lektüre bestätigt und verstärkt.

359 Vgl.

zu Lk 22,36 auch Mt 10,34.

5.6. Intratextuelle und intertextuelle Lektüren zu Joh 13,1–38

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Auch im Hinblick auf die Petrusfigur lassen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede feststellen. Die treue Nachfolge, die auch die Bereitschaft, wie Jesus zu sterben, einschließt, wird angesichts des bevorstehenden Todes Jesu für die Jünger selbst zu einer akuten Gefahr. Dies wird bei Johannes erzählerisch durch den als typischen Jünger charakterisierten Petrus eingeholt, der einerseits besonderen Mut zeigt, wenn er Jesus auf seinem letzten Weg zu den Verhören folgt und bereit ist, mit ihm in den Tod zu gehen, der andererseits der Größe dieser Herausforderung nicht gewachsen ist und versagt, indem er Jesus verleugnet (Joh 13,36–38; 18,12–27). Narratologisch ist Petrus damit als ein Nachfolger Jesu charakterisiert, der sich durch seinen Mut, durch sein Versagen in der Nacht vor der Kreuzigung Jesu, aber auch durch seine spätere Mission und sein Martyrium auszeichnet und darin gerade immer ein typischer Jünger ist und bleibt. Für die Interpretation von Joh 13 bestätigt die intertextuelle Lektüre mit Lk 22,14–38 das Ergebnis aus der narratologischen Analyse, dass die Fußwaschung mit der Beauftragung der Jünger, sich gegenseitig die Füße zu waschen bzw. sich gegenseitig zu lieben (Joh 13,14 f.34 f.) die johanneische Form einer Einsetzung oder Beauftragung der Jünger durch Jesus als seine Repräsentanten darstellt. Der Evangelist Johannes hat diesen Zeitpunkt bewusst gewählt, da jetzt, nach dem bevorstehenden Tod und Abschied Jesu, die Seinen gefordert sind, die Botschaft Jesu in die Welt zu tragen und d. h. – johanneisch gesprochen – die Liebe Jesu bzw. Gottes weiterhin in die Welt zu bringen. Damit die Jünger Jesus und Gott in der Welt repräsentieren können, müssen sie darauf vorbereitet werden, dass sie wie Jesus selbst sowohl Ablehnung in Form von Hass und Todesgefahr als auch Aufnahme und Akzeptanz ihrer Worte (Joh 15,18–16,4a; vgl. vor allem Mt 20, 1–25.40–42) erfahren werden. Aus der intertextuellen Lektüre mit der lukanischen Darstellung ergeben sich weitere Bedeutungsdimensionen: Im Johannesevangelium verbindet sich mit der Identifikation des Judas zwar eine Verunsicherung der Jünger mit Blick auf ihre Treue, doch kein Streben nach einem hohen Status. Petrus als der Jünger, der sowohl aufgrund der überlieferten Erinnerung an seine Zeit als Nachfolger Jesu als auch aufgrund seines Martyriums als Kandidat für einen hohen Status unter den Seinen in Frage kommen würde, bekommt in Joh 13,18–29 einen anonymen Mitjünger an die Seite, der den Ehrenplatz bei Tisch einnimmt, der an der Brust Jesu liegt und durch seine besondere Nähe alle Fragen direkt an Jesus stellen kann. Diesen Platz besetzt er bis zum Ende des Evangeliums (21,20–22), so dass Petrus nicht einmal angesichts seines bevorstehenden Martyriums einen höheren Status als der anonyme Jünger einnehmen kann (21,18 f.). Bei der intertextuellen Lektüre mit den verwandten synoptischen Texten fällt auf, dass es im Johannesevangelium kein Streben nach Ehrenplätzen gibt (vgl. Mk 10,35–40; Mt 20,20–24). Weder die mit der Sendung üblicherweise verbundene Autorität der Gesandten (vgl. Mt 10,24.40; Lk 6,40; 10,16) noch der

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

Lohn, den sie für ihre Treue erwarten können (vgl. Mk 10,40; Mt 20,24; Lk 22,28–30), werden im Johannesevangelium explizit thematisiert. Die Seinen werden als Gemeinschaft betrachtet, von denen zwar einzelne namentlich genannt werden, von denen jedoch keiner einen – besonderen – Ehrenplatz für sich beansprucht oder zugesprochen bekommt.360 Liest man Joh 13 intertextuell mit den synoptischen Texten, dann erschließt sich, dass Jesus allen in gleicher Weise die größte Ehre zukommen lässt, die einem Menschen geschenkt werden kann. Alle, die Jesus nachfolgen, werden zu Kindern und Hausgenossen Gottes, für die Jesus Wohnungen im Reich Gottes vorbereitet (1,12; 14,2 f.). Allen schenkt Jesus die Liebe Gottes, die Inhalt seiner Sendung ist (Joh 3,16 f.; 13,1). Die Fußwaschung ist geeignet, um beide Dimensionen dieser heilvollen Zuwendung Jesu auszudrücken. In engen Beziehungen ist die Fußwaschung mit der erforderlichen Berührung und ihrer wohltuenden Wirkung ein inniges Zeichen von Liebe und Zuwendung. Darüber hinaus ist sie zugleich ein Zeichen der Wertschätzung und deshalb eine besondere Ehre, die man einer höhergestellten Person zum Beispiel im Rahmen der Gastfreundschaft oder auch in einer LehrerSchüler-Beziehung erweisen kann. Indem Jesus den Seinen die Füße wäscht, vermittelt er ihnen einerseits seine Liebe und darin die Liebe Gottes, andererseits erweist er ihnen eine Wertschätzung, wie sie normalerweise nicht den Schülern, sondern dem Lehrer zukommt. Die Seinen erhalten damit umfassend Anteil an der Liebesgemeinschaft zwischen Gott und Jesus sowie an der Sendung Jesu, der die Liebe Gottes in der Welt vermittelt (13,8). Jesus integriert die Seinen in seine Sendung. Es ist für die Nachfolgegemeinschaft eine Ehre, wie Jesus selbst zum Ort der Gottesbegegnung zu werden (v. a. 12,24–26; 13,20; 14,23; 17,20–26). Teilhabe an Jesus ist für die Seinen mit einem aktiven Handeln verbunden. Die Jünger werden aufgefordert, sich gegenseitig zu lieben, wie Jesus sie liebt (13,34 f.; 15,1–17). Die Seinen haben als Gesandte Jesu im Johannesevangelium nicht nur Anteil an seinem Schicksal, das sowohl Aufnahme als auch Ablehnung bis hin zur Todesgefahr (13,16.20; 15,18–16,4a; vgl. Mt 10,22–25.40) nach sich zieht, sondern sie erhalten vor allem Anteil an der Liebe bzw. der Liebesgemeinschaft zwischen Jesus und Gott (Joh 13,8). Während der Tischdienst vor allem die Konnotation eines Ehrerweises enthält und im Lukasevangelium beim letzten Mahl auch entsprechend im Kontext des Rangstreits eingesetzt wird (vgl. Lk 12,37; 22,27), enthält die Fußwaschung darüber hinaus noch den Aspekt der liebevollen Berührung bzw. Zuwendung (vgl. Joh 11,1–5; 12,1–8). Durch die Fußwaschung, die in der Antike in vertrauten Beziehungen einen Liebes- und Ehrerweis darstellt, hat der johanneische Jesus den Seinen zugleich die größte Ehre erwiesen, die Menschen erhalten können: Sie bekommen Anteil an dem, 360  Auch der Anonymus, der auf einem Ehrenplatz liegt (Joh 13,23.25; 21,20), hat kein gesteigertes Interesse daran, Erster zu sein (v. a. Joh 20,1–10).

5.7. Die Fußwaschung als Zeichen der Sendung Jesu

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was Jesus ist und vermittelt: Anteil an der Liebe Jesu und damit an der Liebesgemeinschaft zwischen dem Sohn und dem Vater. Auf diese Weise wird im Johannesevangelium die soteriologische Bedeutung der Sendung Jesu unter anderem auch in der Fußwaschung zeichenhaft sichtbar. Zugleich erhält die Fußwaschungserzählung dadurch ihre besondere ekklesiologische Dimension: Der johanneische Jesus nimmt als Lehrer und Herr seine Schülerinnen Schüler, die er durch die Fußwaschung selbst wie Lehrende behandelt, hinein in seine eigene Sendung durch Gott und beauftragt sie mit der gegenseitigen Liebe. Indem sie sich gegenseitig lieben, sollen die Jüngerinnen und Jünger die Liebe Jesu und die Liebe Gottes nach Jesu Abschied in der Welt präsent halten und erfahrbar machen. Als Liebesgemeinschaft werden sie von Jesus konstituiert, an der gegenseitigen Liebe werden sie in der Welt als Nachfolgegemeinschaft Jesu erkannt.

5.7. Die Fußwaschung als Zeichen der Sendung Jesuund der Beauftragung der Seinen Der Auftrag Jesu besteht darin, die Liebe Gottes und damit das Heil Gottes zu den Menschen zu bringen (Joh 3,16; 13,1.3; 17,22–26). Beim letzten Mahl lässt Jesus als Lehrer diese Liebe – und damit den Inhalt seiner Sendung – durch die Fußwaschung für seine Schüler in einer Zeichenhandlung körperlich erfahrbar werden, denn die Fußwaschung ist mit einer innigen Berührung verbunden. Die Fußwaschung Jesu geschieht während des Mahls, das heißt sie dient nicht der Reinigung der Füße, bevor man sich zu Tisch legt. Vielmehr geschieht sie in der freundschaftlich-familiären Gemeinschaft von Schülern mit ihrem Lehrer.361 In Übereinstimmung mit den kulturellen Gepflogenheiten konnten die Schüler einem Lehrer ihre Liebe und Verehrung erweisen, indem sie diesem die Füße wuschen. Als ihr Lehrer durchbricht Jesus jedoch die Rollenmuster der damaligen Zeit und erbringt seinen Schülern mit der Fußwaschung selbst einen Liebesund Ehrerweis. Jesus behandelt die Schüler ihrerseits wie Lehrer. Mit der Fußwaschung stellt Jesus die Beziehung zwischen sich und den Seinen in den Mittelpunkt und lässt sie als Liebesbeziehung erfahrbar werden. Er vermittelt ihnen dadurch in gleichberechtigter, demokratischer Art und Weise, der einem Kreis von Freundinnen und Freunden angemessen ist (vgl. 15,12–17), Teilhabe an sich selbst und damit Teilhabe an der Liebe Gottes. Dadurch werden die Seinen in die Liebesbeziehung zwischen Jesus und Gott integriert. Auf diese Weise vermittelt ihnen Jesus das Heil, das er im Auftrag Gottes zu den Menschen bringt. Ohne Ausnahme und in gleicher Weise wird die Liebe Jesu allen Jüngern zuteil. Doch Jesus weiß, dass nicht alle rein sind und seinem Anspruch nach361 Vgl.

dazu Abschnitt 3.2.3.

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

kommen werden (13,10 f.18 f.). Als Judas hinausgeht in die Nacht, bleiben alle diejenigen zurück, die Jesu Worte treu bewahren und befolgen und sich darin als wahrhaftige, zuverlässige Jünger (8,31.35 f.) erweisen. Die Erfahrung und Teilhabe an der Liebe Jesu verpflichtet die Jünger zugleich, selbst wie Jesus zu lieben (13,12–16.34 f.) und integriert sie so in die Sendung Jesu (13,20). Durch die Fußwaschung nimmt Jesus in seiner Stunde alle seine Schüler in seine eigene Liebesgemeinschaft mit Gott hinein, so dass die Seinen sowohl Anteil bekommen an dem Heil, das Jesus vermittelt – an der Liebe und dem Leben Gottes –, als auch an seiner Sendung (1,12–14.18; 3,16; 15,10; 17,21– 26). Er beauftragt sie, nach seinem Vorbild zu handeln. Der Befehl Jesu, Füße zu waschen bzw. gemäß seinem Vorbild zu handeln (13,14 f.), wird durch das neue Gebot in 13,34 f. erläutert. Beiden Aufforderungen Jesu ist gemeinsam, dass sie auf der Basis ihrer Erfahrung mit Jesus und Gott befolgt werden sollen und können. In dem Moment, in dem Jesus seinen Auftrag, sein Gebot, bis zur Vollendung erfüllt hat und zu seinem Vater zurückkehrt (13,1.3), erhalten die Jünger von ihm das Gebot bzw. den Auftrag, zu lieben und darin die Liebe Gottes und Jesu gegenwärtig zu halten (13,14 f.34 f.; 14,21; 15,10.12). Dadurch wird die Liebe, die Jesus im Auftrag des Vaters zu den Seinen gebracht hat (vor allem Joh 3,16; 13,1; 15,13), zum Zeichen seiner bleibenden Gegenwart und zum Erkennungszeichen seiner Jünger (13,34 f.; 14,21.23). Wer die Jüngerinnen und Jünger Jesu aufnimmt, nimmt mit ihnen zugleich Jesus und Gott auf (13,20). In Joh 13 wird durch die Konstitution einer Liebesgemeinschaft und durch ihre Beauftragung, sich gegenseitig zu lieben, wie Jesus selbst geliebt hat, die bleibende Präsenz Gottes bzw. Jesu gewährleistet, und zwar genau in dem Moment, als Jesus – aus Liebe – in seiner Kreuzigung zum Vater zurückkehrt. Die Fußwaschungserzählung mit den sich anschließenden Erläuterungen – die weder in Joh 13,20 noch in Joh 13,38 abgeschlossen sind  – zeigt auf, wie die Seinen als Geliebte befähigt und beauftragt werden, um selbst als Gesandte Jesu und damit als Gesandte Gottes die Liebe Gottes zur Welt in der Welt erkennbar und erfahrbar zu machen. In dieser Liebesgemeinschaft wird Jesus sich weiterhin offenbaren und Gott und Jesus werden in ihr bleibend präsent sein (14,20–23). Diese Sendung gilt nach Johannes nicht nur für die Jüngerinnen und Jünger, die Jesus während seines Lebens nachgefolgt sind, sondern in gleicher Weise für alle Jüngerinnen und Jünger, die vermittelt durch deren Wort zum Glauben kommen (Joh 17,18–21; vgl. bereits 13,20). Von daher sind die Weisungen Jesu in Joh 13–17 in besonderer Weise transparent für die Lesenden des Evangeliums, die ebenfalls in die Beauftragung zur Liebe hineingenommen werden. Die Beauftragung der Jünger ist im Johannesevangelium  – im Unterschied zu den Synoptikern – nicht im Sinne einer Aussendung einzelner Jünger oder Jüngerpaare gestaltet. Vielmehr bekommt die Nachfolgegemeinschaft insgesamt den Auftrag, zu lieben und auf diese Weise die Liebe Jesu und darin die Liebe Gottes in der Welt präsent zu halten (Joh 13,13–16.20.34 f.; 17,21–26). Weder

5.7. Die Fußwaschung als Zeichen der Sendung Jesu

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dem Zwölferkreis noch Petrus kommt eine hervorgehobene Bedeutung im Rahmen dieser Beauftragung zu. Diesem demokratischen Grundzug entspricht, dass bei Johannes weder eine Berufung des Zwölferkreises noch deren Namen vollständig überliefert werden, auch eine den Synoptikern entsprechende Aussendungsrede fehlt. Die beim letzten Mahl anwesenden Jünger repräsentieren die Nachfolgegemeinschaft Jesu (13,1). Der Vergleich mit Lk 22,35–38 zeigt, dass Lukas angesichts des Todes Jesu die Sendung der Zwölf an die neue Situation anpasst. Im Johannesevangelium wird die Beauftragung der Nachfolgenden als Repräsentanten Gottes und Jesu in der Fußwaschungserzählung konzentriert und in den sich anschließenden Gesprächen und Reden Jesu während des letzten gemeinsamen Mahls erläutert. Als Jesus in Begriff ist, zu seinem Vater zurückzukehren, stärkt, informiert und beauftragt er die Seinen zu seinen Stellvertretern. Der Kreis der beim letzten Mahl anwesenden Jünger wird im Johannesevangelium nicht begrenzt, der Zwölferkreis wird in Joh 13–17 nicht einmal genannt. Mit der Weigerung des Petrus, sich die Füße waschen zu lassen, beginnt Jesus damit, den Seinen alles zu erläutern, was sie mit Blick auf seinen Abschied und ihre eigene Beauftragung wissen müssen. Diese Erläuterungen dauern an bis Joh 16,33 und münden in das ausführliche Gebet Jesu, das ebenfalls vor allem der Stärkung und Vergewisserung der Seinen gilt. Keine der anwesenden, von Jesus geliebten und namentlich bekannten Personen kann für sich – im Gegenüber zu den anderen Mitschülern (vgl. 11,16) – eine besondere Nähe zu Jesus bzw. Gott behaupten. Jesus liebt alle seine Jünger in gleicher Weise, allen, auch Judas, wäscht er die Füße als Zeichen seiner Liebe und Wertschätzung. Alle werden für ihre treue Nachfolge von Gott selbst geehrt werden (12,27; 17,22–24). In Joh 13 wird die Frage nach einer Vorrangstellung oder einem besonderen Ansehen unter den Jüngern mit Blick auf den Ehrenplatz verhandelt: der Platz an Jesu Brust wird von einem namentlich unbekannten Jünger eingenommen (Joh 13,21–30; vgl. Lk 22,24–30). Dieser Ehrenplatz, der mit einer besonderen Intimität und Vertrautheit mit Jesus oder auch mit einer Vorrangstellung in der engen familiären Gemeinschaft der Glaubenden verbunden werden kann, ist bis über den Abschluss des Johannesevangeliums hinaus von einem Anonymus belegt, auf den sich niemand namentlich berufen kann (13,23; 21,20–22). Bei Gott selbst gibt es nach dem Johannesevangelium zwar viele Wohnungen (14,2), aber keine Ehrenplätze. Die intertextuelle Lektüre mit der lukanischen Erzählung vom letzten Mahl Jesu, gerade auch im Hinblick auf den Rangstreit (Lk 22,24–30) und der zugesagten Teilhabe der Apostel an Herrschafts- und Ehrenplätzen im Reich Gottes in Analogie zur Herrschaft Jesu (Lk 22,29 f.), erschließt noch eine weitere Dimension der Fußwaschungserzählung: Indem Jesus den Seinen die Füße wäscht, erweist er ihnen eine außergewöhnliche Ehre. Er lässt sie teilhaben an der Liebe Gottes und damit am Heil Gottes, das er im Namen Gottes

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Kapitel 5: Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20) im Rahmen seines letzten Mahls

bringt. Dabei handelt es sich nach der Darstellung des Johannesevangeliums um das größte Gut, das Jesus den Seinen im Auftrag Gottes bringen kann. Ehre von Menschen oder auch Ehrenplätze im Himmel können diese Ehre, die Jesus den Seinen vermittelt, nicht überbieten. Und so zeigen sich in Joh 13 zwei zentrale Konnotationen der Fußwaschung in der Antike, die sowohl ein freundschaftlich-intimer Liebeserweis in engen, vertrauten Beziehungen als auch ein Ehrerweis sein kann, wenn sie einer der Ehre werten Person freiwillig geleistet wird. Darin entspricht die Fußwaschung Jesu auch der Salbung Jesu durch Maria, die ihm freiwillig aus Liebe und als Zeichen ihrer Verehrung die Füße gesalbt und mit ihren Haaren abgetrocknet hat. Aufgrund ihrer Salbungshandlung teilt Maria den Duft des Lebens mit Jesus, der sowohl von Jesus als auch von ihr selbst ausgeht.

Kapitel 6

Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17) Die bereits in der Fußwaschungserzählung und auch im Liebesgebot angelegte Verbindung von Sendungsvorstellung und Liebe wird in Joh 15 in einem ekklesiologisch-missionstheologischen Sinn weiter entfaltet. Bereits in Joh 14 werden zentrale Aspekte geklärt, die in Joh 15 vorausgesetzt werden. Insbesondere in 14,15–24 informiert Jesus über die Bedeutung der Liebe als Grundlage der bleibenden Gemeinschaft zwischen ihm, den Seinen und Gott, die nach seinem Abschied durch den Parakleten weiterhin ermöglicht wird. Jesus offenbart sich nur noch den Seinen und nicht mehr der Welt (14,21–24). Daraus ergibt sich, dass mit Jesu Abschied die Seinen als Mittlerfiguren in der Verantwortung sind, unterstützt durch den Parakleten (14,26; 15,26) Jesu Worte und darin Gottes Liebe weiterhin der Welt zu offenbaren (15,15 f.27).1 Zwischen Joh 13 und Joh 15 gibt es zahlreiche inhaltliche Bezüge.2 Durch mehrere Zitate, von denen eines als Selbstzitat Jesu markiert ist, wird ein expliziter intratextueller Bezug zu Joh 13 hergestellt. In Joh 15,12.17 findet sich eine wörtliche Wiederholung des Liebesgebots, das Jesus in Joh 13,34 f. den Seinen gegeben hat. Außerdem zitiert Jesus in Joh 15,20 den zweiten Teil des Lexems aus Joh 13,16.3 Die Reinheit der Seinen wird in Joh 13,10 f. und Joh 15,3 festgestellt. Ein Hinweis auf ihre Erwählung (ἐκλέγομαι) findet sich neben Joh 6,70 nur in Joh 13,18 sowie 15,16.19 und verbindet ebenfalls die fraglichen Texte miteinander. Thyen bezeichnet das Kapitel 15 zutreffend als einen Monolog Jesu, der sich „als Reinterpretation von Joh 13 erwies und seine Mitte hatte in der Wiederaufnahme und Vertiefung des Liebesgebots (13,34f) und in der 1 Moloney arbeitet heraus, dass in Joh 14,25–31 das Wortfeld der Lehre und Rede deutlich erkennbar ist; vgl. Moloney, Gospel, 392. 2 Wenn das Liebesgebot jedoch als ausschließlich ethische Weisung für das Zusammenleben in der Gemeinde betrachtet und die missionstheologische Dimension von Joh 15,1–17 nicht berücksichtigt wird, ergibt sich eine „deutliche Zäsur in der Gedankenentwicklung“ zum vorausgehenden Thema (vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 577) die in der Johannesexegese insbesondere in literarkritischen Ansätzen vertreten wurde und die auch in der Analyse von Joh 13,1–20 zur Annahme zweier unterschiedlicher Interpretationsansätze der Fußwaschung geführt hat; vgl. exemplarisch Dietzfelbinger, Abschied, 159 f.359–362. 3 Die in 15,20 angesprochene Akzeptanz der Verkündigung der Jüngerinnen und Jünger ist häufig auch als spätere Ergänzung betrachtet worden. Entsprechende literarkritische Operationen verfälschen jedoch das Bild der johanneischen Nachfolgegemeinschaft, die dadurch nicht als eine missionarisch aktive, sondern nur als eine auf sich selbst bezogene wahrgenommen wird.

342

Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

Entfaltung von dessen Kehrseite im Haß der Welt“.4 Das Liebesgebot, das in Joh 15,12.17 aufgegriffen wird und sich wie ein Rahmen um den Abschnitt legt, zielt nicht nur auf die Verbundenheit der Nachfolgenden untereinander, sondern auch mit Jesus und Gott (vgl. 14,20–24), und es hat das über ihre Gemeinschaft hinausgehende Ziel, dass „alle Menschen erkennen sollen, dass sie Jesu Schüler sind“ (13,35; vgl. 17,23). Dieser missionstheologische Aspekt des Liebesgebots, der sich auf die Sendung der Seinen und das Wirken der Nachfolgegemeinschaft in der Welt richtet, wird in Joh 15,1–17 vertieft. Denn die Reben, die am Weinstock bleiben, zeichnen sich durch viel Frucht aus (15,2.5.8.16; vgl. 4,35–38; 12,24–26), mit der sie Gott verherrlichen (15,8.16).5 Die aus dem Bleiben am Weinstock resultierende Fruchtbarkeit wird konkret im „Bleiben in der Liebe“ (15,9 f.): „Wie Jesu Wirken in der Liebe Gottes zur Welt gründete (3,16) und sich als Liebe zu den Seinen vollendet hat (13,1), so kommt es in der Liebe der Jünger zueinander bei den Menschen aller Zeiten an (13,35; vgl. 17,23).“6 Jesus hat die Seinen als seine Freundinnen und Freunde erwählt und beauftragt, dass sie hingehen und Frucht bringen, die ihrerseits bleibt (15,16).

6.1. Joh 15,1–17 im Kontext von Joh 15,1–16,4a In Joh 15,1–16,4a erläutert Jesus, was sein Abschied für die Jüngerinnen und Jünger bedeutet, welche Aufgabe und welche Gefahren auf sie zukommen und wie sie trotz seines Abschieds bei Jesus bleiben können.7 Diese Thematik wurde bereits in Joh 13,33 angesprochen und mit dem Liebesgebot in 13,34 f. beantwortet.8  Thyen, Johannesevangelium, 657. Verbindung von Sendungsvorstellung mit Blick auf Jesus, Aussendung der Jüngerinnen und Jünger sowie Erntemetaphorik findet sich grundlegend in 4,31–38; so zutreffend Moloney, Belief, 158; ausführlich Culpepper, Proverbs, 361–382; vgl. auch Dietzfelbinger, Evangelium I, 115, der jedoch von einer „Sprachwelt“ spricht, „die man nur hier im Johannesevangelium findet“ und deshalb den Abschnitt in seiner Bedeutung für die johanneische Ekklesiologie nur unzureichend würdigen kann. 6 Schenke, Johannesevangelium, 236. 7 Vgl. Moloney, Message, 35–49, der jedoch den Abschnitt in 16,3 enden lässt; vgl. a. a. O. 35–37.41–44. Ihm folgt Thyen, Johannesevangelium, 638 f. Für die vorliegende Analyse wird in Übereinstimmung mit der Mehrheitsmeinung 16,4a als Rückblick und Abschluss der Ausführungen betrachtet, während mit 16,4b erneut Jesu Ziel als Thema in den Fokus gelangt (vgl. 13,33.36–38;14 passim). 8  Damit erläutert der johanneische Jesus jetzt, was er in 13,33 bereits angedeutet hat: Auch wenn die Jünger Jesus bei seinem letzten Weg ans Kreuz nicht nachfolgen können, bleibt ihre Suche nach ihm gerade nicht erfolglos (diff. Joh 7,34.36; 8,21), sondern sie können Jesus weiterhin finden. Der Weg zur bleibenden Gemeinschaft mit Jesus ist das Liebesgebot Joh 13,34 f., das Jesus seinen Jüngern gibt und dessen Bedeutung in Joh 15,1–17 weiter erläutert wird. 4

5 Die

6.1. Joh 15,1–17 im Kontext von Joh 15,1–16,4a

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Nicht mehr der Abschied Jesu, sondern die Aufforderung zum Bleiben in der Gemeinschaft mit Jesus und die daraus resultierende Wirksamkeit der Nachfolgegemeinschaft in der Welt stehen in Joh 15,1–17 im Fokus (15,4 f.16; vgl. 13,35; 14,20–23).9 Vor allem die griechischen Begriffe ‚Frucht‘ (καρπός) und ‚bleiben‘ (μένω) mit je acht bzw. elf Belegen ziehen sich durch den gesamten Text.10 Die Verse 9–11 stellen als eine Art Überleitung den inhaltlichen Bezug von der Bildrede vom Weinstock (15,1–8) zu der sich anschließenden Erläuterung des Liebesgebots (15,9–17) her. Indem die Seinen in der Liebe bleiben, erfüllen sie Jesu Auftrag als seine erwählten Freunde und Boten in der Welt und sind als solche erkennbar. In Joh 15,18–16,4a werden die möglichen Reaktionen auf das Zeugnis der Gesandten Jesu dargestellt, die sich sowohl in zustimmender Annahme als auch in Ablehnung bis hin zu Hass und Verfolgung konkretisieren können (vgl. Joh 13,16.20.34 f.; 15,20.27).11 Dass in 16,4a der Gedankengang endet und ab 16,4b erneut das Ziel Jesu in den Fokus rückt, bestätigt der weitere Verlauf des Gesprächs12: In Joh 16,5 wird erneut die Frage aufgeworfen, „wohin“ Jesus gehe, jetzt allerdings durch den Hinweis, dass niemand mehr fragen müsse (vgl. 13,33.36; 14,4 f.).13 Dabei geht es noch einmal um konkrete Aspekte der Beziehung zwischen Jesus, Gott und der Nachfolgegemeinschaft in der Zeit nach seinem Abschied (16,5–33). In Joh 15,1–16,4a werden drei Themen14 erörtert, die mit der Erwählung und Beauftragung der Jüngerinnen und Jünger verbunden sind: Indem die Seinen treu bei Jesus bleiben und Frucht bringen (15,1–8), erfüllen sie Jesu Auftrag (15,9– 11.12–17; vgl. 13,14 f.34). Sie werden durch ihre Liebe in der Welt als die ‚Seinen Jesu‘ erkennbar und deshalb – wie Jesus selbst – sowohl aufgenommen (15,20b) als auch gehasst (15,18–16,4a; vgl. 13,16.20.35).

 9  So zutreffend Zumstein, der ab 15,1 „die Nähe, ja die Einheit mit dem Offenbarer“ als Thema sieht; Zumstein, Bildersprache, 143. 10 Moloney sieht in der Thematik des „Bleibens“ den zentralen Aspekt der Ausführungen, dem die Metapher des Weinstocks als Mittel zur Illustration zu- und untergeordnet sei; vgl. Moloney, John, 417; ihm folgt Thyen, Johannesevangelium, 639.642 f. 11 Moloney setzt den Abschnitt 15,1–16,3 unter die Überschrift: „To Abide, to Love and to Be Hated“; vgl. Moloney, John, 416. 12  Im Unterschied zur Mehrheitsmeinung sieht Moloney die Zäsur bereits in 16,3; vgl. Moloney, Message, 35–37.41–44. Ihm folgt Thyen, Johannesevangelium, 638–639. 13  Dies bestätigt indirekt die hier vorgelegte Interpretation, dass Joh 15,1–16,4a als Erläuterung der Aussage in Joh 13,33 verstanden werden kann, die bereits in Joh 13 als Hinführung zum Liebesgebot diente. Der Weg der Nachfolge führt die Seinen nicht mit Jesus in den Tod, sondern in die Liebesgemeinschaft. Auf diese Weise wird Jesus – und damit auch Gott – dort sein, wo die Seinen sind, und umgedreht; vgl. 14,15–21.23; auch 12,26; 13,20. 14 Moloney arbeitet diese zwar als die zentralen Themen von 15,1–16,3 heraus, spricht jedoch von „three independent themes“; Moloney, John, 418.

344

Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapherfür die Nachfolgegemeinschaft Joh 15,1–17 hat einen ekklesiologischen Fokus und erläutert, worin der Auftrag der Nachfolgegemeinschaft besteht und wie sie diesen erfüllen kann. Der Abschnitt entfaltet das Thema in drei Schritten (15,1–8.9–1115.12–17), wobei sich in 15,12–17 eine konzentrische Struktur erkennen lässt.16 In der Bildrede vom Weinstock (Joh 15,1–8)17 geht es zunächst um die Beziehungen zwischen Gott, Jesus und den Nachfolgenden, auf deren Grundlage die Früchte wachsen können, die von den Seinen erwartet werden. Die Verse Joh 15,9–11 verbinden die Aufforderung, zu bleiben, mit der Aufforderung, zu lieben. Durch ihre gegenseitige Liebe können und sollen die Seinen in der Liebe Jesu und Gottes bleiben18 und Früchte bringen. Joh 15,12–17 entfaltet in konzentrierter Weise das Thema der Liebe, die vom Vater zu Jesus geht und von Jesus den Seinen vermittelt wird (vgl. Joh 13,1; 14,15.21.23 f.28;15,1;16,27;17,23–26).19 Die Nachfolgenden sind als von Jesus erwählte Freunde beauftragt, hinzugehen und bleibende Früchte zu bringen (15,15 f.), indem sie einander lieben. Sie partizipieren damit als Gesandte Jesu an seiner Sendung, Gottes Liebe in der Welt präsent zu halten. Eine vergleichbare Beschreibung der Liebe, die von Gott durch Jesus den Seinen vermittelt wird und diese als in der Welt erkennbare Liebesgemeinschaft konstituiert, war bereits in Joh 13,1–20 sowie vor allem im Liebesgebot in 13,34 f. erkennbar und bildet in 17,20–26 den Zielpunkt der Bitten und des Wirkens Jesu.20 Das Bild vom Weinstock bzw. Weinberg wird in alttestamentlichen Texten häufig verwendet, um Israel in seiner Beziehung zu Gott zu beschreiben, so dass die biblischen Texte als Hintergrund der johanneischen Darstellung anzunehmen

15  Zu Joh 15,9–11 als Übergang vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 568; 15,9–11 wird zum Teil zu 15,1–8 gerechnet, vgl. Culpepper, Gospel, 213 f.; Schnackenburg, Johannesevangelium III, 106–108; Thyen, Johannesevangelium, 637–639; Thompson, John, 322 f.; zum Teil zu 15,12–17 gezogen; vgl. Bultmann, Evangelium, 406–425; Scholtissek, Freundschaftsethik, 430–437; Borig sieht in 15,1–10 einen Abschnitt mit konzentrischer Struktur und in 9–10 und 4b–5 aufeinander bezogene Abschnitte; Borig, Weinstock, 68–76. 16  Vgl. Moloney, Message, 39 f.; Schnackenburg, Johannesevangelium III, 16–18; Thyen, Johannesevangelium, 640–642. 17  Als literarische Gattung von Joh 15,1–8 wurden v. a. Gleichnis, Parabel, Bildrede, Metapher und Allegorie diskutiert; vgl. Dettwiler, Gegenwart, 81–86, dessen Beschreibung als „(argumentative) Bildrede“ hier übernommen wird; a. a. O. 85; zur komplexen Anordnung der Bildwelt vgl. Poplutz, Allianz, 828–831; Ruiz, Missionsgedanke, 185–204; van der Watt, Metaphorik, 77–79 18 Zur Bedeutung der Immanenzvorstellung für den vorliegenden Abschnitt vgl. Schnackenburg, Johannesbriefe, 105–110; Scholtissek, Sprache, 275–316. 19  Vgl. Popkes, Theologie, 278–283. 20 Zur Bedeutung der Liebesbeziehungen als „salvific movement in the gospel“ vgl. Frey, Love, 753–767; zur Liebessemantik Popkes, Theologie, 17–21.

6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher

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sind.21 Johannes spielt jedoch auf keinen bestimmten Text an,22 die Bildelemente lassen sich aus der Arbeitswelt des Weinbaus verstehen.23

6.2.1. Joh 15,1–8 Joh 15,1–4: In Joh 15,1 bezeichnet Jesus sich mit einem „Ich-Bin-Wort“ als den wahren24 Weinstock und seinen Vater als den Weingärtner. Die Beziehung zwischen Weingärtner und Weinstock wird grundlegend positiv betrachtet, da sie die Beziehung Vater  – Sohn abbildet. Es handelt sich in Joh 15,1–8 folglich nicht um eine Aufnahme der Weinstockmetapher zur Ankündigung oder Androhung eines Gerichtsurteils.25 In die positiv-fürsorgliche Beziehung zwischen Gott und Jesus bzw. dem Weingärtner und seinem Weinstock sind die fruchttragenden Reben integriert, die von Gott gereinigt werden, damit sie noch mehr Frucht bringen (15,2).26 Weggenommen werden nur die Reben, die keine Frucht bringen. In 15,2 bleibt jedoch offen, wo in dem Bild von Weingärtner, Weinstock und Reben die Jüngerinnen und Jünger zu verorten sind.27 21 Vgl. zum religionsgeschichtlichen Hintergrund Dettwiler, Gegenwart, 87–89, der zurecht darauf hinweist, dass die metaphorische Verwendung des Begriffs Weinstock durch die alttestamentlich-jüdische Tradition geprägt ist. Borig hat nach der ausführlichen Analyse biblischer und mandäischer Texte die Mandaica als Bezugstexte ausgeschlossen, vgl. Borig, Weinstock; zur Motivik von Wein und Weinstock in verschiedenen kulturellen Kontexten, insbesondere im Dionysos-Kult, auch Hirsch-Luipold, Gott, 140–165. Das mit dem Wein häufig verbundene Motiv der (Fest-)Freude findet sich zentral in 15,11. 22  Vgl. die ausführliche Reflexion auf intertextuelle Bezüge bei Thyen, Johannesevangelium, 639–642; die erhoffte endzeitliche Fruchtbarkeit als Hoffnungsbild für Israel findet sich zum Beispiel in Jes 27,2–6; Ps 80,9.15 f. und der verdorrte Weinstock in Jer 5,10; Ez 19,12 f. ist ein Bild der Strafe Gottes, zur Kritik an Israel Hos 10,1; Jer 2,21; Ez 17,6–10; auch Jes 5,1–7; vgl. Haldimann, Rekonstruktion, 150 f.; Schenke, Johannesevangelium, 254 f.; Zumstein, Bildersprache, 153. 23  Vgl. Dettwiler, Gegenwart, 87–89; Poplutz, Allianz, 830 f.; Dodd weist auf eine besondere Nähe zu Ps 80,9–20 hin, wo der Weinstock mit Israel als dem ‚Sohn‘ identifiziert werde; Dodd, Interpretation, 136; vgl. auch Thyen, Johannesevangelium, 641. 24  Vgl. den Bezug zur Hirtenrede in Joh 10; zur Einordnung in die johanneische Offenbarungstheologie Dettwiler, Gegenwart, 86. Das johanneische Weinstockbild ist nicht polemisch im Sinne einer Abgrenzung oder als Substitution für Israel zu interpretieren, vgl. Thyen, Johannesevangelium, 640–642; Thyen verweist exemplarisch auf Jer 2,21 mit der Unterscheidung zwischen einem wahrhaftigen im Sinne von fruchttragenden und einem fruchtlosen Weinstock, a. a. O. 640. 25 Vgl. Lindars, Gospel, 489; für eine Gerichtsankündigung z. B. Hirsch-Luipold, Gott, 156; Segovia, Farewell, 144; Thyen, Johannesevangelium, 643 f. Dass die Darstellung im Sinne einer eschatologischen Gerichtsmetaphorik zu verstehen ist, ist zu bezweifeln, kann jedoch hier nicht ausführlich diskutiert werden; vgl. Haldimann, Rekonstruktion, 170–172. 26  Zum Wortspiel zwischen αἴρειν, καθαίρειν und καθαρός vgl. Zumstein, Johannesevangelium, 563 Anm. 27  Vgl. Zumstein, Bildersprache, 144.

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

In Joh 15,3 verlässt Jesus das Bild des Weinstocks, um seinen Jüngern in einer direkten Anrede unmittelbar Reinheit zuzusprechen, die er ihnen durch sein Wort bereits vermittelt hat.28 „Die präzisierende Aussage διὰ τὸν λόγον κτλ hält sodann fest, dass es sich hierbei um einen unbedingten Heilszuspruch handelt. Denn Zugang zu Gott (Reinheit) haben die Jünger nicht aufgrund einer  – kultisch-rituellen, ethischen oder anderweitigen – Qualität, die ihnen eigen wäre, sondern ausschliesslich aufgrund der geschehenen und in der jeweiligen Gegenwart weiter geschehenden Wortoffenbarung Jesu.“29 Die angesprochenen Jünger sind von der Reinigungsaktion des Weingärtners nicht betroffen oder gar bedroht, da Jesus ihnen die nötige Reinheit durch sein Wort schon vermittelt hat (vgl. auch 13,10), sie entsprechen den reinen Reben.30 Allerdings wird durch den Hinweis auf die andauernde Reinigungsaktion des Weingärtners die Notwendigkeit zum Fruchttragen bzw. Bleiben auch für die Seinen nachdrücklich angemahnt. Die grundsätzliche Zusage der Reinheit erinnert an Joh 13,10 f. Auch dort wird Petrus und mit ihm die anderen anwesenden Jünger darüber informiert, dass sie bis auf einen alle rein seien. Judas zeichnet sich dadurch aus, dass er, genauso wie die anderen Jünger, alle Liebeserweise von Jesus bekommt – er hat Teil an der Fußwaschung und er bekommt von ihm explizit einen Bissen Brot gereicht (13,4 f.12.26), doch Judas bleibt nicht bei Jesus und der Nachfolgegemeinschaft (13,18.30). Dies wird in Joh 13 auf ein Wirken Satans und auf die Schrift zurückgeführt (13,2.11.18 f.27), in Joh 17,12 betet Jesus, dass er bis auf eine mit der Schrift begründete Ausnahme alle bewahren konnte.

Judas wird in Joh 13–17 also als Sonderfall betrachtet, dessen Untreue explizit begründet wird, alle anderen Nachfolgenden werden jedoch als von Jesus in der Gemeinschaft mit Gott bewahrt und rein charakterisiert.

28  Die – übertragen im religiösen Sinn zu verstehende – Reinheit der Jünger ist die Voraussetzung dafür, dass sie am Weinstock sind und bleiben können; so richtig Zumstein, Johannesevangelium, 563 f. Dies entspricht Joh 13,10 f., wo die Unreinheit des Judas dazu führt bzw. sich darin äußert, dass er Jesus und die Nachfolgegemeinschaft verlässt; zur Reinheitsvorstellung vgl. Dietzfelbinger, Reinheit, 487–493; Maier, Reinheit, 473–483; Hauck/Meyer, καθαρός, 416–434. Bultmann verweist zurecht darauf, dass die Reinheit keine Leistung der Jünger ist, sondern eine Gabe, die ihnen „allein im Wort des Offenbarers“ zukommt; vgl. Bultmann, Evangelium, 410. 29 So richtig Dettwiler, Gegenwart, 89 f. Ihm ist jedoch nicht zuzustimmen, dass dadurch schon ein „mystisches Verständnis der Immanenz von Jünger und Jesus“ ausgeschlossen sei; a. a. O. 92. 30 Die Reinheit ist nicht Voraussetzung der Erwählung, sondern ergibt sich aus ihrer Begegnung mit Jesus, der ihnen das Wort Gottes vermittelt. Das Bleiben in der Gemeinschaft mit Jesus und die Reinheit sind wie zwei Seiten einer Münze miteinander verbunden, ohne dass die Seinen dafür aktiv werden müssen. Zur Bedeutung der Immanenzvorstellung vgl. Scholtissek, Sprache, 283–298.

6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher

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Entsprechend dazu werden die Jünger von Jesus auch nicht zum Fruchtbringen aufgefordert, sondern zum Bleiben (15,4).31 Bei ihrem Bleiben in Jesus sollen sie sich wiederum an Jesu Bleiben in ihnen orientieren, das ihrem Verhalten vorausgeht (vgl. vor allem 14,23). Mit dem zentralen Begriff des „Bleibens“ (μένω) wird hier eine reziproke Immanenz formuliert, die  – wie das wechselseitige Lieben (13,34 f.) – ein aktives Handeln erfordert und am Vorbild Jesu seine Norm und Begründung findet.32 Während das Bleiben in Jesus durch 15,2 vorbereitet wurde, kann das Bleiben Jesu in den Seinen nicht aus der Bildersprache des Weinstocks erschlossen werden.33 Joh 15,5–8: In einem weiteren „Ich-Bin-Wort“ werden erst jetzt die Seinen als Reben Jesus als dem Weinstock zugeordnet (15,5). Erneut werden die Jünger nicht als Einzelne, sondern als Gruppe angesprochen, unabhängig davon, dass jede einzelne Rebe zum Bleiben aufgefordert wird (15,5b).34 Dies entspricht der Belehrung im Rahmen der Fußwaschungserzählungserzählung. Die Nachahmung der Fußwaschung und die gegenseitige Liebe waren explizit auf ein Verhalten untereinander bezogen, das nach außen sichtbar wird (13,14 f.34 f.). Die Nachfolgenden – die Weinreben – sollen als Gemeinschaft in Jesus bleiben, während sich Jesus aktiv für das Bleiben einsetzt. Die in 15,5 wiederholte Immanenzformel, Schnelle spricht zutreffend von „gegenseitiger ‚Inexistenz‘“, führt entsprechend nicht zu einer Drohung, sondern mündet in eine Verheißung!35 Auch hier fällt auf, dass der johanneische Jesus von den Seinen ein sehr positives Bild malt, er betrachtet sie offensichtlich ohne Einschränkung als erfolgreiche Jüngerinnen und Jünger, die von Gott und Jesus mit allem Notwendigen ausreichend versorgt werden, so dass sie  – nur unter der Voraussetzung, dass sie in dieser Gemeinschaft „bleiben“ (15,4 f.; vgl. 14,18.20.23) – mehr als genug Frucht bringen. „Das Fruchtbringen vollzieht sich zwar ganz in den Jüngern und durch sie, eigentliches sub-iectum ist aber Jesus. […] Fruchtbringen ist die ganze Tat der Jünger und zugleich ganz Tat Jesu.“36 31  Adressaten sind die anwesenden Jünger, deren Treue zu Jesus angesichts der bevorstehenden Stunde Jesu und der damit verbundenen Gefahren für sie selbst (15,18–16,4) auf eine harte Probe gestellt wird; anders jedoch Schnelle, Evangelium, 265. 32  Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 642 f.; Scholtissek, Sprache, 143–166; vgl. auch Joh 14,20.23. 33 Vgl. Van der Watt, Family, 41 f. 34  Vgl. Zumstein, Bildersprache, 145, der darauf verweist, dass in 15,2 überrascht, dass jede Rebe einzeln benannt und somit eine „Individualisierung der Rebe“ konnotiert werde. Die Weinstock-Rede zielt jedoch vielmehr darauf, dass die einzelnen Reben durch die lebensnotwendige Verbindung mit dem Weinstock eine Gemeinschaft bilden. 35  Schnelle, Evangelium, 266. 36 Dettwiler, Gegenwart, 94. Auch Paulus formuliert den Gedanken, dass die Befähigung selbst ein Geschenk Gottes ist; vgl. 2 Kor 3,5; auch 1 Kor 12,6; s. Brown, John II, 661. Thyen

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

Im Anschluss zeigt Jesus die Konsequenzen von Bleiben und Trennung auf (15,6 f.). Die einen werden wie vertrocknete Reben ins Feuer geworfen, die anderen können ihre Bitten äußern und werden erhört.37 Die Personen, die von sich aus nicht bleiben und deshalb als Konsequenz im Sinne eines Tun-ErgehenZusammenhangs das Schicksal von vertrockneten Reben erleiden, bleiben unbestimmt. In der zweiten Person Plural direkt angesprochen werden auch hier (nur) diejenigen, die bleiben (15,5). Die Möglichkeit, dass „jemand“ nicht bleibt, wird zwar mit den entsprechenden Konsequenzen des Verdorrens und Verbrennens im Bild der Reben illustriert (15,6), allerdings ohne, dass das ausschließende und vernichtende Handeln explizit vom Weingärtner ausgesagt oder gar an die angesprochenen Jünger oder Lesenden adressiert wird.38 Die Konsequenzen eines Abfalls werden festgestellt und klargestellt, aber nicht auf die Angesprochenen bezogen. Mit Blick auf die Angesprochenen geht Jesus vielmehr davon aus, dass sie die idealen Voraussetzungen haben, um das geforderte Ziel zu erreichen (15,3.5.7 f.). Sie sind geblieben, weil Jesu Worte in ihnen blieben, d. h. sie haben sein Wort als Wort Gottes bewahrt (14,23 f.) und durch das Wirken des Heiligen Geistes in Erinnerung gehalten (14,26). Nun dürfen sie erbitten, was sie wollen, und es wird ihnen gewährt. Jesus wiederholt hier die Zusage von 14,13 f. Freilich kann er die dortige Bedingung ‚in meinem Namen‘ jetzt durch ‚was ihr wollt‘ ersetzen; weil er durch sein Wort und den Geist in den Jüngern ist, sind ihre Bitten zugleich seine Bitten, und ihr Wirken ist sein Wirken (vgl. 14,12).39

Im Wirken der Nachfolgegemeinschaft zeigt sich das Wirken Gottes. Was im Johannesevangelium im Rahmen der Sendungsvorstellung bereits für Jesus ausgesagt wurde, gilt nun auch für die Seinen. Gott wirkt in und durch Jesus, seinem Sohn und Gesandten (vor allem 5,19; 10,37 f.; 14,10 f.). Nun gilt, dass in den Jüngerinnen und Jüngern Gott und Jesus nicht nur präsent sind, sondern dass Gott und Jesus auch durch sie wirken (vgl. 14,23; 17,26). Diese Vorstellung stimmt spricht zutreffend von einer „Tätergemeinschaft“; Thyen, Johannesevangelium, 650. Auch für den johanneischen Jesus gilt, dass Gott durch ihn wirkt, v. a. Joh 4,34; 5,17–21.36; 10,37 f.; 14,10. 37 Die einzelnen Bildelemente sollten nicht allegorisch gedeutet werden; so richtig Schnackenburg, Johannesevangelium IV, 114. Zur Frage nach Gerichtsmetaphorik vgl. Haldimann, Rekonstruktion, 170–172; Lindars, Gospel, 489; Thyen, Johannesevangelium, 643 f. 38 Den Angesprochenen wird hier weder mit diesseitigen noch mit jenseitigen Konsequenzen gedroht; so richtig Van der Watt, Family, 45 f.; vgl. aber Thyen, Johannesevangelium, 643f; Zumstein, Bildersprache, 148; zur Schwierigkeit der Interpretation der Aorist-Formen vgl. Brown, John II, 661. 39 Schenke, Johannesevangelium, 256. Schnelle interpretiert die Rede vom „Wort“ als Interpretation des Evangelisten mit Blick auf die textexterne Gemeinde, deren Glaube „an das Wort verwiesen“ werde; Schnelle, Evangelium, 266. Doch das (bezeugende) Wort von Nachfolgenden und auch das Wort Jesu selbst erweisen sich bereits in Joh 1–12 als wirkmächtig (vgl. 4,39.41.50; 5,24; 8,31.51); Jesus selbst bewahrt Gottes Wort (8,55). Brown sieht in 15,7 erneut den Gedanken der Immanenz variiert, da Jesus und seine Offenbarung bei Johannes austauschbar seien, weil Jesus in Person die Inkarnation des Wortes sei; Brown, John II, 662.

6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher

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überein mit der Aussage, dass die Aufnahme der Jüngerinnen und Jünger Jesu durch Dritte mit der gastfreundlichen Aufnahme Jesu oder Gottes gleichbedeutend ist (vgl. Joh 13,20). Die vorliegenden Erläuterungen Jesu sind entsprechend nicht primär im Rahmen der Ethik relevant, sondern unter dem Vorzeichen der Sendung bzw. Beauftragung der Jünger zu bewerten und in einem ekklesiologischen Zusammenhang zu interpretieren. Die Frucht der Seinen und ihre Existenz als Jüngerinnen und Jünger Jesu trägt zur Verherrlichung Gottes bei (15,8). „Indem die Jünger/Leser in Jesus geblieben sind, haben sie sein Wirken fortgesetzt und auf diese Weise bereits ‚Gott verherrlicht‘ (Aorist!) (15,8), wie Jesus es in 14,13 angekündigt hat.“40 Damit verherrlichen nun auch die Jünger Gott (vgl. auch 7,38 f.), so wie Jesus selbst seinen Vater verherrlicht (7,39; 8,54; 11,4; 12,16.23; 13,31 f.; 17,1–5). Die Seinen werden ab jetzt in das gegenseitige Verherrlichungsgeschehen von Vater und Sohn einbezogen (vgl. auch 17,10.22–24).41 Doch der Text lässt Fragen offen. Überraschend und schwierig zu interpretieren ist der abschließende Hinweis, dass die angesprochenen Jünger auf diese Weise „seine Jünger werden“ oder sich „als seine Jünger erweisen werden“42. Die wörtliche Übersetzung ist hier weiterführend. Diejenigen, die durch das Kommen Jesu nun Gottes Kinder sind (vgl. 1,12; 13,1.33), sollen sich jetzt  – vor allem jetzt, wenn Jesus geht – als Schülerinnen und Schüler Jesu erweisen und dadurch selbst erkennbare Gesandte Jesu und Gottes sein (13,16.20.34 f.). Diese Interpretation stimmt überein mit der auffallenden Reihenfolge zwischen vorausgehender Beauftragung und sich anschließender Aufforderung zur Nachfolge in Joh 12,26 und 21,19. Kindschaft oder Jüngerschaft erweist sich in der konkreten Nachfolge, im Lieben und Bleiben. Es geht also nicht darum, dass die einzelnen durch ihre Werke ihren Schülerstatus ‚verdienen‘, sondern darum, als Gemeinschaft das zu leben, was sie sind: Schülerinnen und Schüler Jesu, von denen Liebe erwartet wird, so wie sie Liebe von Jesus erfahren haben (13,1–  Schenke, Johannesevangelium, 256.  Hier zeigt sich nun deutlich die ekklesiologische Relevanz von Joh 15,1–8; vgl. Becker, Evangelium I, 251; Zumstein, Bildersprache, 147.149; zur Verherrlichungsvorstellung im Johannesevangelium vgl. v. a. Caird, Glory 265–277; Frey, Herrlichkeit, 639–662; ChibiciRevneanu, Herrlichkeit; Thüsing, Erhöhung. Auffallend ist, dass die Verherrlichungsvorstellung mit verschiedenen Dimensionen des Wirkens Jesu verbunden ist, vgl. u. a. 11,8.47–53; 12,23.27–36; 13,31 f.;17,1–5.8 und nach Jesu Worten auch das Wirken der Jünger umfassen wird (7,38 f.). 42 Die Stelle ist textkritisch problematisch, da das Verbum sowohl im Konjunktiv Aorist γένησθε als auch im Futur γeνήσεσθε überliefert ist; für die Lesart im Futur z. B. Thyen, Johannesevangelium, 637–639.644; zur Entscheidung für den Konjunktiv Aorist vgl. Brown, John II, 662; Bultmann, Evangelium, 414 Anm. Vgl. Joh 12,26, wo das Ausführen von Aufträgen Jesu vorausgesetzt ist und das Nachfolgen an zweiter Stelle gefordert wird. Das Futur ist als lectio difficilior hier zu bevorzugen. Allerdings geht es nicht darum, dass die Angesprochenen ihren Schülerstatus durch ihre Taten „verdienen“, sondern dass sie sich – als Gemeinschaft, nicht als einzelne – als Schülerinnen und Schüler erweisen. 40 41

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

20.34 f.).43 Damit verbunden ist die Bereitschaft zu vergeben (20,23; vgl. 21,15– 18), aber kein Leistungsdruck oder Anspruch auf Perfektionismus. Die Nachfolge Jesu, die hier erwartet wird, stellt sich als Umsetzung dessen dar, was sie von Jesus bereits bekommen haben, so dass Glauben und Handeln als zusammengehörend betrachtet und mit Blick auf die ekklesiologische Relevanz in den Fokus genommen werden. Das – von Jesus und Gott ermöglichte – Bleiben der Seinen in Jesus, führt zu einer gegenseitigen Immanenz, die mit reichen Früchten einhergeht und Gott verherrlicht. Teilhabe an Jesus (vgl. 13,8) beinhaltet sowohl die Gemeinschaft mit Gott als auch die daraus resultierende Liebesgemeinschaft miteinander und hat eine missionstheologische Bedeutung (13,34 f.). Diese bereits in Joh 13 erkennbaren, ekklesiologisch relevanten Zusammenhänge werden in der Bildrede vom Weinstock aufgenommen und in Joh 15,9–17 weiter vertieft. Damit wird die Analyse der johanneischen Liebessemantik durch Enno Popkes bestätigt, der die ekklesiologische Relevanz des Liebesgebots präzise aufzeigt und betont, dass insbesondere in Joh 15,9–17 die „christologischen und ekklesiologischen Implikationen des Liebesgebots und der Liebe Jesu“ entfaltet werden.44

6.2.2. Joh 15,9–11 Die von Gott ausgehende Liebe wird von Jesus den Seinen vermittelt, die nun aufgefordert werden, in dieser Liebe zu bleiben (15,9). Das Bleiben am Weinstock (15,1–8) wird als ein Bleiben in der Liebe konkretisiert. Durch das Halten der Gebote können sie in der Liebe bleiben (15,10).45 Das Halten der Gebote46 und das Bleiben in der Liebe sind austauschbare Beschreibungen des erwarteten Handelns, sowohl für Jesus als auch für die Jünger, und beide führen dazu, dass die Liebesgemeinschaft zwischen Gott, Jesus und den Seinen konkret und erfahrbar wird. „Das Verhalten der Jünger ist somit strikt am Verhalten Jesu orientiert, der seinerseits die Gebote seines Vaters hält und in dessen Liebe bleibt“.47

 So richtig Brown, John II, 662 f.  Popkes, Theologie, 278; vgl. 278–283. 45 Damit werden Lieben und Bleiben verbunden, vgl. Dietzfelbinger, Abschied, 129 f.; Scholtissek, Sprache, 298 f. 46  Vgl. zur Verknüpfung von Lieben und dem Halten der Gebote v. a. 14,15.21; in 14,23–24 wird das Lieben mit dem Halten der Worte verbunden. In 14,20–24 wird vor allem die wechselseitige Immanenz von Vater, Sohn und den Jüngern thematisiert, so dass ein Liebesnetzwerk entsteht. In Joh 15 geht es um den Aspekt der Beauftragung. 47 Popkes, Theologie, 279; die Jünger sind in ihrem Handeln wie in Joh 13,14 f. und 13,34 f. strikt auf das Handeln ihres Lehrers verwiesen. Indem sie in der Liebe Jesu bleiben, ist trotz Jesu Abschied die bleibende Gemeinschaft mit ihm und mit dem Vater möglich, die zur Freude führt (15,11; vgl. 14,28). 43 44

6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher

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Der Weinstock, an dem die Seinen als Reben bleiben sollen (15,1–8), wird nun als Liebesgemeinschaft gedeutet.48 Das Ergebnis für die Seinen ist die vollkommene Freude, die sie mit Jesus teilen (15,11). „Das Beziehungsnetzwerk, das in den V. 1–10 skizziert wurde, steht unter dem Zeichen der Posivität. Sie führt die Jüngerexistenz zu einer vollkommenen Freude.“49

6.2.3. Joh 15,12–17 Joh 15,12–17 führt den vorangehenden Abschnitt mit Blick auf die Erwählung und Beauftragung der Jünger weiter. In Joh 15,1–17 wird das Wirken Jesu und das Wirken der Seinen als ein Zusammenwirken basierend auf der Voraussetzung beschrieben, dass sie in der Liebesgemeinschaft bleiben. Dieser Gedanke, der in 15,4 f. mit Hilfe des wechselseitigen Bleibens formuliert und mit dem Bild vom Weingärtner und Weinstock illustriert wird, findet sich in den Rahmenversen von Joh 15,12.17 Eine konzentrische Anordnung des Abschnitts ist zu erkennen:50 15,12: Forderung der gegenseitigen Liebe in Analogie zur Liebe Jesu 15,13: Liebe als Freundesliebe mit Lebenshingabe 15,14: Pflicht der Seinen: als Freunde Jesu seine Worte tun 15,15: Gabe Jesu: Freundschaft durch Offenbarung von Gott 15,16a: Gabe Jesu: Erwählung und Beauftragung 15,16b: Pflicht der Seinen: Frucht bringen, Gott bitten 15,17: Forderung der gegenseitigen Liebe Joh 15,12–14: Im Anschluss an die Wiederholung des Liebesgebots (15,12; vgl. 13,34) qualifiziert Jesus diese Liebe im Sinne der Bereitschaft zur Lebenshingabe für Freunde (15,13).51 Die Aussage wird von Jesus nicht weiter erläutert. D. h., die textinternen Jünger werden diese Aussage Jesu in der erzählten Situation nicht zwin48  Zumstein spricht von einem „Liebesverhältnis“ zwischen Weingärtner und Weinstock bzw. Vater und Sohn; Zumstein, Johannesevangelium, 569. 49  Zumstein, Bildersprache, 150. 50 Ähnlich gliedert auch Moloney, Message, 39 f., der jedoch in der Erwählung (15,16a) das Zentrum sieht und 15,15 als Titel (Freunde) und 15,16b als Funktion (Frucht bringen) einander zuordnet. 51 Zur Bedeutung von Freundschaft im griechisch-römischen Kontext vgl. Konstan, Friendship, 24–148; zur Freundschaft zwischen Jesus und den Jüngern im Johannesevangelium vgl. Culy, Echoes, 130–177; Ringe, Wisdom, 64–83; Tilborg, Love, 11–168; vgl. auch den Bezug zur Hirtenrede, bes. 10,18, und zur Lazarusperikope; Frey, Love, 758 f.

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

gend auf seinen bevorstehenden Tod beziehen, sondern zunächst grundlegend zur Kenntnis nehmen. Auch für die Lesenden des Johannesevangeliums folgt keine Erläuterung  – zum Beispiel durch einen Erzählerkommentar  –, welche die Feststellung Jesu exklusiv auf seinen Tod beziehen würde (vgl. zum Beispiel Joh 12,33; 18,32; 21,19). Dennoch haben die Lesenden einen Wissensvorsprung gegenüber den Jüngern als Erzählfiguren. Für die Lesenden ist deutlich, dass die in Joh 13,1 umfassend beschriebene Liebe Jesu gerade auch seinen Tod einschließt.52 In Joh 10 hat Jesus am Beispiel des guten Hirten erklärt, dass er seiner Fürsorge als Hirte bis zum Einsatz seines Lebens nachkommt53 und dass er sein Leben für die Schafe geben und wieder nehmen kann (10,15 f.18). Allerdings fehlt in Joh 10 die Formulierung, dass Jesus die Seinen liebt. Erst in Joh 11,1–16 wurde am Beispiel des Lazarus die Liebe Jesu zu seinen Freundinnen und Freunden veranschaulicht, die das eigene Leben riskiert, um dem geliebten Freund zu helfen. Trotz der Warnung vor der Todesgefahr macht sich Jesus auf den Weg (11,8), und auch die Jünger entscheiden sich, Jesus auf diesem Weg zu folgen und ihr eigenes Leben für ihre Gemeinschaft aufs Spiel zu setzen (11,16). Angesichts seines bevorstehenden Todes hat Jesus in Joh 12,23–26 erläutert, dass Nachfolge bedeutet, das eigene Leben einzusetzen. Auch Petrus ahnt im Anschluss an die Bekanntgabe des Liebesgebots in Joh 13,34 f., dass dessen Erfüllung einschließt, in der Nachfolge Jesu den eigenen Tod zu riskieren (13,36–38). Allerdings hat Petrus zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstanden, dass zuerst Jesus selbst in den Tod gehen muss (13,36b; 16,1–4). Mit den textinternen Jüngern redet Jesus erst in Joh 16,28 f. offen und unverhüllt über seinen Tod.

Sowohl für die Liebe Jesu als auch für die geforderte Liebe der Jünger gilt, dass der tiefste Ausdruck von Liebe der Einsatz des eigenen Lebens für die Freunde ist (15,13; vgl. 12,23–26; 13,34–38). Dies ist hier als Qualitätsbestimmung der Liebe zu verstehen, nicht im Sinne eines per se erstrebenswerten Ziels, weder für Jesus noch für die Seinen.54 Jesus erwartet weder eine Verklärung des Todes noch eine Todessehnsucht, sondern Liebe, die bleibt.55 Jesus hat den Seinen im Auftrag Gottes die Liebe Gottes gebracht (vgl. 13,1–3) und er wird diese Liebe bis zum äußersten in seinem eigenen Leben bewähren (15,13). Die Seinen werden beauftragt, ab jetzt und damit gerade auch nach Jesu Abschied in dieser Liebe zu bleiben und sich so als Schülerinnen und Schüler Jesu zu erweisen (vgl. 52  Zur kreuzestheologischen Relevanz von Joh 15,13 vgl. Thyen, Niemand, 97–110; auch Frey, Theologia, bes. 497 f.514.535–542 sowie ders., Tod, 561–566; zum Tod Jesu im Kontext der Freundschaftsethik vgl. Scholtissek, Freundschaftsethik, 413–439; Schröter, Sterben, v. a. 272–287. 53  Der tatsächlich eintretende Tod eines Hirten nutzt den Schafen jedoch gerade nicht; vgl. Becker, Evangelium II, 388; Wengst, Johannesevangelium II, 383. 54  Im Rahmen der antiken Freundschaftsethik findet sich die Vorstellung des freiwilligen Sterbens für einen Freund als höchstes Ideal; zur Bedeutung dieses Konzepts im Johannesevangelium vgl. Frey, Tod, 555–572; Scholtissek, Liebe, 413–439. 55  Dies zeigt auch das Beispiel des Petrus im Vergleich mit dem anonymen Jünger. Petrus erhält durch das ihm bevorstehende Martyrium keinen Statusgewinn gegenüber dem anonymen Jünger; vgl. Joh 21,18–23.

6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher

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13,34 f.). Der Bezug zwischen dem Liebesgebot in Joh 13,34 f. zu Joh 15,12–17 wird „kompositionstechnisch gestützt durch die Linie 14,15.21.31; 15,10, in der das spezielle Thema der Beauftragung mit dem Liebesgebot ergänzt wird durch den übergeordneten Zusammenhang, der sowohl zwischen der Liebe Jesu zum Vater und der Erfüllung des Sendungsauftrags besteht als auch zwischen der Liebe der Jünger zu Jesus und dem Halten seiner Gebote.“56 Indem die Jünger nach Jesu Vorbild handeln und die Gebote Jesu erfüllen, erweisen sie sich als Jesu Freunde (15,14), als fruchtbare Reben (15,8) und als seine Jünger (13,15–17.34 f.). Die Nachfolgegemeinschaft als Liebesgemeinschaft ist der Ort, an dem die Liebe Jesu und damit zugleich die Liebe Gottes nach Jesu Tod in der Welt präsent bleibt (14,23; 17,21). Das Ziel ihrer Sendung ist die gastfreundliche Aufnahme, die gleichbedeutend mit der Aufnahme Jesu und Gottes ist (13,20; 15,20a; vgl. Joh 1,12).57 Als Konsequenz setzen sich die Jüngerinnen und Jünger wie Jesus dem Hass der Welt aus, so dass auch sie, vor allem nach Jesu Abschied, ihr Leben riskieren (15.20; 16,1–3; vgl. 13,16; auch Mt 10,24 f.40). Der Imperativ des Bleibens in Joh 15,4 weist dieselbe Struktur auf wie die Aufforderung zur Nachahmung der Fußwaschung (13,14 f.) und die Aufforderung zur gegenseitigen Liebe (13,34; 15,12). Jesu Handeln ist jeweils zugleich Grundlage, Voraussetzung und Norm für das Handeln der Seinen: Joh 15,4: μείνατε ἐν ἐμοί,

κἀγὼ ἐν ὑμῖν. καθὼς τὸ κλῆμα οὐ δύναται καρπὸν φέρειν ἀφ᾿ ἑαυτοῦ ἐὰν μὴ μένῃ ἐν τῇ ἀμπέλῳ, οὕτως οὐδὲ ὑμεῖς ἐὰν μὴ ἐν ἐμοὶ μένητε. Joh 13,14: εἰ οὖν ἐγὼ ἔνιψα ὑμῶν τοὺς πόδας ὁ κύριος καὶ ὁ διδάσκαλος, καὶ ὑμεῖς ὀφείλετε ἀλλήλων νίπτειν τοὺς πόδας· Joh 13,34: Ἐντολὴν καινὴν δίδωμι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους, καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀγαπᾶτε ἀλλήλους. Joh 15,12: Αὕτη ἐστὶν ἡ ἐντολὴ ἡ ἐμή, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς.

Die Liebe hat im Johannesevangelium nicht nur eine theologische und eine christologische, sondern auch eine ekklesiologische Dimension, welche die Beziehungen in der Nachfolgegemeinschaft betrifft und deren Effekte über die Gemeinschaft hinausreichen. In ihrem Lieben repräsentieren die Jüngerinnen und Jünger die Liebe Gottes und Jesu und halten diese in der Welt bleibend 56 So

richtig Hoegen-Rohls, Johannes, 94.  Dieser Aspekt wird in Joh 15,18–16,4a angesichts der deutlichen Hinweise auf Gefahren und Verfolgungen oft übersehen; vgl. z. B. Moloney, der den Abschnitt mit „to be hated by the world“ überschreibt; Moloney, John, 428. Ein vergleichbares Phänomen findet sich jedoch bereits in Joh 1,10 f. mit Blick auf die Sendung Jesu: Während zunächst pauschal festgehalten wird, dass die Seinen Jesus nicht aufnehmen (1,10 f.), stellt 1,12 einschränkend fest, dass diejenigen, die ihn aufnehmen, Kinder Gottes wurden. Vgl. zur Interpretation der Dualismen im Johannesevangelium Frey, Hintergrund, 411–482; Popkes, Theologie, 11–17. 57

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

präsent (vgl. 13,35).58 Die von Jesus geforderte gegenseitige Liebe dient nicht nur der Stärkung der eigenen Gemeinschaft, sondern sie zielt auf ein Wachstum von Früchten (15,1–8.16), das heißt auf eine Vergrößerung der Nachfolgegemeinschaft (15,20b; 17,20–23).59 Joh 15,15–16: Im Zentrum dieses Abschnitts stehen zwei Gaben, welche die Seinen von Jesus empfangen: Die Seinen sind als Jesu Freunde Offenbarungsempfänger, da Jesus ihnen sein Wissen vom Vater weitergibt (15b). Außerdem sind die Seinen von Jesus erwählt (ἐγὼ ἐξελεξάμην ὑμᾶς; 16a).60 Daraus resultieren zwei Verpflichtungen61: Die Freundinnen und Freunde Jesu sind verpflichtet, seine Worte – die ja Gottes Worte sind – in ihrem Handeln zu realisieren (15,14b; vgl. auch 13,15.17). Zugleich mit der Berufung hat Jesus sie auch eingesetzt bzw. beauftragt (ἔθηκα ὑμᾶς), dass sie hingehen und Frucht bringen (καρπὸν φέρητε) (15,16b). Die explizit missionstheologische Terminologie bestätigt und vertieft die ekklesiologische Bedeutung des Liebesgebots im Johannesevangelium, indem es mit der antiken Konzeption von Freundschaft verbunden wird.62 Das griechische Lexem ἐκλέγομαι ist im Neuen Testament insgesamt an 22 Stellen belegt, wobei es sowohl für die Erwählung Jesu (Lk 9,35), der Gläubigen insgesamt (Mk 13,20; Eph 1,4) und vor allem für die Berufung der Zwölf bzw. der Jüngerinnen und Jünger (Lk 6,13; Joh 6,70; 13,18; 15,16.19; Apg 1,2) sowie für die Berufung in ein Amt (Apg 1,24; 6,5;

58  Dass die wechselseitige Liebe der Jünger missionstheologische Ziele hat, ist das stärkste Argument gegen die Annahme einer Konventikelethik im Johannesevangelium, die Käsemann vertritt; vgl. Käsemann, Wille, 136; ähnlich auch Lattke, Einheit, 22–26; Sanders, Ethics, 100; Schrage, Ethik, 300 f.; Segovia, Love, 76. 59 Es geht in Joh 15,9–17 nicht darum, in einer Verfolgungssituation das eigene Überleben der Gemeinschaft zu sichern, indem mit Hilfe der Liebe das eigene Sozialverhalten organisiert und die eigene Identität bewahrt wird; so z. B. Dettwiler, Gegenwart, 102. Die ekklesiologische Dimension der Beauftragung in Joh 15,16 mit dem Liebesgebot als Inhalt (vgl. 13,34 f.) wird dadurch auf die Erhaltung der eigenen Gruppe verkürzt, der offenbarungstheologische und missionarische Aspekt der Liebesgemeinschaft gerät aus dem Blick, exemplarisch dafür ist auch der Kommentar von Thyen; Thyen, Johannesevangelium, 650 f. 60 Vgl. zum Zusammenhang von Sendung Jesu, Sendung der Jünger und Erntemetaphorik bereits Joh 4,31–38. 61  Zur Dialektik von Zuspruch und Anspruch vgl. Popkes, Theologie, 306 f. 62 Ein Verständnis der Früchte im Sinne der persönlichen Glaubensbeziehung zu Jesus, so z. B. Dietzfelbinger, Evangelium II, 117, widerspricht der Verwendung von Erntemetaphorik in Joh 4,31–38, wo die Sendung der Seinen ebenfalls unmittelbar im Anschluss an die Beschreibung der Sendung Jesu expliziert wird. Bedeutsam ist in Joh 4, dass hier auch das Zeugnis einer namenlosen samaritanischen Frau, die damit auf ihre Begegnung mit Jesus reagiert, als ein Wirken im Namen Jesu gedeutet wird. Der Kreis der von Jesus zeugenden Jüngerinnen und Jünger kann also bei Johannes gerade nicht enggeführt werden auf eine Gruppe besonders beauftragter Schüler, zu den johanneischen Charakteristika von Zeugenschaft, das die Bedeutung der für Jesus zeugenden Personen hinter Jesus als der Quelle der Wahrheit zurückstellt (Joh 3,30), vgl. Attridge, Quest, 20–29.

6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher

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15,7.22.25) verwendet wird.63 Mit dem Verbum τίθημι kann die Einsetzung oder Beauftragung für eine bestimmte Aufgabe bezeichnet werden, vgl. zum Beispiel Apg 13,47; 20,28; Röm 4,17; 1 Kor 12,28; 1 Tim 1,12; 2,7; 2 Tim 1,11.64

Die Offenbarung oder Vermittlung von Informationen, die Jesus selbst vom Vater erhalten hat (15,15b), charakterisiert die Liebesbeziehung zwischen Jesus und den Seinen: Jesus nennt sie nicht „Sklaven, sondern Freunde“.65 Jesus hat sie im Johannesevangelium zwar einmal mit Sklaven verglichen (13,16), er hat sie jedoch nirgends unmittelbar als seine Sklaven und Sklavinnen bezeichnet.66 Es geht folglich nicht um eine zeitliche, sondern um eine qualitative Bestimmung der Beziehung zwischen Jesus und den Seinen.67 Während der Sklave in einer Abhängigkeitsbeziehung zu seinem Eigentümer steht, ist die Freundschaft eine freiwillig gewählte Beziehung, die auf Vertrauen und Gegenseitigkeit beruht.68 Sklave Jesu oder Sklave Gottes zu sein, ist nicht zwingend eine Abwertung, da ein Eigentumsverhältnis mit Blick auf Gott oder Jesus im Sinne einer Ehre zu verstehen ist, nicht jedoch als Erniedrigung.69 Bei Paulus ist das daran erkennbar, dass er sich als Apostel zugleich auch als Sklave Gottes bzw. Jesu beschreiben kann (vor allem Röm 1,1; Phil 1,1; vgl. auch Tit 1,1): Als Sklave Gottes sieht er sich gerade nicht als Knecht der Menschen, sondern von diesen frei und unabhängig, da er nur Gott verpflichtet ist (Gal 1,10; ähnlich 1 Pet 2,16). In Joh 15,15 geht es – wie in Joh 13,16 auch – jedoch um die Art der Beziehung, die mit Sklaven- und Sendungsterminologie sowie mit Beschreibungen aus den Bereichen Lehre und Familie qualifiziert wird. In Joh 13,16 wurde die Verpflichtung der Nachfolgenden zum Gehorsam mit der Beziehung zwischen Lehrer und Schülern bzw. Herr und Sklaven oder Sender und Gesandtem begründet. In Joh 15,13 f. geht es stärker um die intrinsische Motivation, denn Freunden hilft man nicht aus Zwang, sondern aus Liebe.70 Trotzdem bleibt auch in Joh 15,14 das hierarchische Gefälle zwischen Jesus und den Seinen erkennbar, denn Jesus macht den Status der Freundschaft daran fest, dass die Jüngerinnen und Jünger seinen Weisungen in ihrem Handeln nachkommen. Die Angesprochenen sind also Freunde Jesu und bleiben ihm dennoch als Schüler und Beauftragte zum Gehorsam verpflichtet. 63 Weitere Belege finden sich in Lk 10,42 für die Wahl des guten Teils, in Lk 14,7 für die Auswahl von Ehrenplätzen, in Apg 13,17 für die Berufung der Väter Israels und in 1 Kor 1,27 f. für die Auswahl des Schwachen und Verachteten bzw. der Armen in Jak 2,5. Zur Wortverwendung vgl. Eckert, Erwählung, 192–196; Eckert, ἐκλέγομαι, 1012–1020; s. auch BDAG, ad verbum; Liddell/Scott, ad verbum; Fascher, Erwählung, 409–436. 64  Vgl. Maurer, τίθημι, 152–170; Schramm, τίθημι, 852–854; BDAG, ad verbum. 65 Vgl. dazu Konstan, Friendship, 15.21.68–72.103–105. 66  So richtig Thyen, Johannesevangelium, 649 f., der jedoch diese Beobachtung zu wenig berücksichtigt, wenn er die Fußwaschung als Sklavendienst versteht und daraus sowohl für Jesus als auch für die Jünger eine niedrige Sklavenrolle folgert; a. a. O. 587 f.646. 67 Vgl. Dietzfelbinger, Evangelium II, 115. 68  Die Beziehung zwischen Freunden ist unabhängig von weiteren Rollen, wie etwa einer Lehrer-Schüler-Beziehung, oder dem sozialen Status der Personen; vgl. Konstan, Friendship, 7. 69 Vgl. Hentschel, Gemeinde, 100–104. 70  Vgl. Konstan, Friendship, 13 f.56–59.109–114. Während Loyalität ein zentraler Aspekt der Freundschaft ist, wird der Bruch der Vertrauensbeziehung scharf kritisiert und kann auch als Unreinheit bezeichnet werden; a. a. O. 89.124–128.

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

Der Unterschied, den Jesus zwischen Sklaven und Freunden aufzeigt, ist der Wissensstand: Als Freundinnen und Freunde Jesu sind die Jünger – anders als Sklaven und Sklavinnen – in das Wissen ihres Herrn eingeweiht (15,15).71 Die Zeitform des Perfekts zeigt an (εἴρηκα), dass das Geschehen bereits in der Vergangenheit liegt. Der Statuswechsel der Jünger zu Freunden gründet also nicht (erst) in Jesu Tod – als Ausdruck seiner Liebe –, sondern bereits in seiner Offenbarung, die er ihnen geschenkt hat und die ebenfalls Ausdruck seiner Liebe ist. Die Verbindung von Erwählung und Einsetzung im vorliegenden Kontext weist darauf hin, dass hier eine offizielle Beauftragung der Jünger Jesu angesprochen und vorausgesetzt wird.72 Die Initiative geht von Jesus aus (vgl. Joh 6,70; 13,18) und der Auftrag besteht gemäß Joh 15,16 darin, dass sie hingehen (ὑπάγω) und Frucht bringen sollen, die bleibt (vgl. 4,38; 17,18) und dass sie den Vater dafür um seine Gaben bitten sollen (vgl. 15,7 f.). Im Vergleich zu Joh 15,1–11 kommt es zu einer semantischen Verschiebung: Jesus erwartet von den Seinen, dass sie sich in Bewegung setzen und weggehen, um Früchte zu holen, während es nun die Früchte sind, die durch ihr „Bleiben“ qualifiziert werden. Damit bezieht sich Jesus zurück auf die Bildrede vom Weinstock, so dass sich der Abschnitt 15,1–17 insgesamt als Erläuterung zur Erwählung und Beauftragung der Jüngerinnen und Jünger Jesu darstellt. Die ekklesiologische Dimension, die in Joh 15,1–8 bereits erkennbar war, wird in 15,12–17 vertieft und bestätigt.73 Die Frucht, die von den Nachfolgenden erwartet wird, geht über die ethische Dimension der Lebensführung hinaus. Nicht die Liebe als ein ethisches Verhalten wird gefordert,74 sondern die Liebe ist vielmehr Ausgangspunkt und Grundlage dafür, dass in einem missionstheologischen Sinn neue Frucht wachsen kann. Die Liebesgemeinschaft wird größer, wenn die Seinen ihrem Auftrag nachkommen. Es geht um ein „‚fruchtbares‘ Gemeindeleben, das die ‚neue Welt‘ aufleuchten läßt und so bleibt“.75 Durch die Liebe der Jüngerinnen und Jünger soll die Liebe Jesu und darin die Liebe Gottes weiterhin in der Welt präsent und 71 Vgl. zur Vorstellung von Abraham als Freund Jesu Stählin, φίλος, 153–155; Wengst, Johannesevangelium II, 146. 72 Die Verbformen ἐξελεξάμην und ἔθηκα im Aorist weisen darauf hin, dass der johanneische Jesus von einem Geschehen in der Vergangenheit spricht. Τίθημι, das mit ‚bestimmen, beauftragen, einsetzen‘ übersetzt werden kann, wird für verschiedene Beauftragungen verwendet; vgl. ausführlich Maurer, Τίθημι, 152–170; auch Schramm, Τίθημι, 852–854. 73 Moloney schreibt zu Joh 15,15 f.: „Such a synthesis is in perfect accord with the whole of Johannine christology and ecclesiology“; Moloney, Message, 41. Vgl. auch das Bild vom Körper in 1 Kor 12, das Paulus ekklesiologisch interpretiert und das auf einer theologischen bzw. christologischen Grundlage ruht (1 Kor 12,4–6). 74  Dies entspricht einem verbreiteten Forschungskonsens und lässt sich bereits bei Bultmann zeigen, der 13,12–20 als ethische Interpretation der Fußwaschung und 15,1–17 als weitere Auslegung von 13,34 f. und 13,12–20 betrachtet; Bultmann, Evangelium, 406.413; vgl. auch Popkes, Theologie, 252 f.307; Schnelle, Evangelium, 267 f.; Thyen, Johannesevangelium, 646 f.; Zumstein, Johannesevangelium, 566. Vgl. dazu auch die Forschungsgeschichte in Kapitel 2. 75 Wengst, Johannesevangelium II, 146.

6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher

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erkennbar sein und dazu führen, dass weitere Menschen der Liebe Gottes begegnen können (13,34 f.; 17,21–23). Joh 15,17: Joh 15,17 fasst kurz und bündig den Auftrag der erwählten Nachfolgenden Jesu zusammen: Sie sollen sich gegenseitig lieben. Damit schließt sich der Kreis zur Fußwaschungserzählung in Joh 13,1–20.34 f., in der die Übermittlung der Liebe Gottes als Inhalt der Sendung Jesu benannt wurde. Jesus lässt die Seinen – zeichenhaft in der Fußwaschung – an der Liebe Gottes teilhaben. Damit werden sie als Liebesgemeinschaft konstituiert und zugleich befähigt und verpflichtet, selbst Botinnen und Boten Jesu zu werden, welche die Liebe Jesu und Gottes weiterhin in der Welt sichtbar und erfahrbar machen (13,16.20.34 f.; 15,14 f.; 17,20–23). An der gegenseitigen Liebe sind sie als Schülerinnen und Schüler Jesu erkennbar. Im Bild des Weinstocks wird die – auch nach Jesu Tod weiterhin bestehende – Immanenz von Jesus und den Seinen expliziert (vgl. auch 14,23), die durch ihr Bleiben am Weinstock, das heißt durch ihr Bleiben in der Liebe Jesu und durch Jesu Wirken in ihnen, Frucht bringen und Gott verherrlichen können. Durch ihr Lieben erweisen sie sich als Freunde und Erwählte Jesu, die als Liebesgemeinschaft ihrer Beauftragung, Frucht zu bringen, gerecht werden.

6.2.4. Zusammenfassung zu Joh 15,1–17 Der Weinstock wird zur Metapher für die johanneische Nachfolgegemeinschaft, welche die enge Verbindung, die gegenseitige „Inexistenz“ von Jesus und den Seinen anschaulich zum Ausdruck bringt.76 Der Weinstock ist dafür angelegt, dass er Frucht bringt, die natürliche Voraussetzung dafür ist, dass die Reben am Weinstock bleiben. Die Metaphorik enthält Anklänge an alttestamentliche Vorstellungen des Weinbergs bzw. Weinstocks als Metapher für das erwählte Volk, um das sich Gott als Weingärtner liebevoll kümmert und dem er sich ggf. auch richtend zuwendet. Gott, der sein Volk erwählt hat, erwartet, dass es seinen Weisungen gemäß lebt und so gute Früchte der Gottesfurcht trägt. Bundesvorstellungen stehen dabei im Hintergrund. Das Johannesevangelium nimmt diese Metaphorik in einer kreativen Weise für seine eigene Vorstellung von der Nachfolgegemeinschaft auf. Der Weinstock wird zunächst mit dem geliebten Sohn Gottes identifiziert, so dass die Reben, die zu diesem Weinstock gehören, grundlegend in die Liebesbeziehung zwischen Gott und seinem Sohn hineingenommen sind. Angesichts des bevorstehenden Abschieds Jesu zielt die jo76  Schnelle, Evangelium, 266. Vgl. dazu 1 Kor 12: Während die Glieder in 1 Kor 12 unterschiedliche Funktionen haben und auch gerne unterschiedlich wichtig wären, sind die Reben am Weinstock grundsätzlich gleichwertig und haben alle dieselbe Funktion.

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

hanneische Bildrede vom Weinstock auf den Fortbestand der Liebesbeziehungen und auf die daraus resultierenden guten Früchte, die zur Verherrlichung Gottes beitragen. Wenn die Jüngerinnen und Jünger sich als Reben erweisen, die zum Weinstock gehören, wird dieser fruchtbar sein und wachsen, auch und gerade nach Jesu Abschied aus der Welt (17,20–26). In Joh 15,9–11.12–17 werden Themen expliziert, die in der Bildrede vom Weinstock – gerade auch wenn man die intertextuellen Bezüge zum Weinstock bzw. Weinberg als Bild für das erwählte Volk Gottes ernstnimmt – anklingen: Jesus schenkt den Seinen als Gaben sowohl die freundschaftlich-vertraute Beziehung, die mit Offenbarung und Liebe verbunden ist, als auch die Erwählung, die zugleich eine Beauftragung impliziert. Die Seinen sollen sich gegenseitig lieben, so wie Jesus sie geliebt hat. Auf diese Weise bleiben die Liebe Jesu und darin die Liebe Gottes in der Nachfolgegemeinschaft präsent, so dass die Nachfolgegemeinschaft die Liebe Gottes weiterhin in der Welt gegenwärtig macht. Durch die Liebe der „Reben“, durch welche Jesus und Gott wirksam anwesend sind, kommen weitere Nachfolgende als bleibende Früchte zum Weinstock hinzu (vgl. 4,35–38; 12,23–26; 15,5.7 f.16; 17,20). Erneut fällt auf, dass die Erwählung und Beauftragung der Seinen durch Jesus als bereits geschehen dargestellt werden (15,16; vgl. 4,38; 17,18), ohne dass diese im Johannesevangelium zuvor explizit erzählt wurden bzw. an dieser Stelle erzählt werden. Dem entspricht die Darstellung in der Bildrede vom Weinstock: Die Reben sind  – natürlicherweise  – bereits fest mit ihrem Weinstock verbunden, und wenn sie mit ihrem Weinstock fest verbunden bleiben und vom Weingärtner gepflegt werden, dann werden sie – ebenso natürlicherweise – Früchte bringen. In der Verbindung mit dem Weinstock ist also gewissermaßen schon vorausgesetzt, dass die Funktion der Reben im Fruchtbringen besteht. Überträgt man diesen Befund auf die Jüngerinnen und Jünger im Johannesevangelium, so lässt sich formulieren, dass mit dem Ruf in die Nachfolge und mit dem Empfangen der Liebe Jesu und Gottes zugleich auch die Beauftragung zum Fruchtbringen gegeben bzw. vorausgesetzt ist. Diese Vermutung bestätigt sich an der Charakterisierung der Jüngerinnen und Jünger bei Johannes: Immer wieder werden Männer und Frauen, die gerade erst beginnen, selbst Jesus nachzufolgen, schon als seine Zeuginnen und Zeugen dargestellt, die andere zu Jüngern machen (wollen).77 Nachfolge gibt es nur in der Liebe(sgemeinschaft) und die Liebe(sgemeinschaft) ist Zeugnis für den Ursprung der Liebe bei Gott und die Sendung Jesu durch Gott (12,26; 15,8.12–17). 77  Die Frage nach der Zeugenschaft bestimmt das gesamte Evangelium; dazu grundlegend Beutler, Martyria. Ein Beispiel ist die samaritanische Frau in Joh 4, in deren Kontext Jesus den Seinen zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen seiner Sendung und dem Bedarf nach weiteren Gesandten in der Ernte erläutert (Joh 4,31–38); vgl. auch das Phänomen der ‚flüchtigen Zeugen‘, die Menschen zu Jesus bringen und dann von der Erzählbühne verschwinden, Attridge, Quest, 28 f.

6.2. Joh 15,1–17: Der Weinstock als ekklesiologische Metapher

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Auf diese Weise wird das typisch johanneische Gebot der gegenseitigen geschwisterlichen Liebe nicht primär in einem ethischen Sinn zum Zentrum der johanneischen Ekklesiologie, sondern ist vielmehr der genuine Ausdruck des johanneischen Nachfolge- und Missionsverständnisses. Dies bestätigt, dass die in 13,34 f. geforderte geschwisterliche Liebe keine Verengung der Nächstenliebe auf die eigene Gruppe im Sinne einer Konventikel- oder Sektenethik darstellt, sondern vielmehr darauf zielt, über die Gemeindegrenzen hinaus erkennbar und wirksam zu werden.78 Dass das Johannesevangelium das Liebesgebot nicht engführt auf die Geschwisterliebe, sondern auch die karitative Verantwortung der Nachfolgegemeinschaft kennt, zeigt sich in Joh 12,8 und 13,29, wo die Armenfürsorge als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird, auch wenn dies nicht als „Nächstenliebe“ bezeichnet oder geboten wird. Die Liebessemantik wird im Johannesevangelium verwendet, um zu beschreiben, wie Gottes Liebe zur Welt sich in Jesus Christus neu offenbart, was grundlegend in der Sendung Jesu geschieht (3,16; 13,1; 14,10), und wie diese Sendung in der Liebesgemeinschaft der Seinen seine Fortsetzung findet (13,34 f.; 14,23; 17,20–26).79 So wie Jesus in Wirkeinheit mit Gott seinen Weg gegangen ist und in seinem Reden und Handeln die Liebe Gottes zu den Menschen gebracht hat (3,16; 6,37–40; 12,45.49; 14,10), so soll in der Nachfolgegemeinschaft die Liebe Jesu und darin zugleich die Liebe Gottes nach Jesu Abschied weiterhin in der Welt präsent sein (13,1;14,23; 17,23– 26; vgl. 13,20.34 f.; 14,15.21.28; 15,15,1–17; 16,27). Während „die Liebe der Jünger zu Jesus […] ein zentrales Motiv des vierten Evangeliums“ für die johanneische Christologie darstellt und als „die johanneische Interpretation des Gottesliebegebots Dtn 6,4 f. verstanden werden“ kann,80 ist die gegenseitige Liebe der Jüngerinnen und Jünger Konsequenz dieser Liebe und Ausdruck bzw. Inhalt ihrer Beauftragung. Nach Jesu Abschied sind sie als Schülerinnen und Schüler und Gesandte Jesu gefordert, in der Welt weiterhin die Liebe Jesu und darin die Liebe Gottes zu repräsentieren (13,20.34 f.), damit so die Welt erkennt, dass Gott Jesus und mit ihm das Heil gesandt hat (17,18– 26). Die gegenseitige Liebe der Nachfolgegemeinschaft, die als Nachahmung bzw. Nachfolge auf der Grundlage der Liebe Jesu basiert, hat deshalb neben der ethischen Dimension eine zutiefst ekklesiologische und missionstheologische Bedeutung. Im Wirken der Schülerinnen und Schüler soll die Liebe Jesu erfahr78  Vgl. Käsemann, Wille, 136; u. a. auch Lattke, Einheit, 22–26; Segovia, Love, 76; die Liebe Gottes, die Jesus und in seinem Auftrag auch die Jünger übermitteln, gilt allen Menschen; so grundlegend Bultmann, Theologie, 435. Die geforderte Geschwisterliebe schließt weder die Nächstenliebe noch die Feindesliebe aus, sondern sie ist im umfassenden Sinn Ausdruck der Liebe Gottes zur Welt und damit zu allen Menschen. 79 Vgl. dazu Popkes, Theologie, 257–268, der nicht nur die ekklesiologischen, sondern auch die bundestheologischen Implikationen des Liebesgebots in Joh 13,34 f. aufzeigt; a. a. O. 268–272; zur soteriologischen Bedeutung der Liebe vgl. Frey, Love Relations, 751–764. 80 Popkes, Theologie, 283; vgl. bes. 283–305.

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

bar sein, so wie Jesus durch sein Lieben die Liebe Gottes in der Welt offenbart hat. Die Sendung Jesu durch Gott findet in der Sendung der Seinen durch Jesus ihre Fortsetzung.

6.3. Intratextuelle und intertextuelle Lektüre von Joh 15,1–8 6.3.1. Joh 15,1–8 und Joh 12,23–26 Als Jesus im Johannesevangelium zum ersten Mal seine bevorstehende Stunde als „gekommen“ und damit als gegenwärtig beschreibt, erläutert er mit dem Bild vom Weizenkorn seinen Tod, der sein Ziel im Fruchtbringen findet (12,24). Als Gegenbild des viel Frucht (πολὺν καρπὸν) tragenden Weizenkorns wird genannt, dass das Korn alleine bleibt (μόνος μένει). Damit wird eine Feststellung getroffen, die man von einem Korn nicht erwarten würde.81 Die fehlende Frucht wird hier offensichtlich mit Alleinsein gleichgesetzt, so dass die viele Frucht im Sinne von Gemeinschaft zu interpretieren ist. Dieser soteriologisch-ekklesiologischen Deutung seines Todes entspricht, dass Jesus unmittelbar im Anschluss als Konsequenz seiner Erhöhung angibt, dass er „alle zu sich ziehen wird“ (12,32).82 In Joh 12,25 f. äußert Jesus die Erwartung, dass auch die Seinen ihm unter Einsatz ihres Lebens nachfolgen sollen.83 Ein bzw. eine diakonos Jesu, das heißt, eine Person, die von Jesus beauftragt ist und diesen Auftrag treu ausführt, soll dort sein, wo Jesus selbst ist (12,26).84 Auffallend ist, dass im Bedingungssatz das Ausführen von Aufträgen vorausgesetzt wird und erst als Konsequenz davon die Nachfolge erscheint (12,26a). Dieser ungewöhnlichen Zuordnung von Beauftragung und Nachfolge in Joh 12,26a entspricht die Aussage in Joh 15,8, bei der das Fruchtbringen und das Jünger-Werden gleichgesetzt werden. Nach Joh 15,4–7 müssen die Jünger am Weinstock bleiben, um Frucht zu bringen und darin zugleich Jünger zu werden. 81 Vgl.

Theobald, Evangelium I, 801 f.  Vgl. auch Joh 10,14–18. Das Sterben Jesu zielt auf eine alle Menschen einschließende Glaubensgemeinschaft; vgl. Culpepper, Proverbs, 370. 83 Das johanneische Logion in 12,25 ist verwandt mit Mk 8,35; Mt 10,39; Lk 17,33. Vgl. zu synoptischen Bezügen v. a. Dodd, Tradition, 338–343; Brown, Gospel I, 473 f.; Theobald, Evangelium I, 805; Thyen, Johannesevangelium, 560 f. Im Kontext von Mk 8,35 und Mt 10,39 geht es nicht nur um die Treue zu Jesus im persönlichen Glaubensvollzug, sondern insbesondere auch um Bekenntnis und Zeugenschaft (Mk 8,36–38; Mt 10,32–42). 84  Mit dem Verbum διακονέω und seinen Ableitungen kann die Ausführung unterschiedlicher Aufträge verbunden sein und die Wortgruppe findet sich sowohl in Mk 15,40 f. par. Mt 27,55 f. als auch bei Paulus und in der Apostelgeschichte häufig im Kontext von Zeugenschaft, Sendung und Mission; vgl. v. a. Apg 1,17.25; 20,24; 21,19; Röm 11,13; 12,7; 2 Kor 5,18; 6,4; 12,23; vgl. Hentschel, Diakonia 90–184.199–382. 82

6.3. Intratextuelle und intertextuelle Lektüre von Joh 15,1–8

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Gemäß Joh 12,26 führt das Ausführen von Aufträgen Jesu als diakonoi Jesu einerseits dazu, dass die Jünger dort sind, wo Jesus ist,85 und andererseits dazu, dass diese Jünger am Ende von Gott geehrt werden. Die bleibende Gemeinschaft zwischen Jesus und seinen aktiven Jüngerinnen und Jüngern ist der Grund für die Ehrung durch Gott.86 Auslöser der Gespräche über den Tod Jesu ist in Joh 12,20–22 der Wunsch von Griechen, Jesus zu sehen, der nicht unmittelbar an Jesus herangetragen, sondern von Jüngern übermittelt wird. Die Jünger nehmen eine Vermittlungsrolle wahr, die mit der ebenfalls mittelbar und unmittelbar erfolgenden Jüngerberufung am Anfang des Wirkens Jesu vergleichbar ist und gerade deshalb besonders auffällt (1,35–51). Von Anfang an sind die Menschen, die Jesus nachfolgen (wollen), im Johannesevangelium damit befasst, weitere Menschen in die Nachfolge Jesu zu rufen (vgl. zum Beispiel Joh 4,25–3887; 9,26–2888).

Die enge Beziehung zwischen Gott, Jesus und den Jüngerinnen und Jüngern, die in Joh 12,23–26 sichtbar wird, zieht sich durch die Erzählung vom letzten Mahl und die Texte der Abschiedsrede und wird im Bild vom Weinstock (15,1–8) erneut deutlich. Die Teilhabe am Weinstock Jesu führt dazu, dass die Reben viel Frucht bringen und sich darin als Jünger Jesu erweisen. Gemeinschaft mit Jesus führt zur Gemeinschaft mit Gott und zur Teilhabe am Wirken Jesu und Gottes (vor allem Joh 13,8.12–20; 17,18–26). Nicht nur die Formulierung des Weizenkornwortes, sondern auch der unmittelbare Kontext von Joh 12,23–26 verweisen darauf, dass das Fruchtbringen sowohl bei Jesus als auch bei den Jüngerinnen und Jüngern darin besteht, Menschen – nach dem Tod Jesu auch über das Judentum hinaus – in die Nachfolge Jesu zu rufen und die Gemeinschaft der Seinen so zu vergrößern (12,20– 23.32 f.).89 Die intertextuelle Lektüre von Joh 12,24–26 mit Joh 15,1–17 legt nahe, 85 Moloney betont zutreffend, dass es in Joh 12,26a nicht primär um Leidensnachfolge, sondern v. a. um die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zwischen Gott und Jesus geht und verweist auf Joh 17; vgl. Moloney, Gospel, 359. 86 Vom Sterben ist in Joh 12,25 f. nicht die Rede; vgl. Theobald, Johannesevangelium, 801. Dass sich diese Gemeinschaft gerade dort bewähren muss, wo die Nachfolgenden Jesu dem Hass der Welt und damit der Todesgefahr ausgesetzt sind, ist keine Frage; vgl. Joh 15,18–16,4a. 87 In Joh 4,34 erklärt der johanneische Jesus mit Hilfe der hier erstmalig verwendeten Sendungsformel präzise den Inhalt seiner Sendung durch Gott (τοῦ πέμψαντός με), die als „seine Speise“ darin besteht, den Willen Gottes zu tun und sein Werk zu vollenden. Im Anschluss folgt eine Unterweisung seiner Jüngerinnen und Jünger zu ihrer Sendung mit Hilfe von Erntemetaphorik (4,35–38), die sich „wie kein anderer Abschnitt im Johannesevangelium durch seine Missionsterminologie“ auszeichnet; Dietzfelbinger, Evangelium I, 115. Die Motive der Frucht und der Freude verbinden die Stelle mit Joh 15,1–17. 88 Der geheilte Blinde in Joh 9 wird von seinen kritischen Gesprächspartnern sogar als Jünger Jesu bezeichnet und von Moses Jüngern abgegrenzt, weil er Jesu Wirken theologisch verteidigt (9,28). Seine Erläuterungen werden – völlig zurecht – als „Lehre“ bezeichnet, die schließlich zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führt (9,34). Mehr oder weniger nachträglich wird der Geheilte von Jesus gefunden und gefragt, ob er glaubt, was dieser mit einer Verehrungsgeste bestätigt (9,35–38). 89 Vgl. Culpepper, Proverbs, 378; Zumstein, Johannesevangelium, 454.

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

dass auch für die Bildrede vom Weinstock davon ausgegangen werden kann, dass die erwarteten Früchte im missionstheologischen Sinn als Wachstum der Glaubensgemeinschaft zu verstehen sind.90

6.3.2. Joh 15,1–8 und Jes 5,1–7; 27,2–6; 60,21 In dem bekannten und oft zitierten Text Jes 5,1–7 wird die Metapher des Weinbergs für Israel verwendet, um die Fürsorge Gottes für sein Volk zu illustrieren, die jedoch erfolglos bleibt (Jes 5,1–4). Der Text endet deshalb in der Gerichtsankündigung, dass der Weinberg sich selbst überlassen bleibt und auf diese Weise dem Verderben preisgegeben wird (Jes 5,5–7). Das Gericht Gottes besteht darin, den Weinberg seinem eigenen Schicksal zu überlassen. Doch bei Jesaja finden sich zusätzlich zu den Klagen über die fehlende Frucht des Weinbergs und der Ankündigung des richtenden Eingreifens Gottes auch Texte, die Gottes erneute Fürsorge mit seinem Weinberg verheißen. In Jes 27,2–6 wird Israel mit einem prächtigen Weinberg verglichen, um den Gott sich fürsorglich kümmert, während er nur dem, was sein Gedeihen bedroht, wie etwa Dornen und Disteln, den Kampf ansagt.91 Reiche Früchte für den ganzen Erdkreis sind das Ergebnis, das erwartet wird. In Jes 60,21 wird Israel als umfassend gerechtes Volk gepriesen, als eine Pflanzung und ein Werk der Hände Gottes zur Herrlichkeit (ἔργα χειρῶν αὐτοῦ εἰς δόξαν; Jes 60,21 LXX). Vergleicht man diese Texte mit Joh 15,1–892 fällt auf, dass auch bei den genannten Jesaja-Texten die Adressaten als eine Gemeinschaft wahrgenommen werden: der Weinberg steht für das Volk Gottes, das als Gemeinschaft gelobt bzw. kritisiert wird. Die Fürsorge Gottes geht jeweils dem Verhalten der Menschen voraus, so dass das angemessene gerechte Verhalten der Gemeinschaft, das entspricht im Bild der Fruchtbarkeit, die vorausgesetzte und zu erwartende Reaktion ist. Erst wenn die guten Früchte fehlen, überlässt Gott den Weinberg seinem Schicksal und damit seinem Verderben.93 Der Weinberg ist als Pflanzung 90 Vgl.

auch Joh 4,31–38; 17,18–20. daher ist weder die positive Beschreibung des Weinstocks noch der Gärtner, der sich um die Produktivität kümmert, ein völlig neuartiger Aspekt in Joh 15, auch von einem veränderten Gottesbild kann man nicht sprechen, anders jedoch Zumstein, Bildersprache, 155. 92  Vgl. dazu Van der Watt, Family, 51–54. 93  Weitere Texte ließen sich anführen, in denen die Beziehung zwischen Gott und seinem Weinberg differenziert dargestellt wird. In Psalm 80,8–16 wird Gott sogar daran erinnert, dass er sich um den Weinberg kümmern müsse, den er gepflanzt und nun vernachlässigt habe, während den Gläubigen selbst für das Gedeihen oder Nicht-Gedeihen des Weinbergs in keiner Form Verantwortung zugesprochen wird; vgl. Dodd, Interpretation, 136; Thyen, Johannesevangelium, 640 f. In Jer 2,21 f. wird dem Weinberg vorgeworfen, dass er sich in ein entartetes Gewächs verwandelt habe und sich trotz aufwendiger Waschungen nicht von seiner Schuld freiwaschen könne. Gemäß Jer 6,9 lässt Gott eine Nachlese am Weinstock Israel zu, damit das Volk sich wieder auf das Wort Gottes besinnt (Jer 6,10 f.; ähnlich auch Jer 8,13). Sogar in dem Gerichtstext 91 Von

6.3. Intratextuelle und intertextuelle Lektüre von Joh 15,1–8

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der Lust Gottes folglich ein – zum Teil sogar liebevoll-intimes – Bild für die von Gott ausgehende, positive und von Liebe geprägte Beziehung zwischen Gott und seinem erwählten Volk, die erst dann gefährdet wird, wenn der Weinberg – wiederholt und auf Dauer – die zu erwartenden guten Früchte nicht bringt. Die Früchte, welche in den alttestamentlichen Texten erwartet werden, bestehen in der Treue zu Gott und zeigen sich sowohl in der Alleinverehrung Gottes im Sinne der Gottesliebe als auch in der Einhaltung der Weisungen Gottes mit Blick auf die Gemeinschaft im Sinne der Nächstenliebe (vgl. unter anderem Jes 5,7–12; 27,9.13; Jes 60,16–21). Der auffälligste Unterschied zu den Jesaja-Texten besteht darin, dass in Joh 15,1–8 nicht die Glaubensgemeinschaft, sondern Jesus selbst mit dem Weinstock gleichgesetzt wird. Die Beziehung zwischen dem Weingärtner und seinem Weinstock ist in Joh 15 also noch grundlegender als in den alttestamentlichen Texten von Liebe (vgl. vor allem Jes 5,7 LXX) gekennzeichnet. Schließlich ist der Weinstock hier die Metapher für Jesus als den geliebten Sohn und der Weingärtner wird mit dem „Vater“ identifiziert (15,1.8).94 Entsprechend fürsorglich widmet sich der Weingärtner der Pflege des Weinstocks: Reben ohne Frucht werden entfernt, fruchtbringende Reben werden gereinigt, so dass sie „mehr Frucht bringen“ (15,2). Von den angesprochenen Jüngern wird durch das Bild der Reben nichts anderes erwartet, als dass sie bleiben, was sie sind: fruchtbringende Reben, fest verbunden mit dem Weinstock und damit fest verwurzelt in der Liebe zwischen Gott und seinem Sohn (15,4 f.7). Die erforderliche Reinheit wird den Jüngern von Jesus grundlegend zugesprochen (15,3), und zwar vor den sich anschließenden Imperativen (vgl. auch Joh 13,10). Die intertextuelle Lektüre erschließt, wie sehr Joh 15,1–8 den Fokus auf die grundlegende liebevolle Beziehung zwischen Gott und seinem Weinstock legt, die von Fürsorge gekennzeichnet ist und für die Reben gewissermaßen selbstverständlich voraussetzt, dass sie viel Frucht bringen können und bringen werden. Die Entfernung von verdorrten Reben dient der Pflege des Weinstocks und ist Ausdruck der Liebe Gottes zu Jesus. Wer die verdorrten Reben sind bzw. ob es von diesen überhaupt eine konkrete Vorstellung gibt, wird im Text nicht benannt. Für die Textpragmatik ist jedoch zentral, dass durch das negative Bild der verdorrten Reben die Bedeutung eines aktiven Handelns der Adressaten im Sinne vom Fruchtbringen bzw. Bleiben hervorgehoben wird. Die dauerJer 12,1–17 sind Gottes Fürsorge für den Weinberg und Gottes Mitleiden mit seinem Weinberg, der von Hirten verdorben wurde (12,10 f.), deutlich erkennbar. Bei Hosea findet sich sowohl die Kritik an der Gottvergessenheit Israels im Bild eines fruchtbaren und dadurch selbstgefälligen Weinstocks (Hos 10,1) sowie die Beschreibung des von Gott allein ausgehenden und unverdienten Erbarmens, das sich in Gottes Fürsorge für seinen Weinstock zeigt (Hos 14,5–9). 94  Vgl. dazu auch Thyen, Johannesevangelium, 641. Die Rede vom „Vater“ wird in den beiden rahmenden Versen des Abschnitts verwendet und erhält dadurch ein besonderes Gewicht; s. auch Joh 15,9 f.16.

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

hafte und effektive Zugehörigkeit zum Weinstock wird zwar von Gott als dem Weingärtner ermöglicht, aber sie ist dennoch kein Automatismus, der sich ohne die Mitwirkung der Reben vollzieht. Die angesprochenen Jünger werden ausschließlich mit den fruchtbringenden Reben identifiziert. Ihnen wird sogar noch Größeres zugetraut. Joh 15,1–8 zeichnet folglich ein positives und ermutigendes Bild der Glaubensgemeinschaft, das durch die liebevolle Fürsorge Gottes für seinen Sohn (15,1 f.) und darin auch für die Gläubigen (15,7) geprägt ist und allen Anlass gibt, ein noch größeres Wachstum zu erwarten, welches zur Verherrlichung Gottes beiträgt (15,7 f.).

6.3.3. Bedeutungsdimensionen von Joh 15,1–8 nach der intertextuellen Lektüre Liest man Joh 15,1–8 im Vergleich mit verschiedenen Texten aus dem Jesajabuch, so fällt die im johanneischen Text enthaltene Heilszusage als Liebeserklärung Gottes an seinen Sohn, zu dem die Jüngerinnen und Jünger als Reben gehören, besonders auf. Da Jesus selbst die Position des Weinbergs einnimmt, ist die Frage, wie Gott als Weingärtner zu seinem Weinberg steht, bereits von vorneherein entschieden. Die Seinen werden als fruchtbringende, bereits gereinigte Mitglieder der Heilsgemeinschaft angesprochen (15,3–5), während die – notwendige – Reinigung nur denen gilt, die sich außerhalb dieser Glaubensgemeinschaft bewegen (15,2.6). Von den Seinen fordert Jesus also nur das, was sie sowieso schon sind: bleibende Verbundenheit mit Jesus (15,4). Wie jedoch konkret die Frucht dieses Bleibens aussehen wird oder soll, bleibt in Joh 15,1–8 offen und erschließt sich auch nach der intertextuellen Lektüre mit den ausgewählten alttestamentlichen Stellen nicht, die sowohl die Gottesverehrung selbst als auch die Erfüllung von Gottes Geboten insgesamt als reiche bzw. fehlende Frucht des Weinbergs beklagen oder loben. Mit Blick auf die Frage nach der Bedeutung der Früchte ist im Johannesevangelium ein Vergleich mit Joh 12,20–33 weiterführend. Das Sterben des Weizenkorns hat gemäß einem überraschenden, über die synoptischen Bezüge hinausgehenden Hinweis in 12,24 zur Folge, dass es nicht allein bleibt, sondern – offensichtlich – eine größere Gemeinschaft ermöglicht. Da Jesus mit dem Bild vom Weizenkorn zunächst seinen eigenen Tod deutet, bestätigt Joh 12,32 die dargelegte Deutung der Metapher vom Weizenkorn mit Blick auf den Tod Jesu, der ermöglicht, dass er „alle Menschen zu sich ziehen wird“. Das Sterben Jesu ist der Ausgangspunkt für eine alle Menschen umfassende Glaubensgemeinschaft (vgl. auch Joh 10,14–18). Von den zur Nachfolge aufgeforderten Jüngern, die als Beauftragte Jesu nach seinem Vorbild ebenfalls ihr Leben einsetzen sollen (12,25 f.) wird entsprechend eine vergleichbare Frucht erwartet: ein Zuwachs bei der Nachfolgegemeinschaft (12,20–22; vgl. auch Joh 4,35–38; 17,18–20). Explizit gefordert bzw. vorausgesetzt wird jedoch auch in Joh 12,25 f. nur, dass die

6.4. Das Liebesgebot als Inhalt der Sendung der Seinen

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Seinen stets in der Nähe Jesu bleiben sollen bzw. bleiben werden. Dafür wird Gott schließlich die treuen Nachfolgenden ehren (12,25). Die bleibende Gemeinschaft zwischen Jesus und den Seinen, die ihnen geltende Liebe und Fürsorge Gottes sowie die Erwartung, dass sie Gott verehren und seine Gebote halten, sind Themen, welche sich als Subtext in Joh 15,1–8 wiederfinden und in Joh 15,9–17 – wie bereits in Joh 13 – explizit ausgeführt werden. Darüber hinaus zielt Joh 15,1–8 auf das Wachstum der Nachfolgegemeinschaft durch neue Mitglieder, wie die intratextuelle Lektüre vor allem mit Joh 4,35–38; 12,24–26 und 17,20–26 nahelegt. In der gegenseitigen Liebe, die auch bereit ist, das eigene Leben für die Freunde einzusetzen, folgen die Seinen als Glaubensgemeinschaft Jesus treu nach (13,13–16). Sie bilden damit zugleich einen Ort der bleibenden Anwesenheit der Liebe Gottes und Jesu in der Welt, wodurch sie in der Welt als Jesu Jüngerinnen und Jünger erkennbar sind (13,20.34 f.). Indem sie auf diese Weise die Liebe Gottes, die in Jesus Mensch wurde, bezeugen, repräsentieren sie Gott und Jesus in der Welt und tragen dazu bei, dass andere Menschen das Heil finden und zur Glaubensgemeinschaft hinzukommen (4,35– 38; 12,24–26; 13,20.34 f.; 15,1–17; 17,20). Wenn Jesus die Seinen beauftragt zu lieben, gibt er ihnen ein Gebot an die Hand, das ihr Leben umfassend in allen Beziehungen prägt und durch das sie zugleich die Sendung Jesu weiterführen, Gottes Liebe in der Welt offenbar zu machen.

6.4. Das Liebesgebot als Inhalt der Sendung der Seinen In Joh 15,9–17 wird das Gebot der gegenseitigen Liebe (vgl. 13,34 f.) erneut aufgenommen und mit einem missionstheologischen Impetus erläutert. Durch die Stichworte des Bleibens und der Fruchtbarkeit ist der Abschnitt Joh 15,9–17 eng verbunden mit der Bildrede vom Weinstock und den Reben in 15,1–8. Beide Texte weisen über das Liebesgebot hinausgehende thematische Bezüge zu Joh 13 auf. In der Bildrede vom Weinstock werden die Jünger Jesu als bereits gereinigte Reben angesprochen, das heißt ihre Reinigung wird vorausgesetzt und ist gemäß Joh 15,3 durch das Wort Jesu erfolgt, das er ihnen mitgeteilt hat. Dem entspricht die hier vorgelegte Interpretation von Joh 13,10 f.: Auch die Fußwaschung Jesu dient nicht der Reinigung, wie die Petrusfigur in Joh 13,9 fälschlicherweise annimmt. Die Reinheit der Jünger wird vielmehr auch in Joh 13,10 f. vorausgesetzt. Da Judas die Nachfolgegemeinschaft verlässt, erweist er sich als eine unreine Rebe, die keine Frucht bringt (vgl. 13,10 f.30; 15,4.6). Judas agiert als Medium des Teufels, der jedoch nur im eng begrenzten Rahmen dessen handeln kann, was Jesus zulässt oder sogar selbst beauftragt (13,1–3.18 f.27). Die Reinheit der Seinen und ihre damit verbundene bleibende Gemeinschaft mit Jesus und Gott werden durch das Handeln Gottes und Jesu ermöglicht und bilden

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Kapitel 6: Beauftragt zu lieben (Joh 15,1–17)

die Voraussetzung dafür, dass sie als seine Beauftragten treu seine Weisungen befolgen können und Frucht bringen. Reinheit ist in beiden Texten mit dem Bleiben bei Jesus verbunden, während Unreinheit und Untreue als Kehrseite erscheinen. In Joh 15,13 f. spricht Jesus die Seinen als seine geliebten Freunde an, denen er alles offenbart hat, was der Vater ihm mitgeteilt hat. Damit wird explizit, was in Joh 13 durch die Mahlgemeinschaft und durch den Kontext implizit ausgedrückt wurde: Jesus feiert das Mahl und wäscht die Füße der Seinen als Ausdruck dafür, dass er eine freundschaftliche, von Liebe und Offenheit geprägte Beziehung zu ihnen hat. Das Mahl in Joh 13 ist, vergleichbar mit Joh 12,1–8, ein Gemeinschaftsmahl im engen Freundeskreis, das von Vertrauen, Liebe und gegenseitiger Wertschätzung bestimmt wird, die durch die Fußsalbung der Jüngerin Maria gegenüber Jesus bzw. durch die Fußwaschung Jesu an den Seinen anschaulich und erfahrbar wird. In Joh 15,1–17 werden sowohl die Erwählung als auch die Beauftragung der Jüngerinnen und Jünger thematisiert (Joh 15,16 f.). Die Beziehung wird nun explizit als Liebesbeziehung im Freundeskreis qualifiziert. Jesus hat die Seinen erwählt und sie durch die Liebe, die er ihnen vermittelt hat, und durch das Wissen, das er ihnen offenbart hat, zu seinen Freundinnen und Freunden gemacht. Die Seinen erweisen sich als Freundinnen und Freunde Jesu, wenn sie den Auftrag Jesu ausführen und sich gegenseitig lieben, denn auf diese Weise bleiben sie in der Liebe Jesu und damit zugleich in der Liebe Gottes. Sie tragen dadurch – wie Jesus – zur Verherrlichung Gottes bei, indem sie durch ihr Bleiben in der Liebesgemeinschaft viel Frucht bringen und die Gemeinschaft vergrößern (vgl. Joh 4,31–38; 12,20–26; 13,34 f.; 17,20–26). Das Gebot der gegenseitigen Liebe erscheint in Joh 15,1–17 als zentraler Inhalt der Beauftragung der Seinen als Nachfolgegemeinschaft mit einer missionstheologischen Ausrichtung. Dem entspricht, dass Jesus in Joh 13 den Seinen mit der Fußwaschung gezeigt hat, wie sie Anteil bekommen an Jesus selbst, an seiner Liebe und an seiner Sendung (13,1.8.16.20). In der Aufforderung, nach seinem Vorbild Füße zu waschen bzw. zu handeln, hat Jesus die Seinen zugleich beauftragt, als seine Gesandte ihn und damit auch Gott in der Welt zu repräsentieren. Die Welt soll in der gegenseitigen Liebe der Nachfolgegemeinschaft  – auch nach Jesu Abschied aus der Welt – die Liebe Jesu und damit auch die Liebe Gottes bleibend erkennen und erfahren können. Wenn die Menschen Jesu Gesandte aufnehmen, dann nehmen sie in Übereinstimmung mit der antiken Botenvorstellung auch Jesus auf, der sie als seine Gesandte beauftragt hat, und in ihm zugleich Gott (Joh 13,20). Die Seinen sind als Nachfolgegemeinschaft Gesandte Jesu (Joh 13,16.20; 15,14.20.27), denen eines gemeinsam ist: die enge, von Liebe und Freundschaft geprägte Gemeinschaft und Verbundenheit mit Jesus. Durch die metaphorische Rede vom Weinstock wird die Gemeinschaft der Seinen beschrieben als eingebunden in die liebevoll-fürsorgliche Beziehung

6.4. Das Liebesgebot als Inhalt der Sendung der Seinen

367

zwischen dem Vater und dem Sohn. Johannes wählt mit der Metapher des Weinstocks ein im Judentum bekanntes Bild für das auserwählte Volk Gottes, wandelt es jedoch in christologischer und ekklesiologischer Perspektive für seinen eigenen Bedarf ab. Jesus selbst ist der von Gott geliebte Weinstock und die Seinen partizipieren durch ihre „Inexistenz“95 als Reben an der Liebesbeziehung zwischen Gott und Jesus. Sie sind von Jesus erwählt und beauftragt als seine vertrauten Freundinnen und Freunde, die – wie er selbst – gesandt sind zu lieben und so in ihren von der Liebe Jesu getragenen und bestimmten Worten und Taten die Liebe Gottes zur Welt zu bezeugen (vgl. Joh 3,16; 13,1; 17,23). Doch der Status und das Wirken der Seinen als Gesandte Jesu (13,16; 15,20) führt in der Welt nicht nur zur gastfreundlichen Aufnahme (13,20) und zur Annahme ihrer Verkündigung (15,20d; vgl. 15,27), sondern auch zur Verfolgung bis hin zur Todesgefahr (15,20; 16,2 f.). Sie teilen das Schicksal Jesu.96 Die Liebe impliziert auch die Bereitschaft zur Lebenshingabe, was in Joh 12,24–26 für die Seinen gefordert und in Joh 11,16 und 13,37 von einzelnen Jüngern bereits zugesagt wurde: So wie die Sendung Jesu dazu führt, dass er aus Liebe sein Leben für die Seinen gibt, um ihnen ewiges Leben zu schenken (Joh 10,17 f.; 12,32; 15,13), erfordert auch die Nachfolge Jesu, dass die Schülerinnen und Schüler Jesu bereit sind, ihr Leben einzusetzen und gegebenenfalls aus Liebe hinzugeben (11,16; 12,25 f.; 13,13–20; 15,13.20). Der Einsatz des eigenen Lebens im Martyrium führt jedoch nicht zu einem höheren Status in der Nachfolgegemeinschaft, wie die Rolle des Petrus im Vergleich mit der Zeugenschaft des anonymen Jüngers zeigt, der möglicherweise bis zu Jesu Wiederkehr in seiner Nähe bleibt (21,18–23). Die aus der Welt in die Nachfolge erwählten Kinder Gottes sind alle in gleicher Weise von Jesus beauftragt und gesandt. Sie bilden eine demokratisch strukturierte Gemeinschaft von Freundinnen und Freunden, die von gegenseitiger Liebe geprägt und von der zuvorkommenden Liebe Jesu getragen ist. Indem sie sich gegenseitig lieben, bleiben sie in der Liebe Jesu und Gottes und sind zugleich der Ort in der Welt, wo auch nach Jesu Abschied andere Menschen der heilvollen Liebe Gottes begegnen können.

 Schnelle, Evangelium, 266.  Auch in diesem Sinne lässt sich Joh 13,8 deuten. Die Vorstellung, dass Freunde ihr Schicksal miteinander teilen, ist bereits ein zentraler Aspekt der antiken Freundschaftskonzeption; vgl. Hock, Jesus, 199–206; Konstan, Friendship, 41 f.56–59; 95 96

Kapitel 7

Ergebnisse 7.1. Die Fußwaschungserzählung im Spiegel der Forschung Von Anfang an war die Deutung der Fußwaschungserzählung vielfältig, detailreich und uneinheitlich. Das zeigt sich nicht erst bei den griechischen und lateinischen Theologen der Alten Kirche, sondern bereits in der Handschriftenüberlieferung zu Joh 13,10. Die Fußwaschungserzählung mit ihren vielen Details lädt zur Interpretation ein und bietet angesichts der bildreichen Sprache, der Missverständnisse und der Repetition als typische Darstellungsmittel des vierten Evangelisten sowie der differenzierten intertextuellen Bezüge zur synoptischen Tradition der Jesusüberlieferung vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten, Schwerpunktsetzungen und Deutungsperspektiven an. Die Untersuchung zentraler Forschungspositionen der letzten hundert Jahre zeigt, dass die Fußwaschungserzählung bis heute ganz unterschiedlich ausgelegt wird. Dies gilt interessanterweise auch bei den Ansätzen, welche durch die gewählten Methoden oder das erkenntnisleitende Interesse miteinander verbunden sind. Die Positionierungen der Exegetinnen und Exegeten zur kulturellen Bedeutung der Fußwaschung in der Antike und zur johanneischen Christologie, Soteriologie und Ethik haben einen großen Einfluss auf die Interpretation von Joh 13. Die Hypothesen zur Entstehungsgeschichte des Johannesevangeliums und zur Situation der johanneischen Gemeinde, die Wahl des methodischen Zugriffs und sogar die Gliederung des Evangeliums wirken sich auf das Verständnis der Fußwaschung Jesu aus, auch wenn dies nicht immer gleich auf den ersten Blick erkennbar ist. Damit bestätigt die Forschungsgeschichte die Deutungsoffenheit der Fußwaschungserzählung, die vielfältige Rezeptionen zulässt. Bereits bei der Frage, welche kulturelle Bedeutung eine Fußwaschung zur Zeit Jesu haben konnte und ob die Fußwaschung Jesu im Rahmen der üblichen Praxis zu verorten ist oder etwas Besonderes darstellt, zeigt sich ein weites Bedeutungsspektrum. In der Regel wird die Fußwaschung als ein Dienst oder Sklavendienst verstanden, der primär der Reinigung dient. Zum Teil wird auch darauf verwiesen, dass im Rahmen von Gastfreundschaft und familiären Beziehungen einer Fußwaschung die Bedeutung eines Ehr- und Liebeserweises zukommt. Mit Blick auf die Deutung der Fußwaschung Jesu werden vor allem die Aspekte

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Kapitel 7: Ergebnisse

des Dienstes oder Sklavendienstes, der Reinigung und der gastfreundlichen oder liebevollen Zuwendung berücksichtigt. Sakramentale Interpretationsmodelle setzen die Fußwaschung in Beziehung zur Taufe oder zum Abendmahl oder bewerten sie als eigenes Sakrament. Als Forschungskonsens lässt sich feststellen, dass die Abschnitte Joh 13,6–11 und 13,12–20 als zwei Deutungen der Fußwaschung beurteilt werden, die einander sachlich bzw. überlieferungs- und redaktionsgeschichtlich zugeordnet oder auch entgegengesetzt werden. In der neueren Forschung wird Joh 13,6–11 oft soteriologisch interpretiert, wobei die Fußwaschung vor allem als Ausdruck der Liebe und des Dienstes Jesu verstanden und als Vorabbildung des Kreuzestodes gedeutet wird. Die zeichenhafte Handlung symbolisiere das Heil, das Jesus – zum Beispiel durch die Offenbarung des Wortes, durch die Liebe, durch den Dienst seiner Hingabe oder durch die Reinigung von Sünden (13,10 f.) – ermögliche. Joh 13,12–20 wird als zweite Deutung abgegrenzt und in der Regel ethisch, manchmal auch ekklesiologisch interpretiert und als Ergänzung, Fortführung oder Widerspruch zur soteriologischen Deutung betrachtet. Ausgehend von der Annahme, dass die Fußwaschung den Kreuzestod Jesu abbilde und soteriologisch zu verstehen sei, ist eine Interpretation von 13,6–11 und 13,12–20 als in sich stimmiger Abschnitt schwierig, da die Fußwaschung zunächst mit Verweis auf ein einmaliges Heilsereignis und im Anschluss als Vorbild zur Nachahmung gedeutet wird. Die sich ergebenden Fragen werden häufig mit Hilfe von Literarkritik oder Relecture-Modellen bearbeitet. Dass in Joh 13,12–20 das Handeln der Jünger thematisiert wird, steht aufgrund des Nachahmungs- oder Wiederholungsauftrags in 13,14 f. außer Frage. Umstritten ist jedoch, was die Jüngerinnen und Jünger konkret nachahmen sollen und wie dies im Kontext der ersten Deutung in 13,6–11 zu verstehen ist: Fordert Jesus von seinen Jüngern, dass sie selbst Füße waschen sollen – als Initiationsritual für neue Gemeindeglieder, als Bußritual, als Demutsritual für Leitungspersonen, als Liebeserweis oder Willkommensgeste usw. – oder sollen sie Jesu Aufforderung im übertragenen Sinn verstehen und Demut üben, Liebe leben, Sünden vergeben, bereit sein für ein Martyrium oder durch ihre Liebe und/oder ein anderes Handeln Gott verkündigen? Als weitere Schwierigkeit bei der Interpretation von Joh 13,12–20 hat die Aufarbeitung der Forschungspositionen ergeben, dass die Verse 13,16 und 13,20 bzw. zum Teil sogar 13,18–20 oft nicht als stimmige Bestandteile des Textes interpretiert werden können. Insgesamt hat die Forschungsgeschichte gezeigt, dass zwei grundlegende Annahmen als aktueller Forschungskonsens betrachtet werden können: Die Fußwaschung wird in kultureller Hinsicht grundlegend als Dienst oder Sklavendienst mit dem Ziel der Reinigung betrachtet, die in der Antike in unterschiedlichen Situationen und Beziehungskonstellationen durchgeführt wurde und die in Joh 13 mit symbolischen Bedeutungen aufgeladen wird. Joh 13,6–20 wird als Erläuterung der Fußwaschung Jesu betrachtet, welche in zwei Abschnitte unter-

7.2. Zur Vorgehensweise

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gliedert wird (13,6–11.12–20), die einander als soteriologische und als ethischekklesiologische Interpretation gegenübergestellt oder zugeordnet werden. Abgesehen davon ergibt der Forschungsüberblick zur Interpretation der johanneischen Fußwaschungserzählung ein sehr vielfältiges und komplexes Bild.

7.2. Zur Vorgehensweise Die vorliegende Studie ist unter Voraussetzung des Kurztextes in Joh 13,10 von der Einheitlichkeit des Johannesevangeliums incl. Kapitel 21 ausgegangen, ohne damit eine längere oder stufenweise Entstehungsgeschichte des Textes grundsätzlich auszuschließen. Angesichts der im Text vorhandenen Perspektivwechsel oder Spannungen wurde nicht auf Brüche geschlossen bzw. auf literarkritische Operationen ausgewichen, sondern vielmehr versucht, die sinnstiftende und textpragmatische Funktion der Textsignale wahrzunehmen und für das Verständnis zu berücksichtigen. Auf diese Weise konnten im Johannesevangelium angelegte Sinnlinien und Differenzierungen wahrgenommen, respektiert und bei der Interpretation berücksichtigt werden. Aus narratologischen und inhaltlichen Gesichtspunkten hat sich eine Beschränkung auf Joh 13,1–20 als nicht zielführend erwiesen, da vor allem Joh 13,31–38 deutliche Bezüge zu 13,1–20 aufweist. Narratologisch ist sogar der gesamte Abschnitt Joh 13–17 als eine einzige Szene zu betrachten, die außerdem unter anderem durch die Salbungserzählung in 12,1–11 und durch die Liebessemantik eng mit Joh 11–12 verbunden ist. Mit Hilfe narratologischer und intertextueller Methodik wurde Joh 13,1–38 deshalb im Kontext der Kapitel Joh 11– 17 analysiert, in denen die Liebe zwischen Jesus, den Seinen und Gott sowie die Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger nach Jesu Abschied in hervorgehobener Weise thematisiert werden. Ein Fokus lag auf den Texten, die besondere Bezüge zur Fußwaschungserzählung aufweisen. Deshalb wurden Joh 12,1–11 und Joh 15,1–17 ausführlicher analysiert und Joh 12,24–26 sowie Joh 15,18–16,4a ebenfalls berücksichtigt. Bei der intertextuellen Analyse wurde in zwei Schritten vorgegangen, da zunächst stets die intratextuelle Ebene wahrgenommen wurde, bevor synoptische Bezugstexte gelesen und mit Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede intertextuell für die Sinnbildung ausgewertet wurden. Auf diese Weise konnten weitere Bedeutungsdimensionen des johanneischen Textes in produktions- und rezeptionsorientierter intertextueller Perspektive erschlossen werden, ohne dass unreflektiert Erzählaspekte aus den synoptischen Evangelien in das Johannesevangelium hineingelesen wurden. Bei der intertextuellen Lektüre hat sich gezeigt, dass das Johannesevangelium eine besondere Nähe zur lukanischen Darstellung aufweist. Vor allem die inter-

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Kapitel 7: Ergebnisse

textuelle Lektüre von Joh 13,1–38 mit der lukanischen Erzählung vom letzten Mahl Jesu in Lk 22,14–38, einem für die lukanische Ekklesiologie zentralen Text, war gewinnbringend und aufschlussreich. Als wichtiges Ergebnis ist festzuhalten, dass Johannes trotz seiner Nähe zu Lukas eine differierende Bezugnahme auf dessen Erzählung des letzten Mahls Jesu erkennen lässt und Aspekte aufgreift, die sich abweichend von der lukanischen Darstellung vor allem im Markus- und auch im Matthäusevangelium finden. In der johanneischen Darstellung des letzten Mahls Jesu lassen sich zwar bestimmte szenische Anordnungen und Themen aus Lk 22,14–38 wiederfinden, die Besonderheiten der lukanischen Apostelkonzeption werden jedoch im Johannesevangelium gerade nicht aufgegriffen bzw. erneut korrigiert und weitergeführt. Die johanneischen Mahlgespräche thematisieren zwar ebenfalls die Verantwortung der Jüngerinnen und Jünger nach Jesu Abschied (vgl. Lk 22,24–38), doch statt eines Rangstreits um die größere Ehre wird die gegenseitige Liebe und die bleibende Gemeinschaft mit Gott und Jesus in den Fokus gerückt, der eine ekklesiologische und missionstheologische Bedeutung zukommt (13,34 f.; 14,21–23; 15,1–17; 17,20–26). Als ein weiteres Beispiel für eine differierende Aufnahme von ausgewählten Elementen des Lukasevangeliums ist die Salbungserzählung zu nennen, die sich in Mk 14,3–9 par. Mt 26,6–13 diff. Lk 7,36–50 findet. Während Joh 12,1–8 bzgl. der Erzählstruktur nahe bei Markus und Matthäus bleibt, greift Johannes von Lukas kreativ den Aspekt der Fußsalbung verbunden mit der Thematik der Liebe auf. Die Salbung der Füße Jesu durch Maria, die unmittelbar vor dem Einzug Jesu in Jerusalem stattfindet, bereitet Jesus auf seine bevorstehende Passion vor und erscheint wie eine Vorabbildung der Fußwaschung Jesu. Auch wenn es nicht das Ziel oder Ergebnis dieser Studie sein kann, eine Kenntnis oder Benutzung des Matthäusevangeliums durch Johannes nachzuweisen, so konnte doch die intertextuelle Lektüre zumindest in rezeptionsorientierter Perspektive Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Lukas und Johannes deutlicher erhellen, indem mit Blick auf die Charakterisierung der Jüngerinnen und Jünger auch die Sendungsvorstellungen bei Matthäus berücksichtigt wurden. Das in der johanneischen Fußwaschungserzählung angelegte Sinnpotential wurde dadurch bereichert und vertieft und zugleich gegenüber den synoptischen Texten, insbesondere gegenüber Lukas profiliert. In dieser Hinsicht ist es sicher lohnend, intertextuelle Lektüren, die in der vorliegenden Arbeit nur in einem sehr begrenzten Umfang möglich waren, in weiteren Studien aufzugreifen, zu überprüfen und zu vertiefen. Im Ergebnis kann eine Interpretation der johanneischen Fußwaschungserzählung vorgelegt werden, die zeigt, wie sich Joh 13 an die von der Liebessemantik bereits geprägten Kapitel 11 und 12 anschließt, insbesondere an Joh 12,1–11, und wie die zeichenhafte Handlung der Fußwaschung in Joh 13,4 f. die Gespräche und Ausführungen Jesu bis hin zu seinem Gebet thematisch prägt und bestimmt (13,1–17,26). Da die Fußwaschungserzählung sowohl mit Be-

7.3. Fußwaschungen in der antiken Literatur

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zug auf die Sendung Jesu als auch mit Blick auf das Nachfolgeverständnis und die Sendung der Jüngerinnen und Jünger christologisch und ekklesiologisch relevant ist, ergeben sich intratextuell auch zahlreiche Bezüge zu weiteren, für die johanneische Ekklesiologie relevanten Texten bis hin zu Joh 21, die in der vorliegenden Studie jedoch kaum berücksichtigt werden konnten.

7.3. Fußwaschungen in der antiken Literatur Zur Zeit der Entstehung der neutestamentlichen Schriften konnte eine Fußwaschung im Mittelmeerraum auf unterschiedliche Weise verstanden und konnotiert werden. Eine Durchsicht zahlreicher Quellen von Homer bis zum Neuplatoniker Jamblich und den rabbinischen Schriften unter Berücksichtigung der Sekundärliteratur hat gezeigt, dass es sich bei der Fußwaschung um ein kulturelles Phänomen handelt, dessen Deutungsspektrum in der Antike über die Jahrhunderte und Kulturen hinweg weitgehend konstant geblieben ist. Von daher wurden die Belegstellen nicht chronologisch sortiert, sondern thematisch angeordnet und verglichen. So konnten unterschiedliche Bedeutungsaspekte herausgearbeitet werden, die in der Literatur mit einer Fußwaschung in bestimmten Situationen und Beziehungskonstellationen verbunden werden. Dafür war es nötig, die jeweiligen Belegstellen in ihrem größeren literarischen Kontext wahrzunehmen. Als wichtigstes Ergebnis ist festzuhalten, dass die Fußwaschung zur alltäglichen Körperhygiene gehörte, als solche aber in der Literatur nur selten thematisiert wird. Die Füße, die dem Staub ausgesetzt waren, mussten regelmäßig gereinigt werden, vor allem nach dem Betreten eines Hauses, bevor man sich zu Tisch legte oder zu Bett ging. Eine Fußwaschung als Bestandteil der täglichen Körperhygiene war so selbstverständlich wie heute die Zahnreinigung. In der Regel haben die Menschen ihre Füße wohl selbst gewaschen, in wohlhabenden Haushalten gehörte die Fußwaschung wahrscheinlich zu den Pflichten der Sklavinnen und Sklaven. Auch im Kult, insbesondere vor dem Betreten eines Heiligtums, war die Fußwaschung eine selbstverständliche Pflicht. Die als Forschungskonsens verbreitete Annahme, die Fußwaschung sei primär als Sklavendienst betrachtet worden, konnte durch die Analyse der Texte nicht erhärtet werden. Es handelt sich vielmehr grundlegender um einen selbstverständlichen Teil der Körperhygiene, der unter bestimmten Umständen auch von Sklavinnen und Sklaven ausgeführt werden konnte. Eine Fußwaschung diente jedoch nicht nur der Reinigung, sie war darüber hinaus auch als wohltuende Handlung geschätzt. Wenn man sie nicht selbst durchführte, war sie mit einer Berührung durch eine andere Person verbunden, die als angenehm, je nach Situation auch als unangenehm empfunden werden

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Kapitel 7: Ergebnisse

konnte. Dabei handelt es sich schon eher um Bedeutungsaspekte, die in der Literatur Aufmerksamkeit finden. Im Bereich der Gastfreundschaft gehörte es zu den Pflichten eines guten Hausherrn bzw. einer Hausherrin, den Gästen je nach Situation ein Bad oder zumindest eine Fuß- oder Handwaschung zu ermöglichen. Aus den Texten gehen die Subjekte einer Fußwaschung jedoch oft nicht eindeutig hervor. So lässt sich nicht immer entscheiden, ob die Gäste sich selbst waschen oder ob Knechte oder Mägde die Waschungen durchgeführt haben. Je angesehener ein Gast ist, desto mehr Aufwand betreibt eine Gastgeberin oder ein Gastgeber mit der Fußwaschung. Eine vom Hausvorstand selbst oder von Familienangehörigen durchgeführte Fußwaschung oder eine besonders komfortable Fußwaschung sind Möglichkeiten, dem Gast eine besondere Ehre zu erweisen. Zum Teil wird auch erzählt, dass dem Wasser bestimmte Essenzen hinzugefügt und die Waschung durch Salbungen ergänzt werden. In engen und vertrauten Beziehungen kann die Fußwaschung ein Ausdruck von Liebe bzw. Verehrung sein. Das Waschen der Füße eines anderen Menschen ist nicht mit einer Abwertung der Person verbunden, welche die Fußwaschung durchführt, sondern sie belegt vielmehr deren Tugendhaftigkeit. In vertrauten Beziehungen wird die Fußwaschung weder als erniedrigender (Sklaven-)Dienst konnotiert noch als sexuell zweideutige Handlung, da sie in kulturell fest definierten, häufig von Liebe und Vertrauen geprägten Beziehungen stattfindet. Im Bereich der Familie gehört die Fußwaschung zu den Pflichten der Kinder, die ihren Eltern dadurch eine Ehre und ihre Liebe erweisen, zum Beispiel wenn diese nach Hause kommen oder indem sie ihre (altgeworden) Eltern versorgen, wozu auch das Waschen und Kleiden gehören. In intimen Beziehungen hat die Fußwaschung erotische Konnotationen, ist sie doch mit einer Berührung verbunden und dient der Vorbereitung auf das Schlafen. Wenn es der Ehefrau oder Geliebten vorbehalten ist, für ihren Mann das Bett zu richten und die Füße zu waschen, so ist die Fußwaschung als ein Liebeserweis zu betrachten, der – wahrscheinlich für beide – angenehm und erotisch zugleich ist. Bei der Beschreibung von Liebesbeziehungen können sprachlich sowohl Sklaventerminologie als auch die Fußwaschung als Metaphern genutzt werden, um den Wunsch nach intimer Nähe und Zusammengehörigkeit auszudrücken. Offensichtlich konnten nicht nur Eltern, sondern auch Lehrer als Bezugs- und Autoritätspersonen erwarten, dass ihnen von ihren Schülern – als Zeichen der Verehrung – die Füße gewaschen wurden. Nur wenn die Fußwaschung erzwungen wird und sie jemand unfreiwillig durchführen muss, ist die Fußwaschung in der Literatur Ausdruck von Erniedrigung und Demütigung. Sogar dem Empfänger einer Fußwaschung kann diese unangenehm sein, wenn sie als unpassend empfunden wird oder wenn die Waschenden dem Adressaten nicht den nötigen Respekt entgegenbringen.

7.3. Fußwaschungen in der antiken Literatur

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Wenn Sklaven oder Sklavinnen im Rahmen ihrer Arbeit die Füße ihrer Herren waschen müssen, ist in Verbindung mit der Berührung und der oft intimen Situation häufig auch die sexuelle Verfügbarkeit in den Texten nahegelegt. Im übertragenen Sinn kann eine Fußwaschung Ausdruck von körperlicher oder moralischer Reinheit, von Tugendhaftigkeit, Liebe und Verehrung sein sowie die Vorbereitung für etwas symbolisieren. Angesichts der zahlreichen Konnotationen, die sich in der Antike mit einer Fußwaschung verbinden konnten, ist es wichtig, auf den jeweiligen situativen bzw. literarischen Kontext zu achten. Dabei ist es nicht immer möglich, der Fußwaschung eine einzelne Bedeutung zuzuordnen, da es für eine Fußwaschung typisch ist, dass sie verschiedene Bedeutungsaspekte anklingen lassen kann. Als wichtige Konnotationen haben sich bei der Analyse der ausgewählten Texte die Reinigung, ein gewisser Komfortaspekt, die Wertschätzung und die Berührung herauskristallisiert. Dabei kann die Reinigung mit Vorbereitung und ethischer Reinheit verbunden werden, während die Betonung der Wertschätzung oder der Berührung oft auf enge, zum Teil auch intime Beziehungen verweist. Die bei der Interpretation von Joh 13 häufig vorausgesetzte Annahme, dass Fußwaschung zunächst einmal grundlegend als Sklavendienst zu betrachten sei, konnte durch die Analyse der Texte zur Fußwaschung nicht bestätigt werden. Dass eine Fußwaschung auch zu den Aufgaben von Sklavinnen und Sklaven gehörte, ist zwar eine gesetzte Tatsache, spielt in den Texten jedoch nur selten eine Rolle. Das heißt, wenn eine Fußwaschung als Sklavendienst erkannt werden soll, muss dies vom Text entsprechend formuliert werden. Auf diesem kulturellen Hintergrund ergeben sich wichtige Einsichten für das Verständnis der Fußwaschung Jesu in Joh 13. Die Fußwaschung Jesu, die explizit während der Mahlzeit stattfindet, dient nicht der Reinigung, da sich Jesus und seine Jüngerinnen und Jünger nicht mit schmutzigen Füßen zu Tisch gelegt hätten. Es handelt sich entsprechend auch nicht um eine Fußwaschung im Rahmen der Gastfreundschaft. Eine solche Fußwaschung mit dem Ziel der Reinigung der Gäste und der Vorbereitung auf die Mahlzeit müsste vor dem Essen stattfinden, was jedoch nicht der Fall ist. Dem entspricht, dass auch die Beziehung zwischen Jesus und seinen Jüngern in Joh 13–17 nicht als die eines Gastgebers zu seinen Gästen beschrieben wird. Jesus liegt vielmehr in einer vertrauten Liebesgemeinschaft mit den Seinen bei Tisch und steht während der Mahlzeit auf, um als Herr und Lehrer seinen Schülern die Füße zu waschen. Hier liegt das Besondere der Handlung: Eigentlich müssten in Übereinstimmung mit den Rollenerwartungen die Schüler ihrem Lehrer die Füße waschen, um ihm so ihre Liebe und Verehrung zu erweisen. Die Salbung der Füße Jesu in Joh 12,1–11 durch Maria, die semantisch in Anlehnung an eine Fußwaschung erzählt wird, illustriert in vorbildlicher Weise, wie Maria als geliebte Schülerin Jesu keine Kosten und Mühe scheut, um dem Herrn und Lehrer Jesus ihre tiefe Liebe und Verehrung zu zeigen. Auch die

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Kapitel 7: Ergebnisse

Salbung Jesu durch Maria dient nicht der Reinigung oder Körperpflege, sondern ist Ausdruck der vertrauten Beziehung zwischen Maria und Jesus und ein Ehrbzw. Liebeserweis für Jesus. Zugleich wird sie symbolisch aufgeladen, da sie der Vorbereitung auf Jesu Beerdigung dient und unmittelbar vor dem Einzug Jesu in Jerusalem stattfindet. Maria ermöglicht durch ihre Salbung im Anschluss an die Auferweckung des Lazarus und unmittelbar vor der Erhöhung Jesu, dass sich der Wohlgeruch des Öls als ein Duft des Lebens im ganzen Haus verbreiten kann.

7.4. Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium Die Fußwaschung Jesu in Joh 13 dient nicht der Reinigung – weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn –, sondern sie ist in Übereinstimmung mit literarischen Darstellungen von Fußwaschungen in der antiken Literatur Ausdruck der vertraut-freundschaftlichen Beziehung zwischen Jesus und den Seinen. Die Fußwaschung wird als eine – kulturell als Liebes- und Ehrerweis konnotierte – zeichenhafte Handlung für die Sendung Jesu durch Gott dargestellt, deren Inhalt darin besteht, dass Jesus die Liebe Gottes zu den Menschen bringt (Joh 3,16; 13,1). Indem Jesus den Seinen durch die Fußwaschung respektive durch seine Sendung die Liebe Gottes vermittelt, lässt er sie umfassend an dem Heil teilhaben, das Inhalt und Ziel seiner Beauftragung ist. Dadurch konstituiert er eine Liebesgemeinschaft, in deren gegenseitiger Liebe sowohl die Liebe Jesu als auch die Liebe Gottes präsent sind und nach Jesu Abschied weiterhin präsent sein werden. Einerseits ermöglicht er damit den Seinen auch nach seiner Erhöhung eine bleibende (Liebes-)Beziehung mit sich und mit Gott. Andererseits wird die Liebesgemeinschaft der Seinen zu einem Ort, wo Gottes Liebe zur Welt auch nachösterlich in der Welt erfahrbar bleibt. Darin liegt die ekklesiologische Dimension der Fußwaschung. Denn indem Jesus die Jüngerinnen und Jünger an seiner Liebe sowie der Liebe Gottes teilhaben lässt, werden sie zugleich hineingenommen in die Sendung Jesu. Nach dem nun unmittelbar bevorstehenden Abschied Jesu repräsentieren die Jüngerinnen und Jünger Jesus und Gott in der Welt, so dass gilt: „Amen, amen, ich sage euch: Wer aufnimmt irgendjemand, den ich senden werde, nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“ (Joh 13,20). Mit diesem grundlegenden Verständnis der Fußwaschungshandlung erschließt sich Joh 13,1–20 im Kontext von Joh 13–17 als kohärenter Text. In Joh 13–17 wird das Abschiedsmahl Jesu beschrieben. Es handelt sich um eine Mahlsituation im vertraut-freundschaftlichen Kreis, bei der die anwesenden Jünger als die von Jesus geliebten Seinen, als Schüler, als Kinder und als Freunde angesprochen werden, vor denen Jesus keine Geheimnisse hat und mit denen er auch seine Gefühle teilt. Die beim letzten Mahl anwesenden Jünger re-

7.4. Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium

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präsentieren die gesamte Nachfolgegemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu. Sie liegen gemeinsam zu Tisch. Jesus steht vom Mahl auf und legt sich danach wieder zu Tisch. Damit ist vorausgesetzt, dass sowohl Jesus als auch die Jünger als Vorbereitung auf die Mahlzeit ihre Füße gewaschen haben, so dass die Fußwaschung nicht der Reinigung dient und auch keine Begrüßungshandlung im Rahmen der Gastfreundschaft darstellt. Die Fußwaschung ist vielmehr Ausdruck der freundschaftlich-vertrauten Beziehung zwischen Jesus und den Seinen. Jesus agiert gegenüber seinen Jüngern nicht als Gastgeber oder Hausherr, sondern als Herr und Lehrer seiner Schüler. Die Situation ist vergleichbar mit Joh 12,1–11, wo ebenfalls eine Mahlzeit im vertraut-familiären Kreis bei den bethanischen Geschwistern stattfindet. Maria salbt Jesus mit einem kostbaren Öl die Füße und verleiht dadurch ihrer Liebe zu Jesus Ausdruck. Die Handlung wird im Rahmen der johanneischen Erzählung auf differenzierte Weise gedeutet und symbolisch aufgeladen. Von Jesus sowie dem Erzähler wird Maria gegen Vorwürfe der Verschwendung verteidigt. Jesus deutet die Handlung im Angesicht seines bevorstehenden Todes als eine Salbung, die nicht im Widerspruch zur Armenfürsorge steht, da Jesu Abschied eine einmalige Situation schafft, während die Armen jederzeit versorgt werden können und offensichtlich auch selbstverständlich versorgt werden (12,8; vgl. 13,29b). Durch die Salbung Marias, die nach der Auferstehung des Lazarus stattfindet, kann sich der Wohlgeruch des Öls als ein Duft des Lebens verbreiten (12,3; vgl. 11,39). Außerdem findet die Salbung unmittelbar vor dem Einzug in Jerusalem statt, wo Jesus als verheißener König Israels empfangen wird (12,12–19). Da die Fußwaschungserzählung in Joh 13 mit Blick auf Situation und Handlung in auffallender Analogie zu Joh 12,1–11 erzählt wird, legt sich narratologisch im Sinne des primacy effects nahe, auch die Fußwaschung als Ausdruck einer Liebesbeziehung zwischen Jesus und den Seinen zu interpretieren, die wie ein johanneisches Zeichen weiterführend gedeutet wird. Durch die Gesprächsbeiträge in Joh 13,7 sowie 13,12 f. wird die vertrautfreundschaftliche Beziehung zwischen Jesus und den Seinen mit Blick auf die Beziehung des Herrn und Lehrers Jesu zu seinen Schülern konkretisiert. Wenn ein Schüler seinem Lehrer die Füße wäscht, so ist dies Ausdruck von Liebe und Wertschätzung gegenüber dem Lehrer. Indem der Lehrer diese Fußwaschung annimmt, erweist dieser seinerseits einem Schüler oder einer Schülerin seine Liebe und bestätigt die vertrauensvolle Beziehung.1 Weder Unterwürfigkeit noch Dienstbarkeit noch sexuelle Verfügbarkeit spielen bei dieser Form der Fußwaschung eine Rolle, die deshalb auch jüdischen Schülern erlaubt ist, wenn sie als jüdische Schüler erkennbar sind und nicht mit Sklaven verwechselt werden 1  Vgl. bKet 96a mit Verweis auf Hiob 6,14 unter Verwendung von Freundschaftsterminologie; vgl. auch jPea 15c,41–46 mit Blick auf verschiedene Beziehungskonstellationen und Rollenerwartungen.

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Kapitel 7: Ergebnisse

können. In Joh 13 handelt es sich explizit um eine Situation, in der eine Fußwaschung der Schülerinnen und Schüler gegenüber ihrem Lehrer Jesus einen angemessenen Ausdruck ihrer Liebe und ihrer Verehrung darstellen würde. Es ist jedoch ungewöhnlich, dass der Lehrer seinen Schülern die Füße wäscht. Eben darin liegt das Besondere der Fußwaschungserzählung, das in den sich anschließenden Gesprächen weiter erläutert wird. Damit erschließt sich auch der Protest des Petrus (13,6): Jesus verstößt hier gegen die Rollenerwartungen, denn eigentlich müssten die Schüler Jesus als ihrem Lehrer die Füße waschen. Da es auch eine Ehre für den Schüler ist, wenn er dem Lehrer diese Ehre erweisen darf (vgl. jPea 15c,41–46), hätte vielleicht Petrus seiner Beziehung und Treue zu Jesus gerne auf diese Weise Ausdruck verliehen, anstatt eine Handlung an sich vollziehen zu lassen, die den kulturellen Rollenmustern entgegensteht und die Petrus deshalb völlig berechtigt als unpassend empfunden haben muss.2 Im ersten Gesprächsgang mit Petrus (13,6–11) werden grundlegende Aspekte zum Verständnis der Fußwaschung geklärt. Jesus als Herr wäscht seinen Schülern die Füße (13,6). Die Handlung ist deutungsbedürftig (13,7). Die Handlung ist heilsrelevant und führt zur Teilhabe an Jesus (13,8). Die Handlung Jesu dient nicht der Reinigung, weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn (13,9–11). Das Missverständnis des Petrus in 13,9–11 klärt, dass die Fußwaschung Jesu nicht auf eine im übertragenen Sinn zu verstehende Reinigung der Jünger zielt, sondern deren Reinheit auch im übertragenen Sinn vorausgesetzt wird. Indem Petrus eine Teilwaschung von Kopf, Händen und Füßen fordert, versteht er die Fußwaschung als Reinigungshandlung und fordert eine umfassendere Reinigung. Jesus wechselt in seiner Antwort zu einer übertragenen Bedeutung: Er verweist darauf, dass alle Jünger schon rein sind, mit Ausnahme von Judas (13,10 f.). Diesem hat Jesus zwar auch die Füße gewaschen, doch die Fußwaschung dient nicht der Reinigung und ändert deshalb nichts an der Unreinheit des Judas.

Die Fußwaschung wird in Joh 13,6–11 nicht mit dem Kreuzestod Jesu in Verbindung gebracht. Die Liebe, die Jesus den Seinen im Rahmen seiner Sendung und im Auftrag Gottes vermittelt, findet zwar im Tod Jesu ihren besonderen Ausdruck (15,13), umfasst jedoch gemäß 13,1 die gesamte Sendung Jesu und reicht über die Kreuzigung hinaus bis zur Parusie. Die Fußwaschung ist Ausdruck der Sendung Jesu, sie illustriert, was Jesus den Seinen vermittelt: seine eigene Liebe und darin die Liebe Gottes. Der Hinweis Jesu an Petrus auf das „spätere“ Verstehen des Petrus in Joh 13,7 zeigt die Deutungsbedürftigkeit der Handlung und zugleich die Bedeutung, die Jesus mit dieser Lektion verbindet. Alle sollen die Bedeutung der Fußwaschung verstehen (13,12), da mit ihr ein Auftrag an die Seinen verbunden ist (13,14 f.), 2 Dass eine Fußwaschung abgelehnt wird, wenn sie als unpassend empfunden wird, ist bereits bei Homer belegt. Odysseus lässt nicht zu, dass ihm von den Sklavinnen als Vorbereitung auf die Nachtruhe die Füße gewaschen werden, weil ihm die Berührung angesichts ihres herablassenden und entwürdigenden Verhaltens unangenehm wäre; vgl. Hom.Od. 19,341–348.372–378.

7.4. Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium

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der im Angesicht des Abschieds Jesu zentral ist. Denn wenn Jesus nicht mehr in der Welt ist, gewinnt die Präsenz der Jüngerinnen und Jünger in der Welt als Gesandte Jesu und Gottes eine wichtige Bedeutung (13,16.20; 15,20; 17,21–23). Sowohl inhaltlich als auch narratologisch entspricht der Verweis auf das spätere Verstehen in 13,7 nicht Joh 2,22 und 12,16. An diesen beiden Stellen handelt es sich im Unterschied zu Joh 13,7 nicht um Figurenrede, sondern um Erzählerkommentare, die sich an die Lesenden richten und aus der retrospektiven, nachösterlichen Perspektive des Erzählers formuliert sind. Joh 2,22 und 12,16 geben explizit an, wann und unter welchen Voraussetzungen ein Verständnis möglich ist. Aus Joh 2,20 f. und 12,14 f. geht hervor, dass es sich um das Verständnis des Todes Jesu bzw. seines Königtums handelt, das erst nachösterlich möglich ist. Wenn der Erzähler des Johannesevangeliums deutlich machen will, dass sich eine nicht unmittelbar verständliche Aussage Jesu auf seinen Tod bezieht, nutzt er dazu die Möglichkeiten des Erzählerkommentars, um die Lesenden auf diese Bedeutung hinzuweisen (vgl. etwa 12,33). Die Fußwaschung Jesu in Joh 13 und der Hinweis auf das spätere Verstehen des Petrus in 13,7 erfüllen all diese Kriterien nicht. Auch wird eine Reinigung von Sünden durch die Fußwaschung in 13,10 f., die einen unmittelbaren Bezug zur Kreuzigung herstellen könnte, gerade abgelehnt.

Für das Verständnis von Joh 13,7–11 ist die Bedeutung der „Teilhabe an Jesus“ zentral. Nahegelegt werden sowohl durch den Kontext als auch durch die Bedeutungsdimensionen einer Fußwaschung die in 13,1 genannte Liebe Jesu zu den Seinen als Inhalt der Sendung Jesu. Mit dieser Liebe bringt Jesus den Seinen die Liebe Gottes und damit umfassend das Heil, das er selbst verkörpert. Hier liegt die soteriologische Dimension der Fußwaschung Jesu. Da die Fußwaschung als Ausdruck von Liebe in freundschaftlich-vertrauten Beziehungen gelten kann, wird mit ihr in Joh 13 auch der Beziehungsaspekt zwischen dem von Gott gesandten Jesus und den Seinen in den Fokus gerückt, eine Liebesgemeinschaft entsteht bzw. wird bestärkt. Daraus ergibt sich die ekklesiologische Bedeutung der Fußwaschung. Joh 13,12–20 schließt sich als weitere Erläuterung der Fußwaschungshandlung ohne inhaltliche Spannung an. Jesus als der Gesandte Gottes vermittelt den Seinen die Liebe Gottes und konstituiert auf diese Weise eine durch die Liebe Jesu verbundene Gemeinschaft. Die Seinen sollen von nun an wie Jesus Füße waschen, das heißt im übertragenen Sinn sich gegenseitig Liebe erweisen. Durch ihre Existenz als Liebesgemeinschaft haben sie Anteil an der Sendung Jesu, der die Liebe Gottes in die Welt gebracht hat. Dafür ist es wichtig, dass sie in enger Verbundenheit mit Jesus bleiben, so wie Schülerinnen und Schüler bei ihrem Lehrer, wie Sklavinnen und Sklaven bei ihrem Herrn und wie Gesandte bei ihrem Auftraggeber (13,16), denn nur durch diese enge Verbundenheit können sie Jesus repräsentieren. Als Gemeinschaft – mit Ausnahme von Judas, der zwar erwählt, aber nicht rein ist, – werden sie so zu Gesandten der Liebe Jesu und Gottes. Jeder, der die Jüngerinnen und Jünger Jesu aufnimmt, nimmt mit ihnen zugleich Jesus und Gott auf (13,20). Indem Jesus hier explizit die Botenvorstellung aufgreift,

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Kapitel 7: Ergebnisse

um die Beziehung zwischen Gott, ihm und den Seinen sowie den Menschen, die sie gastfreundlich aufnehmen, zu beschreiben, integriert Jesus alle Jüngerinnen und Jünger in seine eigene Sendung durch Gott. In Joh 13,34 f. wird die Fußwaschung mit dem Liebesgebot weiter interpretiert. Dies geschieht sowohl strukturell als auch inhaltlich in Bezug zu Joh 13,4–20, wobei eine besondere Nähe zwischen 13,14 f. und 13,34 f. feststellbar ist. Die vorbildliche und verpflichtende Handlung Jesu wird nun zu einem expliziten Gebot. Das Handeln Jesu ist sowohl verbindliche Norm als auch Ermöglichungsgrund. Jesus hat durch sein Handeln die Liebesgemeinschaft konstituiert und bleibt auch weiterhin in ihr präsent, wenn sie nun in der gegenseitigen Liebe ihre Fortsetzung und Bewährung finden soll. Die missionstheologische Dimension des Handelns der Seinen, die sich in Joh 13,16.20 bereits gezeigt hat, wird nun explizit: Die Seinen sollen durch ihre gegenseitige Liebe als Schülerinnen und Schüler ihres Lehrers und Herrn erkennbar sein. Gefordert und beauftragt sind nicht einzelne, namentlich bekannte Jüngerinnen und Jünger, sondern die Nachfolgegemeinschaft insgesamt. Die Liebe wird nicht nur zum Mittel der Verkündigung, sie wird vielmehr zum Medium der Präsenz der Liebe Jesu und darin auch der Liebe Gottes. Das Gebot der gegenseitigen Liebe erscheint in Joh 15,1–17 als zentraler Inhalt der Erwählung und Beauftragung Jesu, die sich an die Jüngerinnen und Jünger Jesu als Gemeinschaft, nicht als einzelne richtet, wie das Bild von den Reben am Weinstock illustriert. Dem entspricht, dass Jesus in Joh 13 die Teilhabe an seiner Sendung (13,1.8.16.20) mit der Verpflichtung verbunden hat, das nachzuahmen, was er in der Fußwaschung zeichenhaft vorgelebt hat (13,14 f.). Auf die Liebesgemeinschaft zielt auch das Gebot der geschwisterlichen Liebe (13,34 f.). Durch die Liebe Jesu, der mit seinem ganzen Leben die Liebe Gottes vermittelt, wird eine Liebesgemeinschaft zwischen Gott, Jesus und den Seinen ermöglicht, welche über den Tod Jesu hinaus Bestand hat und dazu führt, dass auch nach Jesu Auferstehung Gottes Liebe in der Welt präsent bleibt und weitere Menschen zu dieser Liebesgemeinschaft dazukommen können (14,20–23; 17,21– 23), bevor es in der Parusie zur endgültigen Gemeinschaft und Verherrlichung kommt (17,24–26). Diese weitreichenden, Zeit und Ewigkeit umfassenden Zusammenhänge hat Petrus nicht verstanden, als Jesus ihnen das Liebesgebot zum ersten Mal offenbart (13,34 f.). Offensichtlich meint Petrus, dass Jesus von ihm erwartet, er solle ihm jetzt unmittelbar auf seinem Weg folgen, auch wenn es ihn das Leben kostet (13,37). Doch während Jesus seinen bevorstehenden Weg ans Kreuz allein gehen muss, müssen die Seinen aufbrechen (14,31) in die Zeit nach Jesu Abschied, wo es ihre Aufgabe sein wird, Gottes Liebe in der Welt präsent zu halten (17,11–18). Dafür bereitet Jesus sie vor. Denn nach Ostern werden sie, wie Jesus jetzt, sowohl Aufnahme als auch Ablehnung und Hass erfahren, so dass sie in der nachösterlichen Zeit ihr Leben für ihren Glauben einsetzen müssen (15,20–16,4a). Petrus

7.5. Weitere Bedeutungsdimensionen nach der intertextuellen Lektüre

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wird die Erfahrung machen, dass er nach seinen Vorstellungen und aus eigener Kraft Jesus nicht in den Tod folgen kann (13,38). Aber später, mit Gottes Hilfe, wird Petrus diesen Weg gehen, wenn auch nicht ganz freiwillig (15,5; 21,18 f.). Petrus erweist sich im Johannesevangelium sowohl in seinem Missverstehen und Scheitern als auch in seiner Nachfolge und Beauftragung als ein typischer Jünger, als eine Rebe, die wie alle anderen auch vom Weinstock als Existenzgrundlage und Lebensquelle abhängig ist. Auch für die nach Jesu Auferstehung versammelten und von Jesus mit dem Geist begabten und erneut ausgesandten Jüngerinnen und Jünger gehört das Scheitern  – immer noch  – zur Nachfolge dazu. Die Seinen sind auch nach Ostern bleibend auf Jesu Hilfe angewiesen. Dies wird illustriert am Beispiel des Thomas, der bei der ersten Erscheinung des Auferstandenen nicht anwesend war. Die geistbegabten und ausgesandten Jüngerinnen und Jünger schaffen es nicht einmal, ohne Jesu erneute Hilfe Thomas als einen der ihren von Jesu Auferstehung zu überzeugen (20,21–29). Deshalb ist davon auszugehen, dass nach der Vorstellung des Johannesevangeliums die Jüngerinnen und Jünger Jesu auch nachösterlich weiterhin mit Missverständnissen und Zweifeln zu kämpfen haben. Sie sind deshalb bleibend auf den Beistand Jesu und des Parakleten angewiesen. Gerade deshalb sind die Erläuterungen Jesu beim letzten Mahl nicht nur für die Jüngerinnen und Jünger Jesu relevant, die ihm zu Lebzeiten nachgefolgt sind, sondern auch für alle nachösterlichen Gläubigen, die nicht sehen und doch glauben und die Jesus beim letzten Mahl bereits in seine Fürbitte einschließt (17,20).

7.5. Weitere Bedeutungsdimensionen nach der intertextuellen Lektüre Bei der intertextuellen Lektüre hat sich gezeigt, dass das Johannesevangelium eine erkennbare Nähe zur lukanischen Darstellung aufweist. Vor allem die intertextuelle Lektüre von Joh 13,1–38 mit Lk 22,14–38 eröffnet weitere Bedeutungsdimensionen, welche die Besonderheiten der johanneischen Fußwaschungserzählung sichtbar machen. Bei der jeweiligen Darstellung des letzten Mahls Jesu ist bei Johannes eine in wesentlichen Punkten abweichende Schwerpunktsetzung und weiterführende Darstellung erkennbar, so dass von einer differierenden intertextuellen Bezugnahme gesprochen werden kann. Die Gespräche des lukanischen Jesus mit seinen Aposteln beim letzten Mahl haben ebenfalls eine ekklesiologische Relevanz und münden in eine Aktualisierung der Aussendung der Zwölf durch Jesus (Lk 22,35–38). Sowohl im Lukasevangelium als auch im Johannesevangelium geht Jesus unmittelbar vor seinem Weg ans Kreuz beim letzten Mahl auf die Aussendung bzw. Beauftragung der Jünger ein. In beiden Evangelien sieht Jesus durch seinen Abschied eine veränderte Situation, die mit

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Kapitel 7: Ergebnisse

Lebensgefahr für die von ihm beauftragten Apostel bzw. Jüngerinnen und Jünger aufgrund der Hinrichtung Jesu als Verbrecher verbunden ist. Die hervorgehobene Rolle der zwölf Apostel als Repräsentanten Jesu im Lukasevangelium, die im Rahmen des letzten Mahls Jesu thematisiert wird, lässt die ekklesiologische Relevanz des Auftrags erkennen, den der johanneische Jesus ausgehend von der Fußwaschung der Nachfolgegemeinschaft insgesamt überträgt. Zu den Tischgesprächen im Lukasevangelium gehören der Rangstreit der Zwölf (Lk 22,23–27) sowie die Zusage von Ehrenplätzen und der Teilhabe an der Gottesherrschaft für die Apostel (Lk 22,28–30), eine erneute Aussendung der Zwölf und das Gespräch über die bevorstehenden Gefahren in der Nachfolge (Lk 22,31–38). In diesem Zusammenhang ist vor allem ein Blick auf die Charakterisierung des Petrus interessant. Die Information über die bevorstehenden Gefahren (Lk 22,31–34) geht im Lukasevangelium vor allem an Petrus, nur ihm wird die Fürbitte Jesu zugesagt und nur er bekommt den Auftrag, die anderen Apostel als seine Brüder zu stärken. Seine bevorstehende Verleugnung schränkt diese Sonderrolle nicht ein, sondern scheint sogar Voraussetzung für sein von Jesus bestärktes nachösterliches Auftreten zu sein. Im Johannesevangelium wird die nach Jesu Abschied veränderte Situation für die Seinen deutlich ausführlicher behandelt (Joh 13,31–17). Die Information über die Todesgefahr geht an alle anwesenden Mahlteilnehmer (Joh 15,18–16,4a), die durch Jesu Offenheit alle in gleicher Weise als seine Freunde bestätigt werden (Joh 15,15). Jesus betet für alle gegenwärtigen und zukünftigen Jüngerinnen und Jünger, nicht nur für Petrus, um Bewahrung angesichts der Gefahren in der Welt nach Jesu Abschied (Joh 17). Nicht Petrus, sondern der verheißene Paraklet sowie Jesus selbst durch seine Fürbitte werden sich darum kümmern, dass die Nachfolgegemeinschaft in aller Gefahr gestärkt bleibt und ihrer Zeugenfunktion auch in Zukunft nachkommen kann (v. a. Joh 13,16.20.34 f.; 15,20.26 f.; 17,20–23). Während Petrus im Lukasevangelium angesichts seines bevorstehenden Verrats in einem weitgehend intimen Gespräch eine gesonderte Beauftragung von Jesus erhält (Lk 22,31–34), kann der johanneische Petrus nicht einmal die Frage nach dem Verräter unmittelbar an Jesus herantragen, sondern ist auf die Vermittlung durch den hier eingeführten anonymen Jünger angewiesen, der auch den einzigen, wenn auch nur irdischen Ehrenplatz einnimmt (Joh 13,21–26; 21,20; diff. Lk 22,28–30). Der johanneische Petrus bekommt keine individuellen Beauftragungen oder Zusagen, außer derjenigen, dass er Jesus später in den Tod folgen werde (Joh 13,36–38; 21,18 f.). Die intertextuelle Lektüre erschließt unterschiedliche Konzeptionen, wie sich im Angesicht des Abschieds Jesu die Rolle der zwölf Apostel bzw. der Jüngerinnen und Jünger verändert. Lk 22,35–38 zeigt, dass für den lukanischen Jesus angesichts seines bevorstehenden Todes die Notwendigkeit besteht, die zuvor erfolgte Aussendung der Apostel, auf die Jesus explizit Bezug nimmt, zu konkretisieren (Lk 22,35; vgl. Lk 9,3 und v. a. 10,4). Auch im Johannesevangelium

7.5. Weitere Bedeutungsdimensionen nach der intertextuellen Lektüre

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kommt Jesus besonders in Joh 15,18–16,4a auf die Zeugenschaft der Seinen  – nicht nur des Zwölferkreises – zu sprechen. Diese wird bei Johannes jedoch nicht nur im negativen Sinn von Gefahr und Verfolgung, sondern auch im positiven Sinne der gelingenden Annahme und Gastfreundschaft in den Blick genommen (Joh 15,20; vgl. 13,16.20), auch wenn in Joh 15,18–16,4a vor allem die Gefährdungen thematisiert werden und der Abschnitt darin dem Fokus von Lk 22,35– 38 entspricht. Von hier aus ergeben sich zwei weitere Aspekte: Bemerkenswert ist erstens, dass in Joh 15,20 auf Joh 13,16 Bezug genommen wird. Damit wird die Fußwaschungserzählung mit den Gefährdungen und Verheißungen verknüpft, die Jesus den Jüngern für die Zeit nach seinem Weggang ankündigt. Die Seinen werden wie Jesus selbst das Wort Gottes verkündigen (Joh 15,20), so wie sie offensichtlich bereits in der Gegenwart von ihm Zeugnis ablegen (15,27). Die Fußwaschung Jesu wird damit erneut als Handlung bestätigt, in der Jesus seine Schülerinnen und Schüler stärkt und als Gesandte in seine Sendung integriert (13,16.20). Im Johannesevangelium konkretisiert sich jedoch sowohl die Sendung Jesu als auch die Sendung der Seinen nicht nur in Worten, sondern vor allem in der Liebe, die das gesamte Leben, Handeln und Reden umfasst und bestimmt (13,1.34 f.). Bemerkenswert ist zweitens, dass sich damit auch für Joh 15,1–17 als Konkretisierung der Beauftragung der Jünger im Rahmen der Abschiedsrede Jesu (vgl. Lk 22,35–38) und als Erläuterung zur Fußwaschungserzählung (v. a. Joh 13,1–20 und Joh 13,34 f.) eine weitere spezifische Bedeutungsdimension erschließt. Während im Lukasevangelium die Zwölf – die in Apg 1 sogar noch einmal vervollständigt werden – als Bild für Israel und damit repräsentativ für die Glaubensgemeinschaft in der Nachfolge Jesu stehen, wählt das Johannesevangelium in Joh 15,1–8 den Weinstock, der mit Jesus identifiziert wird und zu dem als Reben alle Jüngerinnen und Jünger zählen, die gegenwärtig und zukünftig in der Nachfolge und damit in der Liebesbeziehung zu Jesus und Gott stehen. Die Zugehörigkeit zur Nachfolgegemeinschaft ist im Johannesevangelium offensichtlich  – unmittelbar und ohne weitere Vorbedingung  – mit der Beauftragung verbunden, durch die Weitergabe der erfahrenen Liebe Gottes bzw. Jesu die Glaubensgemeinschaft bekannt und attraktiv zu machen für Menschen, die sich schließlich von Gott selbst anziehen lassen (Joh 13,34 f.; 15,9–17; 17,18–26). Es gibt bei Johannes im Unterschied zum lukanischen Doppelwerk auch keine Unterscheidung zwischen den zwölf Aposteln und den späteren Amtsträgerinnen und Amtsträgern in der Gemeinde, die sich nicht mehr Apostel nennen können, da sie keine Augenzeugen waren (diff. Apg 1,21–26). Im Johannesevangelium werden alle vorösterlichen und nachösterlichen Jüngerinnen und Jünger in gleicher Weise gesandt und beauftragt, die Liebe Jesu und Gottes in der Welt zu repräsentieren und so zur Vergrößerung der Glaubensgemeinschaft beizutragen. Im Lukasevangelium kommt dem Zwölferkreis und von diesen

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Kapitel 7: Ergebnisse

in hervorgehobener Weise Petrus eine Sonderrolle nach Jesu Tod bei der Ausbreitung des Evangeliums zu und die Zwölf können sich im Reich Gottes sogar auf Ehrenplätze – auf zwölf Thronsessel mit Herrschaftsbeteiligung – freuen (Lk 22,28–30). Nach Johannes gibt es viele Wohnungen bei Gott (Joh 14,2–3) und alle Jüngerinnen und Jünger sollen mitwirken, dass die Menschen den Weg dorthin finden (Joh 14,5–23). Petrus selbst wird zwar eine besondere Hirtenfunktion zugewiesen, indem er wie Jesus sein Leben für die Menschen einsetzen wird (Joh 13,36–38; 21,15–19), doch der johanneische Petrus hat keine exklusive Beziehung zu Jesus und seine Hirtenfunktion, die ins Martyrium führt, ist auch nach Ostern nicht der einzige Weg der vorbildlichen Nachfolge, wie exemplarisch an der Figur des anonym bleibenden Jüngers dargestellt wird (Joh 13,23; 21,20–22). Die intertextuelle Lektüre von Joh 13,1–38 mit Lk 22,14–38 lässt folglich nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der lukanischen und der johanneischen Darstellung erkennen, sondern sie erschließt auch vertiefend das johanneische Profil: Im Johannesevangelium gibt es weder einen Rangstreit (13,21–30 diff. Lk 22,24–27) noch die Aussicht auf eine Teilhabe an der Gottesherrschaft oder auf Ehrenplätze im Reich Gottes für ausgewählte Jünger (Joh 14,2 f. diff. Lk 22,28–30). In der Fußwaschung Jesu und den sich anschließenden Erläuterungen bis zum Ende des Gebets in Joh 17 lassen sich vielmehr die Wertschätzung der Seinen, ihre Beauftragung und eschatologische Teilhabe an der Gottesherrschaft auf eine ganz besondere Art und Weise wiederfinden, adressiert an alle Jüngerinnen und Jünger Jesu: Die auf das Eschaton zielende Verheißung Jesu im Lukasevangelium wird bei Johannes bereits in der Gegenwart als Heil und Teilhabe an Jesus umgesetzt, ohne die Parusievorstellung und die damit verbundene futurische Eschatologie aufzugeben. Denn in Jesus selbst ist das Heil in Form der Liebe und des Lebens bereits gegenwärtig, da Gott ihm all das in die Hände gelegt hat (13,1.3). Bereits in der Salbung Jesu durch Maria zeigt sich die Lebensmacht Jesu im Duft des Öls, den Maria nach dem Salben und Abwischen der Füße Jesu mit ihren Haaren auch selbst an sich trägt und verströmt (12,1–11). Durch die Fußwaschung Jesu – als Zeichenhandlung für die Sendung Jesu – erfahren alle anwesenden Jünger bereits beim letzten Mahl den größtmöglichen Erweis von Liebe und Ehre, den sich Menschen vorstellen können, da Jesus ihnen Teilhabe an sich selbst und damit an der Liebe Gottes vermittelt. Jesus integriert die Seinen sowohl in die wechselseitige Liebesgemeinschaft zwischen Gott und ihm als auch in die Verantwortung seiner Sendung. Nach Jesu Abschied werden die Jüngerinnen und Jünger als Gesandte Jesu durch ihre gegenseitige Liebe die Liebe Gottes und Jesu in der Welt präsent halten, bis der Zeitpunkt der endgültigen und sichtbaren Einheit und Verherrlichung im Reich Gottes kommt (17,20–26). Dies ist möglich, da Gott selbs​t die Initiative ergriffen hat, um vermittelt durch die Sendung Jesu seine Liebe in der Welt zu offenbaren und die Liebesgemeinschaft zwischen ihm, Jesus und den Seinen zu ermöglichen, die in der Fußwaschung ihren zugleich erfahrbaren und zeichenhaften Ausdruck findet.

7.6. Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie

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7.6. Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie Die Fußwaschung Jesu ist Ausdruck der Sendung Jesu, welche eine Liebesgemeinschaft zwischen Jesus und den Seinen konstituiert und den Jüngerinnen und Jüngern Teilhabe an Jesus und damit Teilhabe an der Liebe und Teilhabe an dem Heil ermöglicht, das Jesus im Namen Gottes vermittelt. Die Seinen werden verpflichtet, ihre ganze Existenz an Jesu Vorbild auszurichten, das er ihnen mit seinem Leben, mit seinem Wirken und Reden gegeben hat. Durch ihre Teilhabe an Jesus sind sie auch selbst Gesandte Jesu, beauftragt die Liebe Gottes in die Welt zu tragen. Diese Beauftragung gilt in gleicher Weise für alle vorösterlichen und für alle nachösterlichen Jüngerinnen und Jünger. Die johanneische Nachfolgegemeinschaft kennt also weder vorösterlich noch nachösterlich besonders herausgehobene Amtsträgerinnen und Amtsträger, sondern zeichnet sich dadurch aus, dass allen in gleicher Weise die Teilhabe am Heil, an der vertraut-freundschaftlichen Liebesbeziehung mit Jesus und an der Liebesbeziehung mit Gott zukommt. Entsprechend sind alle in gleicher Weise integriert in die Sendung Jesu, die sie nicht als Einzelne ausüben können, sondern nur als Liebesgemeinschaft in Form der geschwisterlichen Liebe. Die johanneische Fußwaschungserzählung hat entsprechend eine christologische, eine soteriologische, eine ekklesiologische und eine ethische Dimension. Die Seinen werden jetzt, wo Jesus seinen Abschied aus der Welt vorbereitet, selbst zu Gesandten, die nach Jesu Abschied als Liebesgemeinschaft weiterhin die Liebe Jesu und damit die Liebe Gottes in der Welt präsent halten sollen. Darin liegt die ekklesiologische Dimension der Fußwaschungserzählung. Die Mission der Jüngerinnen und Jünger geschieht nicht nur durch ihr Zeugnis (vgl. 15,20.27), sondern grundlegend durch ihre Existenz als Liebesgemeinschaft (13,34 f.; 17,21–23). Die Beauftragung zur Nachahmung der Fußwaschung bzw. des Vorbilds Jesu (13,14 f.) betrifft ihr gesamtes Leben, ihren Glauben, ihr Reden und ihr Handeln. Ermöglichungsgrund und Norm der geschwisterlichen Liebe ist die Liebe, die Jesus ihnen schenkt (13,34 f.). Die ethische Dimension zeigt sich hier in der grundlegenden Ausrichtung ihres Lebens an dem Vorbild Jesu, das sowohl in der Fußwaschung als auch im Liebesgebot auf die Liebe fokussiert wird, die Jesus den Jüngerinnen und Jünger im Auftrag Gottes bringt. Insbesondere dieser Aspekt wird in der Bildrede vom Weinstock vertiefend aufgegriffen (15,1–17). Gott und Jesus ermöglichen grundlegend und bedingungslos die Teilhabe der Reben am Weinstock Jesus und schaffen so selbst die Voraussetzung dafür, dass die Reben Frucht bringen können. Das Bild vom Weinstock mit vielen Reben wird zum Bild für die johanneische Nachfolgegemeinschaft und bringt die gegenseitige „Inexistenz“3 von Jesus und seinen 3 Schnelle,

Johannesevangelium, 266.

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Kapitel 7: Ergebnisse

Jüngerinnen und Jüngern anschaulich zum Ausdruck. Indem die Seinen zu Jesus gehören, weil Jesus sie – durch seine Liebe – in eine Liebesbeziehung zu sich aufgenommen und als eine Liebesgemeinschaft untereinander konstituiert hat, haben sie zugleich Anteil an der Liebesbeziehung zwischen Gott und Jesus. Denn Gott als der Weingärtner kümmert sich liebevoll um seinen Weinstock, das heißt um seinen Sohn, den er bedingungslos liebt. Von den Reben wird erwartet, dass sie am Rebstock bleiben und darin zugleich ihrer Funktion, Frucht zu bringen, nachkommen. Ethisch betrachtet können und sollen sich die Reben durch ihr Bleiben oder Lieben also nicht das Heil, die Teilhabe am Weinstock sichern, sondern das Heil ist bereits grundlegend vorausgesetzt. Jesus hat sie erwählt und beauftragt, Frucht zu bringen (15,6 f.). In der gegenseitigen Liebe erweisen sich die Jüngerinnen und Jünger als das, was sie sind: Freundinnen und Freunde Jesu (15,12.17) und dafür können sie auf Jesu Beistand vertrauen (15,5). Die gegenseitige Liebe richtet sich zwar zunächst auf die Glaubensgeschwister, jedoch nicht im Sinne einer Konventikelethik, sondern mit dem Ziel, dass auf diese Weise die Liebe Jesu und darin die Liebe Gottes auch nach Jesu Abschied in der Welt präsent und erkennbar bleibt (13,34 f.; 17,21–23). Auf diese Weise tragen die Jüngerinnen und Jünger durch ihr Lieben – wie Jesus – zur Verherrlichung Gottes bei. Ekklesiologisch betrachtet zielt die Teilhabe der Seinen an der Liebe missionstheologisch auf die Vergrößerung der Glaubensgemeinschaft (13,34 f.; vgl. Joh 4,31–38; 12,20–26; 13,34 f.; 17,20–26). Durch die bleibende Verbindung mit Jesus können völlig selbstverständlich Früchte wachsen, da Jesus als der Weinstock und der Vater als Weingärtner dies ermöglichen (15,1–3.5). Sowohl für die Gemeinschaft der textinternen Nachfolgenden Jesu als auch für die textexternen Gläubigen als nachösterliche Glaubensgemeinschaft gilt, dass in ihnen die Liebe Gottes und die Liebe Jesu wohnt und präsent ist (14,23;17,23). Sie sind gewissermaßen der Tempel Gottes, in dem Gott und Jesus präsent sind und erfahren werden können. Jesus selbst hat im Auftrag Gottes die Glaubensgemeinschaft als Liebesgemeinschaft konstituiert, was in der Fußwaschung ihren zeichenhaften Ausdruck findet. Zugleich hat er diese Glaubensgemeinschaft mit der Nachahmung der Fußwaschung bzw. mit dem Gebot der geschwisterlichen Liebe beauftragt, damit sie so die Sendung Jesu in die Welt fortsetzen (13,20.34 f.; 15,1–17; 17,21). Anders als im Lukasevangelium repräsentieren nicht die zwölf Apostel als Leitungsfiguren das erwählte Volk Gottes, sondern alle Jüngerinnen und Jünger gehören in gleicher Weise als Reben zum Weinstock Jesus, der von Gott als dem Weingärtner geliebt und gepflegt wird, so dass er viel Frucht bringen kann. Nicht nur einzelne, namentlich benannte Jüngerinnen und Jünger werden vom johanneischen Jesus beauftragt, sondern alle vor- und nachösterlichen Jüngerinnen und Jünger in vergleichbarer und gleichberechtigter Art und Weise.

7.6. Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie

387

Rudolf Bultmann hat diese Dimension der Fußwaschungserzählung erkannt, wenn er festgehalten hat, dass der Evangelist unter Aufnahme älterer ethischer Traditionen in Joh 13,1–20 symbolisch die Konstituierung der johanneischen Gemeinde beschrieben habe, deren Lebensgesetz sich in 13,34 f. finde, weshalb die beim letzten Mahl anwesenden Jünger im Johannesevangelium auch nicht den Zwölferkreis, sondern den gesamten Nachfolgekreis repräsentieren würden.4 Allerdings hat Bultmann die Fußwaschung als Sklavendienst an den Jüngern verstanden, da der göttliche Offenbarer für seine Wortverkündigung Mensch werden musste, um in der Erniedrigung das Heil zu ermöglichen, während er ein Verständnis der Fußwaschung als persönlichen Liebesdienst explizit ausgeschlossen hat.5 Berücksichtigt man die Ergebnisse des in der vorliegenden Studie neu untersuchten kulturellen Hintergrunds von Fußwaschungen in der Antike, bestätigt dies die Interpretation der Fußwaschung Jesu als Ehr- und vor allem Liebeserweis in einer freundschaftlich-vertrauten Beziehung, insbesondere in einer Schüler-Lehrer-Beziehung. In der johanneischen Erzählung wird die Fußwaschung zum sinnlich erfahrbaren Zeichen der Liebe und damit des Heils im umfassenden Sinn, das zur gegenseitigen „Inexistenz“6 von Gott, Jesus und den Seinen führt. Die Fußwaschung Jesu illustriert die Dimension der Liebe sowohl mit Blick auf die Sendung Jesu als auch bezüglich der Konstituierung der johanneischen Gemeinde, die beauftragt wird, wie Jesus zu lieben und darin die Liebe Gottes und Jesu in der Welt präsent zu halten. Ausgehend von der Interpretation der Fußwaschung Jesu im Kontext einer Schüler-Lehrer-Beziehung kann Joh 13,1–20 mit Blick auf seine soteriologische und seine ethisch-ekklesiologische Relevanz neu wahrgenommen werden.

 Vgl. Bultmann, Evangelium, 349  Vgl. Bultmann, Evangelium, 355–357. 6 Schnelle, Johannesevangelium, 266. 4 5

Bibliographie Die in den Fußnoten verwendeten Kurztitel sind im Literaturverzeichnis kursiv gesetzt und in der Regel aus dem ersten (unflektierten) Nomen des Titels gebildet, zum Teil wird der Kurztitel am Ende in Klammern angegeben. Quellen und Hilfsmittel sind nur in Auswahl angeführt. Zur Erschließung und Zitierung von Quellentexten wurden auch Thesaurus Linguae Graecae und Accordance Bible Software und die darin hinterlegten Ausgaben vewendet. Bei Bibeltexten wird neben eigenenen Übersetzungen in der Regel die Elberfelder Übersetzung verwendet. Die Abkürzungen richten sich nach IATG2 (Schwertner, 1994), bzw. dem Abkürzungsverzeichnis von RGG4 1, XX–LIV.

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Stellenregister 1. Bibel 1.1. Altes Testament

11,9 148 f. 20,1 69

Genesis 18 161 18,4 133, 161, 164, 196 49 302

2. Könige 3,11 151

Exodus 20,17–21 46 21,2–11 180, 183 21,1–6 187 21,2 179 30,18–21 189 34,28 193 40,30–32 46, 189

Psalmen 24,4 192 26,6 192 41,10 304 f. 73,13 192

Numeri 8,20 69 Leviticus 19,14 193 25,39–55 181, 183–185 25,43–46 179, 183 Deuteronomium 6,4 f. 359 12,12 69 14,27 69 15,12–18 179–181 21,6 f. 192 33,1–28 302 1. Samuel 25,41

44, 145, 151, 194

2. Samuel 11,8–11 46 11,8 148, 160

2. Chronik 4,6 189

Sprüche 20,9 192 15,26 192 22,11 192 30,12 192 Hiob 4,17 192 6,14 150 f., 197 Hohes Lied 1,12 5,3

69, 208 131, 148

Jesaja 5,1–7 362–364 27,2–6 362–364 57,6 69 60,21 362 f. Jeremia 2,13 190 34,14 179

422

Stellenregister

Sacharja 14,8 190

1.2. Deuterokanonische Schriften 2. Makkabäer 6,28 64, 66, 70 6,31 64 4. Makkabäer 17,22 f.

64, 66

Sirach 38,10 192 44,16 64, 66, 70

1.3. Neues Testament Matthäus 3,14 f. 42 6,17 208 7,24 41 9,8 240 10 28, 324–326 10,1–14 255 10,20 320 10,24 12, 21, 28, 41, 51,70, 301 f., 322–326, 335 f. 10,34 f. 326 10,40 12, 41, 70, 237, 323–326, 333 f., 335 f. 11,29 51 15,1–20 190 15,31 240 16,18 260 16,22 69 18,3 f. 28 20,20–28 70, 328, 334 20,28 12 23,8.10 41 23,27 f. 190 26,6–13 216–218, 223–225, 227, 372 26,13 69

26,20 244 26,29 45 Markus 1,7 194 1,31 207 2,12 240 3,13–19 256, 260 3,16–19 245 6,7–13 255 6,13 208 7,1–23 190 8,27–30 245, 261 8,31–33 32 9,33–37 19, 21, 28, 51 9,37 70, 255 10,35–45 70, 328, 334 10,38 47 10,42–45 19, 21, 28, 51, 56, 285 10,45 12, 23 f., 41 f. 13,11 320 14,3–9 216–218, 223–225, 227, 372 14,9 69 14,12–16 245 14,18–20 245 14,22–31 39, 41 14,25 45 16,1 208 Lukas 2,20 240 3,16 194 4,39 207 5,10 266 5,25 f. 240 6,12–16 260 6,40 12, 28, 51, 301, 322–326, 335 f. 7,36–50 61 f., 69, 71, 209, 211 f., 216, 220–225, 227, 272 7,37 f. 47, 208 7,44–46 47 7,44 132, 164 7,46 208 9,1–6 255, 331 9,10–17 207 9,18–21 261

Stellenregister

9,48 70 10,1–12 255 10,16 70, 237, 323–326, 333–335 10,38–42 207, 209, 218–220, 227 12,12 320 12,35–40 332 12,37 45, 68, 207, 303 f., 331 f. 12,41–48 304, 332 16,9–31 220 17,7–10 170 22,7–13 207 22,8 244 22,14–38 255, 327–332, 335 f., 372, 381–84 22,14 244, 327 22,16.18 45, 327 22,20 71 22,24–30 69–71, 285, 326–330, 334, 338 f. 22,24–27 19, 21, 28, 32, 61 f., 68 22,26 207 22,27 6, 12, 24, 39, 41 f., 50 f., 55 f., 332 22,28–30 328, 382 22,30 32 22,31 f. 263 22,35–38 331, 334, 383 22,36 326 22,49–51 263, 326 23,47 240 24,49 43 Johannes 1,1–18 45 1,11 f. 52, 248, 336 1,18 308 f., 311 1,27 194 1,40–51 260 1,42 258 f. 1,47 121 2,13–25 111 2,17 119 2,22 42, 45, 56, 109, 119, 250,288 3,16 52, 300, 315, 326, 337 f., 376

423

4,31–38 342, 361, 386 4,35–38 255–257, 303, 305 f., 358 6 297 6,29 54 6,51–58 7, 19, 50, 54 6,54.63.68 52 6,67–71 375 6,67.70 f. 245, 249, 261, 272 6,68 f. 260 6,70 257, 325 7,30–39 312 f. 7,35 203, 313 7,53–8,11 88 8,19–36 312 f. 10 266, 268, 352 10,4 248 10,6 42 10,11–18 32, 65, 69 10,18 315 11–17 123 11–12 200–204, 212–215, 226 11 20, 233, 244 11,2 206 f., 211 11,4 312 11,5 68 11,33 213, 307 11,35 f. 214 11,39 209, 225 12,1–11 199–211, 225–228, 377, 384 12,1–8 2, 20, 29, 34, 47, 62, 68 f., 108, 123, 216–228, 340, 372 12,1–2 205–207 12,3 f. 207–209 12,6 210 12,7 206 12,9–11 206 12,12–19 228 12,16 42, 45, 56, 109, 119, 250,288 12,23–26 267, 312, 336, 352, 360–362, 386 12,23 240, 312 12,24 47, 57 12,26 28, 301, 303, 334 12,27 307, 311–312, 339 12,31 240, 311 f.

424

Stellenregister

12,37 54 12,49 f. 315 13–17 82, 123, 199 f., 229–235, 338 f., 376 f. 13 65, 68, 72, 79, 89, 235–246, 269, 282 f., 327–332, 339 f. 13,1–20 3–77, 80–82, 123, 199 f. 13,1–3 199, 229 f., 241–243, 253 f., 282–284, 337 13,1 69, 231, 233 f., 244, 247 f., 376 13,4 f. 68, 208, 284–286, 332, 339 f., 375 13,6–11 1, 75 f., 261 f., 286–294, 370 f., 378 f. 13,6 58, 287 f., 378 13,7 8, 42, 45, 50, 59, 66, 287 f., 295–297, 378 f. 13,8 40, 44, 60 f., 65 f., 69, 74 f., 289 f., 336 13,9 f. 153, 195 13,9 75, 290 f. 13,10 f. 66, 79, 250, 291–292 13,10 7, 11, 16 f., 19, 28, 35, 37, 40, 41–43, 45 f., 50, 52, 56–60, 66 f., 70, 74–76, 88, 195, 236–239, 252, 369–371 13,12–20 1, 75 f., 294–307, 370 f., 379 f. 13,12 294–297, 378 13,13 297 f., 378 13,14 f. 50, 59, 75, 338 13,14 43, 298 f., 318 13,15 299 f. 13,16 12, 43, 55 f., 59, 61, 70 f., 76, 245, 257, 300–303, 322–326, 333 f., 379 13,17 70, 303 f. 13,18–20 43, 59, 66 f., 79 13,18 f. 304 f. 13,18 245 13,19 70 13,20 12, 30, 40, 70 f., 76, 257, 305 f., 316, 322–326, 332–334, 376, 379, 382 f. 13,21–38 67

13,21–30 13,23 13,29 13,30 13,31–16,33 13,31–38

64, 307–311 269 f., 308, 334, 384 251, 310 231 f., 310 232 f. 71, 199 f., 230, 262 f., 311–321 13,31 f. 47, 311 f. 13,31 36 13,33 249, 312 f. 13,34 f. 6, 9 f., 26, 28, 32, 47, 50, 52, 253–255, 306, 314–317, 321, 326, 338, 372, 380 f., 385–387 13,36–38 71, 258, 266, 317–321, 381 14–16 230 14 341 f., 384 14,2 42, 45, 307, 332, 336, 384 14,13 241 14,15–25 332 14,15.21 316 f. 14,26 45, 56 14,31 79, 299–232, 246, 314, 318 15–17 229 f. 15 341 f. 15,1–17 9, 52 f., 123, 200, 254 f., 332, 337, 343–351, 357–360, 372, 383, 386 15,1–4 345 f. 15,2 47 15,3 52, 60, 74, 252, 346 15,5–8 347–350 15,8 14, 241, 252 f., 267 15,9–11 350 f. 15,10 315 15,12–17 351–357 15,12 316, 353 15,13 11 f., 63, 70, 317 15,15 28, 151, 354–357 15,16 245, 354–357 15,18–16,4a 314, 318–321, 325, 335, 382 f. 15,19 245, 248 15,20 237, 245, 302, 321, 325, 379, 382 f., 385

425

Stellenregister

15,26 f. 37, 320 f., 382 f., 385 16,2 63, 70 f., 321 16,13 56 16,27 226 16,33 70 17 65, 68, 231–233, 248, 257, 313, 384 17,10 241 17,18 70, 245, 255–257, 303, 305 f. 17,20–26 52 f., 234, 241, 249 f., 315, 332, 337, 339, 372, 386 17,20–23 257, 306, 318, 379, 382 17,20 246, 381 18–19 234 18,1 230 18,10 f. 263 18,15–27 263 f. 19 50 19,30 69, 239, 241 19,35 246 19,39 206 f. 20–21 234 20,1–10 264 20,19–29 264 f. 20,19–22 70 20,21–23 257 20,21 f. 42, 303, 305 f., 321 20,24 245, 249 20,29 304 20,30 f. 18, 87, 95 f., 246 20,31 54, 59 21 76, 80, 88 f., 371 21,1–14 265 21,5 312 21,7 259 21,15–19 258, 266–268

21,18 f.

63, 70, 241, 266 f., 317, 381 21,20–22 318, 335 21,20 334 21,24 267, 308 f. Apostelgeschichte 1,5.8 43 1,21–26 383 3,13 240 Römer 1,1 179 1. Korinther 7,22 f. 179 10,16 f. 51 11,25 71 2. Korinther 4,5 179 Galater 1,10 179 5,13 179 Philipper 1,1 179 1. Timotheus 5,10

44, 47, 55 f.

Jakobus 5,17 208 Apokalypse 15,1–5 46

2. Frühjüdische und rabbinische Texte Joseph und Aseneth 4,9–11 145 6,8 142 7,1 133, 144 13,15 142 f., 149 17,2 133, 144, 163

18,2 133, 144, 163 19,5 143 19,8 143 20 145 20,1–5 44, 144 f., 196 20,1 133, 143, 163

426

Stellenregister

20,5 143 20,8 143, 145

Legum allegoriae 3,141–143 193

Josephus Flavius

Talmud, Babylonischer

Antiquitates Judaicae 3,114 189 8,87 189 6,308 145, 151, 194 13,8 194 16,230 151, 184

Ketubbot 61a 96a

Bellum Judaicum 4,150 190 Mekhilta de R. Yishmael zu Ex 21,1–3 182 f., 186 f. zu Ex 21,2 151, 184 Midrasch Rabba zu Exodus 25,6 15, 186 f. Midrasch zu Sprüche 15,17 165 Mischna, Ketubbot 5,5 139 Papyrus Oxyrhynchus V 840 190 f. Philo von Alexandrien Quaestiones in Genesim 4,60 130 De vita contemplativa 50 136 70 f. 136 70,1 207 71,2 207 75 136 De vita Mosis 2,138 192 2,150 193 De specialibus legibus 1,207 193

139, 141 139, 141, 150 f., 184, 197

Qiddushin 22b 185, 186 31b–32a 186 31b 134 Sevachim 17b 189 Shabbat 108b 131 Talmud, Jerusalemer Ketubbot 30a 139–141, 148, 151 34a 141 Pe’a 15c

134 f., 150, 152, 166, 378

Pereq 11 140 Qiddushin 61b 134 Testament Abrahams (Rez. A) 3 44 3,6–12 161 f. 3,8 f. 196 4,1–4 162 6,6b 133, 162 f., 196 Testament Abrahams (Rez. B) 3,8 161 Tosefta, Qiddushin 1,11 134, 186

427

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3. Griechische und lateinische Autoren Apuleius, Apologia 6–8 128 f.

Aristophanes, Wespen 548 f. 137 605–609 137 f. 620 137

133, 147 f., 155–160, 164–166, 178 19,65–69 156 19,220–307 155 19,309–322 155 f. 19,317 137 19,341–348 156, 173 19,350–378 196 19,350–360 157 19,356 1601 19,361–381 157 f. 19,372–378 148, 196 19,376 159 19,503–512 158

Catull, Carmina 64,154–166 146 f., 149 f.

Iamblichus, Protrepticus in philosophiam 21 129, 193 f.

Dion Chrysostomos, Euboikos 7,65–67 136

Iulius Pollux, Onomastikon 1,25 188

Epkitet, Dissertationes 1,19 167–170 1,19,4 168–170

Juvenal, Satiren 3,268–277

Athenaios, Deipnosophistae 263a 207 9,408–411 153 9,409 f. 132, 154, 164, 196 13,555–610 176 13,583–546 147, 166

Herodot 6,11–17 175 f. 6,19,2–3 173–177 Homer, Odyssee 1,144–147 153, 195 3,330–341 153 3,464–497 153 4,48–54 133, 152 f., 208 4,48–50 162, 195 6,198–250 154, 185 7,133–174 153, 195 7,144–147 153 7,172–174 153 8,416–468 153, 195 8,430–432 152 15,125–127 152 f., 195 17,91–93 153, 195 17,328–395 155 18,321–366 156 18,345–348 157, 194

19

127 f., 148

Lukian Demonax 2 129 4 130, 194 Saturnalia 4,17 f. 136 17 f. 207 32 207 Meleager, Anthologie 12,68 147 Petronius, Satyricon 31,3 f. 163 70,8 151, 163, 184 Plato, Symposium 175a 132, 134, 163, 196 213b 132, 134, 150, 163 f., 194, 196

428 Plutarch De Mulierum Virtutes 249d 135 f., 196 Moralia 140b 176 Phokion 20,1–3 164

Stellenregister

Pompeius 73 73,6 f.

170 f., 178 150, 170 f., 194, 196

Theseus 10,1–4 172 f., 178 10,1 172 Sueoton, Tiberius 42,2 176

Autorenregister Alkier, Stefan ​93, 95, 101, 200 Attridge, Harold W. ​358 Bachtin, Michail ​91, 99, 110, 117 Bal, Mieke ​106–120, 122, 213 Barrett, Charles Kingsley ​53–56, 62 f., 265 Bauckham, Richard ​309 Beasley-Murray, George R. ​255 f. Becker, Jürgen ​270 Berger, Klaus ​76, 89, 270, 308 Beutler, Johannes ​358 Beyer, Hermann W. ​23 Booth, Wayne C. ​114 Bovon, Francois ​191 Brown, Raymond E. ​30–33, 38, 319, 323, 348 Bultmann, Rudolf ​4–10, 24 f., 83, 202, 238, 243, 250, 274, 278, 289, 346, 359, 387 Busse, Ulrich ​298 Caragounis, Chris C. ​234 Charlesworth, James H. ​270 f. Chatman, Seymour ​110 Culpepper, Alan ​63 f., 66, 70, 72, 242, 244, 251, 256 f., 299, 318, 342 Dandamayev, Muhammad A. ​179 Dettwiler, Andreas ​344 f., 354 Dietzfelbinger, Christian ​342, 354, 361 Dodd, Charles Harold ​51–53, 62 f., 83, 319, 345 Dschulnigg, Peter ​268 Dunderberg, Ismo ​273, 309 Dunn, James D. G. ​56 f., 62 f. Ebner, Martin ​114 Eco, Umberto ​90, 100–107, 277 f., 291 Finnern, Sönke ​242 Fitzmyer, Joseph A. ​328

Frey, Jörg ​3, 231, 240, 283, 315, 344, 351, 359 Fridrichsen, Anton ​153 Garsky, Zbynek ​90 Genette, Gérard ​93, 106, 110, 116–118, 120 Gorce, Denys ​197 Haenchen, Ernst ​57–59, 62 f., 291, 295 Hartenstein, Judith ​264 Hays, Richard B. ​94, 96 Heininger, Bernhard ​114, 243 Heitmüller, Wilhelm ​39–41, 43 Hengel, Martin ​259 Hentschel, Anni ​23, 27, 136, 143, 165, 207, 277, 285, 322, 328, 360 Herman, Luc ​110 Hezser, Catherine ​243 Hiltbrunner, Otto ​132, 152, 165 Hirsch-Luipold, Rainer ​203, 289 Hock, Ronald F. ​367 Hoegen-Rohls, Christina ​229 f., 246, 283, 353 Holthuis, Susanne ​93 Holtzmann, Heinrich Julius ​49–51, 62 f., 277 Hultgren, Arland J. ​44 f., 48 f. Hunt, Steven A. ​259 f. Hylen, Susan E. ​211, 251, 271 Johnson, Luke T. ​322, 327 f. Käsemann, Ernst ​354, 359 Keener, Craig S. ​27–30, 262 Kindt, Tom ​107 f., 111, 114 Klinghardt, Matthias ​243, 307, 328 Konstan, David ​292, 367 Köppe, Tilmann ​107 f., 111, 114 Kötting, Bernhard ​125 f., 133, 138, 153, 159, 163, 171, 277

430

Autorenregister

Kristeva, Julia ​83, 91–93 Kügler, Joachim ​209, 269 Labahn, Michael ​201, 258, 262, 268 Lahn, Silke ​110–113, 121 f., 199, 209, 256 Lohmeyer, Ernst ​41–44 Lohse, Eduard ​239 Mathew, Bincy ​59–63, 238, 278, 284 f., 291 Meister, Jan Christoph ​110–113, 121 f., 199, 209, 256 Michaels, Ramsey J. ​34 Moloney, Francis J. ​64–68, 72, 211 f., 262, 295, 304, 314, 343, 361 Morgenstern, Matthias ​140  f. Neirynck, Frans ​311 Neyrey, Jerome H. ​45–49, 205, 242, 280, 308 Nicklas, Tobias ​191 Niemand, Christoph ​14–18, 24 f., 138, 160 f., 171 f., 238, 277, 287 O’Day, Gail R. ​272 Orosz, Magdalena ​97–99 Parsenios, George L. ​230, 232 Peirce, Charles Sanders ​100, 102, 105 f. Petöfi, Sándor ​101 Pfister, Manfred ​90, 98 f., 285 Popkes, Enno ​282, 305 f., 350, 359 Poplutz, Uta ​247 Quast, Kevin ​271 Reinhartz, Adele ​270, 272, 275 Reinmuth, Eckart ​142 Resseguie, James L. ​270, 272 Richter, Georg ​12–14, 24 f. Rimmon-Kenan, Shlomith ​121 Rouwhorst, Gerard ​140, 208

Sabbe, Maurits ​85, 221, 285 Schenke, Ludger ​246, 348 Schmid, Wolf ​108 f., 111, 117 f. Schnackenburg, Rudolf ​10–12, 24 f., 250, 262, 283, 298, 304, 323, 348 Schneider, Michael ​93 Schneiders, Sandra ​214 Schnelle, Udo ​18–20, 24 f., 86, 262, 289, 387 Scholtissek, Klaus ​229, 347 Schulteiß, Tanja ​258, 268 Schulz, Anselm ​299 Schüssler Fiorenza, Elisabeth ​34 Schwartz, Eduard ​80 Sparks, Hedley F. D. ​343 Theobald, Michael ​85 f., 211 f., 216, 222, 245, 260, 270, 272, 308, 312 Thomas, John Christopher ​33–35, 38, 73, 131, 148 f., 169, 173, 238, 277 Thompson, Marianne Meye ​245, 248, 250, 262, 287, 303, 312 f. Thyen, Hartwig ​68–72, 82–85, 89 f., 95 f., 200, 245, 249, 261, 285, 296, 323, 343 Todorov, Tzvetan ​110 Tolmie, Donald F. ​235, 262 Turner, Victor ​46 Van der Watt, G. Jan ​254, 293, 348 Vervaeck, Bart ​110 Volgger, David ​147 Wagner-Hasel, Beate ​152 Weiss, Abraham von ​161 Wellhausen, Julius ​4 f., 24 f., 80 Wengst, Klaus ​36–38 Winko, Simone ​106 Wischmeyer, Oda ​109 Zahn, Theodor ​25 f., 30 Zumstein, Jean ​20–25, 210, 212, 260, 295, 297 f., 302, 304, 318, 341, 347, 351

Sachregister Abendmahl ​31, 34, 39–41, 50 f., 54, 67, 69, 73, 370 Abraham ​130, 133, 161–163, 220 Abschied Jesu ​73, 231–233, 240, 342 f. Abschiedsmahl Jesu ​45, 280 f., 297, 318, 372, 381 f. Abschiedsrede ​81, 230–232, 246, 294 f., 302, 338 f. Anonymität ​269–271, 275 Apostel ​42 f., 54 f., 74, 244 f., 256 f., 263, 272, 282, 300, 319–325, 328, 331 f., 372, 383 f. – siehe auch Zwölf Armenfürsorge ​210 f., 217, 220, 224, 227, 359, 377 Auferstehung ​201 f., 220, 249–251, 274 f. Aufwartung bei Tisch ​142 f., 163–165, 204 f. – siehe auch Tischdienst Aussendung ​255, 257, 305 f., 319–326, 331–334 Autorität ​273, 282, 297 f., 324–326, 328–330, 333 f. Bad ​152, 156, 162, 164, 170 Badhaus ​151, 183, 186 Beauftragung ​73, 245, 255 f., 268, 276, 329 f., 335, 343, 351, 354 f., 358 Bekenntnis ​212 Bote, siehe Gesandter Botenvorstellung ​300 f., 307, 333 f. – siehe auch Sendungsvorstellung Buße ​16, 35, 38, 74 f. Charakterisierung ​115, 117 , 121, 211 f., 247 Christologie ​23, 57 f., 73 f., 209, 217 f., 223 f., 281, 289 f., 310, 350, 359 f. Chronologie ​107 f., 111–113, 115, 207, 239, 255–257

Demut ​73, 162 f., 169 Dialogizität ​91, 99, 119 Dienst ​167–170, 186 f., 370 Diskursuniversum ​103 f., 109, 116 Ehre ​166 f., 169, 171, 271–273, 276, 278–280, 307, 326, 331–333, 339 f. Ehrenplatz ​272 f., 275, 328 f., 334 Ekklesiologie ​6, 23, 31 f., 209, 246 f., 254 f., 275 f., 281, 315, 323 f., 337, 344, 349 f., 357–360, 372 f., 376, 383–387 Ellipse ​256 f., 305 f. Eltern-Kind-Beziehung ​27, 34, 55, 70, 134–136, 186 f., 196 f., 278 f., 374 Emotion ​148, 160–162, 212–214, 219, 307 Erniedrigung ​70, 172 f., 178, 185 f., 197, 279 f., 322 f., 355, 374 Erotik ​142, 147–150, 154, 196, 213, 221–224 – siehe auch Intimität Erwählung ​245, 255 f., 260, 306, 341, 351, 354–356 Erzählebene ​109, 114–117, 119, 232, 295 f. Erzähler ​114–119, 274  f. Erzählerkommentar ​109, 234, 262, 271, 278, 288, 295 f., 379 Erzählperspektive ​107  f., 110 – siehe auch Fokalisierung Eschatologie ​42, 44, 280, 283, 332, 345 f., 384 Ethik ​9, 24, 37 f., 217, 255, 295, 349 f., 356, 359, 370, 386 f. – siehe auch Freundschaftsethik – Imitationsethik ​299, 301, 314 f., 385 Fokalisierung ​107 f., 110, 113, 117–119, 207 f, 213 f. Frauen ​244, 250 f., 274, 280 f., 377 Freund ​151, 206, 211, 273–275, 279, 354–356.

432

Sachregister

Freundschaft ​151, 155, 165, 202 f., 213–215, 306, 337 f., 366 Freundschaftsethik ​243, 352 Frucht ​241, 252 f., 267 f., 342 f., 344, 356, 360 f. Gastfreundschaft ​15 f., 42, 44, 132 f., 143 f., 152–155, 161–165, 176, 195 f., 221, 277, 300 f. Gastmahl ​132, 160–166, 174–177, 242, 374 – siehe auch Symposion Gebot ​314–316 – neues Gebot ​71, 253 f., 313–318, 321, 326, 338, 341 f., 350–353, 357–359, 365–367, 380, 387 Geist, heiliger ​50, 56 f., 312, 320, 326 Geistbegabung ​42, 264 f., 305, 381 Gemeinde ​6, 50,73, 294 f. – johanneische Gemeinde ​31, 34, 38, 51, 305 f., 387 Gemeinschaft ​5, 40, 214 f., 234, 250, 294, 306 f., 331 – siehe auch Tischgemeinschaft – Liebesgemeinschaft ​314 f., 330, 344, 379, 385 – Nachfolgegemeinschaft ​206, 210, 215, 223, 235, 244 f., 254 f., 283, 299, 301 f., 383 – Schicksalsgemeinschaft ​293, 333, 367 Gericht ​362  f. Gesandter ​252–254, 281, 302 f., 306 f., 316–318, 324–326 – siehe auch Botenvorstellung Glauben ​251–254, 349  f. Gottesknecht, leidender ​28 Handwaschung ​153 f., 156, 164, 188 f. Hass ​235, 299–301, 318–321, 325 f., 333 f., 380 Heiliger Geist ​50, 56 f., 312, 320, 326 – siehe auch Paraklet Heiligkeit ​189, 252 Herrlichkeit ​10 f., 201, 240 – siehe auch Verherrlichung Herrschaft ​70 f., 328 f., 331 f., 384 Hirtenamt ​266–268, 273  f. Hygiene ​44, 169 Hypodeigma ​63, 66, 70, 299

Ideologie eines Textes ​104, 108–110, 115, 117 f. Imitatio Jesu ​75, 211, 317 f., 353 – siehe auch Imitationsethik Immanenz ​234, 253, 316 f., 347, 357, 385–387 Imperativ ​253  f. Intertextualität ​68, 83–99, 106 f., 123, 381–384 Intimität ​139–143, 145 f., 147, 149 f., 151, 154, 156 f., 158–160, 175 f., 196 f., 208 f., 213, 221, 272 – siehe auch Emotion Ironie ​84, 90, 99, 109, 169, 263 f., 310 Johannes der Täufer ​279 Judas ​52, 66 f., 209–211, 214, 225, 227, 249 Jünger ​246–257 – siehe auch Lieblingsjünger Jüngerschaft ​214, 245 f., 253, 272, 358 – siehe auch Lehrer-Schüler-Beziehung Lebenshingabe, siehe Tod für andere Lehrer ​280, 286, 297 f. Lehrer-Schüler-Beziehung ​150–152, 183, 185–187, 197, 261 f., 272, 278 f., 287, 297 f., 300–303, 323, 374 Leser ​102 f., 105 f., 117 f., 234, 246 Liebe ​221, 234, 242, 272, 332, 352 f., 370 – gegenseitige Liebe ​227 f., 315 f. – Liebe Gottes ​232  f. – Liebe Jesu zu den Seinen ​202 f., 212–215, 232, 253, 282 f., 383 – Liebe zu Jesus ​211, 218, 224 Lieblingsjünger ​25, 269–276, 308 f., 334, 384 Literarkritik ​24, 76, 79–82, 88–99, 229 f., 371 Literaturwissenschaft ​80, 106 Macht ​20–23, 70 f., 167 f., 173 , 178, 185, 331 Mahlzeit ​136, 143 f., 155, 195 f., 277 f., 307–309 Makarismus ​303  f. Maria, die Schwester Marthas ​211–215, 225–228 Martha ​207, 212 f., 214 f.

Sachregister

Martyrium ​47, 64, 66, 70–72, 202 f. , 214, 262 f., 266, 273, 317 f., 335, 384 – siehe auch Tod für andere Missionstheologie ​315, 350, 354, 359–362, 365, 380 Missverständnis ​121, 215, 239, 261, 263, 291, 294 Mose ​193 Nachfolge ​202 f., 214, 218 f., 232 f., 245, 267, 293 f., 301, 314–317, 358, 380 f. – siehe auch Jüngerschaft – Kreuzesnachfolge ​326, 335 f., 343, 352, 360 f. Nächstenliebe ​9, 165, 197, 210 f., 359, 363 Narratologie ​63 f., 68, 72, 106–121, 123, 212, 270 Neues Gebot ​71, 253 f., 313–318, 321, 326, 338, 341 f., 350–353, 357–359, 365–367, 380, 387 Offenbarung ​24, 273, 309, 316, 346, 354–356 Ostern ​234, 248, 288, 310 Paraklet ​251, 319 f., 326, 381 Passa ​207, 327 Passion ​17–22, 34, 36, 52, 65, 200–203, 286, 327, 372 Petrus ​258–269, 302, 330–335, 378, 380–384 Plot ​112, 114  f. Point of view ​108, 117 Polemik ​40, 73 f., 345 Pompeius ​151‚ 170  f. Rangstreit ​307, 331 Réécriture, siehe Relecture Reinheit ​16, 42, 45, 47, 189–192, 238 f., 252, 278, 291 f., 346, 365 f. Reinigung ​5, 34, 50, 62, 73, 75, 238 f., 276–278, 290–292, 345, 370, 373 – kultische ​148, 188–190, 290 Relecture ​21, 24, 81, 295 Religionsgeschichte ​16, 39, 43 Rezeptionsästhetik ​83, 86 f., 95, 105 f. Ritual ​16, 34 f.,38 , 43, 46–48, 51, 58, 66, 75, 152, 280, 291, 370

433

Sakrament ​31, 41 f., 43, 73 f. Salbung ​68 f., 136, 139–141, 151 f., 155 f., 164, 170 f., 208 f. – Königssalbung ​222, 228 – Salbung Jesu ​205 f., 209 f., 216–218, 221–225, 280, 372, 375 f. Schuhe ausziehen ​150 f., 163 f., 170 f., 182, 186, 194 Schüler, siehe Jünger – siehe auch Lehrer-Schüler-Beziehung Semiotik ​83, 90 f., 100–102, 105, 107 Sendung ​253 f., 318–321, 366 f., 379 f. – der Apostel ​43, 245, 300, 331, 382 – der Seinen ​233, 257, 319 f. – Jesu ​233, 254, 257, 283, 288, 299 f., 331, 383 Sendungsvorstellung ​43, 245, 302 f., 305 f., 322–326 – siehe auch Botenvorstellung Sexualität ​175–177, 179–181, 183 f., 186, 224, 374 – siehe auch Intimität Sklave ​151, 168, 170 f., 180–187, 276 f., 284 f., 300, 302 f., 322, 355 f. Sklavendienst ​15 f., 27–30, 33, 36 f., 62, 71, 131–133, 138–143, 146, 149 f., 155, 159, 163 f., 171, 173–178, 186 f., 375 Sklaventerminologie ​142–145, 179, 185 Sklaverei ​176–180, 185 Sklavin ​157–159, 173–178, 180 f. Soteriologie ​24, 73 f., 289 f., 310, 332, 336 f., 370, 376–379, 384–386 Status ​46–48, 136, 154, 162 f., 168–171, 179, 207, 280, 287, 301, 308, 322 f., 326 – Statusgewinn ​298, 307, 352, 356 – Statusverzicht ​165, 332 Story ​112, 114  f. Stunde Jesu ​240, 288, 310 f., 312, 327 Sündenvergebung ​26, 73, 221–223, 258, 266, 268, 313, 350 Symposion ​79, 136, 153, 163 f., 231, 243, 285, 327 – siehe auch Gastmahl Synoptische Evangelien ​81–87, 94–99, 123, 334–336, 371 f. Szenographie ​103 f., 277 f.

434

Sachregister

Taufe ​5, 7, 11, 16 f., 25, 31, 35, 39–41, 47, 52, 54, 66, 73 f., 80 f., 370 Testamentenliteratur ​65, 230  f. Textkritik ​7 , 35 , 237–239, 349 Textpragmatik ​257, 269 f., 296 Tischdienst ​136, 161, 171, 207 Tischgemeinschaft ​152, 319 Tod ​209 f., 230 f. – siehe auch Martyrium – Kreuzestod ​13, 19 f., 24, 28, 34, 36 f., 54 f., 58, 241, 283, 370, 378 – Sterben für andere ​299, 320 f., 352, 367 – Tod Jesu ​62 f., 65 f., 202 f., 206, 209, 218, 234, 288, 294, 321, 352, 355 f. Traditionsgeschichte ​14 Treue ​170 f., 249, 252, 261, 276, 292 f., 304, 329 Verfasser ​81 f., 95 f., 114, 117 f., 275 Verfolgung ​252, 300 f., 319–326, 353 f., 367, 383 Vergebung, siehe Sündenvergebung Verherrlichung ​241, 311 f., 349, 364

Verkündigung ​218, 220, 225 Vollbad ​140, 190–192, 195, 238 f. – siehe auch Bad Waschung ​7, 46 , 188–192 – Teilwaschung ​156, 189, 290 Weinstock ​249 f., 344–347, 350 f., 356–358, 367, 381–386 Welt ​248, 254, 281, 302, 315, 318, 326, 335 Zeichen ​51–53, 54, 56, 69, 280, 293 f., 297, 336, 376 f., 387 Zeit ​232, 246, 355 – siehe auch Chronologie – erzählte ​120, 235 , 239 f. – nachösterliche ​236, 379, 381 Zeuge ​273, 358 Zeugenschaft ​220, 227, 235, 305 f., 319 f., 354, 360 f., 380–383 Zeugnis ​248, 254–256, 268, 343, 385 Zwölf ​6, 214, 243–245, 247–249, 255–258, 260 f., 281, 333, 381–383