Die Freiheit der Baukunst: Gehalt und Reichweite der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG im öffentlichen Baurecht [1 ed.] 9783428506828, 9783428106820


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German Pages 320 Year 2002

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Die Freiheit der Baukunst: Gehalt und Reichweite der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG im öffentlichen Baurecht [1 ed.]
 9783428506828, 9783428106820

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BERNHARD SCHNEIDER

Die Freiheit der Baukunst

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 882

Die Freiheit der Baukunst Gehalt und Reichweite der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG im öffentlichen Baurecht

Von Bernhard Schneider

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Schneider, Bernhard: Die Freiheit der Baukunst : Gehalt und Reichweite der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG im öffentlichen Baurecht / Bernhard Schneider. - Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 882) Zugl.: Berlin, Humboldt-Uni v., Diss., 2001 ISBN 3-428-10682-2

Alle Rechte vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10682-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Wieso gelingt es uns nicht, Städte zu bauen, wo wir nicht vor Lärm verdummen, nicht täglich in einem Verkehrshexenkessel zermürbt werden? (...) Man kennt den verfänglichen harmlosen Einwand: Nur keine Verpolitisierung der Planung! Unsere Meinung aber geht dahin, dass Städtebaufragen, die jeden Bürger angehen, nicht als Fachfragen (...) vor das Volk gehören, wohl aber als Frage: Welche Art von Gesellschaft wollt ihr? Also enthüllt als politische Alternative, enthüllt an konkreten Problemen, wie der Städtebau sie täglich liefert. Nur so kommen wir zur Willensbildung, womit die Masse zum Volk wird, der Einwohner zum Bürger, die Demokratie zu einer schöpferischen Realität - und das Häusermeer zur echten Stadt, zu unserer Stadt, die gewährleistet, was uns wichtig ist, und ausdrückt, wes Geistes Kind wir sind. Max Frisch, Wer formuliert die Aufgabe? Bauwelt 1957, S.729

Inhaltsübersicht Α. Einleitung I. Die Antinomie von (Bau-)Kunst und Macht II. Der Abgrund zwischen Recht und Wirklichkeit III. Danksagungen B. Grundrechtliche Problemexposition: Architektur zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit I. „Eigentum verpflichtet": Die Eigentumsfreiheit als klassisches Bauherrengrundrecht II. „Die Kunst ist frei": Sinn und Aufgabe der Kunstfreiheit III. Baukunst vor Gericht: Die mangelnde Umsetzbarkeit der verfassungsgerichtlichen Vorgaben IV. Problemstellung und Ausblick über den Gang der Bearbeitung C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau I. II. III. IV.

Zur Aufgabe einer Normbereichsanalyse Architektur: eine klassische Kunstgattung Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur Architektur und Städtebau D. Die Strukturierung der Kunstfreiheit als Grundrecht

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I. Der Kanon von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung . 85 II. Die Bestimmung des Schutzbereichs zwischen subjektivierenden und objektivierenden Auslegungstheorien 86 ΙΠ. Die Schranke des Vorbehalts der Verfassung 98 IV. Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte 115 E. Der Gehalt der Kunstfreiheit für die Baukunst I. Begriffe und Schutzumfang der Baukunst im einfachen Recht II. Die Gegenstände des Schutzes der Kunstfreiheit im Bereich der Baukunst

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Inhaltsübersicht

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III. Die Normoffenheit der Freiheit der Baukunst IV. Der Umfang des Schutzes der Freiheit der Baukunst F. Baurecht als Gestaltanweisung: Die Zugriffe des Baurechts auf das Werk der Baukunst I. II. III. IV. V. VI.

Die Gesetzgebungskompetenzen im Baurecht Gestaltanweisungen durch das Bauplanungsrecht Gestaltanweisungen durch das Bauordnungsrecht Gestaltanweisungen durch das Denkmalschutzrecht Die verfahrensbezogenen Anforderungen der Kunstfreiheit Andere städtebauliche Vorgehensweisen G. Resümee der bisherigen Überlegungen

I. II. III. IV.

Der verfassungsrechtliche Gewinn der Untersuchung Die verfassungsrechtlichen Wirkdimensionen der Freiheit der Baukunst Der baurechtliche Gewinn der Untersuchung Im Beispiel: Flachdach und Fassadenbemalung vor Gericht H. Weiterungen

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I. Überlegungen zu baukünstlerischen Vorhaben im Außenbereich II. Die Weltdeutungsgrundrechte: Kunst-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit

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Literaturverzeichnis

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Personenverzeichnis

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Verzeichnis der Gerichtsentscheidungen

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Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung I. Die Antinomie von (Bau-)Kunst und Macht II. Der Abgrund zwischen Recht und Wirklichkeit III. Danksagungen

B. Grundrechtliche Problemexposition: Architektur zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit I. „Eigentum verpflichtet": Die Eigentumsfreiheit als klassisches Bauherrengrundrecht 1. Die Eigentumsordnung als Ausgleich zwischen privatem und öffentlichem Interesse 2. Das Baurecht als Ausgestaltung der Eigentumsfreiheit 3. Zusammenfassung: Die Baufreiheit unter Vorbehalt II. „Die Kunst ist frei": Sinn und Aufgabe der Kunstfreiheit 1. Die Kunstfreiheit als Abwehrrecht und Grundsatznorm 2. Die Vorbehaltlosigkeit der Gewährleistung der Kunstfreiheit 3. Zusammenfassung: Kunst ist, was den Rahmen sprengt III. Baukunst vor Gericht: Die mangelnde Umsetzbarkeit der verfassungsgerichtlichen Vorgaben 1. Der Flachdach-Fall vor dem Bundesverwaltungsgericht 2. Der Breker-Fall vor dem Bundesverwaltungsgericht 3. Die Folge: Umsetzungsschwierigkeiten der Praxis IV. Problemstellung und Ausblick über den Gang der Bearbeitung

C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau I. Zur Aufgabe einer Normbereichsanalyse II. Architektur: eine klassische Kunstgattung III. Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur 1. Praktische und ästhetische Zweckmäßigkeit a) Architektur zwischen Zweckerfüllung und „absolutem Ausdruck" (Th. W. Adorno) b) Die Unterscheidung praktischer und ästhetischer Zwecke 2. Der Zweckcharakter der Architektur a) Praktische Zwecke in der Architektur (1) Allgemeine und nutzungsspezifische Zwecke (2) Zwecksetzung im Detail (3) Innen- und außenraumbezogene Zwecke

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Inhaltsverzeichnis

b) Ortsgebundenheit der Zweckerreichung c) Private und öffentliche Zwecke d) Zusammenfassung: Architektur als Zweckkunst 3. Architektur als Raumkunst a) Die Gestaltungsmittel (1) Volumenbildung (2) Materialität in der Architektur (3) , Architektur als Fiktion" (H. Klotz) (4) Das architektonische Werk b) Die Umgebung (1) Subjektiver Bezug auf Umgebung (2) Objektiver Bezug auf Umgebung (3) Die physische Konkurrenz von Werken der Baukunst (4) Werkeinheit in der Architektur im Verhältnis zur Umgebung c) Privater und öffentlicher Raum d) Zusammenfassung: Das architektonische Kunstwerk 4. Baukunst als soziale Realität a) Rezeptionsweise von Architektur b) Architektur als dauerhafte Kapitalbindung c) Architektur als Auftragskunst (1) Autonomie und Bindung an einen Auftraggeber (2) Die zwei Pole: Architekt und Bauherr (3) Die Bedeutung der Bauherrenschaft für die Baukunst (4) Architektur als Profession 5. Zusammenfassung: Dimensionen der Architektur IV. Architektur und Städtebau 1. Das Handlungsfeld des Städtebaus a) Der Ursprung des modernen Städtebaus b) Der Begriff des Städtebaus c) Die Instrumente des Städtebaus d) Grundlagen und Möglichkeiten des Städtebaus (1) Wissenschaft als Grundlage des Städtebaus (2) Öffentlichkeit und Städtebau (3) Die Notwendigkeit politischer Entscheidung (4) Künstlerischer Gestaltungsspielraum im Städtebau 2. Städtebau als Kunst a) Historische Strukturmodelle städtebaulichen und stadtbaukünstlerischen Handelns (1) Das Modell,Alte Stadt" (2) Das Modell „Residenzstadt" (3) Das Modell „Nationale Hauptstadt" (4) Das Modell „Funktionale Stadt" b) Städtebau und Stadtbaukunst heute (1) Die nachhaltige Stadt (2) Die aufgelöste Stadt (3) Ausblick c) Stadtbaukunst-eine „zugewandte" Kunst

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Inhaltsverzeichnis (1) Die infinite Stadt (2) Die kollektive und anonyme „Produktion" von Stadt (3) Stadtbaukunst als „zugewandte" Kunst d) Vom Städtebau zur Stadtbaukunst 3. Zusammenfassung: Architektur in der Stadt

D. Die Strukturierung der Kunstfreiheit als Grundrecht

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I. Der Kanon von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung . 85 II. Die Bestimmung des Schutzbereichs zwischen subjektivierenden und objektivierenden Auslegungstheorien 86 1. Architektur als Kunst im Sinne der Kunstfreiheit 86 2. Auslegungstopoi des Bundesverfassungsgerichts 88 a) Zur Definition von Kunst 88 b) Das Verbot wertender Einengung des Kunstbegriffs 89 c) Die Rolle des Selbstverständnisses der Grundrechtsberechtigten 92 3. Der künstlerische Geltungsanspruch als Leitfaden der Auslegung 93 a) Der soziale Geltungsanspruch in der Rechtsprechung 94 b) Der künstlerische Geltungsanspruch 95 c) Das Verhältnis der Geltungsansprüche von Kunst und Recht 97 4. Zusammenfassung: Zum Vorliegen eines Eingriffs in die Freiheit der Baukunst . 98 III. Die Schranke des Vorbehalts der Verfassung 98 1. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 99 a) Das Verbot der Schrankenübertragung 99 b) Die Ablehnung von A-priori-Schranken 100 c) Die Schranke der Rechtsgüter von Verfassungsrang 100 d) Abwägung als Verhältnisbestimmung von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranke 101 e) Die Bedeutung der Schrankendogmatik des Bundesverfassungsgerichts 102 2. Die Untauglichkeit von Schrankenlösungen zur Bestimmung der Reichweite der Freiheit der Baukunst 104 a) Grundrechte Dritter als Schranke? 104 (1) Das Grundrecht auf Stadtgestaltung 105 (2) Der soziale Frieden und Nachbarkunst als kollidierende Güter 105 (3) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Eigentums- und Religionsfreiheit als kollidierende Güter 106 b) Andere Rechtsgüter von Verfassungsrang - Demokratie vs. Grundrechte? ... 106 ( 1 ) Die Untauglichkeit staatlicher Gestaltungsermächtigungen als Schranke von Grundrechten 107 (2) Das Demokratieprinzip 108 (3) Kompetenznormen 108 (4) Staatszielbestimmungen 109 (a) Die verfassungsrechtliche Qualität von Staatszielbestimmungen ... 109 (b) Das Sozialstaatsprinzip 109 (c) Das Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen 111 (d) Der Kulturstaat als Staatsziel 111

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Inhaltsverzeichnis

(5) Das Recht der gemeindlichen Selbstverwaltung 3. Zusammenfassung: Die geringe Relevanz der Schrankenebene zur Bestimmung der Reichweite der Freiheit der Baukunst IV. Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte 1. Die Reichweite der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte 2. Einzelaspekte der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte 3. Die Untauglichkeit der Lehre von der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte zur Bestimmung des Normgehalts 4. Zusammenfassung: Die Ermittlung der objektiv-rechtlichen Dimension der Kunstfreiheit

E. Der Gehalt der Kunstfreiheit für die Baukunst I. Begriffe und Schutzumfang der Baukunst im einfachen Recht 1. Baukunst im Urheberrecht a) „Werk" und „Kunst" im Urheberrecht b) Der Umfang des urheberrechtlichen Schutzes (1) Der Schutz gegen die Entstellung des Werkes (2) Der urheberrechtliche Anspruch auf den Fortbestand des Kunstwerkes (3) Die postmortale Schutzwirkung des Urheberpersönlichkeitsrechts (4) Der urheberrechtliche Schutz des Umgebungsbezugs von Architektur . c) Der Beurteilungsmaßstab im Urheberrecht 2. Baukunst im Recht des Denkmalschutzes a) Künstlerische Bedeutung in der Denkmalpflege b) Die räumliche Erstreckung des Denkmalschutzes: Umgebungs- und Ensembleschutz, städtebauliche Bedeutung II. Die Gegenstände des Schutzes der Kunstfreiheit im Bereich der Baukunst 1. Die Unterscheidung von künstlerischem und nichtkünstlerischem Bauen a) Kunst als verfassungsrechtlicher Begriff (1) Der materiale Kunstbegriff (2) Der formale Kunstbegriff (3) Der zeichentheoretische Kunstbegriff (4) Der (erfolgreiche) künstlerische Akt der Behauptung als Kunst (5) Zusammenfassung: Offener Kunstbegriff plus Indizien b) Die Ergänzungsbedürftigkeit der allgemeinen Kunstbegriffe für die Baukunst (1) Die begrifflichen Folgen der Zweckbindung der Baukunst (2) Das Kriterium der Intensität der formalen Durchbildung c) Gestalterische Qualitäten zur Bestimmung des Kunstcharakters von Architektur (1) Bauwerkskörper (2) Aktiver Umgebungsbezug (3) Passiver Umgebungsbezug d) Der Beurteilungsmaßstab im Verfassungsrecht e) Zusammenfassung: Baukunst im Sinne der Kunstfreiheit 2. Die Schutzgegenstände im Einzelnen

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Inhaltsverzeichnis a) Der geschützte Personenkreis 136 (1) Der Architekt 136 (a) Der Architekt als Träger des schöpferischen Prozesses 136 (b) Postmortale Schutzwirkung der Kunstfreiheit 136 (2) Bauherr und Eigentümer als Künstler und Mittler 137 (3) Kein Schutz des Kunstrezipienten 138 (a) Rezeptionsästhetischer Ansatz 138 (b) Keine negative Kunstfreiheit 139 b) Werk-und Wirkbereich der Baukunst 139 (1) Der Schutz des Werkes der Baukunst 139 (a) Gestalt-und Fortbestandsschutz 140 (b) Umgebungsbezug 140 (2) Der Schutz des Wirkbereichs von Baukunst 140 (a) Die Unterscheidung von Werk- und Wirkbereich 140 (b) Keine Abstufung des Schutzes nach Werk- und Wirkbereich 141 (c) Der Wirkbereichsschutz der Baukunst 142 3. Gegenständliche Abgrenzung gegenüber anderen Grundrechten (Grundrechtskonkurrenz) 142 a) Baukunst als Beruf und Wirtschaftsgut 142 (1) Baukunst als Beruf 142 (2) Baukunst als Eigentum 143 (3) Abgaben auf und Vergütungen für Baukunst 143 b) Baukunst als Kommunikation 144 (1) Baukunst als Meinungsäußerung 144 (2) Baukunst als Religionsausübung 145 III. Die Normoffenheit der Freiheit der Baukunst 145 1. Versuche abstrakt-genereller Schutzbereichsbegrenzung 145 a) Ausgrenzung unspezifischer Modalitäten der Kunstäußerung (Fr. Müller) ... 145 (1) „Normprogramm" und „Normbereich" 145 (2) Unspezifische Modalitäten der Kunstausübung 146 (3) Einwände gegen Müllers Theorie: Extra-legale Grundrechtsverdopplung 147 (4) Baukunstbezogene Aussagen 149 (a) Schutz der Baukunst nur nach den Regeln des Wirkbereichs 149 (b) Kein Schutz der Ortsbezogenheit 149 (c) Verfassungswidrigkeit der Verunstaltungsverbote 150 (d) Kein Grundrechtsschutz gegen zweckbezogene Anforderungen ... 150 151 b) Ausgrenzung des eigenmächtigen Zugriffs auf fremde Rechtsgüter (1) „Der Zürcher sprayer" 151 (a) Der Inhalt der Sprayer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 152 (b) Das Verhältnis von Kunst- und Eigentumsfreiheit 153 (c) Weiterungen ( 1 ): Kunstfreiheit und die Problematik der Materialbeschaffung 155 (d) Weiterungen (2): Das Verhältnis von Kunstfreiheit und anderen Grundrechten 155 (e) Weiterungen (3): Kunstfreiheit undfiskalisches Eigentum 156

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Inhaltsverzeichnis (2)

Zur Verallgemeinerung der Sprayer-Lösung (Pieroth/Schlink) 158 (a) Die Beschränkung des Schutzes der Kunstfreiheit auf „auch sonst erlaubtes Verhalten" 158 (b) Die Folge: Der Verlust des rechtssphärenabgrenzenden Gehalts der Kunstfreiheit 158 (c) Zum Vergleich von Kunst-und Berufsfreiheit 160 (d) Zur Übertragbarkeit auf das Verhältnis von Baurecht und Baukunst 161 (e) Zusammenfassung 161 c) Ausgrenzung mittels des Normtypus der „allgemeinen Gesetze" 162 (1) Baurecht als „allgemeines Gesetz" 162 (2) Rückführung auf Evidenz (Rüfner) 163 (3) Rückführung der Freiheitsrechte auf den Gleichheitssatz (Bettermann). 163 2. Die Normoffenheit der Kunstfreiheit 164 a) Die Angewiesenheit der Grundrechte auf den Gesetzgeber 165 b) Normoffenheit als Eröffnung einer staatlichen Gestaltungsbefugnis 166 c) Differenzierungen im Rahmen der Normoffenheit 167 (1) Normoffene Teilschutzbereiche 167 (2) Qualitative Begrenzungen von Normoffenheit 168 IV. Der Umfang des Schutzes der Freiheit der Baukunst 169 1. Historische Einführung in die Kategorien des baurechtlichen Zugriffs auf das Werk der Baukunst 169 169 a) Bewahren und Gestalten - Das Kreuzberg-Urteil (1882) (1) Der Gehalt des Urteils 169 (2) Die Reichweite der polizeilichen Generalklausel 170 (3) Die Reichweite des Verunstaltungsverbots 171 (4) Wohlfahrt im Rechtsstaat: Der Weg der Spezialgesetzgebung 172 (5) Normgeber und Normanwender 172 b) Die Spannung zwischen praktischen und ästhetischen Zwecken im Baurecht 173 c) Die Ausdifferenzierung des Baurechts 173 2. Die Reichweite der Normoffenheit der Freiheit der Baukunst gegenüber der Verwirklichung praktischer Zwecke 175 a) Normoffenheit in der praktischen Dimension 175 b) Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit als Grenzen der Normoffenheit 176 ( 1 ) Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Mitteleinsatzes 176 (2) Das Bestimmtheitsgebot 177 c) (Kunst-) Freiheit als praktischer Zweck 177 d) Zusammenfassung: Die Bedeutung praktischer Belange für die Freiheit der Baukunst 178 3. Die Reichweite der Normoffenheit der Freiheit der Baukunst gegenüber der Verwirklichung ästhetischer Zwecke 178 a) Ästhetische Zwecke als legitime Gründe des Allgemeinwohls 178 b) Normoffenheit in der historischen und der räumlichen Dimension 179 c) Das ästhetisch schlüssige Programm als Voraussetzung von Normoffenheit . 180 d) Stadtgestaltung als ästhetisches Programm 181 (1) Schutz und Förderung des einzelnen Werkes der Baukunst 181 (a) Die Bewahrung vorhandener baukünstlerischer Substanz 181 (b) Die Schaffung neuer Baukunst 182

Inhaltsverzeichnis (2)

Der stadträumlich begründete Zugriff auf das Werk der Baukunst 183 (a) Die Möglichkeit eines stadtbaugestalterisch schlüssigen Programms 184 (b) Inhaltliche Kriterien zur Beurteilung ästhetischer Schlüssigkeit ... 184 (c) Prozedurale Kriterien zur Beurteilung ästhetischer Schlüssigkeit .. 185 (aa) Das Gebot diskursiver Offenheit 186 (bb) Das Gebot ästhetisch schlüssiger Entscheidung 187 e) Verhältnismäßigkeit und Bestimmtheit als Grenzen der Normoffenheit 188 ( 1 ) Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Mitteleinsatzes 188 188 (2) Bestimmtheit im Hinblick auf Gestaltfragen (a) Materielle Bestimmtheit ästhetisch bezweckter Normen 188 (b) Die Kompensation von Unbestimmtheit durch Verfahren 189 f) Zur These der Kunstfreiheit als Neutralitätsgebot 190 g) Zusammenfassung: Die Bedeutung ästhetischer Belange für die Freiheit der Baukunst 191

F. Baurecht als Gestaltanweisung: Die Zugriffe des Baurechts auf das Werk der Baukunst I. Die Gesetzgebungskompetenzen im Baurecht II. Gestaltanweisungen durch das Bauplanungsrecht 1. Gestalten durch Plan: Stadtgestaltung durch Bebauungsplanung a) Vorstufen der Bauleitplanung (1) Die Ziele der Raumordnung und Landesplanung (2) Die Zielvorgaben des Baugesetzbuches (a) Allgemeine Ziele (b) Die Planungsleitlinien (c) Die Ziele der Sanierungssatzung (3) Die Baunutzungsverordnung b) Die Bauleitplanung (1) Stadtbaugestalterische Erforderlichkeit als Teil der städtebaulichen Erforderlichkeit (2) Die planerischen Instrumente (a) Der Flächennutzungsplan (b) Die Instrumente der Bebauungsplanung (aa) Gestalterische Instrumente im Rahmen von Bebauungsplänen (bb) Die besonderen Instrumente der Sanierungssatzung (cc) Die Aufnahme fremder Regelungen in den Bebauungsplan ... (3) Der Einsatz der Instrumente: Das (gestalterische) Abwägungsgebot ... (a) Die Anforderungen des Abwägungsgebotes (b) Die Bedeutung des Abwägungsgebotes für gestalterische Fragen .. (aa) Baukunst als Belang und seine Gewichtung im Verhältnis zu praktischenZwecken (bb) Baukunst und baugestalterische Zwecke (cc) Baukunst und stadtgestalterische Zwecke (dd) Das gestalterische Abwägungsgebot (4) Planungskonstellationen: Die Überplanung der bestehenden Stadt

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Inhaltsverzeichnis

(a) Der Umgang mit der vorhandenen städtebaulichen Struktur 209 (b) Der Umgang mit dem vorhandenen Einzelbestand 211 c) Planverwirklichung durch städtebauliche Gebote 212 d) Ausnahmen und Befreiungen vom Bebauungsplan 212 (1) Insbesondere: Die Befreiung - die rechtlichen Voraussetzungen 213 (2) Zur Notwendigkeit einer spezifisch gestaltbezogenen Auslegung der Befreiungstatbestände 215 (3) Keine Befreiung allein aufgrund des Vorliegens von Baukunst 216 217 e) Kein subjektiv-rechtlicher Anspruch auf Planung 2. Fortschreibung des Vorhandenen durch Gesetz: Das Einfügungsgebot im unbeplanten Innenbereich 218 a) Die bauplanungsrechtlichen Instrumente im unbeplanten Innenbereich 218 (1) Funktionsweise: Rahmenbildung 218 (a) Zusammenhängende Bebauung eines Ortsteils 219 (b) Die Umgebung als Rahmen 219 (c) Einengendes Korrektiv: Das Gebot der Rücksichtnahme 220 (d) Erweiterndes Korrektiv: Das Verbot der Begründung oder Erhöhung bodenrechtlich beachtlicher und erst noch ausgleichsbedürftiger Spannungen 220 (e) Abwägung im Rahmen von § 34 Abs. 1 BauGB 221 (f) Die Einbeziehung der Baunutzungsverordnung im unbeplanten Innenbereich 221 (2) Das Gebot der Berücksichtigung der für die Landschaft charakteristischen Siedlungsstruktur 221 (3) Der zusätzliche Ortsbildschutz 222 (4) Die Satzungen nach §34 BauGB 222 (5) Die städtebaulichen Gebote 223 b) Verfassungsrechtliche Würdigung 223 (1) Das Einfügungsgebot als praktisch bezweckte Vorschrift 223 (2) Das Einfügungsgebot als ästhetisch schlüssiges Programm 224 (3) Das Verbot der Beeinträchtigung des Ortsbildes 227 (4) Abwägung im Rahmen des Einfügungsgebots als Erforderlichkeitsprüfung 227 (5) Die Einbeziehung der Baunutzungsverordnung 228 228 (6) Die Satzungen nach §34 BauGB (7) Der Einsatz der städtebaulichen Gebote außerhalb von Bebauungsplänen 228 III. Gestaltanweisungen durch das Bauordnungsrecht 229 1. Fortschreibung des Vorhandenen durch Gesetz: Das Verunstaltungsverbot als ästhetische Bestandssicherung 229 a) Der Regelungsgehalt des Verunstaltungsverbots 229 b) Verunstaltung durch Kunst 231 (1) Die bauwerksbezogene Verunstaltung 231 (2) Die umgebungsbezogene Verunstaltung 231 (3) Graffiti usw. als Verunstaltung 233 c) Die Berücksichtigung der beabsichtigten Gestaltung 233 d) Der subjektiv-rechtliche Anspruch auf Schutz vor Verunstaltung 234 2. Gestalten durch Plan: Stadtgestaltung durch örtliche Bauvorschriften 236

Inhaltsverzeichnis a) Das (gestalterische) Abwägungsgebot im Bauordnungsrecht b) Kein subjektiv-rechtlicher Anspruch auf Planung 3. Die praktisch bezweckten Regelungen in den Landesbauordnungen a) Das Recht zur Alternative: Ausnahmen und Befreiungen im Bauordnungsrecht b) Insbesondere: Die Abstandsvorschriften vor der Kunstfreiheit (1) Abstandsvorschriften zwischen Ordnungs-und Planungsfunktion (2) Abstandsvorschriften in Plangebieten (3) Abstandsvorschriften außerhalb von Plangebieten IV. Gestaltanweisungen durch das Denkmalschutzrecht 1. Die Bewahrung des Vorhandenen: Die Grundzüge des Rechts des Denkmalschutzes 2. Unterschutzstellung und die Berücksichtigung gegenläufiger Interessen 3. Denkmalschutz und neue Baukunst 4. Umgebungs- und Ensembleschutz durch Denkmalrecht 5. Die Erhaltungssatzung nach dem Baugesetzbuch 6. Die Reichweite subjektiver Rechte im Denkmalschutz V. Die verfahrensbezogenen Anforderungen der Kunstfreiheit 1. Grundlage: Die Problematik von Prärogativen der Normgeber 2. Bundes- und Landesgesetzgebung 3. Die Rolle exekutivischer Normgebung a) Die Anforderungen an die Verordnungsgebung: Art. 80 GG und die Wesentlichkeitslehre b) Die Baunutzungsverordnung zwischen Bundesgesetzgeber, gemeindlicher Selbstverwaltung und grundrechtsberechtigtem Bürger 4. Das Gebot der Zweistufigkeit gemeindlicher Planungen a) Das Verfahren der Bauleitplanung (1) Die verfahrensrechtliche Berücksichtigung der gestalterischen Fragen . (2) Instrumente der Plansicherung b) Die Vorgehens weise bei Erlass einer Gestaltungssatzung 5. Baugenehmigungsverfahren, Bauvorlageberechtigung und Freistellungspolitik .. 6. Verfahren im Denkmalrecht 7. „Kooperative" Verfahren, insbesondere der städtebauliche Vertrag 8. Konsistenzsicherung durch Kompetenzkonzentration 9. Kunstfreiheit und Rechtsschutz VI. Andere städtebauliche Vorgehensweisen 1. Die verfassungsrechtliche Bedeutung anderer städtebaulicher Vorgehensweisen . 2. Die „sonstige" städtebauliche Planung a) Vorgehensweise und Gegenstand der Rahmen- und Entwicklungsplanung ... b) Der Gewinn von Rahmen- und Entwicklungsplanung für die Fragen städtischer Gestalt c) Das Berliner Beispiel des Planwerks Innenstadt 3. Weitere Organisations- und Verfahrensformen a) Der Stadtbaumeister b) Beratende Beiräte c) Der Wettbewerb 2 Schneider

236 237 238 238 240 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 250 252 253 253 254 256 257 257 258 258 260 261 262 263 265 265 266 267 267 268 269 269 269 271 272

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Inhaltsverzeichnis

G. Resümee der bisherigen Überlegungen I. Der verfassungsrechtliche Gewinn der Untersuchung 1. Der grundrechtsdogmatische Gewinn 2. Der grundrechtstheoretische Gewinn 3. Der rechtspraktische Gewinn II. Die verfassungsrechtlichen Wirkdimensionen der Freiheit der Baukunst 1. Die Freiheit der Baukunst als Eingriffsabwehrrecht 2. Die Freiheit der Baukunst als negative Kompetenznorm: Der Schutz des Werkes der Baukunst 3. Schutzpflichtwahrnehmung durch das öffentliche Baurecht 4. Die organisations- und verfahrensrechtliche Dimension der Freiheit der Baukunst 5. Die leistungsrechtliche Dimension der Freiheit der Baukunst 6. Die materiell-rechtliche Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers im öffentlichen Baurecht III. Der baurechtliche Gewinn der Untersuchung 1. In der Bauleitplanung 2. Im unbeplanten Innenbereich 3. Im Bauordnungsrecht 4. Im Denkmalrecht 5. Kompetenzfragen 6. Kunstfreiheit und Rechtsschutz 7. Andere städtebauliche Vorgehensweisen IV. Im Beispiel: Flachdach und Fassadenbemalung vor Gericht

H. Weiterungen

273 273 274 274 275 275 276 276 277 277 278 279 279 280 281 282 283 284 284 284 285

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I. Überlegungen zu baukünstlerischen Vorhaben im Außenbereich 1. Der Grundsatz der Freihaltung des Außenbereichs 2. Gestaltvorgaben für Außenbereichsvorhaben 3. Der Breker-Fall 4. Die Uneindeutigkeit des Städtischen II. Die Weltdeutungsgrundrechte: Kunst-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit 1. Der Schutz von „Weltdeutung" durch vorbehaltlose Grundrechte a) Das deutsche Konzept vorbehaltloser Grundrechte b) Die Grenzen der Wissenschaft c) Religionsfreiheit als „Toleranz" 2. Personale Geltungsansprüche und eine freiheitliche Rechtspolitik

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Literaturverzeichnis

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Personenverzeichnis

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Verzeichnis der Gerichtsentscheidungen

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Je peinlicher die Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis den Disziplinen nachgeht, desto unverkennbarer stellt deren methodische Inkohärenz sich dar. Mit jedem einzelwissenschaftlichen Bereiche führen neue und unableitbare Voraussetzungen sich ein, in jedem werden die Probleme der ihm vorgelagerten mit derselben Nachdrücklichkeit als gelöst betrachtet, mit der die Unabschließbarkeit ihrer Auflösung in anderem Zusammenhange behauptet wird. (...) Allein es ist diese Diskontinuität der wissenschaftlichen Methode so weit entfernt, ein minderwertiges, vorläufiges Stadium der Erkenntnis zu bestimmen, dass sie vielmehr deren Theorie positiv fördern könnte, wenn nicht die Anmaßung sich dazwischen legte, in einem enzyklopädischen Umfassen der Erkenntnisse der Wahrheit, die sprunglose Einheit bleibt, habhaft zu werden. Walter Benjamin1

A. Einleitung I. Die Antinomie von (Bau-)Kunst und Macht Im Angesicht der behutsam wiederhergestellten Schönheit so manchen Ortes in den neuen Bundesländern kommt schmerzhaft zu Bewusstsein, von welchen Wunden sich die deutschen Städte noch erholen müssten. Nach Siedlers Diktum von der „gemordeten Stadt" (1961) und Mitscherlichs Anwurf der „Unwirtlichkeit" (1965)2 kann es inzwischen als allgemeine Erkenntnis gelten, dass das Antlitz der deutschen Städte im 20. Jahrhundert verkommen ist. Anlass zur Hoffnung gibt, dass heute auch die Einsicht, dass es mit einzelnen Verschönerungsmaßnahmen nicht getan ist, allgemein zu werden scheint. Es hilft ja nicht, die Pflasterung öffentlicher Plätze mit immer neuen Linien und Rosetten zu versehen, andere Poller, Mülleimer oder Wegweiser zu verwenden, Brunnen zu installieren, Fußgängerzonen auszuweisen oder Altstadthäuser herauszuputzen. Gestaltwirkungen vermitteln in erster Linie die baulichen Strukturen der Stadt: das Verhältnis von Straße, Platz und Haus, das von privaten und öffentlichen Flächen, die Verteilung der Volumina im Raum, die Vielfalt sinnlich wahrnehmbarer Beziehungen - ob sie gesehen, gehört oder ergangen werden - , die in Alterung und Erneuerung zum Aus1

Ursprung des deutschen Trauerspiels, 1990, S. 15. Siedler/Niggemeyer, Die gemordete Stadt, 1961; Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, 1965. 2

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Α. Einleitung

druck kommende Historizität städtischer Orte, die Materialität von Bauwerken und Stadträumen. Manches städtebauliche Projekt der 90er Jahre hat daraus Folgerungen gezogen, allen voran die mutigen und schönen Entwürfe neuer Siedlungen im Freiburger Rieselfeld und im Potsdamer Kirchsteigfeld. 3 Auch die bestehende Stadt wurde wiederentdeckt: die ganze Stadt und nicht nur ihre Teile „historische Altstadt" und „Neubauviertel" - und sowohl die Kernstadt4 wie die sich scheinbar unaufhaltsam ausbreitende „Zwischenstadt"5. Die 90er Jahre haben auch in Bezug auf die Verfahren, die Stadt zu finden und zu erfinden, neue Phantasie freigesetzt. 6 Die Stadtentwicklungsplanung hat in neuen Verfahrensformen, die inhaltlich auf Gestaltorientierung und prozedural auf ein Zusammenwirken der städtischen Akteure setzen, zu einem neuen Anwendungsfeld gefunden. 7 Auch andere, räumlich weniger umfassende Vorhaben sind in Zielsetzung und Verfahren ambitiös und erfolgreich, angefangen beim trotz mancher Kritik unverzichtbaren Wettbewerb8 über unkonventionelle Vorgehensweisen wie dem Community Planning9 oder die Einrichtung differenziert instrumentierter Beiräte. 10 Wenn der Stadtplaner-Nachwuchs auch nach wie vor weitgehend im sozialtechnologischen Habitus der funktionsorientierten Flächenplanung geschult wird 11 , ist also Bewegung doch abzusehen. Das gibt Anlass, darüber nachzudenken, welche Komplizenschaft dem Recht bei dem rücksichtslosen Umgang mit der städtischen Gestalt vorzuwerfen ist. Denn wie in anderen Bereichen gesellschaftlicher Veränderung ist es das Recht, das die Instrumente zur Verfügung stellt. Zugleich hält es aber auch Maßstäbe bereit, an denen politische Aktivität zu messen ist. Vor allem die in der Verfassung niedergelegten Grundrechte erlauben, das geltende Recht auf seine Rolle für die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der Einzelnen wie der Gesellschaft als Ganzer zu befragen. Dies ist das Vorhaben dieser Ausarbeitung. 3

Vgl. Wiegandt, Neue Stadtteile in den 90er Jahren, IzR 1998, S. 537 ff. Auf ihr liegt etwa Hoffmann-Axthelms erstes Augenmerk, vgl. Die dritte Stadt, 1993. 5 Sie ist Schwerpunkt etwa von Sieverts Überlegungen, vgl. Zwischenstadt, 1999. 6 Näher noch unten F. VI. 7 Etwa: das Berliner Planwerk Innenstadt, inzwischen rechtsverbindlich, vgl. Bekanntmachung v. 18.5.1999, ABl. Berlin Nr. 41 v. 13.8.1999, S. 3131 ff., hierzu etwa: Kleihues, Der „Masterplan" als künstlerisch wegweisendes Großstadtmodell, 1991 oder die Neugestaltung von Kassels Unterneustadt, s. Η offmann-Axthelm, Anleitung zum Stadtumbau, 1996, S. 195 ff. 8 Etwa: Knapp, Jurykratie, Kursbuch 112 (1993), S.97ff. 9 Vgl. Stadt Essen (Hrsg.), Wie geht es weiter am Berliner Platz?, 1999, insb. S. 12ff. und Wie geht es weiter am Burgplatz?, 2000, insb. S. 10ff.; s. a. Kaltenborn, Planungswut in Essen, SZ Nr. 120 v. 28.5.1999; zur „Wuppertaler Planungszelle" s. etwa Losch/Gottmann, DÖV2000, S. 372 ff. 10 Beispielsweise in Berlin: Beirat für Städtebau und Stadtgestaltung beim Senator für Stadtentwicklung; in Frankfurt/M.: der Städtebaubeirat; in Bern: die städtische Fachgruppe „Gestaltung im öffentlichen Raum". 11 Beispielhaft Braam, Stadtplanung, 1999: kein Wort zu gestalterischen Fragen. 4

II. Der Abgrund zwischen Recht und Wirklichkeit

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Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass das Grundgesetz in seiner in Art. 5 Abs. 3 enthaltenen Gewährleistung der Freiheit der Kunst auch Baukunst12 unter grundrechtlichen Schutz stellt. Wo aber in der Stadt Gestaltwirkungen hergestellt, beeinflusst oder gestört werden, da ist immer auch die Freiheit des Lebensbereiches der Architektur, der professionell auf den Umgang mit Gestalt verpflichtet ist, berührt. Das Antinomische, das nach dem Maß gebenden Wort von Helmut Ridder das Verhältnis von Kunst und Macht bestimmt - und dennoch nicht berechtigt, die beiden Sphären als abstrakt gegeneinander gerichtet zu verstehen - , ist im Feld von Baukunst und Städtebau bislang nicht hinreichend gewürdigt worden. 13

II. Der Abgrund zwischen Recht und Wirklichkeit Bevor diese Aufgabe angegangen werden kann, sind einige einschränkende Anmerkungen notwendig. Die Ausarbeitung ist darauf angewiesen, die Wirklichkeit von Kunst, von Baukunst und Städtebau, möglichst breit einzubeziehen. Wie sonst sollte der juristischen Reflexion der notwendige Sachbezug vermittelt werden! Jedoch ist es der methodischen Aufrichtigkeit halber geboten, den Anschein zu vermeiden, sie käme von der Kunst her zu den ausgebreiteten Problemen. Sie tut es nicht: Ihr Ausgangspunkt und ihre Zielstellung sind rechtlich. Die Wirklichkeit bleibt für den Juristen ein fremdes Land. Die folgenden Ausführungen genügen daher sicher nicht den Ansprüchen außerjuristischer Diskurse über Kunst im Allgemeinen und über Baukunst und Städtebau im Besonderen. Doch muss der Versuch sachhaltiger Rede gemacht werden. Es ist immer wieder das Bemühen, der Wirklichkeit gerecht zu werden, das die Selbstbezüglichkeit normativer Diskurse öffnet und die sachliche Richtigkeit und Gerechtigkeit von Recht gesellschaftlich erörterbar macht - was der Verfasser als die erste Pflicht und das erste Vergnügen einer für die Sache von Freiheit und Demokratie streitenden Rechtswissenschaft benennen mag. Wer den Schwerpunkt verfassungsdogmatischer Analyse auf die Wahrnehmung von Wirklichkeit legt, muss anderes vernachlässigen. Grundsätzliche methodenkritische Fragen werden in dieser Arbeit weitgehend zurückgestellt; immerhin sollte der Verfasser hier seine geistige Nähe zu topischen14 und hermeneutischen15 Ansät12 Zur Begrifflichkeit: Der Begriff der „Baukunst" ist - wie der der Architektur - doppelsinnig (vgl. Stichwort „Kunst" in: Brockhaus Enzyklopädie, 1990). Er beschreibt zum einen eine handwerklich-fachkundige Vorgehensweise, wie in Kochkunst, Ingenieurskunst oder ärztlicher Kunst; dieser Bereich dürfte heute treffender als Bautechnik zu bezeichnen sein (Waidenfels, Wolkenkuckucksheim, 1/1996, S. 1). Von diesem Sinn hat sich die Bedeutung von Kunst als dem, was ein Künstler hervorbringt, emanzipiert. Im Folgenden werden die Begriffe Architektur und Baukunst synonym verwendet. 13 Vgl. Ridder, Freiheit der Kunst nach dem Grundgesetz, 1963, S. 22. 14 Grundlegend: Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1974. 15 Grundlegend: Gadamer , Wahrheit und Methode, 1960/1990, insb. S.270ff. und 330ff.; Müller, Normstruktur und Normativität, 1966.

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Α. Einleitung 16

zen, und auch zur Diskurstheorie , offen legen. Die Arbeit baut auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf. Ihre wichtigsten Instrumente sind, wie die der juristischen Praxis, der Normtext 17 und das Präjudiz, für dessen Richtigkeit eine Vermutung streitet. 18 Es überforderte die Möglichkeiten einer Dissertation, tabula rasa zu machen und ganz neue Systematiken zu entwerfen; eine solche Anstrengung dürfte ohnehin nicht die Aufgabe der heutigen Rechtswissenschaft sein, erinnerte sie doch, um beim Thema zu bleiben, allzu verblüffend an die letztendlich zerstörerische Planungseuphorie der 60er und frühen 70erJahre. Immerhin mag darauf hingewiesen werden, dass für den Fall einer Aufgabe oder Relativierung der Figur des kollidierenden Verfassungsrechts, die sich beim Bundesverfassungsgericht zuweilen andeutet,19 die Ausführungen ihre Bedeutung über weite Strecken behielten, sei es im Schutzbereich, sei es für die dann wichtigere Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Schrankenziehung. Was die Arbeit trägt, ist der Gedanke einer Theorie der Praxis: eines praxisnahen und zugleich theoretisch unbestechlichen Vorgehens als eines Suchens nach einer „vernünftigen" Lösung für die aufgeworfenen Probleme. Abschließend: Sicher wird oft nicht das wünschenswerte Maß an Vertiefung und Konsistenz in der Argumentation erreicht. Vielleicht kann der Gedanke entschuldigen, eine Doktorarbeit habe eine These zugespitzt vorzutragen und nicht das Heil in einer wasserdicht ausgearbeiteten Begründung zu suchen.

I I I . Danksagungen Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2001 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. An erster Stelle danke ich Prof. Dr. Winfried Hassemer; er hat mir das rechtswissenschaftliche Denken erschlossen. Dank gilt sodann vor allem Prof. Dr. Bernhard Schlink, der die Arbeit betreut hat. Für die rasche Anfertigung des Zweitgutachtens danke ich Prof. Dr. Ulrich Battis. Besonders verbunden bin ich Prof. Dr. Rosemarie Will; die Mitarbeit an ihrem Lehrstuhl habe ich als sehr bereichernd erfahren. Dem Literaturwissenschaftler Dr. Markus Edler danke ich für gemeinsames Nachdenken und die kritische Durchsicht des Manuskripts. Um die Schärfung meines künstlerischen Urteilsvermögens haben sich die Architekten Marc Jordi, Susan16 Grundlegend: Habermas, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, 1983 und Faktizität und Geltung, 1998; Alexy, Theorie der juristischen Aigumentation, 1983. 17 Für dessen präzisere Analyse und eine Dogmatik der Einzelgrundrechte grundlegend: Schlink, Abwägung, 1976,195 und EuGRZ 1984, S. 457 ff. 18 Grundlegend: Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1976; W. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, 1994. 19 So etwa, wenn in diesem Rahmen umstandslos das Sozialstaatsprinzip herangezogen wird, BVerfG v.27.4.1999, BVerfGE 100,271/284-Lohnabstandsklauseln, s. dazu auch unten D. III. 2. b) (4) (b).

III. Danksagungen

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ne Keller und Hans Günther, sowie Marvin Altner, Steffi Wurster, Barbara Beyer und Bernd Schoepe bemüht. Der Stadtplanerin Dominique S.Plüss sei für ein Gespräch über die Berner Fachgruppe „Gestaltung im öffentlichen Raum", deren Mitglied sie ist, gedankt, Dr. Werner Sewing für eine kritische Führung durch die Berliner Mitte. Den Herren Rechtsanwalt Haldenwang und RiOVG Liermann sei herzlich für die Heranführung ans Baurecht gedankt. Herrn Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem habe ich dafür zu danken, dass er mir großzügigerweise ermöglichte, die Dissertation neben der Tätigkeit als sein wissenschaftlicher Mitarbeiter fertigzustellen. Der Karlsruher Kollege Dr. Wolfgang Kunze hat mich auf die justizgrundrechtliche Dimension künstlerischer Freiheit aufmerksam gemacht und mit mir über die Baunutzungsverordnung diskutiert. Dem Leiter der Bibliothek des Bundesverfassungsgerichts, Dr. Roth-Plettenberg, ist für Rat und Tat besonders herzlicher Dank geschuldet. Dank möchte ich Dr. Marion Albers sagen, die mich in der Endphase der Dissertation aufgemuntert hat. Für ihre Begleitung danke ich besonders Herbert Weide, Bettina Klingbeil und meinen Eltern. Nicht zuletzt sei ein Dank auch an die Studienstiftung des deutschen Volkes gerichtet. Sie bot neben der finanziellen Hilfe, ohne die mir eine Promotion nicht möglich gewesen wäre, vor allem Foren der Aussprache mit Gleichgesonnenen. Für Inhalte und Fehler der nachstehenden Ausarbeitung bin ich selbstverständlich allein verantwortlich. Der Text kann durch Inhaltsübersicht und -Verzeichnis, sowie durch angefügte Verzeichnisse über Personen und Gerichtsentscheidungen erschlossen werden.

Während das Recht auf Normalisierung zielt und um Kontinuität bemüht ist, zeigt sich Kunst immer wieder als ein Sprengen ihrer Normen. Adolf Arndt1

B. Grundrechtliche Problemexposition: Architektur zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit Das Kapitel führt das rechtliche Problem, dessen Lösung sich diese Arbeit widmet, vor: welche Maßstäbe die Gewährleistung der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG für das Baurecht bereithält und inwieweit das öffentliche Baurecht den Anforderungen dieses Grundrechts genügt. Zunächst wird knapp über die herkömmliche grundrechtliche Strukturierung des Baurechts durch die Eigentumsfreiheit des Art. 14 GG berichtet (I.). Die Anforderungen der Kunstfreiheit und ihre verfassungsrechtliche Verankerung werden dargestellt (II.). Schließlich wird erörtert, dass die verfassungsgerichtlichen Vorgaben von der Instanzgerichtsbarkeit kaum ins einfache Baurecht umzusetzen sind (III.) und ein Ausblick über den Gang der Bearbeitung gegeben (IV.).

I. „Eigentum verpflichtet": Die Eigentumsfreiheit als klassisches Bauherrengrundrecht Gerne werden im baurechtlichen Schrifttum die grundrechtlichen Bezüge des Rechtsgebietes in allgemeiner Weise vorab behandelt, typischerweise auf die in Art. 14 GG gewährleistete Eigentumsfreiheit beschränkt.2 Stellen sich dem „Vordie-Klammer-Ziehen" verfassungsrechtlicher Fragen schon grundsätzliche Bedenken entgegen, weil das einfache Recht wie aus dem Grundgesetz deduziert daherkommt,3 so vermag allemal nicht die Beschränkung auf die Eigentumsfreiheit zu befriedigen. Beides verkürzt den Blick auf die Komplexität der rechtlichen und tatsächlichen Wirklichkeit. Erst neuere Stellungnahmen weisen vorsichtig auch auf die grundrechtlichen Bezüge zur Kunstfreiheit hin. 4 Ein kurzer Aufriss der grundlegenden Leitlinien der Dogmatik von Art. 14 GG - soweit baurechtsbezogen - ist daher 1

NJW 1966, S.26. Statt vieler Finkelnburg! Ortlojfl, S. 16ff. und Hoppe! Grotefels, Öffentliches Baurecht, §2 Nr. 3, S. 45 ff. 3 Wahl, NVwZ 1984, S.401/406f. 4 Battis, Öffentliches Baurecht, S. 206; stellvertretend für ältere Überlegungen Hoppe, DVB1. 1964, S. 170 im Rahmen von Ausführungen zu Art. 14 GG über die Gefahr der „Geschmacksdiktatur". 2

I. Die Eigentumsfreiheit als klassisches Bauherrengrundrecht

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hilfreich, um die spezifisch von der Kunstfreiheitsgarantie aufgeworfenen Fragen deutlicher zu sehen. 1. Die Eigentumsordnung als Ausgleich zwischen privatem und öffentlichem Interesse Art. 14 GG ist ein Grundrecht, das von vornherein die Interpretation als subjektives Abwehrrecht verweigert: Der Wortlaut nimmt den Inhaber des Rechts, den Eigentümer, ausdrücklich positiv für das Gemeinwohl in die Pflicht. Der Gesetzgeber wird in einer besonders weitgehenden Weise ermächtigt: Ihm obliegt die Bestimmung des Inhalts des Grundrechts selbst. Dabei darf er nicht nur, sondern muss die Belange des Allgemeinwohls zur Geltung bringen. 5 Eine substantielle Grenze zieht das Bundesverfassungsgericht erst bei der sog. Institutsgarantie des Eigentums. Es verlangt hierfür, eine als Eigentum zu qualifizierende Rechtsposition müsse noch den Namen des Eigentums „verdienen"; dazu gehöre ihre „Privatnützigkeit" und eine grundsätzliche Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand.6 Mit einem gewissen Recht kann man daher davon sprechen, dass erst der gesetzgeberische Akt, nicht schon das Grundrecht selbst die Grenzen zwischen den dem Einzelnen zustehenden Rechten und den Befugnissen der Allgemeinheit zieht. Hierbei geht weder das private, noch das öffentliche Interesse grundsätzlich vor. 7 Beide sind, in der Ausdrucksweise des Bundesverfassungsgerichts, in einen gerechten Ausgleich zu bringen. 8 Eine Bindung durch die Verfassung ist also vorhanden, aber sie ist locker.9 Angemessen ist daher die Rede von der Normprägung der Eigentumsfreiheit. 1 0 Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Gesetzgeber eine eigene, genuin ihm zuwachsende Gestaltungsaufgabe verwirklicht, für die das Grundrecht weniger eine Grenze denn eine „Richtschnur" ist. Das Grundrecht erlaubte im Einzelfall auch eine andere normative Ausgestaltung: Jede neue Inhaltsbestimmung ist eine neue, anders mögliche Konfliktlösung. 11

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Pieroth! Schlink, Grundrechte, RudNr.929. BVerfG v. 18.12.1968, BVerfGE 24, 367/389 - Hamburger Deich; BVerfG v. 28.2.1980, BVerfGE 53, 257/290 - Versorgungsausgleich; zuletzt BVerfG v. 2.3.1999, BVerfGE 100, 226/241, 243 - DSchG RLP. 7 Weyreuther, Situationsgebundenheit, S.45. 8 BVerfG v.23.4.1974,BVerfGE37,132/140f.- Wohnraumkündigung; BVerfG v.8.1.1985, BVerfGE 68, 361/368 - Eigenbedarfskündigung; die methodischen Einzelheiten können hier dahinstehen; genauer: PierothlSchlink, Grundrechte, RdNr. 929. 9 Genauer Ρieroth/Schlink, ebd., RdNr. 928 ff. 10 Ebd., RdNr. 894; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 107ff.: „grundrechtsprägende Normen"; Häberle benutzt den Begriff „grundrechtsgestaltend", in: Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1983, S. 182 m. w. N.; zahlreiche andere Ausdrucksvarianten bei Weyreuther, Situationsgebundenheit, S.45 mit Nachweisen. 11 „Inhaltsneubestimmung ist Konfliktneuentscheidung.", Weyreuther, ebd., S.55. 6

Β. Architektur zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit

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2. Das Baurecht als Ausgestaltung der Eigentumsfreiheit Das Bundesverfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass die Verankerung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums historisch betrachtet auf die gemeinwohlgerechte Nutzung vor allem auch des Grundeigentums abzielt.12 Der Bundesgesetzgeber hat als eines der durch das Bundesbaugesetz13 zu lösenden Grundsatzprobleme die „Handhabung" der Eigentumsgarantie gesehen.14 Es war sogar schon davon die Rede, das Bundesbaugesetz sei ein „Ausführungsgesetz zu Art. 14 GG". 15 Die Frage, was dem inhalts- und schrankenbestimmendem Gesetzgeber durch Art. 14 GG vorgegeben wird, ist naturgemäß im Baurecht von zentraler Bedeutung. Auf hohem Abstraktionsniveau wird die Debatte unter dem Stichwort „Baufreiheit" geführt. Gefragt wird, ob die Bebaubarkeit eines Grundstücks diesem von vornherein innewohnt16 oder ob sie, so die provokante Gegenthese, dem Eigentümer erst durch staatlichen Akt verliehen wird. 17 Der Anspruch auf eine Baugenehmigung wäre dann ein Leistungsrecht. Es ist hier nicht der Ort, zu dieser Debatte Stellung zu nehmen. Einiges spricht dafür, dass sie ein Scheingefecht darstellt und die Wahrheit in der Mitte liegt, die der Gesetzgeber als Inhalt und Schranken des Eigentums im geltenden Baurecht kodifiziert hat. Dass dieses einen „generellen und ausnahmslosen Planvorbehalt" enthält, hat Werner Hoppe herausgearbeitet. 18 Die Bebaubarkeit eines Grundstücks ist von staatlicher Entscheidung abhängig. Damit wird jede Ausweisung der Bebaubarkeit eines Grundstücks - jedenfalls soweit sie das gesetzliche Maß übersteigt - mittels eines Planungsaktes zu einem Vorgang mit ausschließlich begünstigenden Wirkungen. Einen Rechtsanspruch auf Bebauungsplanung gibt es nicht, § 2 Abs. 3 BauGB. Hoppe hat auf die konstruktive Nähe zwischen dem geltenden Bauplanungsrecht und der Vorstellung vom Planungsakt als konstitutiver Gewährung der Baufreiheit hingewiesen.19 So ist die These von der verliehenen 12

BVerfG v. 12.1.1967, BVerfGE 21, 73/83 - Grundstücksverkehrsgesetz mit Hinweis auf die Materialien. 13 Gesetz v. 23.6.1960 - BauGB - , BGBl. IS. 341 ; reformiert durch das Gesetz zur Änderung des Bundesbaugesetzes v. 18.8.1976, BGB1.I S.2221 (neu bekanntgem. BGB1.I S.2256, ber. S. 3617) und die Beschleunigungsnovelle v. 6.7.1979, BGBl. I S. 949; als Baugesetzbuch - BauGB - seit dem Gesetz v. 8.12.1986, BGBl. IS. 2191 unter Einschluss der vormaligen Regelungen des Städtebauförderungsrechtes; BauGB zuletzt geändert durch das Bau- und Raumordnungsgesetz 1998 v. 18.8.1997 - BauROG - , BGBl. I S. 2081; Neubekanntmachung des Baugesetzbuchs in BGBl. 19971 S.2141 mit BGBl. 19981S. 137. 14 Entwurfsbegr. BBauG, BT-Drucks. 3/336, S.56. 15 Werner, DVB1. 1952, S. 261/262. 16 Nach der h. M. sind Grundstücke im Innenbereich grundsätzlich bebaubar, vgl. statt vieler Battis/Krautzbeiger/Löhr-£rawizfcerger, § 34 RdNr. 19 und Breuer, Die Bodennutzung im Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, 1976, S. 163 mit zahlr. Nachw. aus RSpr. und Lit.; weitergehend Leisner, DVB1. 1992, S. 1065 ff. 17 Breuer, ebd.; Schulte, DVB1. 1979, S. 133 ff. 18 Hoppe, DVB1. 1964, S. 165 ff. 19 Ebd., S. 168.

I. Die Eigentumsfreiheit als klassisches Bauherrengrundrecht

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Baufreiheit als argumentativ zugespitzter Hinweis auf die leistungsrechtlichen Aspekte des Baurechts lesbar. Übrig bleibt eine Baufreiheit, die in ihrer gesetzlichen Ausgestaltung in den Schutzbereich des Art. 14 GG fällt. Das verfassungsrechtliche Gebot eines gerechten Ausgleichs zwischen privaten und öffentlichen Interessen wird im Rahmen der Bauleitplanung im Abwägungsgebot des § 1 Abs. 6 BauGB für das einfache Recht konkretisiert. Danach sind die öffentlichen und die privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen; nicht die Belange des Einzelnen, aber auch nicht die der Allgemeinheit genießen abstrakt Vorrang. 20 Materiell präzisieren Rechtsprechung und Literatur 21, seit neuestem auch das Bundesverfassungsgericht 22, die Sozialpflichtigkeit des Grundeigentums anhand des Begriffs der Situationsgebundenheit. Danach bleibt eine baurechtliche Regelung jedenfalls so lange im Bereich der zulässigen Inhalts- und Schrankenbestimmung, als sie bloß die sich aus der Lage und Beschaffenheit des jeweiligen Grundstücks ergebenden Nutzungen rechtlich gestattet oder untersagt. Auf diese Weise wird die Bebaubarkeit eines Grundstücks an den Maßstab des Vorhandenen gebunden. Sklavisch ist diese Bindung nicht. Paradigmatisch ist die verwaltungsgerichtliche Auslegung des Begriffs des „Einfügens in die Eigenart der näheren Umgebung" in § 34 BauGB. 23 Die Vorschrift regelt die Bebaubarkeit im städtischen Bebauungszusammenhang, wenn kein Bebauungsplan vorliegt. Hier gehe es, so das Bundesverwaltungsgericht, „weniger um »Einheitlichkeit4 als um Harmonie'" 2 4 ; ein Vorhaben füge sich auch dann ein, wenn es den Rahmen des Vorhandenen überschreite, im Übrigen aber keine nur durch Bauleitplanung zu bewältigenden bodenrechtlichen Spannungen in ein Gebiet trage. 25 Ein anderes Beispiel sind die sich aus der Natur- und Landschaftsschutz-, sowie - innerstädtisch von größerer Relevanz - aus der Denkmalschutzgesetzgebung ergebenden Pflichten. Auch sie werden als Ausprägung der Situationsgebundenheit des Grundeigentums verstanden.26 20

Ebd., S. 170f.; vgl. BVerwG v. 12.12.1969, BVerwGE 34, 301/309 - B-Plan „Im Tr.". Grundlegend BGH v. 20.12.1956, BGHZ 23,30/32ff. - Grünflächenverzeichnis und Weyreuther, Situationsgebundenheit; s. a. Hoppe/Grotefels, Öffentliches Baurecht, § 2 RdNr. 69 und Breuer, Die Bodennutzung im Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, 1976, S. 133 ff.; aktuell: BGH v. 23.6.1988, BGHZ 105, 15/18 - DSchG BW und BVerwG v. 24.6.1993, BVerwGE 94,1/4. 22 BVerfG v. 2.3.1999, BVerfGE 100,226/242 - DSchG RLP mit Nachweisen aus der RSpr.; BVerfG v. 15.1.1969, BVerfGE 25, 112/119-Niedersächsisches Deichgesetz noch ohne Verwendung des Begriffs der „Situationsgebundenheit": ein Bebauungsverbot auf Seedeichen spreche „nur aus, was sich aus der besonderen öffentlichen Aufgabenstellung und Lage des Grundstücks ergibt.". 23 Grundlegend BVerwG v. 26.5.1978, BVerwGE 55, 369/385ff. - B-Plan Nr. 8. 24 Ebd., S.386. 25 Ebd., S.387. 26 BVerfG v. 2.3.1999, BVerfGE 100, 226/242 - DSchG RLP; Steinberg, NVwZ 1992, S. 14/15 mit Fußn. 17; anders noch RGZ 116, 268/272 - Galgenberg (zu Art. 153 Abs. 2 WRV). 21

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Β. Architektur zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit

Dass sich prima facie belastende Regelungen je nach dem gegebenen Interessengeflecht zuweilen zu Gunsten des Eigentümers auswirken können, sei nur nebenbei angemerkt.27 So kann etwa der Denkmalschutz als Belang auftreten, der gemeinsam mit dem Eigentum gegen die Verwirklichung öffentlicher Bauvorhaben streitet. Dem bisher Gesagten lässt sich ein bestimmtes Modell der Verteilung von Entscheidungsbefugnissen zwischen privaten und öffentlichen Akteuren entnehmen. Bauherren dürfen grundsätzlich bauen, sind jedoch auf den Maßstab des Vorhandenen festgelegt. Das den Vorgaben von Art. 14 GG folgende Baurecht monopolisiert die Entscheidung über die Erlaubnis, den Maßstab des Vorhandenen zu verlassen, bei der planenden öffentlichen Hand. Schon ob eine positive oder negative Entscheidung über eine Bauleitplanung überhaupt getroffen werden soll, steht allein in der Kompetenz der zuständigen öffentlichen Institution; der einzelne Bürger wie auch andere Träger öffentlicher Gewalt haben kein Initiativrecht, § 2 Abs. 3 BauGB. Die gesonderten Instrumente des Natur-, Landschafts- und Denkmalschutzes sind sogar ausschließlich auf die Bewahrung des Vorhandenen ausgelegt.28 3. Zusammenfassung: Die Baufreiheit unter Vorbehalt Die Eigentumsfreiheit des Art. 14 GG ist das Grundrecht, das herkömmlich das Baurecht grundrechtlich strukturiert. Es ist das klassische Bauherrengrundrecht. Das Baurecht ist Inhalt und Schranke des Eigentums. Der Gesetzgeber unterliegt nach Art. 14 GG von vornherein einer doppelten Bindung: nicht nur der, private Freiheiten zu achten, sondern auch der, Zwecke des Allgemeinwohls gegen private Verfügung zu sichern. Dies ergibt sich aus dem doppelten Verweis auf die Gewährleistung des Eigentums wie dem auf seine „Sozialpflichtigkeit". Verfassungsrechtlich gebunden ist der Gesetzgeber nur an die weite Grenze grundsätzlicher Privatnützigkeit und an die materielle wie prozedurale Notwendigkeit, einen „gerechten Ausgleich" unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu schaffen. Der Baufreiheit wohnt im geltenden Recht ein deutlicher leistungsrechtlicher Aspekt inne. Grundeigentum steht unter dem Vorbehalt öffentlicher Planung. In der Regel konkretisiert der Topos von der Situationsgebundenheit des Grundeigentums seine Sozialpflichtigkeit. Er verweist das Bauwerk auf eine Orientierung am Rahmen des städtisch Gegebenen und erhellt damit die rechtliche Konservativst des geltenden Baurechts. Sie tritt besonders intensiv in den Instrumenten des Natur- und Landschafts- und des Denkmalschutzes zu Tage. Erst durch Entscheidung der zuständigen Stellen der öffentlichen Hand werden diejenigen Wege, die heute technisch wie ästhetisch möglich sind, dem Bauen auch rechtlich eröffnet. 27

Ausführlich Wey reuther, Situationsgebundenheit, S.8ff. Seit dem BNatSchG vom 20.12.1976 (BGB1.I S. 3573) ist auch die positive Pflege der Schönheit von Natur und Landschaft öffentliche Aufgabe, § 1 Abs. 1 Nr. 4. 28

II. Sinn und Aufgabe der Kunstfreiheit

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II. „Die Kunst ist frei": Sinn und Aufgabe der Kunstfreiheit 1. Die Kunstfreiheit als Abwehrrecht und Grundsatznorm Grundlegend anders ist die rechtliche Struktur der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG beschaffen. Sie verbürgt ihrer Form nach ein klassisches, auf Abwehr staatlicher Eingriffe gerichtetes Grundrecht. Die knappe aber weitreichende Formulierung ,»Die Kunst ist frei." schreibt die Tradition aufklärerischen Denkens unmittelbar fort. In Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung erstmals enthalten29, hat sich der Verfassungsgeber des Grundgesetzes in Anbetracht der Ausschaltung einer freien Kunst und der Verfolgung von Kunst und Künstlern im Nationalsozialismus30 noch einmal bewusst für einen ausdrücklichen grundrechtlichen Schutz der Kunst entschieden.31 Aus der Erfahrung des Nationalsozialismus heraus will das Bundesverfassungsgericht die freiheitssichernde Funktion des Grundrechts noch verstärken: 32 Die Kunstfreiheit sei als „objektive, das Verhältnis des Bereiches Kunst zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm" 33 mehr als ein subjektives Abwehrrecht. Geschützt werde nicht nur der Künstler als Individuum und der künstlerische Hervorbringungsprozess. 34 Auch das aus ihr hervorgehende Kunstwerk mitsamt seiner realen Wirkungsmächtigkeit sei von Art. 5 Abs. 3 GG umfasst. Die beiden Aspekte werden vom Bundesverfassungsgericht im Anschluss an Friedrich Müller einprägsam als „Werkbereich" und „Wirkbereich" bezeichnet.35 Auch die Tätigkeit der notwendigen Mittler von Kunst - etwa Verleger 36 und Schallplattenproduzenten37 - fallen also in den Schutzbereich. Als „Sinn und Aufgabe" der Kunstfreiheit arbeitet das Bundesverfassungsgericht heraus, „die auf der Eigengesetzlichkeit der Kunst beruhenden, von ästhetischen Rücksichten bestimmten Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen von jeglicher Ingerenz öffentlicher Gewalt freizuhalten. Die Art und Weise, in der der Künstler der Wirklichkeit begegnet und die Vorgänge gestaltet, die er in dieser 29

Grundlegend Kitzinger 1930, Art. 142 Satz 1 WRV, S.449ff. Statt vieler Brenner, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, 1963. 31 Zum GG als Gegenbild zum Nationalsozialismus Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, 1997, § 8 RdNr. 6. Die geltenden Verfassungstexte anderer Länder, wie auch internationale Menschenrechtsvereinbarungen kennen ein eigenständiger Grundrecht der Kunstfreiheit überwiegend nicht. Österreich hat das Grundrecht als Art. 17ades Staatsgrundgesetzes 1982 eingeführt, BGBl. 1982/262, die Schweiz im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung als Art. 21 der Bundesverfasssung. 32 BVerfG v.24.2.1971, BVerfGE 30,173/189-Mephisto. 33 Ebd., S. 188. 34 Ebd., S. 189. 35 Ebd.; Müller, Freiheit der Kunst, 1969, S.97ff. 36 BVerfG v. 24.2.1971, BVerfGE 30,173/191. 37 BVerfG v. 5.3.1974, BVerfGE 36, 321/331 - Schallplatten-Umsatzsteuer. 30

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Β. Architektur zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit

Begegnung erfährt, darf ihm nicht vorgeschrieben werden, wenn der künstlerische Schaffensprozess sich frei soll entwickeln können."38 Dem Künstler selbst wird das alleinige Recht zugesprochen, „über die »Richtigkeit4 seiner Haltung gegenüber der Wirklichkeit" zu entscheiden.39 Damit aber verbiete die Kunstfreiheit, „auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeit einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen, oder allgemein verbindliche Regeln für diesen Schaffensprozess vorzuschreiben." 40 Dies lässt sich kurz als das Verbot jedes staatlichen Kunstrichtertums und jeder Stil- und Niveaukontrolle zusammenfassen. 41 Das Bundesverfassungsgericht macht sich so zum entschiedenen Anwalt der Kunst. Es hat recht damit. Während die Eigentumsfreiheit strukturell den Ausgleich zwischen dem öffentlichen und dem privaten Interesse sucht, schlägt sich die Kunstfreiheit mit wehenden Fahnen auf die Seite des Einzelnen. Befragt man die ausdrucksstarken Formulierungen des Gerichts aber auf ihre Bedeutung für die Freiheit der Baukunst, scheinen Formeln wie die des § 34 BauGB vom „Einfügen in die Eigenart der näheren Umgebung" dem Anspruch dieses Freiheitsrechtes offenkundig zuwider zu laufen. 42 Dass sich Kunst an dem messen lassen soll, was überkommen ist oder dass sie wenn schon nicht auf Einheitlichkeit, dann aber doch auf Harmonie verpflichtet sein soll, ruft Widerspruch hervor, sobald Bauen als Kunst betrachtet wird. Kunst ist, möchte man meinen, das, was sich nicht fügt. 43 Allemal ist ein Bebauungsplan eine weitreichende „Ingerenz der öffentlichen Gewalt" in den Schaffensprozess des Baukünstlers. Und man muss gar nicht erst auf die Detailvorschriften mancher Gestaltungssatzung sehen, um zu erkennen, dass das Baurecht auch schon dem „Schaffensprozess" des Architekten „allgemein verbindliche Regeln" vorgibt. Ausdrücklich fällt die öffentliche Hand selbst Entscheidungen ästhetischer Natur. Sie beanspruchen im gegebenen Fall auch gegen die Vorstellungen betroffener Bauherren und Architekten nicht nur Rechtsgültigkeit, sondern sogar ästhetische »Richtigkeit4. 38

BVerfG v.24.2.1971, BVerfGE 30,173/190-Mephisto; der Begriff der „Eigengesetzlichkeit"findet sich schon bei Kitzinger 1930, Art. 142 Satz 1 WRV, S. 449/457. 39 BVerfG, ebd. 40 Ebd. 41 Zum Begriff „Kunstrichter" s. das Stichwort im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Ritter/Gründer, Bd. 4:1-K, 1978. 42 Scharf wider die obrigkeitliche Bevormundung durch das Baurecht Kitzinger 1930, Art. 142 Satz 1 WRV, S. 449/473 ff. 43 Vgl. das zum Motto dieses Kapitels dienende Diktum Adolf Arndts, NJW 1966, S.26; beim Bundesverfassungsgericht: „... die »Avantgarde* zielt gerade darauf ab, die Grenzen der Kunst zu erweitem.", BVerfG v. 17.7.1984, BVerfGE 67, 213/205 - Anachronistischer Zug; grundlegend Wellershoff, Die Auflösung des Kunstbegriffs, 1976, passim, insb. S. 28 ff., 126f.; hintersinnig äußert sich Habermas: „Der radikale Versuch der Aufhebung der Kunst setzt ironisch jene Kategorien ins Recht, mit denen die klassische Ästhetik ihren Gegenstandsbereich eingekreist hatte; freilich haben sich diese Kategorien dabei auch selber verändert." in: Die Moderne-ein unvollendetes Projekt, 1990, S.9/47.

II. Sinn und Aufgabe der Kunstfreiheit

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Nun hatte das Bundesverfassungsgericht bislang nicht über die Reichweite der Kunstfreiheit für das öffentliche Baurecht zu entscheiden. Es hat im Mephisto-Beschluss hervorgehoben, dass abstrakte Aussagen mit Gültigkeit für alle Kunstgattungen nicht möglich sind. Vielmehr sei ein „tieferes Eingehen auf die sehr verschiedenen Äußerungsformen künstlerischer Betätigung" erforderlich. 44 Dem wird hier gefolgt. Sinn der vorliegenden Arbeit ist es, eine Antwort auf die Frage zu entwerfen, welchen grundrechtlichen Schutzes gerade die Baukunst bedarf. Dass hinter den hohen Ansprüchen, die das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, nicht vorschnell zurückgeblieben werden darf, nur weil sie nicht so recht auf das zu passen scheinen, was wir als Baurecht kennen, versteht sich. 2. Die Vorbehaltlosigkeit der Gewährleistung der Kunstfreiheit Näher betrachtet liegt das Hauptproblem darin zu bestimmen, wie weit die Kunstfreiheit die Gesetz- und Satzungsgeber in ihrer Gestaltungsfreiheit einschränkt. Anders als die Eigentumsfreiheit mit ihrer weiten Ermächtigung, begrenzt Art. 5 Abs. 3 GG die Normgebung streng. Die Gewährleistung der Kunstfreiheit ist nicht unter einen Gesetzesvorbehalt gestellt. Das Bundesverfassungsgericht hat dem entnommen, dass die Grenzen des Kunstfreiheit nur von der Verfassung selbst bestimmt seien. 45 Trotz aller grundsätzlichen Fragen, denen sich diese Rechtsprechung stellen muss46, entbehrt das nicht der Logik. Sogar wenn man mit Bettermann davon ausgehen wollte, dass der Verfassungsgeber mit den verschiedenen Gesetzesvorbehalten „einen Schrankenwirrwarr angerichtet, aber kein Schrankensystem errichtet hat" 47 , liegt die Annahme nahe, das Fehlen eines Gesetzesvorbehaltes entziehe dem Gesetzgeber die Befugnis, das Grundrecht zu beschränken. So sieht es das Bundesverfassungsgericht und belässt dem Gesetzgeber nur die Aufgabe, der Verfassung schon innewohnende Schranken gesetzlich zu konkretisieren. Das Gericht und mit ihm ein guter Teil des Schrifttums sieht die eigentliche Frage darin, wieviel und welchen Spielraum die Verfassung hierbei lässt. Dem wird in der vorliegenden Arbeit nachzugehen sein. Dagegen soll der Streit, ob die zitierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Schranken vorbehaltloser Grundrechte richtig ist, hier nicht geschlichtet werden. Zu erörtern sein wird nur, was die kritischen Stimmen speziell 44 BVerfG v. 24.2.1971, BVerfGE 30, 173/189 - Mephisto; ebs. BVerfG v. 17.7.1984, BVerfGE 67,213/224 - Anachronistischer Zug; in einem neueren Kammerbeschluss wird eine „kunstspezifische Betrachtung" gefordert, BVerfG-Kammer v. 29.6.2000-1 BvR 825/98, http://www.bverfg.de - Heiner Müller. 45 BVerfG v. 24.2.1971, BVerfGE 30,173/193 - Mephisto. 46 Kriele, JA 1984, S. 629 ff. und HBStR V, § 110 RdNr. 69 f.; Lerche, Ausnahmslos und vorbehaltlos geltende Grundrechtsgarantien, 1994, S. 515/525 ff.; pro Bundesverfassungsgericht: Denninger, Freiheit der Kunst, HBStR VI, § 146 RdNr. 39; s.a. Schmidt, AöR 106 (1981), S. 497 ff., insb. S. 506f. 47 Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1976, S.3.

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Β. Architektur zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit

zur Kunstfreiheit auszuführen haben. Soviel vorab: Es ist nicht viel. Exemplarisch überzeugt etwa Bettermanns ansonsten vielleicht praktikabler Gedanke, was jedermann verboten sei, sei auch dem Künstler verboten, 48 kaum: Die Kunstfreiheit begünstigt eben gerade den Künstler, und das Baurecht richtet sich nicht an jedermann, sondern spezifisch an Architekten und Bauherren. Dieser und andere theoretische Ansätze werden erörtert. 49 Entscheiden soll schließlich, dass der zu verfolgende Ansatz auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufbauen kann. Antworten werden daher zu einem großen Teil gar nicht erst auf der Ebene der Kollision der Kunstfreiheit mit verfassungsimmanenten Schranken in der Form von „Grundrechten Dritter und anderen Verfassungsgütern" gesucht, sondern in den im Gegenstand der Baukunst selbst angelegten Spannungen zwischen öffentlicher und privater Verfügungsgewalt über ästhetische Fragen. Dies wirft methodische und dogmatische Fragen auf, die für das vorliegende Thema gehaltvoller sind, als die Diskussion der Dogmatik der vorbehaltlosen Grundrechte. Immerhin wird am Ende der Arbeit eine kleine essayistische Skizze zu einer allgemeinen Dogmatik dieser Grundrechte stehen. 3. Zusammenfassung: Kunst ist, was den Rahmen sprengt Kunst ist, was den Rahmen des Vorgegebenen sprengt - vielleicht nicht nur das, aber auch das; Baurecht ist eine gezielte, inhaltlich gehaltvolle Einflussnahme auf künstlerische Entscheidungen. Die Kunstfreiheit sichert die künstlerische Autonomie; der Baurecht setzenden und Bebauung planenden öffentliche Hand ist die Befugnis zu weitreichenden, auch ästhetischen Entscheidungen eingeräumt. Das Bundesverfassungsgericht entnimmt dem Grundgesetz die Notwendigkeit, Eingriffe in die Kunstfreiheit durch die Verfassung selbst zu rechtfertigen. - Auf der Grundlage dieser Aussagen versucht diese Arbeit angemessene Lösungen für die grundrechtliche Prüfung des Baurechts an der Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG zu entwerfen.

I I I . Baukunst vor Gericht: Die mangelnde Umsetzbarkeit der verfassungsgerichtlichen Vorgaben Die Instanzgerichte müssen mit der strengen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zurecht kommen. Dass die Umsetzung von Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts durch den „einfachen" Richter Grenzen hat, ist bekannt.50 Zum Hasardspiel allerdings gerät die Suche nach kollidierenden Verfassungsgütern, die der Kunstfreiheit verfassungsimmanente Schranken setzen. Die im Folgenden besprochenen Gerichtsentscheidungen - darunter die beiden gegenwärtig maßgebenden 48 49 50

Ebd., S.27. s.u. E.III. 1. Nicht bekannt ist dagegen, wer dafür in größerem Maße verantwortlich ist.

III. Baukunst vor Gericht

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Judikate des Bundesverwaltungsgerichts zur Freiheit der Baukunst - mögen zeigen, dass funktionierende Maßstäbe für die Entscheidung von Konflikten zwischen baukünstlerischen Ansprüchen und geltendem Baurecht nicht gefunden wurden. 51 1. Der Flachdach-Fall vor dem Bundesverwaltungsgericht Das Bundesverwaltungsgericht hatte 1991 über den folgenden Fall zu entscheiden52: Einem Bauvorhaben mit einem Flachdach und einer in Metall und Glas gearbeiteten Fassade war die Baugenehmigung aus baugestalterischen Gründen versagt worden. Dabei spielte offenkundig eine benachbarte, 1911 errichtete „modern-historisierende Villa" eine Rolle. Diese hatte einen weit ausladenden Dachsims, einen hohen Dachaufbau, sowie eine plastisch reich gegliederte Fassade. Vor dem Bundesverwaltungsgericht beriefen sich die Bauherren des Neubauvorhabens ohne Erfolg auf die Kunstfreiheit. Das Gericht sah die Voraussetzungen der Grundsatzrevision, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, als nicht gegeben an. In den Gründen gibt das Gericht zunächst die wesentlichen Züge der Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts zur Kunstfreiheit wieder: Die Freiheit der Kunst sei nur durch Grundrechte Dritter oder andere Rechtsgüter von Verfassungsrang einschränkbar; es habe zwischen ihr und der herangezogenen Schranke eine Abwägung stattzufinden. Auch die Baukunst wird als Schutzgegenstand der Kunstfreiheit verstanden; gegen Ende des Beschlusses heißt es sogar, dass wegen des weiten verfassungsrechtlichen Kunstbegriffes nicht nur ein schmaler Bereich von Bauwerken aus dem allgemeinen Baugeschehen als Kunst herausgehoben werden könne. Damit begab sich das Bundesverwaltungsgericht - wenn auch zunächst mit aller Vorsicht 53 - endlich in die Gefolgschaft des Bundesverfassungsgerichts, nachdem es die Baukunst lange in die Schranken der Eigentumsfreiheit gezwungen hatte.54 Als kollidierendes Verfassungsrecht wird in dem Beschluss die Kunstfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG selbst und zusätzlich das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 GG herangezogen. Das Gericht führt aus, dass die relevanten baugestalterischen Vorschriften u. a. den Zweck hätten, den Wirkbereich vorhandener baulicher Anlagen mit besonders erhaltenswerter äußerer Gestalt vor störenden Einwirkungen durch hinzutretende bauliche Anlagen zu schützen, damit ihre ebenfalls von Art. 5 Abs. 3 GG umfasste künstlerische Aussage weiterhin möglichst wirkungsvoll zur Geltung kommen kön51 Weitere Beispiele für Rechtsanwendungsunsicherheiten der Instanzgerichte im Zusammenhang mit der Kunstfreiheit bei Würkner, Freiheit, S. 118 ff. 52 BVerwG v. 27.6.1991, BRS 52 Nr. 118 - Flachdach (= Buchholz 406.41 Baugestaltungsrecht Nr. 4 = NVwZ 1991, S.983, BauR 1991, S.727); Bespr. Würkner DÖV 1992, S. 150. 53 BVerwG, ebd., S.279 („Selbst wenn an dieser Auffassung nicht uneingeschränkt festzuhalten sein sollte..."). 54 BVerwG v. 10.12.1979, BRS 35 Nr. 133 (= Buchholz 406.41 Baugestaltungsrecht Nr. 3).

3 Schneider

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Β. Architektur zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit

ne. Nach dem Bundesverwaltungsgericht steht also Kunst gegen Kunst. Daneben hält das Gericht die Abwehr von Verunstaltungen für einen „Beitrag zum allseitigen psychischen Wohlbefinden seiner [des Staates, Anm. d. Verf.] Bürger (...) sowie zum sozialen Frieden in der Gemeinschaft". Verfassungsrang soll hier Art. 2 Abs. 2 GG vermitteln. Schließlich mahnt das Gericht, wie selbst von der Vagheit seiner Formeln erschrocken, zu „äußerster Zurückhaltung"; die Frage, welches Gewicht die die Beschränkung von Art. 5 Abs. 3 GG tragenden Gründe haben müssten, könne nicht allgemein, sondern nur im Einzelfall geklärt werden. 55 Es ist bemerkenswert, wie offensichtlich sich das Bundesverwaltungsgericht vom Bundesverfassungsgericht gezwungen sieht, die Probleme auf der Schrankenebene zu lösen, ohne dafür die Voraussetzungen gegeben zu sehen. So behauptet es notgedrungen die Existenz von ganz wundersamen Schranken. Denn dass der moderne Verfassungsstaat zu Gunsten des bloßen Wohlbefindens seiner Bürger kommunikative Grundrechte beschneiden darf, davon war noch nicht zu hören. Auch ist bemerkenswert, wie der Beschluss jede Reflexion auf den Begriff der Baukunst wie auf die Funktionsweise der Kunstfreiheit im Baurecht verweigert. Es sieht fast so aus, als ob sich das Gericht durch den Verweis auf den Einzelfall für alle Zukunft des Entscheidungsdrucks entledigen will. Statt dass es die grundlegenden Rechtsfragen klärte, wirft es selbst neue auf: ob die Gerichte irgendwelche alten Gebäude ohne fachkundige Einvernahme für Kunst halten dürfen; ob bestehende Kunst vor neuer den Vorrang genießen soll; ob neue Baukunst den Wirkbereich vorhandener überhaupt beeinträchtigen kann; ob die baugestalterischen Normen (welche?) Baukunst (auch) schützen und nicht (nur) beschränken. Gar nicht genannt wird das Denkmalschutzrecht, dessen Umgebungsschutz immerhin lex specialis zu den baurechtlichen Regelungen sein könnte. Schließlich lässt das Ergebnis des Gerichtes stutzen: Ist es nicht ein Fall geradezu typischen Kunstrichtertums, wenn die sich in Rachdach und Metall-Glas-Fassade zum Ausdruck bringende moderne baukünstlerische Formensprache gegenüber einem in seiner künstlerischen Qualität nicht einmal irgendwie belegten Altbau zurücktreten muss? 2. Der Breker-Fall vor dem Bundesverwaltungsgericht Um einen ganz besonderen Fall von Baukunst ging es im Breker-Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts. 56 Der Kläger begehrte, auf seinem Wochenendgrundstück im Außenbereich zwei Artemis und Aurora zeigende Statuen aufzustellen. 55

Ebd., S.280. BVerwG v. 13.4.1995, NJW 1995, S. 2648 - Breker (= BauR 1995, S. 665; Buchholz 406.11 §35 BauGB Nr. 309; BRS 57 Nr. 109); Vorinstanzen: VGH München v. 9.1.1995 (Az. 15 Β 94/980, nicht veröffentlicht); VG Regensburg v. 12.10.1993 (Az.RN6 Κ 93/307, nicht veröffentlicht); Besprechungen von Murswiek, JuS 1995, S. 1131, Schütz, JuS 1996, S.498ff., Uhle, UPR 1996, S.55, Vesting , NJW 1996, S. 1111. 56

III. Baukunst vor Gericht

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Dabei handelte es sich um Werke des Nazi-Künstlers Arno Breker von monumentalen Ausmaßen: Die Statuen sind sechs Meter hoch und sieben Meter lang; sie sollten auf ca. sieben Meter hohe Sockel gesetzt werden. Ursprünglich waren die Statuen, offenkundig ein staatliches Auftragswerk, für eine Aufstellung am Beginn der Reichsautobahn in München vorgesehen.57 Die Baugenehmigung wurde u. a. wegen Verunstaltung des Landschaftsbildes gem. § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB versagt. Das Bundesverwaltungsgericht sah wiederum keinen grundsätzlichen Klärungsbedarf. Die Gründe beginnen mit der Darstellung der wesentlichen Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts, jetzt ergänzt durch die Erwähnung des Verbots der eigenmächtigen Inanspruchnahme fremder Rechtsgüter.58 Darauf folgt wieder der Hinweis auf Art. 2 Abs. 2 GG: Das in § 35 Abs. 3 BauGB enthaltende Verunstaltungsverbot sichere die Verfassungsgüter des psychischen Wohlbefindens der Bürger und des sozialen Friedens in der Gemeinschaft. Das Gericht weiß, wie dünn der Halm ist, an dem es sich da hält. Daher nutzt es die Gelegenheit, das noch taufrische Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen, Art. 20 a GG, unterstützend heranzuziehen. Klärungsbedürftig ist dem Gericht in seinem ersten Judikat zu der Norm dabei nicht, ob ein Staatsziel verfassungsrechtlich überhaupt zur Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen taugt. Immerhin wird der begrenzte inhaltliche Radius der Vorschrift zutreffend mit dem Schutz der natürlichen Ressourcen Luft, Wasser und - hier allenfalls relevant - Boden umschrieben. Im Ausgleich der kollidierenden Verfassungsgüter soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Baukunst „maßgeblich durch die Sozialbindung des Eigentums mitgeprägt" werde. 59 Schließlich sollen die wesentlichen Entscheidungen vom Einzelfall abhängig sein.60 Auch dieser Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts zur Baukunst zeichnet sich durch eine sonst selten zu beobachtende Unbeholfenheit aus. Die Erwähnung der Sozialbindung des Eigentums öffnet als Hintertür Art. 20 a GG, durch die die Schranken des Art. 14 GG wieder hereingelassen werden. Ungeklärt bleibt, wie das Verbot der Verunstaltung des Landschaftsbildes mit der Art. 20 a GG innewohnenden Zielrichtung des Ressourcenschutzes zusammenhängt. Jedenfalls lässt das Bundesverwaltungsgericht ästhetisch motivierte baurechtliche Normen verbal nur dann vor der Kunstfreiheit gelten, wenn »hinter4 ihnen noch der Zugriff auf eine funktionale, also gerade nicht ästhetische Ebene von Verfassungsrang möglich ist.

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So die Feststellung in VGH München v. 9.1.1995, Az. 15 Β 94/980, Umdruck S. 3. BVerfG-Vorprüfungsausschuss v. 19.3.1984, NJW 1984, S. 1293 - Sprayer; dazu näher unten E.III.l.b). 59 BVerwG v. 13.4.1995, NJW 1995, S.2648/2649-Breker. 60 Ebd. 58

3*

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Β. Architektur zwischen Kunst- und Eigentumsfreiheit

3. Die Folge: Umsetzungsschwierigkeiten der Praxis Auf die Suche nach Verfassungsgütern »hinter4 ästhetisch motivierten Normen begibt sich auch die untergerichtliche Rechtsprechung. Als Beispiel sei eine Entscheidung des OVG Koblenz angeführt. 61 Das Gericht suchte einen verfassungsrechtlichen Grund des Verunstaltungsverbots in einer Gefährdung von Leben und Gesundheit von motorisierten Verkehrsteilnehmern. Diese könnten durch die plakative Wirkung einer Fassade abgelenkt und daher in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG gefährdet werden. Im zu entscheidenden Fall hat das Gericht eine solche Wirkung nach einem Ortstermin jedoch nicht erkennen können. Es sollte klar sein, dass ästhetisch motivierte Vorschriften wie das Verunstaltungsverbot auch ästhetisch vor der Kunstfreiheit entweder gerechtfertigt oder verworfen werden müssen. Für Gefährdungen von Leib und Leben oder anderen Rechtsgütern hält die Rechtsordnung eigene Vorschriften parat. Auch diese können vor der Kunstfreiheit problematisch sein, dies jedoch nicht deshalb, weil sie einen eigenen gestalterischen Anspruch durchsetzen wollen. Weder das Bundesverwaltungsgericht noch die unteren Instanzgerichte wissen im Baurecht etwas Sinnvolles mit der Kunstfreiheit anzufangen. Der bauaufsichtlichen Praxis wird es nicht anders ergehen. Es ist an der Zeit zu klären, welche Reichweite die Kunstfreiheit im Baurecht hat.

IV. Problemstellung und Ausblick über den Gang der Bearbeitung Die grundlegende Frage ist, in welchem Umfang der Staat selbst ästhetische Zwecke verfolgen und inwieweit er ihre Verwirklichung auch gegen die Träger des Grundrechts der (Bau-) Kunstfreiheit durchsetzen darf. Zwischen dem einen Extrem des - sicher verbotenen - staatlichen Kunstrichtertums und dem anderen Extrem einer - sicher nicht verfassungsrechtlich gebotenen - privaten Aneignung des städtischen Raums wird ein der Freiheit der Kunst gerecht werdender Ausgleich zu suchen sein. Hier hat bislang die Konzentration der dogmatischen Bemühungen auf die Eigentumsgarantie die genuin ästhetische Dimension von Baukunst und Städtebau verhüllt. Zudem wird zu fragen sein, inwiefern sich andere als ästhetische Belange gegen die Kunstfreiheit durchsetzen können. Dabei geht es um den gesamten Bereich praktischer Fragen, von unmittelbar lebenssichernden Vorschriften wie Brandschutznormen bis hin zur staatlichen Fürsorge für so etwas wie das „psychische Wohlbefinden 44 der Bürger, wie es etwa in den Planungsleitlinien der gesunden Wohnverhältnisse oder der sozialen Bedürfnisse in § 1 Abs. 5 Satz 2 BauGB angesprochen wird. Zur Durchführung dieser Aufgabe ist eine gehaltvolle Analyse der tatsächlichen und rechtlichen Strukturen der Freiheit der Baukunst notwendig. Die Strukturlogik 61

OVG Koblenz v. 24.7.1997, NJW 1998, S. 1422 - Fassadenbemalung.

IV. Problemstellung und Ausblick

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der Kunstgattung Baukunst muss erschlossen werden, um Eingriffe identifizieren zu können. Die Gefährdungslage des Grundrechts der Kunstfreiheit muss analysiert werden, um die angemessene Reichweite des Grundrechtsschutzes im Baurecht zu ermitteln. 62 Am Anfang steht deshalb die für die Dogmatik der Freiheit der Baukunst vor allem anderen entscheidende Bestandsaufnahme der Wirklichkeit von Architektur und Städtebau (Kapitel C). Dann wird die rechtliche Strukturierung der Kunstfreiheit erörtert; sie weist auf, warum die Schrankenebene weitgehend ohne Bedeutung ist (Kapitel D). Anschließend wird der Rechtsgehalt des Grundrechts und die für das Baurecht geltenden Maßstäbe ermittelt (Kapitel E). Es wird geprüft, wo das Baurecht auf Architektur als Kunst noch in gerechtfertigter Weise zugreift (Kapitel F), gefolgt von einer Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung für das Baurecht und einer Darstellung des erzielten verfassungsrechtsdogmatischen Gewinns (Kapitel G). Am Schluss stehen einige weiterführende Überlegungen zum Bauen im Außenbereich und zur Dogmatik der vorbehaltlosen Grundrechte überhaupt (Kapitel H).

62

Zur Relevanz der Gefährdungslage für die Grundrechtsauslegung aktuell BVerfG v. 20.2.1998, BVerfGE 97, 298/312 - Rundfunkfreiheit Privater (= NJW 1998, S. 2659/2660) und v. 26.2.1997, BVerfGE 95, 220/234 m. w. N. - Radio Dreyeckland .

Der Lebensbereich „Kunst" ist durch die vom Wesen der Kunst geprägten, ihr allein eigenen Strukturmerkmale zu bestimmen. Von ihnen hat die Auslegung des Kunstbegriffs der Verfassung auszugehen. BVerfG v. 24.2.1971, BVerfGE 30, 173/188 - Mephisto

C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau Das Kapitel dient der Bestandsaufnahme der heutigen Wirklichkeit von Baukunst und Städtebau. Zunächst wird die Aufgabe einer Normbereichsanalyse erörtert (I.). Nach Ausführungen über Architektur als eine klassische Kunstgattung (II.) werden materiale Merkmale zu ihrer Kennzeichnung gesucht (III.). Anschließend wird die Verknüpfung der Architektur mit dem ihr räumlich-gegenständlich übergeordneten Städtebau behandelt (IV.).

I. Zur Aufgabe einer Normbereichsanalyse Kunst ist vor allem Rechtlichen eine in sich selbst sinnhaft strukturierte Wirklichkeit; ihre Freiheit wird vom Grundrecht der Kunstfreiheit nicht hergestellt, sondern als vorgefundene Freiheit gesichert. Der Begriff des Normbereichs 1 bringt die Spezifität des juristischen Blicks auf Wirklichkeit zum Ausdruck. Er spricht von dem Teil der Wirklichkeit, auf den eine Norm Bezug nimmt und aus dem heraus sie sich erklärt. In ihm ist die Erkenntnis enthalten, dass die juristische Frage nach der Wirklichkeit von dem Interesse angeleitet ist, den Gehalt einer Norm zu ermitteln; er bewahrt zugleich das Bewusstsein davon, dass jenseits der juristischen Konstruktion eine Wirklichkeit für sich existiert, die sich dem juristischen Denken als solchem nicht erschließt.2 Die Differenz von »rechtlich gesehener4 und »wirklicher 4 Wirklichkeit wird auf diese Weise methodisch erfasst. 3 Der vom Bundesverfassungsge1 Grundlegend, allerdings mit einem engeren Verständnis des Begriffs Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, insbes. S. 184ff. und 201 ff. und Grimm, ebd., S. 39/42ff.; im Anschluss an Müller auch Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 195 ff.; zur Rezeption von Müllers Lehre von der „Normativität" s. die Nachweise bei dems.: Müller, Juristische Methodik, 1993, S. 141 f. Fußn. 250; Isensee spricht vom „Grundrechtsbereich", in: Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 23, Fußn. 30. 2 Zur Unvermeidbarkeit von Konstruktivem in der Wahrnehmung von Wirklichkeit überhaupt ist nach wie vor erhellend: BergerlLuckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 1969. 3 So auch bei Müller, s. Ryffel, DVB1.1971, S. 84; vgl. Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, S. 5 f.

I. Zur Aufgabe einer Normbereichsanalyse

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rieht verwendete Ausdruck vom „Lebensbereich »Kunst4 " 4 hat einen ähnlichen Gehalt. Auch er verweist auf die Wirklichkeit der Kunst, benennt jedoch die verbleibende Normativität des Blickwinkels nicht in der gleichen Deutlichkeit. In der folgenden Untersuchung wird eine Bezugnahme auf die Wirklichkeit von Kunst, die es bei einem bloßen Akt der Identifikation als Kunst belässt, nicht ausreichen. Für ein angemessenes Verständnis von Baukunst ist der juristische Blick auf die inneren Strukturen und Differenzierungen der Wirklichkeit der Baukunst zu lenken.5 Dabei gibt es wenig Hilfestellungen. Der Begriff der Baukunst selbst ist in sich dunkel. Ein Rückgriff auf eine gültige materiale Ästhetik ist nicht möglich. Weder gibt es sie in Zeiten der wissenschaftsmethodischen Verunsicherung, noch dürfte sich juristische Reflexion auf die Übernahme einzelner fachwissenschaftlicher Theorien kaprizieren. 6 Auch können die gegenständlichen Begrenztheiten des Versuches, vom Schreibtisch der Rechtswissenschaft aus gehaltvolle Überlegungen über Baukunst anzustellen, nicht eine materiale Ästhetik philosophischer oder architekturtheoretischer Provenienz ersetzen. Wo ein Gericht immerhin noch im Wege der Sachverständigeneinvernahme eine fachwissenschaftliche Expertise über die Strukturlogik eines bestimmten Kunstbereiches oder Kunstwerkes einholen kann, bleibt einer Arbeit wie der vorliegenden besonders hier nur die thesenhafte Zuspitzung. Ihr Vorgehen bleibt von heuristischer Natur. Denn bei aller Annäherung an Kunst ist nicht zu vergessen, dass - Isensee hat darauf zurecht hingewiesen - Rechtswissenschaft wie Rechtspraxis von allen Phänomenen der Wirklichkeit, auch von „Kunst", unausweichlich in Rechtsbegriffen sprechen. Sofindet ein Übergang aus dem Reich der theoretischen in das der praktischen Vernunft statt. Dort aber gilt nicht nur Wahrheit als Ziel, sondern auch Praktikabilität.7 Das ist zugleich Stärke wie Defizit des juristischen Sprechens, das deshalb nicht selten im Tatsächlichen anmaßend und manchmal von peinigendem Dilletantismus ist. 8 Ausgewiesen werden soll, dass verschiedene Ansätze sprach- und kunsttheoretischer Begriffsbildung als für die Untersuchung Maß gebend angesehen werden. Hierzu zählen die Hermeneutik Gadamers, die wesentlich bestimmt ist von dem Anliegen, Kunst und Erfahrung von Kunst als Frage der richtigen oder falschen Er4 BVerfG v. 24.2.1971, BVerfGE 30, 173/188 - Mephisto, v. 17.7.1984, BVerfGE 67, 213/224 - Anachronistischer Zug. 5 Zu undifferenziert Isensee, der meint, für die Rechtspraxis sei „nur wichtig, festzustellen, ob ein bestimmter Lebensvorgang sich im Schutzbereich der »Kunst4 bewegt oder außerhalb bleibt.", in: Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S.48. 6 Ähnlich hinsichtlich des Kunstbegriffs das Bundesverfassungsgericht, das auf die maßstabs- und damit auch begriffssprengende Kraft einer künstlerischen „Avantgarde" hinweist, BVerfG v. 17.7.1984, BVerfGE 67, 213/225 - Anachronistischer Zug. 7 Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S.51. 8 Vgl. ebd., S.26.

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

kenntnis zu erklären, 9 und die Diskurstheorie von Habermas. Im Begriff vom „Eigensinn des Ästhetischen" reflektiert letztere in der Kategorie der Geltung auf Kunst und spricht sowohl die Sinnstruktur als auch die Autonomie der Sphäre der Kunst an. 10 Der Werkbegriff wird hier erfasst als „das Objektivwerden der dezentrierten, sich selbst erfahrenden Subjektivität".11 Kunst ist, stellt Habermas unter Berufung auf Kant fest, einer „objektiven Beurteilung zugänglich", nicht in den Kategorien der Wahrheit oder Richtigkeit, sondern in der der Schönheit.12 So unterschiedliche Autoren wie Adorno und Eco erfassen gleichermaßen in den Kategorien von Kohärenz und Werkeinheit 13 die Nicht-Beliebigkeit des durch ein Kunstwerk sprechenden künstlerischen Ausdrucks. 14 Eco vertritt, insoweit in Anlehnung an die Theoriebildung Poppers15 die These, Interpretationen von Kunstwerken seien, ähnlich wie wissenschaftliche Hypothesen, falsifizierbar. 16 Dem folgt diese Arbeit, indem sie - vereinfachend zusammengefasst - von drei Voraussetzungen ausgeht: 1. Kunst und nicht-künstlerische Realität („Leben") lassen sich im Einzelnen unterscheiden; 2. es ist das Kunstwerk selbst, das sinnhaft strukturiert ist und nicht nur der Künstler, der Rezipient oder die Gesellschaft; 3. es ist möglich, diesen Sinn bis zu einem gewissen Grade intersubjektiv nachvollziehbar zu ermitteln, zumindest falsche Interpretationen auszuscheiden.

II. Architektur: eine klassische Kunstgattung Die Baukunst gehört zum Urbestand der Kunstgattungen; sie gilt als die Mutter aller Künste.17 Vitruvs Werk „De architectura" steht am Anfang der abendländischen Auseinandersetzung mit der Baukunst. Von Albertis Renaissancewerk „De Re Aedificatoria" 18, von Goethes Traktat „Von deutscher Baukunst" von 177319 9

Gadamer , Wahrheit und Methode, 1960/1990, S.87ff., insb. S. 103; zum Werkbegriff ders., Die Aktualität des Schönen, 1983, S. 16 und S. 32 ff. 10 Habermas, Die Moderne-ein unvollendetes Projekt, 1980/1990, S. 9/43 ff.; „Geltung" auch bei Adorno, Minima Moralia, 1951, „In nuce", S.298f. 11 Habermas, ebd., S.45. 12 Ebd., S.44; Kant, Kritik der Urteilskraft, 1799/1957, §7, S.290, s.a. §22, S.322ff. zur Objektivität des ästhetischen (= Geschmacks-)Urteils. 13 Adorno, Ästhetische Theorie, 1973, S. 193 und Eco, Theorien interpretativer Kooperation, 1987, S. 31/45 f. 14 Gadamer zur Werkeinheit s. Die Aktualität des Schönen, 1983, S. 16 und S. 32ff. 15 Popper, Logik der Forschung, 1969, zur Falsifizierbarkeit insb. S.47ff. 16 Eco, Theorien interpretativer Kooperation, 1987, S.31, insb. S.46ff. 17 Zum folgenden: Brockhaus Enzyklopädie, 1990, Stichworte „Architektur", „moderne Architektur", „moderne Kunst"; Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 1971, Stichwort „Baukunst"; Ottow, Stichwort „Bauen. Bauen als menschliche Grundtätigkeit", in: Staatslexikon, 1985, Stichwort „Bauen". 18 Alberti , Florenz 1485, dt.: Zehn Bücher über die Baukunst, Darmstadt 1975. 19 Goethe, 1981, S.245ff.

II. Architektur: eine klassische Kunstgattung

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oder im 20. Jahrhundert von Le Corbusiers „Vers une architecture" von 1922 und Aldo Rossis „L'Architettura della Città", 196621, sei hier nur Anzeige gemacht. - Von der Evidenz der großen Werke der Baukunst ist ganz zu schweigen. Welche dürfte man herausgreifen? Das Parthenon, das Pantheon, die Hagia Sophia, Notre Dame, die Wunder der italienischen Renaissance? Oder das Alte Museum Schinkels, die Berliner Philharmonie Scharouns, Richard Meiers Kunstgewerbemuseum in Frankfurt? Der überkommene Rang unter den Künsten wird der Baukunst in der Moderne nicht streitig gemacht. Im Gegenteil: Die im 18. und 19. Jahrhundert möglich werdende industrielle Produktion von Baustoffen und die in dieser Zeit entwickelten Techniken, schließlich die Erfindung des Spannbetons zu Beginn unseres Jahrhunderts setzten ein ungeheures Potential an neuen Gestaltungsmöglichkeiten frei. Sie finden einen plakativen Beleg etwa im „berühmtesten Bauwerk des Zeitalters" 22 , dem Eisenturm des Gustave Eiffel auf dem Pariser Champ de Mars. Soziologisch geht damit die Aufwertung des Ingenieurs einher. Dessen Beruf war die Befestigungs- und Belagerungs„kunst". 23 Er betätigt sich zunehmend aus eigenem Recht im Feld der Architektur. Neben die geschilderte Ambivalenz des Begriffes der Baukunst - Kunst und Handwerk - tritt die von Kunst und mathematisch-naturwissenschaftlich angeleiteter Konstruktion; neben den Architekten als Baumeister tritt der Ingenieur als Konstrukteur. Dennoch treiben beide auch die Kunst im emphatischen Sinne weiter, neue Techniken bringen auch neue künstlerische Ideen hervor. 24 Zugleich wird der Massenproduktion und Gesichtslosigkeit des Bauens der Weg bereitet. Häuser werden industriell (re-)produzierbar. „Fertighaus" und „Plattenbau" liefern etwa im Bereich des Wohnungsbaus den Beleg für die Möglichkeit von Massenarchitektur. Neben dem herausragenden Einzelbauwerk entsteht Formlosigkeit in Serienproduktion. Damit einher ging eine Entwicklung des Kunstbegriffs, 25 die es ernstlich fraglich werden lässt, ob nicht sogar auch solchem Bauen das Prädikat „Kunst" zugesprochen werden darf. Mit Effekt und Erfolg hatte Marcel Duchamp ausgerechnet ,feady-madesvorgefertigte Massenobjekte, als Kunst behauptet. Beuys verkündete, jeder sei ein Künstler. Es gilt also, nicht vorschnell zu urteilen. Die Baukunst zeigt heute wie schon immer eine ästhetische Vielfalt, die sich nicht auf die Erfüllung elementarer gesellschaftlicher Funktionen - des Wohnens, des Arbeitens, des Ver20 Veröffentlicht 1923, dt.: Kommende Baukunst, 1926; zurzeit als: Ausblick auf eine Architektur, 1982. 21 Rossi, 1966, dt.: Die Architektur der Stadt, 1973. 22 Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, 1927-1931/1974, S. 1305. 23 Gössel!Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts, 1994, S. 12. 24 Vgl. etwa Le Corbusiers Ideen von einer „Ingenieur-Ästhetik", in: Ausblick auf eine Architektur, 1982, S. 21. 25 Grundlegend Wellershoff, Die Auflösung des Kunstbegriffs, 1976.

C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

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kehrs - reduzieren lässt. Auch reflektiert die Architektur nach wie vor über sich selbst als Kunst. Die Baukunst hatte, obwohl nach wie vor Auftragskunst, teil an der Emanzipation der Künste, ihrer Befreiung aus Kultzusammenhängen und anderen außerkünstlerischen Zweckbestimmungen.26 Auch wenn sie selbst ihren genuin künstlerischen Charakter hinter der ihr innewohnenden Funktionalität zu verbergen suchte, wie es etwa das Bauhaus unternahm, war sie doch Vorreiterin neuer Denkund Wahrnehmungsweisen, nicht nur notwendiges Hilfsmittel zur Befriedigung individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse. So hatte und hat die Baukunst teil an der Entwicklung neuer Kunstbegriffe im 20. Jahrhundert und schreitet mit neuen Entwürfen und Ideen voran, wie in der jüngeren Vergangenheit etwa die schlagwortartig als postmodern bezeichnete Architektur. 27 Heute ist von „Neuer Einfachheit" die Rede und die Unterscheidung von allgemeinem Stadtkörper und herausragendem Einzelmonument kommt wieder in den Blick. 28 Der Kunstcharakter der Architektur war im 20. Jahrhundert dennoch nicht unangefochten. Die Wortführer der Moderne sprachen statt von Baukunst lieber vom „Neuen Bauen".29 Der Funktionalismus wollte die Gestalt von Bauwerken wie die der Stadt von den Zwecken her determiniert sehen, denen sie dienen, den Funktionen, die sie zu erfüllen hatten. Prägnant brachte diese Vorstellungswelt Eduard von Hartmann schon 1887 auf den Punkt, als er der Baukunst die Zugehörigkeit zu den freien Künsten bestritt: Architektur gehe in der Befriedigung außerästhetischer Gebrauchszwecke auf, die als „bestimmendes Formgestaltungsprinzip bis in die kleinsten Einzelheiten hinein" reichten. 30 Es wäre eine Täuschung anzunehmen, die Wendung der modernen Architektur weg vom Ornamentalen und hin zu einer von der Funktion eines Bauwerkes bestimmten Gestalt sei keine ästhetische Grundentscheidung. Eine neue Formensprache war das Ziel, auch wenn sie manchmal nur als Mittel auftrat, um dem sozialkritischen Impuls einer dem Fortschritt verschriebenen Architektengeneration Wirkung zu verleihen. Böse Zungen mögen es als eigentlichen Erfolg des Funktionalismus bezeichnen, Ästhetik als Frage der „ E h r l i c h k e i t " _ a | s o eher als ethischen denn als ästhetischen Anspruch - definiert zu haben.31 Ohne hierzu Stellung nehmen zu können: Die, zumindest begrifflichen, Grenzen des Funktionalismus liegen heute 26

Allgemein: Grimm, VVDStRL 42 (1984), S.46ff. Charles Jencks übertrug den negativ vorbelasteten Begriff der Postmoderne 1977 in die Architekturtheorie, in: Die Sprache der postmodernen Architektur, 1980; differenziert zur BegrifQichkeit: Klotz, der von einer „Revision der Moderne" spricht, in: Moderne und Postmoderne, 1985, S. 15 ff. und Resümee, S. 788 ff. 28 Rossi, Die Architektur der Stadt, 1966/1973, passim; s.a. Hilpert, Der Historismus und die Ästhetik der Moderne, 1988, S. 9/64ff. und Klotz, Moderne und Postmoderne, 1985, Resümee, S.793. 29 Klotz, Moderne und Postmoderne, 1985, Resümee, S.784. 30 Hartmann, Gehört die Baukunst zu den freien Künsten?, Die Gegenwart 25 (1887), S. 389/391. 31 Hierzu Kücker, Die verlorene Unschuld der Architektur, 1989, S. 74 ff. 27

III. Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur

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offen zu Tage. Auch Architektur, die der Devise folgt, Form aus Funktion abzuleiten, trifft Entscheidungen baukünstlerischer Natur. Sie verlangen als solche Anerkennung.

I I I . Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur Ist Architektur Kunst, so doch eine besondere. Bei allen Überschreitungen der Gattungsgrenzen, die Kunst heute erlebt, 32 bleibt sie an verschiedenen Merkmalen kenntlich, die es erlauben, sie mit Adolf Behne als „soziale Kunst" zu bezeichnen.33 Im Folgenden soll - im Horizont der philosophischen Ästhetik - plausibel gemacht werden, wie sich Zweck- und Kunstcharakter in der Architektur gegenseitig durchdringen (1.). Anschließend wird die Zweckhaftigkeit von Architektur spezifiziert (2.) und in der Kategorie des Raumes die zentrale ästhetische Kategorie von Architektur vorgestellt (3.). Sodann werden weitere Aspekte von Architektur als Teil der sozialen Wirklichkeit erörtert (4.). Ein Überblick über die Vielfalt sozialer Bezüge der Architektur als Kunst steht am Schluss (5.). Imfolgenden Abschnitt wird die Perspektive auf den städtischen Zusammenhang von Architektur erweitert (IV.). 1. Praktische und ästhetische Zweckmäßigkeit a) Architektur zwischen Zweckerfüllung und „absolutem Ausdruck" (Th. W.Adorno) Kein Denker hat sich so radikal jeder Indienstnahme von Kunst für gesellschaftliche Zwecke widersetzt wie Theodor W. Adorno. Deshalb sollte ein Blick gerade auf seine Ausführungen zur Architektur es erlauben, ohne Vernachlässigung ihrer künstlerischen Autonomie auch die ihr innewohnenden sozialen Bezüge prägnant zu erfassen. Adornos „Ästhetische Theorie" 34 durchzieht die Verzweiflung darüber, dass KZSchergen sich des Abends an Beethoven delektierten. Im Angesicht dieser totalen Vereinnahmung beschreibt Adorno Kunst nach Auschwitz als gesellschaftlich funktionslos35 - eine normative Beschreibung, die als Kunst nurmehr anerkennt, was gesellschaftlich nicht vereinnahmbar ist. 32

Von bleibender Aktualität Adorno, Die Kunst und die Künste, 1967, S. 168 ff. „Architektur ist eine soziale Kunst." (Adolf Behne 1927, in: Von der Sachlichkeit, 1984, S. 25/38);,»Architektur ist sowohl eine schöne als auch eine soziale Kunst." (Wilhelm Kücker 1984, in: Die verlorene Unschuld der Architektur, 1989, S. 37); »Architecture is a social art." und „Architecture is a public art." (Richard Meier 1998, in: Die Rolle der Architektur in einem neuen Europa, Ms. unveröffentlicht, S. 1,2). 34 1973. 35 Adorno, Ästhetische Theorie, 1973, S.336f. 33

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Zugleich skizziert Adorno die gegenwärtige Gesellschaft als verwaltete Welt, die abgeschlossen und undurchdringlich für alles Nicht-Funktionale ist. Kunst hat daher mangels Funktion keinen Ort in dieser Gesellschaft. Sie verhält sich als Kunst zur Gesellschaft negativ. Sie geht, obwohl selbst fait social 36, auf eine nur noch im Kunstwerk selbst vermittelte Distanz zu ihr. 37 Diese Distanz ist indes selbst gehaltvoll. Es ist eine Distanz von etwas; indem das einzelne Kunstwerk sie einnimmt, entfaltet es kritisches Potential. Adorno beschreibt das mit dem Wort von der bestimmten Negation der bestimmten Gesellschaft. 38 Bestimmtheit der Negation erreicht Kunst, wenn sie spezifische Gehalte der Gesellschaft, aus der sie hervorgeht, nicht abstreift, sondern aufnimmt, nicht „verschwinden" lässt,39 sondern ausdrückt 40 - wenn auch ex negativo. Voraussetzung dieser Fähigkeit ist die Weigerung, „bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren" und „gesellschaftlich nützlich" zu sein.41 Modellhaft nimmt Adorno Bezug auf die Kunstproduktion seiner Zeit: abstrakte Malerei (Wols), die Zwölftontechnik in der Musik (Schönberg 42), absurdes Theater (Beckett43) und die zeitgenössische Literatur (Kafka 44 , Celan45). Kunst, die sich diesen Anforderungen nicht radikal stellt, wird verworfen (Jazz46; Dali 47 ) oder nur partiell (Brecht 48) oder gar nicht („Unterhaltung" 49; engagierte Kunst 50 ) zur Kenntnis genommen. Umso spannender ist die Ausnahme, die in der Ästhetischen Theorie die Architektur darstellt. 51 Wo der Kunst sonst Funktionslosigkeit als einzige gesellschaftliche Funktion zugeschrieben wird, 52 kennzeichnet ein gelungenes Bauwerk, dass es die Funktion, die es als Bauwerk zu erfüllen hat, gut erfüllt. 53 Adornos These lautet, 36

Ebd., S. 334ff. Ebd., S.335, 339. 38 Ebd., S.335. 39 Ebd., S. 339. 40 Ebd., S.338. 41 Ebd., S. 335 („gesellschaftlich nützlich" steht schon im Original in Anführungszeichen). 42 Ebd., S.72. 43 Ebd., S. 55; grundlegend zu Beckett: der s.: Versuch, das Endspiel zu verstehen, 1981, S. 281 ff. 44 Adorno, ebd., 1973, S.342. 45 Ebd., S. 325. 46 Ebd., S. 322. 47 Ebd., S. 340. 48 Ebd., S.336, 360. 49 Schlager: ebd., S.65; zum Ursprung des Begriffs der „Unterhaltung" in der Aufklärung Jauß, Das kritische Potential ästhetischer Bildung, 1988, S.225f.; zum Film als Kunstgattung s.Adorno, Die Kunst und die Künste, 1967, S. 168ff./190f. 50 „Agitprop-Chor": Adorno, Ästhetische Theorie, 1973, S.341 und allgemein S.359. 51 Ebd., S.72 f., 96 f. 52 Ebd., S.336 f. 53 Dabei bleibt Adornos Unterscheidung von zweckgebundener und zweckfreier Kunst (ebd., S. 96) kategorial ungeklärt; sie ist ihm „selbstverständlich", vgl. Die Kunst und die Künste 1967, S.168. 37

III. Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur

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dass ein Bauwerk dann „große Architektur" ist, wenn es ihm gelingt, bloße Zweckdienlichkeit zu einer gültigen Ausdrucksgestalt zuzuspitzen.55 Die äußere Zweckdienlichkeit eines Gebäudes wird also in das Kunstwerk hineingenommen; es sperrt sich nicht gegen gesellschaftliche Verwendung, sondern bedarf ihrer sogar, um auch sein immanentes Formprinzip erfüllt zu sehen. Die Dienerschaft für einen gesellschaftlichen Zweck ist dem Werk der Baukunst nicht abträglich. „Funktionslos" bleibt lediglich der das Konstruktive übersteigende Ausdrucksgehalt, der „Expressionswert" 56 als solcher. Er ist von der das Funktionelle eines Gebäudes fassenden Konstruktion nicht ablösbar, ohne die Werkeinheit zu zerstören. Konstruktion kann selbst Ausdruckskraft gewinnen, wie Adorno an der von Scharoun in Berlin gebauten Philharmonie exemplifiziert. 57 Adornos Vorstellungen von künstlerischer Autonomie und gesellschaftlicher Bedingtheit sind philosophisch anspruchsvoll und voraussetzungsreich. Seine Reflexion auf Architektur zeigt die ganze Spannbreite der baukünstlerischen Aufgabe und Wirkung: Sie reicht von den Notwendigkeiten der Zweckerfüllung bis hin zur Möglichkeit „absoluten Ausdrucks". 58 Weder ist Architektur nur individuell-schöpferischer Ausdruck, noch erschöpft sie sich in der Erfüllung vorgegebener Zwecke. b) Die Unterscheidung praktischer und ästhetischer Zwecke Der Begriff von Kunst im Zeitalter der Moderne erfährt häufig seine Bestimmung in der Abgrenzung von dem, was nutzbringenden Zwecken dient. 59 Georg Simmel hat das in der Unterscheidung von Gemälde und Möbel aufgezeigt: Das Kunstwerk ist etwas für sich, das Möbel etwas für uns. Jenes, als Versinnlichung einer seelischen Einheit, mag noch so individuell sein: in unserem Zimmer hängend, stört es unsere Kreise nicht, da es einen Rahmen hat, d.h. da es wie eine Insel in der Welt ist, die wartet, bis man zu ihr kommt, und an der man auch vorüberfahren und vorübersehen kann. Das Möbelstück aber berühren wir fortwährend, es mischt sich in unser Leben und hat deshalb kein Recht auf Für-sich-Sein.60 54

Adorno, Ästhetische Theorie, 1973, S.72; krit. zum Begriff der Größe von Kunst, insbesondere Architektur ebd., S.279. 55 Ebd., S.72 f. 56 Ebd., S.72. 57 Ebd., S. 72 f. Eine andere - hier nicht zu entscheidende - Frage ist es, ob Baukunst, wie von Adorno in funktionalistischer Manier vorausgesetzt, ausschließlich durch das Konstruktive des Bauens Ausdrucksgestalt gewinnen kann; das hat die „Postmoderne" intensiv und wirkungsvoll bestritten, s. von Adorno auch: Funktionalismus heute. In: ders.: Ohne Leitbild, 1967, S. 104ff. 58 Adorno, Ästhetische Theorie, 1973, S.73; s.a. Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, 1982, S.38. 59 Vgl. Habermas, Die Moderne-ein unvollendetes Projekt, 1980/1990, S.44; Waidenfels, Wolkenkuckucksheim, 1/1996, S. 1. 60 Simmel, Der Bilderrahmen, 1993, S. 104f.; s. a. Michalski,: Die Bedeutung der ästhetischen Grenze für die Methode der Kunstgeschichte, 1932.

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Auch Architektur „mischt sich in unser Leben". Sie ist nützlich, indem sie - obwohl Kunst - praktischen Zwecken dient. Ein praktischer Zweck ist das, was grundsätzlich nach bewährten (natur- oder sozial-) wissenschaftlichen Hypothesen über die Wirklichkeit durch den Einsatz eines bestimmten Mittels erreicht werden kann.61 Dabei bezieht sich die Einschränkung, die mit dem Wort „grundsätzlich" einhergeht, auf die empirischen Mängel, die u. U. eine Verwirklichung ausschließen, das Angestrebte aber darum nicht dem Bereich des Rationalen entziehen. Die Abgrenzung praktischer und ästhetischer Zwecke kann im einzelnen Fall schwierig sein. Ästhetischer Ausdruck kann selbst praktischen Zwecken dienen, etwa die Gestalt eines Atriums dem Repräsentationsbedürfnis eines Unternehmens, die Glaskuppel über dem Parlament der Demonstration der Durchsichtigkeit (oder der Erhabenheit?) von Politik. Zuweilen werden negativ Kriminalitätsraten auf Fragen der Gestalt von Architektur zurückgeführt. 62 Die Behauptung künstlerischen Wertes kann einen praktischen Zweck flankieren, so der Ruf nach einer prägnanten Stadtsilhouette den Wunsch, ein Hochhaus zu bauen. Schließlich lässt sich ästhetischer Eigensinn selbst über die Kategorie der Zweckmäßigkeit bestimmen. Klassisch ist die Formulierung von Kant, nach der das Schöne Zweckmäßigkeit ohne Zweck vorstelle. 63 Hier bezeichnet „Zweck" die Beziehung auf einen Nutzen hin und „Zweckmäßigkeit" das Formgesetz der Kunst, das nicht real kausal, aber doch nach dem Modell der Kausalität funktioniert. In diesem Sinn kann Kant dann „innere" Zweckmäßigkeit und „innern Zweck" von äußerer Zweckmäßigkeit und äußerem Zweck abgrenzen.64 Das ästhetische Handeln strebt eine bestimmte formale Wirkung an, die der Beschreibung als schlüssig, gültig oder zweckmäßig zugänglich ist. Die Frage, ob sie überhaupt anstrebenswert ist, entzieht sich rationaler, dem Zweck-Mittel-Denken folgender Beurteilung. Dies gilt in gewissem Maße auch für die Frage, ob das eingesetzte ästhetische Mittel den gewünschten ästhetischen Erfolg hat. Hier scheitert jede Beweisführung nicht erst an möglichen empirischen Unzulänglichkeiten sondern an der dem ästhetischen Urteil eignenden Normativität. 65 Zur Vermeidung begrifflicher Unklarheiten sei darauf hingewiesen, dass andere Zweckbegriffe als zu voraussetzungsreich gemieden werden. Verwandt ist dem hier 61 Mit einer ähnlichen Definition zur Geeignetheit Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S. 193 und zur Zweck-Mittel-Rationalität im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz s. der s., EuGRZ 1984, S. 457/459; zur Begrifflichkeit Kants s. Kritik der Urteilskraft, 1957, § 10, S.298f. 62 Paradigmatisch die neue Chicagoer Abrissstrategie: Pflege des Stadtbildes als Kriminalitätsbekämpfung, Meuser, Berliner Zeitung Nr. 111 v. 15./16. Mai 1999. 63 Kant, Kritik der Urteilskraft, 1957, §§ lOff., S.298ff., insb. 300, 319. 64 Ebd., § 16, S. 310 f.; zu diesem Gegensatz s. a. Wasmuths Lexikon der Baukunst, Stichwort „Architektur-Theorie", Bd. 1 (A-Byz), 1929, S. 174 und Adorno, Ästhetische Theorie, 1973, S. 209 ff. 65 Zutr. Zöbeley, NJW 1998, S. 1372/1373 m.N.

III. Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur

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verwendeten Zweckbegriff der der „Absicht", die ein Bauherr verfolgt, sein „Bauprogramm". 66 Der Begriff der „Bauaufgabe" 67 ist umfassender; er umfasst diejenigen Probleme, die zur Erreichung des angestrebten Zwecks zu überwinden sind - auch die ästhetischen. Der Begriff der „Funktion" schillert. Er kann in einem engen Sinne gleichbedeutend mit dem hier benutzten Zweckbegriff verwendet werden. Dann bleibt meist ein unscharfer semantischer Einschlag erhalten, der speziell auf Nützlichkeit für die Gesellschaft als Ganze abhebt.68 Manchmal werden als Funktion aber auch weit ins Ästhetische hineinragende Momente verstanden. Das ist etwa beim Schöpfer der Formel „form follows function", Louis H. Sullivan, der Fall, wenn er als Beispiel einer „function" „the spirit of democracy" und als „form of expression" „democratic architecture" benennt.69 2. Der Zweckcharakter der Architektur Bauen, das nicht der Verwirklichung einer praktischen Zwecksetzung diente, wäre - in Camillo Sittes prägnanter Ausdrucksweise - „einfach lächerlich, ja verrückt und kommt überhaupt nicht vor". 70 Bauwerke gehören zur Welt der Gebrauchsgegenstände. Sie dienen dem Wohnen, Arbeiten oder Produzieren, dem Sport, der Musikdarbietung oder dem Gottesdienst, dem Verkehr oder der Energieerzeugung. Unter den überkommenen großen Kunstgattungen ist einzig der Architektur die Erfüllung positiver Zwecke vorgegeben und ist ihr damit ein auch ästhetisch unübersteigbarer Rahmen gesetzt. Schon im ersten bekannten Zeugnis der Architekturtheorie spricht Vitruv im Begriff der „utilitas" die Zweckdienlichkeit von Kunst aus.71 Ihm folgt zu Beginn der Neuzeit Alberti. 72 Seitdem ist diese Feststellung kanonischer Bestandteil der abendländischen Reflexion auf Architektur: Architektur ist nicht nur schöne, sondern nützliche Kunst - unmöglich, dies quer durch die Kunstgeschichte auch nur annähernd vollständig zu belegen.73 66

Etwa: Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, 1909/1983, S. 140. Philosophisch bei Gadamer , Wahrheit und Methode, 1960/1990, S. 161; Semper spricht von der „Aufgabe" der künstlerischen Behandlung eines inneren oder äußeren Zwecks, 1987, S.41. 68 So der Tonfall der CIAM, prägnant in Hannes Meyers Definition des Begriffs Städtebau: „die Organisation sämtlicher Funktionen des kollektiven Lebens, in der Stadt und zwischen den Städten" im Protokoll des Kongresses von La Sarraz, Sitzung vom 27.6.1928, bei Hilpert, Le Corbusiers „Charta von Athen", 1988, S.99. 69 Sullivan , Kindergarten Chats, 1947, S.99, zit. nach Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, 1995, S.411. 70 Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, 1909/1983, S. 140. 71 Zu Vitruv, De architecture libri decern, 1. Jh. ν. Chr. s. Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, 1995, S.24f. 72 Zu Alberti , Zehn Bücher über die Baukunst (1443-1452) s. Kruft, ebd., S.47f. 73 Exemplarisch: Kant, Kritik der Urteilskraft, 1957, S. 233 ff./424; Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bde. 13-15, hier Bd. 14,1986, S. 296ff., 302ff.; Sitte, Der Städtebau nach seinen 67

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Im Folgenden werden Aspekte des Zweckcharakters der Architektur (a) einschließlich der Konzentration der Zweckverwirklichung auf einen Ort (b) dargestellt. Anschließend wird gezeigt, dass Architektur gleichermaßen privaten wie Zwecken des Gemeinwohls dient (c). a) Praktische Zwecke in der Architektur (1) Allgemeine und nutzungsspezifische Zwecke Architektur muss einer Reihe von allgemeinen und einer Reihe von gerade auf den jeweiligen Nutzungszweck bezogenen Anforderungen genügen. Als Beispiel für allen Bauwerken gemeinsame Anforderungen seien hier die der Statik genannt. Kein Bauwerk kann aus Gründen der Nutzbarkeit darauf verzichten, dauerhaft in sich selbst Bestand zu haben. Daraus sind Anforderungen an die Konstruktion und an die verwendeten Materialien ableitbar. Allgemein zweckgebotene Anforderung ist auch, dass von einem Bauwerk keine Gefahren für die Benutzer ausgeht; hiermit sind etwa die Fragen der zum Bauen zulässigen Bauprodukte und der Brandschutz angesprochen. Besondere Anforderungen für einzelne Nutzungsarten lassen sich am Beispiel des Wohnens exemplifizieren. Hierher gehören Anforderungen an Belüftung, Besonnung und Ruhe oder die Möglichkeit zu kochen. Wo Kinder leben, gehört in die Kategorie der Zweckdienlichkeit das Vorhandensein von Spielgelegenheiten, wo Gehbehinderte leben ein barrierefreier Zugang. Auch von dem Bedürfnis, ein Auto oder ein Fahrrad abzustellen oder Luxusbedürfhissen wie der Benutzung eines Schwimmbeckens, lässt sich hier sprechen. (2) Zwecksetzung im Detail Zwecke differenzieren sich mit wachsendem technologischem und sozialem Standard einer Gesellschaft aus. Niemand in Deutschland würde heute eine Wohnung ohne fließendes Wasser überhaupt für dem Zweck des Wohnens genügend halten. Zur Zweckkategorie gehört also auch - als Zwecksetzung im Detail - die Festlegung, wann der generelle Nutzungszweck erfüllt ist. Die Vorgabe, ein Wohnhaus zu bauen und diejenige, ein Wohnhaus zu bauen, dessen Aufenthaltsräume nach Süden ausgerichtet sind, unterscheiden sich insofern nicht qualitativ.

künstlerischen Grundsätzen, 1909/1983, S. 140; Behne, Von der Sachlichkeit, 1927/1984, S. 25/40ff.; Gadamer , Wahrheit und Methode, 1960/1990, S. 161; Arndt, Zur Eröffnung der neuen Philharmonie, 1964, S. 11; Adorno, Ästhetische Theorie, 1973, s. S.72 f., 96 f.; Kutschern, Ästhetik, 1989, S.342f.; Kücker, Die verlorene Unschuld der Architektur, 1989, S.90f., 123, 125 f.; Zumthor, Architektur denken, 1998, S. 15.

III. Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur

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(3) Innen- und außenraumbezogene Zwecke Von den Zwecken, die sich auf den von einem Bauwerk gebildeten Innenraum beziehen, lassen sich solche unterscheiden, denen es durch seinen nach außen wirkenden Baukörper dient. 74 Zumeist ist die praktische Zweckdienlichkeit eines Bauwerkes auf den Innenraum bezogen. Diesem Bereich waren die bisher genannten Beispiele entnommen; sie hingen zusammen mit der Zweckbestimmung eines Gebäudes zum Wohnen, Arbeiten usf. Auch die nach außen wirkenden Aspekte wie der Schutz vor den Unbilden des Wetters oder der Einlass von Licht durch Fenster ergeben sich aus der Zweckbestimmung des Innenraums. Der Außenbau kann aber auch als solcher praktischen Zwecken dienen. So kann ein Bauwerk durch seine Gestalt ein Wohngebiet vor dem Lärm einer nahen Autobahn schützen. Negativ gehört zu der auf den Außenraum bezogenen Zweckmäßigkeit auch das Vermeiden schädlicher Einwirkungen auf Außenstehende, namentlich Passanten und Nachbarn. b) Ortsgebundenheit der Zweckerreichung Die Eigenschaften eines Grundstücks, namentlich Grundfläche, Zuschnitt und Tragfähigkeit, sind dem Bauen vorgegeben. Auch hat jedes Bauwerk eine vorgegebene Umgebung. Zahlreiche der so aufgeworfenen Probleme gehören dem Reich der Zweckdienlichkeit an, so Fragen der Erschließung und der ortsspezifischen Einwirkung auf die oder von Seiten der Nachbarschaft. Eine Gaststätte oder ein Sportplatz können Lärmschutzvorkehrungen fordern oder ein verschattet liegendes Grundstück besonders große Fenster. Manche Nutzungen schließen einander geradewegs aus, etwa emissionsintensive Industriebetriebe und Wohnbebauung. Dagegen gehört nicht zur Zweckkategorie, wie sich Architektur gestalterisch auf das vorgegebene Grundstück und seine Umgebung einlässt. c) Private und öffentliche

Zwecke

Architektur dient privaten wie öffentlichen Zwecken; diese sind manchmal gegen-, manchmal auch gleichläufig. Häufig lassen sich privates und öffentliches Interesse nicht präzise trennen. Die statischen Gesetze einzuhalten, liegt wie im privaten so im öffentlichen Interesse. Vorschriften für den Lärm- und Warmeschutz, für Belüftung und Besonnung dienen nicht nur den öffentlichen Interessen der Energieeinsparung und der Volksgesundheit, sondern zugleich dem Eigentümer und dem Nutzer. Häufig liegen privat motivierte Vorhaben auch im öffentlichen Interesse, so etwa wenn ein gehbehinderter Bauherr sein Wohnhaus mit einem barrierefreiem Zugang versieht; denn ein spezifisches Wohnbedürfnis muss dann nicht an anderem 74

Kutschern, Ästhetik, 1989, S. 344 ff.

4 Schneider

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Ort und womöglich auf Kosten der Allgemeinheit befriedigt werden. Wegen der besonderen Dauerhaftigkeit des Bauens werden auf lange Sicht erst recht gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigt, im Beispielsfall deshalb, weil Wohnraum potentiell auch für zukünftige gehbehinderte Nutzer geschaffen wird. Privates und öffentliches Interesse durchdringen sich hier. Es ergibt sich also nicht ohne weiteres, welche Anforderungen an Bauwerke im öffentlichen Interesse liegen. Die Antwort auf diese Frage ist empirisch zugleich voraussetzungsreich und nicht determiniert; sie bleibt entscheidungsbedürftig. Auf der Zweckebene ist also nicht nur die Frage angesiedelt, welche Bedürfnisse in welchem Umfange bedient werden sollen, sondern auch die Frage, auf welcher Ebene die Entscheidung über die zweckgerichteten Vorgaben erfolgen soll: der privaten oder der öffentlichen. d) Zusammenfassung: Architektur

als Zweckkunst

Architektur zeichnet sich durch Zweckdienlichkeit aus. Sie dient an einem bestimmten Ort einer Vielzahl von Zwecken sowohl öffentlicher als auch privater Natur. Auf die Frage, welche Zwecke sinnvollerweise verfolgt werden sollen, als auch auf die Frage, wer über die Zweckverfolgung zu entscheiden hat, hat Architektur selbst keine Antwort.

3. Architektur als Raumkunst Außer als Zweckkunst ist Architektur daran kenntlich, dass sie Raum gestaltet. Dies als entscheidende ästhetische Kategorie von Architektur herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst August Schmarsows.75 Nach ihm „beruht die Architektur als Raumgestalterin auf einer systematischen Bewältigung des räumlichen Anschauungsmateriales".76 Dass die Auseinandersetzung mit „Räumlichkeit" die genuine Ausdrucksform von Architektur ist, ist auch eine Erkenntnis der zeitgenössischen philosophischen Ästhetik: Der Kunstcharakter der Raumkunst besteht darin, dass die Räumlichkeit von ihr eigens modelliert, befragt, bearbeitet wird, ähnlich wie Malerei, Musik und Sprachkunst sich mit der Sichtbarkeit, der Hörbarkeit und Sagbarkeit als solcher befassen. Dabei werden gewohnte Formen gestört, verfremdet, gesteigert, überboten, bis hin zu einem Unsichtbaren, Unhörbaren und Unsagbaren, das innerhalb der gewohnten Ordnung keinen Platz findet. 77 75

Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, 1894, S. 10. Ebd., S. 22; s. a. Wasmuths Lexikon der Baukunst, Stichwort „Raum", Bd. 4 (P-Zyp), 1932, S. 146. 77 Waidenfels, Wolkenkuckucksheim, 1/1996, S.9; aus ontologischer Sicht Heidegger, Bauen - Wohnen - Denken, 1952, S. 72/78 ff., insb. 82; aus hermeneutischer Sicht Gadamer , Wahrheit und Methode, 1960/1990, S. 163: „Als die raumbildende Kunst schlechthin ist sie ebenso 76

III. Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur

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Die Zwecke, denen Architektur dient, verwirklicht sie räumlich; Raum ist das Gestaltungsmedium der Architektur. Deshalb ist Architektur mit dem Begriff der „Raumkunst" treffend gekennzeichnet; Raum ist das „Material" architektonischen Schaffens. 78 Zur Architektur gehört die sinnlich wahrnehmbare Verwirklichung im Raum.79 Die Entwurfszeichnung für sich ist noch nicht Architektur. 80 - Im Folgenden werden Aspekte von Architektur als Raumkunst erörtert.

a) Die Gestaltungsmittel Qualitativ geht Architektur auf verschiedenen Ebenen mit Raum um. Die Spanne architektonischer Raumgestaltung reicht von der physisch ausgreifenden Fügung von Volumina bis hin zu fiktionalen Äußerungsformen. Auch wenn sich „Raum" bei den letzteren geradezu ätherisch verflüchtigt, bleiben auch diese architektonischen Äußerungen raumbezogen.

(1) Volumenbildung Zentrum der baukünstlerischen Gestaltungsarbeit ist die Schaffung und Durchbildung von Volumina. Architektur schafft Außen- und Innenräume und grenzt sie voneinander ab. Ob ein Architekt eine bestimmte Baumasse in einem oder zwei Baukörpern unterbringt, am Rand des Grundstücks oder in seiner Mitte baut, ein Gebäude zur Straße hin orientiert oder auf sich selbst konzentriert, schmal und hoch oder breit und flach baut, welche Dachform er wählt: All das sind raumgestaltende Entscheidungen baukünstlerischer Natur. Im Bereich des Innenraums geht es um Grundrisse, um die Anordnung von Räumen, um das Verhältnis von Weg- und Nutzflächen, um die Gestaltung von Eingangsbereichen und Durchgängen. Innen- und Außenraum hängen voneinander ab, wenn auch nicht so, dass der eine die Gestalt des anderen determinierte.

sehr Raum gestaltend wie Raum freilassend."; im Anschluss an Schmarsow Kutschern, Ästhetik, 1989, S. 344ff. 78 „The architectural design concerns itself with , space4 as its raw material and with the articulated room as its product.", Schindler , A Manifesto, 1912/1971, S. 191 f. 79 Unter den Architekten: Endell , Die Schönheit der großen Stadt, 1984, S. 51; Schweizer , Die architektonische Bewältigung unseres Lebensraumes, 1952, S. 53/55 ff.; Giedion, Architektur und das Phänomen des Wandels, 1969; Kücker, Die verlorene Unschuld der Architektur, 1989, S. 79; Zumthor, Architektur denken, 1998, S. 20,22,32. Auch ein kategorial anders denkender Architekt wie Robert Venturi akzeptiert„Raum" wie selbstverständlich als ästhetische Kategorie, in: Lernen von Las Vegas, 1997, S. 14; s. a. Semper, Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol, 1856/1987, S.35. 80 Zumthor, Architektur denken, 1998, S.58. 4*

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

(2) Materialität in der Architektur Zur Aufgabe der Raumgestaltung gehört die Auswahl der zu verwendenden Baumaterialien. Davon war im Hinblick auf statische Sicherheit schon die Rede. Jetzt lässt sich die Unterscheidung praktischer Zweckdienlichkeit und ästhetischer Gestaltung genauer veranschaulichen. Die Wahl des Materials gehört beiden Sphären an. Zum Bereich der Zweckdienlichkeit gehören jedoch nur diejenigen Anforderungen, die für die Erreichung des angestrebten praktischen Zweckes notwendig sind. Sind sie erfüllt, tritt Architektur ins Reich der Kunst ein.

(3) „Architektur als Fiktion" (H. Klotz) Formen darstellender, symbolischer und allegorischer Architektur prägen von jeher bedeutende Bauwerke. 81 Es sei nur an die kunstvoll-sinnhafte Durchgestaltung religiöser Bauwerke erinnert. 82 Das außen applizierte Zeichen, das Ornament, ist die einfachste Form der architektonischen Fiktion. 83 Der sog. postmodernen Architektur ist zu danken, dass sie die Gestaltungsmittel der Fiktionalität wieder dem Formenrepertoire der Architektur hinzugefügt hat, exemplarisch die Inschrift Fons Sancii Josephi, die Charles Moore an seinem Brunnen auf der Piazza d'Italia in Las Vegas angebracht hat. 84 Heinrich Klotz hat daraufhin das Stichwort von der „Architektur als Fiktion" geprägt. 85 Es weist über den Einsatz der soeben genannten im engeren Sinne fiktionalen (oder narrativen) Gestaltungsmittel hinaus. Diese kennzeichnen nur das eine Extrem fiktionaler, nämlich nahezu enträumlicht-vergeistigter Gestaltung, die Architektur möglich ist. Auch Architektur, die sich nicht solcher Mittel bedient, erzählt, kommuniziert, hat Bedeutung, lässt sich entschlüsseln und lässt sich insofern als fiktional kennzeichnen. Die Volumina, die ein Bauwerk ausbildet, wie es in den Raum gestellt wird und welcher Materialien es sich bedient - all das »erzählt eine Geschichte4. Selbst die entschiedene Absage an jedes Ornament im frühen 20. Jahrhundert hatte fiktionalen Gehalt: Sie behauptete einen neuen Anfang der Architektur und die 81

Sedlmayr, Architektur als abbildende Kunst und Allegorie und Architektur, 1959, S.21 Iff. und 235ff. 82 „Ecclesia materialis significat Ecclesiam spiritualem.", s. Kutschern, Ästhetik, 1989, S.336. 83 Von weiterer begrifflicher Differenzierung kann hier abgesehen werden; zum Begriff des Symbols als einer bestimmten Art der Bedeutungskonstitution Poelzig, Der Architekt, 1931/1986, 15 ff.; in diesem Sinne lehnt Zumthor Konzepte der Zeichenhaftigkeit von Architektur ab, in: Architektur denken, 1998, S. 12, 16. 84 Klotz, Moderne und Postmoderne, 1985, Abb. 172, S. 136. 85 Ebd., S. 133 ff., 420f., 423.

III. Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur

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Möglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts. 86 Das „kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper" des Le Corbusier, sein Rückgriff auf geometrische Grundfiguren und auf den goldenen Schnitt kommunizieren in intensiver Weise mit der Kunstgeschichte.87 Wie ein Roman, wie ein Gemälde oder wie Musik beziehen Bauwerke in künstlerischer Weise, ausdeutungsfähig und mehrschichtig, Stellung zu ihrer Zeit. (4) Das architektonische Werk Wie Werke anderer Kunstgattungen hat die Baukunst einen spezifischen Anspruch auf Geschlossenheit oder Einheit eines Werkes. Das „Kunstwerk" der Gattung Architektur ist ein einzelnes Bauwerk. Es dient zugleich praktischen Zwecken, aber es tut dies in künstlerischer Weise - und zwar in der Ganzheit seiner Gestalt: Im Werk der Baukunst lassen sich so wenig wie bei anderen Kunstwerken Bestandteile unterscheiden, von denen manche der Kunst und manche der praktischen Notwendigkeit zugerechnet werden könnten. Das ganze Werk erhebt in seiner Zweckhaftigkeit auf die Qualifizierung als Kunst Anspruch. Einheit und Geschlossenheit des Werkes sind Kategorien, die auch für die Architektur gelten. Das schließt natürlich nicht die Möglichkeit aus, dass sich eine künstlerische Gestaltung gerade nicht auf das Bauwerk als Ganzes erstreckt, etwa wenn sich das künstlerische Tun auf die Bemalung einer Wand beschränkt. Der Normalfall architektonischer Kunstausübung ist das nicht. Das Werk der Architektur lässt sich qualitativ kennzeichnen. Seine Körperhaftigkeit bedeutet, dass Architektur auch in ihren vergeistigten Ausdrucksformen Raumkunst ist, so wie umgekehrt schon der bloß physischen Besetzung von Raum ein fiktionales Element eignet. Der Baukünstler wählt als Ausdrucksmittel gerade nicht die gedruckte oder gesprochene Sprache, oder das Ephemere der Musik. Das „Erzählende" der Architektur steht dauerhaft und unausweichlich in einem durch sie mitkonstituierten Raum: Räumlichkeit ist konstitutiv für die spezifisch architektonische Fiktionalität.

86

Ebd., S. 18; nach wie vor eindrucksvoll: Loos, Ornament und Verbrechen, 1908/1981, S. 15 ff. 87 Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, 1982, S. 38.

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

b) Die Umgebung Der Raum, den Architektur gestaltet, ist nicht Raum an sich, sondern spezifischer Raum. Ein Bauvorhaben wird an einem bestimmten Ort ausgeführt. 88 Dieser hat eine Umgebung und ist selbst Teil der Umgebung der umliegenden Orte. 89 (1) Subjektiver Bezug auf Umgebung Zunächst ist es eine Frage ästhetischer Programmatik, ob ein Werk der Architektur auf seine Umgebung Bezug nimmt. Gerade mancher moderne Architekt hat sein Wirken eher vom Skulpturalen verstanden und den Eigenwert der Form betont. Der soeben zitierte Ausspruch von Le Corbusier, Architektur sei das kunstvolle, korrekte und großartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper ist ein Beispiel hierfür. Umgekehrt hat die sog. postmoderne Architektur die Bereitschaft wiederentdeckt, auf die historischen, regionalen und topographischen Eigenarten eines Ortes einzugehen.90 (2) Objektiver Bezug auf Umgebung Von der Ebene der subjektiven ästhetischen Stellungnahme ist die der tatsächlichen Einbettung jedes Bauwerkes in eine Umgebung zu unterscheiden. Bauwerke stehen mit ihrer Umgebung in einem ästhetisch relevanten Wechselspiel. Sie stehen in einer bestimmten Umgebung und kommunizieren mit ihr - daher die Rede davon, dass ein Bauwerk auf seine Umgebung, wie diese auch umgekehrt auf das Bauwerk „einwirkt". 91 Das gilt auch für Bauwerke, die selbstbewusst die explizite Bezugnahme auf Umgebung verweigern. 92 Dabei ist es nicht so, dass die Umgebung lediglich äußerer Rahmen wäre, so wie etwa die Gesellschaft einer bestimmten Zeit Entstehens- und vielleicht auch Verständnisbedingung eines Werkes der Literatur ist. Dieses verweist auf bestimmte gesellschaftliche Phänomene, ohne dass diese deshalb Bestandteil des Kunstwerks würden. Das ist zunächst einmal auch in der Baukunst so. Heutige Zeitgenossen verstehen häufig schon die Bauten der Moderne aufgrund geänderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nicht mehr. 88 Zum Umgebungsbezug von Architektur etwa Semper, Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol, 1856/1987, S.42; Heidegger versteht Bauen als Raumgestaltung, die „Orte errichtet", in: Bauen - Wohnen - Denken, 1952, S. 72 ff., S. 82; s. a. Kutschera, Ästhetik, 1989, S. 344. 89 „Umgebung" und „Raum" sind nicht mit den gleichlautenden Rechtsbegriffen zu verwechseln. 90 Klotz, Moderne und Postmoderne, 1985, S.423. 91 Kutschera, Ästhetik, 1989, S.344. 92 Auch für Gadamer ist der Ortsbezug unausweichlich, Wahrheit und Methode, 1960/1990, S. 161.

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Der Bezug eines Bauwerkes auf seine gebaute Umgebung geht darüber hinaus. Es bleibt zwar ein einzelnes, umgreift aber formal zugleich die stadträumliche Gestalt, von der es ein Teil ist. Gelingt es als Kunst, so hat an seinem Kunstcharakter die jeweilige stadträumliche Gestalt teil. Dies kann ein Bauwerk übrigens zuweilen gerade durch jeden Verzicht auf eigene gestalterische Originalität zu Wege bringen. Das Wort vom „Kommunizieren" eines Bauwerkes mit seiner Umgebung darf nicht unterbewertet werden. Es geht nicht um die Mitteilung einer Information von einem Sprecher an einen Hörer. Der Begriff der „Kommunikation" benennt die Eigenschaft der Reflexivität, die dem in der Umgebung stehenden Kunstwerk eignet. Sie führt dazu, dass die Änderung nicht nur eines Teils des Werkes seine Strukturiertheit selbst und also das ganze Werk verändert. Das Werk der Baukunst ist auch dann ein anderes, wenn die gebaute Umgebung verändert wird. Und umgekehrt: Ein Bauwerk deutet seine Umgebung um; ihr Ausdruckswert ist danach nicht mehr derselbe. Um ein Beispiel einer anderen Kunstgattung zu wählen: Ein Film ist ein anderer, wenn auch nur eine Szene anders geschnitten wird. 93 Jede Änderung eines städtebaulichen Zusammenhangs ändert den Ausdrucksgehalt jedes an ihm beteiligten Bauwerks. (3) Die physische Konkurrenz von Werken der Baukunst Schon im räumlich-nachbarschaftlichen Verhältnis zueinander stehen Bauwerke also in einem Verhältnis einander beeinflussender Konkurrenz: Die Gegenwart des einen Werks ändert das andere. Dies spitzt sich in der historisch-chronologischen Dimension elementar zu: zu einem Verhältnis physischer Konkurrenz. An einem Ort kann nur ein einziges Werk real vorhanden sein. Wenn im historischen Ablauf ein neues Bauwerk an die Stelle eines alten gesetzt wird, so wird das alte physisch ausgelöscht. In anderen Kunstgattungen dagegen kommunizieren und konkurrieren die Werke in nur geistiger Weise miteinander; sie lassen einander wenigstens physisch bestehen. Historisch allgemein lässt sich sagen, dass auch die Auseinandersetzung mit der Baugeschichte eines Ortes zu den möglichen Bezugnahmen eines Bauwerkes gehört.

(4) Werkeinheit in der Architektur im Verhältnis zur Umgebung Die Ortsgebundenheit des Werkes der Baukunst hat weitreichende Folgen. Sie bedeutet nicht nur, dass ein Bauwerk unvermeidlicherweise an einem bestimmten 93

Jetzt - in anderem Zusammenhang - verfassungsgerichtlich, soweit ersichtlich, erstmals aus Sicht der Kunstfreiheit zu einem Werk der Filmkunst: BVerfG-Kammer v. 25.9.2000, Az. 1 BvR 1520/00, http://www.bverfg.de-Filmkunst.

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Ort und zu einer bestimmten Zeit gebaut wird. Der spezifische Geltungsanspruch von Architektur als Kunst bezieht sich auf diesen einen Ort zu diesem einen historischen Zeitpunkt. Dennoch handelt es sich nicht bei jeder Veränderung der Umgebung eines Bauwerkes um einen ihrem künstlerischen Gehalt zuwider laufenden Akt. Die beschriebene Einheit und Geschlossenheit, die einem Werk der Baukunst wie den Werken anderer Kunstgattungen zukommt, ist im Bezug auf seine Umgebung aufgebrochen. Anders als Werke der bildenden Kunst oder Literatur, deren Werkeinheit für alle Zeiten beansprucht ist, ist die Architektur eine Kunstform, der es wesentlich darauf ankommt, praktisch-alltäglich benutzt zu werden. Es gehört daher zu ihrem eigenen Anspruch, sich historisch-gesellschaftlichen Änderungen auszusetzen und in ihnen zu bewähren. Ein Außer-Gebrauch-Stellen ist für Baukunst als „Musealisierung" eine Bedrohung ihres künstlerischen Gehalts. Das architektonische Werk versperrt sich nicht hermetisch gegen Einflüsse, die in die Einheit seiner Formgestalt eindringen. Seine Offenheit gegenüber solchen Einflüssen ist indessen begrenzt. Das Werk beharrt darauf, dass Zugriffe seinen Kunstcharakter prinzipiell anerkennen und sich vor ihm verantworten können. Wie weit reicht demnach der baukünstlerische Geltungsanspruch gegenüber Einflüssen auf seine Formgestalt? Zum einen umfasst er grundsätzlich den physischen Fortbestand des Bauwerks. Baukunst unterscheidet sich hier nicht von anderer Kunst: Bücherverbrennungen, Bilderstürmereien und Speers Berliner Achsenschläge sind Attentate auf die Kunst. Jedoch ist Baukunst keine Museumskunst: Sie hat am täglichen Leben der Stadt teil. Daher sind unvermeidliche Eingriffe aufgrund notwendiger Nutzungsänderungen mit ihrem Geltungsanspruch vereinbar. Um nicht in Musealisierung zu erstarren, erlaubt Baukunst auch, die Umgebung eines Werkes zu verändern. Aber jede Veränderung muss sich mit dem bisherigen künstlerischen Umgang mit dem Raum von Bauwerk und Stadt, mit der Formensprache des schon Vorhandenen auseinandersetzen, sie aufnehmen und das Vorhandene weiterhin formal schlüssig einbinden. Das Einzelbauwerk ist sogar gegenüber den sich aus der künstlerischen Gestalt der Umgebung sowie aus dem Ganzen einer städtebaulichen Figur ergebenden Forderungen grundsätzlich offen. Sie können auch in der Einnahme eine künstlerischen Gegenposition bestehen. Nicht einmal der Extremfall der Zerstörung eines Werkes der Baukunst ist immer ausgeschlossen. Sicher ist, dass mutwillige Zerstörung nicht rechtfertigbar ist. Darüber hinaus gilt auch hier: Architektur dient den Ansprüchen gesellschaftlicher und individueller Lebenspraxis. Welche Ansprüche eine Gesellschaft und die in ihr lebenden Menschen zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt an ihre Lebenspraxis stellen, müssen diese zuerst selbst bestimmen. Dazu gehört die Beantwortung der Frage, welchen Rang die architektonische Gestalt der Städte einnehmen soll. Eine Gesellschaft, die sich für einen starken verfassungsrechtlichen Schutz der Kunst entschieden hat, stellt Zugriffe auf Architektur unter einen hohen Rechtfertigungs-

III. Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur

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druck. Wenn Architektur einem neuen Werk weichen soll, muss sich das Nachfolgeobjekt vor dem Anspruch auf die künstlerische Gestaltung eines Ortes verantworten. Welche Argumente dafür hinreichen, gibt der künstlerische Geltungsanspruch des Einzelbauwerks nicht alleine vor.

c) Privater

und öffentlicher

Raum

Adolf Arndt hat zur Eröffnung der Berliner Philharmonie in emphatischer Weise die Bedeutung der Gestaltung von Raum für die Vermittlung von Individuum und Allgemeinheit in einer freiheitlichen Gesellschaft hervorgehoben: Das widerspruchsvolle Geheimnis des Raumes... ist sein Doppelsinn, dass Raum uns zur Vereinzelung trennt und uns zur Gemeinsamkeit eint und dass dadurch Raum auf unsere zwiespältige Sehnsucht antwortet, Mensch im Eigenen allein bei sich selber zu sein und sich gesellschaftlich als Mensch im Gefüge der Gemeinschaft zu bewähren, die uns aus der Verlassenheit befreit. Raum kann uns voreinander verbergen, auch indem er uns nach Rängen und Klassen verteilt; Raum wiederum kann auch unser Geboigensein gründen, indem er uns eingliedert. Es geht darum, dass Abstand, ohne den wir keinen Atem haben, nicht zur Entfernung wird, sondern uns aufeinander bezieht, damit uns Distanz von rechtem Maß und freiheitlicher Art miteinander verbindet.94

Im Begriff des Raums durchdringen sich wie im Begriff des Zwecks private und öffentliche Aspekte. Raumgestaltung zieht Grenzen zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre und vermittelt sie miteinander. Das geht weit über Fragen des architektonischen Gestus - etwa ob eine Fassade „abweisend" oder „einladend" ist - hinaus. Es mag hier am Beispiel der offenen oder geschlossenen Bauweise veranschaulicht werden. Für die europäische Großstadt ist die Blockrandbebauung klassisch.95 Hier öffnet sich das in einer einheitlichen Fluchtlinie und in geschlossener Bauweise gebaute Wohnhaus mit repräsentativen Räumen und häufig einem Balkon zur Straße. Zugleich ist es selbst Grenze zu hinten liegenden Gärten und Höfen, die der Öffentlichkeit unzugänglich sind. Das Muster wiederholt sich im Inneren der Wohnung in der Entgegensetzung von Salon und Privaträumen. Zugleich ist das Haus Modul eines städtischen Gefüges; es ist gleichermaßen angewiesen auf den typgerechten Anschluss von Nachbarbauten, wie es ihn ermöglicht. Dass aber die Öffnung des Hauses zur Straße in Anbetracht ihrer Auslieferung an den Autoverkehr heute obsolet erscheint, ist ein Hinweis auf den Zerfall städtischer Öffentlichkeit. 96 94

Arndt, Zur Eröffnung der neuen Philharmonie, 1964, S. 16. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1990, S. 246 f.; s. a. Bahrdt, Von der romantischen Großstadtkritik zum Urbanen Städtebau, Schweizer Monatshefte 1958, S. 637/644f. 96 Bahrdt, ebd., S. 644 f. 95

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Er kommt an aktuellen Bautypen unmittelbar zum Ausdruck. So zeigt etwa das Einkaufszentrum in der City 91, das aus einer Aufreihung von Verkaufsläden, Dienstleistern und Gastronomie entlang der öffentlichen Straße besteht, eine Wandlung des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit an. Allerdings liegt ihm noch das Modell einer prägnanten räumlichen Abgrenzung der Sphäre möglicher soziale Kontakte von einer als intim verstandenen Sphäre privaten Wohnens zugrunde. Denn die Straße gehört weiterhin der Öffentlichkeit; hier gelten die Regeln, die in einem demokratisch legitimierten, seinerseits öffentlichen Verfahren generiert wurden. Zugleich wird aber der Gehalt sozialer Kontakte tendentiell auf Konsumzwecke beschränkt.98 Dies wird dann im amerikanischen Modell der shopping mall perfektioniert . " Sie tritt dem Bereich des Öffentlichen als Ganze gegenüber; mit dem Eintritt in die Mall tritt privates Hausrecht in Kraft. So orientiert sich die Mall nach innen; nach außen schließt sie sich ab. Zwischen Ladenbesitzer und Kunden ist die vermittelnde, sozial mächtige Instanz des Mail-Betreibers geschaltet. Sie nötigt beiden einen Verzicht auf Autonomie ab, ohne selbst in die Öffentlichkeit zu treten. Häufig liegt diese Sorte Einkaufszentrum zudem außerhalb der Städte. Sie sind nur noch mit dem Auto erreichbar. Orte der Öffentlichkeit, an denen andere Verhaltensweisen als einzukaufen (oder zu arbeiten) möglich sind, existieren für ihre Kunden fast nicht mehr. Die Definitionsmacht von Architektur für das Verhältnis von privat und öffentlich liegt auf der Hand: Architektur ist in der Lage, im Raum stattfindende Öffentlichkeit zu liquidieren. Das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit findet also seinen Ausdruck im Architektonischen und wird von Architektur mitdefiniert. 100 Stützt Architektur die lebendige Wechselbeziehung von Öffentlichkeit und Privatheit nicht, sind beide Sphären bedroht. Hans Paul Bahrdts Analyse der Großstadt ist auch heute noch von Bedeutung: In der Großstadt wird das fruchtbare Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit bis zum Zerreißen überspannt. Die öffentliche Sphäre wird zu undurchschaubarer Unordnung oder zu ebenso undurchsichtiger bürokratischer Ordnung. Die Privatsphäre verkümmert, weil ihre Schutzeinrichtungen hypertrophiert sind, alle Kraft und Aufmerksamkeit des Einzelnen verbrauchen und weil das allzustark abgekapselte „Glück im Winkel" steril werden muss.101

97 Zur C/fy-Bildung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägnant Reulecke, Geschichte der Urbanisierung Deutschlands, 1985, S. 161 f. 98 S enne tt y Fleisch und Stein, 1995, S.28. 99 Paradigmatisch die Mall of America in Minneapolis-St. Paul (vgl. Thurow, SZ Nr. 36 v. 13./14.2.1999); Vorreiter in Deutschland sind die inzwischen über 40 Einkaufs-„Center" des Unternehmens ECE-Projektmanagement, das „Centro" in Oberhausen oder der Saale-Park bei Leipzig (vgl. Eggebrecht, SZ Nr. 20 v. 26.1.1999); s. a. Hoffmann-Axthelm, Die dritte Stadt, 1993, S. 139f. 100 Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1990, S. 244ff. 101 Bahrdt, Schweizer Monatshefte 1958, S. 637/645.

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Wie sehr der Einzelne am gesellschaftlichen Geschehen, einschließlich der Prozesse politischer Willensbildung, teilhat und wie sehr er sich ins Private zurückzieht, hängt auch von der Architektur ab, die unsere Städte prägt. d) Zusammenfassung: Das architektonische Kunstwerk Architektur zeichnet sich durch eine Doppelsinnigkeit aus, die zum einen aus der Umsetzung zweckgebundener Anforderungen und zum anderen aus ihrem Kunstcharakter erwächst. Die Zwecke, denen Architektur dient, sind zahlreich; Kunst ist Architektur in der Weise, dass sie mittels bestimmter, nämlich auf Raumgestaltung bezogener künstlerischer Verhaltensweisen vielfältige Bedeutungsbezüge herstellt. Zweck- wie Kunstcharakter der Architektur haben zwei Dinge gemein: Sie verhalten sich auf spezifische Weise zur Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit, und sie tun dies an einem bestimmten Ort. Die Bezogenheit auf die Verwirklichung einer Zweckerfüllung an einem Ort hat für das Werk der Baukunst zur Folge, dass seine Werkeinheit partiell aufgebrochen ist. Gegenüber wechselnden Forderungen von Zweckdienlichkeit ist es offen, aber auch gegenüber ästhetisch-gestalterischen Forderungen, die sich aus der (städte-) baulichen Umgebung ergeben. Einflüsse auf die künstlerische Gestalt haben sich vor dem Anspruch des Werkes der Baukunst auf die Gestaltung eines bestimmten Ortes zu verantworten. Welche Argumente dabei gegenüber der Baukunst legitim sind, hängt von Gegenstand und Reichweite des jeweiligen Zugriffs ab.

4. Baukunst als soziale Realität a) Rezeptionsweise von Architektur Die Spannbreite von Zweck- und Kunstcharakter einerseits und von der realen Körperlichkeit der Volumenbildung bis hin zur Fiktionalität einer Inschrift andererseits spiegelt sich in den Weisen der Rezeption von Architektur wider. 102 Wie Werke anderer Kunstgattungen ist Architektur zum einen in der Haltung sinnlicher Distanz erfahrbar: dem Schauen aus der Ferne. Architektur setzt aber - anders als Musik oder die auch zur Raumbildung fähige Skulptur - nicht ausschließlich auf distante Wahrnehmung. Sie kennt zudem eine Rezeptionsweise, die sich durch die und in der Benutzung vollzieht. Diese hängt mit der Zweckdienlichkeit von Architektur zusammen, geht aber darüber hinaus. Die Vielfalt der Wahrnehmungen, die mit der 102

Pallasmaa, The Eyes of the Skin, Architecture and the Senses, 1996, passim, insb. S.48ff.; Holl, Archteypal Experiences of Architecture, 1994, S. 122ff.; Kutschera entwickelt eine Phänomenologie des Raumerlebens, in: Ästhetik, 1989, S.345 ff.; Waidenfels, Wolkenkuckucksheim 1/1996, S. 4, 10f.; Arndt, Zur Eröffnung der neuen Philharmonie, 1964, S. 11; Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, 1894, S.20.

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Benutzung eines Bauwerkes einhergehen, lässt sich nicht als ausschließlich vor-ästhetisch beschreiben. 103 Die zu jeder Kunstrezeption gehörende sinnliche Wahrnehmung folgt dem, was das Kunstwerk gestattet und fordert. Auch die Sinnlichkeit der Benutzung eines Bauwerkes hat ästhetische Qualität. Sie vermittelt Wahrnehmungen etwa von Weite oder Enge, Lichtheit oder Düsternis oder die Erfahrung einer bestimmten Materialität. 104 Diese Art der Rezeption eines Bauwerks ist unausweichlich und ständig im Gange. Sie wird aber regelmäßig nur beiläufig gemacht. Es kann zum Programm von Architektur gehören, sich nicht aufzudrängen und hinter die eigene Benutzbarkeit zurückzutreten. Im Übrigen lässt sich trefflich darüber streiten, welches Maß an Distanznahme und Reflexion zur rein sinnlichen Wahrnehmung hinzukommen muss, um von der Rezeption von Architektur als Kunst sprechen zu dürfen. Sicher ist das adäquate Maß an Distanz der Wahrnehmung auch abhängig vom Einzelbauwerk; manches Werk fordert eher Distanz, manches eher Nähe. Nicht Stellung bezogen werden kann hier zum kunsttheoretischen Streit über die Bedeutung von Reflexion für die Kunsterfahrung. Die Positionen gehen von reflexionsfreudigen Kantianern bis hin zu aristotelischen Vorstellungen einer wesentlich im Sinnlichen verbleibenden „aisthesis".105 Festzuhalten bleibt, dass Architektur nicht nur auf Distanz, sondern vor allem in der Alltäglichkeit der Benutzung wahrgenommen werden kann. Architektur nimmt die Trennung von Kunst und Leben zu einem Teil zurück. b) Architektur

als dauerhafte Kapitalbindung

Zur sozialen Dimension der Architektur gehört des weiteren ihre Dauerhaftigkeit. Schon wegen des erheblichen Kapitaleinsatzes, der mit dem Bauen einheigeht, lassen sich Architekturen nicht wie (heutzutage) Kleider wechseln. Selbst in unseren wechselhaften Zeitläuften überdauert Architektur zumindest Jahrzehnte. Das in Architektur investierte Kapital bleibt gebunden. Architektur gibt, in der großen Zahl, einer ganzen Gesellschaft auf lange Sicht Handlungsalternativen vor und verschließt andere - beispielhaft in der zweifelhaften Wahlfreiheit zwischen städtischem Wohnen und dem ländlichen Einfamilienhaus: 106 Das Kapital, das einmal außerhalb der Innenstädte eingesetzt wurde, ist auf Dauer für sie verloren. 103

Hegel sitzt einem Biologismus auf, wenn er meint, einige Sinnesoigane seien zur Kunstwahrnehmung per se nicht geeignet, in: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 13, S. 60f., Bd. 14, S. 254ff., beide 1986. Die Fähigkeit zur geistigen Distanzierung von der Sinnlichkeit der Wahrnehmung ist weitgehend eine Frage historisch-kultureller Prägung, nicht eine biologischer Vorgegebenheiten ab. Sie geht nur in der Regel in besonderem Maße mit Gesicht und Gehör einher, aber etwa beim Blinden mit dem Tastsinn. 104 Letzteres ist etwa für Peter Zumthor zentral: Architektur denken, 1998, S. 58. 105 Etwa bei Wolfgang Welsch, in: Ästhetik und Anästhetik, 1989/1995, S.9ff. 106 Bahrdu Schweizer Monatshefte 1958, S. 637/645.

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Auf der Zweckebene bedeutet Dauerhaftigkeit also sowohl Einräumung wie Eingrenzung von Nutzungsmöglichkeiten; auf der künstlerischen Ebene legt Architektur dauerhaft den ästhetischen Gehalt und die ästhetische Qualität eines Ortes fest, mit Auswirkungen für die ganze Stadt. c) Architektur

als Auftragskunst

(1) Autonomie und Bindung an einen Auftraggeber Auf Auftrag hin tätig zu werden, war in der Kunst historisch lange Zeit der Normalfall. Erst im Gefolge der französischen Revolution fallen nicht nur die maßgeblichen Auftraggeber aus Adel und Kirche aus. Mit ihnen entfällt zugleich das geschlossene Weltbild des christlichen Feudalismus. Der Künstler verliert so den kultischen Zusammenhang einer Gesellschaft, innerhalb dessen er seinen Ort angewiesen fand. Der Einzelne wird freigesetzt, in einem politischen, ökonomischen und psychologischen Sinn. 107 In den industriellen Umwälzungen des 18. und 19. Jahrhunderts kommt das Bürgertum zu Macht und Geld. Es tritt funktional an die Stelle der alten Auftraggeber von Kunst. Das Bürgertum definiert sich geradezu über ästhetische Empfänglichkeit. Jetzt aber wird nicht mehr das einzelne Werk bestellt. An die Stelle des Auftrags tritt der Markt; das Kunstwerk lässt sich regelmäßig erst dann verkaufen, wenn es existiert. In der Kunstproduktion bedeutet das den Gewinn von Autonomie. Der Künstler erlangt die Freiheit von aller Bindung an äußere Zwecke; er allein bestimmt über die Gehalte, wenn auch mit dem Risiko, keinen Abnehmer zu finden. Für die Architektur gilt das nicht. Sie hat sich nie davon lösen können, Auftragskunst zu sein. Architektur ist eine Kunst, die nicht einmal im Prozess der Herstellung, geschweige denn in dem der ökonomischen Verwertung, von anderweitig vorgegebenen Zwecken absieht. Dies ist eine ihrer wesentlichen Produktionsbedingungen. (2) Die zwei Pole: Architekt und Bauherr Architektur als Auftragskunst bedeutet: Das Baugeschehen findet zwischen den Polen von Architekt und Bauherrn statt.108 Beide, Architekt und Bauherr, können ihre je eigenen Ansprüche nicht ohne den anderen verwirklichen. Das Produkt 107 Waidenfels beschreibt dies als Übergang von einer vorästhetischen zur ästhetischen Kunst, in: Wolkenkuckucksheim, 1/1996, S.6f. 108 Überschrift nach Hans Poelzig, Der Architekt, 1930/1986, S.21; zur Auftragsgebundenheit s. etwa auch Semper, Über die formelle Gesetzmäßigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol, 1856/1987; S.42.

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

„Bauwerk" entsteht sowohl als Werk der Kunst wie auch als zweckdienlicher Gegenstand gerade aus ihrem spannungsvollen Zusammenwirken. Dabei ist der Architekt zugleich Künstler und Fachmann für Zweckdienlichkeit, und der Bauherr ist nicht nur Nutzer, er mag und soll ästhetisch-gestalterische Vorstellungen äußern. Dass der Architekt auf den Bauherrn angewiesen ist, ist offenkundig: Der Bauherr bestellt und bezahlt den Architekten. Darüberhinaus kommen der Baukunst Vorgaben des Bauherrn zugute. Nach Hans Poelzig hält kein Architekt voraussetzungsloses, auftragloses Schaffen (...) lange aus, er verdorrt, und es gibt keine schlimmere Weisung an den Architekten, als machen zu können, was er wolle.109

Andersherum kommt typischerweise auch der Bauherr nicht ohne den Architekten aus. Er ist zunächst einmal auf das Expertentum des Architekten angewiesen. Dieser bringt die zur optimalen Zweckerreichung notwendige fachmännische Kenntnis mit. Aber er bringt, als Architekt, auch ein Rollenverständnis mit, das aus einer das „Know how" des Technikers übersteigenden Kenntnis des Gegenstandes resultiert. Dieses Rollenverständnis drückt sich in einem Ethos aus, dessen Ansprüche ihn dem Bauherrn gegenüber in eine antagonistische Position bringen können. Der Architekt Peter Zumthor hat das selbstbewusst so auf den Punkt gebracht: Wenn ich mir die Ausstrahlung des Hauses am Ort, für den wir es erdacht haben, in fünf Jahren, in fünf Jahrzehnten vorstelle, wenn für alle Leute, die dem Haus in irgendeiner Form begegnen, nur noch zählt, was gebaut ist, fällt es mir nicht so schwer, den Vorstellungen der Auftraggeber zu widerstehen.110

(3) Die Bedeutung der Bauherrenschaft für die Baukunst Oben 111 wurde behauptet, ob die zweckgerichteten Anforderungen von öffentlicher oder von privater Seite aufgestellt würden, sei eine Frage der Zweckdienlichkeit. Dagegen ist es von der künstlerischen Seite her nicht belanglos, wer dem Architekten gegenübertritt: Bauherr oder Baurecht. Es ist gerade das Spannungsverhältnis zwischen Bauherrn und Architekten, das in besonderem Maße produktiv ist. Die Vorgaben eines Bauherrn - seien sie zweckhafter, seien sie ästhetischer Natur - sind nicht zu Normen versteinert. Zumindest in der Entwurfsphase entsteht ein dem Argument zugängliches Spannungsfeld, das nicht nur dem Bauherrn sondern auch dem Architekten das Durchsetzen eigener Vorstellungen ermöglicht. Baurecht dagegen ist strukturell dem Argument entzogen: Es gilt. 112 Zu ergänzen bleibt, dass 109 Poelzig, ebd., 1930/1986, S. 21 ; ähnlich Kücker, Die verlorene Unschuld der Architektur, 1989, S.91f. 110 Zumthor, Architektur denken, 1998, S.46. 111 s.o. C.III.2.c). 112 Mitsamt der rechtlich eröffneten Einfallstore in Gestalt von Ausnahmen und Befreiungen, informell in den wachsenden Möglichkeiten der Aushandlung mit Baubehörden, die jedenfalls mit Verhandlungsmacht ausgestatteten Bauherren offenstehen.

III. Materiale Bestimmungsmerkmale von Architektur

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es auch jenseits der Rechtslogik bedeutsam ist, mit welchem Gegenüber der Architekt zu tun hat. Die Klagen über die Bürokratisierung gerade der Bauverwaltungen, über ihre „konservierende und abstumpfende Wirkung" sind alt. 113 Was dem Bauherrn an Entscheidungsbefugnis entzogen wird, wird auch dem produktiven Streit zwischen Bauherrn und Architekt entzogen. Es ist folglich für die künstlerische Betätigung von großer Bedeutung, dass sich die rechtlichen Vorgaben auf das vom Allgemeinwohl Gebotene beschränken. Mit Poelzig: Der Kampf zwischen Bauherrn und dem schaffenden Architekten kann nicht ersetzt werden durch Reglement und Verfügung. 114

(4) Architektur als Profession Die Institutionalisierung des freien Berufs Architekt, sein professionelles Selbstverständnis und die Selbstverwaltung der Profession 115 antworten auf die spezifische Konfliktsituation des Bauens: zwischen Zweckausrichtung und künstlerischem Anspruch einerseits, zwischen dem privaten und dem öffentlichen Interesse andererseits. Das öffentliche Interesse ist so im Architekten selbst präsent, wenn auch nicht in normativer Gestalt. Vielmehr hat der Architekt kraft einer sowohl technischhandwerklichen wie auch künstlerischen Ausbildung seinen individuellen professionellen Anspruch in Abarbeitung an den verschiedenen Ansprüchen von Wissenschaft, Handwerk und Kunst ausgebildet. Architektur als Profession ist selbst die Verkörperung einer Synthese von individuellem Gestaltungswillen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Diese Aussagen verbleiben im Bereich struktureller Betrachtung. Die tatsächliche Stärke oder Schwäche der Profession - sowohl ökonomisch wie hinsichtlich ihres Gestaltungswillens - ist damit noch nicht ausgewiesen. Nicht zuletzt dem Juristen liegt Skepsis nahe: Auch den Rechtsanwalt hindern heute weder wissenschaftliche Ausbildung noch die Verleihung der Eigenschaft eines Organs der Rechtspflege daran, selbst aussichtsloseste Streitfälle vor Gericht zu bringen. Die Überlegungen zum Architektenberuf als Profession werden dennoch zumindest für die Frage der Bauvorlageberechtigung als Anknüpfungspunkt dienen können.

113

Poelzig, Der Architekt, 1930/1986, S.25ff., Zitat S.30; Scholz, Verfassungsrechtliche Grenzen staatlicher Funktionsmonopole, Der Architekt 1978, S. 19 ff. 1,4 Poelzig, ebd., 1930/1986, S.29. 115 Zur Rolle der Architektenkammern Peter Conradi im SZ-Interview, SZ Nr. 25 v. 1.2.1999.

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

5. Zusammenfassung: Dimensionen der Architektur Architektur ist Zweckkunst. Sie dient vielfältigen privaten wie öffentlichen Zwecken, die sich ihrerseits überschneiden und durchdringen. Ihre zentrale gestalterische Kategorie ist die des Raumes. Auch sie hat zugleich eine private wie eine öffentliche Seite und leistet einen Beitrag zur wechselseitigen Definition der beiden Sphären. Die soziale Dimension der Architektur wird an der Spezifik ihrer Rezeption in der Benutzung selbst wie an der Dauerhaftigkeit der stattfindenden Kapitalbindung deutlich. Als Auftragskunst ist Architektur nicht nur gegenüber zweckhaften sondern auch gegenüber ästhetisch-gestalterischen Vorstellungen offen. Dennoch ist es nicht gleichgültig, ob ein privater Bauherr oder die Normen setzende und verwaltende öffentliche Hand diese Vorgaben macht. Der Architekt als Angehöriger einer Profession ist Mittler zwischen den Anforderungen der Allgemeinheit und denen des jeweiligen Auftraggebers.

IV. Architektur und Städtebau Vom einzelnen Bauwerk her betrachtet ist Stadt 116 , wie beschrieben, als Umgebung relevant. Bauwerk und Stadt stehen in einer intensiven Wechselbeziehung. Auf der Zweckebene sind bestimmte bauliche Nutzungen von bestimmten städtischen Vorgaben abhängig; als Teil der Stadt leistet jedes Bauwerk einen Beitrag im Rahmen der städtischen Arbeitsteilung. Auf der Raumebene findet ein gestalterisches Wechselspiel zwischen Bauwerk und Umgebung statt; Umgebung wirkt auf ein Bauwerk ein und Baukunst ist Teil der Stadtgestalt. Architektur nötigt so selbst dazu, den Blick auf den räumlichen Zusammenhang der Stadt zu erweitern. Insoweit lässt sich sagen, Architektur sei „als Städtebauerin" 117 am Werk. Städtebau ist aber auch ein Gegenstand, der als „Stadtbaukunst" schon aus eigener Dignität zum weit verstandenen Gegenstandsbereich der „Baukunst" gehört. Er ist aber nicht Architektur in größerem Maßstab, sondern ein Unternehmen, das oberhalb des Maßstabs des Einzelbauwerks ansetzt. Städtebau kann künstlerische Qualitäten aufweisen, obwohl kein Individuum handelt. Im Folgenden werden Ursprung und Horizont städtebaulicher Vorgehensweisen abgesteckt (1.), der Kunstcharakter des Städtebaus untersucht (2.), um dann das Verhältnis von Architektur und Städtebau näher zu bestimmen (3.).

116 Im Folgenden wird unter „Stadt" vereinfachend jeder zusammenhängend besiedelte Raum verstanden, wie im Gegensatzpaar „Stadt" - „Land". Auf den Unterschied „Dorf" - „Stadt" wird nicht abgestellt, anders als etwa in Wasmuths Lexikon der Baukunst, Bd. 4 (P-Zyp), 1932, Stichwort „Städtebau", S.432. 117 Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, 1894, S.25.

IV. Architektur und Städtebau

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1. Das Handlungsfeld des Städtebaus Die Beherrschung des Raumes steht am Anfang neuzeitlicher Staatlichkeit.118 Sie vollzieht sich in einer „Umdefinition von Herrschaftsbeziehungen vom Personalverband auf die Vorstellung eines durch Rechtsgebot beherrschbaren Raumes".119 Mit ihr geht die faktische Einvernahme von Raum durch Vermessung, anschließend seine technische Unterwerfung durch den obrigkeitlich durchgeführten Bau von Straßen, Brücken und Tunneln, das Trockenlegen von Sümpfen, die systematische Errichtung von Deichen an Flüssen und Küsten und die Aufschließung neuer Siedlungsgebiete einher. 120 Der heutige Städtebau baut auf den seinerzeit geschaffenen technischen und administrativen Vorleistungen auf. Er ist aber nicht mehr Teil jener ersten umfassenden räumlichen Unterwerfung von Natur, sondern seinerseits Antwort auf die in der industriellen Revolution herbeigeführte Zerstörung natürlicher und sozialer Ressourcen.121

a) Der Ursprung des modernen Städtebaus Unter Prägung des Begriffs „Städtebau" tritt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine breite soziale Bewegung mit dem Ziel an, die Probleme der Stadt der industriellen Revolution zu bewältigen.122 Ihr chronologisch wie sachlich erstes Anliegen ist die Hygiene, derer die vor sich hinsiechenden Städte Europas am Ende des 19. Jahrhunderts dringend bedurften. Der Städtebauer ist der Arzt, den die kranke Stadt benötigt.123 Das klingt heute noch im Begriff der „Sanierung" an. Bei aller Rede von gestalterischen Fragen, die hier noch folgen wird, darf die primär praktische Potenz des Städtebaus nicht vergessen werden. Ihm ist es zu verdanken, dass unsere Städte heute nicht mehr wiederzuerkennen sind: die Seuchen brüten nicht in den Abwässern der Straße; der Schlamm spritzt nicht mehr unter den Fahrzeugen hervor; die Brandgefahr ist nur noch an Silvester signifikant; Wohnungen werden hell und großzügig gebaut und mit Toiletten, Badewannen, Zentralheizungen, Aufzügen, Kühlschränken, Waschmaschinen und elektrischem Licht ausgestattet. Es gibt Parks, Spielplätze, Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Pflegestationen. 118

Stolleis, Die Idee des souveränen Staates, Der Staat, Beiheft 11, 1996, S.63/67f. Ebd., S. 63/83. 120 Am Beispiel Bayerns Schlögl, Der planvolle Staat, München 2000. 121 Bemerkenswert: Städtebau wie Grundrechte sind eine Antwort auf die Zumutungen der Modernisierung, in diesem Sinne also gleichgerichtet; zu den Grundrechten als „Antwort auf die Tendenzen zur Souveränität" Kriele, Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, 1973, S. 187 ff., ZitatS. 194. 122 Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, erscheint 1889, Stübben, Der Städtebau, 1890/1980; seit 1904 erscheint die Zeitschrift „Der Städtebau". Historische Darstellung der Entwicklung in ganz Europa bei Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S. 115 ff. 123 Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S.237. 119

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Letztes Reservat der totalen physischen Gefahr ist der Straßenverkehr mit Unfällen und mit Abgasen.124 Noch heute bewahren die meisten bestehenden rechtlichen Regelungen über das Bauen vor allem die Erinnerung daran, was für ein grauenhaftes physisches Leben die Stadt viele Jahrhunderte lang, gipfelnd in der frühmodernen Großstadt, den meisten verstattete. Aber auch schon in der ersten Blüte des modernen Städtebaus kam die Frage nach den gestalterischen Qualitäten der städtischen Umgebung auf. Hierfür steht vor allem die Person Camillo Sittes, der 1889 beklagte, dass „in technischer Beziehung (...) thatsächlich viel, in künstlerischer aber fast gar nichts geleistet" wurde - offenbar ein bleibendes Problem der Moderne. 125 Sitte bestand mit der Frage, „ob es denn wirklich unvermeidlich sei, diese Vorteile um den ungeheuren Preis des Aufgebens aller künstlerischen Schönheit städtischer Anlagen zu erkaufen?" auf dem Eigenwert der Stadtbaukunst.

b) Der Begriff des Städtebaus Städtebau findet zunächst auf einer anderen Handlungsebene als Architektur statt. Er beginnt erst oberhalb des Maßstabs des einzelnen Bauwerks: von der Gestaltung kleinräumiger Bezüge über den Zusammenhang einer Straße oder eines Platzes bis zu dem eines Stadtviertels und dem der ganzen Stadt. In Anbetracht der Verflechtungen von Stadt und Umland ist auch die Stadtregion dem Bereich des Städtebaus zuzurechnen. Der Zugriff auf noch großräumigere Zusammenhänge gehört nicht mehr zum Städtebau sondern zur Raumordnung. Von den Einwirkungen her betrachtet schließt der größere Maßstab die Einflussnahmen auf Einzelbau werke indes nicht aus, sofern sie nur aus dem umfassenderen Zusammenhang her begründet sind. Qualitativ sind nur solche Einwirkungen erfasst, die von räumlicher Qualität sind. Sie umfassen dieselbe Spanne von Kategorien wie die Architektur: von der physisch-raumgreifenden Fügung von Bauvolumina bis hin zu Formen des Fiktionalen. Darüber hinaus ist die raumstrukturelle Bearbeitung der Stadt, also etwa die städtische Wegführung und die Zuordnung von Freiräumen und Bauflächen, zentraler Gegenstand des städtebaulichen Handelns. Dazu gehört die Aufgabe der baulichen und gärtnerischen Gestaltung der öffentlichen Anlagen und Plätze. Die Intensität der Gestaltung ist wechselnd. Sie reicht von der den Privateigentümern nur einen groben formalen Rahmen setzenden Aufschließung eines Baugebietes bis hin zu kleinmaßstäblichen Maßnahmen - man denke etwa an die Entfernung von Umschaltkästen aus dem sichtbaren öffentlichen Raum. 124 Bahrdt spricht schon 1958 treffend von der Ityrannis des Verkehrs, Schweizer Monatshefte 1958, S. 637/645. 125 Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, 1909/1983, S. 122 und Vorrede.

IV. Architektur und Städtebau

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Einzugrenzen ist der Begriff des Städtebaus im Hinblick auf den Akteur. In einem weiten Sinne sind alle Stadtbürger am Städtebau beteiligt, vom Bauherren bis zu denen, die einen eröffneten städtischen Raum beleben. In einem engeren Sinn sind unter Städtebau nur bestimmte Maßnahmen, die von der öffentlichen Hand ausgehen, zu verstehen. 126 Zusammenfassend lässt sich Städtebau in diesem engeren Sinn definieren als die von der öffentlichen Hand ausgehende Lenkung und Steuerung des Prozesses der Entwicklung und Gestaltung der Stadt unter Einschluss der Stadtregion durch raumbezogene Maßnahmen.127

Rechtlich gesprochen deckt „Städtebau" damit sowohl das Bauplanungs- als auch große Teile des Bauordnungsrechtes ab. Das Denkmalschutzrecht gehört dazu, soweit es Bauwerke betrifft. Aus dem Begriff des Städtebaus sind diejenigen Maßnahmen auszugrenzen, deren räumliche Wirkung ausschließlich auf ein einzelnes Bauwerk beschränkt bleibt, sowie - jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang - der Bereich der Raumordnung, der maßstäblich über die Stadtregion hinausreicht. c) Die Instrumente des Städtebaus Dem zeitgenössischen Städtebau Europas steht eine breite Palette an Instrumenten zur Verfügung. In erster Linie betreibt die öffentliche Hand Städtebau, indem sie auf den privaten Sektor einwirkt. Hier hat sie eine Reihe von Möglichkeiten: - Instrumente mit dem Charakter hoheitlichen Befehls: Gesetz, Satzung und Verordnung, letztere vor allem in Form von Bebauungsplänen, ggf. auf der Grundlage eines städtebaulichen Wettbewerbs; Einzelmaßnahmen wie Verwaltungsakte, ζ. B. in Form von Baugenehmigungen oder Enteignungen; - informelle Planungen in Gestalt von Rahmen- und Entwicklungsplänen; - prozedural gehört dazu die Gestaltung von Genehmigungsverfahren: Sie können etwa kontrollintensiv sein oder nicht, schnell oder langsam, und es kann womöglich von Verfahrensanforderungen partiell freigestellt werden; - als kooperative Instrumente stehen städtebauliche und zivilrechtliche Verträge zur Verfügung; - im Wege der Bodenvorratspolitik kann städtisches Grundeigentum gezielt zu städtebaulichen Absichten eingesetzt werden; - mittelbare Steuerung kann über finanzielle Anreize stattfinden, positiv über Subventionen, negativ über Abgaben; 126 Ausgegrenzt wird der Städtebau großer Bauträger, insoweit nicht Entscheidungsbefugnisse der öffentlichen Hand betroffen sind; ähnlich Albers, Städtebau - eine schöne Kunst?, 1972, S. 6. 127 Ebd., S.5f., 35. *

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

- auch immaterielle Anreize haben Steuerungswirkung, etwa Wettbewerbe wie „Unser Dorf soll schöner werden"; - schließlich informelle Einzelmaßnahmen wie etwa Gesprächsrunden, Stadtforen, Community Planning, Beratung und Überzeugungsarbeit. Im Maß ihrer rechtlichen Determiniertheit sind die genannten Instrumente ausgesprochen unterschiedlich: von den trennscharfen Voraussetzungen einer Enteignung etwa über die Bindungen des Haushaltsrechts bis hin zum nahezu voraussetzungslosen Setzen immaterieller Anreize. Auch die tatsächliche Intensität der Steuerung schwankt beträchtlich, dabei nicht zwingend dem Maß rechtlicher Determination folgend. Praktisch nicht ganz unbeachtlich dürfte im Übrigen auch der Einsatz illegaler Mittel zu städtebaulichen Zwecken sein, wie etwa die Drohung, ein Genehmigungsverfahren zu verzögern. Städtebaulich bedeutsam sind auch die Bauvorhaben der öffentlichen Hand. Der wichtige Bereich der Gestaltung des öffentlichen Raumes einschließlich Straßenund Brückenbau gehört hier ebenso her wie alle öffentlichen Hochbaumaßnahmen, von der Standortauswahl bis zur baulichen Gestaltung von Rathäusern, Schulen und Museen. Dem Städtebau stehen mithin Mittel zur Verfügung, mit denen in umfassender Weise auf Architektur und Stadt eingewirkt werden kann. Das betrifft Architektur auch in ihrer künstlerischen Dimension. Wie soeben Architektur wird im Folgenden der Städtebau dem Versuch einer materialen Betrachtung unterzogen.

d) Grundlagen und Möglichkeiten des Städtebaus Auftraggeber von Städtebau ist die Gesellschaft. Sie ist für sich noch nicht handlungsfähig. Erst als rechtlich verfasste kann sie Meinungen bilden und ihnen folgend entscheiden. Entscheidungsrationalität wird gesichert durch Wissenschaft (1) und öffentliche Debatte (2), ohne dass diese eine genuin politische Entscheidung verzichtbar machten (3). Darüberhinaus wohnen dem Städtebau Gestaltungspotentiale inne, die sich zu Kunst verdichten können (4).

(1) Wissenschaft als Grundlage des Städtebaus Nahezu alle Lebenstätigkeiten sind darauf angewiesen, in der Stadt einen räumlichen Rahmen zu finden. Städtebau reagiert auf wechselnden Bedarf. Bereits um dieses Bedarfs gewahr zu werden, sind Methoden zu seiner Analyse notwendig. Hierzu stehen die Instrumentarien der verschiedenen Wissenschaften bereit, wie solche der (Stadt-) Soziologie und der (Sozial-) Geographie, der Raumforschung, Statistik, Wirtschafts-, Finanz- und Verkehrswissenschaft, aber auch der Naturwis-

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senschaften und der Medizin. Was städtebaulich notwendig und möglich ist, welche Mittel zur Problembearbeitung zur Verfügung stehen, welche Kosten entstehen und welche unerwünschten Wirkungen drohen: All das ist das Feld sozial- und naturwissenschaftlicher Analyse.

(2) Öffentlichkeit und Städtebau Das Vertrauen allein in die Wissenschaft sichert Rationalität im Städtebau nicht. Soweit sozialwissenschaftliche Fragestellungen betroffen sind, hat Wissenschaft mit einem Forschungsgegenstand zu tun, der sich nicht in der Exklusivität des Labors erschließt. Er ändert sich laufend und reflexiv: auf veränderte Lebensumstände mit eigenen Problemlösungsstrategien antwortend, nicht nur passiv anpassend an Neues. Unverzichtbar ist daher die Beteiligung derjenigen, die in der Stadt leben. Die Formen parlamentarischer Repräsentation sind in den nach wie vor zunehmend unübersichtlichen städtischen Gesellschaften kein ausreichendes Forum, auf dem alle ihre Stimme erheben (können). An dieser Stelle ist Bürgerbeteiligung nicht als Frage demokratischer Partizipation angesprochen, sondern unter dem Gesichtspunkt rationaler Entscheidung, die der Hebung der Rationalitätspotentiale der Lebenspraxis bedarf. Rationale Städteplanung ist auch prospektiv angewiesen auf die Lebenspraxis. Nur wenn sich im nächsten Moment nicht die Tatsachen ändern, auf deren Grundlage Entscheidungen gefällt wurden, bleibt Rationalität erhalten. Tatsachen des Städtebaus sind aber auch Motivationen und Haltungen Betroffener. Erst wenn ihre Tätigkeit hinzukommt, entsteht aus städtebaulichen Vorhaben eine lebendige Stadt; erst die Bürger beleben städtische Räume, indem sie sie als Kontrapunkt und Ergänzung ihrer privaten Lebenssphäre annehmen. Auch darauf hat die Beteiligung von Stadtbürgern Einfluss; schon der Prozess des Fragens und Antwortens als Bürger ist ein Teil der Arbeit an der Stadt. Dieser Prozess hat viele Akteure. Zu ihnen gehören beispielsweise sowohl die Träger politischer Mandate (auch wenn sie zugleich amtlich entscheiden), wie der Autor eines Artikels in einer Schülerzeitung. Auch bloße Lebensvollzüge können sich als städtebaulich relevante Äußerung verständlich machen: die Flucht auf das Land, die massenhafte Meidung öffentlicher Verkehrsmittel, hohe (Jugend-) Kriminalität in manchem Stadtviertel, die Abwanderung von Wirtschaftsunternehmen.

128 Zum Theorieverständnis der Stadtplanung Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S.281.

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(3) Die Notwendigkeit politischer Entscheidung Was zu tun ist, ist gleichwohl weder durch Wissenschaft noch durch öffentliche Debatte oder etwa durch den Druck der bloßen Tatsachen determiniert. Es ist vielmehr eine Frage genuin politischer Bewertung und Entscheidung.129 Das ist im Städtebau nicht anders als in anderen öffentlichen Handlungsbereichen. Der Grund dafür liegt nicht nur in den Begrenztheiten der Themenwahl von Wissenschaft oder den Schwierigkeiten der Implementation wissenschaftlicher Erkenntnisse in den politischen Entscheidungsprozess. Er ist auch nicht nur darin zu sehen, dass womöglich die Unmittelbarkeit der Stellungnahmen Betroffener den Blick auf manches versperrt oder dass Tatsachen als solche nicht von sich aus sprechen, sondern der Interpretation bedürfen. Alles dies führt immerhin für sich schon die systemlogische Notwendigkeit eines in irgendeiner Weise zur Lebenspraxis distanten Entscheidungszentrums vor Augen. Tatsächlich trägt die Antwort auf die Frage, welche Ziele gesellschaftlich überhaupt verfolgt werden sollen, originären Entscheidungscharakter; sie ergibt sich nicht aus Vorgegebenem. In der Sicht der den Lebenshorizont der vielen Einzelnen insgesamt übersteigenden Gesellschaft sind es nicht einmal nur alle heute Lebenden, deren Interessen Entscheidungen zu bedienen haben. Die Frage „Wie wollen wir als Gesellschaft leben?" lässt sich nur politisch beantworten: auf allen Ebenen des Politischen, von der Verfassungs- und Gesetzgebung bis hin zur Teilhabe des Bürgers am Wissensschatz der Verwaltung und den vagen Ausdünstungen des Politischen im Stil des Umgangs der Beamtenschaft mit dem Bürger. (4) Künstlerischer Gestaltungsspielraum im Städtebau Politischer Natur ist auch die Entscheidung darüber, ob und inwieweit künstlerische Fragen im Städtebau eine Rolle spielen sollen. Die Problematik umfasst Fragen der Bewahrung wie solche der Neugestaltung; sie reicht von der Aufgabe der Denkmalpflege bis zur Erschließung eines neuen Industriegebiets, von Fragen der Gestalt des einzelnen Bauwerks bis zu der ganzer Städte; vom Entwurf eines großräumigen Siedlungsstrukturmodells 130 über die Neuanlage eines städtischen Platzes bis zu den Anforderungen an die Fassadengestaltung einzelner Bauwerke und die Auswahl der städtischen Mülleimer. Schon ob Städtebau überhaupt als Kunst in Betracht gezogen werden soll, stellt sich als politisch zu entscheidende Frage dar. Denn man kann Städtebau unter künstlerischen Vorzeichen für falsch oder überflüssig halten; man kann die Ressourcen 129

Ebd., S. 284; Frisch, Wer formuliert die Aufgabe?, Bauwelt 1957, S. 729. Albers, ebd., S. 290; Wiegandt, Neue Stadtteile in den 90er Jahren - Gestaltungsmöglichkeiten am Stadtrand, IzR 1998, S. 537 ff. 130

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einer Gesellschaft anderem zuwenden wollen. Dem Politischen zugänglich ist schließlich die Frage, welche Idee von Stadtbaukunst gelten soll, welchem künstlerischen Konzept der Städtebau folgen soll. 131 Im Folgenden werden historische Modelle städtebaulichen und stadtbaukünstlerischen Handelns vorgeführt und anschließend erörtert, was Stadtbaukunst heute sein kann.

2. Städtebau als Kunst a) Historische Strukturmodelle städtebaulichen und stadtbaukünstlerischen Handelns Debatten über die Zukunft der Stadt speisen sich nicht zuletzt aus der Idee von Stadt als Lebensform 132 und der Utopie der gerechten Gesellschaft. 133 Ein wenig pragmatischer ist ein historischer Zugriff, der sich um die verschiedenen Stadttypen der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter bemüht.134 Von ihnen her lässt sich das heutige Verhältnis von Stadtbaukunst zum Werk der Architektur im Ansatz bestimmen. (1) Das Modell „Alte Stadt" Vor allem die „alte Stadt" 135 - die des europäischen Mittelalters - oder die „europäische Stadt" ist eines der Paradigmata der gegenwärtigen städtebaulichen Debatte. 136 Hier findet sich das Modell einer gemeinwohlverträglichen Entwicklung, die mehr oder minder naturwüchsig abläuft und deren obrigkeitliche Steuerung sich auf ein maßvolles Setzen von Rahmenbedingungen beschränkt. Die Zahl der Bauplätze ist beschränkt. Die Knappheit der Baumaterialien und das begrenzte technische Know-how der Zeit erlauben schon von sich aus nur eine schmale Spanne konstruktiver Lösungen. Die Logik sozialer Anerkennung und Kontrolle in den noch übersichtlichen städtischen Gemeinschaften engt die Bautätigkeit weiter ein. 137 Wo sie 131

Noch einmal, eindrücklich, Frisch, Wer formuliert die Aufgabe?, Bauwelt 1957, S.729. Etwa bei Thomas Mann, Lübeck als geistige Lebensform, 1960, eine Rede, auf die auch Aldo Rossi hinweist, in: Die Architektur der Stadt, 1973, S.21, Fußn. 1; aus sozialphilosophischer Sicht Habermas, Moderne und postmoderne Architektur, 1985, S. 25; aus städtebaulicher Sicht Albers, Städtebau - eine schöne Kunst?, 1972, S. 7 f.; Hoffmann-Axthelm spricht von „Stadtpatriotismus", in: Die dritte Stadt, 1993, S.249. 133 Badde, Die himmlische Stadt, 1999; Pathos etwa bei Jacques Le Goff in seinem Vorwort zur Buchreihe „Europa bauen", in: Benevolo , Die Stadt in der europäischen Geschichte, 1999, S.7 f. 134 Bezeichnend etwa Benevolo, der seinen Bericht über„Die Stadt in der europäischen Geschichte", 1999, mit der Loslösung von der antiken Welt beginnen lässt, S. 19 ff. 135 Begriff von Bruno Taut, Die Stadtkrone, 1919, S.53. 136 Berliner Planwerk Innenstadt, ABl.Nr.41 v. 13.8.1999, S.3131/3133, sub 3; in der Literatur etwa bei Hoffmann- Axthelm, Anleitung zum Stadtumbau, 1996, S. 123 ff. 137 Gönnenwein, Die Anfänge des kommunalen Baurechts, 1948, S.90. 132

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geschwächt ist, treten rechtliche Regeln ergänzend hinzu. Sie passen sich in ihrer Komplexität den komplexer werdenden Konfliktlagen der prosperierenden Städte an, bleiben aber beschränkt auf einzelne Problembereiche. 138 Eine übergeordnete städtebauliche Planung gehört nicht zu dem Modell der „alten Stadt". Bebauungspläne sind bis in das späte Mittelalter hinein unbekannt. Das Gelände gibt den Plan vor. Gesellschaftlich ist im Wesentlichen unumstritten, was schön ist. Künstlerische Intuition kann daher zu einem guten Teil rechtliche Satzung ersetzen. 139 Manchmal erlaubt ein städtisches Regelwerk Ausnahmen von den allgemeinen Regeln „zu zierheit unser stat oder sust uß erbarer bewegung".140 Das Ergebnis ist ein heute als pittoresk empfundenes Stadtbild, das sich durch Kleinräumigkeit und Variantenreichtum in einem formal einheitlichen Rahmen auszeichnet. Der Stadtplan wird strukturiert von verwinkelten Gassen und einem oder mehreren Plätzen, an denen sich ein Monument in Gestalt eines Rathauses oder Gerichtsgebäudesfinden kann. Die Stadt ist nach außen streng umgrenzt. Rothenburg ob der Tauber ist eine Stadt, an der dieses Modell bis heute nachvollziehbar ist. 141 Allerdings gibt es zuweilen auch zielgerichtet stadtbaukünstlerische Gestaltung. Exemplarisch ist der berühmte Campo von Siena.142 Urwüchsig entstand auf einer buchtförmigen Geländeform, an deren oberen Ende eine Quelle entsprang, der Dorf-Anger. Er wurde später zum Marktplatz. Im 13. Jahrhundert legen dann Statuten bis in alle Einzelheiten fest, wie die Gebäude am Platz gestaltet werden müssen. An der Längsseite wird ein Rathaus mit einem monumentalen Turm von 102 Metern Höhe errichtet. Die ästhetische Gestaltung des Platzes durch Pflastern und das Anlegen von neun Wasserabläufen kommen später hinzu (1347). Das Verhältnis der „alten Stadt" zum Einzelbauwerk ist weitgehend unproblematisch. Aus sachlichen Gründen ist Reglementierung nötig - aber weder die Originalität des schöpferischen Künstlers noch unmäßiger ökonomischer Verwertungsdruck sind Probleme der Zeit. Auf das Stadtbild bezogene erhalterische Motive spielen manchmal eine Rolle. 143 Im Übrigen kontrollieren die Städte die Bautätigkeit, ohne selbst in der Lage und willens zu Großprojekten zu sein. Einige Jahrhunderte lang wird über die Baufreigabe in justizförmigen Verfahren entschieden, in denen Bauherr und Stadt weitgehend gleichgestellt sind. 144 138

Die Fülle von Regelungen in den ersten ausführlicheren Bauordnungen des 14. Jahrhunderts betrifft: Überbau, Winkel, Trauf, Wasserableitung; Ausbauten, Stockwerkszahl; Ausladungen, Kellerhälse, Anordnung von Ziegeldächern und Steinwerk; Kellertiefe, Dicke und Höhe der Mauern, der Schlote, der Aborte, des Trauf- und Lichtrechts; baufällige Häuser, Bauverbot auf der Allmende, Bedachung, s. Gönnenwein, ebd., S. 83 ff. 139 Ebd., S. 88. 140 So in Worms 1498, zitiert nach Gönnenwein, ebd., S. 102. 141 Ebd., S. 88. 142 Zum Folgenden: Benevolo , Die Stadt in der europäischen Geschichte, 1999, S.71. 143 Gönnenwein, Die Anfänge des kommunalen Baurechts, 1948, S. 101. 144 Ebd., S.77f.; das Mittelalter kennzeichnet eine „beherrschende Stellung des Richters", Stolleis, Die Idee des souveränen Staates, Der Staat, Beiheft 11, 1996, S. 63/72.

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(2) Das Modell „Residenzstadt" Von entgegengesetztem Zugriff auf den städtischen Raum ist die Residenzstadt. Im 15. Jahrhundert kommen in Italien von Künstlern entworfene Stadtbaupläne auf; in Deutschland entwirft Albrecht Dürer 1527 eine ideale Residenzstadt und inspiriert die späteren Entwürfe von Mannheim, Karlsruhe, Hanau und Ludwigsburg. Namentlich Karlsruhe, 1715 neu gegründet, ist das Paradebeispiel für den landesfürstlichen Städtebau.145 Er geht an die Stadt wie an ein Haus heran. 146 In Grundriss und Aufriss vorab geplant,147 wird Stadt als abgeschlossene gestalterische Einheit begriffen. 148 Inhaltliches Muster des Stadtplans ist die geometrische Orientierung an dem obrigkeitlichen Zentrum des Schlosses. „Regelmäßigkeit, Proportion, Ordnung" sind die Gestaltungsmaximen:149 »Regelmäßigkeit' im Sinne von genau eingehaltenen Regeln etwa für die Anlage von Straßen, die Höhe und Gestaltung der Gebäude; »Proportion4 im Sinne der wohlausgewogenen Maßstäblichkeit von Straßen- und Platzraum und von begrenzender Bebauung (...); und »Ordnung' im Sinne der Widerspiegelung der gesellschaftlichen Ordnung in der baulichen und räumlichen Gliederung der Stadt (...). 150

Dass die ursprünglich vorgesehene Einheitlichkeit der Stadt in der Baupraxis in aller Reinheit ausgeführt werde, bleibt aber nur ein Wunsch: Schon allein des großen Zeitrahmens wegen sieht sich der Landesfürst dann und wann gezwungen, seine Vorstellungen an die sich ändernden Verhältnisse anzupassen.151 Die rechtliche Bindung des Einzelbauwerks ist nahezu vollkommen. Hat ein Bauherr ein Grundstück erhalten, darf und muss er 152 , streng kontrolliert, 153 nach dem Muster einiger weniger vorgegebener Haus-Modelle bauen.154 Dabei wird jede Einzelheit durch Befehle und Verordnungen des Landesherren festgelegt. 155 Die 145

Umfassend: Fehl, „Stadt als Kunstwerk", „Stadt als Geschäft", 1983, S. 135 ff.; zum Begriff des „landesfürstlichen Städtebaus" S. 135 mit Fußn. 1. 146 Fehl, ebd., S. 137. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 138 f. Dieses Herangehen beruht nicht notwendigerweise auf dem Residenzcharakter der Stadt, sondern konnte auch einem Wiederaufbau nach einer Feuersbrunst zugrundeliegen, wie etwa in Neuruppin nach dem Brand am 26.8.1787, das als „preußische Musterstadt" galt, vgl. Mathematisches Calcul und Sinn für Ästhetik, 2000, S. 118 ff. 149 In Preußen, neben der Feuersicherheit, als „Regularität", ebd., S. 118. 150 Fehl, „Stadt als Kunstwerk", „Stadt als Geschäft", 1983, S. 137. 151 So ist schon der Baufortschritt von der Nachfrage abhängig und der Aufriss wird in gewissem Rahmen variabel gehalten, Fehl, ebd., S. 141,142. 152 Ebd., S. 140. 153 Ebd., S. 142, 152. 154 Ebd., S. 141 f.; die ursprüngliche Anzahl der Haus-Modelle von zwei wird später entsprechend der gesteigerten gesellschaftlichen Differenzierung erhöht und 1752 die Ausführung in Stein vorgeschrieben. 155 Ebd., S. 140.

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rechtsförmige Durchsetzung von Baurecht wandert von justizförmigen Verfahren in den Bereich einseitig-obrigkeitlicher Anordnung durch die polizeistaatliche Verwaltung ab. 156 (3) Das Modell „Nationale Hauptstadt" Die Zeit der industriellen Revolution sprengt die überkommene Stadt auf: 157 - die politisch-ökonomischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts entwinden Adel und Kirche die Verfügungsmacht über Grund und Boden und machen ihn zu einem Handelsgut; - der soziale Zusammenhalt der Städte wird aufgelöst: Außerrechtliche Bindungen - wie soziale Konventionen und kollektiv geteilte Schönheitsvorstellungen - werden von der Logik des Marktes weggewischt. Individuelle Initiative wird freigesetzt; - räumlich wachsen die Städte über ihre durch Befestigungen vormals streng festgelegten Grenzen hinaus; Industrie siedelt sich auch außerhalb von Städten an, wenn es dort günstige Produktionsvoraussetzungen gibt; - neue Techniken eröffnen die Möglichkeit, größer, billiger und mehr denn je zuvor zu bauen; neue Verkehrssysteme ermöglichen eine zunehmend stadtferne Ansiedlung. Die Vorstellung von der Stadt als Kunstwerk wird von der der „Stadt als Geschäft" (Gerhard Fehl) 158 ersetzt. Räumlich beherrschen nicht mehr die Fragen von Sichtachsen und Sammlung um einen zentralen Ort den Städtebau, sondern das Problem einer Grundstücksaufteilung, die die optimale wirtschaftliche Verwertung erlaubt. 159 An der Verwertung beteiligen sich die nunmehr unternehmerisch agierenden alten Landesherren. 160 Dennoch sträubt sich das in seinem Selbstverständnis wesentlich den schönen Künsten verpflichtete europäische Bürgertum, die Stadt gestalterisch völlig preiszugeben. Wenigstens die Landeshauptstädte sollen in ihrem stadträumlichen Äußeren kunstvoll durchgebildet sein („Haussmannisierung"). 161 Die Gestaltungsversuche 156

Gönnenwein, Die Anfange des kommunalen Baurechts, 1948, S.77f., 85. Zum Folgenden: Benevolo , Geschichte der Stadt, 1983, S.780ff.; ders.: Die Stadt in der europäischen Geschichte, 1999, S. 184ff.; H offmann-Axthelm, Die dritte Stadt, 1993, S. 101 ff.; Albers, Städtebau - eine schöne Kunst?, 1972, S. 10; Fehl, „Stadt als Kunstwerk", „Stadt als Geschäft", 1983, S. 158; Reulecke, Geschichte der Urbanisierung Deutschlands, 1985, S.40ff. 158 Fehl, ebd., schon im Titel. 159 Ebd., S. 166f. 160 Für Karlsruhe: Ebd., S. 156 f. 161 Benevolo , Die Stadt in der europäischen Geschichte, 1999, S. 196ff.; im Einzelnen zu London, Paris und Wien s. Olsen, Die Stadt als Kunstwerk, 1988; s. a. Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S. 300ff. 157

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knüpfen an das Modell „Residenzstadt" an: Ihre Merkmale werden aufgenommen, wie das prunkvoll-schmückende öffentliche Gebäude162 - Parlamentsbauten, Justizpaläste, später auch Bahnhöfe - oder die Vorliebe für gerade Straßen, die nach Möglichkeit Sichtachsen freilegen. Nach wie vor ist die angestrebte Einheitlichkeit der Stadtgestalt darauf gerichtet, die Einheitlichkeit des politischen Willens zu repräsentieren und zu demonstrieren - seinerzeit des Landesherren, nunmehr der Nation. In Wirklichkeit kann der Gestaltungswille der Stadtentwicklung nicht mehr nachkommen. Trotz des im Vergleich zum Absolutismus noch erweiterten rechtlichen Instrumentariums 163, bleiben weite Teile der Stadt - insbesondere neue Industrieareale und Armenviertel - völlig unbeachtet, während die zentralen Stätten nationaler Repräsentation mit riesigem Aufwand detailliert neu gestaltet werden. 164 Alles in allem entgleitet die Stadt (nicht nur) in ihrer baulichen Gestalt mehr und mehr der politischen Steuerung. Noch einmal scheint die Vorstellung von der Stadt als einem einheitlich durchzubildenden Kunstwerk in den ihre Komplexität negierenden Großmacht- und Omnipotenzphantasien der Diktaturen des 20. Jahrhunderts auf. Speers Berlin-Planung 165 , die Umgestaltung Roms durch Mussolini 166 , der Stalinsche Generalplan für Moskau 167 seien in Erinnerung gebracht. Das Verhältnis der nationalen Hauptstadt zum Einzelbauwerk zeigt erstmals eine echte Kluft zwischen privaten und öffentlichen Interessen. Im einzelnen Haus folgt der Stilwillen des Bürgertums noch bereitwillig dem repräsentativen Ansinnen des Nationalen. Die dekorative Gestaltung des Stadtraums ist weitgehend unproblematisch. Wo aber das Repräsentationsbedürfnis versagt - und das heißt: fast überall - , setzt sich die private ökonomische Logik durch: in monotonen, jeglicher städtebaulicher Durchbildung baren Industrie- und Wohnvierteln. Wo auf der anderen Seite das nationale Interesse unwiderleglich wird, wie im Inneren der Hauptstädte, tritt das Einzelinteresse hinter dem Achsen schlagenden Gemeinwohl zurück. Instrumente der rechtlichen Vermittlung der privaten und öffentlichen Interessen werden erst langsam entwickelt. Die Rückausgliederung eines Teiles des Baurechts aus dem Bereich der Polizei in den einer planerisch-ausgleichend vorgehenden Gemeindeverwaltung, wie auch die Verrechtlichung des Polizeiwesens beginnen.168

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Fehl, „Stadt als Kunstwerk", „Stadt als Geschäft", 1983, S. 156. V. a. in Form der Exproprationsgesetzgebungen, vgl. Tabelle bei Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S. 346. 164 Besonders eindrücklich in Paris, Benevolo , Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 1,1994, S. 107 ff. 165 Hierzu: Whyte, Der Nationalsozialismus und die Moderne, 1996, S. 258 ff. 166 Hierzu: Benton, Das römische Reich ersteht wieder, 1996, S. 120ff. 167 Hierzu: Kasus, Die große Illusion, 1996, S. 189 ff. 168 Vgl. Reulecke, Geschichte der Urbanisierung Deutschlands, 1985, S.51 f. 163

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

(4) Das Modell „Funktionale Stadt" Umfassenden Zugriff auf die Stadt beanspruchte auch die schon erwähnte Bewegung des „Städtebaus".169 Plastisch denkt die berühmte Charta von Athen, die 1933 die Radikalität der modernen Bewegung pointiert ausspricht, Stadt in ihrer Ganzheit als verfügbar: Auf jeden Fall wird das Gewebe („tissue") der Stadt sein Webmuster („texture") ändern müssen.170

Die inhaltlichen Anliegen des „Städtebaus" finden Ende des 19. Jahrhunderts ihre formale Antwort in einem einheitlichen räumlichen Gliederungsprinzip: der Zonierung der Stadt nach funktionalen Gesichtspunkten. Sie wird erstmals in der Bauordnung von Frankfurt am Main des Jahres 1891 durchgeführt. 171 Den wesentlichen städtischen „Funktionen" des Wohnens, des Arbeitens, der Freizeit und des Verkehrs werden eigene Gebiete zugewiesen, innerhalb derer andere Nutzungen ausgeschlossen sind. Was in der Planungspraxis der Zeit ohnehin angelegt war und durch die Mechanismen des Bodenmarktes gefördert wurde, bringt die Charta von Athen noch einmal gültig auf den Punkt. 172 Ästhetisch wendet sich der moderne Städtebau scharf gegen die Inhaltsästhetik des 19. Jahrhunderts. Jegliches Sprechen über Fragen der ästhetischen Stadtgestaltung wird fragwürdig: „Der Städtebau kann nicht von ästhetischen Motiven bestimmt werden, sondern von funktionellen." und „Empfindungen rein ästhetischer Ordnung sind keine Thema... Dieser Kongress ist ein Kongress der Techniker..." hieß es in La Sarraz, wo erstmals über die Charta beraten wurde. 173 In gleichem Maße notorisch ist die Distanznahme zur Politik. Städtebau wird als eine Aufgabe verstanden, die mit den Mitteln der wissenschaftlich-technischen Welt eindeutigen Lösungen zugeführt werden kann. Das Moment politischer Entscheidung erscheint auf die Frage der Umsetzung des wissenschaftlich als richtig Erkannten reduziert. Einige städtebauliche Konzepte gehören zum Modell der funktionalen Stadt. Die Lösung der Wohnungsfrage durch Arbeitersiedlungen in den 20er Jahren setzt auf separierte Wohnviertel 174; die „autogerechte Stadt" will endlich das Verkehrsproblem lösen (und schreckt keineswegs vor einer Zerlegung alter Residenzstädte wie 169

s.o. C.IV.l.a). Charta von Athen, zu § 35, in: Hilpert, Le Corbusiers „Charta von Athen", 1988, S. 138. 171 Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S.36f. 172 Ebd., S.298. 173 Victor Bourgeois und Le Corbusier zitiert nach Hilpert, Le Corbusiers „Charta von Athen", 1988, S.64f. 174 Benevolo, Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 2, 1994, S. 175 ff. 170

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Karlsruhe zurück); nicht zuletzt macht die Baunutzungsverordnung die Zonierung im Jahr 1962, als sie schon in breite Kritik gerät, zum geltenden Recht.175 Der Zugriff auf das Einzelbauwerk ist immer da energisch, wo die soziale Frage gestellt wird. Ganze Stadtteile fallen der Flächensanierung176 oder dem Autobahnbau zum Opfer. Neubauten werden engmaschig reglementiert: von der Ausrichtung der Wohnräume nach Süden177, über die Fenstergrößen, detaillierten Wärmeschutz, den Einbau von Aufzügen, das Anlegen von Pkw-Stellplätzen, bis hin zu den erlaubten Baumaterialien. Das Aufwerfen genuin städtebauästhetischer Fragen ist modellfremd. Nur das historische Monument, soweit seine Erhaltung mit den Ansprüchen eines expansiven Städtebaus vereinbar ist, wird bewahrt. So wollte Le Corbusier in seinem Plan Voisin die Innenstadt von Paris neu errichten und Notre Dame inmitten von Hochhäusern stehen lassen.178 Der Denkmalschutz reicht hin, um - mehr oder weniger wirksam, aber seit dem Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 erstarkt - manches Überkommene zu retten. Gestaltungssatzungen versuchen allenfalls noch, die Entwicklung von Einfamilienhausgebieten an der ursprünglichen Gartenstadtidee179 auszurichten oder die Dacheindeckungen farblich zu vereinheitlichen. Ab und zu tut sich die öffentliche Hand mit künstlerisch anspruchsvollen Museums- oder Theaterbauten hervor. Die Durchsetzung von Baurecht ist vollkommen verrechtlicht und gerichtlich überprüfbar. Gesetzgebung wie Planung sind in hohem Maße auf den Ausgleich aller funktionalen Aspekte bedacht; er wird durch einen breiten Konsens über die sozialen Notwendigkeiten des Städtebaus erleichtert.

b) Städtebau und Stadtbaukunst heute Der städtebauliche Funktionalismus hat seine Legitimationskraft für die Planung der ganzen Stadt im Laufe der 70er Jahren zu einem guten Teil verloren. 180 Es ist zum Allgemeingut geworden: Die Fülle des Lebens der Stadt lässt sich nicht auf einige wenige funktionelle Systeme reduzieren 181 (auch wenn die Unvereinbarkeit 175

Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S.298. Rechtsgrundlage in Deutschland erst 1971 im Städtebauförderungsgesetz, BGBl. I S. 1125. 177 Vgl. § 26 der Charta von Athen: „Für jede Wohnung ist ein Minimum von Stunden der Besonnung zu bestimmen. (...) Wenn nicht, dann muss die Baubewilligung verweigert werden.", in: Hilpert, Le Corbusiers „Charta von Athen", 1988, S. 133. 178 Le Corbusier, Urbanisme, 1925, S. 272. 179 Eingehend zu dem auf Ebenezer Howard zurückgehenden Konzept der Gartenstadt Benevolo , Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 1, 1994, S. 412 ff. 180 Ähnlich Reulecke, Geschichte der Urbanisierung Deutschlands, 1985, S. 163. 181 Albers, Städtebau - eine schöne Kunst?, 1972; S. 14. 176

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mancher Nutzungen, etwa der von emittierender Industrie und Wohnbebauung, selbstverständlich bleibt). Der heutige Städtebau hat zu einem neuen Konsens noch nicht gefunden. 182 Wenn nicht alles täuscht, stehen - weiterhin modellhaft betrachtet - im Wesentlichen zwei gegenläufige 183 Optionen der Stadtentwicklung im Raum: die nachhaltige Stadt (1) und die aufgelöste Stadt (2). Einige Feststellungen lassen sich über den heutigen Städtebau im Allgemeinen treffen (3).

(1) Die nachhaltige Stadt „Nachhaltigkeit" ist einer der begrifflichen Foki der gegenwärtigen städtebaulichen Debatte. Dies zeigen etwa das Projekt der Agenda 21, der Aktionsplan der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung im 21. Jahrhundert, das neue Baugesetzbuch184 oder zuletzt die Berliner Erklärung zur Zukunft der Städte.185 In ähnlicher Stoßrichtung wird auch die Rede von der Urbanen oder der europäischen Stadt geführt. 186 Das Konzept der Nachhaltigkeit hat zunächst den Nachweltschutz vor Augen: Die Bedürfnisse der Gegenwart sollen so befriedigt werden, dass die Befriedigung der Bedürfnisse künftiger Generationen nicht gefährdet wird. 187 Deshalb bedeutet Nachhaltigkeit zunächst, ökologische Probleme in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen: Es geht um die sparsame Verwendung der natürlichen Ressourcen, namentlich bei der Inanspruchnahme von Boden und hinsichtlich des Energieverbrauchs. Bezogen auf Gestaltfragen, verknüpfen die avancierten Vorstellungen von Stadt heute den Gedanken der Nachhaltigkeit mit dem Konzept der alten, der europäischen Stadt.188 Sie verstehen etwa das Haus als das bleibende Grundelement von Stadt, rekurrieren auf die herkömmliche Abgrenzung von öffentlichen und privaten Räumen und schätzen wieder das Wechselspiel von Alltags- und Monumentalarchitektur. 189 Der Gedanke der räumlichen Nähe von Wohnen, Arbeiten und Freizeitgestaltung („Stadt der kurzen Wege" 190 ) wird in der Absicht wiederbelebt, 182

Grundlegend jetzt: Hall/Pfeiffer, Urban 21, 2000, insb. S. 192 ff. Vgl. Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S.290. 184 Seit 1998 § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB (Bau- und Raumordnungsgesetz 1998 - BauROG v. 18.8.1997, BGBl.I, S.2081). 185 Vom 6.7.2000, BBauBl. 2000, S. 14 f.; s. a. Krautzberger, Das heutige System der raumbezogenen Gesamt- und Fachplanungen unter Berücksichtigung des Gebots der nachhaltigen Entwicklung, S. 1 ff.; Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung (Hrsg.): Städtebaulicher Bericht: Nachhaltige Stadtentwicklung, 1996; Kühn, Stadt in der Landschaft-Landschaft in der Stadt, IzR 1998, 495 ff.; M it sc hang, Der Planungsgrundsatz der Nachhaltigkeit, DÖV2000,14ff.; Braam, Stadtplanung, 1999, S.6ff. 186 Etwa bei H offmann-Axthelm, Anleitung zum Stadtumbau, 1996, S. 123 ff. 187 Hall/Pfeiffer, Urban 21, 2000, S. 29. 188 Ebd., S.49ff. 189 Rossi, Die Architektur der Stadt, 1973. 190 Hierzu Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S.290, 299f. 183

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die in ihrer Stadtverträglichkeit liegenden Chancen neuer Techniken zu nutzen.191 Stadtbaukunst als sinnlich-ästhetische Gestaltung eines Teiles der menschlichen Umwelt wird als Teil des ökologischen Projektes begriffen. 192 Die Krise der Stadt der Gegenwart 193 wird weder mit einseitig etatistischen noch einseitig liberalistischen Mitteln bekämpft. Die nachhaltige Stadt setzt auf das (Noch-) Vorhandensein und die Kommunikationsfähigkeit des an der Stadt interessierten Bürgers, sowohl des Bewohners wie des Grundeigentümers und Investors. Der hoheitliche Befehl tritt hinter Aushandlungsprozesse zurück. „Nachhaltig" ist gleichsam auch die Kommunikation in der Stadt und über die Stadt. Den Anforderungen des Gemeinwohls wird Schlagkraft verliehen, indem die entwickelten städtebaulichen Eingriffsinstrumente in ihrer Intensität erhalten bleiben und die Entwurfs- und Entschlusskraft der Städte gestärkt wird. 194 Das Einzelbauwerk wird wie in seiner ökonomischen so in seiner stadtgestalterischen Bedeutung ernst genommen und in seinem konkreten Bezug zur örtlichen Situation betrachtet.

(2) Die aufgelöste Stadt Die künftige Stadt kann aber auch aus der abgeschwächten und modernisierten Fortschreibung des Modells der funktionalen Stadt entstehen. Die aufgelöste Stadt akzeptiert, dass weiterhin ganze soziale Schichten die Städte verlassen und in meist monofunktional geprägte Randlagen ziehen. Sie bietet diesen Menschen als Ergänzung die Erfüllung funktional begrenzter Ansprüche an: Arbeitsplätze, stadtspezifische Formen des Konsums wie Opernbesuch oder „Stadtbummel" oder auch Raum für politische Demonstrationen an zentralem Ort. Städtebau ist eines der Instrumente, um das zu ermöglichen. Im Rahmen der verkehrlichen Infrastruktur wird das Auto als Transportmittel bevorzugt, wenn auch mit technisch und ökologisch verbesserten Fahrzeugen. Die öffentlichen Verkehrssysteme können diese Funktion kaum übernehmen, da häufige und bequeme Anbindungen in der gesamten Fläche eines dünn besiedelten Umlands der Stadt unverhältnismäßige Aufwendungen erfordern. Der öffentliche Nahverkehr dient mehr der sozialen Chancengleichheit, indem er es auch alten Men191

Hoffmann-Axthelm, Die dritte Stadt, 1993, S. 161 f. zeigt maßvolle Perspektiven auf. Zusammenfassend lassen sich mit Hoffmann-Axthelm vier wesentliche Prinzipien der europäischen Stadt bündig benennen als: Öffentlichkeit, Mischung, Ortsidentität und Selbstverwaltung, in: Anleitung zum Stadtumbau, 1996, S. 123ff.; zur Bedeutung der Gestaltung des Urban 21, 2000, S. 385 ff. öffentlichen Raums s. a. Hall/Pfeiffer, 193 Symptome bei H offmann-Axthelm, Die dritte Stadt, 1993, passim, namentlich S. 138 ff.; kritisch zum Schlagwort Reulecke, Geschichte der Urbanisierung Deutschlands, 1985, 167 f. und 169; s. a. Touraine, Die Stadt - ein überholter Entwurf?, Arch + 132 (1996), S. 68 und Das Ende der Städte? Die ZEIT Nr. 23 v. 31.5.1996, S. 24. 194 Sieverts schlägt Verwaltungsreformen auf regionaler Ebene nach dem Muster der Region Stuttgart vor, in: Zwischenstadt, 1999, S. 143 ff. 192

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

sehen und Jugendlichen in Grenzen ermöglicht, an den Vorteilen der Stadt zu partizipieren. 195 Auch im Modell der aufgelösten Stadt ist das bevorzugte Mittel der Durchsetzung städtebaulicher Vorstellungen nicht mehr der hoheitliche Befehl. Aushandlungsprozesse spielen eine wichtige Rolle, etwa in Formen eines auf Wirtschaftsförderung ausgerichteten Stadtmanagements oder im auf soziale Stadterneuerung ausgerichteten „Stadtteilmanagement". Städtischen Raum gibt es im Modell der aufgelösten Stadt in zwei Funktionen. Zum einen gibt es die städtischen Räume, die der Befriedigung spezifischer Bedürfnisse dienen: das städtische Einkaufszentrum, die Bürostadt, der Campus einer Universität oder der „Zentralplatz". 196 Die Masse des städtischen Raumes aber ist Durchgangsraum. Er ermöglicht es allen, in zumutbarer Zeit an die Orte zu gelangen, die die gefragten Dinge vorhalten. Stadtbaukunst ist in diesem Modell die Gestaltung einzelner Orte: z.B. der „Altstadt" 1 9 7 , das öffentliche Kunstmuseum oder auch einmal eine Wohnstraße. Größere Zusammenhänge von Stadt kommen nur funktional und hier vor allem verkehrstechnisch in den Blick.

(3) Ausblick Welches dieser Modelle die Oberhand gewinnt, lässt sich nicht vorhersehen. Der Verf. mag, schon aus Gründen methodischer Kontrollierbarkeit seiner Thesen, seine Sympathien für das Modell der nachhaltigen Stadtentwicklung nicht verschweigen. So sehr es Anschlüsse an die europäischen, auch aus dem Grundgesetz sprechenden 198 Vorstellungen des individuellen, sich gleichwohl erst in der Gemeinschaft vollends entfaltenden Menschen herstellt, so wenig ist doch sein Erfolg abzusehen. Nicht zuletzt - und nicht ganz zu Unrecht - stehen die mit dem hohen Wert individueller Freiheit versehenen Ansprüche des Autoverkehrs einer grundlegenden ökologischen, aber auch sozialen und stadtbaukünstlerischen Wiederbelebung des städ195 Die Kemstädte unterliegen zugleich Zu- wie Abwanderungsprozessen. Immigranten wie, soziologisch gesprochen, soziale Absteiger zieht es nach wie vor in die Städte; wohlhabendere Schichten ziehen weg. In der Stadtsoziologie wird dieser Prozess als Segregation beschrieben (s. etwa Reulecke, Geschichte der Urbanisierung Deutschlands, 1985, S. 158 f.). Städtebau muss Teile der auf diese Weise notwendig werdenden sozialpolitischen Krisenintervention übernehmen. 196 So der Name eines Platzes in der Heimatstadt des Verf., Koblenz (Rhein). 197 Krit. zu den Tendenzen zur Inszenierung von Geschichte: Albers, Zur Entwicklung der Stadtplanung in Europa, 1997, S.312, 314. 198 „Menschenbild des Grundgesetzes", vgl. BVerfG v. 20.7.1954, BVerfGE 4,7/15 - Investitionshilfegesetz; BVerfG v. 15.1.1958, BVerfGE 7, 198/205 - Lüth; BVerfG v. 24.2.1971, BVerfGE 30,173/193,195-Mephisto; BVerfG v. 27.11.1990, BVerfGE 83,130/143-Mutzenbacher.

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tischen Raumes machtvoll gegenüber. Tatsächlich lässt sich auch dem zweiten Modell nicht entgegenhalten, es wende sich von diesem „Menschenbild" völlig ab; es schließt sich bloß nicht einer den Stadtraum strukturell einbeziehenden Argumentation der Nachhaltigkeit an. Nicht auszuschließen ist schließlich, dass vernünftige Lösungen in vermittelnden Vorstellungen gefunden werden können.199 c) Stadtbaukunst - eine „ zugewandte " Kunst Trotz der diskrepanten Entwicklungsmöglichkeiten lassen sich über Städtebau und Stadtbaukunst einige - negative - Feststellungen treffen. In Abgrenzung von Architektur lässt sich feststellen, dass der Gegenstand von Städtebau und Architektur verschieden ist. 200 Im Einzelnen: (1) Die infinite Stadt Der Stadt ist historisch-gesellschaftliche Wandelbarkeit als sozialem wie als räumlich-gegenständlichem Gebilde einbeschrieben. Stadt ist zu keinem Zeitpunkt ein fertiges Werk: Sie ist infinit 201 , sie ist kein Zustand sondern ein Vorgang. 202 Selbst die am Reißbrett geplante Stadt ist von Tag zu Tag eine andere: Einzelbauwerke wie auch die in die Stadt eingeschlossene Natur ändern sich; städtische Orte, Wege und Plätze werden durch die in der Stadt lebenden Menschen entdeckt, gebahnt oder aufgegeben. Planbarkeit findet in der Stadt als Teil von Lebenspraxis eine Grenze. Die Rede von einem „Kunstwerk Stadt" verbietet sich auch insofern, als der Werkbegriff auf formale Einheit und Abgeschlossenheit hinweist. Stadt ist als Gegenstand künstlerischer Bearbeitung nicht vollends durchbildbar.

(2) Die kollektive und anonyme „Produktion" von Stadt Der Gegenstand Stadt fordert dazu heraus, sich mit dem Gedanken kollektiver und anonymer Kunstproduktion vertraut zu machen. Stadt hat keinen individuellen Schöpfer. Jeder Bauherr und jeder Bewohner definiert Stadt mit, mit seinem Bauwerk, mit seinem Aufenthalt in der Stadt, mit einer bestimmten Qualität und Quantität des Verhaltens zu Stadt. Die Ausführung eines städtebaulichen Entwurfs ist nur ein Faktor von Stadtgestaltung unter anderen. Daher hat Stadt keinen benennbaren Autor. 199 Amtlicherseits wird eine Verknüpfung der Diskurse über die nachhaltige und die aufgelöste Stadt für möglich gehalten, namentlich vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, s. Hesse/Schmitz, Stadtentwicklung im Zeichen von „Auflösung" und Nachhaltigkeit, IzR 1998, S.435, insb. 449ff. 200 Zum folgenden Albers, Städtebau - eine schöne Kunst?, 1972, S. 6f. 201 Hilpert, Der Historismus und die Ästhetik der Moderne, 1988, S. 9/63 f. 202 Albers, Städtebau - eine schöne Kunst?, 1972, S. 24.

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Das mag Zweifel am möglichen Kunstcharakter von Stadt wecken. Sie sind nicht angemessen: Entscheidend ist nicht die Zurechenbarkeit zu einem individuellen schöpferischen Subjekt, sondern die Herkunft aus einem schöpferischen Vorgang. Das Phänomen kollektiver Schöpfungen ist verbreiteter, als es auf den ersten Eindruck scheint.203 So ist etwa die Theateraufführung nicht Produkt nur des Regisseurs oder nur des Autors eines Stückes. Neben diesen leisten auch die Schauspieler eigene schöpferische Beiträge. Erst im Zusammenwirken der genannten Akteure entsteht das aufgeführte Theaterstück. Dasselbe gilt für den Film. 2 0 4 Dass schließlich anonyme Kunst ein in der Kunstgeschichte weit verbreitetes Vorkommnis ist, bedarf kaum der Erwähnung. Es gibt auch „Architecture without Architects". 205 (3) Stadtbaukunst als „zugewandte" Kunst Wenn der Prozess städtischer Gestaltwerdung durch die soeben beschriebenen Merkmale gekennzeichnet ist, hat dies Auswirkungen auf Stadtbaukunst als Handlungsfeld. Um den Begriff nicht ins Uferlose verschwinden zu lassen, wird der oben gezeigte enge Begriff des Städtebaus verwendet und darunter nur die zielgerichtete Einwirkung auf Stadt verstanden. In dem Maße wie Stadt selbst Prozess ist - in der Infinitheit ihrer Gestalt wie in der Kollektivität und Anonymität ihrer „Produktion" - , in diesem Maße entzieht sie sich mechanischer Determination. Städtebau und Stadtbaukunst sind nur ein Faktor der Stadtwerdung unter anderen. Als bewusste und zielgerichtete Einwirkung sind sie allerdings ein besonderer Faktor. Sie sind der Versuch, dem Offenen des städtischen Prozesses eine gültige Ausdrucksgestalt zu geben - in der Hoffnung, der Wirklichkeit einen auch prospektiv angemessenen Rahmen zu geben. Städtebau ist der Versuch, die gegenwärtige Stadt mit den zur Verfügung stehenden Analyseinstrumenten zu erfassen, sie begrifflich zu verstehen und dem folgend Strategien zur Lösung von stadtraumbezogenen Problemen zufinden. Stadtbaukunst enthält einen ähnlich rationalen Anspruch, aber auf dem Feld der Gestaltfindung. Sie versucht, die gestalterischen Elemente von Stadt zu erfassen und in eine ästhetisch überzeugende Form zu überführen. Aber genauso wenig wie es »reine4 Baukunst gibt, gibt es auch ,reine4 Stadtbaukunst. Erneut ist daran zu erinnern, dass die Hervorbringungen der Stadtbaukunst auch der Erfüllung äußerer Zwecke dienen. Im Vergleich zum Werk der Architektur ist die Zweckbezogenheit von Stadtbaukunst ungleich unbestimmter. Eine enge 203 Die zeitgenössische Philosophie nährt den Zweifel, ob es eine individuelle Autorenschaft wie auch die Einheit, die der Werkbegriff behauptet, überhaupt gibt, s. Foucault , Was ist ein Autor?, 1969/1988, S.7ff., insb. S. 13. 204 Die kollektive Urheberschaft an einem Werk der Filmkunst anerkennt jetzt im Rahmen der Kunstfreiheit BVerfG-Kammer v. 25.9.2000, Az. 1 BvR 1520/00, http://www.bverfg.de - Filmkunst. 205 So der Titel einer Ausstellung in New York 1964, dokumentiert im Katalog von Rudofsky, Architecture without Architects, 1964, dt.: Architektur ohne Architekten, 1989.

IV. Architektur und Städtebau

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Zweckbindung in dem Sinne, dass ein städtisches Quartier auf Dauer und ausschließlich dem einen oder anderen Zweck diene, ist der Ausnahmefall. In der Stadt wird vielen Zwecken nachgegangen. Die Zwecke wandeln sich mit der Gesellschaft, und die Orte, an denen ihnen nachgegangen wird, wandern durch die Stadt. Dieser unbestimmten Zweckbezogenheit wegen hat Albers die Stadtbaukunst in einem Zwischenreich zwischen autonomer Kunst und Kunsthandwerk angesiedelt. Er hat sie eine „zugewandte" Kunst genannt:206 nicht zweckfrei aber auch nicht angewandt, wie es die kunsthandwerkliche Gestaltung von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs ist. „Zugewandt", so Albers, sei Stadtbaukunst „der Gesellschaft und ihrer Umwelt, gerichtet auf das Ziel, dem Menschen in dieser Umwelt ein ihm angemessenes Leben zu ermöglichen." 207 d) Vom Städtebau zur Stadtbaukunst Es ist schwierig zu bestimmen, wann Städtebau in Stadtbaukunst umschlägt. Es ist kaum möglich, im Prozess der städtebaulichen Einwirkung auf Stadt einen bestimmten Moment festzustellen, ab dem von Stadtbaukunst zu sprechen ist. Es mag solche Momente ausnahmsweise geben, etwa wenn auf einem Platz ein von Künstlerhand gestaltetes Denkmal errichtet werden soll. Im Übrigen aber müssen im Städtebau wissenschaftliche Erkenntnis, technische Kunstfertigkeit, politische Entscheidungskraft und schließlich künstlerischer Entwurf zusammenkommen, damit Stadtbaukunst als Praxis möglich wird. So wird man schon dann von Stadtbaukunst sprechen dürfen, wenn ein städtebauliches Programm schlüssig auf den Aspekt der ästhetisch-sinnlichen Gestaltung des städtischen Raumes reflektiert.

3. Zusammenfassung: Architektur in der Stadt Architektur und Städtebau erweisen sich nach allem als vielfältig aufeinander verwiesen und in ihren Gestaltungsfeldern verschränkt. Einerseits ist nicht Städtebau das Ganze, von dem Architektur nur unselbständiges Moment wäre; andererseits ist Stadt auch nicht nur die Summe ihrer einzelner Bauwerke. Beide ergänzen einander in praktisch-zweckmäßiger Hinsicht, geben einander wechselseitig Probleme auf und bieten Lösungen an. Für die künstlerische Seite gilt Ähnliches. Ästhetisch beansprucht Baukunst nicht unbedingten Vorrang vor städtebaulichen und stadtbaukünstlerischen Belangen, weil sie aus ihrem eigenen Anspruch heraus räumlich und historisch auf Umgebung und städtebaulichen Rahmen angewiesen ist. Diese Angewiesenheit bleibt jedoch locker und auf Deutung angewiesen; das Werk der Baukunst spricht vor allen Dingen in seiner gestalterischen Individualität. 206

In Anlehnung an Isbarys Begriff der Raumforschung als „zugewandter" Wissenschaft, Albers, Städtebau - eine schöne Kunst?, 1972, S. 30f. 207 Ebd., S.31. 6*

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C. Normbereichsanalyse: Baukunst und Städtebau

Umgekehrt kann es Anliegen von Stadtbaukunst sein, bis auf das Detail eines Einzelbauwerks durchzugreifen. Dessen künstlerische Originalität ist aus der Sicht des städtischen Raums etwas, das gebändigt werden muss. Auch - und vielleicht gerade - eine Ansammlung bedeutender Architektur kann eine Stadt gestalterisch auseinanderfallen lassen208 oder, paradoxerweise, uniform werden lassen.209 Dagegen kann eine mittelmäßige, sich anpassende Architektur zuweilen eine künstlerisch herausragende Gestaltung des städtischen Raumes erleichtern. Während Kunstwerke anderer Kunstgattungen mit der Zunge des Geistes sprechen, ist Architektur immer auch in praktischem Gebrauch. Als räumlich-dauerhaftes und als kapitalintensives Werk steht sie aktuell und historisch in physischer Konkurrenz zu ihresgleichen. Selbst Teil einer «^künstlerischen Praxis ist sie in praktischer und ästhetischer Weise gesellschaftlich. Funktional wie auch künstlerisch ist Architektur vom übergeordneten Zusammenhang des Städtischen abhängig und tritt zugleich dem Ganzen selbständig und anspruchsvoll gegenüber. Sich dieser Ansprache durch Architektur zu stellen, gehört zum Städtebau, der darin doch nicht selbst auf praktische wie künstlerische Eigenwertigkeit verzichtet. Baukunst ist anders als andere Kunst: weil zweckgebunden, ist sie unvollständig autonomisiert; weil umgebungsverwiesen, ist sie mit Fragen des Städtebaus verschlungen; weil selbst unmittelbar von gesellschaftlicher Wirkung und nicht nur geistig sprechend ist sie in einer spezifischen, mit anderen Künsten nicht vergleichbaren Weise politiknah. Baukunst ist daher äußeren praktischen wie ästhetischen Vorgaben gegenüber grundsätzlich offen und bedürftig.

208 209

Hilmer, Ist die Straße wirklich tot, Baumeister 1968, S.916. Schmalscheidt, Ortstypisches Bauen heute?, 1990, S. 16.

D . Die Strukturierung der Kunstfreiheit als Grundrecht Das Kapitel erörtert die Struktur 1 der Dogmatik des Freiheitsrechtes auf der Grundlage der Unterscheidung von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken. Sie wird zunächst dargestellt (I.). Es schließen sich Ausführungen zur Auslegung des Schutzbereichs an (IL). Als Schranke der Kunstfreiheit tritt der Vorbehalt der Verfassung auf, der für die vorliegende Ausarbeitung jedoch nur, wie gezeigt wird, von geringer Bedeutung ist (III.). Am Schluss stehen Bemerkungen über die sog. objektiv-rechtliche Dimension der Kunstfreiheit (IV.), die das Bundesverfassungsgericht in der Feststellung, die Kunstfreiheit sei neben einem „individuelle[n] Freiheitsrecht" zugleich „eine objektive, das Verhältnis des Lebensbereichs ,Kunst? zum Staat regelnde Grundsatznorm" angesprochen hat.2

I. Der Kanon von Schutzbereich, Eingriff und verfassungsrechtlicher Rechtfertigung Die Statuierung der Kunstfreiheit im Grundgesetz beschränkt sich auf die wenigen Worte, die Kunst sei frei. Um den abwehrrechtlichen Gehalt der Kunstfreiheit ans Licht zu bringen, bedient sich das Bundesverfassungsgericht, wie auch sonst, der Unterscheidung von Schutzbereich des Grundrechts, Eingriff in diesen Schutzbereich und dessen Rechtfertigung durch die in der Verfassung enthaltenen Schranken. Anders gesagt werden Grundrechtstatbestand (Schutzbereich und Eingriif) und Grundrechtsschranken unterschieden.3 Zuweilen wird versucht, sich von diesen zuweilen polemisch als „Eingriffs- und Schrankendenken" denunzierten Unterscheidungen zu verabschieden.4 Dabei ist schwerlich zu übersehen, dass schon der Wortlaut der Verfassung Gewährleistung und Einschränkung auseinander hält. Auf die die juristische Phantasie in heilsamer Weise disziplinierende Funktion, die dem innewohnt, kann sinnvollerweise nicht verzichtet werden. 1 Zu „Grundrechtstheorie als Strukturtheorie" s. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S.32ff. 2 BVerfG v. 17.7.1984, BVerfGE 67,213/224 - Anachronistischer Zug; BVerfG v. 24.2.1971, BVerfGE 30, 173/188 - Mephisto (hier: „wertentscheidende Grundsatznorm"). 3 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 273 ff. 4 Maßgeblich Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962/1983, S. 3 und dann passim, inzwischen differenzierte Anerkennung, vgl. Vorwort zur 2. Aufl. 1972, s. VII; näher hierzu: Lübbe-Wolf \ Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S.63ff.

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D. Die Strukturieng der Kunstfreiheit als Grundrecht

Sie gewährleistet die Einbindung der juristischen Argumentation in ein Spiel von Grund und Gegengrund5 und gewährleistet so die Existenz systematischer Orte für problemadäquate und methodisch kontrollierte Argumentationen. 6 Dabei bleiben der juristischen Auslegungskunst innerhalb des jeweiligen Argumentationsfeldes noch reichlich Spielräume erhalten. Auch sind die Bestandteile des Kanons von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung nicht starr voneinander getrennt. Es ist nicht immer von vornherein selbstverständlich, wie Argumentationslasten auf sie verteilt werden, welches also für die Behandlung eines bestimmten Problems der richtige Ort ist. So kann in einem gewissen Umfang etwa einer weiten Auslegung des Schutzbereiches in gewissem Umfang auf Schrankenebene begegnet werden, wie auch umgekehrt. Das „Eingriffs- und Schrankendenken" ist Grundlage dieser Arbeit.

II. Die Bestimmung des Schutzbereichs zwischen subjektivierenden und objektivierenden Auslegungstheorien Geschützt wird von Art. 5 Abs. 3 GG die Kunst und der Künstler, der sie hervorbringt. „Kunst" und „Künstler" beschreiben nicht von anderen Dingen und Personen unterschiedene Gegenstände, sondern Gegenstände in einer bestimmten Eigenschaft. Kunst ist nicht Substanz, sondern Modus. Es lassen sich also nicht aus der Menge an existierenden Dingen und Menschen bestimmte herausgreifen, die etwa statt des Schutzes der Eigentums- oder Fortbewegungsfreiheit den der Kunstfreiheit genössen. Sie fallen in den Schutzbereich der Kunstfreiheit, wenn und insofern sie dem Bereich der Kunst angehören. Wann das der Fall ist, ist zuweilen schwierig zu bestimmen. Dass Architektur überhaupt ein Schutzgut von Art. 5 Abs. 3 GG ist, wird am Anfang behandelt (1.). Das Bundesverfassungsgericht hat zur genaueren Bestimmung des Schutzbereichs der Kunstfreiheit einige Topoi entwickelt, die einer sachangemessenen Auslegung dienen sollen, aber noch Wünsche an die Begrifflichkeit offen lassen (2.). Einen zwischen subjektivierenden und objektivierenden Auslegungstheorien angemessen vermittelnden Ansatz findet sich im Konzept des künstlerischen Geltungsanspruchs (3.). Eine Zusammenfassung beendet den Abschnitt (4.).

1. Architektur als Kunst im Sinne der Kunstfreiheit Es versteht sich nicht von selbst, Architektur in den Schutz der Kunstfreiheit einzubeziehen. Im Hinblick auf sie gibt es historische und systematische Gründe auch gegen eine weite Ausdehnung des Grundrechtsschutzes. Architektur ist in erster Li5 6

Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S.286 und 296. Zum Ganzen: Schlink, EuGRZ 1984, S. 457 ff.

II. Die Bestimmung des Schutzbereichs

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nie die bauliche Ausnutzung von Grundeigentum. Vieler Auseinandersetzungen hat es bedurft, die Sozialpflichtigkeit des Eigentums verfassungsrechtlich wirkmächtig zu machen.7 Dafür steht die heutige Fassung der Eigentumsfreiheit in Art. 14 GG ein, ausgelegt durch eine umfangreiche Rechtsprechung.8 Dabei ist eine der wichtigsten Funktionen der Verankerung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums im Grundgesetz die Ermöglichung von Regelungen zur sozialverträglichen Nutzung gerade des Grundeigentums.9 Geradezu widersinnig wäre daher die Annahme, der Verfassungsgeber hätte seine entschiedenen Wertungen in Art. 14 GG durch die Verbürgung der Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG aushöhlen wollen - und sei es „nur" für künstlerische Architektur. 10 Außerdem ist zu bedenken, dass gerade die klassischen Formen bürgerlicher Weltdeutung - Religion, Wissenschaft und Kunst - durch die vorbehaltlosen Grundrechte erfasst werden. Ihre überkommenen Äußerungsformen stellten viele Probleme nicht, die heute aktuell sind.11 Was dagegen zur Zeit der Schöpfung des Grundgesetzes akut vor Augen stand, führte prompt zu ausdrücklichen Beschränkungen, so etwa in der Bindung der Freiheit der Lehre an die Treue zur Verfassung. 12 Gerade im Bereich der Kunst liegt die Vermutung nicht fern, das Verständnis der Verfassungsschöpfer sei von der überlieferten idealistischen Ästhetik in der Gestalt der Weimarer Klassik geprägt gewesen.13 An die sozialen Folgen der industriellen Re7 s. nur Scheuner, Die Garantie des Eigentums in der Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte, 1966, S.7ff. 8 s. schon oben B.I. 9 BVerfG v. 12.1.1967, BVerfGE 21, 73/83 - Grundstücksverkehrsgesetz, s. schon oben B.I. 2. 10 Ähnlich schöpft Adolf Arndt aus dem Figurenschatz der „Einheit der Verfassung", aber im Hinblick auf das Verhältnis von „Kunst und Sittlichkeit", NJW 1966, S.26; wie hier Manssen, Die Verwaltung 1991, S. 33/44, dann aber fehlerhaft im Rückgriff auf Art. 28 Abs. 2 GG; zu weitgehend BVerwG v. 10.12.1979, BRS 35 Nr. 133, S. 254f., das die Schranken von Art. 14 auch gegenüber Baukunst für anwendbar hält. 11 Beispielhaft für die Kunstfreiheit: die provokative Werbung von Benetton; für die Religionsfreiheit: die Problematik neuer religiöser Gruppierungen und die Frage des Umgangs mit dem Islam; für die Wissenschaftsfreiheit: neue Technologien (Atomkraft, Gentechnik, Informationstechnologie) oder eine geänderte Wertschätzung des Tierschutzes; zu Benetton, ohne Behandlung der Kunstfreiheit BVerfG v. 12.12.2000, BVerfGE 102, 347 ff.; BGH v. 6.7.1995, BGHZ 130, 196 = NJW 1995, S. 2488 - Ölverschmutzte Ente und BGH v. 6.7.1995, NJW 1995, S.2492-Benetton („H.I.V-POSITIVE")NJW 1995, S.2492-„H.I.V-POSniVE" mit Bespr. von Münch NJW 1999, S. 2413). 12 Zum „Fall Helfritz" als Motivation der Aufnahme der Verfassungstreueklausel in Art. 5 Abs. 3 GG s. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3,1999, S. 160f. mit Fußn. 34. Hinzu kommt die Vorbehaltlosigkeit der Gewährleistung der Versammlung in geschlossenen Räumen und der Vereinsgründung - eine späte Reminiszenz an die Geburt der Arbeiterbewegung im Hinterzimmer und eine Anerkennung der Leiden von Sozialdemokraten unter den Nazis. Diese beiden Grundrechte werden nach der unmittelbar vor Augen stehenden Nazi-Diktatur durch die Möglichkeit von Vereins- und Parteiverboten, Art. 9 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2, und der Verwirkung von Grundrechten, Art. 18 GG, flankiert. 13 Ähnliche Vermutung von Mg/KJS-Starck, Art. 5 Abs. 3, RdNr. 185.

D. Die Strukturieng der Kunstfreiheit als Grundrecht

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volution mitsamt des Untergangs der überkommenen Stadt ausgerechnet im Rahmen der Kunstfreiheit zu denken, lag ihnen sicher fern. So könnte man erwägen, ob die Freiheit der Baukunst vom Schutze des Art. 5 Abs. 3 GG auszunehmen sein sollte. Nicht zwingend dagegen sprächen Gründe methodischer Strenge, wenn, wie hier, ein klar umrissener Bereich sektoral aus dem Schutz des Grundrechts entlassen würde. Dennoch: Auch das wäre widersinnig. Nicht einmal für eine historische Auslegung in der geschilderten Richtung ist mehr zur Hand als die dargelegten, eher spekulativen Indizien. Systematisch betrachtet ist ein Herausnehmen einer der großen abendländischen Kunstgattungen aus dem Schutzbereich der Kunstfreiheit undenkbar.14 Es widerspräche dem klaren und uneingeschränkten Wortlaut der Kunstfreiheit. Der Blick auf die Entstehungsbedingungen und die Gestaltung des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes legt dennoch die Vermutung nahe, dass ihr Schutz nicht so weit reichen soll wie der von Musik, Literatur oder bildender Kunst. Besonders haben Widersprüche zu der deutlich auf Begrenzung angelegten Fassung der Eigentumsfreiheit wenig Plausibilität für sich. Nicht umsonst haben Architekten selbst die zwischen künstlerischer Freiheit und gesellschaftlichen Anforderungen bestehende Spannung auf den Nenner gebracht: „Architektur ist eine soziale Kunst." 15 Dennoch ist Baukunst als Kunst intensiver geschützt als bloßes Eigentum.

2. Auslegungstopoi des Bundesverfassungsgerichts a) Zur Definition von Kunst Der Tatbestand des Art. 5 Abs. 3 GG schützt die „Kunst". Er stellt damit die Aufgabe, Kunst von Nicht-Kunst zu unterscheiden. Das gilt auch im Bereich der Architektur. Wie bei anderen Kunstgattungen begegnet ihre Lösung Schwierigkeiten 16 und ist doch unausweichlich. Es ist versucht worden, die Kunstfreiheit in einem umfassenden Sinn als Definitionsverbot zu begreifen. 17 Der Ansatz versagt jedoch gerade da, wo es gilt, Kunst unter besonderen Schutz zu stellen.18 Wer Kunst schützen will, muss sagen, was Kunst ist - das ist der Stand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 1 9 14

s.o. C.II. s.o. C.III mit Fußnote 33. 16 Für kunstspartenspezifische Begriffsbildung explizit BVerfG v. 17.7.1984, BVerfGE 67, 213/225 - Anachronistischer Zug. 17 Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, insb. S. 214ff.; Zöbeley, Warum lässt sich Kunst nicht definieren?, NJW 1998, S. 1372. 18 So zuerst Arndt, NJW 1966, S. 26/28 und Erbel, DVB1. 1969, S. 863/867. 19 BVerfG v. 17.7.1984, BVerfGE 67, 213/225 - Anachronistischer Zug; s. a. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S.35; Battis, Kopftuchverbot im Schuldienst, ZTR 1998, S.529 (zu Religions-, Gewissens-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit). 15

II. Die Bestimmung des Schutzbereichs

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Ansätze, die dem Grundrecht ein Definitionsverbot entnehmen, enthalten gleichwohl als wichtige Lehre, dass es dem Staat verboten ist, nach eigener Wertung an einen ganz bestimmten Begriff von Kunst anzuknüpfen. Grundrechtsschutz genießt dasjenige, was in der jeweiligen historischen Situation als Kunst fungiert. 20 Kunst als rechtliches Merkmal lässt sich nicht im Wege der Subsumtion unter eine vorab gefundene generelle Definition bestimmen. Zu wandelbar ist das, was in der Wirklichkeit Kunst ist. Dieser Wandelbarkeit will die Kunstfreiheit gerecht werden. 21 Was sie fordert, ist, sich auf der Grundlage eines weiten und neugierigen Verständnisses von Kunst der jeweils vorhandenen Wirklichkeit künstlerisch-schöpferischer Äußerungen zuzuwenden und bereit zu sein, sich von diesen selbst immer wieder neu über Kunst belehren zu lassen. Treffend heißt es im Mephisto-Urteil, die Auslegung des verfassungsrechtlichen Begriffs der Kunst habe von den „ihr allein eigenen Strukturmerkmale[n] " auszugehen.22 So äußert es sich explizit über ein Werk „der erzählenden (epischen) Kunst (...), das an Vorgänge der historischen Wirklichkeit anknüpft". 23 Eine allgemeine Begriffsbestimmung von „Kunst" versucht das Bundesverfassungsgericht lediglich in einer allen Kunstäußerungen gegenüber offenen Formulierung. Für weitergehende Definitionsversuche sieht das Gericht es als geboten an, sich den „sehr verschiedenen Äußerungsformen künstlerischer Betätigung"24 in den einzelnen Kunstgattungen und - wenn nötig 25 - auch in der Gestaltung einzelner Werke zuzuwenden. Der Kunstbegriff des Grundgesetzes ist also besonders wirklichkeitszugewandt. Er verbietet den Blick auf eine zweckmäßige, pragmatische Konfliktlösung, bevor nicht der Gegenstand Kunst seiner eigenen Wirklichkeit nach angemessen wahrgenommen wurde. b) Das Verbot wertender Einengung des Kunstbegriffs Diese Wirklichkeitszugewandtheit tritt in der Formulierung des Verbots wertender Einengung des Kunstbegriffs deutlich zu Tage.26 In erster Linie spricht das Verbot die Unzulässigkeit eines Abstellens auf qualitative Gesichtpunkte an. In manchen Entscheidungen ist aus diesem Grunde die Rede von einem Verbot „einer staatlichen Stil-, Niveau- und Inhaltskontrolle oder von einer Beurteilung der Wirkungen 20

Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976, S.202. Grimm, Grundrechte und soziale Wirklichkeit, 1982, S. 39/45. 22 BVerfG v. 24.2.1971, BVerfGE 30, 173/188 - Mephisto. 23 Ebd., S. 190. 24 Ebd., S. 189. 25 Zur Auflösung der Gattungsgrenzen etwa Adorno, Die Kunst und die Künste, 1967, S. 168 ff. 26 BVerfG v. 24.2.1971, BVerfGE 30, 173/191 - Mephisto; BVerfG v. 17.7.1984, BVerfGE 67, 213/224 - Anachronistischer Zug. 21

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D. Die Strukturieng der Kunstfreiheit als Grundrecht

des Kunstwerks". 27 Dinge und Verhaltensweisen, die dem Lebensbereich der Kunst zugehören, fallen ungeachtet ihrer künstlerischen Qualität in den Schutzbereich der Kunstfreiheit. Das hat gute historische Gründe für sich. Die Aufnahme der Gewährleistung der Kunstfreiheit in das Grundgesetz ist eine Wendung gegen einen Staat, der inhaltlich auf Kunst Einfluss nimmt. Es ist bekannt, wie im Kaiserreich bedeutende Theaterwerke von der Zensur aus kleinlichsten moralischen Erwägungen heraus zensiert wurden, namentlich im ersten Weltkrieg. 28 Auf der Hand liegt, dass diese historischen Erfahrungen zur Aufnahme der Kunstfreiheit in die Weimarer Verfassung geführt haben.29 Von dort aus hat sie den Weg ins Grundgesetz gefunden. Die Kunstfreiheit war von Anbeginn an ein Bollwerk gegen staatliches Kunstrichtertum. Dieser Anspruch der Kunstfreiheit erstreckt sich auch auf solche Einflussnahmen auf Kunst, die im Gewand der Kunstnähe daherkommen. Diesen Mantel bietet häufig wohlfeil die den Blick aufs Normative einengende herkömmliche juristische Methode an. Schon der Versuch einer Wortlautinterpretation hat in der Vergangenheit zu unerträglichen Judikaten geführt. Jahrelang haben deutsche Gerichte „Kunst" etymologisch von „Können" abzuleiten gesucht und sich so den Weg zu qualitativen Äußerungen frei gemacht.30 Ähnlich intensiv erleichtern die Vorgehens weisen subjektiv-historischer und objektiv-teleologischer Auslegung ein wertendes Vorgehen. Die Schwankungen in der langjährigen Rechtsprechung der Instanzgerichtsbarkeit vor der Mephisto-Entscheidung legen hiervon ein vielfältiges Zeugnis ab. Wo sich aber die Grenzen der Kunstfreiheit erst über die vom Verfassungsgericht entwickelte strenge Schrankendogmatik der vorbehaltlosen Grundrechte finden lassen, bleibt subjektiv-willkürlichen Vorstellungen über gute und schlechte, schutzwürdige und weniger schutzwürdige Kunst kaum noch Spielraum. Zurecht ist die Kunstfreiheit daher als die „Institutionalisierung von Lernfähigkeit des Staates gegenüber der Kunst" bezeichnet worden. 31 Dennoch sind die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts zur Kunstfreiheit nicht sakrosankt. Sie sind vielmehr selbst das Ergebnis historischer und teleologischer Auslegung des Grundgesetzes: Anerkennung bestimmter geschichtlicher Erfahrungen. Das Verbot wertender Einengung des Kunstbegriffs ist seinerseits „nur" ein Mittel, dem Gehalt der Kunstfreiheit durch Anordnung eines bestimmten methodischen Vorgehens in der Anwendung der Norm des Art. 5 Abs. 3 GG gerecht zu 27 BVerfG v.27.11.1990, BVerfGE 83, 130/139-Mutzenbacher; s.a. BVerfG v.3.6.1987, BVerfGE 75, 369/377 - Strauß; BVerfG v. 7.3.1990, BVerfGE 81, 278/291 f. - Bundesflagge; s. a. Maunz/Dürig-ScAo/z, Art. 5 Abs. 3 RdNr. 39. 28 Beispiele bei Kitzinger 1930, Art. 142 Satz 1 WRV, S. 449/455 ff. und AK-CXS-Ladeur, Art. 5 Abs. 3 II RdNr. 3 m. w. N. 29 Kitzinger, ebd., Art. 142 Satz 1 WRV, S. 449/455. 30 Beeindruckende Nachweise bei Würkner, Freiheit, S. 3 8 ff. 31 AK-GG-Ladeur, Art. 5 Abs. 3 II, RdNr. 18.

II. Die Bestimmung des Schutzbereichs

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werden. Es nimmt damit im Wege des Präjudizes nachfolgende Verfassungsrichter 32 und im Wege des Vorrangs der Verfassung 33 den untergeordneten Rechtsanwender in die Pflicht. Bedenken gegen die nahezu unbeschränkte Reichweite, die der Grundrechtstatbestand so erhalten könnte, sollen nicht verschwiegen werden. Das Verbot wertender Einengung des Kunstbegriffes bedarf der Präzisierung. Dem Problem der Wertung ist bei genauer Betrachtung nicht einmal auf Tatbestandsebene zu entkommen. Nicht jede Auslegung und Anwendung des Art. 5 Abs. 3 GG, die eine Äußerung, die subjektiv als Kunst auftritt, nicht als Kunst anerkennt, verengt notwendigerweise unzulässig den Schutzbereich. Schon die Unterscheidung von Kunst und NichtKunst enthält unvermeidlich wertende Elemente. Dies ist besonders für die Baukunst als einer auch praktischen Zwecken dienenden Kunst noch im Einzelnen aufzuzeigen: ein gewisses Maß künstlerischer Qualität, ansprechbar als eine bestimmte Intensität der formalen Durchbildung eines Baukörpers macht aus einem Bauwerk erst Kunst. 34 Es ist von Verfassungs wegen verboten, „schlechte" Kunst dem Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG zu entziehen. Zulässig ist es, auf qualitative Aspekte abzustellen, die Kunst von Nicht-Kunst unterscheiden. Am Rande bleibt zu vermerken, dass auch im Übrigen das Verbot wertender Einengung des Kunstbegriffs keineswegs völlig fraglos ist. Dient es, wie dargestellt, dem Zweck methodischer Disziplinierung von Alltagswertungen, so ist die Kunstfreiheit nicht schon dann ausgehöhlt, wenn für wenige, exakt umrissene Ausnahmefälle die Eröffnung des Schutzes der Kunstfreiheit versagt würde - gute sachliche Gründe vorausgesetzt. So darf in Frage gestellt werden, ob der Kunstbegriff der Verfassung wirklich die Zufügung realen Leides für den Menschen oder auch die tierische Kreatur umfassen soll. 35 Solche Fragen sind nicht ohne weiteres der Verfassungsjudikatur entzogen. Die Grundrechte wehren den Staat nicht nur ab; die Bestimmung ihrer Reichweite ist zugleich den Parlamenten und der Gerichtsbarkeit, mit dem Bundesverfassungsgericht an ihrer Spitze, aufgegeben.

32 Grundlegend Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung entwickelt am Problem der Verfassungsinterpretation, 1976, insb. S. 243 ff. 33 Grundlegend Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S.485 ff.; vgl. § 31 BVerfGG. 34 Genauer unten Ε. II. 1. b) (2). 35 Strikt für den Vorrang der Kunstfreiheit AG Kassel, NStZ 1991, S.443, bespr. von Würkner, Freiheit, S. 118. Fraglich ist aber, ob der Schutzbereich eines Grundrechts als Ausprägung der Menschenwürde (namentlich zur Kunstfreiheit BVerfG v. 27.11.1990, BVerfGE 83, 130/143 - Mutzenbacher) Verletzungen der Menschenwürde enthalten kann. Eine solche hält das Bundesverfassungsgericht schon bei qualifizierten fiktionalen Darstellungen ,,grausame[r] oder sonstwie unmenschliche[r] Vorgänge" für möglich, s. BVerfG v. 20.10.1992, BVerfGE 87, 209/226 f. - Videokassette. Das würde auch zu der Beobachtung Alexys passen, dass bestimmte Menschenwürde-Verstöße vom Bundesverfassungsgericht als nicht abwägungsfähig behandelt werden, in: Theorie der Grundrechte, 1986, S.95f.

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D. Die Strukturiening der Kunstfreiheit als Grundrecht

c) Die Rolle des Selbstverständnisses der Grundrechtsberechtigten Unklar ist bisweilen, ob dem Grundrechtsberechtigten eine eigenständige Definitionskompetenz zukommt. Namentlich im Bereich der Religionsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die Relevanz des Selbstverständnisses des Gläubigen und der Religionsgemeinschaften betont. So habe der religiös-neutrale Staat zwar grundsätzlich verfassungsrechtliche Begriffe nach neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten zu interpretieren. Wo aber in einer pluralistischen Gesellschaft die Rechtsordnung gerade das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis wie bei der Kultusfreiheit voraussetze, verletzte der Staat, so das Bundesverfassungsgericht, die den Kirchen, den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach dem Grundgesetz gewährte Eigenständigkeit und ihre Selbständigkeit in ihrem eigenen Bereich, wenn er bei der Auslegung der sich aus einem bestimmten Bekenntnis oder einer Weltanschauung ergebenden Religionsausübung deren Selbstverständnis nicht berücksichtigen würde. 36 Diese Rechtsprechung hat Isensee zu dem Vorwurf geführt, der Einzelne werde zum „Richter in eigener Sache" gemacht.37 Dem weiter nachzugehen, ist hier nicht der Ort. Zu bemerken bleibt in Anbetracht der neueren Rechtsprechung, dass eine gewisse Distanzierung von einer zu starken Gewichtung individueller Selbstverständnisse auch beim Bundesverfassungsgericht zu erkennen ist. So sei etwa nach der Β aha ' i-Entscheidung für die Frage, ob überhaupt eine Religionsgemeinschaft vorliegt, nicht allein auf die Behauptung und das Selbstverständnis der betreffenden Gemeinschaft abzustellen; vielmehr müsse es sich auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion und Religionsgemeinschaft handeln - was zu prüfen und zu entscheiden, den staatlichen Organen, letztlich den Gerichten obliege.38 Niemand will also den Staat aus seiner Pflicht, Recht auszulegen und anzuwenden, entlassen. Allerdings hat der Staat Wirklichkeit in einem ihr gerecht werdenden Sinn wahrzunehmen. Das kann er aber nur dann, wenn er dort, wo Grundrechte die Selbständigkeit geistig-kommunikativer Stellungnahme schützen, sich auf deren eigene Ansprüche einlässt, bevor er entscheidet. Dem Selbstverständnis kommt rechtlich allemal die Dignität einer tatsächlichen Einlassung im Prozess zu. 39 Im Bereich der Kunstfreiheit kann eine Äußerung über das Selbstverständnis des Kunstschaffenden die Augen öffnen für den Kunstcharakter eines Werkes; es konstituiert die36

BVerfG v. 16.10.1968, BVerfGE 24, 236/247 f. -,Aktion Rumpelkammer", m. w. N. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 19. 38 BVerfGv.5.2.1991, BVerfGE 83,341/Leitsatz 1 und S. 353-Baha4; ausdrücklich ebenso im Rahmen der Wissenschaftsfreiheit BVerfG v. 11.1.1994, BVerfGE 90, 1/12 f. - „Wahrheit für Deutschland". 39 Im Erg. ebs. Isensee, ebd., S. 59. 37

II. Die Bestimmung des Schutzbereichs

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sen darum noch nicht. 40 Dasselbe gilt für Aussagen Dritter über den Kunstcharakter eines Gegenstandes („Kriterium der Drittanerkennung"). Auch ihnen kommt keine konstituierende Wirkung zu. 41 Sicher unangemessen ist auf der anderen Seite aber auch eine übertrieben „objektivierende Auslegungstheorie" 42 zur Bestimmung der Reichweite des Schutzbereichs, wenn mit ihr die Forderung einhergeht, der einmal in einer Verfassung niedergelegte gesellschaftliche Ausgleich dürfe nicht durch wandelnde Selbstverständnisse „einseitig verschoben und unterlaufen werden." 43 Sie läuft Gefahr, nur noch ein rechtlich konstruiertes Bild von Kunst zu schützen und die Kunst, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft tatsächlich ausgeübt wird, grundrechtlich schutzlos zu stellen. Als Kunst wäre danach nur das geschützt, was zur Zeit der Verfassungsgebung als Kunst anerkannt war. 44 Eine solche Herangehensweise verkennte, dass sich die Verfassung gerade - in ihrer dem Bewusstsein der Wandelbarkeit der Verhältnisse geschuldeten offenen Begrifflichkeit - neuen Freiheitsbedürfhissen gegenüber geöffnet zeigt.

3. Der künstlerische Geltungsanspruch als Leitfaden der Auslegung Was durch die soeben dargelegten Topoi zur näheren Bestimmung des Schutzbereichs erreicht worden ist, lässt sich so zusammen fassen: Bezüglich der Frage, ob in einem bestimmten Gegenstand ein in den Schutzbereich der Kunstfreiheit fallender Gegenstand vorliegt, haben die staatlichen Stellen der Rechtsanwendung, überprüft durch die Gerichte, eigenständige Auslegungsarbeit zu leisten. Sie dürfen dabei den Kunstbegriff nicht normativ verengen und müssen das Selbstverständnis der Kunstschaffenden zur Gewinnung eines sachlich zutreffenden Ergebnisses heranziehen. Dabei müssen sie der spezifischen Äußerungsform der jeweiligen Kunst gerecht werden. Das alles klingt auch in dem vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Begriff der werkgerechten Interpretation an.45 Er ist allerdings bislang nicht zur Analyse des 40 von Münch/Kunig-H^/i^, 1992, Art. 5 RdNr.89ff.; Sachs-Bethge, Art.5 RdNr. 184; Jarass/Pieroth-/ar