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German Pages 318 Year 1998
Beiträge zum Parlamentsrecht Band 44
Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber Reichweite, Form und Funktion des Selbstorganisationsrechts nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG
Von
Thomas Schwerin
Duncker & Humblot · Berlin
THOMAS SCHWERIN
Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber
Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Werner Kaltefleiter, Ulrich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen
Band 44
Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber Reichweite, Form und Funktion des Selbstorganisationsrechts nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG
Von
Thomas Schwerin
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schwerin, Thomas: Der Deutsche Bundestag als Geschäftsordnungsgeber: Reichweite, Form und Funktion des Selbstorganisationsrechts nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG / von Thomas Schwerin. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Beiträge zum Parlamentsrecht; Bd. 44) Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1997 ISBN 3-428-09232-5
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-09232-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im August 1996 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn vorgelegt und im Januar 1997 als Dissertation angenommen. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Fritz Ossenbühl, der mir ein Höchstmaß akademischer Freiheit gestattete und durch stete Gesprächsbereitschaft, Ermutigung und konstruktive Kritik zum Entstehen der Arbeit beigetragen hat. Herrn Prof. Dr. Wolfgang Löwer möchte ich für die zügige Erstellung des Zweitvotums danken. Weiter danke ich Frau Eva-Maria Kors, M d B , die mich als Assistenten in ihrem Bonner Abgeordnetenbüro beschäftigte. In dieser Zeit habe ich wertvolle Einblicke in die parlamentarische Arbeit erhalten, die mir bei der Erstellung meiner Dissertation eine große Hilfe gewesen sind. Ferner danke ich dem Sekretär des Geschäftsordnungsausschusses des Deutschen Bundestages, Herrn Dr. Gerald Kretschmer, fiir zahlreiche Anregungen und wertvolle Tips. Hervorheben möchte ich schließlich Sylvia Schuth, die mir immer eine kompetente Gesprächspartnerin war und ohne deren stetigen Zuspruch die Arbeit niemals abgeschlossen worden wäre. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern, die mir jene Freude am Schreiben und jene Zuversicht vermittelt haben, die zum Gelingen eines Promotionsvorhabens unabdingbar sind. Der Deutsche Bundestag hat die Veröffentlichung der Arbeit durch die freundliche Gewährung eines Druckkostenzuschusses gefördert.
Berlin, im Herbst 1997
Thomas Schwerin
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
15 Erstes Kapitel Grundlagen
A. Begriff des Selbstorganisationsrechts
19
B. Inhalt des Selbstorganisationsrechts
22
C. Zweck des Selbstorganisationsrechts
27
Zweites Kapitel Verhältnis zu anderen Rechtsquellen A. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Grundgesetz I.
29
Grundgesetz als Schranke des Selbstorganisationsrechts
29
II. Grundgesetzkonkretisierung durch Selbstorganisationsrecht
31
III. Selbstorganisationsrecht als „Verfassungswandler"
32
IV. Folgerungen
36
B. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Gesetz I.
36
Selbstorganisationsrecht in Gesetzesform
36
1. Meinungsstand in der Literatur
41
2. Position des Bundesverfassungsgerichts
44
3. Sondervoten
45
4. Ergebnis: Keine Wahlfreiheit zwischen Gesetz und Geschäftsordnung
46
II. Erweiterung des Regelungsbereichs des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG durch Gesetz 1. § 44 a AbgG a) Die Verhaltensregeln - Regelung eines Parlamentsgeschäfts? aa)
Inhalt der Verhaltensregeln
51 51 53 53
8
Inhaltsverzeichnis bb)
Meinungsstand
53
(1)
Verhaltensregeln als „Nichtgeschäftsordnungsrecht"
54
(2)
Verhaltensregeln als Geschäftsordnungsrecht
54
(3)
Stellungnahme
55
b) Erfordernis gesetzlicher Regelung c) Unzulässigkeit der Delegation auf den Geschäftsordnungsgeber
56 57
aa)
Kein Selbstorganisationsrecht
58
bb)
Kein Selbstreinigungsrecht
58
cc)
Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt
59
dd)
Unzulässiger Grundrechtseingriff.
61
ee)
Allgemeine Bedenken gegen gesetzliche Ausdehnung des Selbstorganisationsrechts
62
d) Zwischenergebnis: Verfassungswidrigkeit von § 44 a AbgG und Verhaltensregeln
63
2. § 44 b AbgG
64
3. Ausfiihrungsbestimmungen des Ältestenrates
66
4. Ergebnis: Unzulässigkeit der gesetzlichen Erweiterung des Selbstorganisationsrechts
70
III. Deklaratorische Festlegung von Selbstorganisationsrecht in Gesetzesform
71
Drittes Kapitel Reichweite des Selbstorganisationsrechts A. Die GOßT - Parlamentarisches Innenrecht?
75
B. Bindung des Bürgers
77
I.
Als Zuhörer
77
II. Als Mitglied einer Enquete-Kommission oder als Sachverständiger
81
III. Rederecht fur Dritte
84
IV. Als Zeuge vor einem Untersuchungsausschuß
87
V. Ergebnis
88
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung I.
89
Zitier- und Interpellationsrecht des Parlaments
90
1. Zitierrecht
90
2. Interpellationsrechte
91
Inhaltsverzeichnis a) Große Anfragen
91
b) Kleine Anfragen
92
c) Einzelfragen und Fragestunde
93
d) Befragung der Bundesregierung
94
3. Auskunftsverpflichtung der Bundesregierung
95
a) Auskunftspflicht im Falle der Herbeizitierung
95
b) Auskunftspflicht auf andere parlamentarische Anfragen
97
aa)
Keine Antwortpflicht
bb) Ableitung der Antwortpflicht aus dem Grundgesetz
97 97
(1)
Informationsanspruch des Abgeordnen aus Art. 38 Abs. 1 S.2GG 98
(2)
Keine Antwortpflicht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG
101
(3)
Antwortpflicht aufgrund geschäftsordnungsrechtlicher Konkretisierung des Art. 43 Abs. 1 GG
103
(a)
Adressatenproblem
104
(b)
Entkoppelung von Präsenzpflicht und Fragerecht
104
(c)
Ausgestaltung als M inderheitenrecht
105
(d)
Folgerungen
108
c) Reichweite der Antwortverpflichtung
109
aa)
Schutz von Staatsgeheimnissen
110
bb)
Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts
111
cc)
Kernbereich der Exekutive
112
II. Bindung der Regierungs- und Bundesratsmitglieder an die Parlamentarische Ordnung
113
III. Ergebnis
116
D. Folgerungen
117 Viertes Kapitel
Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen parlamentarischer Entscheidungsfindung A. Mehrheitsprinzip
118
B. Beschlußfähigkeit
120
10
Inhaltsverzeichnis
C. Abstimmungsverfahren
122
D. Fraktionsgliederung
123
I.
Rechtliche Stellung der Fraktionen
II. Bedeutung der Fraktionen für die Parlamentsarbeit
124 125
1. Themenkonzentration
126
2. Ermöglichung der Mehrheitsbildung
127
3. Wichtigkeits- und Ausgewogenheitsgewähr
128
4. Interfraktionelle Koordination
128
5. Ergebnis
129
III. Verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktionen 1. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG
130 130
2. Art. 21 GG
132
3. Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG
135
4. Ergebnis
137
IV. Problem: Abgeordnetengruppe ohne Fraktionsstatus
137
1. Die Position des Bundesverfassungsgerichts
138
2. Kritik
140
3. Ergebnis
144
V. Problem: Fraktionsloser Abgeordneter 1. Die Position des Bundesverfassungsgerichts
146
a) Recht auf Ausschußmitgliedschaft ohne Stimmrecht
148
b) Kein Recht auf Zuschüsse für politische Arbeit
150
2. Kritik und Stellungnahme
151
3. Ergebnis
155
E. Ausschußgliederung I.
146
Arten von Ausschüssen
156 157
II. Besetzung der Ausschüsse und Bestimmung der Ausschußvorsitzenden
159
III. Rechte und Pflichten der Ausschüsse
160
1. Zügige Erledigung der überwiesenen Aufgaben
160
2. Empfehlung von Beschlüssen
160
3. Selbstbefassungsrecht
161
Inhaltsverzeichnis IV. Verhältnis von Ausschüssen und Plenum
162
1. Entlastung des Plenums
162
2. Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf Ausschüsse
164
a) Wahrnehmung von Bundestagskompetenzen durch Ausschüsse in der Parlamentspraxis
164
b) Übertragung eines Teils der Immunitätsentscheidung auf den Geschäftsordnungsausschuß
165
c) Wahrnehmung der Haushalts- und Finanzkontrolle durch den Haushaltsausschuß
166
d) Wahl der Bundesverfassungsrichter durch einen Wahlausschuß
167
3. Delegation oder Mandat?
167
4. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Zuständigkeitsübertragungen
169
5. Beurteilung einzelner Zuständigkeitsübertragungen
177
a) Immunitätsentscheidungen
177
b) Wahrnehmung der Haushaltskontrolle durch den Haushaltsausschuß ,
178
c) Bundesverfassungsrichterwahl
181
6. Folgerungen
186
V. Ergebnis
186
Fünftes Kapitel Minderheitenschutz
A. Die verschiedenen Minderheitenrechte
190
B. Kollektive Minderheitenrechte als Verfassungsproblem
192
I.
Kollektive Minderheitenrechte und Prinzip formaler Gleichheit
194
II. Kollektive Minderheitenrechte und der Kernbereich des freien Mandats
195
III. Kollektive Minderheitenrechte und Verhältnismäßigkeit
198
1. Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
199
2. Verfolgung eines legitimen Zwecks
201
3. Geeignetheitsprüfung
202
4. Erfordert ichkeitsprüfung
202
5. Angemessenheitsprüfting
205
12
Inhaltsverzeichnis IV. Ergebnis
206
C. Keine Abweichung von Minderheitenrechten mit Zweidrittelmehrheit
207
Sechstes Kapitel Folgen von Geschäftsordnungsverstößen A. Im Hinblick auf Gesetzesbeschlüsse I.
210
Meinungsstand zur Frage der Rechtsfolgen von Verfahrensfehlern im Gesetzgebungsverfahren
211
1. Der Gesetzgeber schuldet nur das Gesetz
211
2. Verfassungsrechtliche Optimierungspflicht
212
3. Prozeßordnung des inneren Gesetzgebungsverfahrens
214
4. Die Position des Bundesverfassungsgerichts
215
II. Eigener Ansatz
218
1. Legitimation von Gesetzen durch das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren 219 2. Schlußfolgerungen für Geschäftsordnungsverstöße
224
B. Im Hinblick auf sonstige Parlamentsbeschlüsse mit Außen wirkung
228
C. Im Hinblick auf Parlamentsbeschlüsse ohne Außenwirkung
230
Siebtes Kapitel Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts und ihr Verhältnis zueinander A. Die Rechtsquellen I.
232
Die GOßT
232
1. Entwicklung und Herkunft der GOßT
232
2. Rechtsnatur der GOßT
235
3. Zeitliche Geltung der GOßT
240
a) Inkrafttreten
240
b) Der Diskontinuitätsgrundsatz
241
c) Ergebnis
247
II. Anlagen zur GOßT
247
1. Inkorporiertes Geschäftsordnungsrecht
248
2. Sonderfälle: Anlagen 2 und 6
248
Inhaltsverzeichnis a) Anlage 2
249
b) Anlage 6
252
3. Ergebnis
253
III. Ergänzungsbeschlüsse
253
IV. Auslegungsentscheidungen
255
1. Verfahren und Organe der Geschäftsordnungsauslegung
255
2. Reichweite der Auslegungsbefugnis
257
3. Bindungswirkung der Auslegungsentscheidungen
259
V. Ungeschriebene Regeln
260
1. Parlamentarisches Gewohnheitsrecht
261
2. Parlamentsbrauch
264
VI. Interfraktionelle Vereinbarungen a) Rechtsnatur interfraktioneller Vereinbarungen
267
b) Bindungswirkung interfraktioneller Vereinbarungen
268
aa)
Bindung des Bundestags
269
bb)
Bindung der Fraktionen
269
cc)
Bindung der einzelnen Abgeordneten
271
dd)
Bindung anderer parlamentarischer Organteile und Organe
271
B. Vorrang und Vorbehalt der Geschäftsordnung I.
265
Vorrang der GOBT
274 274
II. Vorbehalt der GOBT
276
Achtes Kapitel Selbstorganisationsrecht und richterliche Kontrolle
A. Rechtsschutz gegen die GOBT I.
Abstrakte Normenkontrolle
278 278
II. Organstreit
280
III. Konkrete Normenkontrolle
280
IV. Verfassungsbeschwerde
281
B. Rechtsschutz gegen andere geschriebene generelle Regelungen
281
C. Überprüfung parlamentarischer Einzelakte
282
14
Inhaltsverzeichnis I.
Normenkontrolle
II. Organstreit
282 282
1. Rechtserheblichkeit
283
2. Parlamentarische Akte, die „die Geschäftsordnung lediglich anwenden"
283
3. Prüfungsmaßstab
286
a) Verfassung
286
b) Geschäftsordnung
286
aa)
Art. 76 Abs. 1 Alt. 2 GG und § 76 GOßT
287
bb)
Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und Abgeordnetenrechte in der GOßT
289
cc)
dd)
Art. 43 Abs. 1 GG und das geschäftsordnungsmäßige Interpel lationsrecht
290
Folgerungen
291
III. Verfassungsbeschwerde
291
IV. Verwaltungsgerichtliche Kontrolle
293
D. Durchsetzbarkeit interfraktioneller Vereinbarungen
293
Zusammenfassung in Thesen
295
Literaturverzeichnis
302
Stichwortverzeichnis
315
„Geschäftsordnungsfragen sind Machtfragen. Täuschen wir uns nicht, Geschäftsordnungsfragen können auch Machtfragen sein, Machtfragen nicht einmal unbedingt im guten Sinne des Wortes Macht, sondern etwa im Sinne der Ausschaltung des anderen, der Ausschaltung der Minderheit, einseitiger Bevorzugung der Mehrheit." 1
Einleitung Das Parlamentsrecht ist im Begriff aus dem Schatten des Verfassungsrechts zu treten und jenes Eigenleben als „ e i n neues Wissensgebiet" zu entwickeln, das Julius Hatschek bereits vor mehr als 80 Jahren vorausgesagt hat 2 . Die Verselbständigung des Parlamentsrechts zeigt sich zum einen an der steigenden Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen auf dem Gebiet des Parlamentsrechts in den vergangenen Jahren 3 , zum anderen an der gestiegenen Bedeutung, die parlamentsrechtliche Fragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spielen 4 .
1
Bundestagspräsident Stücklen anläßlich der Debatte über die Geschäftsordnungsreform 1980, Sten.Ber. 8. WP, 225. Sitzung, 25.6.80, S. 18287 B (Hervorhebung wie im Stenographischen Bericht). 2 Julius Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reichs, 1. Teil, 1915, S. 1. 3 Besonders hervorgehoben sei das umfangreiche, von Hans-Peter Schneider und Wolfgang Zeh herausgegebene Handbuch, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989. Auch die Zahl der parlamentsrechtlichen Dissertationen hat zugenommen, etwa Stephan Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, 1995; Sylvia Kürschner, Das Binnenrecht der Fraktionen, 1995; Wolfgang Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994; Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen. Auf Anregung von Norbert Achterberg gibt der Verlag Duncker & Humblot seit 1979 eine eigene Schriftenreihe „Beiträge zum Parlamentsrecht" heraus, die mittlerweile 40 Bände zählt. 4 Etwa in der Wüppesahlentscheidung, BVerfGE 80, 188 oder in der Entscheidung über den Fraktionsstatus der PDS, BVerfGE 84, 304 oder jüngst beim Ausschluß eines Fraktionsmitarbeiters im Untersuchungsausschuß wegen seiner Eigenschaft als Zeuge, BVerfGE 93, 195.
16
Einleitung
Aufgrund der Nähe, die das Parlamentsrecht und speziell das parlamentarische Selbstorganisationsrecht zur Politik aufweisen, handelt es sich um eine Rechtsmaterie, deren rechtliche Durchdringung nicht ohne Brisanz vonstatten geht, denn die zu klärenden rechtlichen Fragen haben stets eine politische Kehrseite. Gerade dies macht den Reiz der Beschäftigung mit einem parlamentsrechtlichen Thema aus. Weil im Parlament „mit dem Anspruch auf Legitimität Macht zu Recht"5 wird, sind die rechtlichen „Spielregeln", nach denen politische Macht gebraucht werden darf, von größter Bedeutung. Parlamentarisches Handeln bedarf der Kontrolle und der Regularien. Hierfür hält die Verfassung einige Kreations-, Status-, Kompetenz- und Verfahrensnormen bereit, neben denen sich das Parlament eigene Regeln schafft 6. Diese vom Parlament selbst gesetzten Regeln bilden den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Bei den vom Parlament selbst gesetzten Regeln handelt es sich um Organisationsrecht, das den Bundestag in die Lage versetzt, seinen verfassungsmäßigen Aufgaben nachzukommen. Die Kennzeichnung als Organisationsrecht sollte nicht dazu verleiten, die materielle Bedeutung dieses Rechtsgebietes zu unterschätzen, dient doch gerade das Organisationsrecht der Sicherheit und Eindeutigkeit in der Erzeugung, Anwendung und Durchsetzung des materiellen Rechts7. Die Funktionsfähigkeit einer Rechtsordnung hängt in entscheidendem Maße davon ab, daß durch Rechtssätze Institutionen und Verfahrensweisen geschaffen werden, welche die Anwendung des materiellen Rechts erst ermöglichen8. Grundlegende Arbeiten zum Parlamentsrecht wurden bereits in der Kaiserzeit verfaßt 9. Der Einfluß dieser frühen Überlegungen ist in weiten Teilen des Parlamentsrechts bis heute bestimmend geblieben. Die rechtliche Einordnung der parlamentarischen Geschäftsordnung als autonome Satzung10, ihre Identifi-
5
Axel Adamietz , Buchbesprechung: Norbert Achterberg, Parlamentsrecht, KJ 1986, S. 221. 6 Udo Di Fabio, Parlament und Parlamentsrecht, Der Staat 29 (1990), S. 599. 7 Friedrich E. Schnapp, Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie des Organisationsrechts, AöR 1980, S. 243 (246); Hans J. Wolff, in: Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht II, §71 IV a. 8 Schnapp, AöR 1980, S. 243 (247). 9 Julius Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1. Teil, Berlin 1915; derselbe , Das Interpellationsrecht, 1909; Eduard Hubrich , Die parlamentarische Redefreiheit und Disziplin, 1899; Kurt Pereis , Das autonome Reichstagsrecht, Berlin 1903; August Plate , Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, ihre Geschichte und ihre Anwendung, 2. Auflage, 1904. 10
Pereis , Reichstagsrecht, S. 3.
Einleitung zierung als eine lex imperfecta, deren Einhaltung rechtlich nicht durchsetzbar ist 11 , die Beschränkung der Rechtssetzungsgewalt des Geschäftsordnungsgebers auf den parlamentarischen Innenbereich 12 und der Diskontinuitätsgrundsatz 13 stammen aus dieser Zeit. Unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung wurde weitgehend an die parlamentsrechtlichen Vorstellungen der Kaiserzeit angeknüpft. Nicht zuletzt weil die Geschäftsordnung des Bundestages von 1952 in weiten Teilen die Geschäftsordnung des Reichstages von 1922 übernommen hat, scheint eine ungebrochene Rechtstradition bis zum heutigen Tage vorzuliegen. Geändert hat sich jedoch die Rolle des Parlaments im VerfassungsgefÜge. Während es im Kaiserreich neben dem Kaiser und dem Bundesrat nur eine „Rolle zweiten Grades" 14 spielte und ihm in der Weimarer Republik ein beherrschender Reichspräsident gegenüberstand, ist es zum zentralen Verfassungsorgan aufgerückt. Auch die Stellung des Abgeordneten hat sich unter der Geltung des Grundgesetzes wesentlich geändert. Er kann seine im Grundgesetz verankerten Rechte in einem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen15. Dieses Recht steht auch anderen mit eigenen Rechten ausgestatteten Beteiligten, etwa den Bundestagsfraktionen, zu 16 . Hieraus ergeben sich Folgerungen, die parlamentsrechtlich bedeutsam sind und es geboten erscheinen lassen, eine Reihe von Prämissen, die das Parlamentsrecht seit langer Zeit bestimmt haben, kritisch zu hinterfragen. Dieser Aufgabe widmet sich die vorliegende Arbeit. Dabei wird allein das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages den Untersuchungsgegenstand bilden.
11 Georg Jellinek, Besondere Staatslehre, Ausgewählte Schriften und Reden, 2, 1911,S. 268. 12 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band I, 5. Auflage, 1911, S. 344. 13 Eduard Hubrich, Die parlamentarische Redefreiheit und Disziplin, 1899, S. 56. 14 Fritz Stier-Somlo, Die Organisation des deutschen Staates in Reich und Ländern, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, 1930, S. 381 (381). 15 BVerfGE 4, 144(151); 10, 4 (10 f.); 70, 324 (350); 80, 188 (208 f.). 16 BVerfGE 2, 143 (165); 45, 1 (28 f.); 70, 324 (351); Hans Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, Vorwort, S. IX. 2 Schwerin
18
Einleitung
Es liegt in der Natur des Bearbeitungsgegenstandes, daß schwerpunktmäßig die kodifizierte Geschäftsordnung des Bundestages17 als die umfassendste Quelle des parlamentarischen Verfahrensrechts in den Blick genommen wird. Daneben wird aber auch auf andere geschriebene und ungeschriebene Regeln des parlamentarischen Verfahrens eingegangen, die bislang ein wissenschaftliches Schattendasein führten.
17 Im folgenden GOBT, wobei stets die kodifizierte Geschäftsordnung der laufenden Wahlperiode gemeint ist (in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. Juli 1980, BGBl. I S. 1237, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 30. September 1995, BGBl. I S. 1246), wenn nicht ausdrücklich auf eine ältere Fassung Bezug genommen wird.
Erstes Kapitel
Grundlagen A. Begriff des Selbstorganisationsrechts Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG bestimmt, daß der Bundestag sich eine Geschäftsordnung gibt. Diese Grundgesetzbestimmung ist die verfassungsrechtliche Grundlage für die Selbstorganisationsbefugnis des Deutschen Bundestages, die oft auch als Geschäftsordnungsautonomie bezeichnet wird. Das vom Parlament selbst und ohne Einfluß anderer Staatsorgane gesetzte Recht wird überwiegend autonomes Parlamentsrecht genannt1. Die Bezeichnung als autonomes Parlamentsrecht geht auf Kurt Pereis zurück, der die Geschäftsordnung als „eine in Autonomie erlassene Ergänzungsvorschrift zur Reichsverfassung - unter Autonomie verstanden das Recht, sich innerhalb des Gesetzes für den eigenen Herrschaftsbereich selbst verbindliches Recht zu setzen" 2 - beschrieb. Die von Pereis gegebene Definition von Autonomie läßt sich mit der etymologischen Bedeutung des Wortes Autonomie - die Befugnis, sich selbst Recht zu setzen3 - ohne weiteres vereinbaren. Sie entspricht aber nicht der Bedeutung,
1 BVerfGE 44, 308 (314); unter anderem verwenden den Begriff Klaus Friedrich Arndt , Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 16 f.; Gerald Kretschmer , Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 9 Rz. 21; Jost Pietzcker , Schichten des Parlamentsrechts, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10 Rz. 2; Ekkehart Stein, Staatsrecht, 15. Auflage, 1995, § 9 III (S. 74); ablehnend gegenüber diesem Begriff Julius Hatschek , Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1. Teil, 1915, S.6; Siegfried Magiera , Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 123 f.; Karl-Ulrich Meyn , Autonome Satzung und demokratische Legitimation, DVB1. 1977, S. 593 (594 f.); zumindest kritisch Fritz Ossenbühl , Satzung, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 66 Rz. 41; Gerhard Bollmann , Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrecht des Bundestages, 1992, S. 29. 2 Kurt Pereis , Das autonome Reichstagsrecht, 1903, S. 3. 3 Walter Schick , in: Evangelisches Staatslexikon, Band I, 3. Auflage, 1987, Stichwort Autonomie, Sp. 159.
20
Erstes Kapitel: Grundlagen
die der Begriff der Autonomie im Bereich der Staatsorganisation erfahren hat. Danach bezeichnet Autonomie die Fähigkeit eines dem Staat eingegliederten, von ihm aber organisatorisch abgehobenen Verbandes, zur Regelung seiner eigenen Angelegenheiten Rechtssätze zu schaffen 4. Autonomie bezeichnet demnach den eigenbestimmten Rechtsgestaltungsspielraum eines rechtlich selbständigen Zusammenschlusses und setzt deshalb das Vorhandensein einer juristischen Rechtspersönlichkeit voraus 5. Die Rechtssetzungsbefugnis wird dem Verband vom Staat eingeräumt und ist ein subjektives öffentliches Recht6. So gesehen kann der Bundestag keine Autonomie besitzen, denn er ist keine juristische Person, sondern ein „Organ des Staates Bundesrepublik Deutschland als einer Person des öffentlichen Rechts"7. Sein Handeln wird deshalb auch der Bundesrepublik Deutschland zugerechnet, die wie jeder Personenverband nur durch Organe handeln kann8. Der Bundestag regelt seine Organisation und sein Verfahren auch nicht in Ausübung subjektiv-öffentlicher Rechte, sondern in der Wahrnehmung staatlicher Kompetenzen9. Recht, das von staatlichen Organen gesetzt wird, kann aber unabhängig davon, ob es nur das Organ selbst bzw. seine inneren Angelegenheiten betrifft, niemals autonom sein. Der Bundestag setzt dementsprechend auch in seinem Innenbereich staatliches und nicht autonomes Recht. Auch der Hinweis, daß der aus dem Griechischen stammende Begriff der Autonomie die Gefahr einer Verwechslung mit dem in der Philosophie gebrauchten Begriff der autonomen Rechtspersönlichkeit in sich birgt, die anders als das Parlament die Maßstäbe ihres Handelns selbst bestimmen kann 10 , ist nicht von der Hand zu weisen. Eine so verstandene vollkommene Freiheit bei
4
Schick, in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 160. Norbert Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 54 f.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Organisationsgewalt der Regierung, 1964, S. 120, Georg Jellinek, Besondere Staatslehre, Ausgewählte Schriften und Reden, 2, 1911, S. 252; Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S. 58; Meyn, DVB1. 1977, S. 593 (594). 6 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Auflage, 1994, § 25 Rz. 50. 7 Klaus Stern., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, § 2 6 1 2 b) a) (S. 41). 8 Stern, Staatsrecht II, § 26 I 3 (S. 44). 9 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 6; Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 120. 10 Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S. 29. 5
A. Begriff des Selbstorganisationsrechts
21
der Aufstellung von Regeln kann es unter der Ägide des Grundgesetzes allerdings in keinem Bereich der Rechtssetzung geben11. Die Bezeichnung der vom Bundestag aufgrund seiner Geschäftsordnungskompetenz erlassenen Rechtsvorschriften als autonomes Parlamentsrecht ist daher mißverständlich. Weder ist der Bundestag selbst autonom noch das Recht, das er setzt. Ohne an dieser Stelle bereits eine Einordnung der parlamentarischen Geschäftsordnung in die Rechtsquellentypologie vornehmen zu wollen, soll der Begriff des autonomen Parlamentsrechts und der Parlamentsautonomie trotz seiner weiten Verbreitung als unglückliche Begriffsbildung im folgenden so weit wie möglich 12 vermieden werden. Der Begriff des autonomen Parlamentsrechts soll zum Ausdruck bringen, daß der Bundestag sich selbst Organisations- bzw. Verfahrensvorschriften zur Regelung seiner eigenen Angelegenheiten gibt. Dies bringt weit besser der weitgehend selbsterklärende Begriff des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts zum Ausdruck, der zudem frei von terminologischen Zweideutigkeiten ist 13 . Der Begriff der parlamentarischen Selbstorganisation könnte allenfalls dazu verleiten, hierunter nur die Bildung parlamentarischer Organe zu verstehen. Solch ein enges Verständnis von Selbstorganisation widerspräche aber bereits dem hergebrachten Verständnis des Wortes Organisation, das eben die zielgerichtete Ordnung bzw. Regelung von Aufgaben und Tätigkeiten beschreibt 14. In diesem Sinne wird es im folgenden verwendet, wobei der Wortbestandteil „Selbst" bedeutet, daß es sich um Organisationsrecht handelt, das allein vom Bundestag geschaffen wurde. Was alles zum Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages zählt, wird im folgenden untersucht.
11 Selbst der verfassungsändernde Gesetzgeber ist nicht vollkommen frei, Art. 79 Abs. 3 GG. 12 Aufgrund der Geläufigkeit des Begriffes ist er allerdings im Rahmen der Auseinandersetzung mit parlamentsrechtlicher Literatur oder Rechtsprechung nicht gänzlich verzichtbar. 13 Der Begriff des Selbstorganisationsrechts wird auch von v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Auflage, 1964, Art. 40 Anm. II 2 bevorzugt. Auch Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S. 29, scheint ihm eher zugeneigt als dem Begriff der Geschäftsordnungsautonomie, obgleich er beide Begriffe synonym verwendet. 14 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Stichwort Organisation; Brockhaus, Stichwort Organisation.
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Erstes Kapitel: Grundlagen
B. Inhalt des Selbstorganisationsrechts Ausgangspunkt des Selbstorganisationsrechts ist Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG mit seiner Bestimmung, daß sich der Bundestag eine Geschäftsordnung gibt. Um zu bestimmen, welchen Inhalt das grundgesetzlich garantierte Selbstorganisationsrecht des Bundestages hat, bedarf es deshalb zunächst der Klärung des der Norm zugrundeliegenden Geschäftsordnungsbegriffs. Was exakt mit dem Begriff der Geschäftsordnung in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gemeint ist, läßt sich nicht allein aus dem Wortlaut der Vorschrift schließen. Der Begriff der Geschäftsordnung ist kein feststehender juristischer Terminus, der stets die gleiche Bedeutung hat. Unter einer Geschäftsordnung im weitesten Sinne ist die rechtliche Ordnung der Organisation und des Geschäftsganges einer dem Privatrecht, dem Verwaltungsrecht oder dem Verfassungsrecht angehörenden Einrichtung zu verstehen. Im Verfassungsrecht ist die Geschäftsordnung im materiellen Sinne gleichbedeutend mit der Ordnung des Aufbaus und Geschäftsganges oberster Verfassungsorgane in Verfassung, Gesetzen und anderen Rechtsnormen 15. Demgegenüber wird als Geschäftsordnung im formellen Sinne jenes niedergeschriebene Regelwerk bezeichnet, das ein Verfassungsorgan unter Verwendung der Bezeichnung Geschäftsordnung zur Regelung seiner Angelegenheiten beschlossen hat 16 . Ob einer dieser Geschäftsordnungsbegriffe deckungsgleich mit der Geschäftsordnung im Sinne von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG ist, erscheint fraglich. Der Blick auf die Entstehungsgeschichte der Norm zeigt, daß diese dem Art. 26 WRV nachgebildet ist, woraus sich folgern läßt, daß zumindest jene Angelegenheiten, die herkömmlich, insbesondere zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung, als Geschäftsordnungsangelegenheiten des Parlaments galten, auch vom Grundgesetz diesem Bereich zugewiesen werden 17 . Art. 26 WRV ist seinerseits zurückzufuhren auf Art. 27 S. 2 der Reichsverfassung vom 16.4.1871, der seinerseits der Verfassungsgarantie in Art. 78 Abs. 1 der Verfassung des preußischen Staates vom 31.1.1850 nachgebildet war und der be15
Rainer Pietzner , in: Evangelisches Staatslexikon, Band I, 3. Auflage 1987, Stichwort Geschäftsordnung, Sp. 1100. 16 Hans Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, 1934, S. 28; Pietzner , in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 1101; Haug , Bindungsprobleme, S. 41. 17 BVerfGE 44, 308 (314); Arndt , Geschäftsordnungsautonomie, S. 46; Hans-Peter Schneider , in: Alternativkommentar, 2. Auflage, 1989, Art. 40 Rz. 11.
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stimmte, daß das Parlament „seinen Geschäftsgang und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung" regelt 18 . Aus der historischen Herleitung des Regelungsgegenstandes folgt deshalb, daß sich die Geschäftsordnung im Sinne des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG auf die Bereiche „Geschäftsgang" und „Disziplin" erstreckt 19. Der Begriff des Geschäftsgangs ist dabei gleichbedeutend mit jenen Regelungen, die sich auf „das Verfahren für die Abwicklung der Parlamentsgeschäfte" beziehen20. Hierzu zählt insbesondere das Recht des Bundestags, sich selbst zu organisieren und sich so in den Stand zu versetzen, seine Aufgaben zu erfüllen 21 . Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG räumt dem Bundestag daher mit dem Recht, sich eine Geschäftsordnung zu geben, die Befugnis ein, selbständig seine Organe zu bestellen und selbständig seinen Geschäftsgang zu bestimmen22. Die Bestimmung des Regelungsbereichs des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts anhand der Begriffe „Geschäftsgang" und „Disziplin" ist in jüngster Zeit auf Kritik gestoßen. Namentlich Haug ist der Ansicht, es handele sich hierbei um eine konstitutionell bedingte oberflächliche Enumerativvorstellung, die dem materiellen Geschäftsordnungsbegriff nicht gerecht werde 23 . Es bedürfe deshalb eines erweiterten Geschäftsordnungsverständnisses, daß sich an der Leitfunktion der Geschäftsordnung orientiere. Diese bestehe darin, dem Parlament die adäquate Erledigung seiner Verfassungsaufgaben zu ermöglichen. Der Geschäftsordnungsbegriff sei daher funktionell zu bestimmen als jene
18 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Kurt Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, 1929, S. 12 ff. 19 BVerfGE 44, 308 (315); Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 48 f. 20 BVerfGE 1, 144 (148); 44, 308 (315). 21 BVerfGE 80, 188(219). 22 Teilweise wird das Recht zur Regelung der inneren Organisation auch aus Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG, das zur Schaffung einer Verfahrensordnung aus Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG abgeleitet, so Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Mai 1994, Art. 40 Rz. 2; Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 40 Rz. 3. Abgesehen davon, daß eine praktische Konsequenz mit der unterschiedlichen Herleitung nicht verbunden ist, spricht gegen diese Auffassung, daß eine funktionstüchtige Verfahrensregelung für ein mehrhundertköpfiges Kollegialorgan die Schaffung von Untergliederungen notwendig voraussetzt; vgl. Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S. 28. 23
Haug, Bindungsprobleme, S. 36.
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Erstes Kapitel: Grundlagen
„Vorschriften, die für Organisation und Arbeitsweise einer freiheitlich-demokratischen Volksvertretung geeignet und erforderlich sind" 24 . Abgesehen davon, daß die Begriffe „Geschäftsgang" und „Disziplin" nie dafür verwendet wurden, den materiellen Geschäftsordnungsbegriff zu beschreiben, sondern stets zur Kennzeichnung des verfassungsrechtlichen Begriffsverständnisses dienten, vermag die Kritik Haugs auch im übrigen nicht zu überzeugen. Sein Vorwurf, es handele sich um ein konstitutionelles Begriffsverständnis greift schon deshalb nicht durch, weil es legitim ist, bei einer Norm, deren Ursprünge in die Zeit des Konstitutionalismus zurückreichen, auf historisch gewachsene Begriffe zurückzugreifen. Daß solche Begriffe selbstverständlich vor dem Hintergrund eines gewandelten Verfassungsverständnisses zu sehen sind, bedeutet nicht, daß sie gleichsam vergangenheitslos neu definiert werden müßten. Darüber hinaus begegnet Haugs Begriffsverständnis weiteren Bedenken. Indem er die Erforderlichkeit und Geeignetheit von Organisationsvorschriften in die Definition des Geschäftsordnungsbegriffs einfließen läßt, überfordert er diesen. Erforderlichkeit und Geeignetheit sind Kategorien, die dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entstammen. Sie erfüllen eine notwendige Funktion bei der Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme. Als begriffliches Abgrenzungskriterium erscheinen sie aber ungeeignet. Denn natürlich zählt eine Vorschrift, die die Organisation oder Arbeitsweise des Parlaments betrifft, auch dann zum Geschäftsordnungsrecht, wenn sich erweisen sollte, daß sie ungeeignet oder nicht erforderlich ist, um den mit ihr verfolgten Zweck zu erfüllen. Abgesehen davon, daß es Bedenken begegnet, dem Parlament von außen Maßstäbe vorzugeben, nach denen es sein Verfahren zu regeln hat - und solcher Maßstäbe bedürfte es, um die Erforderlichkeit und Geeignetheit entsprechender Vorschriften zu beurteilen 25 -, kann nicht auf Definitionsebene über die Geeignetheit oder Erforderlichkeit einer Vorschrift, die der Regelung des Geschäftsganges dient, ihre Qualität als Geschäftsordnungsrecht bzw. „Nichtgeschäftsordnungsrecht" bestimmt werden. „Geschäftsgang" und „Disziplin" sind daher durchaus geeignete Kategorien, um den Bereich dessen zu bestimmen, was zum Geschäftsordnungsrecht gemäß Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG zählt. Die generalklauselartige Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, das hierzu alle Regelungen zählt, die sich „auf das
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Haug, Bindungsprobleme, S. 37. Haug liefert diese Maßstäbe bezeichnenderweise nicht.
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Verfahren für die Abwicklung der Parlamentsgeschäfte" beziehen26, dürfte zudem so weit sein, daß sie auch all jene Vorschriften erfaßt, die für die Organisation und die Arbeitsweise eines freiheitlich-demokratischen Parlaments geeignet und erforderlich sind. Sie geht aber noch darüber hinaus, indem sie die Frage nach der Eignung oder Erforderlichkeit einer Regelungen erst gar nicht stellt. Negativ läßt sich der Regelungsgegenstand des Selbstorganisationsrechts als die Ausgestaltung des parlamentarischen Verfahrens bei allen Parlamentsgeschäften beschreiben, soweit keine verfassungsrechtlichen oder (zulässigen) einfachgesetzlichen Vorgaben bestehen27. Dies ist im übrigen ebenfalls ein funktioneller Ansatz, denn indem er die Verfahrensregeln in einen Bezug zu den Parlamentsgeschäften stellt, knüpft er nicht anders als der Ansatz von Haug an die verfassungsmäßigen Aufgaben des Parlaments an. Er paßt sich daher ohne weiteres neuen parlamentarischen Aufgaben an und schließt gegebenenfalls Regelungen zur Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages28 oder zur Gestaltung der auswärtigen Beziehungen der Parlamente 29 ein. Allerdings kann die Geschäftsordnung selbst keine neuen Aufgaben des Bundestages begründen. Sie kann lediglich das Verfahren bei der Wahrnehmung von parlamentarischen Aufgaben regeln, die sich aus dem Grundgesetz ergeben 30. Fraglich ist, ob die Selbstorganisationsgarantie sich nur auf die vom Bundestag in einer als Geschäftsordnung bezeichneten Kodifikation zusammengefaßten Vorschriften bezieht oder ob sie darüber hinaus auch jene Regelungen mit selbstorganisationsrechtlichem Inhalt einbezieht, die außerhalb dieses Regelwerkes getroffen werden.
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BVerfGE 1, 144 (148); 44, 308 (315). Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 66; Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen, S.35; Leibholz/Rink/Hesselberger, Art. 40, Rz. 12; zur Zulässigkeit einfachgesetzlicher Vorgaben, unten Kapitel 2 Abschnitt 2. 28 A u f die Erweiterbarkeit des geschäftsordnungsrechtlichen Regelungsbereichs durch neue Parlamentsaufgaben weist Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 2 hin; die mangelnde Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages monierte die Adhoc-Kommission Parlamentsreform des 10. Bundestages in ihrem Bericht vom 1. Juli 1985, BT-Drs. 10/3600, S. 18 ff. 29 Beispiel von Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 2; vgl. den unter Abweichung von der GOBT gefaßten Beschluß des 11. Deutschen Bundestages zur Pflege der Beziehungen zwischen dem Bundestag und dem Europäischen Parlament, BT-Drs. 11/927. 30 Zu diesen ausführlich Hans Hugo Klein, Aufgaben des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 40. 27
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Erstes Kapitel: Grundlagen
Aus der historischen Ableitung läßt sich folgern, daß sich die Verfassungsgarantie nur auf die kodifizierte Geschäftsordnung bezieht, denn Geschäftsgang und Disziplin sollten nach Art. 78 Abs. 1 der preußischen Verfassung und Art. 27 S. 2 der Reichsverfassung durch eine Geschäftsordnung erfolgen. Dieses enge Begriffsverständnis klammert allerdings all jene Verfahrensund Organisationsvorschriften aus, die nicht in der kodifizierten Geschäftsordnung geregelt sind. Dabei läßt es der heutige Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG offen, in welcher Form die Geschäftsordnung zu erlassen ist. Es besteht daher auch Übereinstimmung darüber, daß der Bundestag die Geschäftsordnung nicht vollständig kodifizieren muß, sondern durch ergänzende Beschlüsse genereller oder konkreter Natur vervollständigen kann 31 . Überwiegend wird angenommen, daß sich auch diese ergänzenden Bestimmungen auf die Geschäftsordnungskompetenz des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG stützen lassen32. Dies erscheint letztlich überzeugend, weil es gerade im Wesen geschriebener parlamentarischer Geschäftsordnungen liegt, daß sie das parlamentarische Verfahren nicht abschließend bestimmen müssen und dementsprechend Lücken enthalten und bewußt weit gefaßt sein dürfen 33 . Da Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG allein dem Bundestag das Recht einräumt, das Verfahren bei der Wahrnehmung der Parlamentsaufgaben zu bestimmen, umfaßt die Geschäftsordnungskompetenz deshalb auch das Recht, Geschäftsordnungsangelegenheiten außerhalb der kodifizierten Geschäftsordnung zu regeln, wenn dies vom Parlament für zweckmäßig erachtet wird. Ein anderes Verständnis der Norm führte in jenem Bereich des parlamentarischen Verfahrensganges, der nicht in der kodifizierten Geschäftsordnung festgelegt ist, zu einer unklaren Kompetenzverteilung, obwohl es der in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG klar zum Ausdruck kommende Wille des Verfassungsgebers war, diesen allein dem Parlament selbst zu überlassen.
31 Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 16 f.; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 14. 32 Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 101; Heinrich von Brentano di Tremezzo, Die Rechtsstellung des Parlamentspräsidenten, 1930, S. 8; Heinhard Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 34 f.; a.A. Karl-Hans Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, 1977, S. 68; Haug, Bindungsprobleme, S. 69 ff., der den Rechtsgrund des Geschäftsordnungsrechts überhaupt nicht in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG verortet. 33
BVerfGE 1, 144(153).
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Der Geschäftsordnungsbegriff von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG kommt damit dem materiellen Geschäftsordnungsbegriff nahe, beschränkt sich aber auf die vom Parlament selbst gesetzten Regeln. Als Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages sind daher alle Vorschriften zu bezeichnen, die das Verfahren des Bundestages bei der Abwicklung von Parlamentsgeschäften betreffen und die er auf der Grundlage der Selbstorganisationsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG, d.h. ohne Mitwirkung anderer Staatsorgane erläßt.
C. Zweck des Selbstorganisationsrechts Der Zweck des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts besteht darin, dem Parlament die Wahrnehmung seiner verfassungsmäßigen Aufgaben zu ermöglichen. Hierzu muß ein möglichst einfaches und zweckmäßiges Verfahrenswerk geschaffen werden, denn das Selbstorganisationsrecht dient der Herbeiführung eines geordneten Verhandlungsverfahrens zur Ermöglichung der regelmäßigen Erledigung der Parlamentsgeschäfte und somit in der Vereinfachung der parlamentarischen Sachverhandlung 34. Die geschriebene Geschäftsordnung gibt dem Parlament ein Procedere an die Hand, nach dem in jeder gleichgelagerten Situation zu verfahren ist. Sie ist erforderlich, weil bei einer Vielzahl von Parlamentariern eine einheitliche Meinung über das einzuschlagende Verfahren nur selten vorhanden ist 35 , und die Diskussion und Beschlußfassung für jeden Einzelfall zum Stillstand des parlamentarischen Betriebes führte 36 . Dabei sollte aber nicht verkannt werden, daß das parlamentarische Verfahrensrecht einer durchgängigen statischen Regelung schon deshalb nicht zugänglich ist, weil aktuelle politische Ereignisse flexible und schnelle Reaktionen erfordern können 37 . Aus diesem Grund kann aus der kodifizierten Geschäftsordnung allein auch nicht auf das gesamte Selbstorganisationsrecht geschlossen werden. Die 34
Rösch, Wesen und Rechtsnatur, S. 1 unter Hinweis auf Robert v. Mohl, Vorschläge zu einer Geschäfts-Ordnung des verfassunggebenden Reichstages, 1848, S. IV; v. Brentano, Rechtsstellung des Parlamentspräsidenten, S. 29. 35 Manfred Bernau, Die verfassungsrechtliche Bedeutung von Geschäftsordnungen oberster Bundesorgane, 1955, S. 11. 36 Die Bedeutung der GOBT für den parlamentarischen Entscheidungsprozeß wird in Kapitel 4 ausfuhrlich dargestellt. 37 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 33.
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Erstes Kapitel: Grundlagen
Eckpunkte aber werden hier festgelegt, ausfüllend und ergänzend sind weitere geschriebene und ungeschriebene - Parlamentsrechtsquellen heranzuziehen 38. Der erforderlichen Flexibilität wird insoweit Rechnung getragen, als die Geschäftsordnungen des Deutschen Bundestages in § 126 die Möglichkeit vorsieht, daß im Einzelfall von ihr abgewichen werden kann 39 . Darüber hinaus besteht ein wesentlicher Zweck der Geschäftsordnung im Schutz der parlamentarischen Minderheit vor der Mehrheit. Bereits die Existenz einer Geschäftsordnung hindert die Mehrheit daran, den Geschäftsgang willkürlich nach ihrem Gutdünken zu gestalten40. Hinzu kommt, daß der Bundestag auch im Bereich seines Selbstorganisationsrechts den verfassungssystematischen Zusammenhängen des Grundgesetzes gerecht werden muß 41 . Soweit sich daher aus dem Grundgesetz ergibt, daß Minderheiten bestimmte Rechte einzuräumen sind, muß der Bundestag sein Verfahren so gestalten, daß diese in der Praxis auch ausgeübt werden können. Verfassungsprinzipien, die die Rechte parlamentarischer Minderheiten berühren, sind insbesondere das freie Mandat (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) und das Demokratieprinzip. Aufgrund der großen Bedeutung des Verfahrens der parlamentarischen Entscheidungsfindung und des parlamentarischen Minderheitenschutzes wird beiden Themen an späterer Stelle ein eigenes Kapitel gewidmet 42 .
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Zu den verschiedenen Rechtsquellen und ihrem Verhältnis zueinander unten Ka-
pitel 8. 39
Zur Frage, ob nicht in bestimmten Einzelfällen trotz § 126 GOBT eine Abweichung von der Geschäftsordnung unzulässig ist, unten Kapitel 5 Abschnitt 3. 40 Sten.Ber RT 10. Legislaturperiode, II. Session, 232. Sitzung, 9.12.02, 7008 C. f. 41 Wolfgang Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 43 Rz. 4. 42 Siehe unten Kapitel 4 und Kapitel 5.
Zweites Kapitel
Verhältnis zu anderen Rechtsquellen A. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Grundgesetz L Grundgesetz als Schranke des Selbstorganisationsrechts Es ist unumstritten, daß das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages seine Grenze im Grundgesetz findet 1. Dies erklärt sich bereits daraus, daß es seinen Geltungsgrund in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG findet. Der Bundestag kann seinen Geschäftsgang und seine Disziplin deshalb auch nur insoweit selbst regeln, als keine grundgesetzlichen Vorschriften entgegenstehen2. Vorschriften, die Parlamentsgeschäfte betreffen, finden sich etwa in Art. 39 Abs. 2 GG, der Bestimmungen über den Zusammentritt enthält und in Art. 39 Abs. 3 GG, der die Einberufung des Bundestages regelt. Daneben legt Art. 42 Abs. 1 GG fest, daß der Bundestag öffentlich zu verhandeln hat. Die Art. 42 Abs. 2, 77 Abs. 4, 79 Abs. 2 und 121 GG bestimmen die maßgebliche Stimmenmehrheit für Bundestagsbeschlüsse und die Art. 44 Abs. 1, 45a und 45 c GG betreffen die Statuierung möglicher oder notwendiger Ausschüsse. Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG bestimmt Verfahrensgrundsätze für Untersuchungsausschüsse und die Art. 76 ff. GG enthalten Regeln für das Gesetzgebungsverfahren. Auch Art. 63 GG, der Mehrheits- und Antragsvoraussetzungen für die Wahl des Bundeskanzlers und Art. 67 Abs. 1 und Abs. 2 GG, der die Mehrheitserfordernisse und Fristbestimmung beim konstruktiven Mißtrauensvotum festlegt, stellen eine Beschränkung des Selbstorganisationsrechts dar. Gleiches gilt für Art. 53a Abs. 1 GG, der das Verfahren zur Entsendung der Bundestagsmitglieder in den Gemeinsamen Ausschuß regelt und bestimmt, daß der Bundestag
1 Vgl. nur Karl Friedrich Arndt , Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 121; Karl-Hans Rothaug , Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, S. 80 f.; Gerald Kretschmer , Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 9 Rz. 42, jeweils m.w.N. 2 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 81.
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
seine Mitglieder im Gemeinsamen Ausschuß nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen auswählt. Zwar sind sowohl der Bundeskanzler als auch der Gemeinsame Ausschuß3 eigenständige Verfassungsorgane, die der Bundestag aufgrund seiner Selbstorganisationsgarantie überhaupt nicht hätte kreieren können. Es ist aber unzutreffend, hieraus zu schließen, Bestimmungen, die diese Organe und insbesondere das Kreationsverfahren betreffen, berührten den Bereich des Selbstorganisationsrechts von vornherein nicht 4 . Dies wäre nur dann richtig, wenn die Wahl des Bundeskanzlers oder der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses keine Parlamentsgeschäfte darstellten. Die Funktion des Bundestages als Kreationsorgan für andere Staatsorgane zählt aber gerade zu seinen Grundfunktionen 5. Es ist daher zwar richtig, daß es grundsätzlich nicht Sache des Selbstorganisationsrechts ist, aus sich heraus andere Staatsorgane zu erschaffen oder Regeln zu erlassen, die das Verhältnis zwischen dem Bundestag und diesen Staatsorganen betreffen 6. Soweit das Grundgesetz dem Bundestag aber das Recht einräumt, ein anderes Staatsorgan oder dessen Mitglieder zu wählen, so hat der Bundestag das Recht, das Verfahren hierzu frei zu bestimmen. Entsprechende grundgesetzliche Verfahrensbestimmungen stellen eine Beschränkung dieses Rechtes dar. Dagegen betreffen Bestimmungen, die das Verfahren innerhalb anderer Staatsorgane regeln, auch dann nicht das Selbstorganisationsrecht des Bundestages, wenn sich dieses Staatsorgan unter anderem aus Mitgliedern des Bundestages zusammensetzt. Deshalb stellen Art. 54 Abs. 4 S. 2 GG, der bestimmt, daß der Bundestagspräsident die Bundesversammlung einberuft und Art. 56 S. 1 GG, wonach sich die Mitglieder von Bundestag und Bundesrat zur Vereidigung des Bundespräsidenten versammeln, keine Beschränkung des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts dar. Gleiches gilt für Grundgesetzbestimmungen, die das Verhältnis zwischen dem Bundestag und einem anderen Staatsorgan regeln und sich hierbei nicht auf die Kreationsfunktion beschränken. So stellen etwa die Antrags- und Beschlußvoraussetzungen in Art. 61 Abs. 1 S. 2 und 3 GG für die Erhebung der Bundespräsidentenanklage
3 Zum Gemeinsamen Ausschuß siehe Hermann Amann, Verfassungsrechtliche Probleme des Gemeinsamen Ausschusses nach Art. 53 a Abs. 1 GG, 1971. 4 So aber Jost Pietzcker , Schichten des Parlamentsrechts, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10 Rz. 5 f. 5 Hans Hugo Klein , Aufgaben des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 40 Rz. 24 ff.; Klaus Stern , Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, § 26 II 2 a (S. 47). 6 So auch Pietzcker , in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 5.
A. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Grundgesetz
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oder die Fristbestimmungen für die Vertrauensfrage in Art. 68 Abs. 1 und Abs. 2 GG keine Beschränkungen des Selbstorganisationsrechts dar. Insgesamt ist die Verfassungslage dadurch gekennzeichnet, daß dem Parlament ein sehr weiter Spielraum bei der Regelung seiner eigenen Angelegenheiten eingeräumt wird. Die meisten Grundgesetzbestimmungen dienen der Sicherung und nicht der Einschränkung des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts. Hinzu kommt, daß die Festschreibung von Parlamentsrecht in Verfassungsvorschriften nicht nur bewirkt, daß dieses hierdurch an der erschwerten Änderbarkeit des Grundgesetzes teilnimmt, und es so der Verfügbarkeit parlamentarischer Mehrheiten entzogen wird, sondern sie dient auch dazu, mit der formellen Ranggebung der materiellen Bedeutung des Parlamentsrechts für das Verfassungsleben zu entsprechen7. Neben ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen können sich auch aus allgemeinen Verfassungsprinzipien, wie dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, Vorgaben für das parlamentarische Selbstorganisationsrecht ergeben. Hierauf wird im einzelnen dort eingegangen, wo diese Prinzipien praktische Auswirkungen auf die Ausgestaltung des parlamentarische Verfahrens und der parlamentarischen Organisation haben8. Gleiches gilt für das besonders problematische Verhältnis zwischen dem parlamentarischem Selbstorganisationsrecht und dem in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten freien Mandat, auf das im Zusammenhang mit der kollektiven Ausgestaltung zahlreicher Minderheitenrechte ausführlich eingegangen wird 9 .
II. Grundgesetzkonkretisierung durch Selbstorganisationsrecht Es käme allerdings einer starken Vereinfachung gleich, wenn man sich darauf beschränkte, festzustellen, daß das Selbstorganisationsrecht durch Grundgesetzbestimmungen beschränkt wird. Die Beziehung zwischen Grundgesetz und Selbstorganisationsrecht ist nämlich zusätzlich dadurch gekennzeichnet, daß der Bundestag durch das von ihm gesetzte Recht Bestimmungen des Grundgesetzes zu konkretisieren vermag 10. Diese Verfassungskonkretisierung hat rechtsschöp-
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Norbert Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 38. Hierzu siehe unten Kapitel 4 und Kapitel 6 insbesondere Abschnitt 1 B. 9 Siehe unten Kapitel 5 Abschnitt 2. 10 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 42; Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S. 52. 8
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
ferischen Charakter 11. So gewinnen wesentliche Grundgesetzbestimmungen, etwa solche über das Gesetzgebungsverfahren oder das Zusammenspiel zwischen Parlament und Regierung erst durch ihre geschäftsordnungsrechtliche Ausformung an Leben. Diesem lange erkannten Phänomen wird wenig Aufmerksamkeit gewidmet, insbesondere werden hiervon keine Rückschlüsse auf die verfassungsrechtliche Bedeutung des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts gezogen, etwa bei der Frage, ob im Einzelfall von Geschäftsordnungsregeln abgewichen werden darf oder welche Rechtsfolgen Geschäftsordnungsverstöße nach sich ziehen. Auch auf die verfassungskonkretisierende Funktion insbesondere der kodifizierten parlamentarischen Geschäftsordnung wird daher noch an verschiedenen Stellen dieser Arbeit zurückzukommen sein.
I I I . Selbstorganisationsrecht als „Verfassungswandler 44 Das parlamentarische Selbstorganisationsrechts beschränkt sich aber nicht darauf, Verfassungsrecht zu konkretisieren. Durch die Ausfüllung solcher Bereiche, die die Verfassung offen gelassen hat, können aus der Parlamentspraxis heraus Rechte und Aufgaben eingeführt werden, die der Verfassungsgeber nicht vorhergesehen hat und die bisweilen später nach ihrer Bewährung und Institutionalisierung in der parlamentarischen Praxis Eingang in die Verfassung finden 12 . Das parlamentarische Selbstorganisationsrecht nimmt so die Rolle eines Experimentierfeldes des Verfassungsrechts ein und kann im Einzelfall eine verfassungsprägende Funktion erhalten. Diese Funktion ist lange bekannt. Bereits Hatschek stellte fest: „Denn nicht durch große Revolutionen werden heute Verfassungsformen gewandelt, sondern der Parlamentsbrauch bestimmt das Schicksal so mancher von ihnen" 13 . Die Richtigkeit dieser Aussage läßt sich anhand der Entwicklung zum Parteienstaat14 belegen, die im parlamentarischen Raum ihren Ausgang genommen hat und auch heute noch von dort ihre entscheidenden Impulse bezieht.
11 Gerassimos Theodossis, Die Verfassungsgarantien über die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und ihre rechtliche Bedeutung - in vergleichender Sicht, JöR NF 44 (1996), S. 155 (165). 12 Friedrich Schäfer, Der Bundestag, 4. Auflage, 1982, S. 64. 13 Julius Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1. Teil, 1915, S. 15. 14 Vgl. zum Parteienstaat, Gerhard Leibholz, Parteienstaat und Repräsentative Demokratie, DVB1. 1951, S. 1 ff.; derselbe, Repräsentativer Parlamentarismus und partei-
A. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Grundgesetz
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Die Weimarer Reichsverfassung wehrte in Art. 130 Abs. 1 den Einflüssen der Parteien - „Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei." ignorierte aber im übrigen ihre Existenz15. Die Geschäftsordnung des Reichstages nahm erst 1922 zur Kenntnis, daß sich Abgeordnete zu Fraktionen zusammenschlossen. Der Zusammenschluß zu einer Fraktion wurde aber nicht von der Parteiangehörigkeit der sich zusammenschließenden Abgeordneten abhängig gemacht, § 7 Abs. 1 GORT, obwohl in der Praxis die Parteizugehörigkeit über die Fraktionszugehörigkeit entschied. Ohnehin wurde der parlamentarische Einfluß der Parteien im Hinblick auf Art. 21 WRV, der bestimmte, daß die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind, als problematisch angesehen16. Dem Staatsrecht der Weimarer Republik gelang es im Ergebnis nicht, die Parteien in die staatliche Ordnung einzufügen, so daß sich das Parteiwesen außerhalb der Verfassung und teilweise im Gegensatz zum Regierungssystem entwickelte 17 . Das Grundgesetz erkannte zwar von Beginn an die Rolle der politischen Parteien bei der staatlichen Willensbildung an, Art. 21 GG. Gleichwohl hielt es aber an der tradierten Rolle des Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes, der an Weisungen und Aufträge nicht gebunden ist, fest. Die Klärung des Spannungsverhältnisses zwischen dem freien Mandat einerseits und dem Einfluß der Parteien andererseits überließ es der Wissenschaft und diese reibt sich bis zum heutigen Tag an der parlamentarischen Praxis. „Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen,, 18 ist keine widerspruchslose Erscheinung und sorgt für nahezu unerschöpflichen Konfliktstoff 19 . Im parlamentarischen Alltag läßt sich der bestimmende Einfluß der Parteien nicht bestreiten. Er hat auch rechtlich seinen Niederschlag gefunden.
enstaatliche Demokratie, in: Kluxen (Hrsg.), Parlamentarismus, 5. Auflage, 1980, S. 349 ff.; der Begriff des Parteienstaates hat auch Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefunden, BVerfGE 1, 208 (222, 227); 2, 143 (164); 7, 63 (68, 71); 13, 1 (16); 41, 399 (416). 15 Heinrich Triepel , Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 2. Auflage, 1930, S. 24; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, 1995, Rz. 166. 16 Gerhard Anschütz , Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Auflage, 1933, S. 182. 17 Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 166. 18 So der Titel der Dissertation von Wolfgang Demmler, 1994. 19 Vgl. nur die gegensätzlichen Beiträge von Claus Arndt, Fraktion und Abgeordneter, und Hildegard Hamm-Brücher, Abgeordneter und Fraktion, beide in Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, §§ 21 und 22; siehe auch unten Kapitel 5. 3 Schwerin
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
Insbesondere läßt er sich aus der GOßT ablesen. So bestimmt § 10 Abs. 1 S. 1 GOßT, daß die Parteizugehörigkeit der Abgeordneten für den Fraktionszusammenschluß entscheidend ist. Durch den überall im Parlament vorfindbaren Fraktionsproporz wird sichergestellt, daß alle Fraktionen entsprechend ihrem Stärkeverhältnis vertreten sind. Durch die Parteigebundenheit der fraktionsangehörigen Abgeordneten bewirkt der Fraktionenproporz eine parteipolitische Ausrichtung der parlamentarischen Arbeit. Gewähr hierfür ist § 12 GOßT, der bestimmt, daß die Zusammensetzung des Ältestenrates und der Ausschüsse sowie die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen im Verhältnis der Stärke der Fraktionen vorzunehmen ist und § 57 Abs. 2 S. 1 GOßT, der den Fraktionen das Recht einräumt, die Ausschußmitglieder und deren Stellvertreter zu benennen. Zusätzlich legt § 55 Abs. 2 S. 1 GOßT fest, daß auch für die Bestimmung der Vorsitzenden von Unterausschüssen das Stärkeverhältnis der Fraktionen maßgeblich ist und gemäß § 55 Abs. 3 S. 1 GOBT muß jede Fraktion, die im Ausschuß vertreten ist, auf ihr Verlangen mit wenigstens einem Mitglied im Unterausschuß vertreten sein. Neuerdings bestimmt § 2 Abs. 1 S. 2 GOßT 2 0 , daß jede Fraktion mit mindestens einem Vizepräsidenten oder einer Vizepräsidentin im Präsidium des Deutschen Bundestages vertreten sein muß. Gesetzliche Proporzregeln finden sich im Richterwahlgesetz und in § 6 Abs. 2 BVerfGG, der den Fraktionsproporz im Wahlausschuß für die Richter des Bundesverfassungsgerichts sicherstellt. Darüber hinaus gibt es eine Reihe ungeschriebener Regeln durch die eine proportionale Besetzung von Gremien oder eine proportionale Mitwirkung bei der inner- und außerparlamentarischen Meinungs- und Entscheidungsbildung sichergestellt wird. Nach der Fraktionsstärke bestimmt werden etwa die Vertreter des Bundestages im Vermittlungsausschuß 21 oder die Zusammensetzung der Enquete-Kommissionen22. Auch die Redezeiten in parlamentarischen Debatten werden nach einem interfraktionellen Schlüssel in etwa nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen verteilt 23 .
20 S. 2 angefugt durch Beschluß des Deutschen Bundestages vom 10. November 1994; Bekanntmachung vom 16. Dezember 1994 (BGBl. I 1995, S. 11). 21 Die Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses besagt nichts über das Verfahren der Auswahl der Vertreter des Bundestages, gleichwohl werden sie nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen ausgewählt, vgl. Wolfgang Zeh, Gliederung und Organe des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 42 Rz. 53. 22 Wolfgang Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 43 Rz. 86.
A. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Grundgesetz
35
Mittlerweile hat die Verteilung von Ämtern nach dem Fraktionenproporz sogar im Grundgesetz eine positiv-rechtliche Verankerung in dem am 24.6.1968 eingefügten Art. 53 a GG 2 4 erfahren, wonach der Bundestag seine Vertreter im Gemeinsamen Ausschuß nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmt. Diese Entwicklung hat durchaus begrüßenswerte Folgen. Durch sie wird etwa eine adäquate Beteiligung der Opposition sichergestellt. Auf diese Weise können Proporzregelungen dazu beitragen, daß der gesamtgesellschaftliche Konsens erhalten bleibt und auch solchen Bevölkerungsgruppen, die sich von einer schwächeren und nicht an der Regierung beteiligten Partei vertreten fühlen, das Gefühl vermitteln, ausreichend repräsentiert zu sein. Sie hat aber auch eine Kehrseite. Sie führt nämlich dazu, daß nicht nur politische Führungsämter, sondern auch Sachverständige, Richter oder Behördenleiter unter parteipolitischen Gesichtspunkten ausgewählt werden. Sie leistet damit einem Parteienstaat Vorschub, wie er an sich im Grundgesetz nicht angelegt ist. Zwar ist dieses Phänomen nicht auf das Parlament und schon gar nicht nur auf den Bundestag beschränkt. Da das Selbstorganisationsrecht des Bundestages aber einerseits in vielfältiger Weise Vorbild für die Länderparlamente und auch für andere kollegiale Entscheidungsgremien ist 25 , andererseits gerade die Proporzregeln des Bundestages aufgrund des Gewichts der zu treffenden Personalund Sachfragen von großer praktischer Bedeutung sind, findet hier gegenwärtig eine Wandelung der Verfassungsform statt, wie sie Hatschek vorgeschwebt haben mag. Dies geschah und geschieht zwar nicht unbemerkt, wie die zahlreichen Untersuchungen über den Parteienstaat beweisen, jedoch läßt sich eine Entwicklung in kleinen Übergängen feststellen, die sich leise und ohne das Getön einer Revolution ihren Weg gebahnt hat und immer noch bahnt.
23 Johann Christoph Besch, Gliederungen, Organe und Verfahren des Bundestages, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 33 Rz. 55. 24 BGBl. 1 709. 25 Beispielsweise für das Geschäftsordnungsrecht der Gemeindevertretungen, vgl. Meinhard Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S. 31 IT.
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen IV. Folgerungen
Insgesamt läßt sich daher ein System vielfältiger Wechselbeziehungen zwischen dem parlamentarischen Selbstorganisationsrecht und dem Grundgesetz feststellen. Das Grundgesetz bildet den Rahmen, in dem das Parlament seine Angelegenheiten selbst regeln kann. Nur wenige Grundgesetzbestimmungen begrenzen dabei die Gestaltungsfreiheit des Bundestages. Verfassungsrechtliche Wertentscheidungen hat aber auch das Parlament im Rahmen seines Organisationsrechts zu beachten. Zahlreiche Bestimmungen des Selbstorganisationsrechts formen Grundgesetzbestimmungen aus und bewirken, daß diese eine handhabbare Gestalt gewinnen. So sind etwa organisatorische Regelungen auf dem Gebiet der Gesetzgebung oder der Regierungskontrolle die Voraussetzung dafür, daß der Bundestag seinen verfassungsrechtlichen Aufgaben überhaupt gerecht werden kann. Insoweit konkretisiert das Selbstorganisationsrecht grundgesetzliche Bestimmungen. Darüber hinaus kann die parlamentarische Entwicklung der verfassungsrechtlichen gleichsam vorauseilen, indem in der Parlamentspraxis Rechte und Aufgaben eingeführt werden, die vom Verfassungsgeber nicht vorhergesehen wurden. Dies kann durch eine Vielzahl nahezu unmerklicher Entwicklungen im parlamentarischen Bereich, die jede für sich gesehen unbedeutend sind, zu einem Verfassungswandel durch einen Wandel des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts führen.
B. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Gesetz I. Selbstorganisationsrecht in Gesetzesform Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG bestimmt lediglich, daß der Bundestag sich eine Geschäftsordnung gibt. Hieraus folgt zwar eindeutig, daß grundsätzlich der Bundestag allein und ohne die Mitwirkung anderer Staatsorgane sein Verfahren regelt. Es gibt aber Fälle, in denen andere Verfassungsorgane über gesetzliche Regeln, die die Organisation oder das Verfahren des Bundestages betreffen, Einfluß auf den Bereich des Selbstorganisationsrechts erlangen könnten. Die Frage
. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Gesetz
37
nach der Zulässigkeit von gesetzlichen Geschäftsordnungsregeln ist daher eng verwoben mit der Frage, inwieweit die Selbstorganisationsgarantie das Parlament vor der Einflußnahme anderer Staatsorgane schützen soll. Zur Zeit des Konstitutionalismus erschien es aufgrund des Gegensatzes zwischen Krone und Parlament besonders dringlich, die Regelung des innerparlamentarischen Verfahrens allein dem Parlament zu überlassen. Mit der verfassungsmäßig garantierten Selbstorganisationsbefugnis verband man daher den Ausschluß anderer Verfassungsorgane von jeglichen Geschäftsordnungsangelegenheiten. Kurt Pereis drückte sich 1903 folgendermaßen aus: „Kein anderes Organ hat ein Mitwirkungs- oder auch nur ein Zustimmungsrecht in bezug auf die vom Reichstage über sein geschäftliches Verfahren getroffenen Vorschriften, gleichviel ob es sich um deren Setzung, Veränderung und Aufhebung [...] handelt. Höchstens eine beratende Stimme kommt den Mitgliedern des Bundesrates zu kraft ihres Rechts, jederzeit im Reichstage das Wort zu ergreifen. R.V. Art. 9. Nur eine Schranke besteht für die Regelung des Geschäftsganges seitens des Reichstages, die Verfassung selbst und das ihr gleichstehende Staatsgewohnheitsrecht." 26 Eine gesetzliche Regelung von Geschäftsordnungsfragen schloß Pereis damit in Übereinstimmung mit der ganz herrschenden Meinung 27 zur Zeit des Konstitutionalismus aus. Auch in der parlamentarischen Praxis wurden Versuche anderer Staatsorgane, Einfluß auf innerparlamentarische Angelegenheiten zu gewinnen, entschieden abgewehrt 28. So legte der Reichskanzler dem Reichstag am 12. Februar 1879 einen vom Bundesrat beschlossenen Gesetzesentwurf vor, der die Strafgewalt des Reichstages über seine Mitglieder betraf 29 . Aufgrund des hierin vorgesehenen Eingriffs
26
Kurt Pereis, Das autonome Reichstagsrecht, 1903, S. 2 f. Vgl. die Darstellung bei Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 50 ff.; außerdem Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Erster Band, 5. Auflage, Tübingen 1911, S. 344; Karl Freiherr von Stengel, Das Staatsrecht des Königreichs Preußen, 1894, S. 82; Ludwig von Rönne, Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie, Band 1 Abteilung 1, 4. Auflage, 1881, S. 325 f. 28 Die nachfolgenden Beispiele werden ausführlich dargestellt bei Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 52 ff. 29 RT-Drs. 15, IV. Wahlperiode, 2. Session, Band 4, S. 326 ff. 27
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
in die Selbstorganisationsgarantie des Reichstages hätte es zur Annahme des Entwurfs einer verfassungsändernden Mehrheit bedurft. Vor dem Reichstag betonte aber selbst ein Vertreter der Reichsregierung, daß in den Fällen, in denen dem Reichstag die Beseitigung von Mißständen selbst möglich sei, ihm die Initiative zu solchen selbst gesetzten Bestimmungen überlassen werden müsse.30 In der nachfolgenden Plenardebatte machten die Reichstagsabgeordneten deutlich, daß sie einen Eingriff in die Autonomie 31 des Parlaments nicht hinnehmen würden. Berühmtheit erlangten die Worte des Abgeordneten Eduard Lasker: „Die Autonomie für den Geschäftsbetrieb, die Autonomie in dem ganzen Umfang, in welchem die Verfassung sie dem Reichstag beilegt, ist unentbehrlich für den parlamentarischen Beruf. Kein Gesetz wäre imstande in seiner starren Abgeschlossenheit Genüge zu thun den Wechselfällen, wie sie tagtäglich im Parlament vorkommen." 32 Der Gesetzentwurf wurde in zweiter Beratung abgelehnt. Am 15. Mai 1879 wurde dem Reichstag ein Gesetzentwurf zugeleitet, der vorsah, daß Eingangszölle bereits vor Inkrafttreten eines entsprechenden Gesetzes vorläufig erhoben werden könnten, wenn dem Reichstag ein Gesetzentwurf vorlag, der die Einführung der Zolltarife vorsah und Bundesrat und Reichstag der vorläufigen Einführung zugestimmt hatten.33 Der Antrag an den Reichstag, seine Zustimmung zu erteilen, sollte nur einmaliger Beratung und Zustimmung bedürfen. Außerdem sollte der Reichstag mit absoluter Mehrheit beschließen können, daß Beratung und Abstimmung am gleichen Tag stattfinden, an dem der schriftliche Antrag eingeht. Dieser zweite Versuch innerhalb einer Session, durch die Gesetzgebung den Gang des parlamentarischen Verfahrens zu bestimmen, stieß auf so entschiedene Ablehnung durch verschiedene Reichstagsabgeordnete, daß die Regierung von sich aus den entsprechenden Passus aus dem Gesetzesentwurf entfernte. Angesichts dieser klaren Haltung des Reichstages zu gesetzlichen Eingriffen in seine Selbstorganisationsbefugnis, die dieser auch bei weiteren Gelegenhei-
30
14. Sitzung des Reichstages vom 4.März 1879, IV Wahlperiode, 2. Session, Band 1, S.248. 31 Zum Autonomiebegriff oben Kapitel 1 Abschnitt 1. 32 14. Sitzung des Reichstages vom 4.März 1879, IV Wahlperiode, 2. Session, Band
1,S. 266. 33
RT-Drs. 178, IV. Wahlperiode, 2. Session, Band 5, S. 1384 ff.
. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Gesetz
39
ten bewies 34 , verwundert es nicht, daß im Kaiserreich kein Gesetz erlassen wurde, daß das parlamentarische Selbstorganisationsrecht beschränkte. Die Parlamentspraxis und die parlamentsrechtliche Forschung entsprachen sich in der Auffassung, daß eine solche Einschränkung verfassungsrechtlich unzulässig gewesen wäre. In der Weimarer Republik wurde die Selbständigkeit des Parlaments gegenüber den übrigen Verfassungsorganen und seine Unabhängigkeit von ihnen als gesicherter Bestandteil der Verfassungsordnung betrachtet. Allerdings wurde die sogenannte Autonomie in der staatsrechtlichen Literatur nicht mehr so deutlich hervorgehoben wie in der Kaiserzeit, was wohl vor allem damit zusammenhing, daß sie als Selbstverständlichkeit angesehen wurde. Auch schien die Regierung, die ja nun abhängig war vom Vertrauen des Parlaments, keine Bedrohung für das parlamentarische Selbstorganisationsrecht mehr darzustellen. 35 Indem das Grundgesetz in Art. 40 Abs. 1 wörtlich den Art. 26 WRV aufgenommen hat, knüpft es an die parlamentarische Tradition der Weimarer Republik an. Der Grundgesetzartikel kann daher nur so verstanden werden, daß der Bundestag selbst und unabhängig ohne Mitwirkung anderer Staatsorgane sein Verfahren regelt 36 . Auch wenn in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes der Gegensatz zwischen Parlament und Regierung im Vergleich zum Kaiserreich abgenommen hat, so ist er doch nicht aufgehoben. Insbesondere durch das Initiativrecht gemäß Art. 76 Abs. 1 GG hätte die Regierung die Möglichkeit, die Parlamentsgeschäfte allein dadurch zu beeinflussen, daß sie den Bundestag dazu zwingt, sich mit Regierungsvorschlägen auf dem Gebiet des Selbstorganisationsrechts zu befassen. Noch stärkeres Gewicht hätten die Mitwirkungsmöglichkeiten des Bundesrates, der über die Einschaltung des Vermittlungsausschusses Einfluß auf den Inhalt des Gesetzes gewinnen könnte. Da letztlich das Parlament die Gesetze beschließt, Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG, bliebe die Frage nach der gesetzlichen Regelbarkeit von Geschäftsordnungsangelegenheiten rein theoretischer Natur, wenn die Parlamentspraxis heute wie früher eifersüchtig daran festhielte, den parlamentarischen Geschäftsgang ohne Einflüsse anderer Staatsorgane zu regeln. In der ersten Wahlperiode des Deutschen Bundestages sah es noch danach aus. Einem Antrag, der vorsah, die Be-
34 35 36
vgl. Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 56 f. Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 58. Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Mai 1994, Art. 40 Rz. 16.
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
rechnung der Zahl der Ausschußsitze, die den Fraktionen entsprechend ihrer Stärke zustehen sollten, einem Büro der Bundesregierung zu überlassen, war entgegengehalten worden, das Parlament müsse seine eigenen Angelegenheiten selbst regeln und dürfe sie nicht der Bundesregierung überlassen. Daraufhin wurde der Antrag abgelehnt und die Berechnung vom Parlament selbst vorgenommen37. Von dieser Praxis ist der Bundestag aber schon bald abgewichen. Heute finden sich eine Reihe von Gesetzen mit Vorschriften zur Organisation oder zum Verfahren des Bundestages. Hierzu zählen etwa: -
die Bundeshaushaltsordnung38, nach deren § 10 a Abs. 2 die Kontrolle der Haushalte der Nachrichtendienste einem Gremium aus Mitgliedern des Haushaltsausschusses (Vertrauensgremium) obliegt, dessen Mitglieder der Bundestag in entsprechender Anwendung von § 4 Abs. 2 und 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes vom 11. April 1978 (BGBl. I S. 453) wählt;
-
das Gesetz über die parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste 39;
-
das Abgeordnetengesetz 40, dessen § 45 bestimmt, daß sich die Mitglieder des Bundestages zu Fraktionen zusammenschließen können und das in zahlreichen Bestimmungen den Ältestenrat mit dem Erlaß von Richtlinien betraut;
-
das Parteiengesetz41, das den Bundestagspräsidenten gemäß §§ 18 ff. in die staatliche Parteienfinanzierung einschaltet;
-
das Gesetz über die Wahl der Vertreter Deutschlands zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates 42;
-
das Richterwahlgesetz 43, das in § 5 das Verfahren regelt, nach dem der Bundestag seine Mitglieder zum Richterwahlausschuß bestimmt;
37 Sten.Ber. 1. WP, 11. Sitzung, 30. September 1949, S. 207; vgl. Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 60. 38 Vom 19. August 1969 (BGBl. I S. 1284), zuletzt geändert durch Gesetz vom 2. Mai 1996 (BGBl. I S . 656). 39 Vom 11. April 1978 (BGBl. I S. 453), geändert durch Gesetz vom 27. Mai 1992 (BGBl. I S. 997). 40 In der Fassung der Bekanntmachung vom 21. Februar 1996 (BGBl. I S. 326). 41 In der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl. I S. 149), geändert durch Gesetz vom 18. Dezember 1995 (BGBl. I S. 1959). 42 Vom 6. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2586).
. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Gesetz -
41
das Bundesverfassungsgerichtsgesetz 44, das in § 6 Abs. 1 bestimmt, daß der Bundestag die von ihm zu berufenden Richter in indirekter Wahl wählt. Hierzu hat er gemäß § 6 Abs. 2 BVerfGG einen Wahlausschuß aus 12 Bundestagsmitgliedern zu bilden. Die Wahl der Mitglieder erfolgt nach dem d'Hondtschen Höchstzahlverfahren und nicht nach dem sonst im Bundestag üblichen Verfahren.
Gänzlich unproblematisch sind Gesetze, die aufgrund eines ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehaltes erlassen wurden. Solche Gesetze sind das Wahlprüfungsgesetz 45 (Art. 41 Abs. 3 GG), das Befugnisgesetz für den Petitionsausschuß46 (Art. 45c Abs. 2 GG) oder das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses mit seinen Bestimmungen zur Bildung eines parlamentarischen Kontrollgremiums 47 (Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG). Verfassungsrechtlich problematisch sind dagegen all jene gesetzlichen Regelungen parlamentsinterner Angelegenheiten, die sich nicht auf eine spezielle Grundgesetznorm stützen können. 1. Meinungsstand in der Literatur Im Schrifttum gehen die Ansichten darüber auseinander, ob eine Geschäftsordnungsangelegenheit in Gesetzesform geregelt werden darf, ohne daß dies im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen ist. Teile der Literatur vertreten die Ansicht, daß mit dem Recht des Bundestages, sich eine Geschäftsordnung zu geben, zugleich das Recht verbunden sei, frei darüber zu entscheiden, in welcher Rechtsform er diese erlassen wolle 48 . Er sei daher frei, Geschäftsordnungsregeln statt in der kodifizierten parlamentarischen Geschäftsordnung oder einer anderen Rechtsquelle des Selbstorganisationsrechts 49, in Gesetzesform zu erlassen.
43 Vom 25 August 1950 (BGBl. I S. 368), zuletzt geändert durch Gesetz vom. 30. Juli 1968 (BGBl. IS. 873). 44 In der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl. I S. 1473). 45 Vom 12. März 1951 (BGBl. I S. 166), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. April 1995 (BGBl. IS. 482). 46 Vom 19. Juli 1975 (BGBl. I S. 1921). 47 Vom 13. August 1968 (BGBl. I S. 949), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. April 1995 (BGBl. I S. 582). 48 Kurt Haagen, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, 1929, S. 47; Haug, Bindungswirkung, S. 50. 49 Vgl. zu den verschiedenen Rechtsquellen unten Kapitel 7.
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
Dem wird entgegengehalten, daß allein die Geschäftsordnung in der Lage sei, die notwendige Elastizität bei der Durchführung der Beratungen des Bundestages zu gewährleisten, da anders als beim Gesetz im Einzelfall von ihr abgewichen werden könne 50 . Parlamentsgeschäftsordnungen würden nicht anders als Gesetze aufgrund einer verfassungsunmittelbaren Fachkompetenz erlassen, weshalb Gesetzgebung und Geschäftsordnungsgebung zwei verschiedene, dem Parlament zugewiesene Sachbereiche darstellten 51. Der Kollisionsfall sei deshalb als Kompetenzfrage aufzufassen, bei der auf den Regelungsgehalt der Kompetenznorm abzustellen und ein Übergriff als Verfassungsverstoß zu ahnden sei 52 . Die Grundgesetznorm betraue zudem allein den Bundestag damit, sich eine Geschäftsordnung zu geben. Wähle dieser dagegen die Gesetzesform, so seien an Aufstellung und Änderung auch die Bundesregierung mit ihrem Initiativrecht, der ausfertigende und unter Umständen auf Verfassungsmäßigkeit prüfende Bundespräsident, insbesondere aber der Bundesrat beteiligt 53 . Selbst wenn die geschäftsordnungsrechtliche Regelung nur in einem Einspruchsgesetz erfolge, habe der Bundesrat gemäß Art. 77 Abs. 4 GG die Möglichkeit, sie mit Zweidrittelmehrheit zu blockieren 54 . Zudem bewirke die Wahl der Gesetzesform, daß die Regelung die Wahlperiode überdauere und auch einen späteren Bundestag binde, was aufgrund der Freiheit jedes neu gewählten Parlaments, seinen Geschäftsgang selbst zu bestimmen, nicht hingenommen werden könne 55 . Demgegenüber verweisen die Befürworter einer Formwahlfreiheit des Parlaments auf gewichtige Gründe für die Wahl der Gesetzesform. Da es sich bei der Geschäftsordnung um eine „autonome Satzung"56 handele, die ausschließlich die Abgeordneten, nicht aber Dritte zu binden vermöge, bedürfe es für all jene Bereiche des Parlamentsrechts, durch die auch auf Außenbeziehungen
50 Hans Troßmann, Der Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöRNF 28(1979), S. 1 (45). 51 Gerassimos Theodossis , Die Verfassungsgarantien über die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und ihre rechtliche Bedeutung - in vergleichender Sicht, JöR NF 44 (1996), S. 155 (162); Heinhard Steiger , Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 45. 52 Theodossis , JöR NF 44 (1996), S. 155 (164); ebenso Gerhard Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 185 ff. 53 Arndt, Geschäftsordungsautonomie, S. 123 f.; Hans D. JarrasfBodo Pieroth, Grundgesetz, 3. Auflage, 1995, Art. 40 Rz. 6; Pietzcker , in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 14. 54 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 14. 55 Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 124. 56 Zur Rechtsnatur der Geschäftsordnung siehe unten Kapitel 7 Abschnitt 1 a II.
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eingewirkt werde, der Gesetzesform 57. Zudem habe die Parlamentsautonomie im Parlamentarischen Regierungssystem an Bedeutung verloren, da die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhänge, wodurch der Gegensatz zwischen Parlament und Regierung weitgehend aufgehoben sei. Dem Parlament stünden nur demokratische Staatsorgane gegenüber. Erhielten diese durch Geschäftsordnungsgesetzgebung Einfluß auf die inneren Angelegenheiten der Volksvertretung, so sei dieser Einfluß demokratisch legitimiert 58 . Es bestehe daher auch kein Anlaß, das Parlament vor Versuchen anderer Staatsorgane, auf sein Verfahren Einfluß zu erhalten, zu schützen. Auch wird darauf verwiesen, daß es für die Funktionsfähigkeit des Parlaments als freiheitlich-demokratischer Volksvertretung hilfreich sein könne, eine Geschäftsordnungsregel durch Gesetz zu treffen, um sie gerade der erleichterten Abänderungs- oder Abweichungsmöglichkeit im unberechenbaren politischen Tagesgeschehen zu entziehen. Insbesondere die parlamentarische Minderheit könne so besser geschützt werden 59. Einen ganz anderen Ansatz verfolgt Achterberg 60. Er geht davon aus, daß der Normstufenaufbau des Außenrechts nicht auf das Innenrecht übertragbar sei und folgert hieraus weiter, daß der Vorrang des Gesetzes gegenüber der parlamentarischen Geschäftsordnung nicht gelte. Hieraus schließt er, daß das Parlament aufgrund und im Rahmen seiner Geschäftsordnungskompetenz von Gesetzen abweichen dürfe. Von dieser Ausgangsüberlegung aus gelangt er unproblematisch zu dem Ergebnis, daß Geschäftsordnungsangelegenheiten auch in Gesetzesform ergehen dürfen: Regele das Parlament eine Geschäftsordnungsangelegenheit in Form eines Gesetzes, so könne es denselben Gegenstand mangels Vorrang des Gesetzes jederzeit „zurückholen" und der Geschäftsordnung unterstellen. Die Verfassungsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG werde daher durch die gesetzliche Festlegung bestimmter Geschäftsordnungsgegenstände gar nicht berührt.
57 Joseph Bücker, Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 1986, 324 (329). 58 Florian Edinger, Wahl und Besetzung parlamentarischer Gremien, 1992, S. 344. 59 Bücker, ZParl 1986, S. 324 (331); Haug, Bindungsprobleme, S. 51; Gerald Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages, ZParl 1986, S. 334 (338); Walther W. Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und Ausschußbesetzung, DÖV 1986, S. 236 (239). 60 Parlamentsrecht, S. 327 ff.
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen 2. Position des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht hatte sich am 14. Januar 198661 mit der Frage zu befassen, ob parlamentsinterne Fragen gesetzlich geregelt werden dürfen. Dem Urteil lag vereinfacht folgender Sachverhalt zugrunde: Die Fraktion der Grünen klagte gegen die vom Bundestag in der 10. Legislaturperiode beschlossene Änderung des Verfahrens zur Überwachung der für die Geheimdienste vorgesehenen Haushaltsmittel. In den vorausgegangenen Legislaturperioden waren die Haushalte der Geheimdienste in einem Unterausschuß des Haushaltsausschusses beraten worden. Durch das Haushaltsgesetz vom 1. Januar 198462 wurde diese Aufgabe einem fünfköpfigen Gremium aus Mitgliedern des Haushaltsausschusses übertragen, das vom Bundestag in entsprechender Anwendung von § 4 Abs. 2 und 3 des Gesetzes über die Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes vom 11. April 197863 gewählt wird 6 4 . Dieses Verfahren hatte zur Folge, daß die Fraktion der Grünen, die zum ersten Mal in den Bundestag eingezogen war, keinen Platz in dem Kontrollgremium finden konnte. Da das parlamentarische Kontrollverfahren nicht in der Geschäftsordnung des Bundestages, sondern im Haushaltsgesetz geregelt war, stellte sich die Frage nach der Zulässigkeit dieses Vorgehens. Das Bundesverfassungsgericht führte in diesem Zusammenhang aus, daß die Geschäftsordnungsawfowo/w/e im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung des Parlamentsrechts zu sehen sei und daß diejenigen Gegenstände, die herkömmlich als autonome Geschäftsordnungsangelegenheiten gelten, prinzipiell auch vom Grundgesetz diesem Bereich zugewiesen werden 65 . Es stellte fest, daß es auch heute noch Zweck der Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG sei, das Parlament vor Gängelungsversuchen der Exekutiven zu schützen66. Gleichwohl hielt es das für die Kontrolle der Haushalte der Nachrichtendienste eingeschlagene Verfahren für unbedenklich, denn der Bundesregierung werde keine ins Gewicht fallende Einwirkungsmöglichkeit auf das Verfahren des Bundestages eröffnet. Zwar obliege es ihr nach Art. 110 Abs. 3 GG, den Entwurf des Haushaltsgesetzes im Bundestag einzubringen, letztlich sei es aber die Volksvertretung, die bestimme, mit welchem Inhalt das Gesetz beschlossen werde. Auch der Einfluß, den der Bun-
61 62 63 64 65 66
BVerfGE 70, 324. BGBl. I, S. 1516. BGBl. I, S. 453. Eine entsprechende Regelung findet sich heute in § 10a Abs. 2 BHO. BVerfGE 70, 324 (360) unter Verweis auf BVerfGE 44, 308 (314). BVerfGE 70, 324 (361).
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desrat durch das Verfahren der Gesetzgebung auf den Geschäftsgang des Bundestages gewinne, schränke dessen Geschäftsordnungsaw/cwo/w/e nicht in verfassungsrechtlich relevanter Weise ein. Dies gelte Jedenfalls dann, wenn das Gesetz - auch seine Aufhebung - nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf, der Kern der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestages nicht berührt wird und überdies gewichtige sachliche Gründe dafür sprechen, die Form des Gesetzes zu wählen" 67 . Diese Voraussetzungen sah das Bundesverfassungsgericht im zu behandelnden Fall als erfüllt an.
3. Sondervoten Diese Entscheidung ist allerdings nicht einstimmig ergangen. In zwei Sondervoten legten die Bundesverfassungsrichter Mahrenholz und Böckenförde ihre abweichenden Positionen dar 68 . Mahrenholz folgerte aus Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG, wonach der Bundestag sich eine Geschäftsordnung gibt, daß er auch danach verfahren muß. Es könne ihm dann nicht freistehen, sich andere (etwa gesetzliche) Grundlagen für seine Arbeit zu schaffen. Die Gesetzesform bewirke, daß der Bundestag nicht länger „Herr im Hause seiner Angelegenheiten" bleibe 69 . Böckenförde warnte im gleichen Zusammenhang davor, das Fehlen einer Kompetenz des Gesetzgebers deshalb für bedeutungslos zu erklären, „weil der Bundestag, selbst Gesetzgebungsorgan, im einen wie im anderen Falle zuständig sei." 70 Da der Bundestag nicht alleiniges Gesetzgebungsorgan, sondern an die Mitwirkung des Bundesrates nach Art. 77 Abs. 4 GG gebunden sei, bleibe er nicht Herr der Sache und des Verfahrens 71. Mahrenholz wies zudem darauf hin, daß durch die Gesetzesform die minderheitenschützende Funktion der Geschäftsordnung nicht gewahrt werde 72 . Schließlich wandte er sich auch gegen den vom Senat formulierten Ausnahmetatbestand. Hierfür finde sich im Grundgesetz kein Anhaltspunkt. Selbst wenn man aber die Formel selbst für richtig halte, so habe der Senat sie falsch angewandt. Denn es gebe kaum einen Bereich, der so selbstverständlich zum
67
BVerfGE 70, 324 (361). Sondervotum Mahrenholz BVerfGE 70, 324/366; Sondervotum Böckenförde BVerfGE 70, 324/380. 69 Sondervotum Mahrenholz BVerfGE 70, 324/366 (377). 70 Sondervotum Böckenförde BVerfGE 70, 324/380 (387). 71 Sondervotum Böckenförde BVerfGE 70, 324/380 (387 f.). 72 Sondervotum Mahrenholz BVerfGE 70, 324/366 (377). 68
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
Kernbereich der Parlamentsaw/cwo/we gehöre wie die Beratung der Budgets der Geheimdienste73.
4. Ergebnis: Keine Wahlfreiheit
zwischen Gesetz und Geschäftsordnung
Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Formel, nach der gesetzliche Regelungen möglich sind, wenn hierfür gewichtige sachliche Gründe sprechen und der Kernbereich der verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstorganisationsbefugnis (Parlamentstfwtorto/w/e) unangetastet bleibt, erscheint auf den ersten Blick richtig und plausibel. Wenn das Bundesverfassungsgericht anschließend aber knapp klarstellt, weder die Kontrolle der Wirtschaftspläne noch die Kontrolle der Nachrichtendienste selbst fielen in den Kernbereich der Autonomie des Bundestages74, so vermag dies kaum zu überzeugen. Das Budgetrecht ist eines der wesentlichen Elemente der Regierungskontrolle durch das Parlament, die die rechtsstaatliche Demokratie maßgeblich prägt 75 . Sie gehört seit jeher zum Kernbereich parlamentarischen Handelns76 und kann nur wirksam ausgeübt werden, wenn das Parlament das Verfahren der Kontrolle selbst bestimmt. Deshalb erscheint es zwingend, die Bestimmungen zur Ausübung des parlamentarischen Budgetrecht insgesamt jenem Bereich des Selbstorganisationsrechts zuzuordnen, den das Bundesverfassungsgericht als Kernbereich der Geschäftsordnungsautonomie bezeichnet. Hiervon ausgerechnet die Budgets der Nachrichtendienst abzutrennen, wirkt gekünstelt und zudem wenig sachgerecht. Die Nachrichtendienste sind wichtige Instrumente der Exekutiven, die sowohl der Wahrung der inneren als auch der äußeren Sicherheit dienen. Aufgrund ihrer geheimen Vorgehensweise, findet eine öffentliche Kontrolle praktisch nicht statt. Um so dringlicher erscheint ihre parlamentarische Überwachung. Auf welche Art und Weise das Parlament seiner Aufgabe dabei nachkommt, muß ihm allein überlassen bleiben. Über eine gesetzliche Regelung gewönnen andere Staatsorgane Einfluß auf die Frage, in welcher Form das Parlament sein Budgetrecht wahrnimmt. Insbesondere wäre die Regierung im Gesetzgebungsverfahren durch ihr Initiativrecht und das Gegenzeichnungsrecht an einer Regelung beteiligt, die gerade ihrer 73
Sondervotum Mahrenholz BVerfGE 70, 324/366 (378). BVerfGE 70, 324 (362). 75 BVerfGE 49, 89 (125); 55, 274 (303). 76 Hans Meyer , Die Stellung der Parlamente in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 4 Rz. 53. 74
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Überwachung dient. Eben weil die Haushaltskontrolle die Überwachung der Bundesregierung bezweckt, darf diese aber gerade keinen Einfluß hierauf erlangen. Im Bereich der Haushaltskontrolle wäre es sogar so, daß die Bundesregierung aufgrund des ihr gemäß Art. 110 Abs. 3 GG allein zustehenden Initiativrechts im Rahmen des Haushaltsgesetzes selbst festlegte, wie das parlamentarische Kontrollgremium aussehen soll. Das Parlament müßte daher erst wieder seinerseits aktiv werden und eine Änderung des Gesetzentwurfs bewirken. Hierbei könnte es auch in öffentlichen Begründungszwang geraten, obwohl es doch um Angelegenheit geht, die allein seiner Dispositionsbefugnis unterliegen. Auf diese Weise könnte das Parlament genötigt sein, einer Regelung zuzustimmen, die es aus eigenem Antrieb nie erlassen hätte. Zudem wäre es dem Parlament wegen Art. 110 Abs. 3 GG verwehrt, eine einmal getroffene Entscheidung, die an sich seinem Selbstorganisationsbereich zugehört, aus eigener Initiative wieder rückgängig zu machen oder auch nur nachträglich zu verändern 77 . Bereits dieses Beispiel zeigt auch, daß keine generelle Wahlfreiheit zwischen Geschäftsordnung und Gesetz bestehen kann. Denn auch wenn es zutrifft, daß in einem demokratischen System, in dem die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist, der Gegensatz zwischen Parlament und Regierung viel von seiner einstigen Schärfe verloren hat 78 , so ist er doch nicht aufgehoben. Insbesondere dort, wo das Parlament die Regierung zu kontrollieren hat, besteht er fort. Daß diese Kontrollaufgabe möglicherweise ernsthafter von der Parlamentsminderheit als von der die Regierung stützenden Mehrheit wahrgenommen wird 7 9 , ändert nichts daran, daß es sich um eine Aufgabe des gesamten Parlaments handelt. In diesem Bereich erfüllt die Selbstorganisationsgarantie auch heute noch ihre Funktion, die Unabhängigkeit des Parlaments vor der Regierung zu schützen. Im übrigen gilt es aber auch mögliche Einflußnahmen des Bundesrates auf innerparlamentarische Angelegenheiten abzuwehren. Auch bei bloßen Einspruchsgesetzen kann der Bundesrat die Einberufung des Vermittlungsausschusses verlangen und so dem Gesetz einen möglicherweise stark veränderten Inhalt geben80. Auf diesem Wege könnte es geschehen, daß auch innerparla77
Sondervotum Böckenförde BVerfGE 70, 324/380 (388). Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 18 IT.; Horst Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrechts, JZ 1990, S. 310 (314). 79 Hierzu Stephan Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, 1995, S. 40 ff. m.w.N. 80 Dreier, JZ 1990, S. 310 (315). 78
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mentarische Angelegenheiten zur politischen Verhandlungsmasse im föderalen System werden. Insbesondere über den Vermittlungsausschuß könnten die Vertreter des Bundesrates ihre Zustimmung zu Gesetzen mit geschäftsordnungsrechtlichem Inhalt von Konzessionen des Bundestages in ganz anderen Bereichen abhängig machen. Darüber hinaus erscheint auch fraglich, ob in dem dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegenden Sachverhalt überhaupt gewichtige Gründe für eine gesetzliche Regelung sprachen. Als gewichtiger Grund kommt allein der Schutz wichtiger Staatsgeheimnisse in Betracht. Das Gesetz enthielt aber überhaupt keine Geheimhaltungsvorschriften, sondern bestimmte lediglich, daß nur ein kleines Gremium Einsicht in die Wirtschaftspläne der Geheimdienste erhalten sollte. Wer Mitglied in diesem Gremium werden konnte, bestimmte nicht das Gesetz, sondern das Parlament in einem näher beschriebenen Wahlverfahren. Der Gesetzgeber ließ sich offenbar von der (zutreffenden) Erwartung leiten, die (der Bundestagsmehrheit suspekt erscheinende) Fraktion der Grünen werde auf diese Weise keinen Sitz in diesem Kontrollorgan erhalten. Das Ziel des Geheimhaltungsschutzes wurde daher nur dadurch erreicht, daß die Parlamentsmehrheit in vorhersehbarer Weise abstimmte. Ob dieses Verfahren überhaupt geeignet war, die Bewahrung von Staatsgeheimnissen sicherzustellen, erscheint durchaus zweifelhaft. Immerhin war es ja keineswegs ausgeschlossen, daß im Parlament doch noch eine Einigung zustande kommen würde, allen Fraktionen einen Sitz in dem Gremium zu verschaffen, wie es die SPD-Fraktion gefordert hatte. Auch ist es nicht unproblematisch, die gewählten Abgeordneten einer nicht verbotenen Partei auf diese Weise der Unzuverlässigkeit zu zeihen. Hiervon zu trennen ist allerdings die Frage, auf welche Art und Weise die Geheimhaltung geheimhaltungsbedürftiger Informationen sicherzustellen ist. Es fragt sich bereits, ob es sich hierbei überhaupt um eine parlamentsinterne Angelegenheit handelt. Dies wird allenfalls der Fall sein, soweit Verschlußsachen im Bundestag selbst entstehen. Insoweit besteht daher auch kein Widerspruch zwischen Selbstorganisationsgarantie und Geheimhaltungsschutz und auch kein Bedarf, das eine zu Lasten des anderen einzuschränken. Vielmehr hätte eine gesetzliche Regelung ergehen können, die den Umgang mit geheimen Daten auch im parlamentarischen Bereich betrifft. Ein Gesetz, das eine Zuverlässigkeitsprüfung von Personen vorsieht, die mit Verschlußsachen einer bestimmten Geheimhaltungsstufe umgehen oder eine Verschärfung der Strafvorschriften über die Verletzung besonderer Geheimhaltungspflichten (§ 353b StGB), wären beispielsweise geeignete Maß-
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nahmen gewesen. Das innerparlamentarische Verfahren zur Kontrolle der Nachrichtendienste aber hätte der Bundestag selbst bestimmen müssen. Der dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zugrundeliegende Fall zeigt zudem deutlich, daß gesetzliche Verfahrensregeln dem Schutz der parlamentarischen Minderheit zuwiderlaufen können. Denn wenn es der Parlamentsmehrheit gemeinsam mit den übrigen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorganen gelingt, in einem Gesetz ein parlamentarisches Verfahren festzuschreiben, das die Minderheit benachteiligt, so ist erst einmal eine Tatsache geschaffen, von der im politischen Alltag nicht in der gleichen vereinfachten Form abgewichen werden kann, wie dies bei einer entsprechenden Regelung in der Geschäftsordnung der Fall wäre. Die Vorteile, die andererseits durch die dann ebenfalls mögliche Festschreibung von Minderheitenrechten bestehen könnten, vermögen die Gefahren nicht aufzuheben. Sie lassen sich in der Praxis auch nicht nachweisen, denn bisher hat es lediglich die parlamentarische Minderheit benachteiligende gesetzliche Vorschriften mit geschäftsordnungsrechtlichem Inhalt gegeben. Es besteht ja auch kaum ein Anlaß für die Parlamentsmehrheit, ausgerechnet den aufwendigeren Weg der Gesetzgebung zu wählen, um den Rechten einer - womöglich mißliebigen - parlamentarischen Minderheit stärkere Geltung zu verleihen. Die vage Möglichkeit, selbst einmal parlamentarische Minderheit zu werden, wird die Mehrheit jedenfalls kaum von solchen gesetzlichen Regelungen abhalten, die nicht die parlamentarische Minderheit insgesamt, sondern lediglich die kleinste oppositionelle Kraft treffen können. Auch die der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrundeliegende Annahme, daß es möglich sei festzustellen, was zum Kern- und was zum Randbereich der Parlamentsawfortö/w/e gehört, erscheint zweifelhaft. Kriterien hierfür fehlen bislang. Selbst wenn aber eine konturenscharfe Abgrenzung zwischen Kern- und Randbereichen der Parlamentsaw/owo/we gelänge, wäre wenig gewonnen. Dort, wo das Parlament wichtige Aufgaben wahrnimmt, wird es stets zum Kernbereich seiner Autonomie zählen, selbst zu bestimmen, wie es diesen Aufgaben nachkommt. Allenfalls in den Randbereichen parlamentarischer Arbeit, wird man auch der Autonomie einen geringeren Stellenwert einräumen können. Gerade in diesen Randbereichen lassen sich aber um so weniger gewichtige sachliche Gründe dafür finden, daß anstatt einer autonomen eine gesetzliche Regelung geschaffen werden müßte. Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Formel trägt daher zur Problemlösung nicht bei. Auch die Ansicht Achterbergs vermag nicht zu überzeugen. Bereits aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wäre es nicht hinnehmbar, wenn das Parlament gesetzlich fixierte Geschäftsordnungsregeln jederzeit „zurückholen" und seiner Geschäftsordnung unterstellen könnte. Ansonsten 4 Schwerin
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müßte stets parallel zum Gesetzestext die Geschäftsordnung gelesen und auf neuere inhaltsgleiche Regelungen überprüft werden. Bei unterschiedlichen Regelungen in Gesetz und Geschäftsordnung, die inhaltlich zwar nicht völlig aber teilidentisch sind, stellte sich die schwierige Frage, ob die eine Bestimmung vollständig durch die andere, neuere ersetzt werden oder wenigstens teilweise Bestand haben sollte. Zudem müßte geklärt werden, ob im Falle der Aufhebung der neueren Geschäftsordnungsbestimmung das ältere Gesetz wieder auflebt. Wenn nicht, so wäre nun weder der Geschäftsordnung noch dem Gesetz anzusehen, daß die gesetzliche Bestimmung ihre Gültigkeit zwischenzeitlich verloren hat. Gegen Achterbergs Ansatz spricht aber noch ein weiterer Gesichtspunkt. Denn indem der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren dem Gesetz mit geschäftsordnungsrechtlichem Inhalt entweder ausdrücklich zugestimmt hat oder nach Maßgabe von Art. 77 GG am weiteren Gesetzgebungsverfahren teilnimmt, ist er beteiligt an dem Endprodukt. Ob er deshalb eine „Mitverantwortung" für das so entstandene Gesetz trägt und aus diesem Grunde an der Aufhebung oder Änderung der betreffenden Bestimmung zu beteiligen ist, kann dahinstehen81. Jedenfalls ist der Bundestagsbeschluß für sich genommen nicht ausreichend, dem Gesetz seine Wirkkraft zu verleihen. Es widerspräche diesem Ergebnis, wenn der bloße Bundestagsbeschluß, eine entsprechende Bestimmung in die parlamentarische Geschäftsordnung aufzunehmen ausreichte, dem Gesetz die Wirkkraft zu nehmen, ohne daß die übrigen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe an der Aufhebung mitwirken müssen. Deshalb ist daran festzuhalten, daß die beiden Rollen, in denen der Bundestag auftreten kann, voneinander zu trennen sind. Entweder er ist Gesetzgebungsorgan und als solches in ein Gesetzgebungsverfahren eingebunden, an dem auch der Bundesrat, der Bundespräsident und die gegenzeichnende Bundesregierung beteiligt sind, oder er ist Geschäftsordnungsgeber und als solcher frei, seine inneren Angelegenheiten im Rahmen der ihm verfassungsmäßig ein-
81 Die sog. Mitverantwortung des Bundesrates wurde (letztlich ohne Erfolg) als Argument für die Zustimmungsbedürftigkeit solcher Gesetze ins Feld geführt, die ihrerseits Zustimmungsgesetze änderten; vgl. hierzu BVerfGE 37, 363 ff.; Fritz Ossenbühl , Die Zustimmung des Bundesrates beim Erlaß von Bundesrecht; AöR 99 (1974), S. 369 ff.; Pestalozzi JuS 1975, S. 366 ff.; Christian Friedrich Menger , Abgrenzung zwischen verwaltungs- und verfassungsrechtlicher Streitigkeit, VerwArch 66 (1975), S. 291 ff. Hier geht es aber nicht um die Zustimmungspflicht, sondern um die Frage, ob die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe überhaupt an der Aufhebung eines Gesetzes zu beteiligen sind.
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geräumten Selbstorganisationsgarantie ohne die Mitwirkung anderer Staatsorgane selbst zu regeln.
II. Erweiterung des Regelungsbereichs des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG durch Gesetz Gesetze können nicht nur dem Zweck dienen, das Selbstorganisationsrecht zu beschneiden, sie können auch dazu dienen, es zu erweitern.
1. § 44 aAbgG Dies wird deutlich, wenn man nach der Rechtsgrundlage und der Rechtsnatur der in Anlage 1 zur GOBT abgedruckten Verhaltensregeln für Abgeordnete fragt. § 18 GOBT bestimmt, daß die gemäß § 44 a des AbgG zu beschließenden Verhaltensregeln Bestandteil der Geschäftsordnung sind. Der erst 1980 durch das Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und des Europaabgeordnetengesetzes vom 22. September 198082 in das Abgeordnetengesetz eingefügte § 44 a AbgG bestimmt in Absatz 1, daß sich der Bundestag Verhaltensregeln gibt und schreibt in Absatz 2 eine Reihe von Bestimmungen vor, die diese enthalten müssen. Der Grund für diese eigenartige Konstruktion lag darin, daß man in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG keine ausreichende Rechtsgrundlage für derartige Verhaltensregeln sah, da das Selbstorganisationsrecht keine Befugnis begründe, das Verhalten der Abgeordneten außerhalb des parlamentarischen Geschäftsbetriebes zu regeln 83 . Verhaltensregeln beträfen den Abgeordneten in seinem außerparlamentarischen Status und seien deshalb aufgrund der Regelung des Art. 38 Abs. 3 GG ausschließlich durch den Gesetzgeber zu regeln 84 .
82
BGBl. I, S. 1752. Hans Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, § 22 Rz. 5.1; ¿ferse/fce/Hans-Achim Roll, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages - Ergänzungsband, 1981, § 18 Rz. 2 und 4; bereits unter Geltung der WRV sah Edgar TatarinTarnheyden, Die Rechtsstellung der Abgeordneten; ihre Rechte und Pflichten, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band I, 1930, S. 413 (428), keine Rechtsgrundlage für verhaltensregelnde Bestimmungen außerhalb des Parlaments. 83
84
Troßmann/Roll,
Ergänzungsband, § 18 Rz. 2.
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Ganz im Sinne dieser Auffassung hatte das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit seiner Diätenentscheidung festgestellt, daß Art. 48 Abs. 3 S. 1 GG i.V.m. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gesetzliche Vorkehrungen dagegen verlangt, daß Abgeordnete deshalb Bezüge erhalten, weil von ihnen im Hinblick auf ihr Mandat ein bestimmtes Verhalten erwartet wird 8 5 . Der Bundestag wollte diesem Verfassungsauftrag durch die Schaffung von Art. 44 a GG nachkommen, war aber selbst nicht recht glücklich mit der gefundenen Lösung, wie sich der Berichterstattung des Abgeordneten Bötsch bei der 2. und 3. Lesung des Gesetzes entnehmen läßt: „Mit den Bestimmungen über die Verhaltensregeln der Abgeordneten bei einer Tätigkeit neben der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag wurde ein Auftrag des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 erfüllt. Der Ausschuß war sich hierbei voll und ganz darüber im klaren, daß es hier eine absolut befriedigende Regelung wohl kaum geben kann. Es hat sich bei den Beratungen gezeigt, daß theoretische Abhandlungen in Urteilen in der Praxis oft auf Schwierigkeiten stoßen. So mußte sich der Ausschuß und so muß sich der Gesetzentwurf damit begnügen, Grundsätze festzulegen, die dann ihre Ausformung in der Anlage der Geschäftsordnung erhalten haben." 86 Die Aussage zeigt, daß das Bundesverfassungsgericht den Bundestag in seinem Selbstwertgefühl getroffen hatte. Möglicherweise waren auch deshalb annähernd fünf Jahre vergangen, bis die Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einer gesetzlichen Regelung in die Tat umgesetzt wurde. Als der Bundestag sich am 21. September 1972 erstmals Verhaltensregeln gab 87 , war man jedenfalls noch ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß es „Aufgabe des Parlaments ist, für eine Selbstreinigung im parlamentarischen Bereich zu sorgen" 88 und nicht Aufgabe des Gesetzgebers.
85
BVerfGE 40, 296 (318 f. und LS 5). Sten.Ber. 8.WP, 225.Sitzung, 25.6.1980, S. 18291 D. 87 BGBl. I, S. 628; den Anlaß hatte eine Affäre gegeben, bei der es um einen in Aussicht gestellten Fraktionswechsel ging, der in einen Zusammenhang mit einem entgeltlichen Beratervertrag gebracht wurde; vgl. hierzu Uwe Schlosser , Die Verhaltensregeln für die Mitglieder des Deutschen Bundestages vom 25.6.1980 (Anlage 1 GeschOBT), 1985, S. 2 f. 88 So der Berichterstatter und Vorsitzende des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Schoettle , anläßlich der parlamentarischen Beratung der Verhaltensregeln, Sten.Ber. 6. WP, 198.Sitzung, 21.9.1972, S. 11699 A. 86
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a) Die Verhaltensregeln - Regelung eines Parlamentsgeschäfts? In der Tat erscheint es fraglich, ob es nicht zu den eigenen Angelegenheiten des Bundestages zählt, Verhaltensregeln für seine Mitglieder zu schaffen. Dies setzte nach der oben gegebenen Inhaltsbestimmung des Selbstorganisationsrechts 89 voraus, daß die Verhaltensregeln das Verfahren für die Abwicklung eines Parlamentsgeschäfts bestimmen. Es müßte also eine Angelegenheit des Bundestages selbst - ein Parlamentsgeschäft - sein, das Verhalten seiner Mitglieder in der Weise zu steuern, wie es in den Verhaltensregeln festgelegt ist.
aa) Inhalt der Verhaltensregeln Die Verhaltensregeln enthalten Anzeigepflichten der Bundestagsabgeordneten über bestimmte Tätigkeiten, die sie vor (§ 1 Abs. 1 Verhaltensregeln) oder während (§ 1 Abs. 1 - 4, 2 Verhaltensregeln) ihrer Abgeordnetentätigkeit ausüben oder ausgeübt haben. Gemäß § 3 Verhaltensregeln wird ein Teil dieser Angaben im Amtlichen Handbuch des Deutschen Bundestages veröffentlicht. § 4 Verhaltensregeln betrifft die Anzeigepflicht von Spenden, § 5 Verhaltensregeln enthält ein Verbot, zu beruflichen Zwecken auf die Abgeordneteneigenschaft hinzuweisen. Nach § 6 Verhaltensregeln ist ein Ausschußmitglied verpflichtet, vor der Ausschußberatung eine mögliche Interessenverknüpfiing offenzulegen. Kommt ein Bundestagsabgeordneter seiner Verpflichtung aus §§ 1 -6 Verhaltensregeln nicht nach, so sieht § 8 Abs. 3 S. 1 Verhaltensregeln als Sanktion die Veröffentlichung der Pflichtverletzung als Drucksache vor. § 9 Abs. 1 Verhaltensregeln bestimmt schließlich, daß für die Ausübung des Mandats keine anderen als die gesetzlich vorgesehenen Zuwendungen angenommen werden dürfen und § 9 Abs. 2 Verhaltensregeln verweist für den Fall der Zuwiderhandlung auf § 8 Verhaltensregeln.
bb) Meinungsstand Trotz § 44 a AbgG werden die Verhaltensregeln von einigen Autoren als einfacher Bestandteil der GOBT angesehen90. Teilweise werden sie aber auch
89
Siehe oben Kapitel 1 Abschnitt 2. Peter Badura, Die Stellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz und den Abgeordnetengesetzen in Bund und Ländern, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlaments90
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ausdrücklich als „Nichtgeschäftsordnungsrecht" 91 oder als neue Form des Parlamentsrechts, als ein parlamentsrechtliches „Unikum" angesehen, weil ihre Rechtsgrundlage nicht in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG, sondern in § 44 a AbgG, der seinerseits eine Ausführungsbestimmung i.S.d. Art. 38 Abs. 3 GG sei, liege 92 .
(1) Verhaltensregeln als „Nichtgeschäftsordnungsrecht" Als Begründung für die Auffassung, daß es sich nicht um Geschäftsordnungsrecht handele, wird angeführt, daß die Verhaltensregeln als das freie Mandat gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG konkretisierende Regeln nicht auf die Selbstorganisationsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG zurückgeführt werden könn" ten 93 . Auch wird darauf verwiesen, daß sie nicht den Gang des Verfahrens und die äußere Disziplin sichern sollen und deshalb keinen Bezug zum Geschäftsordnungsrecht aufwiesen 94. (2) Verhaltensregeln als Geschäftsordnungsrecht Als Begründung, warum es sich um Geschäftsordnungsrecht handele, verweist Kretschmer lediglich darauf, daß die Anlagen zur Geschäftsordnung auch dann Bestandteil der GOBT seien, wenn in Gesetzen auf sie verwiesen werde 95 . Haug weist darauf hin, daß die Verhaltensregeln zwei Zielrichtungen hätten. Vorrangig hätten sie eine das freie Mandat sichernde Funktion, indem sie verhinderten, daß der einzelne Abgeordnete sein Mandat zum eigenen finanziellen Vorteil ausnutze96. Die Anzeigepflichten verhinderten aber auch, daß durch finanzielle Abhängigkeiten eine Interessenmanipulation im Parlament entstehen könne und so die Grundvorstellung von einer freiheitlich-repräsentativen Volks-
recht und Parlamentspraxis, 1989, § 15 Rz. 72; Kretschmer , in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 57; Walter Wiese , Das Amt des Abgeordneten, AöR 101 (1976), S. 548 (572 f.); Haug. , Bindungsprobleme, S. 107 f., der sie allerdings nur „in zweiter Linie" von der Leitfiinktion der Geschäftsordnung getragen sieht. 91 Schlosser , Verhaltensregeln, S. 6. 92 Hermann Butzer , Die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten, ZParl 1993, S. 384 (387); Troßmann/ Roll, Ergänzungsband, § 18 Rz. 4; Heinrich RitzelÄJoseph Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand: Juli 1995, § 18 Anm. d); Hans-Achim Roll, Verhaltensregeln, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 19 Rz. 21. 93 Ritzel/Bücker, § 18 Anm. b) und d). 94 Schlosser, Verhaltensregeln, S. 6. 95 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 57. 96 Haug, Bindungsprobleme, S. 107
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Vertretung konterkariert werde 97 . Daher seien die Verhaltensregeln notwendig, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu erhalten, und stünden wegen ihrer Reinigungswirkung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem parlamentarischen Verfahren 98. Eine Regelung in der Geschäftsordnung sei daher möglich, wenn auch nicht zwingend 99 . (3) Stellungnahme Die Aussage, daß Geschäftordnungsrecht Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht konkretisieren dürfe und die Verhaltensregeln daher nicht auf Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gestützt werden könnten, ist in dieser Allgemeinheit unzutreffend. Zahlreiche Geschäftsordnungsregeln konkretisieren das freie Mandat, ohne daß ihre Zugehörigkeit zum Geschäftsordnungsrecht umstritten wäre. Hierzu zählen etwa Redezeitbeschränkungen, das parlamentarische Ordnungsrecht oder die kollektive Ausgestaltung parlamentarischer Antragsrechte 100. Bisher ist in diesem Bereich die Forderung nach einer gesetzlichen Regelung unter Hinweis auf Art. 38 Abs. 3 GG noch nicht aufgekommen. Von diesen Geschäftsordnungsbestimmungen unterscheiden sich die Verhaltensregeln allerdings insofern, als sie nicht das Verhalten des Abgeordneten innerhalb des parlamentarischen Verfahrens steuern wollen, sondern eben gerade Anforderungen an sein Verhalten außerhalb des Parlaments stellen 101 . Zwischen diesen Verhaltenspflichten und dem parlamentarischen Verfahren besteht auch kein unmittelbarer Zusammenhang, denn dieses funktioniert ganz unabhängig von eventuellen Interessenkollisionen bei einzelnen oder mehreren Parlamentariern. Krause treibt diese Erkenntnis ebenso pointiert wie polemisch auf die Spitze, indem er ausfuhrt: „Gesetze beschließen und Regierungsämter besetzen, kann ein durch und durch korruptes Parlament möglicherweise ,besser' als ein Parlament aus Ehrenmän-
97
Haug, Bindungsprobleme, S. 107 f. Haug, Bindungsprobleme, S. 108; ebenso Walter Wiese, Das Amt des Abgeordneten, AöR 101 (1976), S. 548 (573). 99 Haug, Bindungsprobleme, S. 108, daneben hält Haug wegen der von ihm vertretenen Wahlfreiheit des Parlaments bei der Regelung seiner Geschäftsordnungsangelegenheiten eine gesetzliche Regelung für möglich. 100 Weitere Einzelheiten zur konkretisierenden Wirkung der GOBT in Bezug auf Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, siehe unten Kapitel 5 Abschnitt 2 und Kapitel 8 Abschnitt 3 B III 2 b). 101 Troß mann/Roll, Ergänzungsband, § 18 Rz. 2. 102 Peter Krause, Freies Mandat und Kontrolle der Abgeordnetentätigkeit, DÖV 1974, S. 325 (326). 98
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Dementsprechend verfolgen die Verhaltensregeln auch nicht den Zweck, das parlamentarische Verfahren zu sichern. Vielmehr sollen sie verhindern, daß einzelne Abgeordnete sich bei der Ausübung ihres Amtes von monetären Interessen leiten lassen. Nach Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ist ein Bundestagsabgeordneter Vertreter des ganzen Volkes und an Weisungen und Aufträge nicht gebunden. Dies setzt voraus, daß sich kein Abgeordneter dafür bezahlen läßt, daß er von seinem Mandat in einer bestimmten Weise Gebrauch macht. Dem polemischen aber die Meinung vieler Stammtische wiedergebenden Zwischenruf: „Aber an Überweisungen ist er gebunden!" 103 , wollen die Verhaltensregeln entgegenwirken. Sie dienen daher dem Schutz des freien Mandats, wie es in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG angelegt ist. Mit ihnen werden Verhaltenspflichten eingeführt, die die berufliche oder private Existenz des einzelnen Abgeordneten betreffen, ohne zugleich in einem durch die Sache begründeten Zusammenhang mit dem parlamentarischen Verfahren zu stehen104. Indem sie an das Verhalten des Abgeordneten außerhalb der parlamentarischen Verhandlung anknüpfen, betreffen sie Statusfragen, für deren Regelung der Geschäftsordnungsgeber nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG nicht kompetent ist. Es handelt sich bei den Verhaltensregeln daher nicht um Geschäftsordnungsrecht. b) Erfordernis gesetzlicher Regelung Aus Art. 38 Abs. 3 GG ergibt sich, daß die Auferlegung von Verhaltenspflichten für Abgeordnete außerhalb des parlamentarischen Raums nicht dem Selbstorganisationsrecht des Bundestages zugewiesen ist, sondern eine Regelung nur durch Bundesgesetz erfolgen kann, wobei unter einem Bundesgesetz ein formelles Gesetz gemeint ist 1 0 5 . Aus der Gesetzessystematik folgt nämlich, daß sich Art. 38 Abs. 3 GG, der räumlich als eigener Absatz hinter den Bestimmungen zum Wahlverfahren und zur Stellung der Abgeordneten steht, auch auf die Ausgestaltung der in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG festgeschriebenen Grundsätze des Abgeordnetenverhältnisses bezieht 106 .
103 Zwischenruf des Abgeordneten Ströbele (Die Grünen), anläßlich der zweiten und dritten Beratung eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes Drucksache 10/5734 - und weiterer Gesetze am 10.12.1986, Sten.Ber. 10.WP, 225.Sitzung, 10.12.86, S. 19854 A. 104 Troßmann/ Roll, Ergänzungsband, § 18 Rz. 2. 105 Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 27, insbesondere Fußnote 8; Schlosser , Verhaltensregeln, S. 66. 106 Theodor Maunz , in: Maunz/Dürig, Art. 38 Rz. 71; Ingo v. Münch , in: v. Münch/ Kunig, Art. 38 Rz. 82; Troß mann! Roll, Ergänzungsband, § 18 Rz. 2; Roll, in: Schneider/Zeh, § 19 Rz. 21; Schlosser, Verhaltensregeln, S. 55 f.
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Eine gesetzliche Ausgestaltung des Abgeordnetenverhältnisses ist durch das Abgeordnetengesetz vom 18. Februar 1977 107 erfolgt, das am 21. Februar 1996 neu bekanntgemacht wurde 108 . Dieses Gesetz delegiert 109 mit § 44 a AbgG einen Teil dieser Ausgestaltungsbefugnis - nämlich das Recht, Verhaltensregeln zu erlassen - an das Parlament als Geschäftsordnungsgeber, mit der Folge, daß dieses entsprechende Regelungen außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens und ohne die Mitwirkung der im Gesetzgebungsverfahren zu beteiligenden anderen Verfassungsorgane - insbesondere des Bundesrates - schaffen kann 110 . Die Verfassungsmäßigkeit dieser Verfahrensweise wurde bislang nicht in Frage gestellt. Vielmehr wurde dieses Verfahren als flexibel und der Sache angemessen gelobt 1 1 1 .
c) Unzulässigkeit der Delegation auf den Geschäftsordnungsgeber Wie sich aus Art. 80 Abs. 1 GG und aus den Grundsätzen der Verleihung von Satzungsautonomie ergibt, ist zwar eine Delegation grundsätzlich möglich 1 1 2 . Der Bundestag kommt aber als staatliches Organ nicht als Träger von Satzungsautonomie in Frage 113 und zählt auch nicht zu den in Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG abschließend114 aufgezählten möglichen Adressaten, die zum Erlaß einer Rechtsverordnung ermächtigt werden können 115 .
107
BGBl. I S. 297. BGBl. I S. 326 109 Es handelt sich ganz unproblematisch um eine Delegation, da eine neue Zuständigkeit geschaffen wird. Zum Unterschied zwischen Delegation und Mandat unten Kapitel 4 Abschnitt 5 D II 2. 110 Roll, in: Schneider/Zeh, § 19 Rz. 21. 111 Troßmann/Roll, Ergänzungsband, § 18 Rz. 4 f.; Roll, in: Schneider/Zeh § 19 Rz. 21; Ritzel/Bücker, § 18 Anm. c und d. 112 Ob Art. 38 Abs. 3 GG es tatsächlich zuließe, daß ein anderes Organ der Exekutive per Satzung den Abgeordnetenstatus näher bestimmen dürfte, erscheint zwar im Hinblick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz eher zweifelhaft, kann aber in diesem Zusammenhang dahinstehen. 113 Vgl. oben Kapitel 1 Abschnitt 1. 114 Allgemeine Meinung: vgl. BVerfGE 8, 155 (163); Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 80 Rz. 38; Ulrich Ramsauer, in: Alternativkommentar, 2. Auflage, 1989, Art. 80, Rz. 43, jeweils m.w.N. 115 Daher kommt es auch nicht darauf an, ob die Verhaltensregeln im rechtstechnischen Sinne eine Rechtsverordnung sind. 108
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Gleichwohl herrscht die Ansicht vor, die als solche erkannte Übertragung der gesetzgeberischen Befugnis, den Abgeordnetenstatus auch außerhalb des Parlaments qua Verhaltensregeln auszugestalten, sei nicht zu beanstanden116. Die Begründungen hierfür vermögen indes alle nicht zu überzeugen.
aa) Kein Selbstorganisationsrecht Besonders wenig einleuchtend ist die Aussage, die Übertragung sei zulässig, weil der Bundestag im Bereich seiner eigenen Organisation berechtigt sein müsse, neue Formen der Rechtssetzung zu entwickeln 117 . Denn wenn die Verhaltensregeln den Bereich der eigenen Organisation des Bundestages beträfen, so hätten sie auf der Grundlage von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG ergehen können und es bedürfte keines § 44 a AbgG. Gerade dies ist aber nicht der Fall.
bb) Kein Selbstreinigungsrecht Fehl geht auch die sowohl im Parlament 118 als auch in der Literatur 119 vorfindliche Auffassung, die Delegation an den Geschäftsordnungsgeber sei deshalb zulässig, weil es um die Selbstreinigung des Parlamentes gehe. Abgesehen davon, daß auch der Begriff der Selbstreinigung nahelegt, daß es sich um eine Materie handelt, die ohnehin zum Selbstorganisationsrecht zählt, übersieht diese Ansicht, daß sich der Status des einzelnen Abgeordneten nicht allein über das Parlament definiert, sondern er dem Parlament gegenüber als Träger eigener Rechte und Kompetenzen auftritt 120 . Diese zu beschneiden kommt dem Parlament nur zu, soweit dieses verfassungsmäßig hierzu ermächtigt ist. Für die Verhaltensregeln aber fehlt es gerade an einer Ermächtigung hierfür, da Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG nicht einschlägig ist.
116
Ritzel/Bücker, § 18 Anm. c) und d); Troß mann/Roll, Ergänzungsband, § 18 Rz. 4 ff.; Roll, in: Schneider/Zeh, § 19 Rz. 21; Schlosser, Verhaltensregeln, S. 65 ff.; Haug, Bindungsprobleme, S. 107 f. 117 Troßmann/Roll, Ergänzungsband, § 18 Rz. 4. 118 So der Vorsitzende des Geschäftsordnungsausschusses Schoettle, Sten.Ber. 6. WP, 198. Sitzung, 21.9.1972, S. 11698 D. 119 Haug, Bindungsprobleme, S. 108. 120 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 4.
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cc) Verstoß gegen den Gesetzesvorbehalt Eine gesetzliche Regelung erscheint auch unter dem Gesichtspunkt der vom Bundesverfassungsgericht aus dem Gesetzesvorbehalt entwickelten Wesentlichkeitstheorie erforderlich 121 . Danach ist der Gesetzgeber verpflichtet, in grundlegenden normativen Bereichen, die staatlicher Regelung zugänglich sind, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen 122 . Nicht zu Unrecht wird die Wesentlichkeitsformel als „Leerformel" 123 bezeichnet, weil sie aus sich selbst heraus nicht imstande ist, zu erklären, was „wesentlich" ist und was nicht. Sie drängt daher nach Konkretisierung 124 . Das Bundesverfassungsgericht stellt insbesondere darauf ab, ob etwas wesentlich für die Verwirklichung von Grundrechten ist. Dieser Ansatz fuhrt allerdings im Zusammenhang mit Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht weiter, da es sich hierbei nicht um ein Grundrecht handelt. Immerhin könnte aber ein formelles Gesetz erforderlich sein, wenn die Verhaltensregeln wesentlich für den grundgesetzlich geschützten Abgeordnetenstatus sind. Allerdings liegt mit § 44 a AbgG ja ein formelles Gesetz vor. Dieses enthält in Absatz 2 auch durchaus detaillierte Vorgaben für den Geschäftsordnungsgeber, so daß insoweit eine Regelung des „Wesentlichen" durch den Gesetzgeber erfolgt sein könnte. Möglicherweise läßt die Art der zu treffenden Entscheidung aber überhaupt keine Delegation in diesem Bereich zu. Dies könnte sich aus einem Kriterium ergeben, das das Bundesverfassungsgerichts in seiner Diätenentscheidung herausgearbeitet hat. Danach verlangen das demokratische und das rechtsstaatliche Prinzip (Art. 20 GG), daß bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache „der gesamte Willensbildungsprozeß für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird. Denn dies ist die einzige wirksame Kontrolle" 125 . Daraus folgt, daß sich die Wesentlichkeit einer Angelegenheit nicht nur nach der inhaltlichen Bedeutung der jeweiligen Entscheidung richtet, sondern auch danach, inwieweit ein Bedürfnis für eine Ent-
121 Zu dieser ausfuhrlich Fritz Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 62 Rz. 33 ff. und 41 ff. m.w.N. 122 BVerfGE 33, 125 (163); 40, 237 (249); 49, 89 (126); 61, 260 (275); 77, 170 (230 f.). 123 Walter Krebs, Zum aktuellen Stand der Lehre vom Vorbehalt des Gesetzes, Jura 1979, S. 304(308). 124 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, § 62 Rz. 38. 125 BVerfGE 40, 296 (327).
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
Scheidung im Wege des öffentlichkeitsorientierten besteht126.
Gesetzgebungsprozesses
Zwar ist es nicht unbedingt richtig, daß bei Entscheidungen des Parlamentes in eigener Sache die innerparlamentarische Kontrolle außer Kraft gesetzt ist und deshalb allein die Öffentlichkeit in der Lage ist, eine wirksame Kontrolle auszuüben. So hat es etwa bei der jüngsten Debatte über die Diätenerhöhung 127 nicht an kritischen Stimmen aus den Reihen der Parlamentarier, insbesondere solcher der Opposition, gefehlt. Gleichwohl darf nicht übersehen werden, daß immer dann, wenn das Parlament in eigener Sache entscheidet, leicht der Eindruck der Selbstbegünstigung entsteht. Deshalb bedarf es zur Sicherung der nach dem demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzip geforderten Transparenz eines Verfahrens, daß ein Höchstmaß an Öffentlichkeit gewährleistet. Dies ist das Gesetzgebungsverfahren. Dabei genügt eine bloß formale gesetzliche Regelung, in der die Rechtssetzungsbefugnis auf den Geschäftsordnungsgeber delegiert wird, dem Gesetzesvorbehalt nicht. Delegiert das Parlament als das im Gesetzgebungsverfahren beschließende Organ (Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG) eine Kompetenz auf das Parlament als Geschäftsordnungsgeber, so kann dies allenfalls aus zwingenden Gründen erfolgen, anderenfalls liegt eine Umgehung des Gesetzesvorbehalts vor. Ein zwingender Grund läßt sich aber für die Delegation der Befugnis, Verhaltensregeln zu erlassen, nicht finden. Insbesondere das Argument der größeren Flexibilität spricht gegen und nicht für die Zulässigkeit dieses Vorgehens 128 . Die Verhaltensregeln sollen dem einzelnen Abgeordneten eine verbindliche Richtschnur für sein Verhalten geben. Dies setzt voraus, daß er die Regeln, die er einzuhalten hat, kennt. Schon aus diesem Grund erscheint es unangebracht, diesen Bereich allzu flexibel zu handhaben. Auch der Schutz des freien Mandates verlangt, daß nicht in einem eiligen Verfahren - wie es bei einer bloßen Geschäftsordnungsänderung möglich ist - auf öffentliche Stimmungen reagiert wird und so Regeln geschaffen werden, die sich im Nachhinein als ungeeignet und womöglich verfassungswidrig erweisen. Hinzu kommt, daß die Bevölkerung ein berechtigtes Interesse daran hat, zu erfahren, welcher Verhaltenskodex im Parlament gilt, um so zu einer realistischen Einschätzung
126 Hans Herbert v. Arnim , Zur Wesentlichkeitstheorie des Bundesverfassungsgerichts, DVB1. 1987, S. 1241 (1247). 127 Siehe nur die hitzigen Debatten vom 1. und 8. Dezember 1995 anläßlich der drei Lesungen eines Neunzehnten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes und eines Sechzehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes - BT-Drs. 13/3154 - Sten.Ber. 13. WP, 75. Sitzung, 1.12.1995, S. 6594 C ff. und Sten.Ber. 13. WP, 78. Sitzung, 8.12.1995, S. 6882 A ff. 128 Dieses Argument führen aber Troßmann/Roll, Ergänzungsband, § 18 Rz. 3 an.
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möglicher Interessenkonflikte zu gelangen. Dies bedeutet, daß die Verhaltensregeln in einem Verfahren zu erlassen sind, das größtmögliche Transparenz gewährleistet. Das transparenteste Verfahren, das das Grundgesetz vorsieht, ist aber gerade nicht die Geschäftsordnungsänderung, die durch schlichten Parlamentsbeschluß erfolgt, sondern das Gesetzgebungsverfahren für das das Grundgesetz selbst Mindestanforderungen aufstellt. Aus diesem Grund gilt für den Erlaß von Verhaltensregeln ein Totalvorbehalt, so daß eine Regelung in der GOßT nicht in Frage kommt.
dd) Unzulässiger Grundrechtseingriff Weiter ist zu bedenken, daß die Verhaltensregeln den Abgeordneten nicht allein in seinem verfassungsrechtlichen Status, sondern auch in seiner grundrechtlich geschützten Persönlichkeitssphäre treffen. Der Grundrechtsschutz des Bundestagsabgeordneten als Privatperson unterscheidet sich grundsätzlich nicht von dem jedes anderen Bürgers 129 . Daher steht ihm auch das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitete, in Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu 1 3 0 . Dieses Grundrecht, das das Recht des Bürgers umfaßt, selbst über die Preisgabe und die Verwendung persönlicher Daten zu entscheiden131, wird durch die Verhaltensregeln für Abgeordnete eingeschränkt. Insofern greifen die Verhaltensregeln über eine Konkretisierung des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG hinaus und betreffen den Parlamentarier in einem Bereich, in dem er den gleichen Schutz verdient wie jeder Staatsbürger. Unabhängig von der Frage, ob und inwieweit das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht als Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung i.S.d. Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG geeignet ist, das allgemeine Persönlichkeitsrecht einzuschränken, so darf es dies keinesfalls in einem Bereich, der von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG nicht abgedeckt ist. Der Versuch, dem Parlament im Bereich seines Selbstorganisationsrechts per Gesetz zusätzlichen Spielraum für grundrechtsbeschränkende Maßnahmen einzuräumen, ist mit der grundgesetzlich vorgesehenen Beschränkung dieses Rechtsfeldes auf jene Be-
129 Ritzel/Bücker, § 18 Anm. c); Peter Häberle, Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, NJW 1976, S. 537 (540). 130 Ritzel/Bücker, § 18 Anm. c). 131 BVerfGE 65, 1 (43).
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
reiche, die im Zusammenhang mit Parlamentsgeschäften stehen, nicht zu vereinbaren.
ee) Allgemeine Bedenken gegen gesetzliche Ausdehnung des Selbstorganisationsrechts Schließlich sprechen auch allgemeine Bedenken gegen eine gesetzliche Erweiterung des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts. Dies wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Parlament als Geschäftsordnungsgeber gerade vor Einflußnahmen des Gesetzgebers geschützt werden soll. Das Beispiel des § 44 a AbgG zeigt aber, daß mit der Delegation weiterer Befugnisse in der Regel auch der Versuch verbunden sein wird, deren geschäftsordnungsrechtliche Umsetzung gesetzlich zu determinieren. Dies zeigt bereits § 44 a Abs. 1 AbgG, der lautet: „Der Bundestag gibt sich Verhaltensregeln." Hiermit sollte dem Bundestag nicht nur das Recht, sondern zugleich die Pflicht auferlegt werden, Verhaltensregeln zu erlassen 132. Daß eine solche Verpflichtung des Geschäftsordnungsgebers per Gesetz nicht möglich ist, wurde oben bereits dargelegt 133 . Auch die Vorgaben, die § 44 a Abs. 2 GG dem Geschäftsordnungsgeber für die zu erlassenden Verhaltensregeln gibt, erscheinen vor dem Hintergrund der in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten Selbstorganisationsbefugnis problematisch. Bejaht man die Bindung des Parlaments als Geschäftsordnungsgeber an diese Vorgaben, so erscheint dies zwar auf den ersten Blick unproblematisch, da das Recht, sich Verhaltensregeln zu geben, eben nicht von der Selbstorganisationsgarantie erfaßt wird. Es stellt sich aber die Frage, ob sich im Falle einer gesetzlichen Erweiterung des Selbstorganisationsrechts, die Garantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG nicht auch auf den delegierten Bereich beziehen muß. Anderenfalls bestünde die Gefahr, daß der Geschäftsordnungsgeber in Teilen eben doch dem Einfluß anderer Staatsorgane ausgesetzt wird. Schließlich ist zu bedenken, daß das Grundgesetz, da es eine derartige Delegation nicht vorsieht, keine Kriterien dafür enthält, wann und unter welchen Umständen ein entsprechendes Vorgehen zulässig ist. Bei dieser unsicheren Rechtslage besteht die Gefahr, daß das Parlament, das ja auch der Hauptakteur im Gesetzgebungsverfahren ist, versucht, weitere Bereiche, die bisher nicht zu
132 133
Ritzel/Bücker , § 18 Anm. a); Schlosser , Verhaltensregeln, S. 87. Vgl. oben Kapitel 2 Abschnitt 2 IV.
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seinem Selbstorganisationsrecht zählen, per Gesetz an sich als Geschäftsordnungsgeber zu delegieren. Auf diese Weise hätte es unter Umständen die Möglichkeit, weitere Angelegenheiten, die mit der parlamentarischen Tätigkeit in irgendeinem Zusammenhang stehen, durch ein formelles Gesetz dem Geschäftsordnungsrecht zuzuweisen. So könnte es der Form halber einer vom Bundesverfassungsgericht angemahnten gesetzlichen Regelung genügen, tatsächlich aber im von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen Bereich des Selbstorganisationsrechts, durch einfache Beschlußfassung verfahren. Eine dem § 44 a AbgG entsprechende Vorschrift wäre etwa im Bereich der Parteienfinanzierung denkbar. Ansätze hierzu sind bereits erkennbar, indem der Bundestagspräsident durch §§ 19 ff. PartG in die staatliche Parteienfinanzierung eingeschaltet ist. Hierbei handelt es sich allerdings bislang lediglich um einen Fall zulässiger Organleihe, Rechtssetzungskompetenzen überträgt das Gesetz (noch) nicht. Macht das Beispiel des § 44 a AbgG Schule, so besteht die Gefahr der Rechtszersplitterung. Zudem gewinnt das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages hierdurch in Bereichen an Boden, die vom Grundgesetz gerade nicht dem Geschäftsordnungsgeber, sondern dem Gesetzgeber zugewiesen wurden. Eine derartige Aufweichung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung ist nicht hinnehmbar und auch nicht mit Praktikabilitätsgründen zu rechtfertigen.
d) Zwischenergebnis: Verfassungswidrigkeit von § 44 a AbgG und Verhaltensregeln Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß § 44 a AbgG und die in Anlage 1 der GOBT angefugten und durch § 18 GOBT inkorporierten Verhaltensregeln aus den genannten Gründen verfassungswidrig sind. Die Konsequenz hieraus ist, daß sich jeder Abgeordnete mit Erfolg in einem Organstreitverfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13, 63 ff. BVerfGG unter Berufung auf die Verletzung in seinem Abgeordnetenstatus gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gegen die ihm mit den Verhaltensregeln auferlegten Verpflichtungen zur Wehr setzen kann 134 .
134 Zu den Rechtsschutzmöglichkeiten im Bereich des Selbstorganisationsrechts ausführlich unten Kapitel 8.
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen 2. § 44 b AbgG
Aus den gleichen Gründen wie § 44 a AbgG stellt auch § 44 b AbgG eine unzulässige gesetzliche Erweiterung des Selbstorganisationsrechts dar. § 44 b GG bestimmt unter welchen Voraussetzungen Mitglieder des Bundestages auf eine mögliche Tätigkeit oder auf ihre politische Verantwortung für das Ministerium für Staatssicherheit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen DDR (MfS/AfNS) hin überprüft werden können. Nach Absatz 2 dieser Vorschrift findet eine Überprüfung ohne Zustimmung des Betroffenen statt, wenn der Geschäftsordnungsausschuß konkrete Anhaltspunkte für den Verdacht einer solchen Tätigkeit oder Verantwortung festgestellt hat. Nach Absatz 3 führt der Geschäftsordnungsausschuß das Überprüfungsverfahren durch, das der Bundestag gemäß Absatz 4 in Richtlinien festlegt. Eine Erweiterung des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts kann hierin zwar nur dann gesehen werden, wenn es nicht ohnehin zu den Rechten des Bundestages gehört, seine Mitglieder im Falle eines hinreichenden Verdachts auf ihre MfS/AfNS-Vergangenheit hin zu untersuchen. Allerdings wird bei solch einer Überprüfung nicht anders als bei den Verhaltensregeln an ein Verhalten angeknüpft, das seinen Ursprung außerhalb des parlamentarischen Bereichs hat. Deshalb kommt Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG als Anknüpfungspunkt nicht in Frage. Anders als bei den Verhaltensregeln geht es bei der Überprüfung eines Bundestagsabgeordneten auf seine MfS/AfNS-Vergangenheit jedoch um die Aufklärung eines konkreten Verdachtes. Eine entsprechende Überprüfung könnte deshalb Ausfluß des parlamentarische Untersuchungsrechts sein, das in Art. 44 GG seinen verfassungsrechtlichen Ausdruck gefunden hat. Mit dem parlamentarischen Untersuchungsrecht ist die Befugnis des Bundestages verbunden, bei Vorliegen eines öffentlichen Untersuchungsinteresses von hinreichendem Gewicht, parlamentarischen Gremien Überprüfungsaufträge zur Ermittlung von Sachverhalten zu erteilen, die die Integrität und die politische Vertrauenswürdigkeit des Bundestages berühren 135 . Der Verdacht, ein Mitglied des Bundestages könnte für den verbrecherischen Geheimdienst der DDR, einem Instrument der politischen Kontrolle und Unterdrückung der gesamten Bevölkerung, gearbeitet haben, ist evidenterweise in besonderem Maße dazu geeignet, das Vertrauen in das Repräsentationsorgan Bundestag zu zerstören. Auch ein öffentliches Untersuchungsinteresse ist in solch einem Fall anzunehmen136. Dem steht auch der den Abgeordnetenstatus bestimmende Grundsatz formaler 135 136
BVerfGE 94, 351 (367); BVerfGE 77, 1 (44). BVerfGE 94, 351 (368).
B. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Gesetz
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Gleichheit nicht entgegen, da dieser Grundsatz bei Vorliegen besonderer Gründe Differenzierungen zuläßt 137 . Daher ist zur Aufklärung eines entsprechenden Verdachts eine „Kollegialenquete" 138 grundsätzlich gestattet. Es hätte dem Bundestag insoweit freigestanden, zur Aufklärung dieses Verdachts einen Untersuchungsausschuß gemäß Art. 44 GG einzusetzen. Fraglich erscheint demgegenüber, ob er einen Parlamentsausschuß mit der Untersuchung betrauen durfte, der kein Untersuchungsausschuß ist, denn nach deutscher Parlamentstradition steht das Untersuchungsrecht zwar dem Parlament als Ganzem zu, kann von ihm aber, solange die Verfassung nichts anderes bestimmt 139 , nur durch besondere, von Fall zu Fall eingesetzte Ausschüsse ausgeübt werden 140 . Gleichwohl könnte das vom Bundestag gewählte Verfahren deshalb nicht zu beanstanden sein, weil dem Geschäftsordnungsausschuß bestimmte Kompetenzen, die einem Untersuchungsausschuß traditionell zustehen nicht eingeräumt wurden. So wurde etwa gezielt auf die Beweismittel des Zeugen» und Sachverständigenbeweises verzichtet und zur Überprüfung des Verdachtes lediglich Urkunden und Angaben des Betroffenen zugelassen141. Allerdings kann der Bundestag nicht durch eine Kombination aus gesetzlicher und geschäftsordnungsrechtlicher Regelungen einem ständigen Ausschuß die Befugnis übertragen, als eine Art gezähmter Untersuchungsausschuß einen Teil der parlamentarischen Untersuchungsrechte wahrzunehmen, ohne daß jemals ein Untersuchungsausschuß eingesetzt worden wäre. Dies zuzulassen bedeutete eine Umgehung von Art. 44 GG. Entgegen der hier vertretenen Auffassung hielt das Bundesverfassungsgericht das gewählte Verfahren insgesamt für unbedenklich, ohne sich mit der Unterscheidung zwischen gesetzgeberischer und geschäftsordnungsmäßiger Regelungsbefugnis auseinanderzusetzen142. Dies ist von seinem Standpunkt aus auch folgerichtig, da es von einer Formenwahlfreiheit des Bundestages ausgeht, solange nicht der Kernbereich der Selbstorganisationsgarantie betroffen ist 1 4 3 .
137
BVerfGE 94, 351 (369); BVerfGE 93, 195 (204). BVerfGE 94, 351 (369). 139 Eine besondere Bestimmung enthält das Grundgesetz für den Verteidigungsausschuß, Art. 45 a Abs. 2 GG. 140 BVerfGE 67, 100 (124 f.); Meinhard Schröder, Untersuchungsausschüsse, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 46 Rz. 1. 141 BVerfGE 94, 351 (369 f.); vgl. auch Bericht und Beschlußempfehlung des Geschäftsordnungsausschusses, BT-Drs. 12/1737. 142 BVerfGE 94, 351; im gleichen Sinne MVVerfG, L K V 1997, 94. 143 BVerfGE 70, 324 (361); siehe oben Kapitel 2 Abschnitt 2 A II. 138
5 Schwerin
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
Gleichwohl wird hierdurch der Geschäftsordnungsgeber nicht zum Gesetzgeber, weshalb es unzutreffend ist, wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt: „Nr. 1 Abs.4 der Richtlinien legt fest, daß die Einleitung eines Verfahrens nach § 44 b Abs. 2 AbgG sowie grundlegende Entscheidungen bei der Durchführung des Verfahrens mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Ausschußmitglieder getroffen werden. Hierdurch hat der Gesetzgeber - da die Zusammensetzung des 1 Ausschusses die Mehrheitsverhältnisse im Parlament widerspiegelt - im Rahmen seiner Entscheidungsbefugnis sichergestellt, daß alle den Abgeordneten belastenden Verfahrensschritte und Feststellungen nur mit einer Mehrheit getroffen werden können, die in der Regel eine Fraktion übergreift und auch die Opposition einbezieht." 144 Nicht der Gesetzgeber, sondern der Geschäftsordnungsgeber hat dieses Mehrheitserfordernis installiert und ist auf diese Weise schon deshalb der Bedeutung des Verfahrens für den Status des Abgeordneten gerade nicht gerecht geworden, weil es allein in der Hand der jeweiligen Mehrheit liegt, die Bestimmung durch einfachen Beschluß zu ändern. Abschließend ist daher festzuhalten, daß das gewählte Verfahren weder auf Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG gestützt werden kann noch einen Ausfluß des parlamentarischen Untersuchungsrechts darstellt und daher unzulässig in die verfassungsmäßig in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG garantierten Abgeordnetenrechte der betroffenen Parlamentarier eingreift.
3. Ausführungsbestimmungen
des Ältestenrates
Zahlreiche andere Vorschriften im Abgeordnetengesetz enthalten keine abschließenden Regelungen, werden aber nicht durch vom Bundestag beschlossene Richtlinien, sondern durch Ausführungsbestimmungen des Ältestenrates konkretisiert. § 34 Abs. 1 AbgG bestimmt deshalb: „Soweit durch Bundesgesetz dazu ermächtigt, kann der Ältestenrat Ausführungsbestimmungen zur Rechtsstellung der Mitglieder des Bundestages erlassen, die vom Präsidenten des Deutschen Bundestages im Amtlichen Handbuch veröffentlicht werden." Diese Fassung erhielt § 34 AbgG auf Betreiben des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Geschäftsordnungsausschuß) durch Gesetz vom 15. Dezember 1995 145 . Begründet wurde sie folgendermaßen: „§ 34
144 145
BVerfGE 94, 351 (371) (Hervorhebung vom Verfasser). BGBl. I, S. 1720; vgl. auch BT-Drs. 13/2340, S. 8.
B. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Gesetz
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Abs. 1 stellt einerseits klar, daß auch im Bereich des Abgeordnetengesetzes wie im Parlamentsrecht allgemein - eine Delegation von Entscheidungsbefugnissen zulässig ist, die im Falle der einzelnen Ermächtigungen auch vollzogen werden muß. Andererseits wird im Hinblick auf den Publizitätsgrundsatz für Rechtsvorschriften geregelt, wer zur Veröffentlichung innerparlamentarischer Rechtsvorschriften zuständig ist - nämlich der Präsident des Deutschen Bundestages - und welches Verkündungsblatt zu benutzen ist, nämlich das inzwischen für die Veröffentlichung von parlamentsrechtlichen Vorschriften mehrfach benutzte Amtliche Handbuch des Deutschen Bundestages"146. Die neue Vorschrift und insbesondere die Begründung, die für ihre Einführung gegeben wurde, zeigen deutlich, auf welchen rechtlichen Irrweg es führen kann, wenn die Delegation von Gesetzgebungszuständigkeiten auf den Geschäftsordnungsgeber oder einzelne Parlamentsorgane zugelassen wird. Daß es sich um eine Delegation von Gesetzgebungszuständigkeiten handelt, zeigt sich, wenn man die verschiedenen Regelungen betrachtet, zu denen Ausführungsbestimmungen erlassen werden können: § 12 Abs. 2 S. 4 AbgG betrifft die Anpassung der Kostenpauschale an die Lebenshaltungskosten und steht damit in unmittelbarem Zusammenhang mit der Abgeordnetenentschädigung (Art. 48 Abs. 3 S. 1 GG). Gemäß Art. 48 Abs. 3 S. 3 GG bedarf es daher einer bundesgesetzlichen Regelung. Gleiches gilt für § 12 Abs. 3 S. 4 AbgG, der es Ausführungsbestimmungen des Ältestenrates überläßt, Bestimmungen über Arbeitsverträge zu treffen, die Bundestagsabgeordnete mit ihren Mitarbeitern schließen und § 12 Abs. 5 S. 2 AbgG, der Ausführungsbestimmungen für Einzelheiten der Amtsausstattung betrifft. Ebenso fallen § 17 Abs. 4 S. 2 und Abs. 5 AbgG, die es dem Ältestenrat überlassen, Bestimmungen über Wegstreckenentschädigung und Reisekostenerstattung zu treffen, unter den Gesetzesvorbehalt des Art. 48 Abs. 3 S. 3 GG. Auch § 51 Abs. 1 AbgG, der es den Ausführungsbestimmungen des Ältestenrates überläßt, Bestimmungen zur Haushalts- und Wirtschaftsführung der Fraktionen zu erlassen, ist eine Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen des Gesetzgebers auf den Ältestenrat, da die Fraktionsfinanzierung keine Aufgabe des Selbstorgani-
146 Berichterstattung der Abgeordneten Andreas Schmidt (Mühlheim), Wilhelm Schmidt (Salzgitter), Simone Probst, Jörg van Essen und Dr. Dagmar Enkelmann, BTDrs. 13/2340, S. 11 (14).
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
sationsrechts ist 1 4 7 . Mit dem Erlaß von Ausführungsbestimmungen übernimmt der Ältestenrat daher eine Rechtssetzungsfunktion 148. Die pauschale Behauptung, daß die Delegation von Entscheidungsbefugnissen im Parlamentsrecht allgemein zulässig sei, ist sicherlich unzutreffend. Denn gerade inwieweit Entscheidungsbefugnisse des Bundestages auf Parlamentsorgane übertragen werden können, ist Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen 149 . Von der generellen Zulässigkeit kann nicht die Rede sein, da zumindest bestimmte außenwirksame Beschlüsse, insbesondere Gesetzesbeschlüsse, nach ganz herrschender Auffassung vom Plenum selbst getroffen werden müssen 150 . Hiervon auf die Zulässigkeit der Delegation von Entscheidungsbefugnissen durch das Abgeordnetengesetz zu schließen, erscheint daher problematisch. Dies um so mehr als es ja gerade nicht um eine Delegation im Bereich jenes Parlamentsrechts geht, das der Bundestag aufgrund von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG selbst zu regeln befugt ist, sondern um eine gesetzliche Delegation gesetzgeberischer Befugnisse. Adressat dieser Delegation ist ein Organ, das der Bundestag kraft seiner Selbstorganisationsgarantie geschaffen und bis heute beibehalten hat - der Ältestenrat. Ein solches Organ per Gesetz mit Rechtssetzungsbefugnissen zu betrauen, erscheint bereits deshalb unangebracht, weil es in der Hand des Bundestages liegt, dieses im Rahmen seines Selbstorganisationsrechts wieder abzuschaffen, mit der Folge, daß der Delegatar aufhörte zu existieren und so die Delegation leerliefe. Hinzu kommt, daß selbst wenn man eine Delegation von bestimmten Gesetzgebungskompetenzen an den Bundestag als Geschäftsordnungsgeber für möglich hielte, eine Delegation an den Ältestenrat erheblichen Bedenken begegnete, denn auch wenn der Ältestenrat ein Organ des Bundestages ist, so erhält er vermittels gesetzlicher Delegation im Anschluß an den Kreationsakt und unabhängig vom Willen des Plenums Befugnisse, die nicht einmal dem Bundestag insgesamt zustehen. Zudem verlangt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip gerade dann, wenn das Parlament in eigener Sache entscheidet - und um Entscheidungen in 147
Siehe auch unten Kapitel 2 Abschnitt 2 C. Harald Franke , Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages, 1987, S. 110. 149 Eingehend hierzu unten Kapitel 4 Abschnitt 5 D II. 150 BVerfGE 44, 308 (317); Wilfried Berg, , Zur Übertragung von Aufgaben des Bundestages auf Ausschüsse, Der Staat 9 (1970), S. 21 (25 f.); Kretschmer , in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 106. 148
B. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Gesetz
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eigener Sache geht es bei der näheren Ausgestaltung des Abgeordnetengesetzes daß der gesamte Willensbildungsprozeß vor den Augen der Öffentlichkeit stattfindet, da nur so eine wirksame Kontrolle gewährleistet ist 1 5 1 . Dieses Gebot der Öffentlichkeit der parlamentarischen Entscheidungsfindung aber ist bei der Delegation von Entscheidungsbefugnissen auf den Ältestenrat nicht einmal ansatzweise gegeben, da die Verhandlungen des Ältestenrates nach feststehender parlamentarischer Praxis vertraulich sind und selbst die Protokolle frühestens drei Wahlperioden nach ihrer Entstehung - und auch dies nur mit Zustimmung des Bundestagspräsidenten - zugänglich sind 152 . Es ist darüber hinaus verfehlt, wenn als Begründung für die Zulässigkeit der Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen auf den Ältestenrat durch das Abgeordnetengesetz auf die Organisationsfreiheit des Bundestages für den parlamentarischen Bereich abgestellt wird 1 5 3 . Die Konkretisierung gesetzlich vorgesehener Leistungen an Abgeordnete und die Schaffung entsprechender Verfahrensregeln zählt eben gerade nicht zu den inneren Angelegenheiten des Bundestages, wie Roll meint 154 . Es ist daher allein Sache des Gesetzgebers, entsprechende Festlegungen zu treffen 155 . Auch vor dem Hintergrund der notwendigen Publizität von Rechtsvorschriften sind die Ausfuhrungsbestimmungen eine problematische Regelungsform. § 34 Abs. 1 AbgG sieht lediglich die Veröffentlichung im Amtlichen Handbuch des Bundestages vor. Eine Veröffentlichung im Amtlichen Handbuch mag für Rechtsvorschriften, die der Bundestag auf dem Gebiet seines Selbstorganisationsrechts erläßt, ausreichend sein, da für die Publikation dieser Bestimmungen, anders als für Gesetze, keine grundgesetzlichen Formvorschriften bestehen und die Art und Weise der Veröffentlichung daher von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG mitumfaßt sein mag 156 . Das Amtliche Handbuch fungiert dann als eine Art 151 BVerfGE 40, 296 (327); vgl. bereits oben die Einwände gegen die Verhaltensregeln unter dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeitsteorie. 152 Hans-Achim Roll, Der Ältestenrat, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 28 Rz. 15 f. 153 So aber Roll, in: Schneider/Zeh, § 28 Rz. 55. 154 Roll, in: Schneider/Zeh, § 28 Rz. 53. 155 Die dargelegten Einwände treffen nicht erst auf § 34 AbgG in der geänderten Fassung zu; auch die ursprüngliche Fassung von § 34 AbgG, die lautete: „Der Ältestenrat kann Ausführungsbestimmungen zu diesem Gesetz erlassen.", war aus den genannten Gründen verfassungsrechtlich unhaltbar, wenngleich sie es wenigstens vermied, das Amtliche Handbuch als Verkündungsblatt festzuschreiben. 156 So Haug, Bindungsprobleme, S. 170 f.
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„Parlamentsamtsblatt" 157. Dies kann aber nicht für Vorschriften gelten, die wie die Ausführungsbestimmungen, gesetzesvertretende Funktion haben. Gesetze müssen gemäß Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG im Bundesgesetzblatt verkündet werden. Zwar bestimmt Art. 82 Abs. 1 S. 2 GG für Rechtsverordnungen, daß diese nur vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelungen im Bundesgesetzblatt verkündet werden müssen. Eine entsprechende gesetzliche Regelung könnte mit § 34 AbgG für Ausführungsbestimmungen gegeben sein. Nur handelt es sich bei diesen eben nicht um eine Rechtsverordnung, weil der Ältestenrat nicht als Verordnungsgeber in Betracht kommt (Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG). Auch eine Qualifikation als Satzung, für die andere Verkündungserfordernisse bestehen158, scheidet aus, da weder der Bundestag noch der Ältestenrat Selbstverwaltungskörperschaften sind, denen allein Satzungsgewalt zukommen kann 159 . Auch handelt es sich nicht um Verwaltungsvorschriften, da diese innerhalb der Exekutive von übergeordneten Stellen gegenüber nachgeordneten Stellen erlassen werden 160 . Scheitert damit die Einordnung in eine der herkömmlichen Rechtsquellenkategorien, so bleibt nur die Qualifikation als Rechtsnorm sui generis 161 . Diese zeichnet sich aber dadurch aus, daß sie gesetzesvertretenden Charakter hat. Daher können an sie keine geringeren Publizitätserfordernisse gestellt werden als an das Gesetz selbst, zumal eine Ausnahmebestimmung wie die in Art. 82 Abs. 1 S. 2 GG fehlt. Die Ausführungsbestimmungen müßten daher, selbst wenn sie rechtlich zulässig wären, im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden. Abgesehen von der generellen Unzulässigkeit von gesetzesvertretenden Ausführungsbestimmungen durch den Ältestenrat, erscheint § 34 Abs. 1 AbgG auch unter diesem Gesichtspunkt verfehlt.
4. Ergebnis: Unzulässigkeit der gesetzlichen Erweiterung des Selbstorganisationsrechts Abschließend läßt sich feststellen, daß eine gesetzliche Erweiterung des Bereichs, den das Parlament durch selbstgesetztes Recht regeln kann, weder verfassungsrechtlich zulässig noch wünschenswert ist. Dort wo es nicht um die Regelung von Parlamentsgeschäften geht, fehlt es an einer Begründung für die 157 158 159 160 161
Haug , Bindungsprobleme, S. 171. Vgl. Schneider , Gesetzgebung, 2. Auflage, 1991, Rz. 492 f.. Vgl. oben Kapitel 1 Abschnitt 1. Roll , in: Schneider/Zeh, § 28 Rz. 54. So auch Roll , in: Schneider/Zeh, § 28, Rz. 54.
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Rechtsverbindlichkeit parlamentarischen Selbstorganisationsrechts. Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG räumt dem Parlament die Möglichkeit ein, seine eigenen Angelegenheiten zu regeln. Wer meint, dieses Recht lasse sich durch Gesetze erweitern, verwischt den funktionellen Unterschied zwischen dem Parlament als Gesetzgeber und dem Parlament als Geschäftsordnungsgeber. Es ist daher geboten, dieser Erscheinung entschieden entgegenzutreten.
I I I . Deklaratorische Festlegung von Selbstorganisationsrecht in Gesetzesform Keine Bedenken bestehen gegen gesetzliche Vorschriften, die lediglich klarstellen, daß bestimmte Regelungsgegenstände dem Selbstorganisationsrecht zugehören. Bestimmungen dieser Art finden sich in dem Gesetz zur Änderung des Abgeordnetengesetzes (Fraktionsgesetz) vom 11. März 1994 162 . Durch dieses am 1. Januar 1995 in Kraft getretene Gesetz wurde in das Abgeordnetengesetz ein elfter Abschnitt eingefügt, der die Überschrift „Fraktionen" trägt 163 . Das Gesetz verfolgt den Zweck, die Rechtsstellung der Fraktionen zu klären und Einzelheiten hinsichtlich der Verwendung und Kontrolle der den Fraktionen zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel festzulegen 164. Ausweislich der Gesetzesbegründung ist es getragen von dem Bemühen, das Selbstorganisationsrecht („Geschäftsordnungsautonomie,,) des Parlaments zu wahren 165 . Dies ist mit Ausnahme der Regelung in § 51 Abs. 1 AbgG 1 6 6 gelungen. Zwar betreffen notwendigerweise eine Reihe von Bestimmungen dieses Gesetzes das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages. Dies ist aber unschädlich, da sie dieses weder einschränken noch erweitern, sondern lediglich klarstellenden Charakter haben.
162 BGBl. I S. 526; zum Fraktionsgesetz, vgl. Martin Morlok,, Gesetzliche Regelung des Rechtsstatus und der Finanzierung der Bundestagsfraktionen, NJW 1995, S. 29 ff. und Edzard Schmidt-Jortzig, Neue Rechtsgrundlage für die Bundestagsfraktionen, N V w Z 1994, S. 1145 ff. 163 Allgemein zum Recht der Fraktionen Sylvia Kürschner, Das Binnenrecht der Bundestagsfraktionen, 1995. 164 BT-Drs. 12/4756, S. 4. 165 BT-Drs. 12/4756, S. 5. 166 Wegen der Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen an den Ältestenrat, vgl. hierzu oben Kapitel 2 Abschnitt 2 B III.
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
Dies gilt etwa für den Eingangsparagraphen, § 45 AbgG, der bestimmt „(1) Mitglieder des Bundestages können sich zu Fraktionen zusammenschließen. (2) Das Nähere regelt die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages." Während Absatz 1 lediglich das bereits grundgesetzlich abgesicherte Recht der Bundestagsabgeordneten festschreibt, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen167, bedeutet der Verweis auf die Geschäftsordnung nur eine Bestätigung des gegenwärtigen Rechtszustandes, ohne daß hiermit eine Verpflichtung für den Geschäftsordnungsgeber verbunden wäre, insbesondere werden keine Voraussetzungen für die Bildung von Fraktionen aufgestellt. § 46 AbgG enthält Bestimmungen über die Rechtsstellung der Fraktionen. Er schreibt fest, daß diese rechtsfähig sind (Absatz 1), klagen und verklagt werden könne (Absatz 2) und nicht Teil der öffentlichen Verwaltung sind (Absatz 3). Abgesehen davon, daß auch dies im wesentlichen die Festschreibung bestehenden Rechts ist, ist das Selbstorganisationsrecht schon deshalb nicht betroffen, weil keine Regelungen über die Stellung der Fraktionen innerhalb des Parlaments getroffen werden. § 47 AbgG, der bestimmt, daß die Fraktionen an der Erfüllung der Aufgaben des Parlaments mitwirken (Absatz 1), mit Fraktionen anderer Parlamente zusammenarbeiten (Absatz 2) und die Öffentlichkeit über ihre Tätigkeit unterrichten können (Absatz 3), ist ebenfalls kein Eingriff in Positionen des Selbstorganisationsrechts. Daß die Fraktionen an der Erfüllung der Aufgaben des Parlaments mitwirken, entspricht geltendem Verfassungsrecht 168, die Zusammenarbeit von Fraktionen mit Fraktionen anderer Parlamente verläßt den Bereich des Selbstorganisationsrechts und auch die Bestimmung über die Öffentlichkeitsarbeit hat lediglich klarstellenden Charakter, da sie im Zusammenhang mit den Fraktionsaufgaben steht. § 48 AbgG verpflichtet die Fraktionen, ihre Organisation und Arbeitsweise auf den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie aufzubauen und an diesen auszurichten (Absatz 1) und bestimmt, daß sie sich eine Geschäftsordnung geben. Die Bindung an die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie wäre ein Eingriff in das Selbstorganisationsrecht (allerdings der Fraktionen), wenn sie nicht bereits aus dem Grundgesetz folgte. Diese Bindung könnte sich aus Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG ergeben, der bestimmt, daß die innere Ordnung der
167
BVerfGE 43, 142 (149); 70, 324 (354); 80, 188 (218); vgl. auch unten, Kapitel 4 Abschnitt 4 C. 168 BVerfGE 20, 56 (104); 80, 188 (231); vgl. auch Gesetzesbegründung, BT-Drs. 12/4756, S. 6.
B. Verhältnis von Selbstorganisationsrecht und Gesetz
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Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muß. Diese Bestimmung rechtfertigt sich daraus, daß die Parteien bei der Bildung des Parlaments, das demokratisch gewählt wird und demokratisch strukturiert sein muß, bestimmend mitwirken und deshalb auch die Parteien als „Rekrutierungspool" des Parlaments demokratisch aufgebaut sein müssen169. Dies muß dann aber auch und erst recht für die Fraktionen, die als „Parteien im Parlament" 170 sogar selbst Teile des Parlaments sind, gelten. Aus diesem Grund folgt die Bindung der Fraktionen an die Grundsätze der parlamentarischen Demokratie bereits aus Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG 1 7 1 , weshalb § 48 Abs. 1 AbgG lediglich deklaratorische Bedeutung hat. Auch § 48 Abs. 2 AbgG berührt die Selbstorganisationsgarantie nicht, da es den Fraktionen selbst überlassen bleibt, Regelungen zu ihrer inneren Organisation aufzustellen. Auch die übrigen Bestimmungen lassen das parlamentarische Selbstorganisationsrecht unberührt. Soweit sie den Bezug von Geld- und Sachleistungen aus dem Bundeshaushalt betreffen (§ 50 AbgG) 1 7 2 , handelt es sich um keine Regelung, die von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG erfaßt ist, da die Verfügung über staatliche Mittel zur Fraktionsfinanzierung über den Bereich der parlamentarischen Selbstorganisation hinausreicht, da die Haushaltskompetenz der Regierung tangiert wird und außerdem die Finanzierung der Staatsorganisation 173 keine Parlamentsaufgabe ist 1 7 4 . Gleiches gilt für die eng hiermit verbundenen Regelungen der Haushalts- und Wirtschaftsführung (§ 51 AbgG), der Rechnungslegung (§ 52 AbgG) und der Rechnungsprüfung (§ 53 AbgG). Auch die in § 50 Abs. 4 AbgG angeordnete Vorgabe, daß die Mittel nur für solche Aufgaben verwendet werden dürfen, die den Fraktionen nach dem Grundgesetz, dem Abgeordnetengesetz oder der GOBT obliegen, stellt keinen Eingriff in das 169
Ingo v. Münch, in: v.Münch/Kunig, Art. 21 Rz. 54; Kürschner, Binnenrecht,
S. 64. 170 Peter Badura, in: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung 1966, Art. 38 Rz. 77; Claus Arndt, Fraktion und Abgeordneter, in: Schneider/Zeh, § 21 Rz. 20; Gerald Kretschmer, Fraktionen - Parteien im Parlament, 2. Auflage, 1991. 171 Ebenso Wolf-Dieter Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, 1968, S. 200; Hans-Josef Vonderbeck, Fraktionsentscheidungen in Kommunalvertretungen, ZParl 1975, S. 294 (296); Kürschner, Binnenrecht, S. 65; auf die Frage, ob Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG direkte oder analoge Anwendung findet, kommt es im vorliegenden Zusammenhang nicht an. 172 Zu verfassungsrechtlichen Bedenken gegen § 50 AbgG, vgl. Florian Becker, Defizite im Fraktionsgesetz des Bundes: § 50 AbgG, ZParl 1996, S. 189 ff. 173 Die Bereitstellung von Fraktionszuschüssen gehört zur Finanzierung der Staatsorganisation, vgl. BVerfGE 62, 194 (202). 174 Zur rechtlichen Zulässigkeit der Fraktionsfinanzierung, BVerfGE 20, 56 (104); 62, 194(202); 80, 188 (231).
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Zweites Kapitel: Verhältnis zu anderen Rechtsquellen
Selbstorganisationsrecht dar, da sie lediglich eine Wiederholung verfassungsrechtlicher Grundsätze der Fraktionsfinanzierung darstellt 175 . Insgesamt läßt sich also feststellen, daß die durch das Fraktionsgesetz in das Abgeordnetengesetz eingefügten Bestimmungen, obwohl sie zahlreiche Bezüge zum Geschäftsordnungsrecht des Bundestages aufweisen, das Selbstorganisationsrecht weder erweitern noch beschränken, sondern lediglich deklaratorisch wirken und zwar in dem Sinne, daß sie erklären, daß bestimmte Rechtsmaterien dem Selbstorganisationsrecht zugehören, ohne inhaltliche Vorgaben festzuschreiben. Über den Sinn solcher Gesetzesbestimmungen, die lediglich deklaratorische Feststellungen über Fragen des Selbstorganisationsrecht enthalten, mag man streiten. Sie mögen vereinzelt eine klarstellende Funktion ausüben und der Vereinfachung bei der Rechtsanwendung und -auslegung dienen können. Vor dem Hintergrund von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG sind sie jedenfalls ohne weiteres zulässig, da gesetzlich keine Bestimmungen getroffen werden, die nicht ohnehin bereits verfassungsrechtlich determiniert sind.
175 Vgl. BVerfGE 80, 188 (231), worauf auch die Gesetzesbegründung Bezug nimmt, BT-Drs. 12/4756, S. 7.
Drittes Kapitel
Reichweite des Selbstorganisationsrechts
A. Die GOBT - Parlamentarisches Innenrecht? Kaum eine parlamentarische Abhandlung verzichtet darauf darzulegen, daß es sich bei jenem Recht, das das Parlament aufgrund seines Selbstorganisationsrechtes erläßt - insbesondere der kodifizierten parlamentarischen Geschäftsordnung - um Innenrecht handele, das keine Außenwirkung zu entfalten vermöge 1. Diese Auffassung findet sich auch in einem der ersten Urteile des Bundesverfassungsgerichts wieder, in dem es heißt: „Die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ist eine autonome Satzung. Ihre Bestimmungen binden nur die Mitglieder des Bundestages."2 Allerdings fällt auf, daß das Bundesverfassungsgericht diese Äußerung, obgleich es mehrfach Gelegenheit dazu gehabt hätte, nicht wiederholt hat. Nach der Definition von Rupp bezeichnet der Begriff des Innenrechts jenen Rechtsbereich, der ausschließlich den organschaftlichen Funktionsablauf zwischen Organismus, Organen und Organwaltern betrifft. Außenrecht bezeichnet er als jene Rechtsbeziehungen, durch die das Verhältnis von Verwaltungsorganisationen zu Subjekten, die keine Organfunktion wahrnehmen, bestimmt wird 3 . Dieser sogenannte Innenbereich läßt sich weiter untergliedern in einen Inter- und einen Intraorganbereich, wobei der Interorganbereich die Rechtsbeziehungen zwischen, der Intraorganbereich die innerhalb von Organen betrifft 4 . Ganz im Sinne dieser Definition führt Achterberg für die Parlamentsgeschäftsordnung aus: „Die Parlamentsgeschäftsordnung ist parlamentarische 1
Z.B. Norbert Achterberg, , Parlamentsrecht, 1984, S. 59; Karl Friedrich Arndt , Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 64 f.; Friedrich Schäfer , Der Bundestag, 4. Auflage, 1982, S. 64. 2 BVerfGE 1, 144(148). 3 Hans Heinrich Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, 1965, S. 34; ähnlich Friedrich E. Schnapp, Dogmatische Überlegungen zu einer Theorie des Organisationsrechts, AöR 105 (1980), S. 243 (251). 4 Schnapp, AöR 105 (1980), S. 243 (253).
Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
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Innenrechtsnorm oder - um die Dichotomie innen/außen zu vermeiden - intraparlamentarische Rechtsnorm, weil ihre Normvalenz sich lediglich auf OrganUnterorgan-, Organ-Organwalter- sowie Unterorgan-Unterorgan erstreckt, anders ausgedrückt: sich ihr Regelungsbereich nur auf die intraparlamentarischen rechtlichen Beziehungen zwischen dem Parlament und seinen Organen, dem Parlament und den Abgeordneten als seinen Organwaltern sowie den Organen des Parlaments, die zugleich Unterorgane der Organisation Staat sind" 5 . Diese Qualifikation erscheint aber durchaus zweifelhaft. Abgesehen von der allgemeinen Fragwürdigkeit des Wertes der Unterscheidung zwischen Innenund Außenrecht 6, enthält die GOBT auch solche Bestimmungen, die darauf schließen lassen, daß sie zumindest nach der Intention des Geschäftsordnungsgebers über den parlamentsinternen Bereich hinausgreifen soll. Vereinzelt wird deshalb auch die Beschränkung der Bindungskraft der GOBT auf die Parlamentarier und die Parlamentsorgane angezweifelt 7. So gibt es Vorschriften, die nicht dem Bundestag angehörende Personen betreffen. Diese unterstehen als Zuhörer gemäß § 41 Abs. 1 GOBT der Ordnungsgewalt des Bundestagspräsidenten bzw. gemäß § 59 Abs. 3 GOBT des Ausschußvorsitzenden. Außerdem können Bürger als Sachverständige, Interessenvertreter oder andere Auskunftspersonen gemäß § 70 Abs. 1 S. 1 GOBT zu öffentlichen Anhörungen herangezogen werden, als Mitglieder einer EnquêteKommission gemäß § 56 Abs. 1 S. 1 GOBT parlamentarische Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe vorbereiten helfen oder als Zeugen vor Untersuchungsausschüsse geladen und vernommen werden. In all diesen Fällen stellt sich die Frage, inwieweit die GOBT geeignet ist, verbindliche Regeln für diese Personen aufzustellen. Neben Privatpersonen und Abgeordneten findet sich auch die Bundesregierung als Adressat von Geschäftsordnungsbestimmungen. Dies betrifft insbesondere die §§ 100 ff. GOBT, die das Interpellationsrecht regeln. Hier stellt sich die Frage, ob diese Bestimmungen die Bundesregierung in einer Weise binden, die sie zur Beantwortung parlamentarischer Anfragen anhält.
5
Achterberg, Parlamentsrecht, S. 59. Siehe nur die Ausführungen von Schnapp, AöR 105 (1980), S. 243 (254 ff.), zur Multifunktionalität von Rechtssätzen und der Standortbedingtheit rechtlicher Qualifikationen. 7 Hans-Peter Schneider, in: Alternativkommentar, 2. Auflage, 1989, Art. 40 Rz. 10; Gerald Kretschmer, Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Bereich, ZParl 1986, S. 334 (341); Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1984, S. 110 ff. 6
B. Bindung des Bürgers
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B. Bindung des Bürgers Der Bürger kommt im parlamentarischen Selbstorganisationsrecht entweder als Zuhörer, als Auskunftsperson bei öffentlichen Anhörungen, als Mitglied einer Enquete-Kommission oder als Zeuge vor einem Untersuchungsausschuß vor.
I. Als Zuhörer Das Grundgesetz schreibt in Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG vor, daß der Bundestag öffentlich verhandelt. Dementsprechend wird im Rahmen der räumlichen Kapazität Privatpersonen der Zutritt zu einem Teil des Sitzungssaals, den sogenannten Tribünen, gestattet. Das Publikum ist lediglich zum Zuhören berechtigt. Es hat deshalb kein Recht, die Verhandlung durch Unterhaltungen, Beifalls- und Mißfallensäußerungen oder sonstige Kundgebungen zu stören 8. Gleichwohl kommt es in unregelmäßigen Zeitabständen - insbesondere bei politisch brisanten Beratungsgegenständen - zu Störungen durch die Zuhörer, die dann vom Bundestagspräsidenten entweder durch Ermahnung 9, durch Verweisung aus dem Saal 10 oder in sonstiger Weise 11 beendet werden. Das Recht des Bundestagspräsidenten, gegen störende Zuhörer vorzugehen, findet in § 41 Abs. 1 GOBT seine geschäftsordnungsmäßige Grundlage. Danach unterstehen Zuhörer der Ordnungsgewalt des Präsidenten. Als Rechtsgrundlage hierfür wird überwiegend das Hausrecht und nicht das parlamentarische Ordnungsrecht angesehen12. Diese Auffassung entspricht der
8
Heinrich Ritzel/.Joseph Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand Juli 1995, Vorbem. §§ 36-41 Anm. 2; Reinhart Vogler, Die Ordnungsgewalt der deutschen Parlamente, 1926, S. 51. 9 Vgl. Sten.Ber. 12. WP, 238. Sitzung, 30.6.1994, S. 20985 C. 10 Vgl. Sten.Ber. 12. WP, 242. Sitzung, 7.9.1994, S. 21442 D. 11 Vgl. Sten.Ber. 11. WP, 138. Sitzung, 21.4.1989, S. 10224 B (Anordnung zur Entfernung eines Transparentes von der Tribüne. 12 Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 119; Joseph Bücker, Das parlamentarische Ordnungsrecht, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 34 Rz. 5; Hans Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, § 45 Rz. 2.2; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 652; Ludger-Anselm Versteyl, Der Bundestagspräsident und die parlamentarische Disziplinargewalt, NJW 1983, S. 379 (380); Wolfgang Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 43 Rz. 38; für das Kaiserreich Hermann F. Schmid,
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
der herrschenden Meinung zugrundeliegenden Prämisse, wonach Geschäftsordnungsbestimmungen als reines Innenrecht für Nicht-Parlamentarier keine Bindungswirkung entfalten dürfen. Die Ausübung des Hausrechts durch den Bundestagspräsident findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG, wonach dieser im Gebäude des Bundestages das Hausrecht und die Polizeigewalt ausübt. Auf diese Befugnisse nimmt § 7 Abs. 2 GOBT Bezug, der bestimmt, daß Hausrecht und Polizeigewalt in den Gebäuden des Bundestages dem Bundestagspräsidenten zustehen und dieser im Einvernehmen mit dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung eine Hausordnung erläßt. Die auf dieser Grundlage am 11.7.1975 nach längerer Beratung erlassene Hausordnung 13 enthält eine Reihe von Bestimmungen zur Art und Weise der Ausübung des Hausrechts und konkretisiert so Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG. Diese Hausordnung enthält aber keine expliziten Bestimmungen über den Umgang mit Zuhörern während einer Plenarsitzung. Statt dessen unterstellt die GOBT die Zuhörer in § 41 GOBT, der in keinem Zusammenhang zu § 7 Abs. 2 GOBT oder der Hausordnung steht, sondern gemeinsam mit den §§ 36 bis 40 GOBT die Art und Weise bestimmt, wie der Präsident seiner in § 7 Abs. 1 S. 2 GOBT normierten Verpflichtung zur Wahrung der Ordnung im Hause, nachzukommen hat. Die GOBT unterscheidet demnach zwischen Ordnungsgewalt und Hausrecht. Fraglich erscheint, ob diese Unterscheidung auch in Bezug auf die Zuhörer zutreffend ist. Das Hausrecht umfaßt alle Befugnisse, die sich aus dem Eigentum der öffentlichen Hand an Gebäuden und Grundstücken des Bundestages ergeben 14. Zum Hausrecht zählt daher der fiskalische Bereich und die Hausordnungsgewalt. Aufgrund der Hausordnungsgewalt entscheidet der Bundestagspräsident etwa über den Zutritt zu den Gebäuden des Bundestages (§§2 und 3 Hausordnung), die Verhaltensregeln für Besucher in diesen Gebäuden (§ 5 Hausordnung) und Benutzungsregeln für die Bundestagsbibliothek und das Bundestagsarchiv (§ 4 Hausordnung). Wer der Aufforderung des Bundestagspräsidenten,
Parlamentarische Disziplin, AöR 32 (1914), S. 439 (567); für die WRV Reinhart Vogler , Die Ordnungsgewalt der deutschen Parlamente, 1926, S. 51. 13 Abgedruckt bei Ritzel/Bücker, Anlage zu § 7 Abs. 2 GOBT. 14 Norbert Achterberg/Martm Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 3. Auflage, 1991, Art. 40 Rz. 63; Schneider , in: Alternativkommentar, Art. 40 Rz. 13; Versteyl , in: v. Münch/Kunig, Art. 40 Rz. 23.
B. Bindung des Bürgers
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das Haus zu verlassen, nicht nachkommt, begeht einen Hausfriedensbruch gemäß § 123 StGB, Verstöße gegen sonstige Anordnungen des Präsidenten sind Ordnungswidrigkeiten gemäß § 112 0WiG. Zur Durchsetzung seiner Anordnungen bedient sich der Bundestagspräsident Ordnungspersonals, das gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 Hausordnung die Aufgabe hat, die zum Schutz der parlamentarischen Arbeit erforderlichen Ordnungs- und Sicherungsaufgaben durchzuführen und gemäß § 6 Abs. 2 Hausordnung zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung unmittelbaren Zwang anwenden darf. Die Befugnisse des Bundestagspräsidenten aufgrund seiner Hausordnungsgewalt sind an sich auch geeignet, gegen Zuhörer während einer Plenarsitzung eingesetzt zu werden, wenn diese die parlamentarische Verhandlung stören. So gesehen bedürfte es des § 41 GOBT nicht, der diese der Ordnungsgewalt des Präsidenten unterstellt. Dann aber müßte das Hausrecht während parlamentarischer Sitzungen neben der Ordnungsgewalt überhaupt zur Anwendung kommen. Wie sich aus §§ 36 ff. GOBT ergibt, ist es der Zweck der Ordnungsgewalt, die parlamentarische Ordnung zu schützen. Der Begriff der parlamentarischen Ordnung ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der neben dem geschriebenen das ungeschriebene Parlamentsrecht und den Parlamentsbrauch umfaßt 15. Er läßt sich beschreiben als die Gesamtheit der Normen, deren Beachtung nach den im Parlament herrschenden Anschauungen dem geordneten Verlauf der Beratungen oder dem Ansehen des Hohen Hauses dient 16 . Soweit es die Abgeordneten betrifft, ist deshalb auch ganz unumstritten, daß Rechtsgrundlage für die in §§ 7 Abs. 1 S. 2, 36 ff. GOBT geregelte Ordnungsgewalt des Bundestagspräsidenten Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG und nicht etwa das Hausrecht ist, da die Kompetenz zum Erlaß einer Geschäftsordnung notwendig die Kompetenz einschließt, die zur Beseitigung von Störungen des parlamentarischen Verfahrens dienenden Rechtsnormen aufzustellen 17.
15
Joseph Bücker, Das parlamentarische Ordnungsrecht, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 34 Rz. 7. 16 Ähnlich bereits Hermann F. Schmid, Parlamentarische Disziplin, AöR 32 (1914), S. 439 (498): „die Gesamtheit der Normen, deren Befolgung nach den im Parlament herrschenden -nur selten und ungern wechselnden - Anschauungen als Vorbedingung einer gedeihlichen, das Staatsleben fördernden Beratung der Abgeordneten und als Grundlage des innerparlamentarischen Lebens gilt."; ihm folgend Bücker, in: Schneider/Zeh, § 34 Rz. 7. 17 BayVerfGH DÖV 1956, 533 (535); Haug, Bindungsprobleme, S. 102 f.; KarlHans Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, 1979, S. 61.
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
Da aber dieses Verfahren nicht bloß durch die Abgeordneten, sondern ebenso durch im Plenum befindliche Zuhörer beeinträchtigt werden kann, stellt sich die Ordnungsgewalt ihnen gegenüber „als ein unmittelbarer Bestandteil der legislativen Gewalt zur Erledigung ihrer verfassungsrechtlichen Aufgaben dar" 18 . Auch die Befugnis ihnen gegenüber einzuschreiten, leitet sich deshalb aus der in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten Selbstorganisationsgarantie ab. Die Befugnis des Bundestagspräsidenten, Ordnungsmaßnahmen zu erlassen, aus dem Hausrecht abzuleiten, stellt sich demgegenüber als mißverständlicher Umweg dar. Der Rechtsgrund der Ordnungsgewalt kann nämlich nicht von zivilrechtlichen Eigentums- oder Besitzverhältnissen abhängen. Auch wenn das Parlament außerhalb seiner Liegenschaften unter freiem Himmel Versammlungen abhält, muß ihm die Möglichkeit verbleiben, einen geordneten Verhandlungsverlauf gegen Störer von außen durchzusetzen. Hinzu tritt ein weiterer Aspekt: Während es sich beim Hausrecht um eine Kompetenz handelt, die dem Bundestagspräsidenten aufgrund von Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG originär zusteht, ist die Ordnungsgewalt eine Kompetenz des Bundestages. Sie wird dem Bundestagspräsidenten erst durch Geschäftsordnungsregelung (§§ 36 bis 41 GOBT) übertragen. Hierin liegt mehr als ein bloß formaler Unterschied. Denn, indem das Parlament die Ordnungsgewalt überträgt, hat es auch die Möglichkeit, die Art und Weise seiner Ausübung zu bestimmen. Auf diese Weise kann es im Bedarfsfall mäßigend auf den Bundestagspräsidenten einwirken oder diesen zu strengerem Handeln gegen Störungen seitens des zuhörenden Publikums veranlassen, indem es die Ordnungsgewalt entsprechend ausgestaltet. Ein Parlamentspräsident, der aufgrund originärer Gewalt von seinem Hausrecht gegenüber den Zuhörern während parlamentarischer Beratungen Gebrauch machen könnte, wäre der Einflußnahme des Parlaments, was die Ausübung dieses Rechts anginge, vollständig entzogen. Da es aber letztlich Sache des Parlaments bleiben muß, zu bestimmen, welche Maßnahmen es für erforderlich oder eben nicht für erforderlich hält, um eine geordnete Verhandlung zu sichern und dieses Recht in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG verwurzelt ist, nimmt der Bundestagspräsident mit der Ordnungsgewalt, auch soweit sich diese auf die Zuhörer einer Plenarversammlung bezieht, ein Recht des Parlaments insgesamt wahr, das dieses ihm übertragen hat.
18
Ritzel/Bücker , Vorbem. §§36-41, Anm. 2 unter Bezugnahme auf Robert Leinius , Zum Verhältnis von Sitzungspolizei, Hausrecht, Polizeigewalt, Amts- und Vollzugshilfe, NJW 1973, S. 448 (449).
B. Bindung des Bürgers
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Die Ordnungsgewalt leitet sich daher insgesamt aus Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG ab. Sie bezieht sich auch auf die Zuhörer und schließt das Hausrecht für die Dauer der parlamentarischen Verhandlung im Plenarsaal aus.
II. Als Mitglied einer Enquete-Kommission oder als Sachverständiger Der Bürger kann nicht nur als Zuhörer am parlamentarischen Geschehen teilnehmen. Er kann auch direkt einbezogen werden. Dies gilt insbesondere für solche Bürger, die über ein besonderes Maß an Sachverstand verfügen oder bestimmte Interessengruppen vertreten. Bei öffentlichen Anhörungen gemäß § 70 Abs. 1 S. 1 GOBT, sogenannten „Hearings", kann der federführende 19 Ausschuß zur Information über einen Gegenstand seiner Beratungen Sachverständige, Interessenvertreter und andere Auskunftspersonen anhören. Die Anhörung soll es dem Ausschuß ermöglichen, das Fachwissen besonders sachkundiger Einzelpersönlichkeiten oder Organisationen für den parlamentarischen Entscheidungsprozeß nutzbar zu machen und die Auffassungen derjenigen Personenkreise kennenzulernen, deren Interessen durch einen bestimmten Beratungsgegenstand berührt werden 20. In der Anhörung haben die Mitglieder des federführenden Ausschusses das Recht, Fragen an die Auskunftspersonen zu stellen, § 70 Abs. 3 S. 3 GOBT. In der Praxis wird jeder Fraktion im Ausschuß aufgrund interfraktioneller Vereinbarung ein bestimmtes Zeitkontingent zugeteilt, innerhalb dessen die Fragen, die von den Abgeordneten einer Fraktion gestellt werden, abgehandelt werden müssen. Im Anschluß an die öffentliche Anhörung kann der Ausschuß in eine allgemeine Aussprache mit den Auskunftspersonen eintreten, § 70 Abs. 4 S. 1 GOBT. Dabei ist die Redezeit gemäß § 70 Abs. 4 S. 2 GOBT zu begrenzen. Noch enger werden nicht dem Parlament angehörende Personen in die Arbeit parlamentarischer Enquete-Kommissionen einbezogen. Enquete-Kommissionen können gemäß §'56 Abs. 1 GOBT zur Vorbereitung von Entscheidung über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe eingesetzt werden. Die Verwendung des Begriffes „Kommission" statt „Ausschuß" bedeutet mehr als einen bloß terminologischen Unterschied. Sie beruht auf dem sachli19 Bei der Überweisung einer Gesetzesvorlage an mehrere Ausschüsse ist ein Ausschuß als federführend zu bestimmen, § 80 Abs. 1 GOBT. 20 Ritzel/Bücker, § 70 Anm. I 1 b. 6 Schwerin
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
chen Unterschied, daß der Enquete-Kommission im Gegensatz zum Ausschuß nicht nur Mitglieder des Bundestages, sondern auch Nichtparlamentarier angehören können 21 . Diese Nichtparlamentarier, bei denen es sich vorwiegend um Wissenschaftler und sachverständige Praktiker handelt, werden gemäß § 56 Abs. 2 S. 1 GOBT im Einvernehmen der Fraktionen benannt und vom Bundestagspräsidenten berufen. Scheitert eine Einigung der Fraktionen über die Mitglieder, so werden die nicht dem Parlament angehörenden Mitglieder von den Fraktionen nach ihrem Stärkeverhältnis benannt22. Gemäß § 56 Abs. 3 GOBT kann jede Fraktion einen, auf Beschluß des Bundestages auch mehrere Parlamentarier in die Kommission entsenden. In der Regel werden so viele Parlamentarier entsandt, daß ein zahlenmäßiges Übergewicht der Abgeordneten gegenüber den Sachverständigen abgesichert ist, so daß Mehrheitsentscheidungen gegen die Parlamentarier ausgeschlossen sind 23 . Die Einbeziehung von Nichtparlamentariern in die Arbeit parlamentarischer Enquete-Kommissionen erscheint vor dem Hintergrund des Repräsentationsprinzips nicht bereits deshalb unbedenklich, weil sie lediglich der Vorbereitung einer parlamentarischer Entscheidungen dient 24 . Diesem Zweck dienen auch Ausschußsitzungen und selbst die Beratung von Gesetzentwürfen im Plenum hat im Hinblick auf den abschließenden Gesetzesbeschluß nur vorbereitenden Charakter. Im Unterschied hierzu setzt die Arbeit einer Enquete-Kommission aber in einem viel früheren Stadium ein. Ziel ihrer Arbeit ist es gemäß § 56 Abs. 4 S. 1 GOBT, einen Bericht vorzulegen. Ob und inwieweit dieser Bericht konkrete Anstöße für die parlamentarische Arbeit gibt, ist ihrem Einfluß entzogen, da ihre Arbeit mit der Vorlage des Berichts beendet ist, wenn nicht der Bundestag den Bericht erneut an die Kommission zurückverweist 25. Aus diesem Grund ist die Einbeziehung von Nichtparlamentariern in die Arbeit der Enquete-Kommissionen unbedenklich, denn die parlamentarische Umsetzung ihrer Vorschläge beginnt erst mit dem Abschluß ihrer Arbeit.
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Achterberg, Parlamentsrecht, S. 160. Wolfgang Hoffmann-RiemAJdo Ramcke, Enquete-Kommissionen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 47 Rz. 13; Gerald Kretschmer, Enquete-Kommissionen - Ein Mittel politischer Problemlösung?, in: H.H. Hartwich (Hrsg.), Gesellschaftliche Probleme als Anstoß und Folge von Politik, 1983, S. 261 (263). 23 Hojfmann-Riem/Ramcke, in: Schneider/Zeh, § 47 Rz. 14. 24 So aber Haug, Bindungsprobleme, S. 114. 25 Gerald Kretschmer, Zum Recht und Verfahren von Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, DVB1. 1986, S. 923 (929). 22
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Die Mitglieder einer Enquete-Kommission besitzen gemäß § 56 GOBT einen einheitlichen Mitgliederstatus 26. Aus diesem Grund kann es nicht überzeugen, im Hinblick auf ihr Stimmrecht danach zu differenzieren, ob ein Beschluß mit Außenwirkung - etwa über die Genehmigung von Dienstreisen - getroffen oder eine kommissionsinterne Geschäftsordnungsangelegenheit entscheiden wird und nur im letzten Fall den Nichtparlamentariern ein Stimmrecht einzuräumen 27. Vielmehr folgt aus dem gleichen Status der Kommissionsmitglieder unabhängig davon, ob sie Parlamentarier oder Nichtparlamentarier sind, das gleiche Stimmrecht in allen Kommissionsangelegenheiten28. Auch Dienstleistungen der Bundestagsverwaltung können die Nichtparlamentarier im Rahmen ihrer Kommissionsmitarbeit genauso wie Abgeordnete in Anspruch nehmen29. Sowohl für die Auskunftspersonen in öffentlichen Anhörungen als auch für die Nichtparlamentarier unter den Mitgliedern einer Enquete-Kommission stellt sich die Frage, ob und inwieweit diese Personen an die GOBT gebunden sind. Bei den Mitgliedern von Enquete-Kommissionen liegt es nahe, Parlamentarier und Nichtparlamentarier nicht nur hinsichtlich ihrer Rechte, sondern auch hinsichtlich ihrer Pflichten gleichzubehandeln. Kommissionsmitglieder, die nicht Mitglieder des Bundestages sind, müssen beispielsweise die gleichen Amts- und Verschwiegenheitspflichten treffen, wie Parlamentarier, da nur so eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu gewährleisten ist. Auch die Geheimschutzordnung des Deutschen Bundestages ist von allen Mitgliedern gleichermaßen zu beachten 30 . Bei öffentlichen Anhörungen erscheint es dagegen weniger zwingend, daß die Auskunftspersonen an die GOBT gebunden sind, insbesondere kann keine Rede davon sein, daß sie am Status der die Anhörung durchführenden Abgeordneten teilhaben. Gleichwohl hängt auch die Funktionstüchtigkeit einer öffentlichen Anhörung davon ab, daß die Auskunftspersonen die GOBT beachten und sich etwa an getroffene Redezeitbegrenzungen halten. Diese Bindung läßt sich noch weniger als die der Zuhörer mit Mitteln des Hausrechts erzielen 31. Allein die GOBT stellt das Instrumentarium bereit, Nichtparlamentarier in sachgerechter Weise als Auskunftspersonen oder Kommissionsmitglieder in das parlamentarische Verfahren einzubeziehen. 26
Hoffmann-Riem/Ramcke, in: Schneider/Zeh, § 47 Rz. 17. So aber Troßmann, Parlamentsrecht, § 74a Rz. 13.3. 28 Hoffmann-Riem/Ramcke, in: Schneider/Zeh, § 47 Rz. 17; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, § 26 IV 2 o) ß) (S. 108). 29 Kretschmer, DVB1. 1986, S. 923 (926). 30 Kretschmer, ebenda; Hoffmann-Riem/Ramcke, § 47 Rz. 17. 31 Haug, Bindungsprobleme, S. 114. 27
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
Die Bindung dieser Personen an die GOBT erscheint unproblematisch, da sie sich freiwillig und in Kenntnis der sie erwartenden Parlamentsdisziplin in den Geltungsbereich der GOBT begeben haben32. Sie folgt darüber hinaus daraus, daß sie die Bedingung dafür ist, daß eine öffentliche Anhörung oder eine Enquete-Kommission überhaupt sinnvoll funktionieren kann. Daß aber dort, wo das Funktionsbedürfhis des Bundestages Regelungen mit Drittwirkung erfordert, die Ermächtigung des Bundestages zur Geschäftsordnungsgebung in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG nicht ausreichend sein soll, läßt sich weder aus Art. 40 GG noch aus anderen Verfassungsbestimmungen ableiten33.
I I I . Rederecht für Dritte Die Frage nach der Bindungswirkung der GOBT stellt sich auch, wenn der Bundestag Nichtparlamentariern ein Rederecht im Plenum zugesteht. Verschiedentlich wird die Forderung aufgestellt, der Bundestag müsse als Diskussionsforum den Kreis der vor ihm Redeberechtigten erweitern und die Geschäftsordnung danach umgestalten. Aus seiner politisch-repräsentativen Funktion heraus bedürfe er einer Öffnung für andere Redner. Nicht nur die Regierung, sondern auch Vertreter der Öffentlichkeit und der Interessenverbände müßten seine Gesprächspartner werden 34 . Ob eine Erweiterung des Kreises der im Bundestag redeberechtigten Personen überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist, erscheint aber zweifelhaft. Während die Einbeziehung von Nichtparlamentariern in den parlamentarischen Willensbildungsprozeß als Sachverständige oder Mitglieder von EnquéteKommissionen den Zweck verfolgt, externen Sachverstand im Vorfeld der eigentlichen Entscheidungsfindung nutzbar zu machen - wogegen keine Einwände bestehen - hätte die Einräumung eines Rederechts im Plenum eine ganz andere Zielrichtung. An den Aufgaben des Bundestages35 als Gesetzgeber, Kontrolleur der Bundesregierung oder Kreationsorgan könnten Nichtparlamentarier von
32
So Gerald Kretschmer , Zur Organisationsgewalt des Deutschen Bundestages, ZParl 1986, S. 334 (341); Jost Pietzcker , Schichten des Parlamentsrechts, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10 Rz. 25. 33 Roland Bieber , Das Verfahrensrecht von Verfassungsorganen, 1992, S. 123. 34 Schäfer , Bundestag, S. 74; zustimmend Haug , Bindungsprobleme, S. 115. 35 Ausführlich zu den Aufgaben des Bundestages Hans Hugo Klein, Aufgaben des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, §40.
B. Bindung des Bürgers
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vornherein nicht mitwirken. Allein der Öffentlichkeitsfunktion des Bundestages könnte es dienen, ihnen den Auftritt im Plenum zu gestatten. Diese dient der öffentliche Darstellung der verschiedenen politischen Auffassungen und der Konflikte, um die es in der politischen Willensbildung geht. In der öffentlichen Plenardebatte fungiert der Bundestag als ein „Forum der Meinungen" 36 . Auf diese Weise wird die Transparenz des parlamentarischen Prozesses hergestellt. Die Transparenz der parlamentarischen Willensbildung ist erforderlich, damit der Bundestag als Repräsentant des Volkes seiner Integrationsfunktion nachkommen kann, die darin besteht, das Volk zur staatlichen Einheit zusammenzufuhren 37. Dem Wähler muß verdeutlicht werden, welche Gründe für und gegen ein bestimmtes Vorhaben sprechen und von welchen Überlegungen sich die letztlich entscheidende Mehrheit hat leiten lassen. Um seine Zustimmung zur jeweils eigenen Auffassung wird gerungen. Nur auf dieser Grundlage ist er überhaupt in der Lage, sich ein Bild von der politischen Lage zu machen und eine eigene Wahlentscheidung zu treffen. Nur so ist sichergestellt, daß der Bürger Mehrheitsentscheidungen des Parlaments akzeptiert, auch wenn sie ihm im Einzelfall nicht zusagen mögen. Die Öffentlichkeitsfunktion kann aber nicht isoliert von den übrigen Aufgaben des Bundestages gesehen werden. Vielmehr dient sie dem Zweck, die parlamentarische Willensbildung transparent zu machen. Die Vertretung des Volkes hat die zu treffenden Entscheidungen in Rede und Gegenrede zu erörtern und so dem Wähler zu vermitteln, wie die im Anschluß an die Beratung zu treffende Entscheidung motiviert ist 38 . Aus diesem Grund haben die Repräsentanten des Volkes ein „natürliches" Recht im Plenum zu sprechen. Aus diesem Grund genießen sie bei der Ausübung ihrer Redefreiheit den besonderen Schutz der Indemnität, Art. 46 Abs. 1 GG. Hieraus erhellt, warum solche Personen die im Plenum nicht mitzuentscheiden auch nicht mitzureden haben. Ihnen fehlt der repräsentative Status. Sie sind dem Volk gegenüber für parlamentarische Entscheidungen nicht verantwortlich. An den Staatsfunktionen des Bundestages haben sie nicht teil. Es ist auch keineswegs erforderlich, Spitzenvertretern gesellschaftlicher Organisationen oder anderen Personen des öffentlichen Lebens ausgerechnet im
36 Wolfgang Zeh, Der Bundestag im Ordnungsgefüge des Grundgesetzes, in: Schellknecht (Hrsg.), Wegweiser Parlament, 1990, S. 79 (91). 37 Gerhard Leibholz, Die Repräsentation in der Demokratie, 1973, S. 57; Hans Troßmann, Der Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöR NF 28 (1979), S. 1 (22). 38 Hans Troßmann, JöR NF 28 (1979), S. 1 (22).
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
Bundestagsplenum ein Forum für ihre Meinungskundgabe zu geben. Hierdurch erhielte ihr faktischer Einfluß auf den parlamentarischen Willensbildungsprozeß das unangemessene Stigma demokratischer Legitimität. Diese wird aber ausschließlich durch die Volksvertreter vermittelt. Hinzu kommt, daß eine Erweiterung des Kreises der im Plenum redeberechtigten Personen den Fraktionen die Möglichkeit verschaffte, besonders eloquente Anhänger gleichsam zu kooptieren und ihnen ein „Artikulations-Mandat" zu verschaffen, ohne daß es hierfür eine demokratische Grundlage gäbe39. Die Einräumung eines Rederechts an Dritte kam in der parlamentarischen Praxis während Plenarsitzungen bisher nicht vor. Zwar gibt es Fälle, in denen nicht dem Bundestag angehörige Personen, etwa ausländische Staatsoberhäupter, vor Bundestagsabgeordneten sprechen. In diesen Fällen beraumt der Bundestag aber Sonderveranstaltungen an, so daß keine der im Rahmen der Parlamentsaufgaben der Mandatswahrnehmung dienende Bundestagssitzung stattfindet 40 . In solch einem Fall steht deshalb auch kein organschaftliches Handeln des Bundestages als Parlament in Frage. Daher können auf diese Art von Veranstaltung unabhängig von der Form der Einladung weder die Vorschriften der GOBT Anwendung finden noch kann sich eine Abgeordneter auf sein verfassungsrechtliches Rederecht berufen 41. Der Plenarsaal dient insofern lediglich als Versammlungsort, dem sicherlich ein gewisser Symbolcharakter zukommt. Der ausländische Gast nimmt aber nicht an einer Plenarverhandlung teil, sondern er spricht vor Parlamentsangehörigen im Parlamentsgebäude außerhalb einer Parlamentssitzung. Gegen solche Sonderveranstaltungen des Bundestages aber bestehen die oben genannten Einwände nicht, da die Repräsentativfunktion des Parlaments von ihnen nicht betroffen wird. Insgesamt gebietet aber das Repräsentationsprinzip, daß nur vom Volk gewählte Personen in Plenarversammlungen ein Rederecht besitzen, soweit die Verfassung nichts anderes bestimmt 42 . Die Frage nach der Bindung anderer Redner an die GOBT stellt sich daher nicht.
39 Wolfgang Zeh, Literaturbesprechung: Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, AöR 121 (1996), S. 125 (128). 40 Ebenda. 41 Joseph Bücker, Der Abgeordnete hat das Wort, in: Festschrift für Helmut Schellknecht, 1984, S. 39 (49). 42 Ebenso Joseph Bücker, in: Festschrift für Schellknecht, S. 39 (49); Zeh, AöR 121 (1996), S. 125(128).
B. Bindung des Bürgers
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IV. Als Zeuge vor einem Untersuchungsausschuß Besonders deutlich wird die Bindung des Bürgers an Geschäffcsordnungsregeln, wenn eine Privatperson als Zeuge vor einem Untersuchungsausschuß aussagen muß. Der Bundestag pflegt seine Untersuchungsausschüsse regelmäßig zur Anwendung der sogenannten „IPA-Regeln" zu verpflichten 43. Bei den IPA-Regeln handelt es sich um den Entwurf eines Gesetzes über Einsetzung und Verfahren von Untersuchungsausschüssen des Bundestages aus der 5. Wahlperiode 44, das nicht verabschiedet wurde. Dieser Gesetzentwurf enthält detaillierte Bestimmungen zur Zeugenvernehmung. Nach § 13 Abs. 1 S. 1 des Entwurfes sind Zeugen und Sachverständige zum Erscheinen verpflichtet, nach § 16 Abs. 2 sind sie zur Wahrheit zu ermahnen und § 16 Abs. 4 bestimmt, wann sie vereidigt werden sollen. § 17 des Gesetzentwurfes regelt das Fragerecht der Ausschußmitglieder. Danach werden Zeugen und Sachverständige zunächst durch den Vorsitzenden vernommen, anschließend können der Berichterstatter, dann die übrigen Ausschußmitglieder und der Betroffene Fragen stellen. § 18 des Entwurfes enthält Bestimmungen zur Rechtsstellung des Betroffenen und legt anders als die Strafprozeßprozeßordnung in Abs. 3 S. 2 seine Aussagepflicht und sein Aussageverweigerungsrecht entsprechend dem eines Zeugen im Strafverfahren fest. Die Rechtswirksamkeit der IPA-Regeln folgt aus dem Recht des Deutschen Bundestages, sich gemäß Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG eine Geschäftsordnung zu geben. Sie werden mit dem Einsetzungsbeschluß als Sondergeschäftsordnungsrecht des jeweiligen Untersuchungsausschusses in Kraft gesetzt45. Wer die Wirkkraft des Geschäftsordnungsrechts auf den parlamentarischen Innenbereich beschränkt, kommt nicht umhin, die Verfassungswidrigkeit jedenfalls jener Bestandteile der IPA-Regeln, die über diesen Bereich hinausgreifen, zu konstatieren. Folgerichtig werden von der ganz überwiegenden Ansicht auch nicht die IPA-Regeln, sondern allein Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG als Rechtsgrund dafür angesehen, daß Privatpersonen Pflichten im Untersuchungsausschußver-
43 Vgl. etwa BT-Drs. 12/654 („Kommerzielle Koordinierung"); BT-Drs. 12/5768 („Treuhandanstalt"); BT-Drs. 12/6035 („HIV-Infektionsgefährdung durch Blut oder Blutkonserven"). 44 BT-Drs. V/4209. 45 Kretschmer, ZParl 1986, S 334 (342).
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
fahren auferlegt werden können 46 . Art. 44 Abs. 2 S. 1 GG bestimmt nämlich, daß auf die Beweiserhebung eines Untersuchungsausschusses die Vorschriften über den Strafprozeß sinngemäß Anwendung finden. Mit den IPA-Regeln wendet der Bundestag aber nicht sinngemäß die Strafprozeßordnung an, sondern er gibt sich eigene Regeln, nach denen das Verfahren vor dem Untersuchungsausschuß abzulaufen hat. Daß hierbei auch Rechtspflichten für Personen begründet werden, die nicht dem Bundestag angehören, kann verfassungsrechtlich gleichwohl nicht beanstandet werden. Denn damit der Bundestag seinem Untersuchungsrecht wirkungsvoll nachkommen kann, müssen in einem Verfahren vor einem Untersuchungsausschuß Zeugen und Betroffene vernommen werden können. Unzutreffend ist insofern die Auffassung Haugs, daß die „technische" Arbeitsfähigkeit eines Untersuchungsausschusses vom Erscheinen oder Nichterscheinen eines Zeugen unabhängig sei und der „inhaltliche" zu erzielende Arbeitserfolg nicht durch die GOBT sichergestellt werden solle 47 . Denn die parlamentarische Untersuchungsbefiignis erschöpft sich nicht darin, daß „technisch" arbeitsfähige Untersuchungsausschüsse geschaffen werden können. Vielmehr geht es gerade darum, diesen Ausschüssen die Mittel an die Hand zu geben, die erforderlich sind, um ihrem Untersuchungsauftrag nachkommen können. Aus diesem Grund folgt die Zulässigkeit, Nichtparlamentariern vor Untersuchungsausschüssen Pflichten durch die GOBT aufzuerlegen, aus dem parlamentarischen Untersuchungsrecht selbst48, ohne daß es hierfür einer gesetzlichen oder verfassungsrechtlichen Grundlage bedürfte. Auch die IPA-Regeln zeigen deshalb, daß die Auffassung, das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht vermöge nur Parlamentarier zu binden, unzutreffend ist.
V. Ergebnis Es läßt sich daher insgesamt feststellen, daß die These von der GOBT als Innenrechtsquelle unzutreffend ist. Vielmehr ist der Bundestag in Fällen, in denen dies zur Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben erforderlich ist, auch zum Erlaß solcher Geschäftsordnungsbestimmungen ermächtigt, die für Privatperso-
46 Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 119; Haug, Bindungsprobleme, S. 115 f.; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 25. 47 Haug, Bindungsprobleme, S. 115 f. 48 So auch Kretschmer, ZParl 1986, S. 334 (342).
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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nen Rechtsverbindlichkeit erzeugen und deshalb über „Außenwirkung" verfügen.
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung Aber nicht nur der Bürger kommt neben den Parlamentariern als Adressat der GOBT in Frage. Auch Verfassungsorgane werden durch Geschäftsordnungsbestimmungen betroffen. Dies trifft in besonderem Maße auf die Bundesregierung zu. Die Zusammenarbeit und Kommunikation mit der Bundesregierung ist ein wichtiger Bestandteil der täglichen Parlamentsarbeit. An die Regierung richten sich Empfehlungen, Ersuchen und Entschließungen des Bundestages, sie wird kritisiert oder zu einem Tun oder Unterlassen aufgefordert 49. Eine Reihe von Verfassungsbestimmungen betreffen das Verhältnis des Bundestages zur Bundesregierung. So ist die Wahl des Bundeskanzlers in Art. 63 GG, das konstruktive Mißtrauensvotum in Art. 67 GG oder das Zitierrecht und das jederzeitige Zutritts- und Rederecht in Art. 43 GG geregelt. Das Zusammenwirken von Bundestag und Bundesregierung überschreitet den Bereich des von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten parlamentarischen Selbstorganisationsrechts und ist daher einer Regelung in der Geschäftsordnung an sich nicht zugänglich. Anderenfalls wäre die Bundesregierung an einseitige Regelungen durch den Bundestag gebunden, was der prinzipiellen Gleichordnung aller Verfassungsorgane 50 zuwider liefe. Aufgrund der engen Bindungen, die zwischen dem Bundestag und der Bundesregierung bestehen, könnte es aber in bestimmten Fällen erforderlich sein, dem Parlament Regelungsbefugnisse einzuräumen, die seinen eigenen Bereich überschreiten, wenn nur auf diese Weise sichergestellt werden kann, daß das Parlament seinen ihm vom Grundgesetz übertragenen Aufgaben nachkommen kann oder wenn sich aus dem Grundgesetz selbst die Befugnis des Parlaments ergibt, entsprechende Regelungen zu treffen. Unverkennbar ist, daß eine Reihe von Geschäftsordnungsbestimmungen neben dem Bundestag und seinen Mitgliedern auch die Bundesregierung oder 49 50
Schäfer, Bundestag, S. 63. Stern., Staatsrecht II, § 26 I 2 b y (S. 42).
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
einzelne Regierungsmitglieder betreffen. Daneben ist auch die Bindung von Bundesratsvertretern an Geschäftsordnungsrecht denkbar, wenn diese im parlamentarischen Raum auftreten. Im wesentlichen lassen sich zwei Konstellationen unterscheiden, in denen Regelungen der parlamentarischen Geschäftsordnung den Rechtskreis anderer Verfassungsorgane betreffen können. Dies ist zum einen dann der Fall, wenn das Parlament, Teile des Parlaments oder einzelne Abgeordnete um Informationen bei der Bundesregierung nachfragen und zum anderen dann, wenn Regierungs- oder Bundesratsvertreter von ihrem in Art. 43 Abs. 2 GG verbrieften Recht Gebrauch machen und im Bundestagsplenum das Wort ergreifen. Im ersteren Fall stellt sich die Frage nach der Auskunftspflicht der Bundesregierung auf Anfragen aus dem Parlament, im anderen geht es darum, ob der Regierungs- oder Bundesratsvertreter an interfraktionell getroffene Redezeitvereinbarungen gebunden werden kann und ob er dem Ordnungsrecht des Parlaments unterliegt.
I. Zitier- und Interpellationsrecht des Parlaments
/. Zitierrecht Das Grundgesetz schreibt in Art. 43 Abs. 1 GG fest, daß der Bundestag und seine Ausschüsse die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen können. Die Herbeirufung eines Regierungsmitgliedes kann der Bundestag gemäß § 42 GOBT auf Antrag einer Fraktion oder anwesenden fünf vom Hundert seiner Mitglieder beschließen. Im Ausschuß ist das Recht, einen Antrag auf Herbeirufung zu stellen, nicht an ein bestimmtes Quorum gebunden (§ 68 GOBT). Der Antrag kann deshalb von jedem Ausschußmitglied gestellt werden 51 . Über den Antrag ist im Ausschuß gemäß § 68 S. 2 GOBT in nichtöffentlicher Sitzung zu entscheiden. Die parlamentarische Praxis macht von dem Recht, ein Regierungsmitglied ins Plenum zu zitieren, nur selten Gebrauch. Von der 9. bis zur 11. Wahlperiode wurden 25 Anträge - sämtliche von der Opposition - auf Herbeirufung eines Re-
51
Ritzel/Bücker , § 68 Anm. 2.
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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gierungsmitgliedes gestellt. Lediglich sechs Anträge wurden mit Mehrheit oder einstimmig angenommen52.
2. Interpellationsrechte Die GOBT räumt folgende parlamentarische Fragerechte ein: Große Anfragen (§§ 100 - 103 GOBT), Kleine Anfragen (§104 GOBT), Einzelfragen (§ 105 GOBT) und Befragungen der Bundesregierung (§ 106 Abs. 2 GOBT). Neben dem Zitierrecht werden die geschäftsordnungsmäßig eingeräumten Frage» bzw. Interpellationsrechte 53 des Parlaments heute gemeinhin zu den wichtigsten Mitteln einer wirksamen Regierungskontrolle gezählt54.
a) Große Anfragen Große Anfragen sind selbständige Vorlagen gemäß § 75 Abs. 1 Buchst, f GOBT. Sie können deshalb gemäß § 76 GOBT nur von einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages beim Präsidenten des Bundestages eingereicht werden (§ 100 S. 1 GOBT). Der Präsident teilt sie der Bundesregierung mit und fordert diese auf zu erklären, ob und wann sie antworten wird (§ 101 S. 1 GOBT). Die Große Anfrage ist in erster Linie ein politisches Instrument der Opposition 55 . Sie dient nicht so sehr der Verwaltungskontrolle 56, sondern sie ermög-
52 Schindler, ZParl 1995, S. 551 (563); derselbe, Datenhandbuch 1983-1991, S. 467. Über die 12. Wahlperiode liegen bisher leider nur sehr unvollständige Daten vor, da die Parlamentsdokumentation Schwierigkeiten hat, diese aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen; vgl. Vorbemerkung der Redaktion zu Schindlers Dokumentation in der ZParl 1995, S. 551. 53 Grundlegend zum Interpellationsrecht, Siegbert Morscher, Die parlamentarische Interpellation, 1973. 54 Siegbert Morscher, Die parlamentarische Interpellation in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz, JöR 25 (1976), S. 53 (53); Peter Stadler, Die parlamentarische Kontrolle der Bundesregierung, 1984, S. 167; Ritzel/Bücker, Vorbem. zu §§ 100-106, Anm. 1. 55 Christian Maiwald, Berichtspflicht gegenüber dem Deutschen Bundestag, 1992, S. 71; in der 11. WP wurden 86,2 % der Großen Anfragen von der Opposition gestellt, vgl. Schindler, ZParl 1995, S. 551 (563). 56 Hierzu stehen andere Instrumente, etwa die Einzelfrage oder die Kleine Anfrage zur Verfugung.
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
licht es der Opposition, ihre Alternativen darzustellen 57. Diese kann die Opposition bereits in der fakultativen Begründung der Anfrage nach § 100 S. 2 GOßT vorbringen. Öffentlichkeitswirksam hat sie hierzu jedoch erst in der Aussprache Gelegenheit, die gemäß § 101 S. 3 GOBT nach Eingang der Antwort erfolgen muß, wenn dies von einer Fraktion oder fünf von Hundert der Mitglieder des Deutschen Bundestages verlangt wird 5 8 . Da eine Debatte unter den gleichen Antrags Voraussetzungen gemäß § 102 S. 2 GOBT auch dann erfolgen muß, wenn die Bundesregierung die Beantwortung ablehnt, hat die Opposition auch in diesem Fall die Möglichkeit ihre Vorstellungen in die Öffentlichkeit zu tragen.
b) Kleine Anfragen Kleine Anfragen gelten als Vorlagen (§ 75 Abs. 3 GOBT) und können daher ebenso wie Große Anfragen nur von einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages (§ 76 Abs. 1 GOBT) gestellt werden. In Kleinen Anfragen kann gemäß § 104 Abs. 1 S. 1 GOBT von der Bundesregierung Auskunft über bestimmt bezeichnete Bereiche verlangt werden. Sie dürfen keine unsachlichen Feststellungen oder Wertungen enthalten (§ 104 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GOBT) und können kurz begründet werden (§ 104 Abs. 1 S. 3 GOBT). Wie Große Anfragen sind auch sie beim Bundestagspräsidenten einzureichen (§ 104 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GOBT). Der Bundestagspräsident leitet sie an die Bundesregierung weiter und fordert diese auf, innerhalb vierzehn Tagen zu antworten (§ 104 Abs. 2 GOBT). Die Antwort der Bundesregierung wird als Drucksache veröffentlicht und an alle Mitglieder des Bundestages verteilt. Der Hauptunterschied zwischen Großen und Kleinen Anfragen besteht darin, daß es sich bei Kleinen Anfragen in erster Linie um Auskunftsersuchen handelt, die der Deckung eines Informationsbedarfs dienen und weniger darauf abzielen, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen. Hierzu sind sie auch weniger geeignet, da sie sich mit der schriftlichen Beantwortung erledigen 59. Sind einzelne 57 Ritzel/Bücker Vorbem. zu §§ 100-106, die allerdings zu Unrecht die Gefahr eines Mißbrauchs sehen und meinen, daß das Hauptziel stets in der Anfrage an die Regierung liegen müsse. 58 Da die Große Anfrage nur von einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Deutschen Bundestages gestellt werden kann, sind die Fragesteller stets in der Lage, die Beratung ihrer Großen Anfrage durchzusetzen. 59 Siegfried Magiern , Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder gegenüber der Regierung, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), § 52 Rz. 21; Hans Troßmann , Der Bundestag Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöR NF 28 (1979), S. 1 (221).
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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Abgeordnete mit der Antwort der Bundesregierung unzufrieden, so besteht allerdings die Möglichkeit, daß sie die Antwort zum Thema mündlicher Fragen für die Fragestunde machen. Auch kann die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage bei entsprechender parlamentarischer Unterstützung den Anlaß für eine Große Anfrage abgeben60. Die Funktion Kleiner Anfragen besteht daher weit mehr als bei Großen Anfragen darin, Sachinformationen zu erlangen, die dann ihrerseits die Grundlage für weiteres politisches Handeln bilden können. Obwohl Kleine Anfragen nicht anders als Große Anfragen nur von einer Fraktion oder einer Abgeordnetengruppe in Fraktionsstärke 61 initiiert werden können, übersteigt ihre Anzahl die der Großen Anfragen um ein Vielfaches. So wurden in der 12. Wahlperiode 1382 Kleine aber nur 98 Große Anfragen gestellt 62 . Ebenso wie Große Anfragen werden Kleine Anfragen vorwiegend von der Opposition gestellt 63 .
c) Einzelfragen und Fragestunde Gemäß § 105 S. 1 GOBT ist jedes Mitglied des Bundestages berechtigt, kurze Einzelfragen zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten. Einzelheiten hierzu regeln die auf der Grundlage von §105 S. 2 GOBT erlassenen „Richtlinien für die Fragestunde und für die schriftlichen Anfragen", die als Anlage 4 der GOBT angefügt sind. Danach werden in jeder Sitzungswoche Fragestunden mit einer Gesamtdauer von höchstens 180 Minuten durchgeführt. Für die Fragestunden einer Sitzungswoche ist jedes Mitglied des Bundestages berechtigt über den Bundestagspräsidenten, bis zu zwei Fragen, die jeweils in zwei Unterfragen unterteilt sein dürfen, zur mündlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten. Die Fragen dürfen keine unsachlichen Feststellungen oder Wertungen enthalten und müssen kurz gefaßt sein und eine kurze Beantwortung ermöglichen. Darüber hinaus kann jeder Bundestagsabgeordnete ebenfalls über den Bundestagspräsidenten jeden Monat bis zu vier Fragen zur schriftlichen Beantwor-
60
Troßmann, JöR NF 28 (1979), S. 1 (221). In der 12. Wahlperiode wurde dieses Recht auch den nach § 10 Abs. 4 GOBT anerkannten Gruppen PDS/Linke Liste und Bündnis 90/Die Grünen und in der 13. Wahlperiode der PDS-Bundestagsgruppe zuerkannt. 62 Schindler, ZParl 1995, S. 551 (563). 63 In der 11. WP kamen 98,5 % der Kleinen Anfragen aus den Reihen der Opposition, Schindler, ZParl 1995, S. 551 (563). 61
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
tung an die Bundesregierung richten. Die Bundesregierung beantwortet die Fragen binnen einer Woche nach Eingang beim Bundeskanzleramt. Die Antwort wird in der folgenden Woche zusammen mit der Frage in einer Drucksache veröffentlicht. Von der Möglichkeit, mündliche oder schriftliche Anfragen an die Bundesregierung zu stellen, wird von den Bundestagsabgeordneten reger Gebrauch gemacht. So wurden in der 12. Wahlperiode 16.665 schriftliche und 4.215 mündliche Anfragen gestellt 64 . Überwiegend waren es Abgeordnete der Opposition, die ihr Fragerecht ausgeübt haben65.
d) Befragung der Bundesregierung Nach § 106 Abs. 2GOBT findet in Sitzungswochen eine Befragung der Bundesregierung statt, bei der die Abgeordneten Fragen von aktuellem Interesse an die Bundesregierung im Rahmen ihrer Verantwortlichkeit und vorrangig zur vorangegangen Sitzung der Bundesregierung stellen können. § 106 Abs. 2 GOBT wurde durch Beschluß vom 31. Oktober 1990 66 neu in die GOBT aufgenommen. Zuvor war die Befragung der Bundesregierung auf der Grundlage von Vereinbarungen im Ältestenrat von Oktober 1988 bis Juni 1990 erprobt worden 67 . Einzelheiten zur Befragung der Bundesregierung sind in Anlage 7 der GOBT geregelt. Danach findet eine Befragung der Bundesregierung in Sitzungswochen Mittwochs um 13.00 Uhr statt. Fragen müssen kurz gefaßt sein und kurze Antworten ermöglichen und können durch Bemerkungen eingeleitet werden. Grundsätzlich antwortet das Regierungsmitglied, das angesprochen wird, ohne daß hierdurch das Rederecht des zuständigen Regierungsmitgliedes berührt wird. Die Befragung dauert in der Regel 30 Minuten und kann um 30 Minuten verlängert werden. In der 12. Wahlperiode haben 44 Regierungsbefragungen stattgefunden 68. Regierungsbefragungen sind ein probates Mittel für das Parlament, sich über
64 65 66 67 68
Schindler , ZParl 1995, S. 551 (563). In der 11. Wahlperiode zu 70,1 %, Schindler , ebenda. Sten.Ber. 11. WP, 234. Sitzung, 31.10.1990, S. 18797, BT-Drs. 11/7987, S. 5. Ritzel/Bücker , § 106 Anm. II a). Schindler , ZParl 1995, S. 551 (563).
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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aktuelle Vorhaben und Einschätzungen der Bundesregierung ein Bild zu verschaffen.
5. Auskunftsverpflichtung
der Bundesregierung
Eine Verpflichtung zur Beantwortung parlamentarischer Auskunftsersuchen besteht für die Bundesregierung jedenfalls dann, wenn sie sich aus dem Grundgesetz ergibt.
a) Auskunftspflicht im Falle der Herbeizitierung Das Grundgesetz bestimmt in Art. 43 Abs. 1 GG lediglich, daß der Bundestag und seine Ausschüsse jederzeit die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen können. Nach dem Wortlaut der Norm besteht für das herbeigerufene Mitglied der Bundesregierung eine Anwesenheitspflicht. Es hat persönlich zu erscheinen, weil Art. 43 Abs. 1 GG anders als Art. 43 Abs. 2 GG keine Entsendung eines Beauftragten zuläßt 69 . Eine Pflicht über die bloße Anwesenheit hinaus, Fragen des Parlaments zu beantworten, läßt sich dem Wortlaut der Grundgesetzbestimmung nicht unmittelbar entnehmen. Teilweise wird deshalb auch eine Antwortpflicht abgelehnt70. Es gebe zwar eine politische, nicht aber eine rechtliche Verpflichtung des zitierten Regierungsmitgliedes, im Parlament Rede- und Antwort zu stehen71. Hierdurch werde die Anwesenheit des herbeigerufenen Regierungsmitgliedes auch nicht sinnlos, weil die Anwesenheit eines Regierungsmitgliedes auch zum Zwecke seiner Information sinnvoll sein könne 72 .
69
Joachim v. Einem , Die Auskunftspflicht der Bundesregierung gegenüber dem Parlament, 1977, S. 80; Theodor Maunz , in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Mai 1994, Art. 43 Rz. 7; Norbert Achterberg!Martin Schulte , in: v. Mangoldt/ Klein/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 3. Auflage, 1991, Art. 43 Rz. 10. 70 Achterberg , Parlamentsrecht, S. 462 f.; Bernd Fauser , Die Stellung der Regierungsmitglieder und ihrer Stellvertreter im Parlament, 1973, S. 111 f.; Heinz-Wilhelm Meier , Zitier- und Zutrittsrecht im parlamentarischen Regierungssystem, 1982, S. 144 f.; Oebbecke , Weisungs- und unterrichtungsfreie Räume in der Verwaltung, 1986, S. 107 ff. 71 Achterberg , Parlamentsrecht, S. 463; Meier, S. 146. 72 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 463 und S. 687 f.;
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
Weit überwiegend wird Art. 43 Abs. 1 GG allerdings so verstanden, daß sich die Pflicht der herbeigerufenen Regierungsmitglieder nicht im bloßen Erscheinen erschöpfe. Sie seien vielmehr verpflichtet, sich an der parlamentarischen Debatte zu beteiligen und auf Anfragen Rede und Antwort zu stehen73. Eine teleologische Auslegung der Verfassungsbestimmung stützt diese Auffassung. Denn das Zitierrecht spiegelt die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament wider. Ist die Regierung dem Parlament gegenüber verantwortlich, so muß dieses die Möglichkeit haben, die Verantwortlichkeit geltend zu machen74. Ein Mittel hierzu bietet das Zitierrecht. Durch bloße Anwesenheit des herbeigerufenen Regierungsmitgliedes aber kann dieser Zweck nicht erreicht werden. Vielmehr hat das Parlament einen Anspruch auf sofortige Antworten des anwesenden Mitgliedes. Erst dieses „wechselseitige Rede- und Antwortspiel" ermöglicht es dem Parlament, politischen Einfluß auf die Regierung zu nehmen75. Dagegen dient Art. 43 Abs. 1 GG sicher nicht der Information von Regierungsmitgliedern. Dem Informationsbedürfnis von Regierungsmitgliedern wird nämlich durch Art. 43 Abs. 2 GG Rechnung getragen, der diesen und ihren Beauftragten ein Zutrittsrecht zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse einräumt 76. Art. 43 Abs. 1 GG verpflichtet daher - als Ausdruck der parlamentarischen Regierungsverantwortlichkeit - das herbeigerufene Regierungsmitglied dazu, dem Parlament Rede und Antwort zu stehen.
73 Franz Klein , in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 8. Auflage, 1995, Art. 43 Rz. 6; Maunz , in: Maunz/Dürig, Art. 43 Rz. 8; Stern , Staatsrecht II, § 26 II 3 a) (S. 52); Winfried Stefani , Formen, Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle, in: Schneider/Zeh, § 49 Rz. 24; Klaus Vogelsang , Die Verpflichtung der Bundesregierung zur Antwort auf parlamentarische Anfragen ZRP 1988, S. 5 (7); Hubert Weis , Parlamentarisches Fragerecht und Antwortpflicht der Regierung, DVB1. 1988, S. 268 (269); Gertrud Witte-Wegmann , Recht und Kontrollfunktion der Großen, Kleinen und Mündlichen Anfragen im Deutschen Bundestag, 1972, S.80 f.; für die WRV bereits Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Kommentar, 14. Auflage, S. 213; für die Preuss.Verf. Eduard Hubrick , Preußisches Staatsrecht, 1909, S. 209. 74 Klaus Stern , Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band II, 1980, § 26 II 3 a) (S. 52). 75 Joachim Linck, Zur Informationspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament, DÖV 1983, S. 957 (960); Vogelsang , ZRP 1988, S. 5 (7). 76 Dies räumt auch Achterberg , S. 463 ein.
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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b) Auskunftspflicht auf andere parlamentarische Anfragen Ob die Bundesregierung darüber hinaus auch in Fällen, in denen die GOBT Fragerechte festlegt, zur Auskunfterteilung verpflichtet ist, ist umstritten.
aa) Keine Antwortpflicht Das Grundgesetz enthält keine ausdrückliche Regelung dazu, daß die Bundesregierung Anfragen aus dem Parlament, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Herbeirufung stehen, zu beantworten hat. Eine Reihe von Autoren 77 verneinen deshalb eine rechtliche Verpflichtung der Bundesregierung, auf Anfragen aus dem Parlament zu antworten, mit der Begründung, daß sich eine solche Verpflichtung nur aus der Verfassung und nicht aus der GOBT ergeben könne. Aus diesem Grund sah bereits Laband das Interpellationsrecht lediglich als Pseudorecht an, das sich nicht von dem Recht jedes Bürgers, Fragen an die Regierung zu stellen, unterscheide 78. Allerdings ist zumindest der politische Druck, der von parlamentarischen Anfragen ausgeht - gleichgültig, ob sie von der Mehrheit, einer Minderheit oder einzelnen Abgeordneten gestellt werden praktisch in aller Regel sehr viel größer als bei einer Bürgerfrage 79.
bb) Ableitung der Antwortpflicht
aus dem Grundgesetz
In einem parlamentarischen Regierungssystem, in dem es zu den Aufgaben des Parlaments gehört, die Regierung zu überwachen und in dem die Regierung aufgrund ihrer Ministerialbürokratie über einen Informationsvorsprung gegenüber dem Parlament verfugt, wird die Feststellung, daß die Regierung zur Auskunfterteilung allenfalls politisch, nicht aber rechtlich verpflichtet ist, überwiegend als unbefriedigend empfunden.
77 Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 112; Bernd Fauser, Die Stellung der Regierungsmitglieder und ihrer Vertreter im Parlament, 1973, S. 126; Leo Kißler, Die Offentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages, 1976, S. 162; Meinhard Schröder, in: Bonner Kommentar, Stand: Dezember 1995, Art. 43 Rz. 15; bereits Paul Laband, Das Interpellationsrecht, DJZ 1909, S. 677 (679). 78 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Band I, 5. Auflage, 1911, S. 307. 79 Laband, ebenda; zum politischen Zwang der Regierung parlamentarische Anfragen zu beantworten, siehe auch Schröder, in: Bonner Kommentar, Art. 43 Rz. 15. 7 Schwerin
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
Daher werden eine Reihe von Meinungen vertreten, die eine Antwortpflicht der Bundesregierung aus einzelnen Grundgesetzvorschriften oder allgemeinen Verfassungsprinzipien ableiten. So wird die Antwortpflicht teils als Ausfluß des Statusrechts des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG 8 0 , teils als Verfassungsgewohnheitsrecht 81 oder als Konkretisierung des Zitierrechts in Art. 43 Abs. 1 GG 8 2 angesehen. Andere Auffassungen entnehmen die Pflicht der Bundesregierung, auf parlamentarische Anfragen zu antworten, dem parlamentarischen Regierungssystem 83 , dem Prinzip der Verfassungsorgantreue 84 bzw. der Ministerverantwortlichkeit 85 oder folgern sie als Annex aus den parlamentarischen Kontrollaufgaben insgesamt86.
(1) Informationsanspruch des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Beratung der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste 87 festgestellt, daß dem einzelnen Abgeordneten aus seinem in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten verfassungsrechtlichen Status ein Recht erwächst, daß ihm diejenigen Informationen nicht vorenthalten werden, die er für eine sachverständige Beurteilung des Haushaltsplans benötigt. Dies folge daraus, daß der Abgeordnete nicht nur das Recht
80
VerfGH NRW, DVB1. 1994, S. 48 (49 f.); Christoph Gusy, Frage und Antwort als Instrumente parlamentarischer Kontrolle, JuS 1995, S. 878 (880); Stephan Haberland, Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, 1995, S. 90; Hans Hugo Klein, Status des Abgeordneten, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 41 Rz. 32; Siegfried Magiera, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 1995, Art. 43 Rz. 2. 81 VG Köln, DVBI. 1965, S. 882 (883); Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Mai 1994, Art. 43 Rz. 8; Hans-Josef Vonderbeck, Parlamentarische Informations- und Redebefugnisse, 1981, S. 20 f. 82 Franz Klein, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 8. Auflage, 1995, Art. 43 Rz. 6; Stern,, Staatsrecht II, § 26 II 3b (S. 55 f.). 83 Hans Troßmann, Parlamentsrecht und Praxis des deutschen Bundestages, 1967, S. 151. 84 Thomas Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 1979, S. 317. 85 Klaus Kröger, Die Ministerverantwortlichkeit in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 6. 86 Dieter Bodenheim, Kollision Parlamentarischer Kontrollrechte, 1979, S. 45; Ritzel/Bücker Vor. §§ 100-106 Anm. IV. 87 BVerfGE 70, 324, (355); siehe zu dieser Entscheidung bereits oben Kapitel 2 Abschnitt 2 A II-IV.
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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habe, im Bundestag abzustimmen, Art. 42 Abs. 1 GG, sondern auch das Recht zu beraten, Art. 42 Abs. 2 GG. Eine Beratung verfehle aber ihren Zweck, wenn keine ausreichenden Informationen über den Beratungsgegenstand zur Verfugung stünden88. Die Entscheidung betraf allerdings nicht die Frage, ob eine Antwortpflicht der Bundesregierung auf parlamentarische Anfragen besteht. Vielmehr ging es um die Zusammensetzung eines parlamentarischen Gremiums, dem die Bundesregierung bestimmte geheimhaltungsbedürftige Informationen zur Verfügung stellte. Dem Urteil ist deshalb auch nicht klar zu entnehmen, ob das Recht des Abgeordneten auf umfassende Information 89 unmittelbar gegenüber der Bundesregierung besteht oder ob es sich um ein Teilhaberecht an den Informationsund Kontrollrechten des Bundestages handelt. Es erscheint deshalb etwas vorschnell, wenn der Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen 90 und Teile der Literatur 91 meinen, allein aus dieser Entscheidung darauf schließen zu können, daß sich nun nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Fragerecht und Antwortpflicht auf Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG stützen ließen. Das Informationsrecht des Abgeordneten bzw. der Abgeordnetengruppe kann nämlich auf zweierlei Weise ausgestaltet sein. Es kann sich entweder um ein Teilhaberecht an den Informationen und Informationsmitteln des Bundestages handeln, woraus sich eine Verpflichtung des Geschäftsordnungsgebers ergeben kann, eine effektive Wahrnehmung dieses Rechts zu gewährleisten. Oder es handelt sich um ein Recht, das sich unmittelbar gegen die Bundesregierung richtet und jedem Abgeordneten originär einen Informationsanspruch einräumt. Je nachdem, ob die Verpflichtung, Anfragen zu beantworten, dem einzelnen Abgeordneten, der parlamentarischen Minderheit oder Mehrheit oder aber dem Organ Bundestag insgesamt zusteht, ergeben sich auch Schlußfolgerungen bezüglich der Möglichkeiten, die Ausübung dieses Rechts in der GOBT zu regeln.
88
Ebenda. BVerfGE 70, 324 (355). 90 VerfGH NRW, DVB1. 1994, S. 48 (49 f.). 91 Gusy, JuS 1995, S. 878 (880); Haberland, Verfassungsrechtliche Bedeutung, S. 90; Sven Hölscheidt, Information der Parlamente durch die Regierungen, DÖV 1993, S. 593 (595); Walter Schmidt, Informationsanspruch des Abgeordneten und Ausschußbesetzung, DÖV 1986, S. 236 („die Krücke des Art. 43 Abs. 1 GG wird hierdurch für das Informationsrecht endgültig entbehrlich"). 89
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
Handelt es sich hierbei um die Teilhabe an einer Befugnis, die dem Bundestag insgesamt zusteht, so kann das Parlament diese Befugnis in seiner Geschäftsordnung näher ausgestalten, soweit sich nicht aus der Verfassung ergibt, daß der Bundestag dieses Recht nur durch Mehrheitsbeschluß ausüben kann. Bei der Ausgestaltung dieses Rechts hätte der Bundestag weiter zu beachten, ob er den einzelnen Abgeordneten und Abgeordnetengruppen nicht ein Mindestmaß an Informationsrechten zubilligen muß, damit diese ihren verfassungsmäßigen Aufgaben nachkommen können, wozu die sachkundige Beratung zählt. Räumt der Bundestag auf diese Weise Informationsrechte ein, so korrespondiert mit diesen Rechten eine Pflicht der Bundesregierung zur Informationserteilung in gleicher Weise als wenn der Bundestag in seiner Gesamtheit um Informationen ersucht hätte. Zu Recht weist Magiera 92 darauf hin, daß es ein Widerspruch ist, wenn die Regelung der §§ 100 ff. GOBT als Konkretisierung von Verfassungsrecht angesehen, eine Antwortpflicht der Regierung auf Anfragen der Minderheit aber verneint wird 9 3 . Handelt es sich beim Interpellationsrecht aber um ein Abgeordnetenrecht, das sich unmittelbar aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ableitet, so steht dieses auch ohne Konkretisierung in der Geschäftsordnung jedem Abgeordneten originär zu. Die Regelungen der GOBT stellten sich dann als Beschränkung des verfassungsrechtlichen Fragerechts und der korrespondierenden Antwortpflicht dar 94 . Zwar ist anerkannt, daß die GOBT die Art und Weise regeln darf, in der die Abgeordneten ihre verfassungsrechtlich verankerten Mitwirkungsbefugnisse ausüben und im Interesse der geordneten Wahrnehmung und sachgerechten Erfüllung der parlamentarischen Arbeit an teilweise weitreichende Bedingungen knüpfen darf 95 . Nur wird durch das Fragerecht die parlamentarische Arbeit kaum beeinträchtigt, richtet es sich doch allein an die Bundesregierung. Verfahrensmäßig könnte es sogar so ausgestaltet werden, daß parlamentarische Belange überhaupt nicht berührt werden. Dies ist zum Teil bereits heute der Fall, denn bei der Kleinen Anfrage und den schriftlichen Einzelfragen besteht gar
92
Siegfried Magiera , Parlament und Staatsleitung, 1979, S. 326; ähnlich bereits Fritz Ossenbühl , Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates an die planende staatliche Tätigkeit, dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung?, Gutachten, in: Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentages 1974, Band I, Teil B, 1974, S. 115 Fußnote 256. 93 So aber Maunz , in: Maunz/Dürig, Art. 43 Rz. 1 entgegen Art. 44 Rz. 32; ebenso v. Mangoldt/Klein , Das Bonner Grundgesetz, 2. Auflage, 1964, Art. 43 Anm. III 2 gegenüber Art. 43 Anm. III 3. 94 So auch VerfGH NRW, DVB1. 1994, S. 48 (50). 95 BVerfGE 80, 188 (219); 84, 304 (321 f.); VerfGH NRW, DVB1. 1994, S. 48 (50).
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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keine Möglichkeit, das Plenum mit den Fragen oder den Antworten zu befassen. Beachtliche Duldungspflichten, die das Fragerecht für das Parlament auslöst und die es rechtfertigten, das Fragerecht einzuschränken, existieren deshalb nicht 96 .
(2) Keine Antwortpflicht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG Die soeben behandelten Überlegungen verdeutlichen bereits, warum sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG keine Antwortpflicht der Bundesregierung ergeben kann. Allein vom Informationsbedarf des Abgeordneten, könnte eine verfassungsrechtliche Verpflichtung der Bundesregierung auf Informationsbeschaffiing allenfalls dann gefolgert werden, wenn diese über das alleinige Informationsmonopol verfügte 97. Trotz der umfassenden Informationsmöglichkeiten, über die die Regierung aufgrund ihrer umfangreichen Administration verfügt, kann von einem solchen Monopol aber keine Rede sein. Einerseits verfügen die Bundestagsabgeordneten selbst über nicht gering zu achtende Informationsmittel. So können sie sich mit Hilfe der Wissenschaftlichen Dienste 98 und ihrer Assistenten auch ohne die Bundesregierung wesentliche Informationen selbst beschaffen. Externer Sachverstand läßt sich zudem über das Mittel der öffentlichen Ausschußanhörung gemäß § 70 Abs. 1 S. 1 GOBT einholen. Dies setzt allerdings voraus, daß mindestens ein Viertel der Ausschußmitglieder dies für erforderlich hält. Andererseits ist es keineswegs sicher, daß, soweit es dem einzelnen Bundestagsabgeordneten nicht möglich ist, die Informationen, die er für eine sachverständige Beurteilung benötigt, selbst zu beschaffen, die Bundesregierung über die entsprechenden Informationen verfügt. Unter Umständen muß sie sich ihrerseits selbst erst die gewünschte Information bei einer Landes- oder Kommunalbehörde beschaffen. Ist aber das Informationsbedürfhis des Abgeordneten Grund für die Auskunftsverpflichtung, so liegt es nahe, diesem gleich auch gegen diese Behörden einen eigenen Auskunftsanspruch einzuräumen, ohne ihn auf den Umweg über die Bundesregierung zu verweisen. Schließlich liegt es in 96 Dies nimmt allerdings ohne Begründung der VerfGH NRW, DVB1. 1994, S. 48 (50) an; konsequent insofern Wolfgang Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 451 f., der aus diesem Grund die Regelungen zur Kleinen Anfrage für verfassungswidrig hält. 97 So auch Maiwald, Berichtspflicht, S. 144. 98 Zu diesem Winfried Steffani, Formen, Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 49 Rz. 46 ff.
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
der Logik dieser Argumentation, auch jedes Privatunternehmen, sogar jeden Bürger als verpflichtet anzusehen, auf eine parlamentarische Anfrage alle jene Informationen preiszugeben, die einem Abgeordneten notwendig zur sachverständigen Beurteilung bestimmter Sachverhalte erscheinen. Auf diese Weise führt die an sich plausible Idee, aus dem Informationsbedarf auf die Informationsverpflichtung zu schließen, zu einer Ausuferung des Kreises der auskunftsverpflichteten Adressaten. Hinzu kommt, daß Adressat der in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG festgeschriebenen Garantie des freien Mandats funktional nicht die Bundesregierung ist. Das freie Mandat zielt einerseits darauf, die Unabhängigkeit des Abgeordneten von seinen Wählern zu sichern", andererseits schützt es seine Unabhängigkeit vor den politischen Parteien 100 . Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG dient daher traditionell der Sicherung der Abgeordnetenfreiheit im „Repräsentationszusammenhang" 101. Dem Schutz vor Einflüssen seitens der exekutiven Staatsgewalt dienen dagegen die Inkompatibilitätsbestimmungen in Art. 137 GG sowie die in Art. 46 GG angeordnete Immunität und Indemnität. Die Ableitung einer Antwortpflicht der Bundesregierung aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG wäre daher mehr als ein bloßer Bedeutungswandel der Verfassungsbestimmung 102. Sie stellte einen Systembruch dar, denn sie entspräche nicht der Verfassungskonzeption des Grundgesetzes, nach der das freie Mandat nicht das Verhältnis zwischen dem Abgeordneten und der exekutiven Staatsgewalt betrifft. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG begründet deshalb keinen originären Anspruch des Abgeordneten gegenüber der Bundesregierung auf Auskunfterteilung.
99
Peter Badura, Die Stellung des Abgeordneten, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 15 Rz. 15. 100 Claus Arndt, Fraktion und Abgeordneter, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 21 Rz. 21 f.; Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 600; Demmler, Der Abgeordnete, S. 66 f. Auf diese Weise steht es in einem Spannungsverhältnis zu Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG, wonach die Parteien an der politischen Willensbildung mitwirken, das aber in dieser Arbeit nicht weiter thematisiert werden soll, vgl. hierzu die gegensätzlichen Beiträge von Claus Arndt, Fraktion und Abgeordneter, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 21 und Hildegard Hamm-Brücher, Abgeordneter und Fraktion, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 22. 101 102
Gusy, JuS 1995, S. 878 (880). So aber Gusy, JuS 1995, S. 878 (880).
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
103
(3) Antwortpflicht aufgrund geschäftsordnungsrechtlicher Konkretisierung des Art. 43 Abs. 1 GG Näherliegend erscheint es, zur Begründung dieser Pflicht auf Art. 43 Abs. 1 GG abzustellen, der zumindest einen Teilbereich des parlamentarischen Kontrollrechts behandelt. Aus dem Recht des Bundestages und seiner Ausschüsse gemäß Art. 43 Abs. 1 GG, von jedem Mitglied der Bundesregierung Anwesenheit zu verlangen und der hiermit korrespondierenden Pflicht des Regierungsmitglieds, dem Bundestag Rede und Antwort zu stehen, könnte sich ein Recht des Bundestages ergeben, Fragen auch in schriftlicher Form an die Bundesregierung zu richten und eine Pflicht der Bundesregierung, diese zu beantworten. Steht es dem Bundestag zudem frei, die Ausübung dieses Rechts selbst zu regeln und es als Minderheitenrecht auszugestalten, so wäre Art. 43 Abs. 1 GG der geeignete Anknüpfungspunkt für das parlamentarische Interpellationsrecht, wie es in §§ 100 ff GOBT festgelegt ist. Gegen dieses Konzept, nach dem die in der GOBT festgeschriebenen Fragerechte eine Konkretisierung des parlamentarischen Zitierrechts darstellten, werden allerdings gewichtige Argumente angeführt: Da Art. 43 Abs. 1 GG einen Mehrheitsbeschluß voraussetze, könne dieses Recht nicht als Minderheitenrecht ausgestaltet werden 103 . Außerdem richteten sich die geschäftsordnungsmäßigen Fragerechte gegen die Bundesregierung, während Art. 43 Abs. 1 GG die Zitierung einzelner Regierungsmitglieder und nicht der Regierung als solcher vorsehe 1 0 4 . Zudem sehe das Grundgesetz ein Fragerecht nur im Rahmen der Präsenzpflicht der Regierungsmitglieder vor, wohingegen die Fragerechte in der GOBT keine Präsenz von Regierungsmitgliedern voraussetzten 105. Diese Auslegung kann sich insbesondere auf den Wortlaut von Art. 43 Abs. 1 GG stützen: „Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen." Ob dieses am Wortlaut der Norm orientierte Verständnis dem Sinn der Vorschrift gerecht wird, erscheint indessen zweifelhaft.
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Meinhard Schröder, in: Bonner Kommentar, Stand: Dezember 1995, Art. 43
Rz. 6 f. 104
Schröder,
in: Bonner Kommentar, Art. 43 Rz. 6; Vogelsang, ZRP 1988, S. 5
Schröder, S. 435 f.
in: Bonner Kommentar, Art. 43 Rz. 7; Demmler, Der Abgeordnete,
(6 f.). 105
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
(a) Adressatenproblem Es wirkt kleinlich und begriffsjuristisch, wenn daraus, daß das Zitierrecht gemäß Art. 43 Abs. 1 GG die Mitglieder der Bundesregierung als mögliche Adressaten nennt, die Fragerechte der GOBT dagegen die Bundesregierung insgesamt ansprechen, geschlossen wird, aufgrund der verschiedenen Adressaten könnten die geschäftsordnungsmäßigen Bestimmungen keine Konkretisierung des Grundgesetzartikels sein. Nach Art. 62 GG besteht die Bundesregierung aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern. Der Kreis möglicher Adressaten ist daher in beiden Fällen identisch. Der praktische Grund für die abweichende Regelung in der GOBT dürfte darin liegen, daß sich das Parlament, indem es die Bundesregierung insgesamt als Ansprechpartnerin parlamentarischer Fragen wählt, der Verpflichtung enthebt, die Zuständigkeit der Fachminister klären zu müssen106. Warum dies mit dem Wortlaut von Art. 43 Abs. 1 GG unvereinbar sein soll, ist nicht zu erklären. Das Argument, Art. 43 Abs. 1 GG betreffe einen anderen Adressatenkreis als die geschäftsordnungsrechtlichen Fragerechte, vermag die These vom Interpellationsrecht als der Konkretisierung des grundgesetzlichen Zitierrechts daher nicht zu widerlegen.
(b) Entkoppelung von Präsenzpflicht und Fragerecht Schwerer zu entkräften ist das Argument, Art. 43 Abs. 1 GG gewähre seinem eindeutigen Wortlaut nach ein Fragerecht nur bei Präsenz des betreffenden Regierungsmitgliedes, weshalb die Entkoppelung von Regierungspräsenz und Fragerecht den äußersten Rahmen zulässiger Verfassungsinterpretation überschreite 107 . Dagegen haben Herzog/Pietzner überzeugend dargelegt, daß das in Art. 43 Abs. 1 GG enthaltene Fragerecht erst recht das Recht vermittelt, schriftliche Fragen zu stellen 108 . Eine andere Auslegung hätte zur Folge, daß das Parlament gezwungen wäre, zur wirksamen Ausübung seines Fragerechts stets ein oder mehrere Regierungsmitglieder zu zitieren. Hierdurch würde allein die Arbeit der Regierung beeinträchtigt, ohne daß dem Zweck des parlamentarischen Zi-
106
Maiwald , Berichtspflicht, S. 148. Schröder , in: Bonner Kommentar, Art. 43 Rz. 7. 108 Roman Herzog!Rainer Pietzner , Möglichkeiten und Grenzen einer Beteiligung des Parlamentes an der Ziel- und Resourcenplanung der Bundesregierung, 1979, S. 77. 107
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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tierrechts gedient wäre. Schriftliche parlamentarische Anfragen, die die Regierung schriftlich beantworten kann, reichen für die parlamentarischen Informations- und Kontrollzwecke in der Regel aus und fuhren zu einer weit geringeren Beeinträchtigung der Regierungsarbeit 109. Es erscheint daher weder geboten, noch sachgerecht, in Art. 43 Abs. 1 GG eine strikte Koppelung von Präsenz und Antwortpflicht hineinzulesen. Vielmehr muß der Bundestag, der selbst die persönliche Auskunft von einem herbeizitierten Regierungsmitglied verlangen kann, erst recht ermächtigt sein, in schriftlicher Form eine schriftliche Antwort einzufordern. Allein diese Auslegung wird dem Sinn und Zweck der Vorschrift gerecht 110 . Die Wahrnehmung des sich aus Art. 43 Abs. 1 GG ergebenden Fragerechts setzt daher nicht notwendig die Präsenz des befragten Regierungsmitgliedes voraus, weshalb sich die Interpellationsrechte in der GOBT unter diesem Gesichtspunkt durchaus als Konkretisierung erweisen könnten.
(c) Ausgestaltung als Minderheitenrecht Die §§ 100 ff. GOBT können aber dann keine Konkretisierung des Art. 43 Abs. 1 GG sein, wenn die Ausgestaltung der Interpellationsrechte als Minderheitenrechte unvereinbar mit der Grundgesetznorm ist. Vielfach wird behauptet Art. 43 Abs. 1 GG begründe ein Mehrheitsrecht 111. Diese Formulierung ist aber schief, denn Art. 43 Abs. 1 GG begründet kein Recht der Bundestagsmehrheit, sondern eine staatsrechtliche Kompetenz des Verfassungsorgans Bundestag gegenüber dem Verfassungsorgan Bundesregierung. Nach Art. 43 Abs. 1 GG bedarf es eines Mehrheitsbeschlusses nur, soweit es die Herbeirufung des Regierungsmitgliedes angeht. Das Recht, dem anwesenden Regierungsmitglied Fragen zu stellen, steht dann den einzelnen Abgeordneten nach Maßgabe der GOBT zu. Die Ausübung des Zitierrechts erfolgt daher bei genauer Betrachtung zweigestuft. Während fur die Herbeirufung ein Mehrheitsbeschluß erforderlich ist, kann dem herbeigerufenen Regierungsmitglied auch der einzelne Abgeordnete
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Herzog/Pietzner, Beteiligung des Parlamentes, S. 78. Ebenso Herzog/Pietzner, Beteiligung des Parlamentes, S. 78, Maiwald, Berichtspflicht, S. 154. 111 Schröder, in: Bonner Kommentar, Art. 43 Rz. 6 f.; Hans-Josef Vonderbeck, Parlamentarische Informations- und Redebefugnis, 1981, S. 23; Hubert Weis, Parlamentarisches Fragerecht und Antwortpflicht der Regierung, DVB1. 1988, S. 268 (269). 110
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Fragen stellen. Da das Fragerecht überhaupt erst entsteht, wenn das Regierungsmitglied der Herbeirufimg Folge geleistet hat, handelt es sich genau genommen nicht um ein Mehrheits-, sondern von vornherein um ein Minderheitenrecht für dessen Ausübung allerdings ein vorhergehender Mehrheitsbeschluß erforderlich ist. Die Frage lautet daher nicht, ob es zulässig ist, per Geschäftsordnung aus einem Mehrheitsrecht ein Minderheitenrecht zu machen, sondern ob die Entkoppelung von Fragerecht und Präsenzpflicht und der hiermit einhergehende Wegfall des Mehrheitsbeschlusses zur Herbeirufung, Einfluß auf die Ausgestaltung des Fragerechts haben muß. Dabei ist zu beachten, daß der Bundestag die Geschäftsordnung samt der in ihr enthaltenen Interpellationsrechte per Mehrheitsbeschluß verabschiedet. Zwar kann nicht angenommen werden, daß er sich mit diesem Mehrheitsbeschluß die Interpellation der Minderheit vorab zu eigen machen wollte 1 1 2 . Ein so konstruierter Mehrheitsbeschluß beruhte auf einer reinen Fiktion. Der Beschluß des Bundestages zu Beginn einer Legislaturperiode, die Geschäftsordnung des Vorgängerparlaments beizubehalten, geschieht nicht in dem Bewußtsein einer antizipierten Übernahme sämtlicher wie auch immer gearteter Auskunftsbegehren einzelner Abgeordneter oder Gruppen von Abgeordneten. Ein solchermaßen fiktiver Parlamentsbeschluß genügt nicht den Anforderungen des Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG 1 1 3 . Es ist aber auch nicht erforderlich, daß sich die Mehrheit die Anfragen der Minderheit zu eigen macht, denn auch wenn ein Regierungsmitglied herbeigerufen wird, muß die Mehrheit nicht mit den gestellten Fragen einverstanden sein. Vielmehr ist das herbeigerufene Regierungsmitglied zur Beantwortung aller in der Sitzung an ihn gerichteten Fragen verpflichtet, unabhängig davon, ob diese vom Willen der Mehrheit getragen werden, die den Herbeiruftingsbeschluß gefaßt hat. So wie die Mehrheit im Falle der Herbeirufung eines Regierungsmitgliedes zum Ausdruck bringt, daß sie ungeachtet der konkret gestellten Fragen erwartet, daß dieses Rede und Antwort steht, so bringt auch der Beschluß der Geschäftsordnung mit ihren Interpellationsrechten zum Ausdruck, daß der Minderheit
112 Maiwald, Berichtspflicht, S. 147; Klein, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 43 Rz. 6; für möglich halten diese Lösung auch Wiltraut Rupp v. Brünneck und Gerhard Konov, in: Zinn/Stein (Hrsg.), Verfassung des Landes Hessen, Stand: April 1991, Art. 91 Erl. 5. 113 Rainer Pietzner, Petitionsausschuß und Plenum, 1974, S. 69 Fn. 26.
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ungeachtet des konkreten Auskunftsbegehrens ein Fragerecht zukommen soll. Insofern unterscheidet sich der Mehrheitsbeschluß, mit dem die Geschäftsordnung samt der Interpellationsrechte in Kraft gesetzt wird, in seiner Willensrichtung nicht von dem Herbeirufungsbeschluß. Fraglich ist aber, ob der Bundestag nicht mißbräuchlich handelt, wenn er die Bundesregierung gleichsam in einen Zustand permanenter Herbeirufung versetzt, mit der Folge, daß sie zwar nicht dauernd im Plenum Rede und Antwort stehen, aber jederzeit auf parlamentarische Anfragen antworten muß. Bei der Beurteilung dieser Vorgehensweise ist die Funktion des Interpellationsrechts zu beachten. Das Interpellationsrecht ist ein wichtiges Mittel der Opposition zur Informationsgewinnung und zur Regierungskontrolle. Ohne dieses Recht wäre eine wirksame Ausübung von Opposition kaum möglich. Korrespondierte mit diesem Recht keine Pflicht der Bundesregierung zur Auskunftserteilung, hinge die Wirksamkeit der Kontrolle vom guten Willen des Kontrollierten ab. Ein Ergebnis, das in Anbetracht der Tatsache, daß die Ausübung von Opposition zu den Grundprinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zählt 114 , kaum überzeugen kann. Zumal das Grundgesetz ein sehr viel einschneidenderes Kontrollmittel, nämlich das Recht, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß einzusetzen, in Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG als Minderheitenrecht ausgestaltet hat. Vielmehr ist der Schluß geboten, daß dann, wenn die Opposition sogar fähig ist, ein Untersuchungsverfahren in Gang zu bringen, es ihr jedenfalls nicht grundgesetzlich verwehrt sein kann, die Informationsrechte des Art. 43 Abs. 1 GG auszuüben 115 . Nicht allein die Oppositionsausübung insgesamt, auch und gerade eine effektive Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats erfordert die Möglichkeit, Fragen an die Bundesregierung zu stellen und hierauf auch Antworten zu erhalten. Insbesondere Abgeordnete, die der Opposition angehören, werden ansonsten schwerlich an solche Informationen gelangen, die unangenehm für die Regierung sein könnten. Anfragen von Abgeordneten der Regierungsfraktion(en) wird sich die Regierung dagegen auch ohne Rechtspflicht aufgrund ihrer Abhängigkeit von der parlamentarischen Mehrheit kaum verweigern können. So würden Abgeordnete erster und zweiter Klasse geschaffen, was mit der aus 114
BVerfGE 2, 1 (12); 5, 85 (140); 70, 324 (363);, Herzog/Pietzner, Beteiligung des Parlamentes, S. 105; Hans D. Jarras/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, 1995, Art. 20 Rz. 6. 115 Herzog/Pietzner, Beteiligung des Parlamentes, S. 105.
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Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG folgenden formalen Gleichheit aller Parlamentarier nicht vereinbar wäre. Abgeordneten, die einer parlamentarischen Minderheit angehören, könnten so Informationen vorenthalten werden, die sie zu einer sachverständigen Beurteilung parlamentarischer Beratungsgegenstände benötigen. Das aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG i.V.m. Art. 42 Abs. 2 GG resultierende Recht des Abgeordneten, an den für eine sachverständige Beratung erforderlichen Informationen teilzuhaben, könnte auf diesem Wege vereitelt werden. Daraus folgt, daß der Bundestag nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet ist, die Ausübung des Interpellationsrechts so auszugestalten, daß die einzelnen Abgeordneten und die Opposition über diejenigen Informations- und Kontrollmittel verfügen, die sie für eine wirksame Ausübung ihrer Funktionen benötigen 116 . Es widerspräche diesem Ergebnis, legte man Art. 43 Abs. 1 GG in einer Weise aus, die die Wahrnehmung des Fragerechts von einem Mehrheitsbeschluß abhängig machte. Die hier vertretene Auffassung berücksichtigt zudem das Gebot, im Hinblick auf die starke Stellung der Regierung, eine Auslegung dahingehend zu wählen, „daß parlamentarische Kontrolle wirksam sein kann" 117 . Der Bundestag genügt daher einer Verfassungspflicht, wenn er die Ausübung seiner Rechte aus Art. 43 Abs. 1 GG nicht allein der Mehrheit, sondern auch parlamentarischen Minderheiten und einzelnen Abgeordneten überläßt 118 . Die geschäftsordnungsrechtliche Ausgestaltung als Minderheitenrecht kann aus diesem Grund auch der Regierung gegenüber nicht rechtsmißbräuchlich sein, zumal die Geschäftsordnung Vorkehrungen trifft - Begrenzung der Zahl der zulässigen Einzelfragen, Erfordernis eines Quorums für eine Kleine oder Große Anfrage -, die eine übermäßige Inanspruchnahme der Regierung verhindern.
(d) Folgerungen Die vorstehenden Darlegungen haben ergeben, daß die geschäftsordnungsrechtlichen Interpellationsrechte eine Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Zitierrechts sind. Daraus folgt, daß die Bundesregierung rechtlich verpflichtet ist, parlamentarische Anfragen zu beantworten, auch wenn diese schriftlich ergehen oder nur von einer Minderheit oder einzelnen Abgeordneten
116
In diesem Sinne auch Herzog/Pietzner, Beteiligung des Parlamentes, S. 105. BVerfGE 67, 100 (130), Hervorhebung im Original. 118 Wie weit diese Verfassungspflicht reicht und ob die in der GOBT eingeräumten Interpellationsrechte ihr genügen, ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. 117
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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gestellt werden, da insoweit Rechte des Parlaments geltend gemacht werden. Da es sich um Rechte des Parlaments handelt, die dieses einzelnen Mitgliedern oder Gruppen von Mitgliedern erst einräumen muß, begründet erst die konkrete Ausgestaltung in der Geschäftsordnung eine entsprechende Antwortverpflichtung der Bundesregierung. Aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlautes des § 102 GOBT, ist die Bundesregierung daher entgegen einer Literaturansicht 119 nicht verpflichtet, auf Große Anfragen zu antworten. Diesen rechtlichen Mangel gleicht die GOBT dadurch aus, daß sie den politischen Druck auf die Bundesregierung erhöht, indem sie den Initiatoren einer Großen Anfrage das Recht einräumt, die Beratung der Nichtbeantwortung zu verlangen. Es erscheint kaum denkbar, daß eine Bundesregierung es so weit kommen lassen wird, weil dem politische Schaden, den sie durch eine Antwortverweigerung verursacht, kein Nutzen gegenübersteht. Dies um so weniger, als es die Initiatoren einer Großen Anfrage ja in der Hand haben, statt oder neben der Großen Anfrage mit einer Kleinen Anfrage oder in Einzelfragen an die Bundesregierung heranzutreten, auf die diese dann antworten muß.
c) Reichweite der Antwortverpflichtung Besteht danach eine Verpflichtung der Bundesregierung, auf parlamentarische Anfragen zu antworten, so stellt sich die weitergehende Frage, wie weit diese Pflicht reicht. Auch wenn es sich hierbei um kein Problem handelt, das in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem parlamentarischen Selbstorganisationsrecht steht, soll es kurz angeschnitten werden, um die Tragweite des parlamentarischen Interpellationsrechts zu verdeutlichen. Da die Bundesregierung eine Verfassungspflicht trifft zu antworten, soweit die GOBT nichts anderes vorsieht, kann es nicht in ihrem freien Ermessen stehen, welche Informationen sie preisgibt 120 . Allgemein wird aber angenommen, daß eine Antwortverweigerung im Einzelfall aus wichtigen Gründen zulässig
119
Ritzel/Bücker Vorbem. zu §§ 100-106 Anm IV. Siegfried Magiera, Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder gegenüber der Bundesregierung, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 52 Rz. 64. 120
110
Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
ist 1 2 1 . Schwierig gestaltet sich aber die Bestimmung der zur Antwortverweigerung berechtigenden wichtigen Gründe. Einen Anhaltspunkt könnte dabei § 3 des Gesetzes über die Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages vom 19.7.1975 122 geben, der bestimmt, daß die Bundesregierung dem Petitionsausschuß gegenüber die Auskunft verweigern darf, wenn der Vorgang geheimgehalten werden muß oder sonstige zwingende Geheimhaltungsgründe bestehen123.
aa) Schutz von Staatsgeheimnissen Ob und vor allem wann Geheimhaltungsinteressen die Auskunftsverweigerung gestatten, erscheint fraglich. Zwar kann es das Wohl des Staates erfordern, daß bestimmte Informationen geheimgehalten werden. Aus der grundsätzlichen parlamentarischen Öffentlichkeit (Art. 42 Abs. 1 GG) könnte daher folgen, daß solche Informationen dem Bundestag vorenthalten werden müssen. Allerdings kann die Öffentlichkeit gemäß Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG selbst für Plenarverhandlungen ausgeschlossen werden und Ausschüsse tagen gemäß § 69 Abs. 1 S. GG trotz der neu geschaffenen Möglichkeit „Erweiterter öffentlicher Ausschußsitzungen"124 grundsätzlich nicht öffentlich. Auch das Selbstorganisationsrecht des Bundestages hält Vorkehrungen zum Schutz geheimhaltungsbedürftiger Informationen bereit. Insbesondere die Geheimschutzordnung des Bundestages (§ 17 und Anlage 3 GOBT) ist hier zu nennen. Zudem verpflichtet § 44 c Abs. 1 AbgG die Abgeordneten des Bundestages zur Verschwiegenheit in Angelegenheiten, die aufgrund der eines Gesetzes oder der GOBT der Verschwiegenheit unterliegen. Diese Verpflichtung gilt auch nach Beendigung des Mandates. Hält die Bundesregierung zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen für erforderlich, so kann sie diese vom Parlament verlangen und bis dahin Informationen zurückhalten 125. Eine generelles Auskunftsverweigerungsrecht aber allein aus Gründen der Geheimhaltung kann es
121 Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 43 Rz. 8; Ritzel/Bücker, Vorbem. §§ 100-106 Anm. IV; Stern, Staatsrecht II, § 26 II 3 a 8 (S. 54). 122 BGBl. I, S. 1921. 123 Auf die Vergleichbarkeit mit § 3 des Petitionsausschußgesetzes weist Vogelsang, ZRP 1988, S. 5(7) hin. 124 § 69a GOBT, eingefügt durch Beschluß vom 21. September 1995, Sten.Ber. 13. WP, 55. Sitzung, 21. September 1995, S. 4635 A; BT-Drs. 13/2342, S. 4; Bekanntmachung vom 30. September 1995, BGBl. I, S. 1246. 125 Magiera, in: Schneider/Zeh, § 52 Rz. 70.
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
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nicht geben, da im parlamentarischen Regierungssystem das Wohl des Staates nicht allein der Bundesregierung, sondern dem Bundestag und der Bundesregierung gemeinsam anvertraut ist 1 2 6 . Dies schließt es prinzipiell aus, daß die Bundesregierung Staatsgeheimnisse auch vor dem Parlament schützt.
bb) Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Anders verhält es sich dagegen, soweit die Weitergabe von Informationen zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verweigert wird. Dieses in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Recht schützt auch das Recht des Bürgers auf informationelle Selbstbestimmung, d.h. die Befugnis des einzelnen, selbst darüber zu entscheiden, ob und wann welche personenbezogenen Daten preisgegeben werden 127 . Eingriffe in dieses Recht sind auch bei überwiegendem Allgemeininteresse nur durch oder aufgrund eines Gesetzes zulässig 128 . Ein Zwang zur Angabe persönlicher Daten setzt weiter voraus, daß der Gesetzgeber den Verwendungszweck bereichsspezifisch und präzise bestimmt hat und die Angaben für diesen Zweck geeignet und erforderlich sind 129 . Die Weitergabe personenbezogener Daten an andere als die gesetzlich vorgesehenen Stellen und zu anderen Zwecken ist grundsätzlich ausgeschlossen. Dies gilt auch für parlamentarische Gremien, zumal die Kontrolle des Parlaments eine politische und keine „administrative Überkontrolle" 1 3 0 ist und dementsprechend das Verhalten der Regierung und nicht das einzelner Bürger zum Gegenstand hat 131 . Ausnahmsweise muß das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aber zurücktreten, wenn andere grundgesetzlich geschützte Belange, zu denen die Ausübung der parlamentarischen Regierungskontrolle gehört, überwiegen 132 . Die Abwägung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung gegen das Recht auf parlamentarische Kontrolle kann dabei nicht schematisch erfolgen und muß für jeden Einzelfall gesondert vorgenommen wer" den 133 . In jedem Fall ausgenommen bleiben aber solche Informationen, deren
126 127 128 129 130 131 132 133
BVerfGE 67, 100 (136); Magiera, in: Schneider/Zeh, § 52 Rz. 66. BVerfGE 65, 1 (43). BVerfGE 65, 1 (44). BVerfGE 65, 1 (46); Magiern, in: Schneider/Zeh, § 52 Rz. 71. BVerfGE 67, 100(140). Magiera, in: Schneider/Zeh, § 52 Rz. 72. BVerfGE 67, 100 (143 f.); 77, 1 (46 f.); Magiera, in: Schneider/Zeh, § 52 Rz. 72. Vogelsang, ZRP 1988, S. 5 (8).
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Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
Weitergabe aufgrund ihres intimen Charakters für den Betroffenen unzumutbar
cc) Kernbereich der Exekutive Eine Verweigerung der Antwort ist schließlich dann zulässig, wenn durch die Anfrage der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung berührt wird, denn der Gewaltenteilungsgrundsatz gebietet, daß das Parlament auch bei der Ausübung seiner Kontrollrechte den Verantwortungsbereich der Regierung achtet. Allerdings weist das Grundgesetz der Bundesregierung im Verhältnis zum Bundestag keinen Sachbereich zu, für den sie ausschließlich zuständig wäre. Zwar lassen sich in der Praxis einige Schwerpunkte etwa auf dem Gebiet der auswärtigen Angelegenheiten oder des Verteidigungswesens erkennen, ein eindeutig festzulegender Kernbereich, der die Regierung berechtigte, dem Bundestag Informationen hierüber vorzuenthalten, besteht aber nicht 135 . Die Kompetenzordnung des Grundgesetzes bedingt jedoch die Eigenständigkeit von Parlament und Regierung bei der Erledigung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben. Ihren vom Grundgesetz verlangten eigenen Beitrag zur Aufgabenerledigung kann die Bundesregierung aber nur dann leisten, wenn ihr ein nicht ausforschbarer Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich belassen wird 1 3 6 . Hierzu zählt insbesondere die Willensbildung der Regierung selbst, die sich vorwiegend in ressortinternen und ressortübergreifenden Abstimmungsprozessen vollzieht 137 . Erörterungen im Kabinett oder die Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen sind daher kein zulässiger Gegenstand parlamentarischer Auskunftsbegehren. Die Kontrollkompetenz des Bundestages erstreckt sich deshalb nur auf abgeschlossene Vorgänge und beinhaltet kein Recht, in laufende Verhandlungen und Entscheidungsvorbereitungen einzugreifen 138.
134
BVerfGE 67, 100(144). Magiera , in: Schneider/Zeh, § 52 Rz. 75. 136 BVerfGE 67, 100 ( 139); Magiera, in: Schneider/Zeh, § 52 Rz. 76. 137 BVerfGE, ebenda. 138 BVerfGE, ebenda; ob darüber hinaus - wie vom Bundesverfassungsgericht angenommen - auch bei abgeschlossenen Vorgängen Fälle denkbar sind, bei denen die Regierung nicht verpflichtet ist, Auskunft zu erteilen, weil der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung betroffen ist, erscheint zweifelhaft. Beispiele hierfür gibt es bislang nicht. 135
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
113
II. Bindung der Regierungs- und Bundesratsmitglieder an die parlamentarische Ordnung Gemäß Art. 43 Abs. 2 S. 1 GG haben die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt, gemäß Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG müssen sie jederzeit gehört werden. Aus diesem Grund sind sie nicht an Absprachen des Ältestenrates über die Reihenfolge und Dauer der Redebeiträge gemäß § 35 Abs. 1 S. 1 GOBT gebunden139. § 35 Abs. 2 GOBT enthält aber einen wirksamen Mechanismus, um auch Regierungs- oder Bundesratsmitglieder an getroffene Absprachen zu binden. Spricht nämlich ein Mitglied der Bundesregierung oder des Bundesrates oder einer ihrer Beauftragten länger als 20 Minuten, so kann die Fraktion, die eine abweichende Meinung vortragen will, für einen ihrer Redner eine entsprechende Redezeit beanspruchen. Auf diese Weise wird der Fraktionsproporz hergestellt und vermieden, daß die Ausgewogenheit der parlamentarischen Debatte durch eine Überbeanspruchung des Rechts auf jederzeitiges Gehör in Frage gestellt wird. Ob und inwieweit Mitglieder der Bundesregierung oder des Bundesrates bzw. ihre Beauftragten, die in amtlicher Funktion im Bundestag auftreten, der Ordnungsgewalt des Bundestagspräsidenten bzw. in einer Ausschußsitzung der des Ausschußvorsitzenden unterliegen, ist umstritten. Die GOBT selbst geht von einer Bindung der Regierungsmitglieder ersichtlich aus, wenn sie in §41 Abs. 1 GOBT bestimmt, „Sitzungsteilnehmer, die nicht Mitglieder des Bundestages sind, [...] unterstehen der Ordnungsgewalt des Präsidenten." Gleichwohl lehnt die herrschende Meinung eine Bindung unter dem Hinweis darauf ab, daß das parlamentarische Selbstorganisationsrecht anderen Staatsorganen gegenüber keine Bindungswirkung entfalte 140 . Allerdings wird anerkannt, daß es sich in bestimmten Situationen als erforderlich erweisen kann, daß auch gegenüber Regierungsvertretern oder Bundesratsmitgliedern Ordnungsmaßnahmen ergriffen werden können. Diese könnten dann aber nicht auf die Geschäftsordnung, sondern lediglich auf das Hausrecht des Parlamentspräsidenten
139
Troßmann, JöR NF 28 (1979), S. 3 (40); Pietzcker,
in: Schneider/Zeh, § 10
Rz. 24. 140 Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 117; Schulze-Fielitz, § 11 Rz. 69; Troßmann, Parlamentsrecht, § 45 Rz. 2.2. 8 Schwerin
in: Schneider/Zeh,
114
Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
gestützt werden 141 . Der Geschäftsordnung ließen sich allenfalls Anhaltspunkte für die Art und Weise der Ausübung des Hausrechts entnehmen142. Daß das Hausrecht nicht geeignet ist, als Rechtsgrundlage für verhandlungsleitende und ordnungssichernde Maßnahmen während einer Plenarsitzung zu dienen, wurde bereits oben bei der Frage der Bindung der Zuhörer dargelegt 143 . Dies gilt in noch stärkerem Maße für Ordnungsmaßnahmen gegenüber Regierungsmitgliedern, denn warum etwa eine Rüge oder ein Verweis zur Sache ausgerechnet auf die letztlich aus dem Eigentumsrecht abgeleitete Hausordnungsgewalt zurückgeführt werden soll, läßt sich schlechterdings nicht begründen. Zum Teil wird auch danach unterschieden, ob Regierungsmitglieder, die zugleich Abgeordnete sind, in ihrer Funktion als Abgeordnete oder als Regierungsmitglieder im Plenum erscheinen. Nur wenn sie in ihrer Funktion als Abgeordnete aufträten, seien sie der Ordnungsgewalt des Parlamentspräsidenten unterworfen 144 . In welcher Funktion die betreffende Person tätig wird, soll sich nach Indizien unterscheiden lassen, etwa danach, ob jemand auf der Regierungsbank oder im Abgeordnetenbereich Platz nimmt 145 . In der Praxis wird sich diese Unterscheidung aber regelmäßig nicht mit der notwendigen Klarheit vornehmen lassen, da es beispielsweise häufig vorkommt, daß Regierungsmitglieder untereinander oder mit Abgeordneten im Abgeordnetenbereich regierungsamtliche Gespräche führen 146 . Während die Weimarer Reichs Verfassung in Art. 33 Abs. 4 bestimmte, daß die Vertreter der Reichsregierung der Ordnungsgewalt des Reichstagspräsidenten unterstehen, enthält das Grundgesetz keine entsprechende Regelung für den in Art. 43 Abs. 2 GG genannten Personenkreis. Gleichwohl wäre es unzutreffend, hieraus den Schluß zu ziehen, daß das Grundgesetz Regierungs- und Bun-
141 Achterberg , Parlamentsrecht, S. 659 f.; derselbe/Schulte , in: v.Mangoldt/Klein/ Achterberg/Schulte, Art. 43 Rz. 71; Troßmann, JöR NF 28 (1979), S. 1 (197). 142 Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, S. 131; derselbe, Parlamentsrecht, S. 659 f.; derselbe/Schulte, in: v.Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Art. 43 Rz. 71. 143 Siehe oben Kapitel 3 Abschnitt 2 A. 144 Norbert AchterbergfMartm Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 3. Auflage, 1991, Art. 43 Rz. 72; Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 118 f.; Troßmann JöR NF 28 (1979), S. 1 (197). 145 Joseph Bücker, Das parlamentarische Ordnungsrecht, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 34 Rz 48; Troßmann, JöR NF 28 (1979), S. 1 (197). 146 Haug, Bindungsprobleme, S. 121.
C. Bindung anderer Verfassungsorgane, insbesondere der Bundesregierung
115
desratsvertreter von der Bindung an die parlamentarische Ordnungsgewalt freigestellt hat 147 . Die Verlagerung der Bestimmung über die Ordnungsgewalt in die GOBT entspricht vielmehr der vom Parlamentarischen Rat verfolgten Tendenz, das Grundgesetz soweit wie möglich von Verfahrensregeln zu entlasten Die Unterwerfung auch der Regierungs- und Bundesratsvertreter unter das parlamentarische Ordnungsrecht folgt letztlich notwendig aus ihrer Einbeziehung in das parlamentarische Verfahren, wenngleich bestimmte Besonderheiten zu beachten sind. Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG gewährt ihnen das Recht, jederzeit vom Bundestag und seinen Ausschüssen gehört zu werden. Auch wer diese Vorschrift als „konstitutionell bedingtes Verfassungsrelikt" ansieht 149 , muß eingestehen, daß sie bestimmte geschäftsordnungsmäßige Ordnungsmaßnahmen gegenüber diesen Personen - wie etwa den Ausschluß von der Sitzung - grundsätzlich ausschließt. Gleichwohl setzt die Wahrnehmung der Rechte aus Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG einen verfahrensrechtlichen Rahmen voraus. Es leuchtet ein, daß eine gleichzeitige Wahrnehmung des jederzeitigen Rederechts durch mehrere Personen auszuschließen ist, daß ohne Bundestagssitzung kein Rederecht bestehen kann und daß insbesondere die Rechte aus Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG mit anderen Verfassungsgütern - etwa den Abgeordnetenrechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG oder dem Interesse an der Funktionstüchtigkeit und dem Ansehen des Verfassungsorgans Bundestag - in Einklang gebracht werden müssen. Diesen Ausgleich hat das parlamentarische Selbstorganisationsrecht vorzunehmen. Insbesondere bei der Anwendung der geschäftsordnungsrechtlichen Ordnungsmittel aber hat der Bundestagspräsident das verfassungsrechtliche Redeprivileg zu beachten. Vor diesem Hintergrund ist etwa die parlamentarische Praxis zu sehen, nach der Vertreter der Bundesregierung oder des Bundesrates lediglich darauf hingewiesen werden, daß eine entsprechende Äußerung bei einem Abgeordneten mit einem Ordnungsruf geahndet worden wäre 150 . Ein formeller Ordnungsruf gegen ein Mitglied der Bundesregierung kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil gemäß § 36 S. 2 GOBT Adressaten eines Ordnungsrufs nur Mitglieder des Bundestages sein können. Zudem läßt sich die Rechtsfolge des § 37 GOBT, wonach einem Redner, der dreimal zur Ordnung gerufen wurde, das Wort entzogen werden kann, nicht mit dem jederzeitigen 147 So aber Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 116; Gerhard Alois Reifenberg, Die Bundesverfassungsorgane und ihre Geschäftsordnungen, 1958, S. 229 f. 148 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 63. 149 So Haug, Bindungsprobleme, S. 122. 150 Vgl. z.B. Sten.Ber. 12. WP, 25. Sitzung, 14.5.1991, S. 1682 C.
116
Drittes Kapitel: Reichweite des Selbstorganisationsrechts
Rederecht des Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG vereinbaren. Auch eine Verweisung aus dem Saal kommt wegen Art. 43 Abs. 2 S. 1 GG grundsätzlich nicht in Betracht. Dies gilt aber nicht unbegrenzt. Rede- und Zutrittsrecht finden ihre Grenze am Mißbrauchsverbot 151. Stellt der Bundestagspräsident einen mißbräuchlichen Gebrauch fest, so erstreckt sich seine Ordnungsgewalt auf alle erforderlichen Maßnahmen, um dem Mißbrauch abzuhelfen. Notfalls kann der Bundesratsoder Regierungsvertreter in diesem Fall auch aus dem Saal entfernt werden. Daneben erstreckt sich die Ordnungsgewalt des Bundestagspräsidenten darauf, Zwischenrufe und störende Unterhaltungen auf der Regierungs- oder Bundesratsbank zu untersagen, da solche Verhaltensweisen von vornherein nicht von Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG gedeckt sind. Im Gegensatz zum Ordnungsruf ist ein förmlicher Verweis zur Sache gemäß § 36 S. 1 GOBT auch gegenüber den „redeprivilegierten" Personen zulässig. Zwar scheidet auch in diesem Fall die Rechtsfolge des § 37 GOBT aus, da Art. 43 Abs. 2 S. 2 GG das Rederecht jederzeit und damit auch außerhalb der Tagesordnung einräumt. Mit dem Sachruf wird aber auf die mögliche Rechtsfolge des § 44 Abs. 3 GOBT hingewiesen, wonach dann, wenn ein Mitglieder der Bundesregierung oder des Bundesrates oder einer ihrer Beauftragten das Wort außerhalb der Tagesordnung ergreift, auf Verlangen einer Fraktion oder einer Gruppe von Abgeordneten in Fraktionsstärke die Aussprache über die Ausfuhrungen verlangen kann 152 .
III. Ergebnis Im Ergebnis kann daher festgehalten werden, daß in bestimmten Fällen auch andere Verfassungsorgane oder deren Mitglieder an Bestimmungen der GOBT gebunden sein können. Dies gilt zum einen für die Bundesregierung, die verpflichtet ist, Anfragen, die im Rahmen des parlamentarischen Interpellationsrechts an sie gerichtet werden, zu beantworten. Diese Antwortverpflichtung folgt aus Art. 43 Abs. 1 GG in der konkreten Ausgestaltung, die diese Verfassungsbestimmung in der GOBT gefunden hat. Daneben unterliegen die Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates sowie deren Beauftragte im Plenum des Bundestages gemäß §41
151
BVerfGE 10,4(18). Auf diese Hinweisfunktion macht Bücker , in: Schneider/Zeh, § 34 Rz. 50 aufmerksam. 152
D. Folgerungen
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Abs. 1 GOBT der Ordnungsgewalt des Bundestagspräsidenten. Diese Ordnungsgewalt wurzelt in der parlamentarischen Selbstorganisationsgarantie des Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG und ist von der Hausordnungsgewalt zu unterscheiden, die für verhandlungsleitende und ordnungssichernde Maßnahmen während einer Plenarsitzung nicht einschlägig ist. Bei der Ausübung des parlamentarischen Ordnungsrechts hat der Präsident das jederzeitige Zutritts- und Rederecht, das Art. 43 Abs. 2 GG den Vertretern von Regierung und Bundesrat sowie ihren Beauftragten einräumt, zu beachten.
D. Folgerungen Insgesamt läßt sich daher festhalten, daß die GOBT keine parlamentarische Innenrechtsquelle ist. Soweit sie Rechtswirkungen für andere Verfassungsorgane bzw. deren Mitglieder und Beauftragte entfaltet, reicht ihre Geltungskraft zwar nicht über den innerstaatlichen, wohl aber über den innerparlamentarischen Bereich hinaus. Soweit sie den Bürger bindet, verläßt sie endgültig auch den innerstaatlichen Bereich. In diesem Fall unterscheidet sie sich nicht von jeder anderen Außenrechtsquelle. Deshalb ist es verfehlt, die GOBT als (parlamentarisches) Innenrecht zu charakterisieren.
Viertes Kapitel
Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen parlamentarischer Entscheidungsfindung Der Zweck des Selbstorganisationsrechts besteht in erster Linie in der Schaffung eines effektiven Verfahrens, das den Bundestag in die Lage versetzt, einen einheitlichen Willen zu bilden, damit er seinen verfassungsmäßigen Aufgaben nachkommen kann1. Das grundlegende Entscheidungsmittel des Bundestages ist der Beschluß gemäß Art. 42 Abs. 2 GG. Diese Verfassungsbestimmung bezieht sich allgemein auf Beschlüsse des Bundestages und beschränkt sich daher nicht auf die im Grundgesetz vorgesehenen Beschlußarten, sondern umfaßt auch alle Beschlüsse, die aufgrund anderer Rechtsvorschriften, wie der Geschäftsordnung oder eines Gesetzes, ergehen2. Sachlich können diese Beschlüsse höchst Unterschiedliches darstellen: Gesetzgebungsbeschlüsse, Wahlen, Mißtrauensvoten, die Einsetzung eines Ausschusses oder sogenannte schlichte Parlamentsbeschlüsse3.
A. Mehrheitsprinzip Für das Zustandekommen eines Bundestagsbeschlusses ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich (Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG). Damit legt das Grundgesetz fur den Bundestag ein Prinzip der Willensbildung fest, nach dem im Gegensatz zu anderen denkmöglichen Modellen die Mehrheit der Stimmen 1
Siehe oben Kapitel 1 Abschnitt 3. Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Mai 1994, Art. 42 Rz. 14; Norbert AchterbergfMartin Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 3. Auflage, 1991, Art. 42 Rz. 30. 3 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage, 1984, § 23 II 2 (S. 1036); ausfuhrlich zu den schlichten Parlamentsbeschlüssen Hermann Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, VerwArch 84 (1993), S. 61 ff. 2
A. Mehrheitsprinzip
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den Ausschlag gibt, mit der Folge, daß deren Entscheidung als Wille des Organs gilt 4 . Dieses Prinzip der Entscheidungsfindung wird als „Mehrheitsprinzip" bezeichnet5. Wann die Mehrheit erreicht ist, wird anhand des numerischen Prinzips ermittelt, d.h. die Zahl der abgegebenen Ja-Stimmen wird mit einer Bezugsgröße verglichen. Als Bezugsgrößen kommen die abstimmenden Abgeordneten (Abstimmungsmehrheit), die Mitglieder des Parlaments (Mitgliedermehrheit) oder die im Sitzungssaal anwesenden Abgeordneten (Anwesenheitsmehrheit) in Betracht 6. Daneben gibt es qualifizierte Mehrheiten, bei denen die Bezugsgröße mit einem Qualifizierungskoeflfizient verbunden ist, wie zum Beispiel bei der Zweidrittelmehrheit. Nach Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG gilt im Bundestag stets die Abstimmungsmehrheit, solange das Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Ausnahmen kann die GOBT gemäß Art. 42 Abs. 2 S. 2 GG nur fur die vom Bundestag vorzunehmenden Wahlen vorsehen. Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG regelt allerdings nicht ausdrücklich, ob für die Zahl der abgegebenen Stimmen nur die Ja- und Nein-Stimmen erheblich sind oder ob auch Enthaltungen abgegebene Stimmen sind. Obwohl der Wortlaut der Norm dafür spricht, daß auch Stimmenthaltungen mitumfaßt sind, steht die herrschende Lehre auf dem Standpunkt, daß Stimmenthaltungen eben gerade keine Stimmabgaben sind7. Dieses Verständnis entspricht der herkömmlichen Staatslehre 8 und hat auch in der GOBT seinen Niederschlag gefunden. Dort heißt es nämlich in § 45 Abs. 3 S. 3 GOBT ausdrücklich, daß Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen (nur) bei der Feststellung der Beschlußfähigkeit mitzählen, während für die Abstimmungsregeln in § 48 Abs. 2 S. 1 GOBT eine Bestimmung fehlt, die sich auf Stimmenthaltungen bezieht, sondern lediglich bestimmt
4 Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Art. 42 Rz. 25; Werner Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, S. 40; Roman Herzog, Mehrheitsprinzip, in: Evangelisches Staatslexikon, Band I, 3. Auflage, 1987, Sp. 1547; Ulrich Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 7. 5 Norbert Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 583. 6 Walter Jellinek, Die gesetzliche Mitgliederzahl, in: Festgabe für Herbert Kraus, 1954, S. 88 (88 f.); Achterberg, Parlamentsrecht, S. 586; Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Art. 42 Rz. 42. 7 Jellinek, in: Festgabe für Kraus, S. 88; derselbe, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, VVDStRL 8 (1950), S. 3 (7); Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 42 Rz. 18; Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Art. 42 Rz. 38; Stern, Staatsrecht I, § 23 II 2 a (S. 1037). 8 Jellinek, VVDStRL 8 (1950), S. 3 (7); Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 42 Rz. 18.
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
ist, daß die einfache Mehrheit entscheidet, woraus sich schließen läßt, daß Stimmenthaltungen nicht mitgezählt werden 9. Darüber hinaus wird allein durch die Nichtberücksichtigung der Enthaltungen der Wille derer beachtet, die sich enthalten haben, weil sie gerade nicht mit Nein stimmen wollten 10 . Die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ist daher dann gegeben, wenn mehr Ja- als Nein-Stimmen vorliegen. Bei Stimmengleichheit ist der Antrag abgelehnt (§ 48 Abs. 2 S. 2 GOBT), da keine Mehrheit erzielt wurde 11 .
B. Beschlußfähigkeit Voraussetzung für das wirksame Zustandekommen eines Parlamentsbeschlusses ist, daß dieses überhaupt beschlußfähig ist, denn ein beschlußunfähiges Parlament ist geschäfts- und handlungsunfähig 12. Die Reichsverfassung von 1871 verlangte gemäß Art. 28 S. 2 RV, daß für die Gültigkeit eines Reichstagsbeschlusses die Anwesenheit der Mehrheit der Mitglieder des Reichstages erforderlich ist. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 überließ es in Art. 32 Abs. 2 GG dagegen ausdrücklich dem Reichstag, die Beschlußfähigkeit in seiner Geschäftsordnung zu regeln. Im Grundgesetz fehlt eine entsprechende Regelung. Es bestimmt allerdings auch nicht selbst, wieviele Abgeordnete mindestens anwesend sein müssen, damit der Bundestag beschlußfähig ist. Es ist daher allgemeine Ansicht, daß trotz fehlender Zuweisung an den Bundestag keine andere Verfassungslage eingetreten ist als unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung und daß es aufgrund der Selbstorganisationsga-
9
Jellinek, in: Festgabe für Kraus, S. 88. Jellinek, VVDStRL 8 (1950), S. 3 (7); Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/ Achterberg/Schulte, Art. 42 Rz. 38. 11 Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 42 Rz. 19. 12 So bereits Kurt Pereis, Das autonome Reichstagsrecht, 1903, S. 78; interessanterweise leitete er dies nicht aus Art. 28 S. 2 RV ab, „sondern aus der Reichstagsobservanz, welche zu Recht besteht, da der Reichstag zu bestimmen hat, ob und wann er verhandlungsfähig ist" (S. 78 f.). Wenngleich es nach der hier vertretenen Auffassung keine Parlamentsobservanzen gibt (siehe unten Kapitel 7 Abschnitt 1 E I), so gilt doch auch für den Bundestag, daß er selbst darüber zu bestimmen hat, ob und wann er beschluß- und damit verhandlungsunfähig ist. 10
B. Beschlußfähigkeit
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rantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG Sache des Bundestages ist, die Beschlußfähigkeit selbst zu regeln 13 . Die GOBT regelt die Beschlußfähigkeit des Bundestages in § 45 GOBT. Danach ist der Bundestag beschlußfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend sind. Allerdings besteht die widerlegbare Vermutung, daß der Bundestag beschlußfähig ist, solange die Beschlußfähigkeit nicht bezweifelt wird. Dies hat dazu geführt, daß häufig weit weniger Abgeordnete an den Abstimmungen teilgenommen haben als zur Beschlußfähigkeit nach § 45 Abs. 1 GOBT erforderlich sind. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Vorgehen nicht beanstandet, sondern erklärt, daß in der Praxis eine indirekte Beteiligung jedes Abgeordneten über seine Ausschuß- und Fraktionsmitarbeit gewährleiste, daß nur dann mehr als die Hälfte der Abgeordneten einer Schlußabstimmung fernblieben, wenn über den Inhalt der zu treffenden Entscheidung weitgehende Übereinstimmung bestehe14. Die Schlußabstimmung bilde in einem solchen Fall lediglich den rechtlich notwendigen letzten Teilakt parlamentarischer Willensbildung, während die eigentliche Entscheidung bereits in den Ausschüssen und Fraktionen gefallen sei. Die Repräsentation verlagere sich so zwar weg vom Plenum auf die Ausschüsse und Fraktionen. Eine solche Vorverlagerung sei aber unbedenklich, solange der Entscheidungsprozeß institutionell in den Bereich des Parlaments eingefügt bleibe 15 . Diese Sicht des parlamentarischen Entscheidungsprozesses steht im Einklang mit der parlamentarischen Praxis, setzt aber voraus, daß in den Ausschüssen und Fraktionen die Voraussetzungen dafür gegeben sind, daß eine Repräsentation durch den einzelnen Abgeordneten tatsächlich stattfinden kann 16 . Die Regel, daß das Plenum selbst bei offensichtlicher Beschlußunfähigkeit als beschlußfähig gilt, hat allerdings bewirkt, daß es in der Vergangenheit häufig vorkam, daß an der Verhandlung und der Schlußabstimmung im Plenum nur sehr wenige Abgeordnete, häufig nur die Mitglieder des federführenden Fachausschusses, teilgenommen haben. Dies hat dazu geführt, daß der Plenarsaal in
13 BVerfGE 44, 308 (314 f.); Jellinek, in: Festgabe für Kraus, S. 88 (90); Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Art. 42 Rz. 32; Hans-Josef Vonderbeck, Die parlamentarische Beschlußfähigkeit, in: Festgabe für Werner Blischke, 1982, S. 193(196). 14 BVerfGE 44, 308 (318 f.). 15 BVerfGE 44, 308 (319). 16 Dazu unten Kapitel 4 Abschnitt 4 E.
122
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
weiten Teilen der Bevölkerung vornehmlich dann wahrgenommen wurde, wenn kaum Abgeordnete anwesend waren und Sitzreihen leer blieben. Hieraus wurde dann auf ein geringes Engagement und eine schlechte Arbeitsmoral der Volksvertreter geschlossen17. Eine Verbesserung soll die Änderung der Bestimmungen über die Beschlußfähigkeit bringen. § 45 Abs. 2 GOBT wurde durch Beschluß vom 21. September 1995 18 so gefaßt, daß die Beschlußfähigkeit außer durch eine Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages auch vom Sitzungsvorstand (Präsident und Schriftführer) bezweifelt werden kann. Außerdem erhält der Sitzungsvorstand durch einen neu angefügten § 45 Abs. 4 GOBT die Möglichkeit eine „Beratungsfähigkeit" des Plenums dadurch sicherzustellen, daß er dann, wenn weniger als 25 vom Hundert der Mitglieder des Bundestages anwesend sind, im Einvernehmen mit den Fraktionen die Sitzung unterbrechen kann. Dies allerdings nur bei sogenannten Kernzeit-Debatten, die in der Regel in Sitzungswochen donnerstags stattfinden, vier bis sechs Stunden dauern und bei denen grundlegende Themen behandelt werden sollen 19 . Außerdem soll das Plenum durch die Einführung der sogenannten erweiterten öffentlichen Ausschußanhörung in § 69 a GOBT von zahlreichen, häufig wenig attraktiven Spezialdebatten entlastet werden 20 .
C. Abstimmungsverfahren Die Abstimmung wird vom Bundestagspräsidenten eröffnet. Zum Abstimmungsverfahren bestimmt § 46 S. 1 GOBT, daß er die Fragen so zu stellen hat, daß sie sich mit „Ja" oder „Nein" beantworten lassen. Für die Abstimmung selbst sieht die Geschäftsordnung verschiedene Möglichkeiten vor, die sich nach der Form und der Offenkundigkeit des Abstim-
17
So die Selbsteinschätzung der Kommission des Ältestenrates für die Rechtsstellung der Abgeordneten, BT-Drs. 13/1803, Anlage 1, S. 4. 18 Sten.Ber. 13. WP, 55. Sitzung, 21. September 1995, S. 4635 A; BGBl. I, S. 1246. 19 BT-Drs. 13/2342. 20 BT-Drs. 13/2342, S. 8 f.; die Parlamentsreform vom 21. September 1995 hat damit an Überlegungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform (BT-Drs. 7/5924, S. 80 ff.) und der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform (BT-Drs. 12/3600, S. 11) angeknüpft.
D. Fraktionsgliederung
123
mungsverhaltens unterscheiden lassen21. In der Regel wird gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 GOBT durch Handzeichen, Aufstehen oder Sitzenbleiben abgestimmt. Gemäß § 52 GOBT kann bis zur Eröffnung der Abstimmung von einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages die namentliche Abstimmung verlangt werden. Diese ist durchzuführen, wenn sie nicht nach § 53 GOBT unzulässig ist. Geheime Abstimmungen (§ 49 GOBT) finden bei Wahlen statt, sofern dies im Grundgesetz oder in der GOBT vorgeschrieben ist.
D. Fraktionsgliederung Weder das Mehrheitsprinzip noch die Bestimmungen zur Beschlußfähigkeit noch das Abstimmungsverfahren können gewährleisten, daß sich in der Praxis überhaupt Parlamentsmehrheiten finden. Dies ist aber unbedingt erforderlich, da der Bundestag seinen Verfassungsaufgaben nur dann nachkommen kann, wenn er imstande ist, einen Willen zu bilden. Angesichts von 662 Bundestagsabgeordneten (Überhangmandate nicht eingerechnet 22) und einer immer höheren Regelungsdichte und der hiermit einhergehenden Spezialisierung der parlamentarischen Sachthemen, erscheint es ausgeschlossen, daß ein gemeinsamer Wille gefunden wird, wenn sich jeder Abgeordnete mit jedem Thema selbst befaßt und darüber hinaus zu jedem ihn interessierenden Thema seine Vorstellungen im Plenum darlegen kann. Aufgrund der unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Parlamentarier ließe sich wohl nicht einmal eine Themenauswahl erzielen. Erforderlich ist daher eine Konzentration und Koordination der parlamentarischen Arbeit. Diese Aufgabe wird im Bundestag von den Fraktionen und in gewissem Umfang auch von Gruppen von Abgeordneten, die keine Fraktionsstärke erreichen (§ 10 Abs. 4 GOBT), wahrgenommen. Daraus resultiert, daß die Fraktionen das wichtigste politische Gliederungsprinzip für die Arbeit des Bundestages sind 23 . Das Bundesverfassungsge21
Ausführlich zu den Abstimmungsarten Achterberg, Parlamentsrecht, S. 641 ff.; Horst Schmitt, Das legislative Votum, 1960, S. 85 ff.; Ritzel/Bücker, §§ 46 ff. 22 In der 13. Wahlperiode gibt es derer zehn; die rechtliche Zulässigkeit der Überhangmandate wurde angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse verschiedentlich thematisiert, etwa von Ute Mager/Robert Uerpmann, Überhangmandate und Gleichheit der Wahl, DVB1. 1995, S. 273 ff. 23 BVerfGE 84, 304 (323); Martin Morlok, Gesetzliche Regelung des Rechtsstatus und der Finanzierung der Bundestagsfraktionen, NJW 1995, S. 29; Stern, Staatsrecht I,
124
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
rieht bezeichnet sie als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung 24 .
I. Rechtliche Stellung der Fraktionen Gemäß § 10 Abs. 1 GOBT sind Fraktionen Vereinigungen von Abgeordneten, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Bundesland in Konkurrenz zueinander stehen25. Obwohl die Fraktionen strukturbildend fur den Bundestag sind, hat das Grundgesetz ihnen ursprünglich keine Beachtung geschenkt. Erst durch die Verfassungsänderung von 1968 haben sie über Art. 53a Abs. 1 S. 2 GG eine beiläufige Erwähnung im Grundgesetz gefunden. In der GOBT waren sie gleichwohl von Beginn an als wichtigste Faktoren des politischen Lebens herausgestellt26. Die rechtliche Stellung der Fraktionen ist bis heute umstritten. Das Fraktionsgesetz hat mit der Einfügung von § 46 Abs. 1 AbgG zwar ihr selbständiges Auftreten außerhalb des Parlaments geregelt, so daß zumindest in diesem Bereich die unbefriedigende Rechtslage27 überwunden ist. Zudem bestimmt § 46 Abs. 2 AbgG, daß die Fraktionen klagen und verklagt werden können und § 46 Abs. 3 AbgG erklärt, daß die Fraktionen nicht Teil der öffentlichen Verwaltung sind und keine öffentliche Gewalt ausüben. Die Rechtsnatur der Fraktionen hat aber auch das Fraktionsgesetz nicht geklärt 28 .
§ 23 I 1 (S. 1024); Wolfgang Zeh., Gliederung und Organe des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Band II, 1987, § 42 Rz. 5. 24 BVerfGE 2, 143 (160); 10, 4 (14); 84, 304 (323). 25 Diese Legaldefinition wurde gewählt, damit die aus CDU- und CSU-Abgeordneten bestehende Fraktionsgemeinschaft von vornherein die Fraktionseigenschaften erfüllt. Bis zur Änderung von § 10 Abs. 4 GOBT durch Bundestagsbeschluß vom 27. März 1969 war für die Bildung einer Fraktion durch Bundestagsabgeordnete, die nicht Mitglieder einer Partei waren, die Zustimmung des Bundestages erforderlich. 26 Stern., Staatsrecht I, § 23 I 1 (S. 1024 f.). 27 Stern., Staatsrecht I, § 23 I 2 d) (S. 1028). 28 Dies war ausweislich der Gesetzesbegründung auch nicht beabsichtigt, BT-Drs. 12/4756, S. 6.
D. Fraktionsgliederung
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Zu ihrer Rechtsnatur werden verschiedene Auffassungen vertreten. Sie reichen von Organe der Parteien 29 über Organe des Bundestages30 bis hin zu Vereinen des bürgerlichen 31 oder öffentlichen Rechts32. Das Bundesverfassungsgericht vermeidet eine Klärung der Rechtsnatur und begnügt sich mit der Feststellung, es handele sich bei den Fraktionen um „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens" 33, die als „Gliederungen des Bundestages der organisierten Staatlichkeit eingefügt sind" 34 . Da sich aus der Rechtsnatur der Fraktionen keine Strukturelemente ableiten lassen35, insbesondere nicht von einer abstrakt vorgegebenen Rechtsnatur auf ihre verfassungsrechtliche Rechtsstellung geschlossen werden darf 36 , soll dieser Frage mangels praktischer Bedeutung im folgenden nicht weiter nachgegangen werden.
II. Bedeutung der Fraktionen für die Parlamentsarbeit Die Arbeit des Bundestages ist nur dann effektiv, wenn sie in einer angemessenen Zeit Ergebnisse hervorbringt 37 . Einerseits erfordern aktuelle tagespolitische Ereignisse oft ein rasches Handeln, andererseits sind strategische Entscheidungen zu treffen, die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vorausgreifen, um so die Weichen für die Zukunft zu stellen. Das Dilemma ist, daß für diese Entscheidungen nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, denn das Parlament kann nur an bestimmten Tagen und zu bestimmten Zeiten zusammengerufen werden und ist zudem in seiner konkreten
29
Christoph Sasse, Koalitionsvereinbarung und Grundgesetz, JZ 1961, S. 719 (724). Wolf-Dieter Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der Fraktionen, 1968, S. 167. 31 Friedrich Schäfer, Der Bundestag, 4. Auflage, 1982, S. 135; Dittmar Hahn, Die Beteiligtenfähigkeit von Fraktionen im Kommunalverfassungsstreit, DVB1. 1974, S. 509 (510). 32 Hans-Jürgen Moecke, Die Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, NJW 1965, S. 276; derselbe, Die parlamentarischen Fraktionen als Vereine des öffentlichen Rechts, NJW 1965, S. 567. 33 BVerfGE 2, 143 (160); 20, 56 (104); 43, 142 (147); 70, 324 (350); 80, 188 (219). 34 BVerfGE 20, 56 (104); 70, 324 (350 f.) 35 Stern, Staatsrecht I, § 23 I 2 b) (S. 1027). 36 Heinrich Ritzel/Joseph Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand: Juli 1995, Vorbem. zu § 10 Anm. II 2; Wolfgang Demmler, Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994, S. 195. 37 Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur, S. 115. 30
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
Existenz auf die Dauer einer Wahlperiode (Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG) beschränkt 38.
1. Themenkonzentration Die zeitliche Begrenzung führt dazu, daß nicht jeder Abgeordnete jede ihn interessierende Angelegenheit im Plenum thematisieren kann. Daraus ergibt sich das Problem einer Themenbegrenzung. Über jedes mögliche Thema jeweils die Parlamentsmehrheit entscheiden zu lassen, würde dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung nicht gerecht, denn eine Mehrheitsentscheidung - soll sie denn mehr als ein rein formeller Akklamationsakt sein - kann nur auf einer gewissen Informationsbasis erfolgen und setzt einen Meinungs- und Willensbildungsprozeß voraus, der kaum ad hoc herzustellen ist. Zudem könnte die Mehrheit, obläge allein ihr die Themenauswahl, die parlamentarische Behandlung solcher Themen, die lediglich von einer parlamentarischen Minderheit verfolgt werden, zuverlässig verhindern. Dies erscheint aus Gründen des Minderheitenschutzes verfehlt 39 . Eine Zeitersparnis tritt aber nur ein, wenn sich so schnell wie möglich wenige Meinungen im Parlament herausbilden, die möglichst klar vertreten werden 40 . Diesem Ziel dient die Bindung der Ausübung wichtiger parlamentarischer Befugnisse - insbesondere Antragsbefügnisse - an Quoren in Fraktionsstärke oder ihre Ausgestaltung als reine Fraktionsrechte. Da fraktionsangehörige Abgeordnete sich im Normalfall zunächst um die Unterstützung ihrer Vorschläge durch ihre Fraktion bemühen, werden die meisten als Gruppenrechte ausgestalteten Rechte fast ausschließlich von den Fraktionen wahrgenommen, während sich nur ganz selten Abgeordnete in Fraktionsstärke zusammenfinden, um unabhängig von ihren Fraktionen Gruppenrechte auszuüben41. Daher liegt die Aufgabe der Auswahl der parlamentarisch zu behandelnden Themen ganz in der Hand der Fraktionen.
38
Demmler, Der Abgeordnete, S. 168. Zum Minderheitenschutz ausführlich unten Kapitel 5. 40 Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur, S. 115. 41 So wurde beispielsweise von der 9. bis zur 11. Wahlperiode kein einziger Gesetzentwurf eingebracht, der nicht von einer Fraktion unterstützt wurde; vgl. die Übersicht bei Peter Schindler, Datenhandbuch zu Geschichte des Deutschen Bundestages 19831991, 1994, S. 823. 39
D. Fraktionsgliederung
127
2. Ermöglichung der Mehrheitsbildung Die zweite wesentliche parlamentarische Aufgabe der Fraktionen ist es, die Bildung parlamentarischer Mehrheiten zu fordern. Denn die Entscheidung durch eine Mehrheit setzt voraus, daß Mehrheiten überhaupt gebildet werden können. Dabei ist entscheidend, daß sich solche Mehrheiten bilden, die gemeinsam etwas wollen und nicht solche, die gemeinsam etwas nicht wollen 42 . Nur so ist eine konstruktive Parlamentsarbeit zu gewährleisten. Die Mehrheitsbildung im Parlament ist ein gestufter Prozeß, bei dem sich aus zahllosen Einzelmeinungen immer weniger Gruppenmeinungen herausbilden 43. Dies wird in der parlamentarischen Praxis dadurch erleichtert, daß von vornherein Gruppen gleichgesinnter Abgeordneter - die Fraktionen - gebildet werden. Für den einzelnen Abgeordneten, der einen eigenen Anstoß in das parlamentarische Verfahren einbringen möchte, bedeutet dies, daß er zuerst eine Mehrheit für sein Anliegen in seiner eigenen Fraktion finden muß 44 . Auch der fraktionsinterne Willensbildungsprozeß erfolgt gestuft. Sämtliche Vorlagen werden zunächst auf fachpolitischer Arbeitsebene in Arbeitskreisen 45 oder Arbeitsgruppen 46 von entsprechend spezialisierten Abgeordneten beraten, ehe sie der Fraktionsvollversammlung vorgelegt werden 47. Nur wenn sich auch innerhalb der Vollversammlung eine Mehrheit findet, werden sie von der Fraktion formell in das parlamentarische Verfahren eingebracht 48. Dies hat den erwünschten Effekt, daß Themen, die von vornherein keine ausreichende Unterstützung finden, erst gar keinen Eingang in das parlamentarische Verfahren finden. Hat dagegen ein Vorschlag schon einmal in einer Fraktion eine Mehrheit gefunden, so erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, daß sich auch im Plenum eine Mehrheit bildet.
42
Andreas Greifeid, Volksentscheid durch Parlamente, 1983, S. 84; Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur, S. 105. 43 Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur, S. 106. 44 Demmler, Der Abgeordnete, S. 172. 45 §§ 2 Abs. 2 Nr.2 i.V.m. 7 Abs. 1 bis 3 Geschäftsordnung der FDP-Bundestagsfraktion; § 6 Geschäftsordnung der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Fraktionsgeschäftsordnungen sind abgedruckt bei Ritzel/Bücker, Fraktionen (GO). 46 § 8 Arbeitsordnung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; §§ 18 ff. Geschäftsordnung der SPD-Bundestagsfraktion; §§ 2 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. 7 Abs. 4 und 5 Geschäftsordnung der FDP-Bundestagsfraktion. 47 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 286. 48 Demmler, Der Abgeordnete, S. 172.
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen 3. Wichtigkeits-und
Ausgewogenheitsgewähr
Dieser mehrstufige Willensbildungsprozeß erhöht aber nicht nur die Wahrscheinlichkeit, daß für einen Vorschlag schließlich eine parlamentarische Mehrheit gefunden wird. Er gewährleistet auch am ehesten, daß sich der Bundestag in seiner knapp bemessenen Zeit nur mit solchen Vorlagen befaßt, die auch in sachlicher Hinsicht wichtig sind 49 . Denn was wichtig ist, kann in einem Kollegialorgan wie dem Bundestag nicht vom einzelnen Mitglied festgestellt werden. Wird aber ein Thema von einer ganzen Fraktion als so wichtig angesehen, daß es in die parlamentarische Verhandlung eingeführt werden soll, so deutet dies darauf hin, daß es sich tatsächlich um eine wichtige Angelegenheit handelt, die parlamentarischer Behandlung bedarf 50. Der gestufte Prozeß der Willensbildung bewirkt zudem, daß ein Vorschlag in der fraktionellen Beratung häufig eine Reihe von Änderungen hin zu einer stärkeren inhaltlichen Ausgewogenheit erfährt, bis er die Mehrheit der Fraktion findet. Er ermöglicht die Zusammenfassung ähnlicher Meinungen und die Aussonderung extremer oder unseriöser Vorschläge 51. Die Vorlagen werden daher bereits durch die Diskussion in den Fraktionen materiell verbessert, ehe sie in die eigentliche parlamentarische Beratung gelangen52.
4. Interfraktionelle
Koordination
Eine weitere wichtige Aufgabe auf dem Weg zu einer parlamentarischen Entscheidung erfüllen die Fraktionen dadurch, daß sie die organisatorische Voraussetzung dafür sind, daß ein Austausch der unterschiedlichen politischen Auffassungen bereits im Vorfeld parlamentarischer Beratungen erfolgen kann. Auf diese Weise können die Erfolgsaussichten einer Vorlage schon analysiert werden, bevor diese ins Plenum eingebracht wird. Dies kann dazu führen, daß von bestimmten Vorhaben Abstand genommen wird oder daß Änderungen vorgenommen werden, die die Konsensbildung von vornherein erleichtern. Hierdurch kann die parlamentarische Auseinandersetzung entschärft und eine Polarisierung unter Umständen vermieden werden. Die interfraktionelle Zusammenarbeit ermöglicht es zudem, daß Geschäftsordnungsfragen, der Ablauf der parlamenta49 50
Demmler , Der Abgeordnete, S. 169. Demmler , Der Abgeordnete, S. 169; Hauenschild , Wesen und Rechtsnatur,
S. 116. 51 52
Hauenschild , Wesen und Rechtsnatur, S. 127. Demmler , Der Abgeordnete, S. 173.
D. Fraktionsgliederung
129
rischen Verhandlung oder die Besetzung parlamentarischer Gremien im Konsens zwischen den Fraktionen vereinbart werden, ohne daß hierüber Kampfabstimmungen im Plenum zu fuhren wären. Auch erlaubt sie den Fraktionen ihre Standpunkte abzugleichen und gegebenenfalls Vereinbarungen über gemeinsame Gesetzesentwürfe, Anträge oder Anfragen zu treffen 53. Der Ort, an dem die interfraktionelle Zusammenarbeit vorwiegend geleistet wird, ist der Ältestenrat, dem gemäß §§6 Abs. 1, 12 GOBT Mitglieder aller Fraktionen, darunter insbesondere die Parlamentarischen Geschäftsführer, angehören 54. Regelmäßig kommen zudem die Facharbeitsgruppen der die Regierung tragenden Koalitionsfraktionen zu informellen Treffen zusammen, um ihre Standpunkte abzustimmen (sog. ,jour fixe"). Rechtsverbindlichkeit können interfraktionelle Absprachen erlangen, wenn sogenannte interfraktionelle Vereinbarungen abgeschlossen werden 55. Die interfraktionelle Zusammenarbeit vermag das Plenum zu entlasten, indem sie einen Teil des parlamentarischen Entscheidungsprozesses vorwegnimmt und auf eine Konsensbildung im Vorfeld der eigentlichen parlamentarischen Behandlung bestimmter Themen zielt. Außerdem kann durch die Vorklärung der Standpunkte zu bestimmten Sachfragen in interfraktionellen Gesprächen eine unnötige Polarisierung vermieden und ein Ausgleich erzielt werden, der möglicherweise ohne die frühzeitige Einbeziehung der jeweils „anderen" Seite nicht möglich gewesen wäre. Auf dem Weg zu einer parlamentarischen Entscheidung spielt die von den Fraktionen zu leistende Koordinierung und Angleichung ihrer divergierenden Standpunkte deshalb eine wichtige Rolle.
5. Ergebnis
Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß die Fraktionen einen entscheidenden Beitrag zur parlamentarischen Entscheidungsfindung leisten. Die Fraktionen sind die organisatorische Voraussetzung dafür, daß das Parlament trotz einer Vielzahl von Partikularinteressen handlungsfähig bleibt und sich eine parlamentarische Mehrheit bilden kann. Indem sich der parlamentarische Willensbildungsprozeß zunächst in den Fraktionen vollzieht und erst dann das Plenum
53 Helmuth Schulze-Fielitz, Parlamentsbrauch, Gewohnheitsrecht, Observanz, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 11 Rz. 47 ff. 54 Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 52 f. 55 Hierzu ausführlich unten Kapitel 7 Abschnitt 1 F. 9 Schwerin
130
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
erreicht, übernehmen die Fraktionen gleichsam eine Filterflmktion, die in der Regel sicherstellt, daß Extrempositionen ausgeschieden und nur solche Themen im Plenum behandelt werden, die in sachlicher Hinsicht wichtig sind. Schließlich sind die Fraktionen im Wege interfraktioneller Zusammenarbeit in der Lage im Vorfeld der parlamentarischen Behandlung bestimmter Themen ihre gegenseitigen Standpunkte abzuklären und unter Umständen einander anzunähern. Auf diese Weise erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, daß eine Lösung gefunden wird, die sich im Ergebnis als konsensfähig erweist und tragen zur Vermeidung unnötiger Polarisierungen bei. Angesichts dieser wichtigen Aufgaben, die den Fraktionen bei der parlamentarischen Entscheidungsfindung übernehmen, ist es nur folgerichtig, daß die GOBT Bestimmungen über ihre Bildung enthält (§ lOGOBT) und ihnen im Rahmen der Bundestagsorganisation zur gemeinsamen Wahrnehmung wichtige Koordinationsaufgaben, wie die Besetzung der Ausschüsse (§ 57 Abs. 2 S. 1 GOBT), die der Ausschußvorsitzenden (§ 6 Abs. 2 S. 2 GOBT) oder die Vereinbarung von Termin und Tagesordnung der Bundestagssitzungen (§ 20 Abs. 1 GOBT), überträgt.
III. Verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktionen
1. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, daß die Bildung der Fraktionen „auf der in Ausübung des freien Mandats getroffenen Entscheidung der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG)" beruhe 56. In der Tat ist es für den Abgeordneten von großer Bedeutung, daß er sich mit anderen zusammenschließen kann, um seine politische Arbeit sinnvoll zu gestalten. Schon die rein technischen Hilfen, die dem Abgeordneten in Form von Fraktionsbüros, fraktionseigenen Archiven und Presseorganen, in denen er auch eigene Vorschläge veröffentlichen kann, zur Verfügung stehen, verschaffen diesem vielfältige Vorteile 57 . Auch die Informationen, die dem Abgeordneten von seiner Fraktion in wissenschaftlich und politisch aufbereiteter Form zur 56 57
BVerfGE 80, 188 (220); 84, 304 (322). Hauenschild , Wesen und Rechtsnatur, S. 141.
D. Fraktionsgliederung
131
Verfügung gestellt werden, sind für die politische Arbeit des Abgeordneten hilfreich und ersparen ihm zeitaufwendige eigene Maßnahmen zur Informationsbeschaffung. Wichtige Informationen erhält er zudem von seinen Fraktionskollegen. Da im arbeitsteilig organisierten Bundestag die wesentliche Arbeit in den Ausschüssen geleistet wird 5 8 , ist der einzelne Abgeordnete aus erster Hand nur über jenen Sachbereich informiert, mit dem er sich selbst in dem Ausschuß befaßt, dem er angehört 59. Durch den Informationsaustausch mit seinen Fraktionskollegen, die in anderen Ausschüssen mitarbeiten, gewinnt er ein Bild vom gesamten parlamentarischen Geschehen. Aufgrund der politischen Gleichgerichtetheit der Fraktionen kann sich jeder Abgeordnete auf die fachliche und politische Kompetenz seiner Fraktionskollegen verlassen und sich bei Entscheidungen auf diesen Gebieten an deren Auffassungen orientieren 60. Da die Vorlagen parallel zu den Ausschußberatungen in den Fraktionen beraten werden, wird der fraktionsangehörige Abgeordnete über alle aktuellen parlamentarischen Sachfragen informiert. Er kann vermittels der koordinierenden Unterstützung seiner Fraktion in jedem politischen Bereich, den ein anderes Fraktionsmitglied abdeckt, auf die Ergebnisse von dessen Arbeit zurückgreifen und sie für seine eigenen Belange verwenden 61. Die fraktionsinterne Diskussion erlaubt es ihm, sich auch zu den Themen zu artikulieren, mit denen er selbst in seinem Ausschuß nicht befaßt ist. Über die Fraktion kann er so eigene Vorstellungen in die Beratung miteinfließen lassen, auch wenn er nicht Mitglied des betreffenden Ausschusses ist. Auf diese Weise erlaubt ihm die Fraktionsmitgliedschaft ein indirekte Mitwirkung auf allen Gebieten und führt so zu einer Vervielfältigung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten62. Es zeigt sich also, daß die parlamentarischen Mitwirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten durch die Fraktionsmitgliedschaft wesentlich erhöht werden. Da es letztlich die Entscheidung jedes einzelnen Abgeordneten ist, ob er sich mit anderen zu einer Fraktion zusammenschließt, wird die in Art. 38 Abs. 1
58 BVerfGE 80, 188 (221); Wolfgang Zeh, Das Ausschußsystem im Bundestag, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 39 Rz. 2. 59 Demmler, Der Abgeordnete, S. 157 f . 60 Demmler, Der Abgeordnete, S. 158. 61 Florian Becker, Defizite im Fraktionsgesetz des Bundes: § 50 AbgG, ZParl 1996, S. 189(192). 62 Demmler, Der Abgeordnete, S. 159.
132
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
S. 2 GG gewährleistete Koalitionsfreiheit der Abgeordneten zutreffenderweise als verfassungsrechtliche Basis für die Fraktionen angesehen63.
2. Art. 21 GG Es fragt sich aber, ob die verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktionen allein in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gesehen werden darf. Mindestens ebenso wichtig für die Fraktionsbildung ist Art. 21 GG, der bestimmt, daß die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß die politischen Parteien ein Monopol für die Aufstellung der Kandidaten bei den Bundestagswahlen haben. Gemäß § 27 Abs. 1 S. 1 BWG können nur sie Landeslisten mit Wahlbewerbern aufstellen. Zwar besteht die theoretische Möglichkeit, daß ein nichtparteigebundener Bewerber über einen Kreiswahlvorschlag (§ 20 BWG) in den Bundestag gelangt. Tatsächlich hat es aber bislang noch keinen Wahlkreisbewerber gegeben, der ins Parlament gelangt ist, ohne von einer Partei aufgestellt worden zu sein 64 . Die Entscheidung, wer Abgeordneter wird, wird daher wesentlich von den Parteien vorherbestimmt. Da auf diese Weise nur Bewerber ins Parlament gelangen, die einer Partei angehören, stehen aufgrund der Parteizugehörigkeit der Abgeordneten mit der Wahl zugleich die Fraktionen fest 65 . Folgerichtig knüpft § 10 Abs. 1 GOBT für die Fraktionsbildung an die Parteizugehörigkeit der Abgeordneten an, denn mit der Entscheidung des Wahlbewerbers, für eine Partei zu kandidieren, fällt der Entschluß zusammen, im Falle seiner Wahl der entsprechenden Fraktion beizutreten 66 . Von einem freiwilligen Zusammenschluß der Abgeordneten zu Frak-
63
BVerfGE 70, 324 (363); 80, 188 (120); Demmler, Der Abgeordnete, S. 162 f.; Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 87. 64 Knut Ipsen, Staatsorganisationsrecht, 2. Auflage, 1989, S. 82; vgl. Schindler, Datenhandbuch 1949-1982, S. 34 ff. (Mandatsverteilung der 1.-9. Wahlperiode) und Datenhandbuch 1983-1991, S. 80 ff. (Mandatsverteilung der 10.-12. Wahlperiode). 65 Hartmut Borchers Die Fraktion, AöR 102 (1977), S. 210 (229 f.); Siegfried Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 129. 66 Jürgen Jekewitz, Politische Bedeutung, Rechtsstellung und Verfahren der Bundestagsfraktionen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 37 Rz. 37; Magiern, Parlament und Staatsleitung, S. 129.
D. Fraktionsgliederung
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tionen nach der Wahl, in dem Sinne, daß unter mehreren gleichwertigen Alternativen eine ausgewählt wird, kann daher schwerlich die Rede sein. Aus der „Parteigebundenheit" 67 der Abgeordneten folgt, daß in den Augen der Bevölkerung Parteihandeln und Fraktionshandeln überwiegend gleichgesetzt werden. Dieser Effekt wird durch die vielfältige personelle Verquickung zwischen Partei- und Fraktionsämtern noch verstärkt 68. Diese Identifikation der Fraktionen mit den Parteien ist erforderlich, weil erst sie für den Bürger die Möglichkeit schafft, politische Alternativen zu erkennen und bei seiner Wahlentscheidung ein Votum über deren Qualität abzugeben. Gemäß § 1 Abs. 2 PartG gehört es zu den Aufgaben der Parteien an der politischen Willensbildung mitzuwirken, indem sie auf die politische Entwicklung im Parlament Einfluß nehmen. In der Praxis haben die Parteien zahlreiche Einflußmöglichkeiten, um sicherzustellen, daß die Linie der Fraktion mit den politischen Vorstellungen der Partei übereinstimmt. Insbesondere die Verankerung der Bundestagsabgeordneten in der Parteibasis führt dazu, daß sie sich den breiten Strömungen ihrer Partei nicht widersetzen können, ohne um ihre Wiederaufstellung fürchten zu müssen. Zudem gewährleistet das Zusammenfallen von Spitzenämtern in Partei und Fraktion, daß Entscheidungen der Partei im Parlament umgesetzt werden. Auch die Geschäftsordnungen der Fraktionen stellen sicher, daß eine Abstimmung mit der Partei erfolgt, indem beispielsweise den Inhabern bestimmter Parteiämter die Teilnahme an Fraktionssitzungen oder Sitzungen von Fraktionsorganen eingeräumt wird 6 9 .
67
Ipsen, Staatsorganisationsrecht, S. 82; Ritzel/Bücker, § 10 Anm. 2. Wilhelm Henke, in: Bonner Kommentar (Zweitbearbeitung), Art. 21 Rz. 17. 69 Demmler, Der Abgeordnete, S. 182; z.B. § 3 Abs. 2 Arbeitsordnung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: „An der Sitzung der Fraktionsversammlung (Fraktionssitzung) können auf Einladung des Vorsitzenden Gäste teilnehmen. Als geladene Gäste gelten alle der CDU und der CSU angehörenden Mitglieder der Bundesregierung, Staatssekretäre, Mitglieder des Bundesrates, die Fraktionsvorsitzenden der Länderparlamente, die Parteivorsitzenden und Generalsekretäre der CDU und der CSU, die Mitglieder der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament sowie ehemalige Mitglieder der Fraktion." und § 6 Abs. 2 der Arbeitsordnung bestimmt: „Bei den Vorstandssitzungen sind die Parteivorsitzenden und Generalsekretäre der CDU und der CSU und, soweit sie der CDU oder CSU angehören, die Mitglieder des Bundestagspräsidiums und des Präsidiums des Europäischen Parlaments, der Bundesregierung, die früheren Bundeskanzler, der Vorsitzende der EVP-Fraktion des Europäischen Parlaments und der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe dieser Fraktion mitberatungsberechtigt. Der Vorsitzende kann Gäste zur Beratung hinzuziehen." Die Geschäftsordnungen der Bundestagsfraktionen sind abgedruckt bei Ritzel/Bücker, Fraktionen (GO). 68
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
Über die Fraktionen ist der Bundestag dem Einfluß der Parteien daher weit geöffnet 70. Ob es deshalb zutreffend ist, die Parlamente realistisch betrachtet als „Parteien-Versammlungen" 71 zu bezeichnen, erscheint aber fraglich, denn Parteien und Fraktionen sind auf unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln. Verfassungsrechtlich sind die Fraktionen ein Bestandteil der organisierten Staatlichkeit, wohingegen die Parteien dem gesellschaftlich politischen Bereich unterhalb der institutionalisierten Staatlichkeit angehören 72. Zutreffend lassen sich die Fraktionen aber als parlamentarische Repräsentanten ihrer Parteien verstehen 73 . Die Bundestagsfraktionen werden deshalb auch nicht nur für das Parlament, sondern auch für die politischen Parteien tätig. Insofern nehmen die politischen Parteien eine Mittlerrolle zwischen den Wählern und den Fraktionen •74
ein . Dies ist vom Grundgesetz gewollt, denn es legt fest, daß die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG. Dabei ist „Willensbildung des Volkes" nicht als Gegenbegriff zur „Willensbildung des Staates" zu verstehen. Vielmehr ist der Staat als politische und juristische Organisation des Volkes zu verstehen, so daß auch die Mitwirkung der politischen Parteien an der Willensbildung im Parlament unter dem Schutz des Art. 21 GG steht75. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb auch mehrfach ausgeführt, daß die Anerkennung der Parlamentsfraktionen aus der Anerkennung der Parteien in Art. 21 GG resultiere 76. Diese Sicht wird auch der Tatsache gerecht, daß der Verfassungsgeber bereits bei der Verabschiedung des Grundgesetzes das Parlament als Ort parteipo-
70 Henke, in: Bonner Kommentar, Art. 21 Rz. 17; Ingo v. Münch, in: v. Münch/Kunig, Art. 21 Rz. 40; Philip Kunig, Parteien, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrecht, Band II, 1987, § 33 Rz. 55. 71 V. Münch, in: v. Münch/Kunig, Art. 21 Rz. 40. 72 BVerfGE 20, 56 (104 f.); Stern,, Staatsrecht I, § 23 I 2 c) (S. 1027). 73 BremStGH, DÖV 1970, S. 640; Stern, Staatsrecht I, § 23 I 2 b) (S. 1027). 74 Magiera,, Parlament und Staatsleitung, S. 130; Ritzel/Bücker, Vorbem. zu § 10 Anm. III 1; Hansjörg Dellmann, Fraktionsstatus als geschäftsordnungsmäßige Voraussetzung für die Ausübung parlamentarischer Rechte, DÖV 1976, S. 153 (154); Wolfgang Zeh, Gliederungen und Organe des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 42 Rz.8. 75 Walter Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, §31 Rz. 1 ff. 76 BVerfGE 10, 4 (14); 43, 142 (148); 70, 324 (350); 84, 304 (324).
D. Fraktionsgliederung
135
litischer Auseinandersetzung erkannte 77 und daher das Hineinwirken der Parteien in den parlamentarischen Raum über „ihre" Fraktionen und „ihre" Abgeordneten von der Verfassungsgarantie des Art. 21 GG gerade mitumfaßt sehen wollte. Es greift daher zu kurz, die verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktionen allein in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG zu verorten, denn diese Sicht beschränkt sich ganz auf die Bedeutung der Fraktionen für das freie Mandat 78 . Erst aus Art. 21 GG erschließt sich jedoch, daß die Parteien entscheidend über die Parlamentsfraktionen an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken.
3. Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG Neben Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 21 GG ist Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG strukturbildend für das Recht der Bundestagsfraktionen 79. Die entscheidende Bedeutung, die die Fraktionen bei der parlamentarischen Willensbildung haben, wurde bereits dargelegt 80. Das Bundesverfassungsgericht sieht es demgemäß als Aufgabe der Fraktionen an, den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit in gewissem Grade zu steuern und damit zu erleichtern 81. Der Bundestag hat zudem aufgrund seines Selbstorganisationsrechts unbestreitbar die Befugnis, die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Zusammenschlusses von Abgeordneten als Fraktion zu bestimmen. Die GOBT stattet sie darüber hinaus mit eigenen Rechten aus, die wiederum Voraussetzung für die Antragsberechtigung der Fraktionen im Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sind (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). Auf diese Weise wirkt
77 Vgl. die Ausführungen von Carlo Schmidt, Pari. Rat, 2. Sitzung, 8. September 1948, S. 15. 78 Auf das notwendige Spannungsverhältnis zwischen dem Einfluß der Parteien und Fraktionen und dem durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG soll hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu Henke, in: Bonner Kommentar, Art. 21 Rz. 18 ff. m.w.N. 79 Teilweise wird Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG auch als einzige unmittelbare verfassungsrechtliche Grundlage für die Bundestagsfraktionen angesehen; Hans-Herman Kasten, Möglichkeiten und Grenzen der Disziplinierung des Abgeordneten durch seine Fraktion: Fraktionsdiziplin, Fraktionszwang und Fraktionsausschluß, ZParl 1985, S. 475 (479); Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur, S. 171. 80 Siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 4 B. 81 BVerfGE 10,4(14).
136
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtlche Voraussetzungen
die Anerkennung als Fraktion durch die GOßT über den bundestagsinternen Bereich hinaus82. Gleichwohl wird bezweifelt, daß die Bildung von Fraktionen ihre verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG hat. Dies wird daraus gefolgert, daß der Bundestag aus eigenem Vermögen keine Fraktionen hervorbringen könne, sondern allein die freie Willensentschließung der einzelnen Abgeordneten für die Fraktionsbildung entscheidend sei 83 . Der Bundestag sei im Hinblick auf die Fraktionsbildung gerade nicht frei, denn er könne ihre Bildung weder anordnen noch grundsätzlich untersagen 84. Diese Argumentation greift aber zu kurz, denn sie beschränkt sich ganz auf den Konstituierungsakt der Fraktionen und geht zudem von einem theoretischen Idealzustand aus, da in der über Art. 21 GG verfassungsrechtlich abgesicherten Parlamentspraxis von einem freien Entschluß jedes einzelnen Abgeordneten, einer bestimmten Fraktion beizutreten, gerade nicht ausgegangen werden kann 85 . Die verfassungsrechtliche Bedeutung von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG für die Fraktionen erschließt sich aus dem Zweck der Verfassungsbestimmung. Das Recht des Bundestages, sich selbst zu organisieren, soll diesen in die Lage versetzen, seinen Aufgaben nachzukommen86. Dies setzt die Bildung von Fraktionen voraus. Weder sind die Abgeordneten darauf angewiesen, daß die GOBT Fraktionen vorsieht, damit sie sich zusammenschließen können 87 noch verlieren die Parteien ihren Einfluß auf ihnen angehörende Abgeordnete, wenn diese sich nicht zu Fraktionen zusammenschließen. Allein für die Funktionstüchtigkeit des Bundestages ist die Bildung von Abgeordnetengruppen, die die Parlamentsarbeit koordinieren und konzentrieren unabdingbar. Aus diesem Grund trifft es auch nicht zu, daß das Parlament, wie Hauenschild meint 88 , mit Mehrheit beschließen könnte, daß es in ihm keine Fraktionen mehr geben solle. Ein solcher Beschluß wäre nicht nur „unsinnig" 89 , er wäre auch verfassungswidrig, weil er dem Bundestag die Möglichkeit nähme, seinen verfassungsmäßigen Aufgaben
82 83 84 85 86 87 88 89
Troßmann, Parlamentsrecht, § 10 Rz. 3. Demmler , Der Abgeordnete, S. 176 f. Demmler, Der Abgeordnete, S. 177. Oben Kapitel 4 Abschnitt 4 C II. BVerfGE 44, 308 (315 f.); 80, 188 (218); 84, 304 (321). Demmler, Der Abgeordnete, S. 177. Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur, S. 171. Hauenschild, ebenda.
D. Fraktionsgliederung nachzukommen und damit dem Zweck der Selbstorganisationsgarantie Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG in eklatanter Weise entgegenliefe.
137 in
Deshalb ist Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG neben Art. 21 GG und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG die verfassungsrechtliche Grundlage für die Bundestagsfraktionen.
4. Ergebnis Insgesamt läßt sich feststellen, daß weder Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG noch Art. 21 GG noch Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG für sich allein die verfassungsrechtliche Basis für die Parlamentsfraktionen bildet. Jede dieser Bestimmungen begründet einen Teil der verfassungsrechtlichen Aufgaben und der verfassungsrechtlichen Stellung der Fraktionen. Erst aus der Zusammenschau dieser Bestimmungen läßt sich aber ein vollständiges Bild der Verfassungsfunktion der Bundestagsfraktionen entwickeln. Diese dienen der effektiven Wahrnehmung der Abgeordnetenrechte in gleicher Weise wie der Gewährleistung effektiver Parlamentsarbeit und der parlamentarischen Vertretung der politischen Parteien im Bundestag. Ihre verfassungsrechtliche Verankerung liegt daher in Art. 21, 38 Abs. 1 S. 2 und 40 Abs. 1 S. 2 GG.
IV. Problem: Abgeordnetengruppe ohne Fraktionsstatus Die bestimmende Bedeutung der Fraktionen hat zur Folge, daß solche Abgeordnetengruppen, die an sich die Voraussetzungen einer Fraktion erfüllen, in denen sich aber weniger als die in § 10 Abs. 1 S. 1 GOBT geforderten fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zusammenfinden, in ihren Aktionsmöglichkeiten im Vergleich zu einer Fraktion stark eingeschränkt sind. Relevant wurde dieses Problem in der 12. Wahlperiode. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die einheitliche Geltung der Fünf-Prozent-Klausel für das gesamte Bundesgebiet aufgrund der Besonderheiten der deutschen Wiedervereinigung für unvereinbar erklärt hatte, da es die antragstellenden Parteien in ihrem Recht auf Chancengleichheit nach Art. 21 Abs. 1, 38 Abs. 1 GG verletze 90 , wurde das Wahlgesetz dahingehend geändert, daß bei der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag alle Parteien und Listenvereinigungen zu berücksichtigen waren, die entweder im ehemaligen Bundesgebiet oder aber im Gebiet der
90
BVerfGE 82, 322 (325 f.).
138
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
vormaligen DDR fünf Prozent der Stimmen erreichten 91. Auf diese Weise gelang der PDS/Linke Liste und der Listenvereinigung Bündnis 90/Die Grünen der Einzug in den Bundestag, indem sie im ostdeutschen Wahlgebiet die FünfProzent-Hürde überwanden. Im Westen der Republik jedoch verfehlten sie dieses Ziel, so daß es dazu kam, daß sie im Bundestag insgesamt mit weniger als den nach § 10 Abs. 1 S. 1 GOBT zur Bildung einer Fraktion erforderlichen Abgeordneten vertreten waren. Anträge, die in der Geschäftsordnung festgelegte Mindestanzahl der wahlrechtlichen Sperrklausel anzupassen92, blieben ebenso erfolglos wie der Antrag auf Anerkennung als Fraktion nach § 10 Abs. 1 S. 2 GOBT 9 3 . Statt dessen wurden sowohl die Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen als auch die der PDS/Linke Liste als Gruppe gemäß § 10 Abs. 4 GOBT anerkannt 94 . Mit dem Gruppenstatus wurden besondere Rechte verbunden. Insbesondere wurde den Gruppen das Recht eingeräumt, für jeden Fachausschuß ein Mitglied zu ernennen und mit jeweils einem Mitglied an der Arbeit der Enquete-Kommissionen, der Untersuchungsausschüsse und des Ältestenrates mitzuwirken. Außerdem wurde ihnen das Recht eingeräumt, Gesetzentwürfe, Anträge, Entschließungsanträge sowie Große und Kleine Anfragen einzubringen. Sie durften eine bestimmte Zahl von Aktuellen Stunden verlangen und erhielten Redezeit entsprechend ihrem Stärkeverhältnis. Den Gruppenvorsitzenden wurden die Rechte von Fraktionsvorsitzenden eingeräumt und die Gruppen erhielten eine finanzielle Unterstützung für die parlamentarische Arbeit, allerdings nur den halben Fraktionsgrundbetrag einschließlich Oppositionszuschla-
/. Die Position des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat in einem von der PDS/Linke ListeAbgeordnetengruppe angestrengten Organstreitverfahren, in dem diese die 91
§ 6 Abs. 6 S. 1 Bundeswahlgesetz in der Fassung des 10. Änderungsgesetzes vom 8. Oktober 1990, BGBl. I, S. 2141. 92 Sten.Ber. 12. WP, 1. Sitzung, 20.12.1990, S. 13 C; vgl. BT-Drs. 12/2 und 12/5. 93 Sten.Ber. 12. WP, 9. Sitzung, 21.2.1991, S. 398 C; vgl. BT-Drs. 12/86. 94 Ähnlich war es 1974 acht FDP-Abgeordneten im 8. Bayerischen Landtag ergangen. Zwar hatte die FDP im Landesdurchschnitt 5,2 % der Stimmen erzielt, das Wahlsystem reduzierte aber ihren Anteil an den Landtagsmandaten auf weniger als 4 %. Auch diesen Abgeordneten verwehrte der Landtag die Anerkennung als Fraktion. Auch ihre Klage vor dem BayVerfGH blieb erfolglos. Vgl. BayVerfGHE N.F. 29 II (1976), 63. 95 BT-Drs. 12/149 und BT-Drs. 12/150
D. Fraktionsgliederung
139
Zuerkennung des Fraktionsstatus begehrte, die Vorgehensweise des Bundestages weitestgehend gebilligt. Als Beurteilungsmaßstab stellte es dabei ausschließlich auf Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG ab. Den Rückgriff auf den aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG abgeleiteten Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien lehnte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ab. Zwar folge die Anerkennung der Parlamentsfraktionen als notwendiger Einrichtung des Verfassungslebens aus der Anerkennung der Parteien in Art. 21 GG. Dies ändere aber nichts daran, daß die Bildung der Fraktionen auf der in Ausübung des freien Mandats getroffenen Entscheidung der Abgeordneten beruhe und der Bundestag für die Festlegung der Fraktionsstärke einen eigenen Gestaltungsspielraum habe96. Auch der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG betreffe weder die Stellung der Abgeordneten im Parlament noch den Status von Gruppen von Abgeordneten derselben Partei oder Liste, weshalb er als Maßstab für die Zulässigkeit einer in der GOBT festgelegten Fraktionsmindeststärke nicht in Betracht komme 97 . Dementsprechend maß das Gericht die Verfassungsmäßigkeit der in §10 GOBT festgelegten Fraktionsmindeststärke allein an dem aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG abgeleiteten Grundsatz der gleichen Mitwirkungsbefugnisse der Bundestagsabgeordneten. Dabei stellte es insbesondere darauf ab, daß der Bundestag den Gruppen in weitgehendem Maße Rechte eingeräumt hatte, die die GOBT den Fraktionen vorbehielt 98 . Diese stellten insbesondere die Mitwirkung der in der Gruppe PDS/Linke Liste organisierten Abgeordneten an der Ausschußarbeit sicher, wobei ihnen kein anderer Status zukomme als den fraktionsangehörigen Parlamentariern. Zudem werde dem Recht der Abgeordneten parlamentarische Initiativen zu ergreifen in ausreichendem Maße Rechnung getragen 99 , auch eine adäquate sachliche und personelle Ausstattung der Gruppe sei gewährleistet 100. Allerdings verletze der Bundestag die Abgeordnetengruppen dadurch in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, daß er ihnen nicht das Recht auf Mitgliedschaft in den Unterausschüssen nach § 55 GOBT eingeräumt und ihr die Rechte einer „Fraktion im Ausschuß" vorenthalten habe 101 . Ein Recht auf Anerkennung als Bundestagsfraktion aber hätten sie nicht, da der 96 97 98 99 100 101
BVerfGE 84, 304 (324). BVerfGE 84, 304 (324 f.). BVerfGE 84, 304 (326). BVerfGE 84, 304 (328 ff.). BVerfGE 84, 304 (324). BVerfGE 84, 304 (305, 327 f.).
140
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
Bundestag einen weiten Gestaltungsspielraum in Geschäftsordnungsangelegenheiten habe 102 .
2. Kritik Die Entscheidung vermag nicht überzeugen. Bereits die strikte Trennung von Parlamentsrecht und Wahlrecht erscheint problematisch. Das Grundgesetz verlangt bei Wahlen und Abstimmungen strikte staatsbürgerliche Gleichheit. Jeder hat das gleiche Recht zu wählen oder gewählt zu werden, Art. 38 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 2, 48 Abs. 1 S. 2 GG. Da sich in einem demokratischen Staat die Verteilung der Macht auf eine Wahlentscheidung des Volkes zurückführen lassen muß, muß das Gebot strenger politischer Gleichheit sowohl im Vorfeld der Wahl als auch im politischen Vollzug der Wahlentscheidung - also im parlamentarischen Meinungsbildungsprozeß beachtet werden 103 . Sowenig eine Demokratie funktionieren kann, wenn die Parteien nicht unter den gleichen rechtlichen Bedingungen in den Wahlkampf eintreten 104 , sowenig kann sie funktionieren, wenn nach der Wahl die rechtlichen Bedingungen differieren, insbesondere dann, wenn einer parlamentarischen Minderheit ohne zwingenden Grund bestimmte Rechte vorenthalten werden. In diesem Zusammenhang ist die Bedeutung der wahlrechtlichen Sperrklauseln zu beachten. Diese können vor den Grundsätzen der formalen Wahlrechtsgleichheit nur Bestand haben, wenn sie durch einen zwingenden Grund gerechtfertigt werden. Dieser zwingende Grund wird darin gesehen, daß sie der Sicherung der zu wählenden Volksvertretung dienen, indem sie die Bildung stabiler Mehrheiten erleichtern 105 . Wenn aber bei der Beurteilung der Zulässigkeit wahlrechtlicher Sperrklauseln die Auswirkungen auf die parlamentarische Arbeit in den Blick genommen werden, so folgt hieraus, daß das Parlament als Nachwirkung des Grundsatzes der formalen Wahlrechtsgleichheit Abgeordnetengruppen, die Parteien angehören, die den Sprung über die Sperrklausel geschafft haben, auch im Bereich seines Selbstorganisationsrechts gleichzubehandeln hat. Insbesondere hat er dabei zu beachten, daß die Funktionstüchtigkeit des Parlaments bereits durch die wahlrechtlichen Sperrklauseln sichergestellt
102 103 104 105
BVerfGE 84, 304 (322). Dieter Birk, Gleichheit im Parlament, NJW 1988, S. 2521 (2521 f.). BVerfGE 44, 125 (146); 82, 322 (337). BVerfGE 1, 208 (247 f.); 4, 31 (40); 6, 84 (92 ff.); 51, 222 (236); 82, 322 (338).
D. Fraktionsgliederung
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wird. Die Festlegung höherer Quoren für die Bildung einer Fraktion steht daher unter einem besonderen Rechtfertigungszwang 106. So wie der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zur Neutralität gegenüber dem Wahlwettbewerb der Parteien verpflichtet ist, trifft den Geschäftsordnungsgeber die Verpflichtung zur Neutralität gegenüber den aus diesem Wahlwettbewerb hervorgegangenen parlamentarischen Gruppierungen. Dieser Neutralitätspflicht kommt er nur nach, wenn er ihnen die gleichen Rechte einräumt. Anderenfalls hätte es der parlamentarische Geschäftsordnungsgeber (und dies ist letztlich die parlamentarische Mehrheit) in der Hand, Wahlentscheidungen des Volkes im parlamentarischen Raum dadurch abzuschwächen, daß er ihm nicht genehmen Gruppen bestimmte Rechte vorenthält, die er anderen gewährt. Hierdurch wäre die formale Wahlrechtsgleichheit auch insoweit beeinträchtigt als dieses Vorgehen die Ausgangssituation der Parteien bei der nächsten Wahl verzerrt, denn diese hängt notwendigerweise auch mit den Aktions- und Artikulationsmöglichkeiten zusammen, die den einer bestimmten Partei angehörigen Abgeordneten im Parlament eingeräumt werden. Aber auch wenn man Wahlrecht und Parlamentsrecht strikt voneinander trennt, greift die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts zu kurz. Denn selbst wenn man den Grundsatz formaler Gleichheit im Parlamentsrecht allein aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und nicht auch aus anderen Verfassungsbestimmungen ableitet, so beschränkt er sich doch nicht auf die formale Gleichheit der einzelnen Parlamentarier, sondern er schließt den Grundsatz formaler Gleichheit der verschiedenen Abgeordnetengruppen mit ein 1 0 7 , da diese die singulären Abgeordnetenrechte bündeln und deshalb am Schutz des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG teilhaben müssen. Hiervon geht auch das Bundesverfassungsgericht ersichtlich aus 108 . Es leuchtet daher nicht ein, wenn es weiter ausführt: „Unabhängig vom Zusammenschluß mehrerer Abgeordneter zu einer Fraktion oder ihrer Anerkennung als Gruppe ergeben sich im Blick auf die Mitgliedschaft und Mitarbeit in den Ausschüssen des Bundestages aus dem Prinzip der gleichen Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten Mitwirkungsrechte und Organisationsbefugnisse einer bestimmten Zahl von Mitgliedern des Bundestages, jedenfalls
106
Monika Z?ö/*WFlorian Edinger, Fraktionsstatus und Verfassung, ZRP 1991, S. 138(140). 107 Florian Becker, Defizite im Fraktionsgesetz des Bundes: § 50 AbgG, ZParl 1996, S. 189(193). 108 BVerfGE 80, 188 (218); 84, 304 (319 und 322 f); vgl. zur Fraktionsgleichheit BVerfGE 70, 324 und Joachim Scherer, Fraktionsgleichheit und Geschäftsordnungskompetenz des Bundestages, AöR 112 (1987), S. 189 ff.
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
wenn sie sich wegen gleicher Parteizugehörigkeit oder aufgrund eines Wahlbündnisses zusammengeschlossen haben." 109 Wenn die Fraktionen heute auch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgericht politisches Gliederungsprinzip für die Arbeit des Bundestages sind 110 , so hätte die Prüfung nicht unabhängig von der Zuerkennung des Fraktionsstatus erfolgen dürfen. Vielmehr lautete die Frage, ob die Verweigerung des Fraktionsstatus vor dem Grundsatz der formalen Gleichheit aller Gruppen von Abgeordneten mit gleicher Parteizugehörigkeit Bestand haben konnte. Der bloße Hinweis darauf, „daß das Parlament bei der Entscheidung darüber, welcher Regeln es zu seiner Selbstorganisation und zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs bedarf, einen - allgemein weiten - Gestaltungsspielraum hat" 1 1 1 , beantwortet für sich genommen nicht, ob die Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist. Vielmehr muß aus dem Prinzip formaler Gleichheit gefolgert werden, daß Zusammenschlüsse von Abgeordneten einer Partei solange gleich zu behandeln sind und ihnen solange ein Anspruch auf Anerkennung als Fraktion zusteht, wie ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung fehlt 112 . Differenzierungsgründe können die Absicherung der Arbeitsfähigkeit, der Funktionsfähigkeit und der Beschlußfähigkeit des Deutschen Bundestages sein 113 . Die parlamentarische Gleichheit endet daher dort, wo andere gleichrangige parlamentarische Organisations- und Verfahrensstrukturen entgegenstehen114. Die Nichtanerkennung des Zusammenschlusses der Abgeordneten des Bündnis 90/Die Grünen und des Zusammenschlusses der Abgeordneten der PDS/Linke Liste hätte daher nur dann verfassungsrechtlich unbeanstandet bleiben dürfen, wenn Gründe der parlamentarischen Arbeits-, Funktions- oder Beschlußfähigkeit dies erfordert hätten. Fehlte dagegen ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung, so kann auch der Hinweis auf den weiten Gestaltungsspielraum des Geschäftsordnungsgebers nicht als Rechtfertigung dienen.
109
BVerfGE 84, 304 (323). BVerfGE 84, 304 (322). 111 BVerfGE 84, 304 (322). 112 Monika Böhm, Die Rechtsstellung parlamentarischer Gruppierungen ohne Fraktionsstatus - Anmerkungen zum Urteil des BVerfG vom 16. Juli 1991, ZParl 1992, S. 231 (234). 113 BVerfGE 10, 4 (19 f.); 44, 308 (315); 67, 100 (139); 70, 324 (364); Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 70; Birk, NJW 1988, S. 2521 (2524). 114 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 70. 1,0
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Bei der Frage, ob die parlamentarische Arbeits- und Funktionsfähigkeit die Ungleichbehandlung erfordert, ist dem Bundestag ein weiter Beurteilungsspielraum zuzubilligen 115 , denn letztlich kann die Erforderlichkeit niemand besser beurteilen als der parlamentarische Geschäftsordnungsgeber selbst. Dies schließt es aber nicht aus, daß dann, wenn die Einschätzung des Geschäftsordnungsgebers offensichtlich unzutreffend war, eine verfassungsgerichtliche Korrektur vorzunehmen ist. Bei der Beurteilung, ob die Nichtanerkennung der beiden Abgeordnetengruppen als Fraktionen offensichtlich nicht durch Erwägungen der Funktionsund Arbeitsfähigkeit des Bundestages getragen wird, hätte wiederum die Bedeutung der wahlrechtlichen Sperrklauseln beachtet werden müssen. Bereits diese Sperrklauseln stellen nämlich sicher, daß sich die Gefahren, die für ein parlamentarisches Regierungssystem von einer Parteienzersplitterung ausgehen, nicht verwirklichen. Aus diesem Grund ist es unbedenklich, wenn für die Bildung einer Bundestagsfraktion ein Quorum in Höhe der wahlrechtlichen Sperrklausel vorgesehen ist. Dagegen erscheint die Festlegung eines höheren Quorums rechtfertigungsbedürftig. Nur besondere Umstände, die ihren Ursprung in der Gefährdung der parlamentarischen Arbeits- und Funktionstüchtigkeit haben, könnten es erforderlich machen, ein höheres Quorum in der Geschäftsordnung festzulegen. Hierdurch käme es auch nicht zu einer vom Bundesverfassungsgericht als unzulässig angesehenen Verknüpfung von Parlaments- und Wahlrecht, denn es bliebe dem Bundestag unbenommen geringere Quoren aufzustellen, lediglich höhere Quoren lösten einen Rechtfertigungszwang aus. Die Rechtfertigung für die Vorenthaltung des Fraktionsstatusses könnte darin liegen, daß PDS/Linke Liste und Bündnis 90/Die Grünen die Sperrklausel lediglich im Gebiet der ehemaligen DDR überwunden hatten und deshalb im Bundestag jeweils mit weniger als fünf vom Hundert der Abgeordneten vertreten waren. Aber auch die - durch die besonderen Umstände der ersten gesamtdeutschen Wahl veranlaßte - Schaffung zweier Wahlgebiete, in denen jeweils eine eigene fünfprozentige Sperrklausel galt, stellte sicher, daß das Wahlergebnis die Funktionstüchtigkeit des Bundestages nicht beeinträchtigen würde 1 1 6 . Aus diesem Grund hätten auch Gruppen, in denen sich Abgeordnete zusammengefunden haben, die nur im ostdeutschen Wahlgebiet die Fünf-Prozent-
115 Siehe zum Beurteilungsspielraum des Geschäftsordnungsgebers allgemein unten Kapitel 5 Abschnitt 2 C IV. 1,6 BVerfGE 82, 322 (350 f.).
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
Klausel übersprangen, nicht anders behandelt werden dürfen als Zusammenschlüsse anderer Abgeordneter.
3. Ergebnis Durch die Nichtanerkennung als Fraktion wurden Zusammenschlüsse von Abgeordneten erster und zweiter Klasse geschaffen. Dies war möglicherweise auch beabsichtigt, um die Abgeordneten der unliebigen PDS aus dem Kreis der demokratischen Abgeordneten auszugrenzen. Dies kann aber nicht als Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung dienen, denn die Unterscheidung nach demokratischen und undemokratischen Parteien hat nicht auf parlamentarischer Ebene anzusetzen. Vielmehr sieht das Grundgesetz für undemokratische und daher verfassungswidrige Parteien die Möglichkeit eines Parteiverbots durch das Bundesverfassungsgericht vor, Art. 21 Abs. 2 GG. Auch in der 13. Legislaturperiode wurde dem Zusammenschluß der PDS-Abgeordneten im Deutschen Bundestag die Anerkennung als Fraktion verwehrt. Dieses Mal verdankten sie ihren Einzug ins Parlament zwar nicht einer gesonderten Sperrklausel in den neuen Bundesländern, eine Besonderheit des Wahlrechts kam ihnen aber gleichwohl zur Hilfe, denn bundesweite 5 Prozent erreichte die PDS auch 1994 nicht. Sie erzielte aber mehr als drei Direktmandate und gelangte deshalb - als erste Partei in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland - über § 6 Abs. 6 S. 1 2. Hs. B W G 1 1 7 in den Bundestag. Für die verfassungsmäßige Beurteilung der Vorenthaltung des Fraktionsstatusses gilt das oben gesagte, denn auch wenn die PDS mit weniger als fünf Prozent der Stimmen in den Bundestag einzog, hätte ihre Anerkennung als Fraktion die Funktionstüchtigkeit oder Arbeitsfähigkeit des Bundestages in der 13. Legislaturperiode ebensowenig beeinträchtigt wie in der 12. Legislaturperiode. Erneut hat die PDS-Bundestagsgruppe deshalb einen Organstreit gegen den Bundestag angestrengt 118, über dessen Ausgang noch nicht entschieden ist. Die verfassungswidrige Verweigerung des Fraktionsstatus führt dazu, daß der PDS-Gruppe keine Mitgliedschaft
1,7 In der Literatur wird teilweise die Verfassungswidrigkeit von § 6 Abs. 6 BWG behauptet, etwa von Werner Hoppe, Die Verfassungswidrigkeit der Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 6 Bundeswahlgesetz), DVB1. 1995, S. 265 ff.; Hans Meyer , Wahlgrundsätze und Wahl verfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, §38 Rz. 30. 118 BVerfG 2 BvE 4/95.
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im Vermittlungsausschuß, im Regulierungsrat beim Bundesministerium für Post und Telekommunikation, in der parlamentarischen Versammlung des Europarates, sowie in Unterausschüssen und Enquete-Kommissionen einzuräumen sind. Außerdem hat sie nicht das Recht, Geschäftsordnungsanträge einzubringen sowie von geschäftsordnungsrechtlichen Verlangen und Widerspruchsrechten Gebrauch zu machen, die den Fraktionen zustehen, die Erstattung von Zwischenberichten gemäß § 62 GOBT zu verlangen, soweit es nicht eigene Vorlagen betrifft, namentliche Abstimmung zu fordern, sofortige Abstimmung von Anträgen im Plenum zu fordern, die Herbeirufung eines Mitgliedes der Bundesregierung zu beantragen, einen Ausschußvorsitzenden und einen Stellvertreter zu bestellen, auf volle Mitgliedschaft im Ältestenrat, gemäß § 35 GOBT Redezeiten für jeweils einen ihrer Redner zusammenzufassen, auf Zuweisung eines ungeteilten Fraktionsgrundbetrages.
10 Schwerin
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen V. Problem: Fraktionsloser Abgeordneter
Die bestimmende Funktion der Fraktionen in der Parlamentspraxis wirkt sich nicht nur auf Abgeordnetengruppen aus, denen der Fraktionsstatus verwehrt wird, sie hat auch Auswirkungen auf den einzelnen Abgeordneten, insbesondere dann, wenn dieser keiner Fraktion angehört 119 . Sie führt dazu, daß die parlamentarischen Aktionsmöglichkeiten des fraktionslosen Abgeordneten erheblich eingeschränkt sind. Dies erscheint vor dem Hintergrund, daß der einzelne Abgeordnete auch dann Repräsentant des ganzen Volkes gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ist, wenn er keiner Fraktion angehört, problematisch.
1. Die Position des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hatte sich mit den Auswirkungen, die die bestimmende Rolle der Fraktionen für den fraktionslosen Abgeordneten haben kann in der Entscheidung über die Organklage des fraktionslosen Abgeordneten Wüppesahl vom 13. Juni 1989 auseinanderzusetzen120. Nachdem Wüppesahl wegen Streitigkeiten mit seinem Landesverband aus der Partei DIE GRÜNEN ausgetreten war, hatte ihn seine Fraktion ausgeschlossen. Anstelle von Wüppesahl, der bis zu seinem Fraktionsausschluß Mitglied des Innen- und stellvertretendes Mitglied des Rechtsausschusses war, benannte die Fraktion ein anderes Fraktionsmitglied. Im Plenum wurde ihm ein Sitz in der letzten Reihe zugeteilt und sein Antrag, ihm einen mit Schreibmöglichkeit und Telefon ausgestatteten Sitz in den ersten zwei Bankreihen des Plenums zuzuweisen, wurde abgelehnt. Ebenso wurde sein Antrag abgelehnt, im Haushaltsplan einen zusätzlichen Titel „Zuschüsse für nicht den Fraktionen angehörige Abgeordnete im Deutschen Bundestag" in Höhe von 89.928 D M auszubringen. Daraufbegehrte Wüppesahl in einem Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht festzustellen, daß es unter anderem verfassungswidrig gewesen sei, ihm seine Ausschußfunktionen zu entziehen und die genannten Anträge abzulehnen121.
119
Auf die Auswirkungen, die die kollektive Ausgestaltung zahlreicher parlamentarischer Mitwirkungsrechte für den einzelnen Abgeordneten unabhängig von der Fraktionszugehörigkeit hat, wird unten in Kapitel 5 Abschnitt 2 ausführlich eingegangen. 120 BVerfGE 80, 188. 121 Zum Sachverhalt und Wüppesahls genauen Anträgen BVerfGE 80, 188 ( 190 ff.).
D. Fraktionsgliederung
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In der Entscheidung hierüber hat das Bundesverfassungsgerichts vom Repräsentationsprinzip Schlußfolgerungen auf die geschäftsordnungsmäßige Ausgestaltung des parlamentarischen Verfahrens gezogen: Der Bundestag als unmittelbares Repräsentationsorgan des Volkes bestehe aus den als Vertretern des ganzen Volkes gewählten Abgeordneten, die insgesamt die Volksvertretung bildeten. Dabei sei der durch Art. 38 Abs. 1 GG gewährleistete repräsentative Status des Abgeordneten die Grundlage für die repräsentative Stellung des Bundestages, der gemäß Art. 20 Abs. 2 GG als „besonderes Organ" die vom Volk ausgehende Staatsgewalt ausübe122. Der Bundestag nehme seine ihm von der Verfassung zugewiesenen Aufgaben indes nicht losgelöst von seinen Mitgliedern, sondern in deren Gesamtheit wahr 123 . Deshalb sei jeder Abgeordnete berufen, an der Arbeit des Bundestages, seinen Verhandlungen und Entscheidungen teilzunehmen124. Dem Bundestag obliege es gemäß Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG in dem von der Verfassung vorgegebenen Rahmen, seine Arbeit auf der Grundlage des Prinzips der Beteiligung aller zu organisieren. Da die Repräsentation des Volkes sich im Parlament darstelle, werde sie nicht von einzelnen oder einer Gruppe von Mitgliedern, auch nicht von der parlamentarischen Mehrheit, sondern vom Parlament in der Gesamtheit seiner Mitglieder als Repräsentanten des Volkes bewirkt. Daraus folge, daß alle Mitglieder die gleichen Mitwirkungsbefugnisse haben müssen125. Mit den Mitgliedsrechten des einzelnen Bundestagsabgeordneten könne die Geschäftsordnung des Bundestages in Konflikt geraten. Diese diene der Erfüllung der Aufgaben des Bundestages. Sie zu erlassen und zu gestalten, komme dem Bundestag gemäß Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG als eine ihm von der Verfassung verliehene Befugnis zu. Dieses Recht, seine Angelegenheiten zu regeln, erstrecke sich traditionell auf die Bereiche „Geschäftsgang" und „Disziplin" 1 2 6 . Hierzu zähle auch die Befugnis des Bundestages, sich selbst zu organisieren und sich dadurch zur Erfüllung seiner Aufgaben in den Stand zu setzen. So entscheide der Bundestag über den Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens, soweit es nicht in der Verfassung selbst geregelt sei, über Funktion, Zusammenstellung und Arbeitsweise der Ausschüsse, über die Wahr-
122 123 124 125 126
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
80, 80, 80, 44, 44,
188 (217). 188 (217 f.). 188 (218). 308 (316); 56, 396 (405); 80, 188 (218). 308 (315 f.); 80, 188 (218 f.); oben Kapitel 1 Abschnitt 2.
148
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
nehmung von Initiativ-, Informations- und Kontrollrechten, über Bildung und Rechte von Fraktionen und die Ausübung des parlamentarischen Rederechts 127. Auf diese Weise begründe die Geschäftsordnung die den einzelnen Abgeordneten aus ihrem verfassungsrechtlichen Status zustehenden Rechte durch die Geschäftsordnung zwar nicht, sie regele aber die Art und Weise ihrer Ausübung. Sie setze die grundlegenden Bedingungen für die geordnete Wahrnehmung dieser Rechte, die nur als Mitgliedschaftsrechte bestehen und verwirklicht werden könnten und daher einander zugeordnet und aufeinander abgestimmt werden müßten. Hierdurch werde dem Parlament eine sachgerechte Erfüllung seiner Aufgaben erst möglich. Dies bedinge allerdings zugleich auch Beschränkungen der Rechte des einzelnen Parlamentariers; denn diese müßten sich - als Mitgliedschaftsrechte - in deren notwendig gemeinschaftliche Ausübung einfinden 128 . Jedoch dürfe aufgrund der Repräsentationsfähigkeit und der Funktionstüchtigkeit des Parlaments das Recht des einzelnen Abgeordneten, an der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Bundestages mitzuwirken und seine besonderen Erfahrungen und Kenntnisse darin einzubringen, nicht durch Geschäftsordnungsregeln in Frage gestellt werden 129 . Sosehr die Rechte des einzelnen Abgeordneten durch die parlamentarische Geschäftsordnung auch im einzelnen ausgestaltet und insofern auch eingeschränkt werden könnten, sowenig dürften sie ihm entzogen werden 130 . Richtmaß für die Ausgestaltung der Organisation und des Geschäftsganges bleibe in jedem Fall das Prinzip der Beteiligung aller Abgeordneten 131. Dieses Prinzip habe das Parlament bei seiner Rechtssetzung im Selbstorganisationsbereich zu beachten.
a) Recht auf Ausschußmitgliedschaft ohne Stimmrecht Hieraus folge, daß jedem Abgeordneten - auch dem fraktionslosen - Gelegenheit gegeben werden müsse, in einem Ausschuß mitzuarbeiten, denn die Möglichkeit, in einem Ausschuß mitzuwirken, habe für den einzelnen Abgeord-
127 128 129 130 131
BVerfGE 80, 188 (219). Ebenda. Ebenda. BVerfGE 44, 308 (316); 80, 188 (219). BVerfGE 80, 188 (219).
D. Fraktionsgliederung
149
neten in Anbetracht der Tatsache, daß ein Großteil der Sacharbeit des Bundestages von den Ausschüssen wahrgenommen werde, eine der Mitwirkung im Plenum vergleichbare Bedeutung 132 . Die Ausschüsse bereiteten die Verhandlungen und Beschlüsse des Plenums vor und bewältigten auch einen wesentlichen Teil der Informations-, Kontroll- und Untersuchungsaufgaben des Bundestages133. Deshalb dürfe ein Abgeordneter nur dann von jeder Mitarbeit in den Ausschüssen ausgeschlossen werden, wenn hierfür gewichtige, an der Funktionstüchtigkeit des Parlaments orientierte Gründe vorlägen 134 . Allerdings darf nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 135 bei der Form der Mitwirkung zwischen fraktionslosen und fraktionsangehörigen Abgeordneten unterschieden werden. Zwar müsse jedem Abgeordneten in dem Ausschuß, dem er angehört, das Rede- und Antragsrecht zustehen, denn das Schwergewicht der Mitarbeit des einzelnen Abgeordneten im Ausschuß liege auf der Einbringung von Argumenten und damit auf der Befruchtung der Sachdiskussion. Hingegen sei es verfassungsrechtlich nicht geboten, dem nichtfraktionsangehörigen Abgeordneten ein notwendigerweise überproportional wirkendes Stimmrecht zuzubilligen. Anders als die fraktionsangehörigen Ausschußmitglieder spreche der fraktionslose Abgeordnete nur für sich selbst und nicht auch für die Mitglieder einer Fraktion. Seinem Einfluß auf die Beschlußempfehlung an das Plenum komme deshalb auch nicht das gleiche Gewicht zu wie bei den auch für andere Abgeordnete sprechenden Ausschußmitgliedern. Für eine trotz dieser Ungleichgewichtigkeit bestehende Verpflichtung des Bundestages, dem fraktionslosen Abgeordneten ein Stimmrecht im Ausschuß einzuräumen, bedürfe es daher einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, die sich aber aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht gewinnen lasse136. Insbesondere im Hinblick auf die Funktion der Ausschüsse, die Mehrheitsfähigkeit einer Vorlage sicherzustellen, sei es nicht geboten, dem fraktionslosen Abgeordneten ein Stimmrecht einzuräumen 137.
132 133 134 135 136 137
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE Ebenda.
80, 80, 80, 80, 80,
188 (222). 188 (221 f.). 188 (222). 188 (223 ff.). 188 (225).
150
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen b) Kein Recht auf Zuschüsse für politische Arbeit
Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß ein fraktionsloser Abgeordneter keinen Anspruch auf eine Finanzausstattung hat, die derjenigen der Fraktionen vergleichbar wäre und auch keinen Zuschuß für seine politische Arbeit verlangen kann, der sich am Geldwert der Leistungen orientiert, die die Bundestagsfrakrionen für ihre Mitglieder erbringen, denn der Status als einzelner Abgeordneter unterscheide sich grundsätzlich von dem der Fraktionen 138 . Die Fraktionen steuerten und erleichterten die parlamentarische Arbeit, indem sie eine Arbeitsteilung unter ihren Mitgliedern organisierten, gemeinsame Initiativen vorbereiteten und aufeinander abstimmten sowie eine umfassende Information der Fraktionsmitglieder unterstützten. Auf diese Weise faßten sie unterschiedliche politische Positionen zu handlungs- und verständigungsfahigen Einheiten zusammen139. Die Fraktionszuschüsse seien für die Finanzierung dieser der Koordination dienenden Parlamentsarbeit bestimmt und insoweit zweckgebunden140. Da es beim fraktionslosen Abgeordneten an einem entsprechenden Koordinationsbedarf fehle, bestehe auch kein Anspruch auf finanzielle Gleichstellung 141 . Allerdings erkennt das Bundesverfassungsgericht an, daß den Fraktionsmitgliedern aus der Arbeit der Fraktionen eine Reihe von Vorteilen entstehen, die sie nicht nur für ihre Mitwirkung in der Fraktion, sondern auch für ihre eigene politische Arbeit nutzen können 142 . Insbesondere bringe es die Einbindung in eine Fraktion mit sich, daß dem Abgeordneten zahlreiche, bereits politisch aufbereitete Informationen zuflössen, die sich ohne Hilfestellung der Fraktion nur mühsam beschaffen könnte. Die insoweit dem fraktionslosen Abgeordneten entstehenden Nachteile habe der Bundestag im Hinblick auf die gleiche Rechtsstellung aller Abgeordneten auszugleichen143. Hierfür bedürfe es aber keiner finanziellen Zuwendungen, sondern es genüge, wenn der Bundestag durch seine Verwaltung, insbesondere seine wissenschaftlichen Dienste einen Ausgleich 138
BVerfGE 80, 188 (230 f.) BVerfGE 80, 188 (231); vgl. zu dieser Funktion der Fraktionen auch oben Kapitel 4 Abschnitt 4 B. 140 Kritisch zur Zweckrichtung der Fraktionszuschüsse, Martin Morlok, Parlamentarische Geschäftsordnungsrecht zwischen Abgeordnetenrechten und parlamentarischer Praxis, JZ 1989, S. 1035 (1046). 141 BVerfGE 80, 188 (231). 142 BVerfGE 80, 188 (231 f.). 143 BVerfGE 80, 188 (232). 139
D. Fraktionsgliederung
151
anbiete. Dabei habe er zu berücksichtigen, daß der fraktionslose in stärkerem Maße als der fraktionsangehörige Abgeordnete auf eine Zuarbeit angewiesen ist. Deshalb dürfe dem fraktionslosen Abgeordneten juristischer Rat oder Hilfestellung bei Anträgen und Initiativen nicht versagt werden, auch wenn solche Leistungen von fraktionsangehörigen Abgeordneten in der Regel nicht nachgefragt würden 144 .
2. Kritik
und Stellungnahme
Die vom Bundesverfassungsgericht vertretene Ansicht, die Einräumung eines Stimmrechts im Ausschuß bedürfe verfassungsrechtlicher Rechtfertigung, erscheint vor dem Hintergrund des von ihm selbst vertretenen Grundsatzes der formalen Gleichheit aller Abgeordneten nicht unproblematisch. Das Urteil ist daher auf Kritik gestoßen. Mahrenholz weist in seinem Sondervotum darauf hin, daß sich Rederecht und Stimmrecht in parlamentarischen Gremien nicht voneinander trennen ließen, da der geistige Vorgang, der als „Beratung" bezeichnet werde, ein einheitlicher sei 145 . Zudem widerspreche die Vorenthaltung des Stimmrechts dem aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG abgeleiteten Gebot der gleichen Mitwirkung aller Abgeordneten, da ein Ausschußmitglied, das im Unterschied zu allen anderen Mitgliedern nicht abstimmen könne, nicht in gleicher Weise am Vorgang der parlamentarischen Willensbildung mitwirke 146 . Die Frage laute daher auch nicht, ob es geboten sei, dem fraktionslosen Abgeordneten ein Stimmrecht zu geben, sondern ob es gerechtfertigt sei, ihm dieses im Ausschuß zu nehmen 147 . Wenn als verfassungsrechtliches Argument gegen die Einräumung des Stimmrechts im Ausschuß angeführt werde, daß der fraktionslose Abgeordnete nur für sich und nicht für andere spreche, so werde zweifelhaft, warum ihm überhaupt ein Rederecht im Ausschuß zukomme. Auch das Argument, daß es die Funktion der Ausschüsse sei, die Mehrheitsfähigkeit einer Vorlage zu sichern, läßt Mahrenholz nicht als Argument gegen das Stimmrecht des Fraktionslosen gelten, denn so gesehen lasse sich mit gleichem Recht die Frage nach 144
Ebenda. Sondervotum Mahrenholz, BVerfGE 80, 188/235 (237). 146 Sondervotum Mahrenholz, BVerfGE 80, 188/235 (238). 147 Sondervotum Mahrenholz, BVerfGE 80, 188/235 (238 f.); ebenso Helmuth Schulze-Fielitz, Der Fraktionslose im Bundestag: Einer gegen alle, DÖV 1989, S. 829 (833); Sven Hölscheidt, Die Ausschußmitgliedschaft fraktionsloser Bundestagsabgeordneter, DVB1. 1989, S. 291 (292 f.). 145
152
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
der Berechtigung des Stimmrechts von Oppositionsabgeordneten stellen. Zudem widersprächen die Gründe, die das Bundesverfassungsgericht für die Mitgliedschaft des fraktionslosen Abgeordneten anführe, den Gründen, die die Vorenthaltung des Stimmrechts rechtfertigen sollen. Denn wenn die Mitarbeit den Abgeordneten die Chance eröffne, ihre eigenen Vorstellungen in die parlamentarische Willensbildung einzubringen und das Schwergewicht der Ausschußarbeit auf der Einbringung von Argumenten und der Befruchtung der Sachdiskussion liege, so sei die Vertretung der Fraktion und die Mehrheitsfähigkeit einer Vorlage im Plenum stets gefährdet 148. Unternehme man es, die einzelne Stimme darauf zu bewerten, welches Gewicht ihr zukomme, so gebe man nicht nur den Grundsatz, daß das Mandat auch im Ausschuß ein freies und gleiches Mandat sei, sondern auch die Erkenntnis preis, daß die Ausschüsse in die Repräsentation des Volkes durch das Parlament einbezogen seien 149 . Aus alledem zieht Mahrenholz den Schluß, daß dem fraktionslosen Abgeordneten nicht nur das Rede- und Antragsrecht, sondern auch das Stimmrecht im Ausschuß einzuräumen sei 150 . Zutreffend an dieser Kritik ist, daß die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in sich nicht widerspruchsfrei ist. Aus dem Grundsatz der formalen Gleichheit aller Abgeordneten folgt, daß die Vorenthaltung des Stimmrechts im Ausschuß eine Ungleichbehandlung und als solche rechtfertigungsbedürftig ist. Es erscheint deshalb auch nicht überzeugend, wenn das Gericht in „Umkehrung der argumentativen Beweislast" 151 nicht nach Rechtfertigungsgründen für die Ungleichbehandlung, sondern nach Verfassungsgeboten für die Einräumung des Stimmrechts im Ausschuß sucht 152 . Im Ergebnis ist der Entscheidung aber zuzustimmen, denn die Fraktionszugehörigkeit ist ein verfassungsmäßiger rechtfertigender Grund für die unterschiedliche Behandlung von Ausschußmitgliedern. Die Rückkoppelung fraktionsangehöriger Abgeordneter an ihre Fraktionen ermöglicht es diesen, von vornherein in anderer Weise an der Parlamentsarbeit teilzuhaben als ein fraktionsloser Parlamentarier. Indem parlamentarische Vorlagen in den Fraktionen 148
Sondervotum Mahrenholz , BVerfGE 80, 188/235 (239). Sondervotum Mahrenholz , BVerfGE 80, 188/235 (239 f.). 150 Sondervotum Mahrenholz , BVerfGE 80, 188/235 (240); ebenso Schulze-Fielitz , DÖV 1989, S. 829 (833). 151 Schulze-Fielitz , DÖV 1989, S. 829 (833). 152 Vgl. BVerfGE 80, 188 (224 f.). 149
D. Fraktionsgliederung
153
parallel zu den Ausschußberatungen behandelt werden, ist eine indirekte Mitarbeit der fraktionsangehörigen Abgeordneten auch an solchen Beratungsgegenständen gewährleistet, die in Ausschüssen beraten werden, denen sie nicht angehören. Wenngleich auch die fraktionsangehörigen Ausschußmitglieder nicht rechtlich an die Beschlüsse ihrer Fraktionen gebunden sind, so sind sie doch deren Repräsentanten im Ausschuß, die mit den Fraktionen durch gemeinsam erarbeitete, politische und sachliche Positionen verbunden sind und diese in den Ausschüssen, wenn auch in individueller Weise und gelegentlich mit Abweichungen vertreten 153 . Die politische Gleichgerichtetheit der Fraktionen stellt zudem sicher, daß sich jeder Abgeordnete auf die fachliche und politische Kompetenz seiner Fraktionskollegen verlassen kann 154 . Insoweit trifft es zu, daß der fraktionsangehörige Abgeordnete im Ausschuß nicht nur für sich selbst, sondern eben auch für seine Fraktion spricht 155 . Anderenfalls könnten die Fraktionen ihre Aufgaben im Bereich der parlamentarischen Entscheidungsfindung gar nicht erfüllen. Allein die parallel zu den Ausschußberatungen erfolgende Willensbildung in den Fraktionen, stellt sicher, daß das Ergebnis der Ausschußberatungen im Plenum eine tragfähige Mehrheit vorfindet. Die Einräumung eines Stimmrechts auch an einen fraktionslosen Abgeordneten würde dieses Ergebnis gefährden und zwar nicht nur dann, wenn die Mehrheit in einem Ausschuß nur an einer Stimme hängt. Auch wenn die Mehrheit im Ausschuß komfortabler ist, wirkte das Stimmrecht des Fraktionslosen notwendigerweise überproportional. Im Falle einer uneinigen Ausschußmehrheit könnte seine Stimme im Ausschuß den Ausschlag auch dann geben, wenn die parlamentarische Mehrheit im Plenum gegeben ist. Aus diesem Grund erscheint es vor dem Hintergrund der formalen Gleichheit aller Abgeordneten gerechtfertigt, dem fraktionslosen Abgeordneten im Ausschuß das Stimmrecht vorzuenthalten, das den fraktionsangehörigen zusteht. Dieses Argument läßt sich aber nicht dazu verwenden, fraktionslose Abgeordnete ganz aus der Ausschußarbeit auszuschließen156. Denn wenn es ihm gelingt, allein durch die Überzeugungskraft seiner Argumente eine Mehrheit im Ausschuß für seine Position zu gewinnen, so bedeutet dies keine überproportionale Mitwirkungsmöglichkeit. Durch die Verbindung der übrigen Abgeordneten
153
Heinhard Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 125. 154 Siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 4 C I. 155 BVerfGE 80, 188 (224). 156 So aber Sondervotum Kruis, BVerfGE 80, 188/241; Jan Ziekow, Der Status des fraktionslosen Abgeordneten - BVerfGE 80, 190, JuS 1991, S. 28 (31 ff.).
154
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
zu ihren Fraktionen ist nämlich sichergestellt, daß diese Argumente auch in die Fraktionsberatungen eingehen und dort in den zuständigen Arbeitskreisen diskutiert werden. Aus diesem Grund ist auch die Gefahr, daß die stimmrechtslose Mitwirkung des fraktionslosen Abgeordneten in einem Ausschuß die Mehrheitsfähigkeit der beratenen Vorlage im Plenum beeinträchtigt, nicht gegeben, denn die Mehrheitsfähigkeit wird durch die fraktionsangehörigen Abgeordneten sichergestellt. Dagegen erscheint der Verweis des fraktionslosen Abgeordneten auf die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages zum Ausgleich für Nachteile, die er dadurch erleidet, daß fraktionsangehörige Abgeordnete von ihren Fraktionen mit politisch aufgearbeiteten Informationen versorgt werden, wenig überzeugend. Die Wissenschaftlichen Dienste stehen nämlich als Bestandteil der Bundestagsverwaltung allen Abgeordneten zur Verfügung und sind zudem in ihrer Arbeit zu strikter Neutralität verpflichtet 157 , weshalb sie jedenfalls nicht in der Lage sind, politisch aufbereitete Informationen zu liefern 158 . Dies räumt das Bundesverfassungsgericht auch selbst ein 1 5 9 . Gerade in der politischen Aufbereitung liegt aber der besondere Wert der Fraktionsinformationen. Es fragt sich aber, ob aus dem Grundsatz der formalen Gleichbehandlung aller Abgeordneten überhaupt ein verfassungsrechtlicher Ausgleichsanspruch des fraktionslosen Abgeordneten für die fehlende Zugriffsmöglichkeit auf politisch aufbereitete Informationen abgeleitet werden kann. Die Möglichkeit fraktionsangehöriger Abgeordneter auf die politisch aufbereitetes Informationsmaterial ihrer Fraktionen zuzugreifen, erwächst nämlich nicht aus ihrer Rechtsstellung als Fraktionsangehörige, sondern aus der tatsächlichen Einbindung in eine größere Gruppe politisch gleichgerichteter Abgeordneter. Für den Fraktionslosen stellt sich daher der fehlende Zugriff auf vergleichbare Informationsquellen als faktischer und nicht als rechtlicher Nachteil dar. Werden aber solche faktischen Nachteile der Fraktionslosigkeit als rechtlich ausgleichspflichtig betrachtet, so geht die rechtliche Gleichbehandlung in eine tatsächliche Gleichstellung über 160 . So gesehen müßten dem fraktionslosen Abgeordneten alle Nachteile ausgeglichen werden, die ihm aus seiner Frakti-
157
Peter Schindler , Die Verwaltung des Bundestages, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 29 Rz. 73. 158 Florian Becker , Defizite im Fraktionsgesetz des Bundes: § 50 AbgG, ZParl 1996, S. 189(192). 159 BVerfGE 80, 188 (232). 160 Becker , ZParl 1996, S. 189 (192 f.); Morlok, JZ 1035 (1040).
D. Fraktionsgliederung
155
onslosigkeit entstehen.161 Dieses Ergebnis kann aber bereits deshalb nicht überzeugen, weil auch die Fraktionsmitgliedschaft nicht nur Vorteile mit sich bringt, denn wer sich in einer Fraktion bindet, nimmt zwangsläufig gewisse Einschränkungen seiner politischen Tätigkeit im Bundestag in Kauf 162 . Wer diese Einschränkungen vermeidet, indem er sich unter Berufung auf sein freies Mandat freiwillig oder zumindest bewußt einer Gruppenbildung entzieht 163 , kann keinen Ausgleich für tatsächliche Nachteile, die ihm aus seiner selbst gewählten oder provozierten Isolation entstehen, beanspruchen 164. Der fraktionslose Abgeordnete hat daher keinen Anspruch auf tatsächliche Gleichstellung mit fraktionsangehörigen Abgeordneten.
3. Ergebnis
Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß aus dem Grundsatz der formalen Gleichheit aller Abgeordneten folgt, daß eine rechtliche Ungleichbehandlung nicht von vornherein ausgeschlossen ist, aber einer sachlichen Rechtfertigung bedarf. Ein Anspruch auf Ausgleich tatsächlicher Nachteile, die aus der Fraktionslosigkeit folgen, läßt sich aus dem formalen Gleichheitsgrundsatz nicht gewinnen. Für den fraktionslose Abgeordneten folgt aus dem Grundsatz formaler Gleichheit das Recht, einem Ausschuß mitanzugehören und auf die Ausschußentscheidungen durch sein Rede- und Antragsrecht Einfluß zu nehmen. Ein Stimmrecht im Ausschuß steht ihm dagegen nicht zu, weil die Fraktionsangehörigkeit bzw. Fraktionslosigkeit einen die Vorenthaltung dieses Rechtes verfassungsrechtlich rechtfertigenden Grund darstellt. Finanziellen Ausgleich für die Nachteile seiner Fraktionslosigkeit kann er nicht verlangen, weil dies auf eine tatsächliche Gleichstellung fraktionsloser mit fraktionsangehörigen Abgeordneten hinausliefe.
161
Becker, ZParl 1996, S. 189 (193). Morlok, JZ 1989, S. 1035 (1046). 163 Gründe für die Fraktionslosigkeit können die von vornherein fehlende Parteizugehörigkeit,. der spätere Parteiaustritt, der Parteiausschluß unter den strengen Voraussetzungen des § 10 Abs. 4 PartG oder der Fraktionsausschluß, der nur bei krassem Fehlverhalten des Abgeordneten erfolgen darf. Es erweist sich daher, daß alle für den Status der Fraktionslosigkeit denkbaren Gründe letztlich in der Person des fraktionslosen Abgeordneten angelegt und von diesem beeinflußbar sind; vgl. Becker, ZParl 1996, S. 189(193). 164 Becker, ZParl 1996, S. 189 (193). 162
156
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
Den Rechten des fraktionslosen Abgeordneten wurde die Geschäftsordnung und die Parlamentspraxis des Bundestages bis 1989 nicht gerecht. Die Verteilung der Ausschußsitze oblag gemäß §§ 12 S. 1, 57 Abs. 2 GOßT allein den Fraktionen, was dazu führte, daß fraktionslose Abgeordnete keine Mitwirkungsrechte in einem Ausschuß erhielten. Erst auf ein Organstreitverfahren des fraktionslosen Abgeordneten Thomas Wüppesahl und die darauf ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni 1989 hin, wurde die Geschäftsordnung durch Beschluß des Deutschen Bundestages vom 13. Dezember 1989 geändert 165. Seitdem sieht § 57 Abs. 2 S. 2 GOßT vor, daß der Bundestagspräsident fraktionslose Mitglieder des Bundestages als beratende Ausschußmitglieder benennt. Wüppesahl gehörte zu diesem Zeitpunkt dem Bundestag freilich nicht mehr an 1 6 6 .
£. Ausschußgliederung Neben den Fraktionen bilden die Ausschüsse das zweite Gliederungsprinzip des Deutschen Bundestages, ohne das an eine Mehrheitsfindung nicht zu denken wäre, denn trotz der Bündelung der meisten parlamentarischen Verfahrensrechte 167 in den Händen der Fraktionen und des hiermit verbundenen Prozesses der Selektion parlamentarischer Sachthemen, ist die Flut an Gesetzesentwürfen, Anträgen und Entschließungsanträgen so groß, daß eine arbeitsteilige fraktionsübergreifende Entlastung des Plenums unausweichlich ist. Die GOßT trägt diesem faktischen Zwang zur Arbeitsteilung im parlamentarischen Raum dadurch Rechnung, daß sie die Einrichtung von Ausschüssen vorsieht 168 . Die Einrichtung der Ausschüsse erfolgt zu Beginn einer jeden Legislaturperiode durch Beschluß des Bundestages aufgrund einer interfraktionellen Vereinba-
165
BGBl. I S. 2442. Allerdings wurde er auch ohne Geschäftsordnungsänderung bereits am Tage nach der Urteilsverkündung wieder (nun nicht mehr stimmberechtigtes) Mitglied im Innenausschuß, vgl. Schulze-Fielitz, DÖV 1989, S. 829 (in Fn. 2) unter Hinweis auf FAZ v. 15.6.1989, S. 4. 167 Zur verfassungsrechtlichen Problematik dieser Bündelung sogleich unten Kapitel 5 Abschnitt 2. 168 BVerfGE 44, 308 (318); Horst Dreier, Regelungsform und Regelungsinhalt des autonomen Parlamentsrecht, JZ 1990, S. 310 (318); Joachim Vetter, Die Parlamentsausschüsse im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 135. 166
E. Ausschußgliederung
157
rung, die in interfraktionellen Anträgen eingebracht wird. Ohne Ausschüsse wäre der Bundestag zwar nicht rechtlich, aber tatsächlich arbeitsunfähig 169.
I. Arten von Ausschüssen Ausschüsse sind parlamentarische Institutionen, die ausschließlich aus Mitgliedern des Bundestages bestehen, für bestimmte Sachgebiete eingerichtet sind und der Vorbereitung der parlamentarischen Verhandlung und der Vorberatung parlamentarischer Entscheidungen dienen 170 . Zu unterscheiden sind Ausschüsse, die der Bundestag aufgrund des Grundgesetzes einsetzen muß und solche Ausschüsse, über deren Einsetzung er frei bestimmen kann. Gesetzlich kann dem Bundestag die Einsetzung eines Ausschusses nur dann aufgegeben werden, wenn sich hierfür eine verfassungsrechtliche Verankerung findet, ansonsten schützt die Verfassungsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG den Bundestag vor gesetzlichen Regelung auf dem Gebiet der Selbstorganisation 171. Daneben gibt es weitere Gremien, die zwar auch als Ausschüsse bezeichnet werden, aber keine Ausschüsse im Sinne der GOBT sind. Hierzu zählen der Vermittlungsausschuß und der Richterwahlausschuß, die eigene Aufgaben wahrnehmen, die ihnen unmittelbar durch Verfassung oder Gesetz übertragen sind oder etwa der Wahlprüfungsausschuß, der eine selbständige, im Wahlprüfungsgesetz festgelegte Aufgabe hat 172 . Das Grundgesetz sieht in Art. 45 GG die Bestellung eines Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union und in Art. 45 a Abs. 1 GG die eines Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und eines Ausschusses für Verteidigung vor. Aufgrund von Art. 45 c Abs. 1 GG hat der Bundestag einen Petitionsausschuß einzurichten. Zusätzlich hat der Bundestag in der 13. Wahlperiode auf der Grundlage seines Selbstorganisationsrechts 18 ständige Ausschüsse eingesetzt. Als ständige Ausschüsse werden jene Ausschüsse bezeichnet, die für eine Wahlperiode eingesetzt werden 173 . Von den ständigen sind die sogenannten Sonderausschüsse 169 170 171 172 173
Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 122 f. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 135. Siehe oben Kapitel 2 Abschnitt 2 IV. Friedrich Schäfer, Der Bundestag, 4. Auflage, 1982, S. 108. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 135.
158
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
gemäß § 54 Abs. 1 S. 2 GOBT zu unterscheiden, die für einzelne Angelegenheiten - etwa die Beratung besonders umfangreicher Gesetzesvorhaben 174 eingesetzt werden. In Art. 44 GG ist als Spezialfall eines Sonderausschusses die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses vorgesehen, wenn dies von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages verlangt wird 1 7 5 . Keine Ausschüsse sind die parlamentarischen Enquete-Kommissionen gemäß § 56 GOBT, da diesen außer Parlamentariern auch Privatpersonen angehören. Die Aufgabenbereiche der ständigen Ausschüsse des Deutschen Bundestages sind überwiegend den Aufgabenbereichen oder Teilen der Aufgabenbereiche der Bundesministerien nachgebildet176. Aus diesem Grund findet jedes Ministerium in einem bestimmten Bundestagsausschuß seinen parlamentarischen „Ansprechpartner" 177 . Neben diesen „ressortparallelen" 178 Bundestagsausschüssen gibt es drei Ausschüsse, denen kein Ministerium gegenübersteht. Dies sind der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, der Petitionsausschuß und der Haushaltsausschuß. Diese Ausschüsse nehmen typische parlamentarische Aufgaben wahr, wobei dem Haushaltsausschuß, dem gemäß § 95 Abs. 1 S. 2 GOBT alle Haushaltsvorlagen ausschließlich zu überweisen sind, aufgrund der besonderen Bedeutung der Haushaltsberatung und Haushaltsbewilligung eine gewisse Sonderrolle gegenüber den anderen Ausschüssen zukommt 179 .
174 In der 12. Wahlperiode gab es beispielsweise einen Sonderausschuß „Schutz des ungeborenen Lebens" zu Reform des § 218 StGB. 175 Zum Wesen des Untersuchungsausschusses und seinem Verhältnis zu den anderen Bundestagsausschüssen und -Organen Hermann Rechenberg, Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung/November 1977, Art. 44 Rz. 10 ff. 176 In der 13. Legislaturperiode trifft dies auf 19 der 22 ständigen Ausschüsse zu: Auswärtiger Ausschuß, Innenausschuß, Sportausschuß, Rechtsausschuß, Finanzausschuß, Ausschuß für Wirtschaft, Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, Verteidigungsausschuß, Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ausschuß fur Gesundheit, Ausschuß für Verkehr, Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Ausschuß für Post und Telekommunikation, Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung, Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus. 177 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 139. 178 R. Peter Dach, Das Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 40 Rz. 4. 179 Vgl. im einzelnen Peter Eickenboom, Haushaltsausschuß und Haushaltsverfahren, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 44 Rz. 1 ff.;
E. Ausschußgliederung
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II. Besetzung der Ausschüsse und Bestimmung der Ausschußvorsitzenden Bei der Besetzung der Ausschüsse nehmen die Fraktionen eine Schlüsselstellung ein, denn sie benennen die Ausschußmitglieder, wobei jede Fraktion in jedem Ausschuß entsprechend ihrer Stärke Berücksichtigung findet, §§ 57 Abs. 1 S. 1, 12 GOBT. Zwar werden seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Angelegenheit des fraktionslosen Abgeordneten Wüppesahl 180 auch fraktionslose Abgeordnete vom Bundestagspräsidenten als Ausschußmitglieder benannt. Ihnen kommt im Ausschuß aber kein Stimmrecht zu, § 57 Abs. 2 S. 2 GOBT. Nur solche Ausschußmitglieder, die die Fraktionen gemäß § 57 Abs. 2 S. 1 GOBT benennen, haben im Ausschuß ohne weiteres auch ein Stimmrecht. Durch ausdrücklichen Bundestagsbeschluß wurde in der 12. und 13. Wahlperiode allerdings auch den Abgeordnetengruppen nach § 10 Abs. 4 GOBT das Recht eingeräumt, stimmberechtigte Mitglieder für die Fachausschüsse zu benennen. Von der Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen blieben sie indessen ausgenommen181. Hierzu bestimmt § 58 GOBT, daß die Ausschüsse ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreter nach den Vereinbarungen im Ältestenrat „bestimmen". Diese Formulierung ist insofern mißverständlich, als die Ausschüsse selbst an der Auswahl ihrer Vorsitzenden nur formal beteiligt sind. Vielmehr ergibt sich aus § 12 S. 1 GOBT, daß „die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen [...] im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen" ist. Zu diesem Zweck wird die Gesamtzahl der Vorsitzendenposten nach einem mathematischen System auf die Fraktionen verteilt, so daß die Fraktionen von vornherein wissen, wieviele Vorsitzendenposten sie aufgrund ihrer Stärke beanspruchen können 182 . Die Bestimmung der konkreten Vorsitzenden ist dann eine fraktionsinterne Angelegenheit. Diese werden bei der Konstituierung der Ausschüsse - die vom Bundestagspräsidenten oder einem seiner
siehe auch unten Kapitel 4 Abschnitt 5 D II 1 b) und 4 b) zur Übertragung von Plenarzuständigkeiten auf den Haushaltsausschuß. 180 BVerfGE 80, 188; vgl. die Ausführungen oben Kapitel 4 Abschnitt 4 E. 181 Dies ist letzten Endes eine Folge der verfassungswidrigen Vorenthaltung des Fraktionsstatusses, siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 4 D II und III. 182 Einzelheiten hierzu bei Dach, in: Schneider/Zeh, § 40 Rz. 8 ff.
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
Stellvertreter vorgenommen wird - auf Vorschlag des Obmannes der vorschlagsberechtigten Fraktion per Akklamation zum Vorsitzenden „bestimmt" 183 . III. Rechte und Pflichten der Ausschüsse Die Rechte und Pflichten der Bundestagsausschüsse legt § 62 Abs. 1 GOBT fest. /. Zügige Erledigung der überwiesenen Aufgaben § 62 Abs. 1 S. 1 GOBT bestimmt, daß die Ausschüsse zur baldigen Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben verpflichtet sind. Sie haben also nicht das Recht, Entscheidungen des Bundestages durch Nichtbefassung zu verhindern. Die bereits in einer frühen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts festgestellte Verpflichtung zur zügigen Aufgabenerledigung 184 wird geschäftsordnungsmäßig dadurch verstärkt, daß eine Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zehn Wochen nach der Überweisung einer Vorlage verlangen können, daß der Ausschuß durch den Vorsitzenden oder Berichterstatter dem Bundestag einen Bericht über den Stand der Beratungen erstattet, § 62 Abs. 2 S. 1 GOBT. Diese Bestimmung ist erforderlich, weil es dem Plenum nach den Bestimmungen der Geschäftsordnung versagt ist, Gegenstände zu erörtern, die einem Ausschuß überwiesen sind und durch § 62 Abs. 2 S. 1 GOBT sichergestellt wird, daß mit der Überweisung kein Mißbrauch betrieben wird und Fragen von besonderer politischer Bedeutung, trotz Ausschußüberweisung nach Ablauf von 10 Wochen in der Öffentlichkeit beraten werden können, wenn dies von einer Fraktion oder einer entsprechenden Zahl von Mitgliedern des Bundestages verlangt wird 1 8 5 .
2. Empfehlung von Beschlüssen Nach § 62 Abs. 1 S. 2 GOBT haben die Ausschüsse als „vorbereitende Beschlußorgane [...] die Pflicht, dem Bundestag bestimmte Beschlüsse zu empfehlen, die sich nur auf die ihnen überwiesenen Vorlagen oder mit diesen in unmittelbarem Sachzusammenhang stehenden Fragen beziehen dürfen".
183 Dach, in: Schneider/Zeh, § 40 Rz. 28; Troßmann,, Parlamentsrecht, § 69 Rz. 3; zur Bindung der Ausschüsse an interfraktionelle Vereinbarung unten Kapitel 7 Abschnitt 1 F 2 d). 184 BVerfGE 1, 144 (154 f.). 185 Schäfer, Bundestag, S. 114.
E. Ausschußgliederung
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Die Beschlußempfehlungen müssen so formuliert sein, daß der Bundestag über sie abstimmen kann. Bei Gesetzentwürfen bedeutet dies etwa, daß vom Ausschuß empfohlene Änderungen ihren Ausdruck in der Neufassung der entsprechenden Bestimmungen finden müssen186 Die Pflicht bestimmte Beschlußempfehlungen vorzulegen, bedeutet, daß der Ausschuß in den Ausschußantrag keine Alternativlösungen aufnehmen darf und daß er keine Empfehlungen geben darf, die mit Bedingungen verbunden oder an sonstige Voraussetzungen geknüpft sind 187 . 3. Selbstbefassungsrecht Die Frage, ob und inwieweit den Parlamentsausschüssen ein Selbstbefassungsrecht zusteht, beantwortet die GOBT in § 61 Abs. 1 S. 3: „Sie können sich jedoch mit anderen Fragen aus ihrem Geschäftsbereich befassen." Dieses Recht der Ausschüsse, sich mit Fragen aus ihrem Geschäftsbereich auch ohne Überweisung durch das Plenum zu befassen, wurde erst 1969 in die GOBT eingefügt und bedeutete eine Wende im deutschen Parlamentsrecht. Die Geschäftsordnung des Reichstages von 1922 legte in § 38 Abs. 5 noch ausdrücklich fest, daß sich der „Ausschuß [...] nur mit dem ihm überwiesenen Gegenstande zu beschäftigen" hat. Bedenken gegen ein Selbstbefassungsrecht der Ausschüsse bestehen deshalb, weil die Gefahr besteht, daß das Gesamtparlament in der Praxis in eine Vielzahl kleiner Einzelparlamente zerfällt, die sich ihre Themen ohne Beteiligung des Plenums suchen und erledigen können 188 . Diesen Bedenken wird insofern Rechnung getragen, als allgemein davon ausgegangen wird, daß das Selbstbefassungsrecht die Ausschüsse nicht dazu ermächtigt, außenwirksame Beschlüsse zu fassen oder Beschlußempfehlungen an das Plenum abzugeben189. Das Selbstbefassungsrecht räumt dem Ausschuß gleichwohl nicht nur das Recht der Meinungsbildung und Information ein. Es dient insbesondere der 186
Schäfer, Bundestag, S. 114 f. Troßmann, Parlamentsrecht, § 60 Rz. 7.1. 188 Kritisch etwa Herbert Frost. Die Parlamentsausschüsse, ihre Rechtsgestalt und ihre Funktion, dargestellt an den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, AöR 95 (1970), S. 38(59). 189 BT-Drs. 8/3460, S. 94; Norbert Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, 1979, S. 157; Dach, in: Schneider/Zeh, § 40 Rz. 38; Ritzel/Bücker, § 62 Anm I 3 a); Troßmann, Parlamentsrecht, § 60 Rz. 7.2; derselbe/Hans Achim Roll, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Ergänzungsband,, 1981, § 62 Rz. 1 ff.; Wolfgang Zeh, Das Ausschußsystem im Bundestag, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 39 Rz. 11. 187
11 Schwerin
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
laufenden Kontrolle des dem Ausschuß korrespondierenden Ressorts 190. So kann etwa zu einem politisch bedeutsamen Ereignis, das in den Zuständigkeitsbereich eines Ausschusses fällt, der verantwortliche Minister nach Art. 43 Abs. 1 GG in den Ausschuß zitiert werden. Auf diese Weise kann sich ein Ausschuß als Plenum im Kleinen bewähren und unter Umständen eine ansonsten erforderliche Befassung des Plenums überflüssig machen und so zu dessen Entlastung beitragen 191 . Das Selbstbefassungsrecht räumt den Ausschüssen kein Recht zur Gesetzesinitiative ein 1 9 2 . Die Mitglieder der Ausschüsse haben aber die Möglichkeit, sich nach der Befassung mit Fragen aus ihrem Geschäftsbereich an ihre Fraktionen zu wenden, damit diese im Rahmen ihrer geschäftsordnungsmäßigen Möglichkeiten initiativ werden können 193 .
IV. Verhältnis von Ausschüssen und Plenum Die Bezeichnung der Ausschüsse als vorbereitende Beschlußorgane in § 62 Abs. 1 S. 2 GOBT gibt zwar weitgehend das rechtliche, nicht aber das tatsächliche Verhältnis zwischen Ausschüssen und Plenum wieder.
1. Entlastung des Plenums Die eigentliche Funktion der Ausschüsse besteht in der Entlastung des Plenums von der kaum noch überschaubaren Flut von Gesetzentwürfen, Anträgen und Entschließungsvorschlägen 194. Dieser Funktion können die Ausschüsse nur nachkommen, wenn ein wesentlicher Teil der parlamentarischen Entscheidungsfindung vom Plenum auf die Ausschüsse verlagert wird. Diese Verlagerung hat mittlerweile in so weitgehendem Maße stattgefunden, daß bisweilen die Kritik geäußert wird, die eigentliche Politik finde in den Ausschüssen statt, während
190 BT-Drs. 8/3460, S. 94; Dach, § 40 Rz. 39; Ritzel/Bücker, § 62 Anm. I 3 c); kritisch: Troßmann/ Roll, Ergänzungsband, § 62 Rz. 1 ff. 191 Dach, § 40 Rz. 12. 192 Allgemeine Ansicht, statt aller Ächterberg , Parlamentarische Verhandlung, S. 157. 193 Ritzel/Bücker, § 62 Anm. I 3 c). 194 In der 12. Wahlperiode wurden allein 800 Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht, vgl. Peter Schindler, Deutscher Bundestag 1976-1994: Parlaments- und Wahlstatistik, ZParl 1995, S. 551 (561).
E. Ausschußgliederung
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das Plenum lediglich formal an der Entscheidung beteiligt werde 195 . Diese Kritik überbewertet allerdings die Bedeutung der das parlamentarische Verfahren abschließenden Entscheidung des Plenums. Indem die Ausschüsse die Verhandlungen und Beschlüsse des Plenums vorbereiten und einen Teil der Informations-, Kontroll- und Untersuchungsaufgaben des Bundestages wahrnehmen, sind sie in die Repräsentation des Volkes durch das Parlament einbezogen196. Deshalb muß jeder Ausschuß ein verkleinertes Abbild des Plenums sein und in seiner Zusammensetzung die Zusammensetzung des Plenums widerspiegeln 197 . Die GOBT stellt dies über § 12 S. 1 GOBT sicher, wonach Ausschüsse nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen zu besetzen sind 198 . Aufgrund dieser Regelung und der Verwurzelung der Ausschußmitglieder in ihren Fraktionen verläuft die Willensbildung in den Ausschüssen, von ungewöhnlichen Ausnahmen abgesehen, parallel zu der Willensbildung des Plenums. Aufgrund dieser Einbindung der Ausschüsse in die Repräsentation des Volkes und der Parallelität der Willensbildung in Ausschuß und Plenum, haben Ausschußberatungen auch keine prinzipiell geringere Qualität als Plenarberatungen. Allerdings fehlt den Ausschußberatungen regelmäßig die Öffentlichkeit, § 69 Abs. 1 S. 1 GOBT. Daher bedarf es aus Gründen der Transparenz der parlamentarischen Entscheidungsfindung in der Regel zusätzlich zu den Ausschußberatungen des Austausches der Argumente im Plenum. Findet dagegen bereits die Ausschußberatung ausnahmsweise öffentlich statt, wie dies neuerdings unter bestimmten Umständen in § 69 a GOBT - Erweiterte öffentliche Ausschußberatung - vorgesehen ist, so kann die öffentliche Ausschußberatung ganz an die Stelle der Aussprache im Plenum treten 199 . Auf diese Weise ist eine noch weitergehende Entlastung des Plenums möglich als bisher. Die Schlußabstimmung findet aber auch in diesen Fällen nach dem gegenwärtigen Geschäftsordnungsrecht nicht im Ausschuß, sondern im Plenum statt. Aber auch ohne öffentliche Beratung erfolgt in den Ausschüssen eine Vorklärung und Alternativenreduzierung der Sachthemen, die es dem Plenum erlaubt, Entscheidungen zu treffen, ohne daß Sachfragen erneut und in aller
195 So bereits Hansjörg Häfele, Bürokratisierung des Parlaments, in: Hübner/Oberreuter/Rausch, Der Bundestag von innen gesehen, 1969, S. 184 (187); ähnlich Ritzel/Bücker, Vorbem. zu § 54 Anm. 2. 196 BVerfGE 80, 188 (221 f.); 84, 304 (323). 197 BVerfGE 80, 188 (222); 84, 304 (323). 198 Zu dem Problem der parlamentarischen Gruppe ohne Fraktionsstatus, oben Kapitel 4 Abschnitt 4 D. 199 Dies sieht § 69 a Abs. 5 GOBT ausdrücklich vor.
164
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
Ausführlichkeit beraten und verhandelt werden müssen200. Zu Recht werden daher die Ausschüsse als „Clearingstellen" für die verschiedenen politischen Auffassungen bezeichnet201. In den Ausschüssen und nicht erst im Plenum wird auch festgestellt, ob eine interfraktionelle Einigung möglich ist oder ob es bei einer kontroversen Beurteilung eines Beratungsgegenstandes bleibt und daher durch Kampfabstimmung entschieden werden muß 202 .
2. Übertragung von Entscheidungsbefugnissen
auf Ausschüsse
Die bestimmende Rolle der Ausschüsse bei der parlamentarischen Entscheidungsfindung, insbesondere aber ihre Einbindung in die Repräsentation des Volkes, wirft die Frage auf, ob es dem Parlament im Rahmen seines Selbstorganisationsrechts möglich ist, den Ausschüssen in bestimmten Fällen nicht nur die Vorbereitung der parlamentarischen Entscheidung, sondern die parlamentarische Entscheidung selbst zu überantworten. Damit ist das kontrovers diskutierte Problem der Übertragbarkeit parlamentarischer Kompetenzen auf Ausschüsse angesprochen 203.
a) Wahrnehmung von Bundestagskompetenzen durch Ausschüsse in der Parlamentspraxis In der Praxis ist es zwar noch nicht üblich, daß Kompetenzen des Bundestages auf einzelne Ausschüsse übertragen werden. Es lassen sich aber einige Fälle aufzeigen, in denen Ausschüsse Entscheidungen für den Bundestag treffen. Zu den drei wichtigsten und umstrittensten Fällen, in denen der Bundestag eine Zuständigkeit auf einen Ausschuß überträgt, zählen die Übertragung eines Teils der Immunitätsentscheidung nach Art. 46 Abs. 2-4 GG auf den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, die Wahrnehmung der Haushaltskontrolle durch den Haushaltsausschuß und die Wahl der gemäß Art. 94
200
Joachim Vetter, Die Parlamentsausschüsse im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 135. 201 Vetter, ebenda; Troßmann, Der Bundestag, JöR N.F. 28 (1979), S. 1 (270). 202 Troßmann, ebenda. 203 Die Begriffe Kompetenz- und Zuständigkeitsübertragung werden im folgenden synonym für einen Vorgang verwendet, mit dem der Bundestag einem Ausschuß eine Aufgabe nicht bloß zur Vorbereitung, sondern zur ausschließlichen Erledigung überweist.
E. Ausschußgliederung
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Abs. 1 GG vom Bundestag zu bestimmenden Richter des Bundesverfassungsgerichts durch einen Wahlmännerausschuß. Anhand dieser drei Beispiele soll der Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Übertragung von Plenarzuständigkeiten auf Bundestagsausschüsse nachgegangen werden.
b) Übertragung eines Teils der Immunitätsentscheidung auf den Geschäftsordnungsausschuß Gemäß § 107 Abs. 2 GOBT hat der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Grundsätze über die Behandlung von Ersuchen auf Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestages aufzustellen. Darüber hinaus ermächtigt der Bundestag den Ausschuß durch einen Beschluß, der jeweils zu Beginn einer Wahlperiode vom Deutschen Bundestag übernommen und zusammen mit den Grundsätzen des Ausschusses in der Anlage 6 der GOBT veröffentlicht wird, in bestimmten Fällen eine sogenannte „Vorentscheidung" zu treffen. Diese Vorentscheidung bezieht sich auf die Genehmigung der Klageerhebung bei Verkehrsdelikten (Nr. 11 des zweiten Teils der Anlage 6), Bagatellsachen (Nr. 12) und die Genehmigung zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe (Nr. 8) sowie für die Ermächtigung zur Strafverfolgung nach §§ 90 b Abs. 2, 194 Abs. 4 StGB (Abschnitt B des zweiten Teils der Anlage 6) und die Genehmigung zur Zeugenvernehmung nach § 50 Abs. 3 StPO und § 382 Abs. 3 ZPO (Abschnitt C). Die Vorentscheidung wird dem Bundestag schriftlich mitgeteilt, erscheint aber nicht auf der Tagesordnung. Sie gilt als Entscheidung des Deutschen Bundestages, wenn ihr nicht binnen sieben Tagen nach Mitteilung widersprochen wird. Die Verwendung des Begriffs „Vorentscheidung" deutet bereits darauf hin, daß der Ausschuß nicht bloß eine Entscheidung des Bundestages vorbereitet, sondern selbst eine Entscheidung trifft. An die Stelle der Willensäußerung des Plenums tritt der Wille des Ausschusses204. Eine Zuständigkeitsübertragung läge allerdings dann nicht vor, wenn man das Ausbleiben eines Widerspruchs als konkludenten Beschluß des Bundestages
204
Wilfried Berg, Zur Übertragung von Aufgaben des Bundestages auf Ausschüsse, Der Staat 9 (1970), S.21 (35).
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
ansähe, die Genehmigung nach Art. 46 Abs. 2 GG zu erteilen 205 . Hiervon wird man aber deshalb nicht ausgehen können, weil die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten selbst und die hierzu ergangenen Bundestagsbeschlüsse davon ausgehen, daß nach der „Vorentscheidung" des Ausschusses kein Plenarbeschluß mehr erfolgt. Dies kommt auch in der Wortwahl von Nr. 13 S. 2 Anlage 6 GOBT zum Ausdruck, wonach die Entscheidung des Ausschusses als Entscheidung des Bundestages „gilt", so daß gerade kein Plenarbeschluß mehr erforderlich ist 2 0 6 . Die Möglichkeit, das Plenum durch Widerspruch zu einer eigenen Entscheidung zu veranlassen, ändert daher nichts daran, daß die Entscheidungsbefugnis auf den Ausschuß übertragen wird. Sie bewirkt lediglich, daß diese Übertragung unter Vorbehalt erfolgt 207 .
c) Wahrnehmung der Haushalts- und Finanzkontrolle durch den Haushaltsausschuß Ein praktisch bedeutsamer Fall einer Zuständigkeitsübertragung betrifft die ausschließliche Wahrnehmung der Haushalts- und Finanzkontrolle durch den Haushaltsausschuß in bestimmten im Haushaltsgesetz festgelegten Fällen. Dies gilt etwa für qualifizierte Sperrvermerke und Zustimmungsvorbehalte, wie sie in den §§ 5 Abs. 9, 7 Abs. 1 S. 2, 15 Abs. 4, 17, 18 Abs. 1 Haushaltsgesetz 1996 vorgesehen sind. Hierdurch wird die Freigabe oder die Umschichtung von Haushaltsmitteln an die Zustimmung des Haushaltsausschusses gebunden, wofür es unterschiedliche Gründe, etwa die zum Zeitpunkt der Haushaltsberatung noch nicht gegebene Etatreife, geben kann 208 . Obwohl die §§ 22 S. 3, 36 S. 2 BHO für die Freigabe die Zustimmung des Bundestages vorsehen, entspricht es der ständigen parlamentarischen Praxis und ist es im Haushaltsgesetz festgelegt, daß hierüber allein der Haushaltsausschuß und nicht das Plenum entscheidet. Damit wird ein Teil des Ausgabenbewilligungsrechts vom Plenum auf den Ausschuß übertragen.
205 In diesem Sinne Kretschmer , in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 102 „schriftliches Verfahren". 206 Hans Hugo Klein , Indemnität und Immunität, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 17 Rz. 54. 207 Berg, , Der Staat 9 (1970), S. 21 (35 f.). 208 Für Einzelheiten vgl. Peter Eikenboom , Haushaltsausschuß und Haushaltsverfahren, in: Schneider/Zeh, § 44 Rz. 1 ff. (insbesondere Rz. 35 ff.).
E. Ausschußgliederung
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d) Wahl der Bundesverfassungsrichter durch einen Wahlausschuß Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG sieht vor, daß der Bundestag die Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts wählt. Zum Wahlverfahren selbst enthält das Grundgesetz keine Bestimmungen. Nähere Regelungen hierzu finden sich im Bundesverfassungsgerichtsgesetz. Nach § 6 Abs. 1 und 2 BVerfGG erfolgt die Wahl indirekt durch einen Wahlmännerausschuß, der aus 12 Mitgliedern des Bundestages besteht, die vom Plenum nach dem Grundsatz der Verhältniswahl gewählt werden. Auch hierbei handelt es sich um einen Fall, in dem das Plenum eine Beschlußzuständigkeit auf einen Ausschuß überträgt.
3. Delegation oder Mandat? Ein Recht, das an sich dem Parlament insgesamt zusteht, kann auf einen Ausschuß entweder zur Ausübung oder vollständig übertragen werden. Rechtstechnisch handelt es sich im einen Fall um ein Mandat im anderen um eine Delegation der Kompetenz 209 . Unter Delegation versteht man den Rechtsakt, durch den der Inhaber einer staatlichen Zuständigkeit seine Kompetenz ganz oder teilweise auf ein anderes Subjekt überträgt 210 . Die Delegation begründet also beim Delegatar eine eigene Kompetenz, die er im eigenen Namen und in eigener Verantwortlichkeit ausübt 2 1 1 . Demgegenüber bezeichnet das Mandat die Befugnis zur Ausübung einer fremden Kompetenz 212 . Das Mandat bezeichnet daher den Rechtsakt, durch den „der Inhaber einer Zuständigkeit einem anderen Subjekt die Vollmacht erteilt, seine, des Mandanten Kompetenz in seinem, des Mandanten Namen auszuüben" 213 . Der Unterschied zwischen Delegation und Mandat besteht daher im wesentlichen darin, daß die Delegation eine eigene Zuständigkeit beim Delegatar erzeugt, während das Mandat die Zuständigkeiten unberührt läßt 214 . Deshalb
209 Grundlegend hierzu Heinrich Triepel, Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, 1942. 210 Triepel, Delegation und Mandat, S. 23; Berg, Der Staat 9 (1970), S. 21 (29). 211 Triepel, Delegation und Mandat, S. 26. 212 Triepel, Delegation und Mandat, S. 23. 2,3 Triepel, Delegation und Mandat, S. 26 (Hervorhebung im Original). 214 Triepel, Delegation und Mandat, S. 23.
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
werden an die Zulässigkeit einer Delegation im allgemeinen höhere Anforderungen gestellt als an die eines Mandates 215 . Allerdings fragt es sich, ob sich diese Unterscheidung für die Frage der rechtlichen Zulässigkeit einer Aufgabenübertragung des Bundestages überhaupt nutzbar machen läßt. Zwar orientiert sich die Differenzierung zwischen Delegation und Mandat auch an der Intensität der Machtverschiebung, wobei die Delegation tendenziell die stärkere Form des Machtwechsels ist. Diese Zusammenhänge müssen jedoch nicht in jedem Fall gewahrt bleiben. Sowohl bei der Delegation als auch beim Mandat wird in jeden Willensakt des Delegatars oder Mandatars ein fremder Wille an die Stelle des Deleganten oder Mandanten gesetzt 216 . So ist es von der Wirkung her gleichgültig, ob ein Ausschuß das Recht erhält, selbst einen Beschluß zu fassen oder ob er im Auftrag und im Namen des Bundestages über eine Angelegenheit beschließt. Die Bindungswirkung ist für den Bundestag in beiden Fällen die gleiche 217 . Hinzu kommt, daß sich die verfassungsrechtliche Zuständigkeitsordnung nicht in der Festlegung erschöpft, wem welche Hoheitsakte formalrechtlich zuzuordnen sind. Sie bringt vielmehr zum Ausdruck, daß der Kompetenzinhaber selbst die ihm eingeräumten Kompetenzen ausüben soll, weil er dem Verfassungsgeber nach seiner organisatorischen Stellung im Verfassungsgefüge, seiner Zusammensetzung und seiner Verfahrensweise besonders geeignet erscheint, die zugewiesene Aufgabe wahrzunehmen 218. Auch unter diesem Gesichtspunkt erscheint das Mandat nicht weniger bedenklich als die Delegation. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Übertragung von Befugnissen des Plenums auf einen Ausschuß in der Praxis durchweg endgültig und ohne Vorbehalt erfolgt 219 . Die generelle Übertragung einer Befugnis des Bundestages zur Ausübung durch einen Ausschuß aber steht als sogenanntes generelles Mandat einer Delegation in ihrer Rechtswirkung nicht nach. Zwar bleibt beim generellen Mandat der Mandant formales Zurechnungsobjekt der getätigten Hoheitsakte, tatsächlich liegt aber eine Abweichung von der Zuständigkeitsordnung vor 2 2 0 . Daraus braucht zwar nicht auf die Unzulässigkeit des generellen Mandates
215
Rainer Pietzner, Petitionsausschuß und Plenum, 1974, S. 53. Berg, Der Staat 9 (1970), S. 21 (29) 217 Berg, ebenda. 218 Wolf-Rüdiger Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977, S. 153 f. 2,9 Berg, Der Staat 9 (1970), S.21 (31). 220 Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 153; Prodromos Dagtoglou , Kollegialorgane und Kollegialakte der Verwaltung, 1960, S. 63. 216
E. Ausschußgliederung
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geschlossen zu werden 221 , wohl aber darauf, daß jedenfalls das generelle Mandat nur unter den gleichen Voraussetzungen möglich ist wie die Delegation 222 . Für die Beurteilung der Zulässigkeit der Übertragung einer Parlamentszuständigkeit auf einen Ausschuß ist die Unterscheidung zwischen Delegation und Mandat daher unergiebig.
4. Verfassungsrechtliche
Zulässigkeit von Zuständigkeitsübertragungen
Das Grundgesetz selbst enthält keinen Katalog übertragbarer und nicht übertragbarer Kompetenzen. Allerdings lassen sich anhand einiger Einzelbestimmungen partielle Delegationsverbote ausmachen. So scheidet etwa in Fällen, in denen das Grundgesetz für einen Beschluß eine qualifizierte Bundestagsmehrheit voraussetzt, eine Kompetenzübertragung aus 223 . Solche Mehrheiten können nur im Plenum und nicht in einem Ausschuß erreicht werden. Die Entscheidung über die Präsidentenanklage gemäß Art. 61 GG, die Wahl des Bundeskanzlers gemäß Art. 63 GG, die Entscheidung über eine konstruktives Mißtrauensvotum gemäß Art. 67 GG oder über die Vertrauensfrage gemäß Art. 68 GG können daher ebensowenig einem Ausschuß übertragen werden, wie die Änderung des Grundgesetzes nach Art. 79 GG. Bereits aus diesem Grund ist auch die Übertragung von Gesetzgebungszuständigkeiten unzulässig, denn nach Art. 77 Abs. 4 GG kann ein gegen ein Gesetz mit Mehrheit eingelegter Einspruch des Bundesrates nur durch Beschluß der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages zurückgewiesen werden. Abgesehen davon, daß Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG einen Beschluß des Bundestages verlangt und deshalb eine Befassung des Plenums zumindest nahelegt, erwiese sich spätestens bei der Zurückweisung eines Bundesratseinspruches die Übertragung einer Gesetzgebungszuständigkeit auf einen Ausschuß als nicht praktikabel. Des weiteren ergibt sich in bestimmten Fällen aus der Natur der Sache, daß der Bundestag bestimmte Kompetenzen selbst wahrnehmen muß. So kann er die Wahl seiner Organe und Unterorgane, den Erlaß seiner Geschäftsordnung oder
221 So aber Klaus Obermayer, Die Übertragung von Hoheitsbefugnissen im Bereich der Verwaltungsbehörden, JZ 1956, S. 625 (629); Dagtoglou, Kollegialorgane, S. 65. 222 Schenke, Verfassungsorgantreue, S. 153 f. 223 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 680 Fn 42; Wilhelm Kewenig, Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Arbeit der Bundestagsausschüsse, 1970, S. 45; Vetter, Parlamentsausschüsse, S. 133.
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
den Ausschluß der Öffentlichkeit nur durch das Plenum beschließen224. Die Übertragung dieser Kompetenzen führte zu einer Fremdbestimmung, die dem Zweck der Selbstorganisationsgarantie zuwiderliefe. Aus den aufgezählten Übertragungsverboten kann aber nicht geschlossen werden, daß in allen übrigen Fällen eine Übertragung zulässig ist 2 2 5 . Ginge das Grundgesetz von der grundsätzlichen Übertragbarkeit aus, so wären nämlich explizite Regelungen zur Übertragbarkeit bestimmter Kompetenzen überflüssig. Ein Fall, in dem das Grundgesetz die Übertragung von Rechten des Bundestages auf einen Ausschuß ausdrücklich zuläßt, findet sich im neuen Art. 45 S. 2 GG 2 2 6 . Danach ist der Bundestag berechtigt, seine Rechte gegenüber der Bundesregierung aus Art. 23 GG dem Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu übertragen. Art. 45 GG geht auf eine Beschlußempfehlung des Sonderausschusses „Europäische Union (Vertrag von Maastricht)" zurück 227 , der sich an einem Vorschlag der Gemeinsamen Verfassungskommission orientierte 228 , und dient der institutionellen Absicherung der Informationsund Mitwirkungsrechte des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union. Von der in Art. 45 S. 2 GG eröffneten Möglichkeit, dem Ausschuß seine Informations- und Mitwirkungsrechte zu übertragen, hat der Bundestag bisher nicht in genereller Weise Gebrauch gemacht, sondern der Ausschuß ist zur Wahrnehmung dieser Rechte gemäß § 93 a Abs. 2 GOBT 2 2 9 nur berechtigt, wenn er hierzu auf Antrag einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages durch Beschluß ermächtigt wird, wobei sich der Bundestag ein Rückholrecht vorbehält. Ausweislich der Gesetzesbegründung ging der Bundestag davon aus, daß mit Art. 45 GG erstmals einem Ausschuß das Recht eingeräumt wird, für das Parlament gegenüber der Bundesregierung zu handeln 230 . Diese Aussage läßt darauf schließen, daß der Bundestag selbst davon ausgeht, daß die Übertragung seiner Zuständigkeiten auf Ausschüsse nur zulässig ist, wenn es hierfür eine
224
Berg, Der Staat 9 (1970), S. 21 (25); Vetter, Parlamentsausschüsse, S. 133. Ebenso Achterberg,, Parlamentsrecht, S. 680; Berg., Der Staat 9 (1970), S. 21 (26). 226 Eingefügt durch Gesetz vom 21.12.1992 (BGBl. I S. 2381). 227 BT-Drs. 12 3896, S. 6 und 21. 228 BT-Drs. 12/6000, S. 24. 229 Eingefügt durch Beschluß des Bundestages vom 15. Dezember 1994, Bekanntmachung vom 16. Dezember 1994 (BGBl. I S. 11). 230 BT-Drs. 12/3896. 225
E. Ausschußgliederung
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verfassungsrechtliche Grundlage gibt. Auch in der Literatur wird Art. 45 S. 2 GG als Ausnahmevorschrift angesehen, die nicht auf andere Sachgebiete übertragen werden kann 231 . Aus dem Ausnahmecharakter der Vorschrift läßt sich aber gleichwohl nicht auf Unzulässigkeit von Zuständigkeitsübertragungen auf anderem Gebiet schließen, denn mit Art. 45 S. 2 GG war ersichtlich keine Regelung beabsichtigt, die über den Bereich der europäischen Angelegenheiten hinausging, so daß die Einfügung dieses Artikels an der bisherigen Rechtslage nichts geändert hat. Schon bisher ist aber die Übertragung bestimmter Kompetenzen auch ohne ausdrückliche Regelung im Grundgesetz zulässig. Zumindest die Übertragung solcher Kompetenzen, die ihren Rechtsgrund in der parlamentarischen Geschäftsordnung haben, ist unproblematisch möglich 232 . Zwar handelt es sich auch hierbei um Zuständigkeiten, die originär dem Gesamtorgan Bundestag zustehen. Die Selbstorganisationsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG räumt dem Bundestag aber im Interesse eines effektiven Verfahrens das Recht ein, diese auf parlamentarische Organe oder Unterorgane zu übertragen. Aus diesem Grund kann das Plenum die Vorbereitung seiner Beschlüsse auf die Bundestagsausschüsse übertragen. Auch die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen ist möglich. So ist nichts dagegen einzuwenden, daß das Plenum dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung in bestimmten Fällen die Auslegung der Geschäftsordnung übertragen hat, § 127 Abs. 1 S. 2 GOBT. Hiermit überträgt der Bundestag auch nicht etwa das allein ihm zustehende Recht, sich eine Geschäftsordnung zu geben 233 , denn das Recht zur Geschäftsordnungsinterpretation folgt zwar aus der Selbstorganisationsgarantie, ist von dem Recht zur Geschäftsordnungsgebung aber ebenso wesensmäßig verschieden, wie auch ansonsten Normsetzung und Norm interpretation zu unterscheiden sind 234 .
231
Hans D. Jarass/Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, 1995, Art. 45 Rz. 2; Ondolf Rojahn, in: v. Münch/Kunig, Art. 45 Rz. 8; Franz Klein, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 8. Auflage, 1995, Art. 45 Rz. 4. 232 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 106. 233 Bedenken in dieser Hinsicht bei Troßmann/Roll, Ergänzungsband, § 127 Rz. 10. 234 Deshalb beinhaltet das Recht, die GOBT auszulegen, auch nicht das Recht, geschäftsordnungsmäßige Lücken zu füllen, da in diesem Fall neues Geschäftsordnungsrecht gesetzt wird. Die Geschäftsordnung muß also stets eine Vorschrift enthalten, die unmittelbar oder entsprechend angewendet werden soll. Hierzu ausführlich unten Kapitel 7 Abschnitt 1 D II.
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Ob in anderen Fällen eine Übertragung möglich ist, läßt sich aus einzelnen grundgesetzlichen Übertragungsverboten oder grundgesetzlichen Übertragungserlaubnissen nicht schließen, weil ein abschließender Katalog gerade fehlt 235 . Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Geschäftsordnungsbestimmungen zur Beschlußfähigkeit des Bundestages eher beiläufig festgestellt, daß „die alleinige Kompetenz zur endgültigen Beschlußfassung über ein parlamentarisches Vorhaben dem Plenum vorbehalten" bleiben müsse 236 . Verständlich werden diese Ausführungen erst, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es um die Wirksamkeit eines Gesetzes ging, weshalb das Bundesverfassungsgericht mit der von ihm gewählten Formulierung des „parlamentarischen Vorhabens" 237 ein Gesetzesvorhaben im Blick hatte, anderenfalls wäre nicht zu erklären, daß das Gericht in einer späteren Entscheidung keine Bedenken dagegen hat, „durch Gesetz die Beratung und Bewilligung der in den Wirtschaftsplänen der Nachrichtendienste enthaltenen Veranschlagungen [...] zu übertragen" 238. Darüber hinaus ist es ein Widerspruch, wenn einerseits die „aus dem Gedanken der Repräsentation abzuleitende prinzipielle Forderung nach der Mitwirkung aller Abgeordneten bei Entscheidungen (nicht) bedeutet [...], daß die Abgeordneten das Volk bei solchen Anlässen nur im Plenum des Bundestages repräsentieren könnten" 239 , andererseits aber das Repräsentationsprinzip unbedingt erforderte, daß die endgültige Beschlußfassung durch das Plenum erfolgen muß, denn dies liefe im Ergebnis darauf hinaus, daß dem Repräsentationsgedanken eben doch nur im Plenum genügt werden könnte. Hinzu kommt, daß die vom Bundesverfassungsgericht behandelte Problematik, ob auch ein schwach besetztes Plenum noch beschlußfähig ist, natürlich voraussetzte, daß überhaupt eine Entscheidung des Plenums vorlag. Insoweit kann sie nicht als Anknüpfungspunkt für die Beantwortung der Frage nach der Übertragbarkeit von Zuständigkeiten auf Bundestagsausschüsse dienen. Die Frage nach der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Zuständigkeitsübertragungen läßt sich nur beantworten, wenn man sich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen dem Plenum und den Ausschüssen hinsichtlich ihrer 235
Berg, , Der Staat 9 (1970), S. 21 (26). BVerfGE 44, 308 (317). 237 Zur Problematik der vom Bundesverfassungsgericht gewählten Formulierung des „parlamentarischen Vorhabens" auch Thomas v. Danwitz , Die Gestaltungsfreiheit des Verordnungsgebers, 1989, S. 118 f 238 BVerfGE 70, 324 (361); zur Fragwürdigkeit dieses Vorgehens bereits oben Kapitel 2 Abschnitt 2 A IV. 239 BVerfGE 44, 308 (317). 236
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Zusammensetzung, ihres Arbeitsziels, ihres Verfahrens und der Auswirkung ihrer Arbeit vergegenwärtigt 240. Zwar sind die Ausschüsse nach der Regel des § 12 S. 1 GOßT entsprechend dem Stärkeverhältnis der Bundestagsfraktionen besetzt und werden daher zu recht als Spiegelbild des Parlaments bezeichnet241. Während aber im Plenum nahezu alle gesellschaftlichen und landsmannschaftlichen Gruppen vertreten sind, werden die Ausschußmitglieder von ihren Fraktionen zumeist allein im Hinblick auf ihre fachliche Eignung ausgewählt242. Dieser Unterschied in der Zusammensetzung wird zwar durch die Verwurzelung der Ausschußabgeordneten in ihren jeweiligen Fraktionen abgefedert 243. Gleichwohl ist nicht auszuschließen, daß sich im Einzelfall die Willensbildung im Ausschuß von der in den Fraktionen abkoppelt und schließlich eine Beschlußempfehlung ergeht, die sich im Plenum nicht als mehrheitsfähig erweist. Hinsichtlich des Arbeitsziels ist zu berücksichtigen, daß der Bundestag, um bei der sachlichen Vorbereitung der Gesetze und bei der Kontrolle der Bundesregierung möglichst unabhängig von dem Expertenapparat der Regierung zu sein, in Kauf nehmen muß, daß sich in den Ausschüssen Expertengruppen zusammenfinden, die unter Umständen einseitig die Belange ihrer Fachverbände vertreten oder - ganz unpolitisch - lediglich die sachlich optimale Lösung suchen 244 . Dagegen steht im Plenum die politische Beurteilung im Vordergrund. Sehr viel mehr als im Ausschuß geht es im Plenum um den Ausgleich der Interessen, weit häufiger muß es zu Kompromissen kommen als zu der sachlich besten Entscheidung; hierin liegt gerade die Integrationsaufgabe des Bundestagsplenums245. Dem unterschiedlichen Arbeitsziel entsprechen unterschiedliche Verfahrensweisen in den Ausschüssen und im Plenum. Während das Plenum öffentlich 240 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 580; Berg, Der Staat 9 (1970), S. 21 (27); v. Danwitz, Gestaltungsfreiheit, S. 119 f.; Fritz Ossenbühl, Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaats an eine planende Tätigkeit, dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung?, in: Verhandlungen des 50. DJT, Band I/B, 1974, S. B 103. 241 Z.B. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 681; Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Mai 1994, Art. 40 Rz. 14. 242 Berg, Der Staat 9 (1970), S. 21 (27). 243 Dazu siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 4 C I. 244 Berg, Der Staat 9 (1970), S. 21 (27 f.). 245 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 681; Berg, Der Staat 9 (1970), S. 21 (28); Dach, in: Isensee/Kirchhof, § 40 Rz. 49; Ernst Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, VVDStRL 16 (1958), S. 9 (32).
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tagt, finden die Ausschußberatungen in der Regel nichtöffentlich statt, § 69 Abs. 1 S. 1 GOBT 2 4 6 . Die fehlende Öffentlichkeit wird überwiegend als sachgerecht angesehen247, da sie den Ausschußmitgliedern die Möglichkeit gibt, ohne Druck durch die Öffentlichkeit und ohne politisches Taktieren, frei und sachlich zu diskutieren 248 . Gerade aufgrund der fehlenden Öffentlichkeit unterscheidet sich auch die Wirkung der Ausschußarbeit von der des Plenums. Das Plenum und nicht der Ausschuß ist der Ort, an dem die parlamentarische vermittelte politische Kommunikation stattfindet 249 . Carl Schmitt sah in der Öffentlichkeit der Verhandlung gar das Leitprinzip des Parlamentarismus: „Das Wesentliche des Parlaments ist also öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion, Parlamentieren, wobei zunächst noch nicht an Demokratie gedacht zu werden braucht" 250 . Die Öffentlichkeit der Parlamentsdebatten hat den Sinn, Regierung und Opposition zu zwingen, ihre Politik vor den Wählern zu legitimieren. Sie bezweckt daher nicht die Wahrheitssuche, sondern fuhrt Begründung und Verantwortung herbei 251 . Eine Wirkung, die die nichtöffentliche 252 Ausschußberatung nicht erzielen kann.
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Ob sich dies durch die Möglichkeit der Erweiterten öffentlichen Ausschußsitzung nach § 69 a GOBT grundlegend ändern wird, wird sich zeigen. Dies wird auch von der Bereitstellung geeigneter Räumlichkeiten abhängen. Ein Aspekt den der Bundestag bei seinen Umzugsplänen berücksichtigen sollte. 247 Vgl. aber Hans-Joachim Menget , Grundvoraussetzungen demokratischer Gesetzgebung, ZRP 1984, S. 153 (157), der die nichtöffentlichen Beratungen der Ausschüsse fur verfassungswidrig ansieht. 248 Berg, Der Staat 9 (1970), S. 21 (28); Herbert Frost, Die Parlamentsausschüsse, ihre Rechtsgestalt und ihre Funktion, dargestellt an den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, AöR 95 (1970), S. 38 (85); Heinhard Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 142; Zeh, in: Schneider/Zeh, § 39 Rz. 25; Argumente zum für und wider der Öffentlichkeit von Ausschußsitzungen bei Ritzel/Bücker, Vorbem. zu § 54 Anm. 3 a). 249 Leo Kißler, Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation, in: Schneider/Zeh, § 36 Rz. 9. 250 Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 3. Auflage, 1961, S. 43. 251 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 564; Heinhard Steiger, Zur Funktion der Öffentlichkeit der Verhandlungen des Bundestages, Studium Generale 23 (1970), S. 710 (727 ff.); derselbe, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystem, 1973, S. 141. 252 Öffentliche Ausschußberatungen nach § 69 a GOBT dagegen sind nicht anders als öffentliche Sitzungen des Plenums geeignet, diese Funktion zu erfüllen, so daß auf sie die angeführten Einwände nicht zutreffen.
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Vergleicht man also die Plenar- mit den Ausschußberatungen, so ist festzustellen, daß die sachliche Auseinandersetzung vorwiegend in den Ausschüssen stattfindet, die politische vorwiegend im Plenum. Dementsprechend werden die Ausschüsse unter fachlichen Gesichtspunkten besetzt. Dies entspricht der Zielsetzung der Ausschüsse, eine sachlich angemessene Lösung zu finden, während das Plenum eine Integrationsaufgabe zu erfüllen hat. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, finden Plenarsitzungen öffentlich statt und übernehmen so eine Mittlerfunktion zum Wähler, die zumindest den nichtöffentlichen Ausschußsitzungen nicht zukommt. Daraus folgt, daß Zuständigkeiten um so eher vom Plenum auf Ausschüsse übertragen werden können, je stärker ihr sachlicher Bezug ist und je weniger sie sich zu einer Politisierung eignen. Zwar ist nicht zu übersehen, daß grundsätzlich jede Entscheidung nach Möglichkeit unter sachlichen Gesichtspunkten getroffen werden sollte und der Begriff des „Politischen" kein klares Abgrenzungskriterium ist 2 5 3 . Gleichwohl ist die Frage nach dem politischen Gehalt einer Entscheidung maßgeblich für die Frage ihrer Übertragbarkeit. Ausschlaggebend hierfür ist, daß mit der Übertragung einer Entscheidung auf einen Ausschuß die Qualität der Auseinandersetzung umschlägt. Im Ausschuß ist, selbst im Falle öffentlicher Ausschußberatungen, anders als bei Plenarberatungen aufgrund des kleineren Auditoriums kein Raum für „Fensterreden". Auch lassen sich im kleineren Expertenkreis vorgefertigte Standpunkte schwerer vertreten. Schon deshalb sind die Ausschußberatungen politisch „entschärft" und zeichnen sich durch eine Versachlichung aus. Allerdings besteht die Gefahr, daß sich ein Ausschuß, der selbst anstelle des Plenums entscheidet, in bestimmten Sachfragen von diesem abkoppelt, denn die Notwendigkeit, im Ausschuß eine Lösung zu erarbeiten, die sich später im Plenum als Mehrheitsfähig erweist, entfällt. Deshalb kann die Übertragung von Beschlußzuständigkeiten auf einen Ausschuß nur in eng begrenzten Ausnahmen erfolgen, in denen sich wichtige Gründe dafür anführen lassen, daß eine bestimmte Entscheidung der politischen Auseinandersetzung ein Stück weit entzogen wird. Die Entscheidung hierüber entzieht sich einer Verallgemeinerung und muß für jede Zuständigkeitsübertragung gesondert erfolgen. Dabei kommt es nicht auf die „Wesentlichkeit" der zu treffenden Entscheidungen an. Dem Parlamentsvorbehalt genügt auch eine Entscheidung, die ein parlamentarisches Organ für den Bundestag auf der Basis
253 Vgl. zur Gefahr, sich im begriffsjuristischen Labyrinth des „Politischen" zu verlaufen, Thomas v. Danwitz, Qualifizierte Mehrheiten für norm verwerfende Entscheidungen des BVerfG?, JZ 1996, S. 481 (483) m.w.N.
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einer wirksamen Zuständigkeitsübertragung trifft 2 5 4 . Allerdings ist die sachliche Bedeutung der übertragenen Kompetenz für die Frage beachtlich, ob der Ausschuß seine Entscheidungen in öffentlicher oder nichtöffentlicher Verhandlung zu treffen hat. Bei Entscheidungen, die nicht allein die Interessen des Bundestages berühren, hat die Verhandlung des Ausschusses öffentlich stattzufinden, da nur so die parlamentarische Verantwortung vor dem Wähler hergestellt werden und die Beratung eine Integrationsfunktion erfüllen kann. Die Übertragung einer Zuständigkeit des Plenums auf einen Ausschuß hat durch eine entsprechende Regelung in der GOBT zu erfolgen. Nicht überzeugen kann die Auffassung, eine Zuständigkeitsübertragung könne nur durch Gesetz erfolgen, weil es sich bei der parlamentarischen Geschäftsordnung um eine Rechtsquelle handele, die keine Außenverbindlichkeit besitze 255 . Die Übertragung einer Kompetenz des Bundestages auf einen seiner Ausschüsse per Gesetz hätte zur Folge, daß Verfassungsorgane, die an der Ausübung dieser Kompetenz nicht beteiligt sind - insbesondere der Bundesrat - die Übertragung behindern oder durch eine Gesetzesinitiative den Anstoß zu einer entsprechenden Verlagerung geben könnten 256 . Zudem wäre ein neuer Bundestag aufgrund der gesetzlichen Kontinuität gezwungen, eine von dem Vorgängerparlament vorgenommene Zuständigkeitsübertragung beizubehalten. Ein Ergebnis, das mit dem in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG jedem neuen Bundestag gewährleisteten Recht auf Selbstorganisation nicht zu vereinbaren ist. Deshalb kann man dem einfachen Gesetzgeber gerade nicht die Befugnis einräumen, über originäre parlamentarische Befugnisse zu verfügen. Hierüber kann allein das Parlament im Rahmen seines Selbstorganisationsrecht und soweit es die Verfassung zuläßt entscheiden.
254 Ähnlich Achterberg, Parlamentsrecht, S. 517 f.; vgl. auch K.-G. Zierlein, in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 7 a Rz. 40; a.A. HansHermann Kasten, Plenarvorbehalt und Ausschußfiinktion, DÖV 1985, S. 222 (225 f.). 255 So aber Rainer Pietzner, Petitionsausschuß und Plenum, 1974, S. 98 f.; auch Kretschmer, in Schneider/Zeh, § 9 Rz. 106, obwohl er ausdrücklich von der Außenwirkung der GOBT ausgeht, § 9 Rz, 51; zur Unhaltbarkeit der These von der GOBT als Innenrechtsnorm oben Kapitel 3. 256 Gegen die gesetzliche Regelung von Zuständigkeitsübertragungen sprechen dieselben Argumente, die sich auch gegen die gesetzliche Regelung von Geschäftsordnungsangelegenheiten anführen lassen, hierzu oben Kapitel 2 Abschnitt 2 A I V .
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5. Beurteilung einzelner Zuständigkeitsübertragungen Überträgt man die soeben entwickelten Kriterien auf die in der Praxis vom Bundestag vorgenommen Übertragungen von Plenarzuständigkeiten auf Bundestagsausschüsse, so ergibt sich folgendes Bild:
a) Immunitätsentscheidungen Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Übertragung eines Teils der Immunitätsentscheidung auf den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ist maßgeblich auf den Zweck der parlamentarischen Immunität abzustellen. Dieser besteht darin, die Funktionstüchtigkeit und das Ansehen des Bundestages zu schützen257. Diesem Zweck wäre es abträglich, wenn die Frage, ob die Immunität aufgehoben werden soll, in jedem Einzelfall im Bundestagsplenum erörtert würde. Der Antrag auf Aufhebung der Immunität und eine sich anschließende Beratung und Entscheidung des Bundestages erregt nämlich auch bei Vorwürfen von geringem Gewicht das Aufsehen der veröffentlichten Meinung, die ohne Rücksicht auf die Belange des Bundestages das vermeintliche Vergehen des Abgeordneten ausführlichst zu erörtern pflegt, den Abschluß des Verfahrens jedoch regelmäßig nur zur Kenntnis nimmt, wenn es zu einem Schuldspruch geführt hat 258 . Hieraus folgt, daß die Entscheidung, ob die Immunität im Einzelfall aufgehoben werden soll oder nicht, nicht geeignet ist, zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen gemacht zu werden, denn der Verlierer solcher Auseinandersetzungen ist der Bundestag selbst, den zu schützen Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG bezweckt. Vielmehr ist eine sachliche Auseinandersetzung geboten. Aus diesem Grund erscheint die Übertragung der Immunitätsentscheidung auf einen Ausschuß unbedenklich. Die Immunitätsentscheidung braucht auch im Ausschuß nicht öffentlich beraten zu werden, da sie allein parlamentarische Belange berührt. Daß die Entscheidung die Verfolgungsbehörden bindet und deshalb Außenwirkung hat, ändert hieran nichts, denn ein schutzwürdiges Interesse anderer Staatsgewalten oder der Öffentlichkeit, die Erwägungen zu erfahren, die zu einer Entscheidung in die eine oder andere Richtung geführt haben, besteht nicht. Die Zuständigkeitsübertragung in § 107 Abs. 2 i.V.m. Anlage 6 GOBT ist daher verfassungsrechtlich nicht zu
257 Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 46 Rz. 26; Theodor Schramm, Staatsrecht I, 4. Auflage, 1987, S. 96. 258 Klein, in: Schneider/Zeh, § 17 Rz.53. 12 Schwerin
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Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
beanstanden. Auch eine noch weitergehende Übertragung der Immunitätsentscheidung auf einen Bundestagsausschuß wäre zulässig.
b) Wahrnehmung der Haushaltskontrolle durch den Haushaltsausschuß Anders verhält es sich in den Fällen, in denen das Haushaltsgesetz den Haushaltsausschuß in die Haushaltskontrolle einbezieht, indem ihm das Recht eingeräumt wird, in eigener Kompetenz darüber zu befinden, ob im Haushaltsplan bewilligte, aber mit einem qualifizierten Sperrvermerk versehene Mittel von der Bundesregierung in Anspruch genommen werden können oder nicht. Es erscheint bereits fraglich, ob dem Bundestag insgesamt das Recht zukommt, in dieser Weise inhaltlich über den Haushaltsvollzug mitzuentscheiden, denn der Vollzug des Haushaltsplanes ist Sache der Regierung. Deshalb spricht manches dafür, daß die parlamentarische Mitwirkung am Haushalts Vollzug eine Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips darstellt und ohne verfassungsrechtliche Ermächtigung einen verfassungswidrigen Eingriff in den Kernbereich der Exekutiven darstellt 259 . Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob eine derart strikte Trennung zwischen exekutiver und legislativer Gewalt beim Haushaltsvollzug verfassungsrechtlich geboten ist. Dabei ist zu beachten, daß das Prinzip der Gewaltenteilung keine strikte Trennung der Gewalten verlangt, sondern sein Zweck darin besteht, daß die Organe der Legislative, Exekutive und Justiz sich gegenseitig kontrollieren und begrenzen 260. Erst wenn zugunsten des Parlaments ein Einbruch in den schwer bestimmbaren 261 Kernbereich der Exekutiven erfolgt, ist das Gewaltenteilungsprinzip verletzt 262 . Ob dieser Kernbereich durch die Mitwirkung des Bundestages beim Haushaltsvollzug berührt wird, hängt letztlich von der konkreten Handhabung der zur Verfügung stehenden Kontrollund Beteiligungsmöglichkeiten durch den Bundestag ab. Jedenfalls dann, wenn der quantitative Umfang einen Qualitätsumschlag dergestalt bedeutet, daß der
259
So etwa Hans Troßmann, Der Bundestag: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöR NF 28 (1979), S. 1 (53 ff.) m.w.N. 260 BVerfGE 9, 268 (279); kritisch zum hergebrachten Gewaltenteilungsprinzip, Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, 1995, Rz. 475 ff. 261 Wo dieser Kernbereich beginnt, ist bis heute nicht abschließend geklärt, instruktiv aber die Regierungs- und Verwaltungsvorbehalte Ossenbühls, vgl. Fritz Ossenbühl, Der Vorbehalt des Gesetzes und seine Grenzen, in: Götz/Klein/Starck (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung und richterlicher Kontrolle, S. 9 -35; derselbe, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/Kirchhof, § 62 Rz. 51 ff. 262
BVerfGE 9, 268 (280); 30, 1 (28).
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Vollzug des Haushalts faktisch parlamentarisch bestimmt ist, so daß der Regierung in der Praxis nichts mehr zu vollziehen bleibt, ist das Gewaltenteilungsprinzip verletzt 263 . Bei fehlender Etatreife bestimmter Vorhaben ist die Anbringung qualifizierter Sperrvermerke allerdings unvermeidlich, um einerseits die Durchfuhrung bestimmter Projekte nicht zu gefährden, andererseits aber die parlamentarische Kontrolle nicht preiszugeben. Es bestehen daher zumindest in diesen Fällen keine Bedenken hiergegen. Ob auch in anderen Konstellationen 264 qualifizierte Sperrvermerke zulässig sind, braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht entschieden zu werden, da es hierauf für die Frage der Übertragbarkeit dieser Kompetenz auf den Haushaltsausschuß nicht ankommt. Als Begründung für die Zulässigkeit der Zuständigkeitsübertragung auf den Haushaltsausschuß wird regelmäßig auf deren sachliche Notwendigkeit verwiesen. Das Plenum sei weder verfahrensmäßig, noch von den häufig überaus spezialisierten Inhalten her der geeignete Ort für die Durchführung der Frage- und Antwort-Spiele zur Sachverhaltsklärung 265. Außerdem sei die Übertragung erforderlich, um eine flexible Gestaltung des Haushalts zu ermöglichen. Die öffentliche Hand müsse auf gesamtwirtschaftliche Entwicklungen schnell reagieren können und dürfe hierbei nicht durch Vorwegbeschlüsse des Parlaments bei der jährlichen Haushaltsfeststellung behindert werden 266 . Da das Plenum schon aus strukturellen und zeitlichen Gründen zu der hierdurch erforderlichen permanenten Haushaltsberatung nicht in der Lage sei, müßten die Ausschüsse in diesen beweglichen Prozeß, in dem sich Haushalts Vollzug und Haushaltsfeststellung nicht eindeutig trennen ließen, eingeschaltet werden 267 . So wie der Bundesfinanzminister bei detaillierten Sachverhalten für die Bundesregierung handele (z.B. Art. 112, 114 GG, §§ 36, 37, 114 BHO), so handele der Haushaltsausschuß für den Bundestag268.
263
So auch Stern,, Staatsrecht II, § 49 IV 6 c) ß) (S. 1225). Zu anderen Fällen, in denen qualifizierte Sperrvermerke angebracht werden, Peter Eikenboom, Haushaltsausschuß und Haushaltsverfahren, in: Schneider/Zeh, § 44 Rz. 35 ff. 265 Eikenboom, in: Schneider/Zeh, § 44 Rz. 37. 266 Wilhelm Kewenig, Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Arbeit der Bundestagsausschüsse, 1970, S. 54. 267 Kewenig, ebenda. 268 Eickenboom, in: Schneider/Zeh, § 44 Rz. 37. 264
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Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Argumentation indessen nicht als stichhaltig. Zwar trifft es zu, daß das Plenum nicht der geeignete Ort ist, um alle Einzelheiten der Sachverhaltsaufklärung zu betreiben oder eine „permanente" Haushaltsdebatte zu fuhren. Auch ist esiichtig, daß man den Handlungsspielraum der Bundesregierung nicht derartig verengen darf, daß ihr keine Reaktionsmöglichkeiten auf unvorhergesehene gesamtwirtschaftliche Entwicklungen mehr verbleiben. Nur zwingt dies eben nicht zu einer Übertragung des Ausgabenbewilligungsrechts des Bundestages auf einen Fachausschuß. Dies wäre allenfalls dann erforderlich, wenn nicht durch die bloße Vorbereitung der parlamentarischen Entscheidung im Haushaltsausschuß, sondern allein durch die Übertragung der Beschlußzuständigkeit die genannten Ziele zu erreichen wären. Warum aber der Bundestag nicht in der Lage sein soll, eine Entscheidung über die Ausgabenbewilligung selbst zu treffen, nachdem der Haushaltsausschuß als vorbereitendes Beschlußorgan den Sachverhalt aufgeklärt, die Argumente für eine Entscheidung zusammengetragen und gewichtet hat und schließlich eine Beschlußempfehlung abgegeben hat, ist schlechterdings nicht zu erklären. Durch eine Plenarentscheidung brauchte auch keine Verzögerung einzutreten, wenn man für die Aufhebung qualifizierter Sperrvermerke ein beschleunigtes Verfahren schüfe. Auch der Vergleich der Zuständigkeit des Haushaltsausschusses mit der des Bundesfinanzministers vermag nicht zu überzeugen, denn dessen Zuständigkeit ergibt sich bereits aus dem Grundgesetz, wohingegen der Haushaltsausschuß im Grundgesetz nicht einmal Erwähnung findet. Gleichwohl könnte eine Zuständigkeitsübertragung nach den oben aufgestellten allgemeinen Kriterien zulässig ist. Dann müßte es sich bei der Ausgabenbewilligung um eine Entscheidung handeln, die vor allen Dingen unter sachlichen Gesichtspunkten zu treffen ist und sich nicht für eine Politisierung eignet. Die Frage, ob bestimmte Haushaltsmittel freigegeben werden sollen oder nicht, läßt sich aber nicht allein unter sachlichen Gesichtspunkten entscheiden. Vielmehr setzt diese Entscheidung eine Bewertung des konkreten Vorhabens voraus. Dieses Vorhaben muß mit anderen verglichen und in ein Verhältnis zu politischen Vorgaben gesetzt werden. Hinzu kommt, daß die Sperrung oder Freigabe der Mittel auch ein Signal an die Wähler sein kann, wie die Priorität staatlicher Vorhaben eingeschätzt wird. Dabei sind zwar auch sachliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Es überwiegt aber die politische Bewertung. Allerdings können im Einzelfall Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gemäß Art. 109 Abs. 2 GG i.V.m. dem Stabilitätsgesetz eine
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Rechtspflicht des Bundestages erzeugen, bestimmte Mittel freizugeben 269. Die Beurteilung der wirtschaftlichen Gegebenheiten ist aber auch in diesem Falle eine politische Entscheidung. Die politische Bedeutung zeigt sich schließlich auch an den Rechtsfolgen, die die Zuständigkeitsübertragung hat. Sie fuhrt zu einer Bindung des Bundestages an die Entscheidungen des Haushaltsausschusses mit der Folge, daß der Bundestag die Freiheit verliert, die Regierung wegen Entscheidungen, die sie mit ausdrücklichem, haushaltsgesetzlich vorgeschriebenem Einverständnis des Haushaltsausschusses getroffen hat, zur Rechenschaft zu ziehen, denn das Einverständnis des Ausschusses wirkt wie das Einverständnis des Plenums 270 . Auf diese Weise wird die Regierung von der parlamentarischen Verantwortung frei, ohne sich in politischer Diskussion in der Öffentlichkeit rechtfertigen zu müssen. Aus diesem Grund ist es zwar Sache des Ausschusses, die Entscheidung des Bundestages sachlich vorzubereiten. Aufgrund der politischen Bedeutung der Mittelfreigabe ist aber das Integrationsorgan Bundestag dazu berufen, in seiner Gesamtheit die Letztentscheidung selbst in öffentlicher Verhandlung zu treffen.
c) Bundesverfassungsrichterwahl Wieder etwas anders ist das Verfahren bei der Wahl der vom Bundestag zu bestimmenden Richter des Bundesverfassungsgerichts zu beurteilen. Nach Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG ist die Wahl durch den Bundestag vorzunehmen. Dieser hat die Wahlentscheidung einem Wahlmännerausschuß übertragen. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in den Fällen, in denen es sich mit seiner ordnungsgemäßen Besetzung gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu befassen hatte, keinen Anlaß gesehen, sich mit der Frage zu befassen, ob die Wahl der Bundesverfassungsrichter durch den Wahlmännerausschuß mit dem Grundgesetz vereinbar ist 2 7 1 . In der Literatur hingegen ist das Verfahren, nach dem die
269 270 271
Stern, Staatsrecht II, § 49 IV 5 a) a) (S. 1217). Berg, Der Staat, S. 21 (40); siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D II 2. BVerfGE 2, 1 (9 f.); 40, 356 (362 ff.); 65, 152 (154 ff.).
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vom Bundestag zu bestimmenden Bundesverfassungsrichter gewählt werden, bis zum heutigen Tag umstritten 272 . Die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Übertragung der Wahlzuständigkeit auf den Wahlmännerausschuß stellt sich überhaupt nur dann, wenn nicht bereits Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG von einer indirekten Wahl ausgeht. Der Wortlaut der Verfassungsnorm gibt keine Auskunft darüber, ob ein direktes oder eine indirektes Wahlverfahren beabsichtigt war. Teilweise wird deshalb unter Hinweis auf Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, die ausdrücklich eine unmittelbare Wahl verlangen, gefolgert, das Grundgesetz habe das Wahlsystem des Bundestages für die Wahl der Bundesverfassungsrichter in Art. 94 GG bewußt offengelassen, weshalb es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei, daß sich der Bundestag für eine mittelbare Wahl entschieden habe 273 . Diese Auffassung ist bereits deshalb zweifelhaft, weil Art. 95 Abs. 2 GG für die Mitwirkung des Bundestages ausdrücklich Mittelbarkeit vorsieht. Dieser Bestimmung hätte es an sich nicht bedurft, wenn mittelbare und unmittelbare Wahl ohnehin gleichwertige Alternativen wären 274 . Außerdem ließe sich mit der gleichen Begründung aus Art. 28 und 38 GG folgern, daß auch andere Wahlen, etwa die des Bundeskanzlers oder des Bundestagspräsidenten mittelbar erfolgen dürften, eine Schlußfolgerung, die von niemandem ernsthaft erwogen wird 2 7 5 . Gleichwohl kann aus der Bestimmung des Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG auch nicht ohne weiteres geschlossen werden, der Bundestag müsse die Wahl durch das Plenum vornehmen, weshalb die Wahl durch einen Wahlmännerausschuß verfassungswidrig sei 276 . Die Verfassungsbestimmung besagt zunächst nur, daß es 272
Vgl. D. Majer, in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 1992, § 6 Rz. 32 ff.; Franz Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand: Dezember 1995, § 6 Rz. 2 ff., jeweils m.w.N. 273 Adolf Arndt, Das Bundesverfassungsgericht, DVB1. 1951, S. 297 (298); Klaus Kröger, Richterwahl, in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Band I, 1976, S. 76 (92). 274 Berg, Der Staat (1970), S. 21 (37); Arthur Kreuzer, Zuständigkeitsübertragungen bei Verfassungsrichterwahlen und Immunitätsentscheidungen des Deutschen Bundestages, Der Staat 1968, S. 183 (194.). 275 Kreuzer, Der Staat 1968, S. 183 (195). 276 So aber eine beachtliche Literaturauffassung: Berg, Der Staat 9 (1970), S. 21 (37 f.); Hans-Hermann Kasten, Plenarvorbehalt und Ausschußfunktion, DÖV 1985, S. 222 (226); Kreuzer, Der Staat 7 (1968), S. 183 (189 ff.); Maier, in: Umbach/Clemens, § 6 Rz. 39; Ulrich Preuß, Die Wahl der Mitglieder des BVerfG als verfassungsrechtliches und -politisches Problem, ZRP 1988, S. 389 (392 f.); A. Sattler, Die Rechtsstellung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan und Gericht, 1955, S. 249.
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zu den verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundestages gehört, die Hälfte der Richter des Bundesverfassungsgerichts zu wählen. Die Frage, ob diese Wahl mittelbar oder unmittelbar zu erfolgen hat, verengt die Problemstellung allein auf die formale Frage des Wahl verfahrens. Richtigerweise geht es aber nicht um das Wahlverfahren, sondern um die Frage, inwieweit der Bundestag berechtigt ist, die Wahlzuständigkeit auf eines seiner Organe zu übertragen. Die Antwort hierauf findet sich nicht im Grundgesetz, sondern folgt aus der Art der Entscheidung, die übertragen werden soll. Aus den Unterschieden zwischen dem Plenum und den Ausschüssen hinsichtlich Zusammensetzung, Arbeitsziel, Verfahren und Auswirkung der Arbeit folgt, daß einem Ausschuß eine Entscheidung um so eher übertragen werden kann, je stärker sie von sachlichen Erwägungen getragen wird und je weniger sie sich zur Politisierung eignet 277 . Die Auswahl qualifizierter Persönlichkeiten für das Amt eine Bundesverfassungsrichters erfordert eine eingehende Beschäftigung mit allen für die Beurteilung der fachlichen und persönlichen Eignung maßgebenden Umstände278. Die Übertragung der Wahlentscheidung auf den Wahlmännerausschuß wurde gewählt, weil man in der Sachkenntnis der im Wahlgremium vertretenen Abgeordneten und in der geringen Größe des Ausschusses eine Gewähr für das Zustandekommen einer Entscheidung und für die Gewinnung geeigneter Persönlichkeiten zu haben glaubte 279 . Angesichts der Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht im Verfassungsgefüge einnimmt und seinen weitreichenden Befugnissen, ist es erforderlich, daß sich die Entscheidung über die Bundesverfassungsrichter an sachlichen Erwägungen orientiert. Die Politisierung der Wahlentscheidung führte zwangsläufig zu einem Ansehens- und Vertrauensverlust des Bundesverfassungsgerichts. Aus diesem Grund ist die Wahlentscheidung eine Entscheidung, die in besonderem Maße unter Sachgesichtspunkten zu treffen und einer Politisierung zu entziehen ist. Zwar ist nicht zu übersehen, daß die Wahl in ein Gericht mit den weiten Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts stets auch eine politische Entscheidung ist 2 8 0 . Gleichwohl sollte die Entscheidung mit Rücksicht auf die Würde des Gerichts und die integrative Funktion seiner Rechtsprechung so sachlich wie möglich erfolgen, weshalb gegen die Übertragung der Wahlzuständigkeit auf einen Aus277
Siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D II 3. Ernst Ztewfo/Eckart Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991, Rz. 90. 279 Werner Billings Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, Ordo Politicus, Band 11 (1969), S. 131 f.; Klein, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/ Klein/Ulsamer, § 6 Rz. 2. 280 Wilhelm Karl Geck, Wahl und Amtsrecht der Bundesverfassungsrichter, 1986, S. 43; Sybille Koch, Die Wahl der Richter des BVerfG, ZRP 1996, S. 41 (43). 278
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schuß keine Bedenken bestehen. Allein die bisherige Praxis wirft Zweifel auf, ob die Übertragung auf den Wahlmännerausschuß überhaupt zu einer Versachlichung geführt hat. Gerade die zunehmende Politisierung der Bundesverfassungsrichterwahl wird kritisiert 281 . Diese Politisierung läßt sich aber nicht auf die Verlagerung der Wahl auf den Wahlmännerausschuß zurückführen, sondern hängt damit zusammen, daß Regierungsmehrheit und Opposition aufgrund der für die Wahl erforderlichen Zweidrittelmehrheit aufeinander angewiesen sind und deshalb die Mehrzahl der Richterstellen unter sich aufgeteilt haben und sich insoweit jeweils ein Vorschlagsrecht zugestehen282. Absprachen zwischen den Fraktionen über das Vorschlagsrecht für bestimmte Richterstellen wären auch im Falle der Wahl durch das Plenum nicht zu vermeiden. Die fachliche Eignung auch solcher Kandidaten, die möglicherweise vorwiegend unter politischen Gesichtspunkten vorgeschlagen wurden, vermag ein Expertengremium jedenfalls immer noch besser zu beurteilen als das Plenum. Ist die Zuständigkeitsübertragung daher aus Gründen der Versachlichung der Wahlentscheidung zulässig, so fehlen doch durchgreifende Argumente dafür, daß die Öffentlichkeit gemäß § 6 Abs. 4 BVerfGG von den Ausschußsitzungen ausgeschlossen ist. Ob der Ausschluß der Öffentlichkeit der Versachlichung der Wahlentscheidung dient, erscheint wenigstens zweifelhaft. Der Öffentlichkeit wäre es kaum zu vermitteln, warum das Amt eines Bundesverfassungsrichters nach politischer statt nach fachlicher Präferenz vergeben werden sollte. Ein „Personenschacher im Hinterzimmer" 283 wäre unter den Augen der Öffentlichkeit nicht möglich. Es mag sein, daß dies die Kompromißfindung im Wahlausschuß erschwerte, der Qualität des Auswahlverfahrens käme es jedoch zugute. Die Öffentlichkeit der Sitzungen des Wahlausschusses ist aber vor allem deshalb erforderlich, weil die Wahl eines Bundesverfassungsrichters, angesichts der Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts und der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der von ihm zu entscheidenden Fragen, eine wesentliche Entscheidung ist, die nicht allein die Interessen des Bundestages berührt. Daher darf die Wahl nicht hinter verschlossenen Türen erfolgen, sondern die parlamentarische Verantwortung vor dem Wähler ist durch die Öffentlichkeit der Ausschußberatungen herzustellen. Nur so kommt der Wahl jene Integrationsfunktion zu, die geeignet ist, das Vertrauen der Bevölkerung in das Bundesver-
281
Benda/Klein, Rz. 92; Geck , S. 33 ff.; Axel Hopfauf, Kein Präsentationsrecht bei Verfassungsrichterwahlen, ZRP 1994, S. 89 (89 f.) jeweils m.w.N. 282 Hopfauf, ZRP 1994, 89. 283 Rolf Lamprecht, Oligarchie in Karlsruhe: Über die Erosion der Gewaltenteilung, NJW 1994, S. 3272 (3273).
E. Ausschußgliederung
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fassungsgericht auch dann zu erhalten, wenn dessen Entscheidungen einmal nicht auf gesellschaftlichen Konsens stoßen. Das hier gefundene Ergebnis wäre verfassungsrechtlichen Zweifeln ausgesetzt, wenn im Falle der Wahl der Bundesverfassungsrichter durch einen Ausschuß eine Asymmetrie zwischen der Kompetenzfülle und der demokratischen Legitimation des Bundesverfassungsgerichts entstünde284. Dieser Einwand verfinge indessen allenfalls dann, wenn die Legitimation im Falle der Wahl durch den Wahlmännerausschuß eine geringere Qualität hätte als die bei einer Wahlentscheidung des Plenums. Auf den ersten Blick erscheint diese Folge aufgrund der Verlängerung der Legitimationskette zwingend. Indessen ist zu beachten, daß im Falle einer zulässigen Zuständigkeitsübertragung das Handeln des Wahlmännerausschusses dem Bundestag als Ganzem zugerechnet wird 2 8 5 . Entschließt man sich mit der hier vertretenen Ansicht nicht dazu, Zuständigkeitsübertragungen auf parlamentarische Organe stets auszuschließen, so kann den aufgrund einer solchen Übertragung ergangenen Entscheidungen keine andere (geringere) Qualität zukommen als denen des Plenums. Die demokratische Legitimation der Verfassungsrichter ist deshalb bei ihrer Wahl durch den Wahlmännerausschuß nicht schwächer als bei einer Wahl durch das Plenum. Allerdings ist die Übertragung der Wahlzuständigkeit auf den Wahlmännerausschuß insoweit zu beanstanden, als eine gesetzliche und keine geschäftsordnungsrechtliche Regelung getroffen wurde. Zwar bestimmt Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG, daß die Verfassung und das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts in einem Bundesgesetz bestimmt werden. Zur Verfassung eines Gerichts zählen regelmäßig auch die Bestimmungen über die Richterbesetzung, -berufung und -abberufung, weshalb argumentiert wird, daß auch das Wahlverfahren von dieser Grundgesetzbestimmung erfaßt und deshalb einer gesetzlichen Regelung zugänglich sei 286 . Dies ist aber deshalb unzutreffend, weil mit der Übertragung der Wahlentscheidung auf den Wahlmännerausschuß eine bundestagsinterne Zuständigkeitsverlagerung stattgefunden hat. Die „Verfassung" des Bundesverfassungsgerichts im Sinne von Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG kann aber keine Bestimmungen darüber enthalten, ob die Wahl durch das Plenum oder durch einen 284
Lamprecht, NJW 1994, S. 3272 (3273); Preuß, ZRP 1988, S. 389 (393). Achterberg, Parlamentsrecht, S. 517 f. 286 Theodor Maunz, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Vorb. § 6 Rz. 33; Jost Pietzcker/D'wk Pallasch, Verfassungswidrige Bundesverfassungsrichterwahl, JuS 1995, S. 511 (512); Klaus Stern, in: Bonner Kommentar, Stand: Dezember 1995, Art. 94 Rz. 114. 285
186
Viertes Kapitel: Selbstorganisationsrechtliche Voraussetzungen
Ausschuß vorgenommen wird 2 8 7 , betroffen ist insoweit allein das Recht des Parlaments Beschlußzuständigkeiten auf Parlamentsausschüsse zu übertragen, und diese Übertragung kann - sofern sie im Einzelfall überhaupt verfassungsrechtlich zulässig ist - nur durch die GOBT und nicht durch Gesetz erfolgen 288 . Erfolgt die Übertragung der Wahlentscheidung durch die GOBT und wird für die Beratungen des Wahlausschusses die Öffentlichkeit zugelassen, so ist gegen die Übertragung der Wahlzuständigkeit auf einen Ausschuß nichts einzuwenden.
6. Folgerungen Die Übertragung von Beschlußzuständigkeiten des Bundestages auf einzelne Ausschüsse ist weder stets verboten noch stets erlaubt. Grundsätzlich ist die Übertragung solcher Entscheidungen zulässig, die allein unter sachlichen Gesichtspunkten zu treffen und einer Politisierung nach Möglichkeit zu entziehen sind. Sollen Beschlußzuständigkeiten übertragen werden, die nicht allein die Interessen des Bundestages betreffen, so haben die Ausschußberatungen hierüber öffentlich stattzufinden, da die Ausschüsse, wenn sie Entscheidungen für den Bundestag treffen, nur durch die öffentliche Verhandlung der parlamentarischen Verantwortung vor dem Wähler gerecht werden können. Die Zuständigkeitsübertragung hat durch die parlamentarische Geschäftsordnung und nicht durch Gesetz zu erfolgen, da allein der Geschäftsordnungsgeber und nicht der Gesetzgeber über parlamentarische Befugnisse verfügen kann.
V. Ergebnis Neben der Gliederung in Fraktionen erweisen sich die Ausschüsse als das zweite parlamentarisches Gliederungsprinzip, das die parlamentarische Entscheidungsfindung überhaupt erst ermöglicht. Sie entlasten das Plenum von der Flut der Gesetzesentwürfe, Anträge und Entschließungsanträge, die es allein gar nicht bewältigen könnte. Ihrer Entlastungsfunktion werden sie in so weitreichendem Maße gerecht, daß die Bedeutung der Ausschußberatungen nicht hinter der der Plenarberatungen zurücksteht. In der Regel fallen die Sachentschei-
287 In diesem Sinne auch Joseph Bücker , Das Parlamentsrecht in der Hierarchie der Rechtsnormen, ZParl 1986, S. 324 (327). 288 Siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D II 3.
E. Ausschußgliederung
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düngen nicht erst im Plenum, sondern bereits in den Fachausschüssen. Diese Entwicklung ist nicht zu beanstanden, da die Ausschüsse in die Repräsentation des Volkes durch das Parlament miteinbezogen sind und durch ihre spiegelbildliche Zusammensetzung sichergestellt ist, daß sich die Willensbildung im Ausschuß parallel zu der Willensbildung im Plenum vollzieht. Dagegen ist die Übertragung von Beschlußzuständigkeiten des Plenums auf einen Parlamentsausschuß nur in bestimmten Fällen zulässig. Aus der Stellung, die die Ausschüsse im parlamentarischen Betrieb einnehmen folgt, daß ihnen nur solche Angelegenheiten zur alleinigen Entscheidung überlassen werden können, die allein oder doch ganz überwiegend sachlich zu treffen sind und sich nicht für eine Politisierung eignen.
Fünftes Kapitel
Minderheitenschutz Bei der parlamentarischen Willensbildung scheint jede parlamentarische Minderheit im Wege zu stehen. Ihr Rechte einzuräumen, läuft dem Ziel einer effektiven geschäftsordnungsmäßigen Ausgestaltung des parlamentarischen Verfahrens entgegen. Auch das Grundgesetz, das das Mehrheitsprinzip festlegt, erwähnt die parlamentarische Minderheit mit keinem Wort. Gleichwohl findet sich oft die Aussage, daß die parlamentarische Minderheit zu schützen ist und ihre Beteiligung am Willensbildungsprozeß des Parlaments durch die Einräumung spezieller Minderheitenrechte in der parlamentarischen Geschäftsordnung zu gewährleisten sei1. Hierfür gibt es zwei Gründe: Der eine ist notwendig bereits im Mehrheitsprinzip angelegt und läßt sich zudem mit dem demokratischen Prinzip untermauern, der andere liegt in der Gewährleistung des freien Mandates in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht zählt das Mehrheitsprinzip zu den fundamentalen Prinzipien der Demokratie 2 und zu den Mindestbestandteilen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung 3. Die Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip ist indes keine Feststellung der Wahrheit. Vielmehr ist mit der Anerkennung des Mehrheitsprinzips zugleich die Anerkennung eines sachlich gleichwertigen, von der Mehrheit abweichenden Standpunktes verbunden 4. Im parla1 Etwa Sondervotum Mahrenholz BVerfGE 70, 324/366 (377); Haug , Bindungsprobleme, S. 65 f.; Jörg Kürschner , Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, 1984, S. 119; Goswin Lörken , Die Rechte der parlamentarischen Minderheiten und der einzelnen Abgeordneten nach dem Geschäftsordnungsrecht des Deutschen Bundestages, 1963, S. 56 f.; Gerassimos Theodossis , Die Verfassungsgarantien über die parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und ihre rechtliche Bedeutung - in vergleichender Sicht, JöR NF 44 (1996), S. 155 (159); Hans-Josef Vonderbeck, Die Minderheitenrechte im Deutschen Bundestag, ZParl 1975, S. 150 (150 ff.). 2 BVerfGE 1,299 (315). 3 BVerfGE 2, 1 (12); 5, 85 (140). 4 Sondervotum Mahrenholz BVerfGE 70, 324/366 (369); Hans Kelsen , Das Problem des Parlamentarismus, 1925, S. 30 f.; Hasso Hofmann / Horst Dreier , Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht
Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz
189
mentarischen Verfahren geht der Mehrheitsentscheidung stets ein Abstimmungsprozeß und verbunden hiermit eine Reduzierung der Alternativen voraus. Sie ist daher für nahezu niemanden deckungsgleich mit der eigenen Überzeugung und stellt sich auch für die einzelnen Mitglieder der Mehrheit fast immer als Fremdbestimmung dar 5. Es besteht aber die Gefahr, daß auf diese Weise eine Abstimmung ausschließlich unter den Mehrheitsmitgliedern erfolgt, ohne daß die Minderheit in die Entscheidungsfindung einbezogen wird. Gerade dies soll durch die Gewährung von Minderheitenrechten vermieden werden, denn die Entscheidung der Mehrheit soll den Schlußpunkt unter eine freie Auseinandersetzung um das Gemeinwohl setzen, ohne daß die Mehrheit diesen Prozeß behindert, indem sie die Entscheidung im voraus trifft 6 . Nur so kommt der Mehrheitsentscheidung jene integrierende Funktion auch für die Minderheit zu, die es rechtfertigt, die Entscheidung dem Bundestag als Ganzem zuzurechnen (Art. 77 Abs. 1,42 Abs. 2 S. 1 GG) 7 . Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt: „Das Gebot, parlamentarische Minderheiten zu schützen, sowie das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung der Opposition wurzeln im demokratischen Prinzip [...]. Dieser Schutz geht nicht dahin, die Minderheit vor Sachentscheidungen der Mehrheit zu bewahren (Art. 42 Abs. 2 GG), wohl aber dahin, der Minderheit zu ermöglichen, ihren Standpunkt in den Willensbildungsprozeß des Parlaments einzubringen." 8 Darüber hinaus muß die GOBT sicherstellen, daß jene Abgeordnetenrechte, die sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ergeben, in der parlamentarischen Praxis umgesetzt werden können. Die Schwierigkeit die verfassungsmäßigen Abgeordnetenrechte zu bestimmen, werden offenbar, wenn man die geschäftsordnungsmäßigen Minderheitenrechte untersucht und feststellt, daß die überwiegende Zahl dieser Rechte nicht von einzelnen Abgeordneten, sondern nur von Abgeordnetengruppen wahrgenommen werden können. Hier stellt sich die Frage, wieweit ein kollektive Ausgestaltung von Minderheitenrechten vor Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG Bestand haben kann.
und Parlamentspraxis,/1989, § 5 Rz. 68; Norbert Scholtis , Minderheitenschutz in kommunalen Vertretungskörperschaften, 1986, S. 206 f. 5 Werner Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, S. 226. 6 Heun, Mehrheitsprinzip, S. 244. 7 Dieser übergeordnete Zweck wird insbesondere bei der Frage nach der demokratischen Legitimation von Mehrheitsbeschlüssen bedeutsam und an einer späteren Stelle dieser Arbeit ausführlich behandelt, siehe unten Kapitel 6 Abschnitt 1. 8 BVerfGE 70, 324 (363).
190
Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz
Zunächst aber sollen die verschiedenen Minderheitenrechte der GOBT systematisch dargestellt werden.
A. Die verschiedenen Minderheitenrechte Rechte parlamentarischer Minderheiten finden sich nicht nur in der GOBT, sondern auch im Grundgesetz und in einigen einfachen Gesetzen. Der Begriff des Minderheitenrechts wird teilweise mit der Begründung angegriffen, es gebe keine Rechte parlamentarischer Minderheiten, da auch die parlamentarische Mehrheit potentiell in der Lage sei, diese Rechte wahrzunehmen9. Diese Auffassung ist ebenso richtig wie falsch. Zwar kann auch eine Mehrheit jene Rechte wahrnehmen, die als Minderheitenrechte ausgestaltet sind. Explizite Oppositionsrechte enthält die GOBT nicht. Nur bedarf die Mehrheit bei der Ausübung ihrer geschäftsordnungsmäßigen Rechte anders als die Minderheit keines Schutzes. Minderheitenrechte zeichnen sich nämlich gerade dadurch aus, daß sie auch ohne oder gegen den Willen der Mehrheit wahrgenommen werden können. In der Praxis lassen sich zwei Arten von Minderheitenrechten unterscheiden, die als absolute und relative Minderheitenrechte bezeichnet werden. Weiter lassen sie sich danach unterscheiden, ob sie von einem einzelnen Abgeordneten - als kleinster denkbarer parlamentarischer Minderheit - oder von einer Gruppe von Abgeordneten, insbesondere einer Fraktion, geltend gemacht werden können. Absolute Minderheitenrechte sind solche Rechte, denen entsprochen werden muß, wenn sie geltend gemacht werden 10. Als absolutes Recht räumt die GOBT dem einzelnen Abgeordneten beispielsweise die Befugnis ein, das Wort zu verlangen, um einen Geschäftsordnungsantrag zu stellen (§ 29 GOBT) oder nach dem Schluß der Aussprache zur abschließenden Abstimmung eine Erklärung abzugeben (§ 31 Abs. 1 S. 1 GOBT). Fraktionen oder eine Anzahl von Abgeordneten in Fraktionsstärke 9
Stephan Haberland , Die verfassungsrechtliche Bedeutung der Opposition nach dem Grundgesetz, 1995, S. 146. 10 Hans Troßmann , Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, Vor §§1622 Rz. 8; Peter Schindler , Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1983 bis 1991, 1994, S. 996; Scholtis , Minderheitenschutz, S. 172; Norbert Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 302, bezeichnet sie (unter Ausschluß der Rechte einzelner Angeordneter) als Gruppenrechte mit verpflichtender Wirkung.
A. Die verschiedenen Minderheitenrechte
191
haben etwa das Recht, die Einberufung des Ältestenrates zu verlangen (§ 6 Abs. 1 S. 3 GOßT), die Beschlußfähigkeit des Hauses zu bezweifeln (§ 45 Abs. 2 GOBT) oder allgemeine Aussprachen zu verlangen (§§ 79, 81 Abs. 1 S. 1, 84 S. 2, 112 Abs. 2 S. 2 GOBT). Allein den Fraktionen steht zum Beispiel das Recht zu, für einen ihrer Redner bis zu 45 Minuten Redezeit zu verlangen (§ 35 Abs. 1 S. 3 GOBT) oder ihre Ausschußmitglieder benennen (§ 57 Abs. 2 S. 1 GOBT 1 1 ). Relative Minderheitenrechten sind dagegen solche Rechte, die Antragsbefugnisse enthalten und mit deren Hilfe folglich eine Entscheidung des Bundestages erzwungen werden kann, die aber die Entscheidungsfreiheit des Bundestages unberührt lassen12. Als relatives Recht steht dem einzelnen Abgeordneten etwa die Befugnis zu, eine Änderung der Tagesordnung zu beantragen (§ 20 Abs. 2 S. 2 GOBT) oder in der zweiten Beratung Änderungsanträge zu Gesetzesentwürfen zu stellen (§ 82 Abs. 1 S. 2 GOBT 1 3 ). Eine Fraktion bzw. eine Gruppe von Abgeordneten in Fraktionsstärke haben unter anderem das Recht, Gesetzentwürfe und sonstige selbständige Vorlagen einzubringen (§§ 76 i.V.m. 75 GOBT), Änderungsanträge in der dritten Beratung zu stellen (§ 85 Abs. 1 GOBT) oder den Antrag auf Herbeirufung eines Regierungsmitgliedes stellen (Art. 43 Abs. 1 GG i.V.m. § 42 GOBT). Nur für wenige Antragsrechte sind höhere Quoren als die Fraktionsstärke vorgesehen, so für den -
Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit in Plenarsitzungen (ein Zehntel der Mitglieder) 14 ;
-
Antrag auf Einsetzung einer Enquete-Kommission (ein Viertel der Mitglieder) 15 ;
-
Mißtrauensantrag (ein Viertel der Mitglieder) 16 ;
11 Fraktionslose Mitglieder des Bundestages benennt der Präsident als beratende Ausschußmitglieder (§ 57 Abs. 2 S. 2 GOBT). 12 Troßmann, Parlamentsrecht, Vor §§ 16-22 Rz. 14; Schindler, Datenhandbuch 1983 - 1991, S. 996. 13 In der 13. Legislaturperiode gab es Überlegungen, dem Abgeordneten bereits in der ersten Beratung das Recht einzuräumen, Änderungsanträge zu stellen; vgl. BT-Drs. 13/1803, S. 6. 14 Artikel 42 Abs. 1 GG, § 19 GOBT. 15 §56 Abs. 1 GOBT. 16 § 97 Abs. 1 GOBT.
192 -
Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz Antrag auf Wahl eines anderen Bundeskanzlers nach abgelehntem Vertrauensantrag (ein Viertel der Mitglieder) 17 .
B. Kollektive Minderheitenrechte als Verfassungsproblem Insgesamt läßt sich feststellen, daß Minderheitenrechte weit überwiegend nur von Fraktionen oder Gruppen von Abgeordneten in Fraktionsstärke wahrgenommen werden können 18 . Dies hat zur Folge, daß die Möglichkeiten des einzelnen Abgeordneten, an der parlamentarischen Willensbildung mitzuwirken, sehr begrenzt sind. Ihm bleibt zwar als letztlich entscheidendes Mitwirkungsrecht sein Stimmrecht, von den wichtigen parlamentarischen Befugnissen im Vorfeld von Abstimmungen ist er jedoch weitgehend ausgeschlossen19. So steht ihm weder ein Initiativrecht für Sachvorlagen noch ein Vorschlagsrecht bei Wahlen zu, und auch die meisten Verfahrensanträge können nur Gruppen 20 stellen. Dies erscheint deshalb problematisch, weil originär weder eine beliebige Gruppe von Abgeordneten noch eine Fraktion mit bestimmten Rechten ausgestattet ist. In einem Parlament im „Urzustand" könnte vielmehr jeder einzelne Abgeordnete von jedem Verfahrensrecht Gebrauch machen. Aus diesem Grund leiten sich parlamentarische Gruppenrechte letztlich aus dem Status des einzelnen Abgeordneten gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ab 21 , obwohl diese Rechte vom einzelnen Abgeordneten gar nicht mehr wahrgenommen werden können. Fraglich ist daher, ob die zu beobachtende weitgehende Ausgestaltung der parlamentarischen Verfahrensrechte als Gruppenrechte vor Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG Bestand haben kann, fuhrt sie doch dazu, daß die Gestaltungsmöglichkeiten des 17
§ 98 Abs. 2 GOßT. Jörg Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, 1984, S. 138; Scholtis, Minderheitenschutz, S. 177; Peter Scholz, Parlamentsreform seit 1969, ZParl 1981, S. 273 (286); vgl. auch die Aufzählungen bei Schindler, Datenhandbuch 19831991, S. 997 und Hans-Josef Vonderbeck, Die Rechte eines Mitgliedes des Deutschen Bundestages, ZParl 1983, S. 311 ff. 19 Scholtis, Minderheitenschutz, S. 178. 20 Der Begriff der Gruppe wird hier und im folgenden nicht nur für Gruppen nach § 10 Abs. 4 GOßT verwendet, sondern allgemein für alle Zusammenschlüsse von Abgeordneten, sei es explizit zur Wahrnehmung eines kollektiv ausgestalteten Verfahrensrechts, sei es für die Dauer einer Wahlperiode zu einer Fraktion. Entsprechend steht der Begriff des Gruppenrechts für alle Rechte, die nicht von einem einzelnen Abgeordneten wahrgenommenen werden können. 21 BVerfGE 80, 188 (217 ff); 84, 304 (321 ff); Martin Morlok, Anmerkung zu BVerfG DVB1. 1991, 998 (999). 18
B. Kollektive Minderheitenrechte als Verfassungsproblem
193
einzelnen Abgeordneten erheblich eingeschränkt werden. Die dem einzelnen Abgeordneten aus seinem verfassungsrechtlichen Status zufließenden Befugnisse stellen indessen keinen Selbstzweck dar. Vielmehr ist die Abgeordnetentätigkeit eine funktionell auf das Parlament bezogene Tätigkeit 22 . Ein aus 662 Abgeordneten zusammengesetzter Bundestag, in dem jeder einzelne Parlamentarier mit den gleichen parlamentarischen Rechten ausgestattet ist und die kollektive Wahrnehmung dieser Rechte nur rein zufällig erfolgen kann, würde zu einer Atomisierung der parlamentarischen Meinungsbildung führen und einer einheitlichen Willensbildung des Parlaments als Ganzem entgegenstehen23. Da die Regeln der Geschäftsordnung aber mit dem Grundgesetz im Einklang stehen müssen, dürfen sie die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Mandates nicht beeinträchtigen 24. Es erscheint allerdings fraglich, ob die kollektive Ausgestaltung bestimmter Rechte den Abgeordnetenstatus überhaupt berührt, da dem einzelnen Abgeordneten ja die Möglichkeit verbleibt, diese Rechte im Zusammenwirken mit anderen wahrzunehmen. Daher wird vertreten, daß die kollektive Ausgestaltung eines Abgeordnetenrechts durch die Geschäftsordnung nichts daran ändere, daß der einzelne Abgeordnete Träger dieser Befugnisse bleibe 25 . Es handele sich deshalb auch um bloße Ausübungsregeln. Diese Auffassung wird aber der tatsächlichen Situation des einzelnen Abgeordneten nicht gerecht. Diesem verbliebe zwar die Kompetenz, Anträge im Plenum oder Kleine Anfragen an die Bundesregierung zu stellen, nur könnte er von dieser eben nur im Zusammenwirken mit anderen Gebrauch machen. Für einen einzelnen Abgeordneten ist es aber gleichbedeutend mit einer Rechtsverweigerung, wenn die Ausübung eines Rechts an die Unterstützung durch eine bestimmte Abgeordnetenzahl gebunden wird 2 6 . Daher ist Träger des Rechtes nicht der Abgeordnete, sondern die Abgeordnetengruppe. Dem einzelnen Abgeordneten wird daher mit der kollektiven Ausgestaltung
22 Peter Badura, in: Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung/Oktober 1966, Art. 38 Rz. 70; Joachim Linck, Fraktionsstatus als geschäftsordnungsmäßige Voraussetzung für die Ausübung parlamentarischer Rechte, DOV 1975, S. 689 ( 690). 23 Linck, DÖV 1975, S. 689 (690); siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 4 B. 24 Peter Badura, Die Stellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz und den Abgeordnetengesetzen der Länder, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 15 Rz. 46. 25 Dieter Bodenheim, Kollision parlamentarischer Kontrollrechte, 1979, S. 54. 26 Linck, DÖV 1975, 689 (690). 13 Schwerin
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Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz
ein originär ihm zustehendes Recht entzogen. Was ihm bleibt, ist lediglich ein Mitwirkungsrecht 27 . Die verfassungsrechtliche Beurteilung der kollektiven Ausgestaltung von Verfahrensrechten erfolgt deshalb am Maßstab von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG
I. Kollektive Minderheiten rechte und Prinzip formaler Gleichheit Zunächst ließe sich daran denken, daß die kollektive Ausgestaltung von Abgeordnetenrechten gegen den aus dem Repräsentationsprinzip abgleiteten Grundsatz der formalen Gleichheit aller Abgeordneten verstößt, denn indem bestimmte Rechte den Fraktionen zugewiesen werden, werden fraktionslose Abgeordnete von der Ausübung dieser Rechte ausgeschlossen. Der Grundsatz formaler Gleichheit kann aber allenfalls dazu zwingen, daß fraktionslose Abgeordnete in bestimmten Fällen wie fraktionsangehörige zu behandeln sind und deshalb keinen Beitrag zur Klärung der Frage leisten, inwieweit geschäftsordnungsmäßige Verfahrensrechte überhaupt kollektiv ausgestaltet werden dürfen. Diese Rechte stehen weder dem fraktionslosen noch dem fraktionsangehörigen Abgeordneten zu. Aus Gleichheitsgründen kann es nicht geboten sein, dem einzelnen Abgeordneten Wahrnehmungszuständigkeiten einzuräumen, die den Fraktionen zustehen, nicht aber den einzelnen fraktionsangehörigen Abgeordneten, denn der einzelne Abgeordnete ist mit einer Bundestagsfraktion nicht vergleichbar 28. Auch dem fraktionsangehörigen Abgeordneten stehen keine Befugnisse der Fraktion zu, und auch fraktionslose Abgeordnete können kollektiv ausgestaltete Befugnisse gemeinsam mit anderen Abgeordneten ausüben. Gleichwohl hat das Bundesverfassungsgericht in der Wüppesahlentscheidung eine Reihe verfassungsrechtlicher Abgeordnetenrechte aufgezählt. Hierzu zählt es das Rede- und Stimmrecht, das Recht zur Beteiligung an den parlamentarischen Frage- und Informationsrechten, das Recht, sich an den vom Parlament durchzuführenden Wahlen zu beteiligen, das Recht zur Ergreifung parlamentarischer Initiativen und das Recht, sich mit anderen Abgeordneten zu Fraktionen zusammenzuschließen29. Die Art und Weise, auf die der einzelne Abgeordnete von diesen Rechten Gebrauch machen kann, könne von der Geschäftsordnung
27 Ebenso Wolfgang Demmler , Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen, 1994 S. 261; Klaus Abmeier , Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, 1983, S. 74. 28 Siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 4 E II. 29 BVerfGE 80, 188(218).
B. Kollektive Minderheitenrechte als Verfassungsproblem
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zwar geregelt werden, dem Abgeordneten dürften diese Rechte aber nicht völlig entzogen werden 30. Doch hatte das Bundesverfassungsgericht offenkundig nicht im Sinn, jegliche kollektive Ausgestaltung von Rechten in der GOßT zu untersagen, was sich bereits daran zeigt, daß es von der Zulässigkeit der geschäftsordnungsmäßigen Übertragung von Befugnissen auf die Fraktionen ersichtlich ausgeht31.
II. Kollektive Minderheitenrechte und der Kernbereich des freien Mandats Bereits in seiner Entscheidung zur Redezeitbeschränkung hat das Bundesverfassungsgericht anerkannt, daß die Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben durch die Fraktionen eine zulässige Beschränkung seiner Freiheit darstellt. Es stellte auch einen Maßstab auf, nach dem dies zulässig ist: „Geht diese Bindung oder Mediatisierung nicht über das hinaus, was zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten ist, so liegt sie im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen, vorausgesetzt, daß die notwendige Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Abgeordneten erhalten bleibt" 32 . Die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1.
Es gibt einen Bereich, in dem die Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Abgeordneten auch dann nicht eingeschränkt werden kann, wenn dies zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten ist.
2.
Die Ausgestaltung parlamentarischer Befugnisse darf auch außerhalb dieses Bereichs nur dann als Fraktionsrecht erfolgen, wenn dies zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit erforderlich ist.
Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht nur zu den als „reinen" Fraktionsrechten ausgestalteten parlamentarischen Befugnissen äußerte, so müssen die gleichen Grundsätze auch für jene Rechte gelten, die von einer Fraktion
30 BVerfGE 44, 308 (316); 80, 188 (219); eine Bestimmung, die dieser Rechtsprechung nachgebildet ist, findet sich in Art. 56 Abs. 2 LV Brandenburg: : „Die Abgeordneten haben insbesondere das Recht, im Landtag und seinen Ausschüssen das Wort zu ergreifen, Fragen und Anträge zu stellen sowie bei Wahlen und Beschlüssen ihre Stimme abzugeben. [...] Das Nähere regelt die Geschäftsordnung.". 31 BVerfGE 80, 188(220). 32 BVerfGE 10,4(14).
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Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz
oder einer Gruppe von Abgeordneten in Fraktionsstärke wahrgenommen werden können, da auch in diesem Fall dem einzelnen Abgeordneten die Möglichkeit genommen wird, entsprechende Befugnisse wahrzunehmen. Die Festlegung eines Bereichs, in dem die Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Abgeordneten auch dann nicht beeinträchtigt werden darf, wenn dies zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit an sich geboten ist (sog. Kernbereich des freien Mandates), ist bislang nicht befriedigend gelungen. Der bayerische Verfassungsgerichtshof beschreibt den Kernbereich des freien Mandats als „das Recht auf freie und gleiche Abstimmung, ein Mindestbestand an Redemöglichkeiten und ein gewisses Maß an Antragsbefugnissen" 33. Ähnlich hatte bereits der Staatsgerichtshof Bremen den Kernbereich als das Recht, im Parlament seine Meinung zu sagen und über Gesetzesvorhaben entsprechend seiner Willensentscheidung abzustimmen, definiert 34 . Soweit diese Definitionen das Recht des Abgeordneten betreffen, frei im Parlament abzustimmen, bestimmen sie nur die Art und Weise (nämlich frei und gleich), in der der Abgeordnete sein Abstimmungsrecht ausüben darf und besagen damit nichts über einen Kernbestand an Rechten, außer möglicherweise das Recht, überhaupt über irgend etwas abstimmen zu können. Problematisch erscheint auch der Versuch, den unantastbaren Kernbereich über solch vage Begriffe wie „einen Mindestbestand an Redemöglichkeiten" oder „ein gewisses Maß an Antragsbefugnissen" zu bestimmen, weil sich hieraus allenfalls dann eine faßbare Grenze ableiten läßt, wenn ein einzelner Abgeordneter überhaupt nicht mehr im Plenum reden oder überhaupt keinen Antrag mehr stellen kann 35 . In solch einem Fall ist die Verletzung des Abgeordnetenstatus indessen evident, weshalb eine entsprechende Kernbereichsbestimmung keinen dogmatischen Gewinn verspricht. Den gleichen Bedenken begegnet der Versuch Kürschners, den Kernbereich zu bestimmen als „Sicherung eines Minimums an parlamentarischer Artikulation und unmittelbarer Teilhabe am Verfassungsleben, die allein erst eine sinnvolle Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats ermöglichen" 36 , den Demmler aufgreift und dahingehend präzisiert, daß neben den Fraktionsrechten dem ein-
33
BayVerfGH, VerfGH 92 (1976), 62 (89). StGH Bremen, DÖV 1970, S. 639, (641). 35 Kritisch zu dieser vagen Kernbereichsbestimmung auch Abmeier , Parlamentarische Befugnisse, S. 69. 36 Jörg Kürschner , Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, 1984, S. 135. 34
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zelnen Abgeordneten ein „Mindestmaß an individuell wahrnehmbaren Befugnissen zustehen" müßte 37 . Die Kernbereichsbestimmung bereitet deshalb so große Schwierigkeiten, weil die verfassungsrechtliche Basis, von der aus sie erfolgen könnte, denkbar schmal ist. Ein Kernbereich des Abgeordnetenmandates kann nämlich nur aus der Verfassungsgarantie des freien Mandats in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG abgeleitet werden. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG begründet aber gerade keine Wahrnehmungszuständigkeiten, sondern allein ein subjektives Recht auf Gewissensfreiheit 38. Allerdings besteht diese Freiheit nur bei der Wahrnehmung der Rechte und Pflichten, die den Abgeordneten gerade in seiner Abgeordneteneigenschaft betreffen. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG setzt damit voraus, daß der Abgeordnete bestimmte Kompetenzen innehat39. Da er sie nicht selbst nennt, müssen sich diese Kompetenzen entweder aus anderen Verfassungsbestimmungen ergeben - was nicht der Fall ist - oder aber, das Grundgesetz geht von einem bestimmten Abgeordnetenbild aus, das in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG seinen Niederschlag gefunden hat 40 . Jedenfalls ist mit der Festschreibung der Unabhängigkeit des einzelnen Abgeordneten eine Absage an das gebundene Mandat verbunden. Es liegt in der Konsequenz dieser Absage, daß man den Abgeordneten nicht dadurch entmündigt, daß man möglichst viele Kompetenzen kollektiv ausgestaltet und den einzelnen so doch in eine nahezu völlige Abhängigkeit von seiner Fraktion bringt. Aus diesem Grund kann sich die Unabhängigkeit des Abgeordneten auch nicht auf die Art und Weise der Wahrnehmung seiner Kompetenzen beschränken, sondern sie drängt danach, daß möglichst viele Befugnisse vom einzelnen Abgeordneten ausgeübt werden 41. Hiermit ist aber noch nichts über konkrete, verfassungsrechtlich abgesicherte Mitwirkungsrechte jedes einzelnen Bundestagsmitgliedes gesagt.
37
Demmler, Der Abgeordnete, S. 278 ff. und S. 500. Heinhard Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 80. 39 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 60. 40 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 60; Sc holt is, Minderheitenschutz, S. 38
200. 41 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 61; Scholtis, Minderheitenschutz, S. 200; ähnlich Gunter Kisker, Der Streit um den Fraktionsstatus, JuS 1980, S. 284 (287).
198
Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz
Letztlich erscheint es weder möglich noch wünschenswert, einen Kernbereich von Abgeordnetenrechten festzulegen, der beim einzelnen Abgeordneten verbleiben muß und eine kollektive Ausgestaltung verbietet. Denn dort, wo die Funktionstüchtigkeit des Bundestages die kollektive Ausgestaltung von Verfahrensrechten erfordert, muß diese auch möglich sein. Die Ermächtigung des Bundestages aus Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG zur Geschäftsordnungsgebung darf daher nicht dadurch eingeschränkt werden, daß von vornherein bestimmte Rechte unentziehbar dem einzelnen Abgeordneten zugeordnet werden. Ein solche Grenze läßt sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nicht ableiten. Allenfalls läßt sich aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG folgern, daß dem einzelnen Abgeordneten überhaupt Rede- und Antragsrechte eingeräumt werden müssen, von denen er auch ohne Mitwirkung anderer Gebrauch machen kann. Eine starre Grenze, die nicht überschritten werden darf, ohne daß das freie Mandat Schaden nimmt, gibt es jedenfalls nicht. Ein bestimmbarer Kernbereich, der der kollektiven Ausgestaltung konkreter Befugnis entgegenstünde, ist daher nicht auszumachen.
III. Kollektive Minderheitenrechte und Verhältnismäßigkeit Scheitert die Festlegung eines Kernbereichs, so stellt sich die Frage, ob angesichts des Widerstreits zwischen einer funktionstüchtigen und effektiven Gestaltung des parlamentarischen Verfahrens einerseits und einer möglichst weitreichenden Ausgestaltung der Befugnisse des einzelnen Abgeordneten andererseits, ein Ausgleich durch die Anwendung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gefunden werden kann. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot 42) verlangt, daß eine Maßnahme geeignet, erforderlich und angemessen ist, um ihren Zweck zu erreichen 43.
42 Zur Terminologie Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. Auflage, 1984, § 20 IV 7 a) (S. 861 f.) m.w.N. 43 Eberhard Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 98 (1973), S. 568 ff.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20 Auflage, 1995, Rz. 318; Lothar Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 30 ff.
B. Kollektive Minderheitenrechte als Verfassungsproblem
199
1. Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Ob Verhältnismäßigkeitserwägungen im Bereich des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts überhaupt anwendbar sind, erscheint zweifelhaft. Seine Hauptbedeutung hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in den Rechtsbereichen, die staatliche Eingriffe normieren und die von Grundrechten oder Eingriffsgarantien abgesichert werden 44. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist im Grundgesetz an keiner Stelle positiv verankert. Insbesondere aus dem Wesen der Grundrechte, die ein Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat sind, folgt aber, daß eine Beschränkung dieser Rechtspositionen nur zulässig ist, soweit sie zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist 45 . Der grundrechtliche Freiheitsraum und das grundrechtsbeschränkende Gesetz müssen deshalb in eine verhältnismäßige Zuordnung gebracht werden 46 . Dabei stellt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Relation zwischen Zweck und Mittel her und ermöglicht durch die Gegenüberstellung des Eingriffsgrundes und der Eingriffswirkungen eine Übermaßkontrolle 47 . Der Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geht aber über den Bereich der Grundrechtsbeschränkungen hinaus. Als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist er eine Leitregel für jedes staatliche Handeln und nicht auf bestimmte Rechtsgebiete beschränkt 48. Aufgrund seines weiten Anwendungsbereichs wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als der große „Gleich- und Weichmacher der Verfassungsmaßstäbe" 49 bezeichnet, denn er führt zu einer Nivellierung und Absorption dieser Maßstäbe. Der Zweck des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist es, widerstreitende, im Grundgesetz verankerte Wertungen miteinander in Einklang zu bringen. Diese Aufgabe stellt sich auch im Bereich des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts 50. Gleichwohl wird der Schluß gezogen, daß für eine Abwägung im Staatsorganisationsrecht und damit auch im Bereich des parlamentarischen Selbstorgani-
44
Stern., Staatsrecht I, § 20 IV 7 b) ß) (S. 863). BVerfGE 19,342(349). 46 Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 318; Stern, Staatsrecht I, § 20 7 c (S. 865). 47 Manfred Gentz, Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, NJW 1968, S. 1600(1601). 48 BVerfGE 19, 342 (348 f.); 43, 242 (288); 55, 249 (258). 49 Fritz OssenbühU Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1981), S. 189. 50 Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 90. 45
200
Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz
sationsrechts kein Raum sei 51 . Auch hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß im Verhältnis staatlicher Organe und im Bund-Länder-Verhältnis das Verhältnismäßigkeitsprinzip im Grundsatz nicht anwendbar ist 52 . Ausdrücklich hat das Gericht es abgelehnt, das mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verbundene Denken in Kategorien von Freiraum und Eingriff auf Kompetenzabgrenzungen zu übertragen. Tatsächlich ist nicht von der Hand zu weisen, daß die grundgesetzliche Kompetenzordnung nicht durch eine Verteilung dieser Kompetenzen nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten an Klarheit und Schärfe verlieren darf 53 . Dies kann indes nur dort gelten, wo eine konkrete grundgesetzliche Ausgestaltung verfassungsmäßiger Kompetenzen besteht, wie etwa im Bereich der Gewaltenteilung. Etwas anderes muß dann gelten, wenn dem Grundgesetz nur lückenhafte, einander teilweise widersprechende Eckdaten zu entnehmen sind, die einer weiteren Ausgestaltung bedürfen 54. So aber verhält es sich im parlamentarischen Bereich. Hier streitet die Funktionstüchtigkeit des Gesamtorgans, die herzustellen Zweck von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG ist, für eine straffe Ausgestaltung des Verfahrens und damit für eine starke Stellung der Fraktionen, während der repräsentativen Stellung des einzelnen Abgeordneten, wie sie in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG offenkundig wird, am besten durch eine Vielzahl eigener Wahrnehmungszuständigkeiten Rechnung getragen wird. Eine parlamentarische Verfahrensordnung muß diese grundgesetzlichen Wertungen beachten und zu einer verträglichen Einheit verbinden 55. Dieser Aufgabe kann sie nur durch eine Abwägung und nicht durch eine Verabsolutierung einzelner grundgesetzlicher Wertungen gerecht werden 56. Allein der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist in der Lage diese Aufgabe zu übernehmen. Dies gilt insbesondere, weil ein Verfassungsgrundsatz, der eine vergleichbare Aufgabe übernimmt fehlt. Dies unterscheidet die Frage der Kompetenzabgrenzung im parlamentarischen Raum von der im Bund-Länder-Verhältnis, denn einen der Verpflichtung zu bundesfreundlichem Verhalten entsprechenden Grundsatz gibt es im Parlamentsrecht nicht. Daher lassen sich auch die Erwägungen des Bundesverfassungsgericht zur Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bund-Länder-Verhältnis nicht auf die hier zu behandelnde Frage übertragen.
51 52 53 54 55 56
Walter Leisner , Die quantitative Gewaltenteilung, DÖV 1969, S. 405 (408). BVerfGE 81,310 (338). Leisner, DÖV 1968, S. 405 (408). Bollmann , Verfassungsrechtliche Grundlage, S. 90. Bollmann , ebenda. Bollmann , Verfassungsrechtliche Grundlage, S. 91.
B. Kollektive Minderheitenrechte als Verfassungsproblem 2. Verfolgung
201
eines legitimen Zwecks
Die Überprüfung der rechtlichen Zulässigkeit der kollektiven Ausgestaltung parlamentarischer Verfahrensrechte anhand einer Zweck-Mittel-Relation setzt voraus, daß überhaupt ein legitimer Zweck verfolgt wird. Nicht anders als der Gesetzgeber darf auch der Geschäftsordnungsgeber seine Rechtssetzungsmacht nicht mißbrauchen 57. Es ist daher auch unumstritten, daß der einzelne Abgeordnete oder eine parlamentarische Minderheit sich dagegen zur Wehr setzen können, daß der Bundestag die ihm eingeräumte Gestaltungsbefugnis mißbraucht 58. Hierfür bedarf es keines Rückgriffs auf ein außerhalb der Verhältnismäßigkeitsprüfung angesiedeltes Mißbrauchsverbot, denn ein illegitimer Zweck vermag eine Verkürzung der Rechtsposition des einzelnen Abgeordneten, die mit jeder kollektiven Ausgestaltung von Geschäftsordnungsrechten verbunden ist, bereits unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen 59. Die Frage nach dem Zweck, den der Geschäftsordnungsgeber verfolgt, ist im Interesse eines wirksamen Minderheitenschutzes notwendig, um parteipolitisch motivierte Manipulationen abzuwehren 60. Als unzulässig sind solche Regelungen anzusehen, mit denen nicht das Ziel verfolgt wird, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu gewährleisten oder zu verbessern. Insbesondere ist es unzulässig, wenn die Mehrheit bewußt eine Regelung wählt, um eine mißliebige Gruppe von der Wahrnehmung bestimmter Rechte auszuschließen oder sie politisch zu disziplinieren 61 . Als Indiz für die Verfolgung eines illegitimen Zwecks kann es dienen, wenn bestimmte parlamentarische Rechte zeitgleich mit dem Auftreten neuer parlamentarischer Gruppierungen geändert werden 62.
57
Vgl. für den Gesetzgeber BVerfGE 7, 377 (405 ff.); 23, 50 (56); 30 (316). BVerfGE 10, 4, 13; Klaus-Friedrich Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 74; Linck, DÖV 1975, 689 (693); Scholtis, Minderheitenschutz, S. 223. 59 Für einen Rückgriff auf das im Verwaltungsrecht für die rechtliche Beurteilung von Ermessensentscheidungen entwickelte Mißbrauchsverbot aber Margot Fröhlinger, Die Festsetzung der Fraktionsmindeststärke im Gemeinderat, DVB1. 1982, S. 682 (686); das Mißbrauchsverbot spielt eine Rolle bei der Normanwendung und nicht bei der Normsetzung. Im Parlämentsrecht hat es seine Ausprägung in dem Grundsatz eines fairen Verfahrens gefunden, unten Kapitel 5 Abschnitt 3. 58
60
Fröhlinger, DVB1. 1982, S. 682 (686). Linck, DÖV 1975, S. 689 (693). 62 Fröhlinger, DVB1. 1982, S. 682 (687), aber unter dem Gesichtspunkt des Mißbrauchsverbotes. 61
202
Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz 3. Geeignetheitsprüfung
Verfolgt der Bundestag einen legitimen Zweck, so hängt die verfassungsmäßige Zulässigkeit weiter davon ab, daß das gewählte Mittel geeignet ist, das erstrebte Ziel zu fördern 63. D.h. die kollektive Ausgestaltung eines geschäftsordnungsmäßigen Verfahrensrechts muß überhaupt der Funktionsfähigkeit des Bundestages dienlich sein. Kann ein Recht nur kollektiv wahrgenommen werden, so führt dies stets zur Erschwerung der Rechtsausübung für den einzelnen Abgeordneten. Daher führt die Bindung der Rechtswahrnehmung an ein Quorum in der Regel dazu, daß dieses Recht seltener ausgeübt wird als wenn die Rechtsausübung jedem einzelnen Abgeordneten überlassen bleibt. Fälle in denen die kollektive Ausgestaltung eines Verfahrensrechts bereits ungeeignet ist, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu fördern, sind daher kaum denkbar. 4. Erforderlichkeitsprüfung Während mit der bloßen Überprüfung der Geeignetheit eines Mittels lediglich extreme Verfehlungen ausgeschieden werden können, ergeben sich auf der Stufe der Erforderlichkeit spezifische Schwierigkeiten 64. Erforderlich ist ein Mittel dann, wenn kein schonenderes, aber gleich geeignetes Mittel verfügbar ist 65 . Anders als beim typischen Anwendungsfall der Erforderlichkeitsprüfung, dem staatlichen Eingriff in die Freiheitssphäre des Bürgers, geht es nicht primär um einen Eingriff in eine Rechtsposition, sondern um deren Ausgestaltung im Rahmen einer Verfahrensordnung, die das Parlament befähigen soll, seine verschiedenen Verfassungsaufgaben zu erfüllen 66 . Die offenkundige Scheu vor einer Erforderlichkeitsprüfung, die sowohl beim Bundesverfassungsgericht als auch in der parlamentsrechtlichen Literatur deutlich festzustellen ist, erklärt sich vorwiegend daraus, daß die Auffassung vorherrscht, für eine Erforderlichkeitsprüfung sei eine einfache Zweckstruktur der Handlung notwendig, die eine so komplexe Materie wie eine Verfahrensord-
63
BVerfGE 30, 292 (316); 67, 157 (173); Peter Badura , Staatsrecht, 1986, C Rz. 26. 64 Abmeier , Parlamentarische Befugnisse, S. 70. 65 Paul Kirchhof Mittel staatlichen Handelns, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1989, § 59 Rz. 26; Peter Lerche , Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 19. 66 Abmeier , Parlamentarische Befugnisse, S. 70.
B. Kollektive Minderheitenrechte als Verfassungsproblem
203
nung nicht aufweise 67. Diese Ansicht ist aber bereits deshalb unzutreffend, weil auch im Falle eines Grundrechtseingriffes komplexe Sachlagen entstehen können, insbesondere im Falle einer Grundrechtskollision, wenn verschiedene verfassungsrechtlich gesicherte Rechtspositionen in Einklang zu bringen sind. Auch bei solchen komplexen Rechtslagen wird nicht einfach auf die Erforderlichkeitsprüfung verzichtet. Auch das weitere Argument gegen eine Prüfung von parlamentarischen Verfahrensbestimmungen auf ihre Erforderlichkeit, daß hierdurch der Geschäftsordnungsgeber auf lediglich eine verfassungsrechtliche Regelung von Verfahrensfragen festgelegt werde 68 , ist unzutreffend. Fast immer ist es nämlich eine Prognoseentscheidung, ob und inwieweit kollektive Verfahrensrechte erforderlich sind, um die Funktionstüchtigkeit des Bundestages zu gewährleisten. Die Frage, ob eine andere Ausgestaltung ebenso geeignet aber weniger einschneidend ist, läßt sich kaum je mit Sicherheit feststellen. So fehlen etwa die Maßstäbe, um zu beurteilen, ob ein etwas geringeres Quorum die Funktionstüchtigkeit in gleicher Weise sicherstellt oder ob es die Funktionstüchtigkeit des Bundestages beeinträchtigt, wenn ein Verfahrensrecht nicht als Gruppenrecht, sondern als Abgeordnetenrecht ausgestaltet wird. Die Prognose hierüber muß das Parlament selbst treffen. Dabei lassen sich im Bereich dieser geschäftsordnungsrechtlichen Prognoseentscheidung die gleichen Maßstäbe wie bei gesetzgeberischen Prognoseentscheidungen anlegen. Der Geschäftsordnungsgeber muß deshalb den für eine funktionssichernde Geschäftsordnungsregelung erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermitteln und die Vor- und Nachteile der Regelung umfassend und nachvollziehbar abwiegen69. Ist dies erfolgt, so darf das Bundesverfassungsgericht seine eigene Prognose nicht an die Stelle der parlamentarischen setzen. Hieraus ergibt sich ein Beurteilungsspielraum, der eine verfassungsrechtliche Überprüfbarkeit von Geschäftsordnungsrecht beschränkt. Steht dagegen ausnahmsweise einmal fest, daß ein im Hinblick auf den einzelnen Abgeordneten milderes, die Funktionstüchtigkeit des Bundestages ebenso gewährleistendes Mittel zur Verfahrensregelung vorhanden ist, so ist kein
67
Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 70; Demmler, Der Abgeordnete, S. 288. Diese Gefahr sehen aber Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 72 und Demmler, Der Abgeordnete, S. 287. 69 Vgl. die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstäbe in BVerfGE 39, 210 (226); 50, 50 (51); 50, 290 (33 f.); zum Ganzen auch unten Kapitel 6 Abschnitt 1 im Zusammenhang mit der Rechtserheblichkeit von Verfahrensfehlern im Gesetzgebungsverfahren. 68
204
Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz
Grund ersichtlich, warum der Spielraum des Parlaments nicht eingeengt werden sollte. Um die Erforderlichkeit einer Verfahrensregel zu beurteilen, ist es notwendig, daß die Abwägungen, die das Parlament getroffen hat, bekannt sind. Dies setzt voraus, daß der Blick nicht nur auf das Endergebnis, die Geschäftsordnungsbestimmung, sondern auch auf den Entstehungsprozeß, die Geschäftsordnungsgebung, gerichtet wird. Es ist verfehlt, das Parlament als Geschäftsordnungsgeber von der Aufgabe zu befreien, über alternative Ausgestaltungsmöglichkeiten seines Verfahrens, die möglicherweise eine stärkere Stellung des einzelnen Abgeordneten gegenüber den Fraktionen bewirken, nachzudenken. Allein der Zwang, die Schaffung kollektiver Wahrnehmungszuständigkeiten rechtfertigen zu müssen, könnte dazu führen, daß wieder mehr Rechte von einzelnen Abgeordneten wahrgenommen werden und dem Bild des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG besser entsprochen wird. Die gegenwärtige GOBT wird diesen gewiß nicht überzogenen Anforderungen indes nicht gerecht. Von einer Abwägung oder auch nur der Darlegung der Gründe für die kollektive Ausgestaltung von Verfahrensrechten kann angesichts der Praxis des Bundestages, die bisher gültige Geschäftsordnung ohne jede Aussprache zu übernehmen, keine Rede sein 70 . Die im Einzelfall möglicherweise erfolgte Abwägung bei der ursprünglichen Verabschiedung, kann einen eigenen Abwägungsvorgang nicht ersetzen 71, denn es ist die Pflicht jedes neuen Bundestages, die Erfahrungen des Vorgängerparlaments zu resümieren und gegebenenfalls eigene Schlüsse hieraus zu ziehen. Die Kontinuität der GOBT, deren Ursprünge im letzten Jahrhundert liegen 72 , mag mit darauf zurückzuführen sein, daß ein permanenter Rechtfertigungsdruck des hergebrachten Verfahrens nicht besteht. Dies steht aber einer stetigen Verbesserung der GOBT entgegen und sollte deshalb nicht hingenommen werden. Das Bundesverfassungsgericht hat es bislang für ausreichend gehalten, wenn im nachhinein erklärt wurde, wie der Bundestag beabsichtige, gewisse Regelungen zu handhaben73. Diese Vorgehensweise, die die Versuchung nach (nach-
70
Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 73. Dieser Ansicht ist aber Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 73. 72 Siehe oben Kapitel 2 Abschnitt 2. 73 Beispielhaft BVerfGE 84, 304 (329 f.): „In der mündlichen Verhandlung haben die Vertreter des Bundestages [...] auf Befragen des Senats dargelegt, daß der Bundestag hiernach verfahren wird." und weiter: „Insoweit hat die mündliche Verhandlung erbracht, daß die in §§ 101 S. 3, 102 S. 2 GOBT allgemein - d.h. auch im Hinblick auf die 71
B. Kollektive Minderheitenrechte als Verfassungsproblem
205
träglichen) Schutzbehauptungen nährt, kann nicht befriedigen. Statt dessen muß dem Bundestag als Geschäftsordnungsgeber aufgegeben werden, sich seines Verfahrensrechts von vornherein in hinreichender Weise bewußt zu werden. 5. Angemessenheitspriifung Erweist sich eine Maßnahme im vorgenannten Sinne als erforderlich, um die Funktionstüchtigkeit zu erhalten oder zu verbessern, so ist für eine Prüfung der Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) regelmäßig kein Raum mehr, denn es geht um die Ausgestaltung von Rechtspositionen im Zusammenhang mit einer Verfahrensordnung, die den Bundestag überhaupt erst befähigt, seinen verschiedenen Aufgaben nachzukommen74. Auch ist zu beachten, daß die Wahrnehmung von Abgeordnetenrechten überhaupt erst durch eine parlamentarische Verfahrensordnung ermöglicht wird, die zwangsläufig einer Individualisierung bestimmter Rechtspositionen entgegensteht. Deshalb sind bei der Überprüfung der Angemessenheit einer Geschäftsordnungsbestimmung, die Wechselbeziehungen zwischen dem Gesamtorgan Parlaments und dem einzelnen Abgeordneten zu berücksichtigen. Abgeordnetenrechte sind keine Grundrechte, sondern haben vor allem eine dienende Funktion. Sie sind von vornherein darauf gerichtet, daß der einzelne Abgeordnete gemeinsam mit anderen zur Willensbildung des Gesamtorgans beiträgt. Deshalb muß sich der Abgeordnete Einschränkungen seiner Betätigungsmöglichkeiten eher gefallen lassen als der Grundrechtsträger 75. Daraus folgt, daß die Funktionsfähigkeit des Parlaments, die ja letztlich auch die Voraussetzung dafür ist, daß der einzelne Abgeordnete von seinen Befugnissen überhaupt sinnvoll Gebrauch machen kann, nahezu immer den Vorrang vor der Rechtsposition des einzelnen Abgeordneten hat. Hinzu kommt, daß die Gewichtung zwischen der Funktionstüchtigkeit des Bundestages einerseits und dem Abgeordnetenstatus andererseits vom Parlament selbst vorgenommen werden muß. Daß hierbei die Rechte des Einzelnen keine ausreichende Berücksichtigung finden könnte, erscheint schon deshalb unwahrscheinlich, weil die Entscheidung ja letztlich von den Betroffenen selbst getragen werden muß. Hierbei spielt das parlamentarische Selbstverständnis eine erhebliche Rolle. So wird die Entwicklung weg von einem Rede- hin zu einem Arbeitsparlament tendenziell zu einer Straffung von Verfahrensrechten führen.
Behandlung Großer Anfragen anderer - den Fraktionen oder dem Quorum vorbehaltenen Rechten der Antragstellerin im Hinblick auf ihre eigenen Großen Anfragen nicht vorenthalten werden sollten." 74 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 70. 75 Demmler, Der Abgeordnete, S. 288.
206
Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz
Solange sich diese Entwicklungen im Rahmen dessen bewegen, was mit dem grundgesetzlichen Parlaments- und Demokratieverständnis übereinstimmt, sind Rückwirkungen hiervon auf die Rechtsstellung des einzelnen Abgeordneten verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Nur dann, wenn eine offensichtliche Fehlgewichtung vorliegt, etwa eine die Funktionstüchtigkeit des Parlaments nur geringfügig verbessernde Maßnahme zu sehr einschneidenden Folgen bei dem einzelnen Abgeordneten fuhrt, kann die Angemessenheitsprüfling dazu führen, daß sich eine Regelung auf dem Gebiet des Selbstorganisationsrechts als verfassungswidrig erweist.
IV. Ergebnis Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß die kollektive Ausgestaltung geschäftsordnungsmäßiger Verfahrensrechte voraussetzt, daß entsprechende Geschäftsordnungsbestimmungen den Zweck verfolgen, der Funktionsfähigkeit des Bundestages zu dienen. Des weiteren hat der Geschäftsordnungsgeber bei der Schaffung entsprechender Verfahrensrechte unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten eine Abwägung zwischen der Rechtsstellung des einzelnen Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und dem zu erwartenden Nutzen für die Funktionstüchtigkeit des Verfassungsorgans Bundestag vorzunehmen. Dabei sind auf der Ebene der Erforderlichkeits- und der Angemessenheitsprüfung die Besonderheiten des Geschäftsordnungsrechts zu beachten. Bei der Beurteilung, ob eine Verfahrensbestimmung erforderlich ist, um die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu erhalten oder zu verbessern, kommt dem parlamentarischen Geschäftsordnungsgeber ein weiter Beurteilungsspielraum zu, wenn er den erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und die Vor- und Nachteile der Regelung umfassend und nachvollziehbar abgewogen hat. Dieser Pflicht zur Sachverhaltsermittlung und Abwägung kommt der Geschäftsordnungsgeber gegenwärtig nicht in hinreichendem Maße nach. Dies bewirkt zwar nicht die Verfassungswidrigkeit der GOBT, führt aber dazu, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung von Geschäftsordnungsbestimmungen den an sich vorhandenen weiten Beurteilungsspielraum des Geschäftsordnungsgebers nicht zu beachten hat. Hinsichtlich der Angemessenheitsprüfung ist das Bundesverfassungsgericht auf eine Evidenzkontrolle beschränkt, da die Funktionstüchtigkeit des Bundestages regelmäßig Vorrang vor der Rechtsposition des einzelnen Abgeordneten hat.
C. Keine Abweichung von Minderheitenrechten mit Zweidrittelmehrheit
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C. Keine Abweichung von Minderheitenrechten mit Zweidrittelmehrheit Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß das parlamentarische Verfahren einer starren Regelung nicht zugänglich ist und dementsprechend das Parlamentsrecht die erforderliche Flexibilität aufweisen muß, um den „Wechselbädern" des parlamentarischen Alltags zu genügen. Nach deutscher parlamentarischer Tradition war ein Abweichen von der parlamentarischen Geschäftsordnung daher stets möglich, wenn kein Abgeordneter widersprach 76. Die GOBT bringt auch in diesem Punkt die gewachsene Bedeutung der Fraktionen und die damit einhergehende Schmälerung der Stellung des einzelnen Abgeordneten zum Ausdruck 77 . § 126 GOBT sieht die Möglichkeit vor, daß in Einzelfällen von Bestimmungen der GOBT mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder des Bundestages abgewichen werden kann. Der einzelne Abgeordnete hat daher keine Handhabe, eine Abweichung von der GOBT zu verhindern, auch wenn der Bundestag in der Praxis über Abweichungen selten ausdrücklich Beschluß faßt, sondern in der Regel lediglich vom Bundestagspräsidenten festgestellt wird, daß niemand der Abweichung widerspricht 78. Hierdurch wird zwar der erforderlichen und erwünschten Flexibilität Rechnung getragen, zugleich begründet § 126 GOBT aber die Gefahr, daß im Interesse der Effizienz und Praktikabilität des parlamentarischen Verfahrens auch von solchen Vorschriften abgewichen wird, die dem Schutz parlamentarischer Minderheiten dienen. Ein Minderheitenrecht, das, wenn es wahrgenommen wird, von der parlamentarischen Mehrheit per Beschluß übergangen werden kann, bietet aber keine Gewähr mehr dafür, daß die Anliegen einer Minderheit auch gegen den Willen einer (Zweidrittel-) Mehrheit im parlamentarischen Verfahren beachtet werden müssen. Auf diese Weise verlören auch absolute Minderheitenrechte ihren Sinn, denn eine entsprechend starke Mehrheit hätte es stets in der Hand, diese Rechte im Einzelfall außer Kraft zu setzen. Da es widersprüchlich ist, wenn die GOBT die Ausübung eines Rechts auch durch eine Minderheit zuläßt, diese Möglich-
76
Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 104; Julius Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1. Teil, 1915, S. 48; Paul Laband, Parlamentarische Rechtsfragen, DJZ 8 (1903) S.5 (6); Jost Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10 Rz. 34. 77 Pietzcker, in Schneider/Zeh, § 10 Rz. 34. 78 Troßmann, Parlamentsrecht, § 127 Rz. 3.
208
Fünftes Kapitel: Minderheitenschutz
keit aber jederzeit durch Abweichungsbeschluß außer Kraft setzen kann, kann die Mehrheit zwar die GOBT formell ändern und so auch einmal gewährte Minderheitenrechte ganz abschaffen , im Einzelfall aber, solange die Geschäftsordnung unverändert in Kraft ist, muß sie die Minderheitenrechte respektieren, auch wenn § 126 GOBT ihr formal das Recht einräumt, sie zu übergehen. Die Außerkraftsetzung von Minderheitenrechten im Einzelfall wäre ein Verstoß gegen den infolge des Rechtsstaatsprinzips auch im Parlamentsrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben79. Dieser Grundsatz findet im Parlamentsrecht seine Ausgestaltung als Grundsatz eines fairen Verfahrens 80, der einer Ausnutzung parlamentarischer Verfahrensrechte durch die Mehrheit entgegensteht.
79 Achterberg/Schulte , in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Art. 42 Rz. 48; Troßmann, , Parlamentsrecht, Vor §§ 16-22 Rz. 8; a.A. Pietzcker , in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 35. 80 BVerfGE 1, 144 (149); 80, 188 (219); 84, 304 (332).
Sechstes Kapitel
Folgen von Geschäftsordnungsverstößen Der Frage, welche Rechtsfolgen Geschäftsordnungsverstöße auf parlamentarische Beschlüsse haben, wird nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Im allgemeinen wird mit Hinweis auf die nur interne Bindung der Geschäftsordnung auf die Unbeachtlichkeit „bloßer" Geschäftsordnungsverstöße für die Wirksamkeit außenwirksamer Parlamentsbeschlüsse geschlossen1. Nur solche Verstöße gegen die Geschäftsordnung, die zugleich die Verfassung verletzen, sollen zur Nichtigkeit eines Parlamentsbeschlusses führen 2. Diese Auffassung ist indessen auf Kritik gestoßen3. Sie werde vielen wichtigen Geschäftsordnungsbestimmungen nicht gerecht. Jedenfalls bei gravierenden Verstößen gegen die Geschäftsordnung müsse dies auch Auswirkungen auf die Rechtswirksamkeit der Beschlüsse haben. Neuerdings wird versucht beide Ansichten mit der Begründung zusammenzuführen, die Wesentlichkeit oder Wichtigkeit einer Geschäftsordnungsvorschrift lasse sich nur unter Bezugnahme auf das Grundgesetz beantworten. Von daher unterschieden sich beide Auffassungen praktisch nicht voneinander 4. In diesem Sinne vertritt etwa Rothaug die Ansicht, daß die Verletzung solcher Geschäftsordnungsvorschriften, die dem aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG
1 Theodor Maunz , in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: Mai 1994, Art. 40 Rz. 23; Norbert Achterberg , Parlamentsrecht, 1984, S. 61 f.; Jost Pietzcker , Schichten des Parlamentsrechts, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10 Rz. 42. 2 Maunz , in: Maunz/Dürig, Art. 40 Rz. 23.; Pietzcker , in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 42; Sylvia Kürschner , Das Binnenrecht der Bundestagsfraktionen, 1995, S. 152 f. m.w.N. 3 Versteyl in: v.Münch/Kunig, An. 40 Rz. 18; Hans-Peter Schneider , Alternativkommentar, 2. Auflage, 1989, Art. 40 Rz. 10; Theodor Maunz , Unverrückbarkeit parlamentarischer Beschlüsse in: Festschrift für Werner Weber, S. 299 (303); Peter Füßlein , in: Seifert/Hömig, Grundgesetz, 5. Auflage, 1995, Art. 40 Rz. 3. 4 Kürschner , Binnenrecht, S. 153.
14 Schwerin
210
Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
folgenden Minderheitenschutz oder dem Repräsentationsprinzip dienen, zur Unwirksamkeit der gefaßten Beschlüsse führen müssen5. Bei der Frage, welche Rechtsfolgen Verstöße gegen die GOBT haben, ist nach der Art des solchermaßen verfahrensfehlerhaft zustandegekommenen Beschlusses zu unterscheiden. Die gewichtigste Folge, die ein Geschäftsordnungsverstoß nach sich ziehen kann, ist die Nichtigkeit eines Gesetzesbeschlusses.
A. Im Hinblick auf Gesetzesbeschlusse Die Auffassung von Rothaug hätte zur Folge, daß etwa die Mißachtung auch nur einer einzigen der zahlreichen 6 Bestimmungen, die dem Schutz der parlamentarischen Minderheit dienen, im Gesetzgebungsverfahren zur Unwirksamkeit eines im weiteren Verfahren erfolgenden Parlamentsbeschlusses und damit zur Nichtigkeit des Gesetzes führte. Ob man aus allgemeinen Verfassungsprinzipien so weitreichende Konsequenzen für die Wirksamkeit von Gesetzesbeschlüssen ziehen darf, erscheint zumindest zweifelhaft. Zwar bestimmt Art. 20 Abs. 3 GG, daß die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist. Gerade für den Bereich des Gesetzgebungsverfahrens enthält sich das Grundgesetz jedoch ausdrücklicher Regeln. Es bestimmt in Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG lediglich, daß Gesetze vom Bundestag beschlossen werden. Hierzu ist gemäß Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich. Das Verfahren der Gesetzgebung selbst regelt es nicht. Dem Grundgesetz liegt damit ein Verständnis des Gesetzgebungsverfahrens als ein politischer Prozeß zur Konsens- bzw. Kompromißbildung zugrunde, der sich einer rechtlichen Formalisierung weitgehend entzieht7. Im Gegensatz hierzu stehen Bestrebungen der Gesetzgebungslehre, den Gesetzgebungsprozeß unter Rückriff auf allgemeine Verfassungsprinzipien, wie Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip, rechtlich zu erfassen 8. 5 Karl-Hans Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, 1977, S. 70. 6 Vgl. die Übersicht bei Peter Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1983 bis 1991, 1994, S. 996 ff. 7 Fritz Ossenbühl, Verfahren der Gesetzgebung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 63 Rz.6. 8 Vgl. Hans-Joachim KonradParlamentarische Autonomie und Verfassungsbindung im Gesetzgebungsverfahren, DÖV 1971, S. 80 ff., Gunther Schwerdtfeger, Optimale
A. Im Hinblick auf Gesetzesbeschlüsse
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I. Meinungsstand zur Frage der Rechtsfolgen von Verfahrensfehlern im Gesetzgebungsverfahren Die Frage, welche Art von Verfahrensverstößen die Wirksamkeit eines Gesetzes berühren, wird von der Gesetzgebungslehre losgelöst von den konkreten Bestimmungen des selbstgesetzten Parlamentsrechts vor allem unter dem Gesichtswinkel behandelt, ob es bei der Gesetzgebung eine Verfassungspflicht gibt, eine bestimmte Methodik zu beachten9. Die Beantwortung der Frage, ob der Verstoß gegen allgemeine Verfassungsprinzipien die Wirksamkeit eines Gesetzes berührt, ist auch für die Beurteilung der Rechtsfolgen von Geschäftsordnungsverstößen relevant, da Geschäftsordnungsvorschriften - beispielsweise im Bereich des Minderheitenschutzes - häufig eine Ausprägung solcher Verfassungsprinzipien sind. Sollte sich erweisen, daß sich aus allgemeinen Verfassungsprinzipien Vorgaben für das Gesetzgebungsverfahren ergeben, so kann jedenfalls die Übertretung solcher Geschäftsordnungsvorschriften, die Verfassungsrecht konkretisieren, für die verfassungsrechtliche Beurteilung eines Gesetzes beachtlich sein. Aufgrund der Begrenzung dieser Arbeit auf das parlamentarische Verfahrensrecht, werden im folgenden nur jene Aspekte der Gesetzgebungslehre beleuchtet, die den parlamentarischen Teil des Gesetzgebungsverfahrens betreffen. /. Der Gesetzgeber schuldet nur das Gesetz Teile der Literatur warnen vor einer rechtlichen Determinierung des Gesetzgebungsverfahrens. Der Gesetzgeber schulde nichts als das Gesetz10. Binde man den Gesetzgeber an bestimmte verfassungsgerichtlich nachprüfbare Verfahrensprinzipien, so schaffe man eine Art „Gesetzgebungsverwaltungsverfahrensge-
Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: Festschrift für Ipsen, 1977, S. 173 ff.; Hans-Joachim Menget, Grundvoraussetzungen demokratischer Gesetzgebung, ZRP 1984, S. 153 ff. 9 Vgl. insbesondere Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, S. 173 ff.; Detlef Mertens, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Sorgfalts- oder Verfassungspflicht, in: Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, hrsg. von Hermann Hill, 1988, S. 80 ff. jeweils m.w.N. 10 Klaus Schiaich, Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (109); Christoph Gusy\ Das Grundgesetz als normative Gesetzgebungslehre?, ZRP 1985, S. 291 (298).
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Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
setz" 11 , das dem Gesetzgeber, der eben nicht Verwaltung sei, nicht gerecht werde. Nicht der Gesetzgeber, sondern das Gesetz sei Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens 12. Dementsprechend löse sich das Gesetz mit seiner Verkündung vom Prozeß seiner Entstehung13. Aus materiellen Verfassungsnormen dürften deshalb keine Handlungsmaßstäbe für das Gesetzgebungsverfahren gefolgert werden 14 . Das Grundgesetz habe nicht zufällig einen besonderen Akzent gerade auf die inhaltliche Vereinbarkeit von Verfassung und Gesetz gelegt, denn es gebe „keinen theoretischen Zusammenhang zwischen ,richtigem' Verfahren und »richtigem' Verfahrensziel" 15. 2. Verfassungsrechtliche
Optimierungspflicht
Schwerdtfeger hält dagegen den Gesetzgeber für verfassungsrechtlich verpflichtet, bei der Gesetzgebung eine optimale Methodik einzuhalten16. Er unterscheidet dabei zwischen einem inneren und einem äußeren Gesetzgebungsverfahren. Das innere Gesetzgebungsverfahren betrifft nach Schwerdtfegers Definition die Methodik der Entscheidungsfindung und teilt sich in die Heranziehung, Aufbereitung und Abwägung der einschlägigen Fakten, Interessen und Gesichtspunkte auf 17 . Es finde anders als das äußere Gesetzgebungsverfahren, das Schwerdtfeger als jene Regelungen beschreibt, die die Verfassung oder die parlamentarische Geschäftsordnung für das Gesetzgebungsverfahren treffen, keinen positivrechtlichen Niederschlag. Der Gesetzgeber sei nicht frei bei der Gestaltung des inneren Gesetzgebungsverfahrens 18: Gesetze seien das Werk von Menschen, welche bei der Gesetzgebung wie bei jeder anderen staatlichen Tätigkeit dem Recht unterworfen seien. Im Gegensatz zu der emotionsgeladenen unmittelbaren Demokratie wolle das demokratische Repräsentationssystem ein möglichst rationales Einzelhandeln im Gesetzgebungsverfahren sicherstellen. Zudem diene die methodische Anbindung des Gesetzgebers dem Grundrechtsschutz. Der Grundrechtseingriff sei erst zulässig, wenn das Gesetzgebungsverfahren so rational wie möglich abgelaufen 11
Schiaich , VVDStRL 39 (1981), S. 99 (109). Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (109); Gusy, ZRP 1985, S. 291 (298). 13 Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 99 (108). 14 Gusy, ZRP 1985, S. 291 (298). 15 Ebenda. 16 Schwerdtfeger , in: Festschrift für Ipsen, S. 173 ff. 17 Schwerdtfeger, in: FS für Ipsen, S. 173 f.; den Gedanken greift Werner Hugger , Gesetze - Ihre Vorbereitung, Abfassung und Prüfung, 1983, S. 52 auf. 18 Schwerdtfeger , in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (177 f). 12
A. Im Hinblick auf Gesetzesbeschlüsse
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sei. Nur wenn der Gesetzgeber sich einer optimalen Gesetzgebungsmethodik bediene, sei durchgehender Schutz gegen gesetzgeberische Willkür gewährleistet. Der Gesetzgebungsmethodik komme daher zentrale rechtsstaatliche und demokratische Bedeutung zu. Schwerdtfeger unterteilt die Verfassungspflicht des Gesetzgebers zu Verwendung einer optimalen Methodik in eine Heranziehungs-, Aufbereitungs- und Abwägungspflicht im Gesetzgebungsverfahren 19. Um seiner Heranziehungspflicht zu genügen, habe der Gesetzgeber alle kollidierenden Verfassungsdirektiven in sein Verfahren einzubeziehen. Fehle es an inhaltlichen Fixierungen im Grundgesetz, so habe er die Gesichtspunkte heranzuziehen, welche für sein Gesetzgebungsverfahren vernünftigerweise von Bedeutung seien20. Die Aufbereitungspflicht sieht Schwerdtfeger darin, daß vom Gesetzgeber der „status quo und die in Betracht kommenden neuen Lösungsmöglichkeiten nach Ziel und Mittel so klar und detailliert wie möglich zu analysieren und darzustellen" 21 seien. Dabei müsse er alternative Lösungsmöglichkeiten in das Gesetzgebungsverfahren einbeziehen, wenn diese entweder auf der Hand lägen oder in der Öffentlichkeit erheblich diskutiert würden 22 . Der Abwägungspflicht genüge der Gesetzgeber nur, wenn er „die einbezogenen Gesichtspunkte politisch wertend ins Verhältnis gesetzt, hierbei gewichtet und dann saldiert" 23 habe. Diese Abwägung sei real und offen vorzunehmen 24. Beachte der Gesetzgeber eines dieser Prinzipien nicht, so liege nicht in jedem Fall ein relevanter Fehler vor, sondern nur dann, wenn nicht auszuschließen sei, daß ansonsten ein anderes oder kein Gesetz ergangen wäre 25 . Die Folge eines in diesem Sinne relevanten Verfahrensfehlers sei, daß das Gesetz nicht nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustandegekommen sei (Art. 81 Abs. 1 GG) und der Bundespräsident es dementsprechend nicht ausfer-
19 Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (182); ähnlich Mengel, Grundvoraussetzungen demokratischer Rechtssetzung, ZRP 1984, S. 153 (159 f.). 20 Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (179). 21 Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (180) unter Bezugnahme auf BVerfGE 19, 330 (340). 22 Ebenda. 23 Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (182) (Hervorhebung wie im Original). 24 Ebenda. 25 Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (178).
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Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
tigen und verkünden dürfe 26 . Ein dennoch verkündetes Gesetz sei verfassungswidrig. Hieraus folge aber nicht in jedem Fall die Nichtigkeit des Gesetzes. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand löse sich das Gesetz nämlich immer mehr von der konkreten historischen und politischen Situation, in der es entstanden sei 27 . Aus Gründen der Rechtssicherheit schlägt Schwerdtfeger daher vor, das Gesetz nur dann als nichtig anzusehen, wenn der Verfahrensfehler in Anlehnung an die Frist bei der Verfassungsbeschwerde gemäß § 93 Abs. 2 BVerfGG innerhalb eines Jahres gerügt wird 2 8 . Prozessual könnten Verstöße gegen die Verfassungsprinzipien des inneren Gesetzgebungsverfahrens im Wege der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle sowie der Verfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden 29. 3. Prozeßordnung des inneren Gesetzgebungsverfahrens Ähnlich wie Schwerdtfeger fordert Mengel eine Verrechtlichung des inneren Gesetzgebungsverfahren und unternimmt den Versuch, verfassungsrechtliche Determinanten für eine Prozeßordnung des inneren Gesetzgebungsverfahrens aufzustellen 30. Aus der Gleichsetzung von Parlamentsbeschluß und Volkswillen folgert er, daß demokratische Rechtssetzung auch gewisse Bedingungen erfüllen müsse, die vom Volkswillen zum Parlamentsbeschluß führen 31. Erste Voraussetzung hierfür sei die Legitimation der Entscheidenden. Die inhaltliche Entscheidung über die Ausgestaltung des Gesetzes müsse vom Parlament selbst getroffen werden und dürfe nicht an ganz anderer dazu nicht legitimierter Stelle fallen. Insbesondere die Exekutive dürfe die Gesetzgebung nicht präjudizieren 32.
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Schwerdtfeger , in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (186). Schwerdtfeger , in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (187). 28 Schwerdtfeger , in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (186 f.). 29 Schwerdtfeger , in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (187). 30 Hans Joachim Mengel , Grundvoraussetzungen demokratischer Gesetzgebung, ZRP 1984, S. 153 ff. 31 Mengel , ZRP 1984, S. 153 (154). 32 Mengel , ZRP 1984, S. 153 (155 f.). 27
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Die Entscheidungsfindung selbst müsse transparent erfolgen, damit der Bürger in die Lage versetzt werde, „das Zustandekommen von Gesetzen, sowohl das Warum als auch das Wie nachvollziehen zu können" 33 . Im parlamentarischen Bereich folge hieraus, daß nicht nur das Plenum, sondern auch sämtliche Ausschüsse grundsätzlich öffentlich zu tagen hätten34. Der einzelne Abgeordnete müsse frei entscheiden. Hierfür sei insbesondere erforderlich, daß der zu entscheidende Sachvorgang derartig aufbereitet werde, daß die Parlamentarier in voller Freiheit zwischen Alternativen entscheiden könnten35. Über die Kenntnis der möglichen Alternativen hinaus müßten dem Abgeordneten die Motive, Ziele, Auslöser, Folgen, Kosten des Entscheidungsprojekts sowie die Stellungnahmen der Betroffenen, die Einflußnahme von Interessengruppen und die Regelungen, die in anderen Ländern zu gleichen Problemen schon existieren und die gemachten Erfahrungen bekannt sein. Zudem müßten ausreichende zeitliche Rahmenbedingungen gewährleistet werden 36. Unklar ist, welche rechtlichen Konsequenzen Mengel zieht, wenn eines der von ihm verfassungsrechtlich vorausgesetzten Kriterien im Gesetzgebungsverfahren nicht erfüllt wird 3 7 . Da er aber die „optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht" 38 und die Beachtung der von ihm aufgestellten Kriterien als „unabdingbare Grundvoraussetzungen demokratischer Gesetzgebung"39 ansieht, von deren Beachtung die demokratische Legitimität der getroffenen Entscheidung abhänge, wird er bei Nichtbeachtung auf die Verfassungswidrigkeit des so entstandenen Gesetzes rekurrieren müssen. 4. Die Position des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat eine eindeutige Aussage zu den verfassungsrechtlichen Verfahrenspflichten des Gesetzgebers bis heute vermieden. Einerseits neigt es zwar dazu, Verfahrensfehler nicht mit der gleichen Strenge zu ahnden, wie materiellrechtliche Fehler. In zwei Entscheidungen hat es fest33
Mengel, ZRP 1984, S. 153 (156). Mengel, ZRP 1984, S. 153 (157); zu dem Erfordernis der Ausschußöffentlichkeit, wenn diese Beschlußzuständigkeiten des Bundestages wahrnehmen, oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D II 3. 35 Mengel, ZRP 1984, S. 153 (157). 36 Mengel, ZRP 1984, S. 153 (157 f.). 37 Er verspricht zwar auf S. 156 eine Klärung auch dieser Frage, geht aber im folgenden nicht mehr darauf ein. 38 Mengel, ZRP 1984, S. 153 (160). 39 Mengel, ZRP 1984, S. 153 (155). 34
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Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
gestellt, daß Verfahrensfehler nur dann zur Nichtigkeit führen sollen, wenn eine evidente Verfassungsverletzung vorliegt 40 . Andererseits hat das Bundesverfassungsgericht aber angedeutet, daß ein verfassungsrechtlich relevanter Fehler etwa dann vorliegen kann, wenn vor Abschluß der Gesetzesberatungen vollendete Tatsachen in dem Sinne geschaffen werden, „daß von einer freien und unabhängigen Entscheidung der Abgeordneten nicht mehr gesprochen werden könnte" 41 , ohne auf Evidenzerfordernisse einzugehen. Darüber hinaus hat es einmal festgestellt, daß wenn das vom Bundestag bei der Verabschiedung eines Gesetzes eingeschlagene Verfahren einen Verstoß gegen zwingendes Verfassungsrecht aufweist und der Gesetzesbeschluß auf diesem Verstoß beruht, das Gesetz der Gültigkeit entbehrt 42. Hier führt das Gericht neben dem Erfordernis eines Verstoßes gegen zwingendes Verfassungsrecht den Gesichtspunkt der Kausalität des Verfahrensverstoßes für das Zustandekommen des Gesetzes an. Auf diese Weise tritt neben das Evidenzkriterium der Kausalitätsgedanke zur Relativierung der Rechtsfolgen von Rechtsverstößen im Gesetzgebungsverfahren. In einer Entscheidung zur kommunalen Neugliederung stellte das Bundesverfassungsgericht fest, daß nachzuprüfen sei, ob der Gesetzgeber den für seine Maßnahmen erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt und dem Gesetz zugrundegelegt habe43. Der Gesetzgeber müsse die Gemeinwohlgründe und die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung umfassend und in nachvollziehbarer Weise abwägen und bei der Prüfung, ob der gesetzgeberische Eingriff geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sei, müßten die Gebote der Sach- und Systemgerechtigkeit beachtet werden 44 . Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Berufsausübungsregeln untersuchte das Gericht, „ob der Gesetzgeber sich die Kenntnis von der zur Zeit des Erlasses des Gesetzes bestehenden tatsächlichen Ausgangslage in korrekter und ausreichender Weise verschafft hat" 45 . Auf gleicher Ebene argumentiert es in der Mitbestimmungsentscheidung, wenn es bei der Beurteilung der gesetzgeberischen Prognoseentscheidung feststellt, daß zu prüfen sei, ob „der Gesetzge40
BVerfGE BVerfGE 42 BVerfGE 43 BVerfGE BVerfGG. 44 BVerfGE 45 BVerfGE 41
31, 47 (53); 34, 9 (21 ff., 25). 29, 221 (234). 44, 308 (313). 50, 50 (51), Beschluß des Zweiten Senats gemäß § 93 a Abs. 3 50, 50 (51). 39, 210 (226).
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ber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat" 46 . Soweit indessen über die Zielvorstellungen, Sachabwägungen, Wertungen und Prognosen des Gesetzgebers zu befinden ist, hält sich das Verfassungsgericht nicht für befugt, sich an die Stelle des Gesetzgebers zu setzen. Vielmehr hat es nach eigener Überzeugung seine Nachprüfung darauf zu beschränken, ob die Einschätzungen und Entscheidungen des Gesetzgebers offensichtlich fehlerhaft sind oder der verfassungsmäßigen Wertordnung widersprechen 47. Diese Entscheidungen zeigen, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Frage, ob ein Gesetz verfassungswidrig oder verfassungsgemäß ist, nicht allein das Endergebnis beurteilt. Es richtet seine Aufmerksamkeit vielmehr auch auf das verfahrensmäßige Zustandekommen und die Gründe, die zu einem bestimmten Gesetz gefuhrt haben. Die Intensität dieser Prüfung hängt allerdings vom materiellen Gehalt des zu beurteilenden Gesetzes ab. Bei grundrechtsbeschränkenden Gesetzen werden die Gründe mit denen der Gesetzgeber den Grundrechtseingriff rechtfertigt einer genauen Untersuchung unterzogen. Gleiches gilt für Gesetze, die in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG eingreifen. Stets geht es dabei um die Beurteilung einer gegenwärtigen Situation oder die Prognose einer künftigen Entwicklung. Nur wenn der Gesetzgeber „die ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel benutzt hat, müssen Irrtümer über den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung in Kauf genommen werden" 48 . Aus diesem Grund überprüft das Gericht auch das Gesetzgebungsverfahren, soweit es die Informationsbeschaffung betrifft. Gleiches gilt für alle Gesetze, die eine verfassungsmäßig abgesicherte Rechtsposition beschränken, weil sie darauf untersucht werden, ob sie von sachgerechten und vernünftigen Erwägungen des Allgemeinwohls getragen werden 49. Dies setzt eine Überprüfung der gesetzgeberischen Vorstellungen und eben auch ihrer Plausibilität voraus. Bei dieser Untersuchung aber kann nicht außer acht bleiben, ob im Gesetzgebungsverfahren die zur Verfügung stehenden Informationsquellen ausreichend genutzt wurden. Das Bundesverfassungsgericht stellt demnach folgende Mindestanforderungen an das Gesetzgebungsverfahren:
46 47 48 49
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
50, 50, 39, 36,
290 (333 f.). 50(51). 210 (226). 47 (60); 39, 210 (230).
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Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
Der Gesetzgeber hat die Gründe darzulegen, die ihn zum Erlaß eines bestimmten Gesetzes veranlaßt haben. Stellt sich heraus, daß der Gesetzgeber sich von unsachgemäßen Annahmen hat leiten lassen, so führt dies zur Verfassungswidrigkeit des so zustandegekommenen Gesetzes. Zudem muß der Gesetzgeber die zur Verfügung stehenden Informationsquellen ausnutzen sowie die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung umfassend und in nachvollziehbarer Weise gegeneinander abwägen. Genügt der Gesetzgeber diesen verfahrensmäßigen Mindestanforderungen, so konstituieren sie eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung einer Norm zu beachten hat. Genügt das Gesetzgebungsanforderungen diesen Anforderungen nicht und erweisen sich die Einschätzungen des Gesetzgebers bei der verfassungsmäßigen Überprüfung des Gesetzes (möglicherweise erst lange nach dessen Erlaß) als unzutreffend, so führt dies zur Nichtigkeit der betreffenden Norm. Ein Mangel im Gesetzgebungsverfahren führt daher nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich nicht eo ipso zur Verfassungswidrigkeit, sondern beeinflußt die Kontrolldichte der Überprüfbarkeit des Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht. Nur dann, wenn im Gesetzgebungsverfahren evident gegen zwingendes Verfassungsrecht verstoßen wurde und dieser Verstoß kausal für das Zustandekommen des Gesetzes war, führt allein der Verfahrensfehler zur Verfassungswidrigkeit der Norm.
II. Eigener Ansatz Die Gesetzgebung ist eine Form staatlicher Willensbildung und Willensäußerung im Rahmen der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes50. Das Endprodukt des Gesetzgebungsverfahrens, das Gesetz, ist kein Werk Gottes oder Ausdruck höherer Vernunft, sondern von Menschen geschaffen, die bei der Gesetzgebung wie bei jeder anderen Tätigkeit auch Verfehlungen erliegen können 51 . Es besteht daher kein Anlaß zur Verinnerlichung eines mystisch übersteigerten Gesetzesverständnisses52 oder zu einer unkritischen Verehrung des positiven Rechts53. In einer Demokratie, in der letztlich das Volk selbst der Gesetzgeber ist, müssen die Entstehung und der Inhalt der Gesetze rational kon50
Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, 1995, Rz. 503; bereits für die WRV Heinrich Triepel, Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung, AöR 39 (1920), S. 456 ff. (472). 51 In diesem Sinne auch Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (177). 52 Schwerdtfeger , in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (177); Mengel , ZRP 1984, S. 153 (154). 53 Peter Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 14.
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trollierbar und allgemein einsehbar sein 54 . Aus diesem Grund wäre es unangebracht, das Gesetzgebungsverfahren jeglicher rechtlichen Kontrolle zu entziehen. Gleichwohl erscheint es problematisch, von einem „bloßen" Verfahrensfehler auf die Nichtigkeit eines Gesetzes zu schließen. Denn während ein Gesetz, das inhaltlich gegen die Verfassung verstößt, von der Rechtsordnung absolut mißbilligt wird, wäre es bei einem verfahrensfehlerhaft zustandegekommenes Gesetz möglich, das gleiche Gesetz in einem ordnungsmäßigen Verfahren erneut zu erlassen, ohne daß Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit bestünden55. Das fertige Gesetz läßt daher auch keinen Fehler erkennen. Dieser wird erst sichtbar, wenn der Prozeß der Entscheidungsfindung überprüft wird 56 . Um zu beurteilen, welche Auswirkungen ein Verfahrensfehler haben kann, muß daher der Zweck des Gesetzgebungsverfahrens beleuchtet werden. Die Gesetzgebung ist eine Form politischer Willensbildung. Ihre Notwendigkeit ergibt sich daraus, daß die grundlegenden Fragen des Gemeinwesens, die grundgesetzlich nicht geregelt sind und der Normierung bedürfen, in allgemeine Regeln zu fassen sind 57 . Diese Regeln müssen durch ein demokratisches Verfahren legitimiert werden 58. Im demokratischen Staat wird die Legitimation einer Norm am besten durch die Entscheidung eines aus freien Wahlen hervorgegangenen Parlaments vermittelt 59 . Deshalb ist in der demokratischen Ordnung des Grundgesetzes die Gesetzgebung unlösbar mit dem Parlament verbunden, auch wenn andere Organe insbesondere unter bundesstaatlichen Aspekten an ihr beteiligt sind 60 . Zur Herbeiführung eines Gesetzesbeschlusses ist gemäß Art. 77 Abs.l S. 1, 42 Abs. 2 S. 1 GG ein Beschluß der Mehrheit des Bundestages erforderlich. 1. Legitimation von Gesetzen durch das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren Außer der Beachtung des Mehrheitsprinzips scheinen dem Bundestag durch das Grundgesetz bei seiner Entscheidung keine verfahrensmäßigen Fesseln 54
Noll, Gesetzgebungslehre, S. 15. Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (174). 56 Ebenda. 57 Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 503; Michael Bender, Die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung gerichtlicher Entscheidungen, 1991, S. 277. 58 Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 503; Konrad, DÖV 1971, S. 80 (81). 59 Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 504; Konrad, DÖV 1971, S. 80 (81). 60 Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 504. 55
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Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
angelegt zu werden. Das Mehrheitsprinzip allein vermittelt jedoch noch keine Legitimation. Es ist lediglich eine „Verlegenheitslösung" 61 , die erforderlich ist, da Konsens nur selten herzustellen ist. Deshalb kann sich eine rechtsstaatliche Demokratie, wie sie dem Bonner Grundgesetz zugrundeliegt, auch nicht mit der Legitimation ihrer Gesetzgebung durch eine formale Entscheidung des Parlaments begnügen62. Dieser Gedanke äußert sich deutlich in den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts 63 zu den Verfahrenspflichten des Gesetzgebers. Erst wenn feststeht, daß der Gesetzgeber den für den Erlaß seines Gesetzes erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt hat und die Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung umfassend und nachvollziehbar abgewogen hat, kann beurteilt werden, ob das Gesetzesvorhaben überhaupt im Interesse des Gemeinwohls zu rechtfertigen und darüber hinaus verhältnismäßig ist. Schon aus diesem Grund ist die Auffassung, der Gesetzgeber schulde nichts als das Gesetz und die damit verbundene Reduzierung des Normenkontrollverfahrens auf eine reine Ergebniskontrolle unzutreffend. Jedes Grundrechte berührende Gesetz muß sich materiellrechtlich am Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Im Rahmen dieser Prüfung mit den Elementen Eignung, Erforderlichkeit, Zweck-Mittel-Relation gelangt man prüfungslogisch in das Verfahrensstadium hinein 64 . Fraglich ist aber, ob nicht darüber hinaus weitere Schlußfolgerungen aus dem Grundgesetz für das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren zu ziehen sind. Die von Schwerdtfeger und Mengel hierzu aufgestellten Prinzipien scheinen allerdings schon deshalb problematisch, weil hier der Versuch unternommen wird, von „außen" Regeln an das „innere" parlamentarische Verfahren heran-
61 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Auflage, 1993, S. 196; kritisch zu dem Gedanken der Legitimation durch Verfahren, Reinhold Zippelius, Legitimation durch Verfahren?, Festschrift für Karl Larenz, 1973, S. 293 ff., der zu Recht darauf hinweist, daß die Prinzipien einer konsensfähigen Abwägung der Interessen nicht in einer bloßen Verfahrensweise gefunden werden können, sondern in rechts- und sozialethischen Vorstellungen, die in einer Gemeinschaft herrschen (S. 303). Ein Widerspruch dazu, daß die Einhaltung bestimmter Verfahrensprinzipien Voraussetzung für die Legitimation der Entscheidung ist, liegt hierin indessen nicht. Es besagt nur, daß allein die Einhaltung eines bestimmten Verfahrens eine Entscheidung nicht zu legitimieren vermag. Die Ordnung des Grundgesetzes kommt dieser Erkenntnis insbesondere durch die Gewährung von Grundrechten nach. 62 Konrad, DÖV 1971, S. 80 (81). 63 Siehe oben Kapitel 6 Abschnitt 1 A IV. 64 Fritz Ossenbühl, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 39 (1981), S. 189.
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zutragen, ohne Rücksicht auf die tatsächlichen parlamentarischen Gegebenheiten zu nehmen. Dies gilt etwa für die Entwicklung einer Verfassungspflicht des Gesetzgebers zur optimalen Heranziehung, Aufbereitung und Abwägung des einschlägigen Entscheidungsmaterials 65. Auswertbar werden die dem Gesetzgeber vorliegenden Informationen nämlich erst in bezug auf das konkrete Gesetzgebungsverfahren. Hierzu müssen feststehende und allgemein verwendbare Rechtsvorschriften vorhanden sein, ohne die ein so komplexes Verfahrenssystem wie das Gesetzgebungsverfahren überhaupt nicht konstituiert werden könnte 66 . Es muß bekannt sein, „wie man ein solches Verfahren beginnt, an wen man sich mit was zu wenden hat, wer welche Weichen stellen kann und mit welchen Möglichkeiten des Ablaufs normalerweise zu rechnen ist, damit das Verhalten aller Beteiligten so weit voraussehbar ist, daß in der Sache selbst ein komplizierteres Spiel von Rücksichten und Gegenrücksichten, zweiten Absichten und vorbeugenden Verzichten, Zeitplanungen und miteingebauten Rückzugsmöglichkeiten beginnen kann. Erst innerhalb erkennbarer Systemgrenzen, wenn beliebiges Verhalten ausgeschlossen ist, kann so beziehungsreicher Sinn kultiviert werden." 67 Es ist die Aufgabe des Parlamentsrechts, diese Systemgrenzen für das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren bereitzustellen. Dabei ist es aufgrund der hohen Komplexität des Entscheidungsprozesses und der notwendigen Flexibilität des Verfahrens nicht möglich, ein starres Reglement zu schaffen. Wesentliche Regeln sind informeller Art, werden von den politischen Kräften von Mal zu Mal ausgehandelt oder je nach Kräfteverhältnis verändert. Es fragt sich aber, ob nicht ein äußerster Rahmen besteht, auf den unbedingter Verlaß sein muß und der nicht überschritten werden darf, ohne das gesamte Verfahren in Frage zu stellen. Es erscheint zumindest zweifelhaft, ob dieser so beschaffen sein sollte, daß vom Gesetzgeber die Beachtung einer optimalen Methodik gefordert wird. Gesetze sind stets Produkte des politischen Kompromisses und als solche Ausdruck einer demokratischen Mehrheitsentscheidung 68. Ihre maßgebliche praktische Grundlage ist daher auch nicht ihre sachliche Richtigkeit oder innere Vernunft, sondern ihre praktische Akzeptanz 69. Ein in diesem Sinne methodisch
65
Schwerdtfeger, in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (178 ff.). Luhmann, Legitimation, S. 180. 67 Luhmann, Legitimation, S. 180. 68 Fritz OssenbühU Verfahren der Gesetzgebung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 63 Rz. 7. 69 Ebenda. 66
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Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
optimales Gesetzgebungsverfahren muß daher ein wesentliches Augenmerk darauf richten, daß der Zielkonflikt zwischen Wahrheitsfindung und politischer Profilierung in einer Weise kanalisiert wird, die zu gesamtgesellschaftlich tragfähigen Ergebnissen fuhrt. Dies kann nicht bedeuten, daß es dem Parlament selbst überlassen bleibt, sein Verfahren nach eigenem Gutdünken zu gestalten. Zu groß wäre die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit, die dem Wesen eines demokratischen Rechtsstaats ebenso abträglich wäre wie eine Tyrannei der Minderheit 70 . Eben weil im Gesetzblatt „nicht der Wille der Mehrheit der Parlamentarier , sondern das Gesetz des Parlaments" 7I steht, kann die Überprüfung des Gesetzgebungsverfahrens anhand allgemeiner Verfassungsprinzipien nicht zum Tabu gemacht werden. Die Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip ist keine Feststellung der Wahrheit, denn mit seiner Anerkennung für die Beschlußfassung ist zugleich die Anerkennung eines von der Mehrheit abweichenden, dabei sachlich gleichberechtigten Standpunktes verbunden 72. Aus diesem Grund enthält Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG das Gebot prinzipieller Öffentlichkeit der Verhandlung, durch die das Wahlvolk in die Lage versetzt wird, sich ein eigenes Urteil über die Qualität der Argumente und Auffassungen der Abgeordneten und Parteien im Bundestag zu bilden 73 . Erst die allgemeine Beteiligung an der politischen Willensbildung im Parlament und der hieraus hervorgehende Prozeß allgemeiner geistig-politischer Diskussion und Auseinandersetzung begründen das innere Recht und die Legitimation der Mehrheit, Entscheidungen der bzw. für die Volksvertretung zu treffen 74 . Die Verurteilung des Gesetzgebers, der mit Blick auf die Wählergunst seine Gesetze womöglich „nicht sachgerecht, sondern wählergerecht ausgestaltet"75, ist dabei unangebracht. Es zählt zu den Wesensmerkmalen einer Demokratie, daß die Volksvertreter die Interessen der Bevölkerung im Auge behalten und bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. Es muß sichergestellt sein, daß der
70 Hans Kelsen , Das Problem des Parlamentarismus, 1925, S. 31; Rudolf Laun, Mehrheitsprinzip, Fraktionszwang und Zweiparteiensystem, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 175 ff. (191 f.); Werner Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, S. 225. 71 Schiaich , VVDStRL 39, 99 (109), Hervorhebungen wie im Original. 72 Sondervotum Mahrenholz BVerfGE 70, 324/366 (369). 73 Sondervotum Mahrenholz BVerfGE 70, 324/366 (369). 74 Sondervotum Böckenförde BVerfGE 70, 324/380 (381). 75 Detlef Merten , Optimale Methodik der Gesetzgebung als Sorgfalts- oder Verfassungspflicht, in: Zustand und Perspektiven der Gesetzgebung, hrsg. von Hermann Hill, 1989, S. 81.
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Wähler Anteil an der parlamentarischen Entscheidungsfindung nimmt. Hierzu ist es erforderlich aber eben auch ausreichend, wenn allen im Parlament vertretenen Kräften die Gelegenheit eingeräumt wird, ihre Vorstellungen in das parlamentarische Verfahren ein- und so über die Öffentlichkeit parlamentarischer Verfahren dem Wahlvolk nahezubringen. Ein Verfahren aber, in dem die Möglichkeit des politischen Kompromisses nicht mehr gegeben ist und das der Minderheit die Möglichkeit nimmt, ihren Standpunkt im parlamentarischen Verfahren darzustellen und öffentlich zu machen, genügt parlamentarischen Mindestanforderungen nicht. Eine in einem solchen Verfahren getroffene Entscheidung entbehrte der demokratischen Legitimität und verstieße gegen Art. 20 Abs. 2 GG. Ein demokratisches Verfahren muß so ausgestaltet sein, daß in der Praxis die Möglichkeit besteht, methodisch einwandfrei zu dem Ergebnis - dem Gesetz zu kommen. Es müssen deshalb parlamentarische Mechanismen vorhanden sein, die dem Parlament die Möglichkeit eröffnen, alle Informationen heranzuziehen, auszuwerten und abzuwägen, wie Schwerdtfeger es fordert. Nur kann eben die Einhaltung dieser Methodik dem Parlament nicht von außen vorgegeben werden, sondern lediglich von innen eingefordert werden. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, den „inneren" Gang der Gesetzgebung vom „äußeren" Gesetzgebungsverfahren loszulösen76. Es sind die in der Verfassung und der Geschäftsordnung vorgegebenen Regeln des „äußeren" Verfahrens, die den Rahmen bilden und die Voraussetzungen schaffen für das „innere" Gesetzgebungsverfahren. Beides ist untrennbar miteinander verwoben, denn ein optimales „inneres" Verfahren bedingt ein optimales „äußeres" Verfahren. Ein in diesem Sinne optimales Verfahren setzt voraus, daß alle im Parlament vertretenen Kräfte in fairer Weise so an der Willensbildung beteiligt sind, daß alle gesellschaftlich relevanten Alternativen erörtert und alle verfügbaren Informationen verwertet werden können. Der rechtliche Rahmen muß dem Parlament daher zumindest die Möglichkeit einräumen, ein solchermaßen einwandfreies Verfahren durchzuführen und auch eine parlamentarische Minderheit muß die Einhaltung dieses Verfahrens erzwingen können. Eine Verpflichtung des Parlaments stets so zu verfahren, ist hiermit nicht verbunden. Sie bedeutete eine Entmündigung des Gesetzgebers und mißachtete den Primat der Politik. Nur wenn ein in diesem Sinne parlamentarisch wenngleich auch nicht notwendigerweise methodisch optimales Verfahren eingehalten wurde, erscheint es vertretbar, die verfassungsgerichtliche Kontrolle eines Gesetzes weitgehend auf eine
76
So aber Schwerdtfeger,
in: Festschrift für Ipsen, S. 173 (173).
224
Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
Ergebniskontrolle zu reduzieren. Ein vollständiger Rückzug auf eine Ergebniskontrolle ist aber selbst dann nicht möglich, weil eben im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren nicht alle gesellschaftlichen Minderheiten und schon gar nicht jedes Individuum berücksichtigt werden kann. Um eine Gesetzgebung zu Lasten kleiner und politisch einflußloser Gruppen zu verhindern, muß daher das Bundesverfassungsgericht bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung legislativer Akte stets berechtigt sein, auch der Frage nachzugehen, ob der Gesetzgeber den für seine Maßnahmen maßgeblichen Sachverhalt zutreffend ermittelt und die ihm zur Verfügung stehenden Informationen sachgerecht und nachvollziehbar ausgewertet hat. Darauf kann es sich indes nur dann beschränken, wenn das parlamentarische Verfahren im übrigen den soeben herausgearbeiteten Mindestanforderungen genügt. Das Gesetzgebungsverfahren muß daher so gestaltet sein, -
daß die verfahrensmäßigen Voraussetzungen zur Verfügung stehen, damit alle Alternativen ermittelt und alle verfügbaren Informationen verwertet werden können (Erkenntniserfordernis),
-
daß es praktisch auch einer (starken) Minderheit möglich ist, die Erörterung aller relevanten Alternativen und die Verwertung aller Informationen auch gegen den Willen der Mehrheit zu erzwingen (Diskussionserfordernis),
-
daß jede relevante Minderheit die Möglichkeit erhält, ihre Vorstellungen (wenigstens) darzulegen (Artikulationserfordernis),
-
daß die Öffentlichkeit die Möglichkeit erhält, Einblick in den parlamentarischen Entscheidungsprozeß zu nehmen (Transparenzerfordernis).
Diese Voraussetzungen sind ungeachtet des materiellen Gehalts des zu beschließenden Gesetzes einzuhalten. Sie gelten daher für die Haushaltsgesetzgebung nicht anders als für Gesetze durch die Grundrechte beschränkt werden sollen. Genügt das äußere Gesetzgebungsverfahren diesen Regeln, so verbietet sich eine Kontrolle des inneren Gesetzgebungsverfahrens. 2. Schlußfolgerungen für Geschäftsordnungsverstöße Daraus folgt aber auch, daß der Bundestag im Gesetzgebungsverfahren bestimmte Verfahrensvorschriften, die die GOBT bereit hält, unbedingt einhalten muß. Dies gilt insbesondere für solche Normen, die sicherstellen sollen, daß die parlamentarische Minderheit an Informationen gelangt und ihre Überlegungen im Plenum darlegen kann und die gewährleisten, daß der Gesetzgebungsprozeß für die Öffentlichkeit nachvollziehbar ist.
A. Im Hinblick auf Gesetzesbeschlüsse
225
Gleichwohl kann auch die Übertretung solcher Normen nicht stets die Verfassungswidrigkeit des so entstandenen Gesetzes nach sich ziehen. Aus Gründen der Rechtssicherheit wäre es ein untragbares Ergebnis, wenn etwa durch die unzulässige Beschränkung des Rede- oder Antragsrechts eines einzelnen Abgeordneten das parlamentarische Verfahren insgesamt in Frage gestellt würde. Die Unbeachtlichkeit eines solchen Fehlers folgt zum einen daraus, daß die von einer Gesetzesnorm betroffenen oder die diese Norm anwendenden Personen häufig keinen Einblick in das parlamentarische Verfahren haben und einer formell rechtswidrigen aber materiell rechtmäßigen Norm die Rechtswidrigkeit ja gerade nicht anzusehen ist. Hinzu tritt aber ein weiterer Aspekt. Solange nämlich nur die Rechte eines einzelnen mißachtet wurden und dieser keine Unterstützung durch eine größere Zahl gleichgesinnter Parlamentarier gefunden hat, muß davon ausgegangen werden, daß auch die Beachtung seiner Rechte am Zustandekommen des Gesetzes nichts geändert hätte. Deshalb spricht auch die mangelnde Kausalität der Rechtsverletzung für die Unbeachtlichkeit des Verfahrensfehlers im Hinblick auf die Gültigkeit des so zustandegekommenen Gesetzes. Es ist in solchen Fällen ausreichend, wenn der Betroffene die Verletzung in seinen Abgeordnetenrechten im Wege eines Organstreitverfahrens geltend machen kann. Dagegen gibt es keine Rechtfertigung für die Unbeachtlichkeit solcher Geschäftsordnungsverstöße, die offensichtlich sind und bei denen zumindest nicht auszuschließen ist, daß der Verstoß kausal für das Zustandekommen des Gesetzes war. Hiervon wird man regelmäßig dann ausgehen können, wenn geschäftsordnungsmäßige Rechte einer größeren Gruppe von Abgeordneten, insbesondere einer Fraktion übergangen wurden. In diesen Fällen liegt in der Regel ein offensichtlicher Verfahrensfehler vor, der auch dem Normanwender bzw. dem Normunterworfenen nicht unbekannt bleiben dürfte, da insbesondere Fraktionen über ausreichende Möglichkeiten verfügen, die Öffentlichkeit über Unregelmäßigkeiten im Gesetzgebungsverfahren aufmerksam zu machen, von denen sie im Konfliktfall auch Gebrauch machen dürften. Zudem wird man dann, wenn die Rechte einer größeren parlamentarischen Gruppe mißachtet wurden, nicht ohne weiteres davon ausgehen könne, daß der Verfahrensverstoß keine Auswirkungen auf den Ausgang des Gesetzgebungsverfahrens hatte. Beantragt beispielsweise ein Viertel der Abgeordneten eines federführenden Ausschusses eine öffentliche Anhörung (Hearing) gemäß § 70 Abs. 1 S. 1 GOBT, um auf diese Weise Meinungen von Experten oder Betroffenen zu ei15 Schwerin
226
Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstßen
nem Gesetzesvorhaben einzuholen und widersetzt sich die Ausschußmehrheit diesem Begehren, obwohl es in § 70 Abs. 1 S. 2 GOßT als Minderheitenrecht ausgestaltet ist, so leidet ein im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zustandegekommenes Gesetz an einem relevanten Verfahrensmangel. Die Möglichkeit, eine öffentliche Anhörung auch gegen den Willen der Mehrheit zu initiieren, begründet das Recht einer entsprechend starken Minderheit, ihr relevant erscheinende Informationen zu einem Gesetzesvorhaben einzuholen und auf diesem Wege eigene Alternativen zu entwickeln. Zudem bietet ein Hearing die Möglichkeit, Verbände und andere gesellschaftliche Gruppen mittelbar in den Gesetzgebungsprozeß einzubeziehen, indem ihnen Gelegenheit gegeben wird, ihre Vorstellungen vor einem Bundestagsausschuß zu artikulieren 77 . Auf diese Weise können Argumente für oder gegen ein Gesetzgebungsvorhaben in einer Weise verstärkt oder abgeschwächt werden, die Einfluß auf den weiteren Gang des Verfahren haben kann. Schließlich ist die Öflfentlichkeitsfunktion eines Hearings zu bedenken. Es kann, indem es Teile der Öffentlichkeit aktiv einbezieht und selbst öffentlich ist als „Nahtstelle und Schaltstation zwischen Parlament und Öffentlichkeit" 78 fungieren. Die Möglichkeit Hearings durchzuführen versetzt den Bundestag daher in die Lage, zusätzliche Informationen zu einem Gesetzesvorhaben einzuholen. Sie zwingt ihn, sich mit den in der Anhörung angeführten Argumenten auseinanderzusetzen und ermöglicht die Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte, die nicht im Parlament vertreten sind. Durch die Öffentlichkeit der Anhörung wird der parlamentarische Diskussions- und Meinungsbildungsprozeß zudem transparenter und ermöglicht es, das Für und Wider einer bestimmten gesetzlichen Regelung noch im Stadium des Meinungsbildungsprozesses öffentlich zu erörtern. Indem das Recht, eine öffentliche Anhörung durchzusetzen einer parlamentarischen Minderheit eingeräumt wird, erhält diese die Möglichkeit, die öffentliche Diskussion ihr wichtig erscheinender Fragen zu erzwingen und so den Druck auf die Mehrheit zur Kompromißbildung zu erhöhen. Geht die parlamentarische Mehrheit auf Forderungen, die in einer öffentlichen Anhörung von Betroffenen oder Sachverständigen geäußert werden, nicht ein, so gerät sie unter Rechtfertigungsdruck, der ohne Anhörung unter Umständen nicht bestanden hätte. Die öffentliche Anhörung erfüllt daher Erkenntnis-, Diskussions-, Kompromißbildungs- und Transparenzfunktionen. Sie ist sowohl dazu geeignet, 77 Suzanne S. Schüttemeyer , Öffentliche Anhörungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 42 Rz. 36 ff. 78 Friedrich Walter Appoldt , Die Öffentlichen Anhörungen (Hearings) des Deutschen Bundestages, 1971, S. 69.
A. Im Hinblick auf Gesetzesbeschlüsse
227
die Qualität als auch die Akzeptanz eines Gesetzgebungsvorhabens zu verbessern, bietet einer parlamentarischen Minderheit aber unter Umständen auch die Chance, es zu Fall zu bringen. Indem sie kompromißfördernd wirkt und der Minderheit die Möglichkeit gibt, ihre Ansichten öffentlich darzulegen und durch Sachverständige zu untermauern, nimmt sie eine wichtige Rolle im parlamentarischen Meinungsbildungsprozeß ein und kann zur Steigerung der Qualität parlamentarischer Gesetze beitragen. Ginge die Mehrheit im Widerspruch zur GOßT über das in § 70 Abs. 1 S. 2 GOBT normierte Minderheitenrecht hinweg, so nähme sie dieser ein Recht, das einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, daß auch die Interessen der Minderheit im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren Gehör finden. Daß die Minderheit dieses Gehör findet, ist aber - wie oben dargelegt 79 - eine Voraussetzung dafür, daß dem das Gesetzgebungsverfahren abschließenden Mehrheitsbeschluß jene integrierende Wirkung zukommt, die es rechtfertigt, den Beschluß dem Bundestag insgesamt zuzurechnen. Wird in dieser Weise gegen demokratische Verfahrensprinzipien verstoßen, kann dies nicht ohne Auswirkungen auf die Wirksamkeit des Gesetzes bleiben. Dies um so weniger als nicht auszuschließen ist, daß die Vorstellungen von immerhin einem Viertel der Mitglieder des federführenden Ausschusses im Verlauf des GesetzgebungsVerfahrens stärkere Beachtung gefunden und möglicherweise Einfluß auf die konkrete Gestalt des Gesetzes gehabt hätten, wenn sie in einer öffentlichen Anhörung erörtert worden wären. Es kann daher auch nicht davon ausgegangen werden, daß in einem rechtmäßigen Verfahren ein inhaltlich gleiches Gesetz zustandegekommen wäre. Auch der abschließende Mehrheitsbeschluß vermag ihm keine demokratische Legitimation mehr zu verleihen. Eine Reihe weiterer Geschäftsordnungsverstöße können die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes berühren. Findet beispielsweise über einen Gesetzentwurf in keiner der drei Lesungen eine Aussprache statt, obwohl dies von einer Fraktion gefordert wurde, so liegt auch in der dauerhaften Mißachtung des Rechts einer Fraktion, eine öffentliche Aussprache in jeder der drei Lesungen nach §§ 79 S. 1, 81 Abs. 1 S. 1,84 S. 2 GOBT zu verlangen, ein Verfahrensverstoß, der das verfassungsgemäße Zustandekommen eines Gesetzes verhindert. Gleiches gilt, wenn eine Fraktion daran gehindert wird, Änderungsvorschläge in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen, obgleich ihr dieses Recht
79
Siehe oben Kapitel 6 Abschnitt 1 B 1.
228
Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
nach § 82 Abs. 1 GOßT 8 0 in der zweiten und nach § 85 Abs. 1 GOßT in der dritten Lesung zusteht. Gleichwohl wird man nicht sagen können, daß in diesen Fällen ein Verstoß gegen zwingendes Verfassungsrecht vorliegt, denn ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren läßt sich auch ohne öffentliche Anhörung und ohne das Recht einer Minderheit denken, eine solche zu initiieren. Erst aus der konkreten Ausgestaltung die das Gesetzgebungsverfahren durch die GOßT erfahren hat, ergibt sich, daß es sich hierbei um ein unbedingt zu beachtendes Minderheitenrecht handelt. Deshalb sind jene Geschäftsordnungsvorschriften, die der Sicherung eines demokratischen Verfahrens dienen, auch mehr als eine Wiederholung von ohnehin feststehendem Verfassungsrecht. Denn auch wenn der Verstoß gegen diese Regeln zugleich einen Verfassungsverstoß bedeutet, der die Wirksamkeit eines so zustandegekommenen Gesetzes berührt, so trifft es doch nicht zu, daß diese Regeln unmittelbar von der Verfassung gefordert wären. Das parlamentarische Verfahren ließe sich auch mit ganz anderen Fristen, Initiativ- und Antragsrechten, Abgeordneten- und Minderheitenrechten, mit höherer oder niedrigerer Regelungsdichte gestalten. Der konkrete Regelbestand aber bildet stets den Rahmen, in dem der politische Entscheidungsprozeß stattfindet. Er ist gleichsam die Geschäftsgrundlage für den politischen Kompromiß. Ohne ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit und bindender Verfahrensregeln kann die Kompromißfindung nicht gelingen, ist insbesondere die parlamentarische Minderheit der jeweiligen Mehrheit schutzlos ausgeliefert. Eine parlamentarische Entscheidung aber, sei es ein schlichter Parlamentsbeschluß oder die Verabschiedung eines Gesetzentwurfes, an der nicht alle im Parlament vorhandenen politischen Kräfte in der geschäftsordnungsmäßig vorgesehenen Art und Weise mitwirken konnten, entbehrt der demokratischen Legitimation.
B. Im Hinblick auf sonstige Parlamentsbeschlüsse mit Außenwirkung Neben Gesetzesbeschlüssen gibt es auch schlichte Parlamentsbeschlüsse, die eine verbindliche Rechtswirkung außerhalb des parlamentarischen Bereichs 80
Nach dieser Vorschrift kann auch ein einzelner Abgeordneter Änderungsanträge einbringen. Wird dieses Recht übergangen, berührt dies die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes gleichwohl nicht, denn solange nur ein einzelner Abgeordneter übergangen wurde, muß von der mangelnden Kausalität des Verfahrensfehlers ausgegangen werden.
B. Im Hinblick auf sonstige Parlamentsbeschlüsse mit Außenwirkung
229
bewirken. Das Grundgesetz sieht solche schlichten Beschlüsse bei vielen Wahlund Kreationsakten vor, etwa für die Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 Abs. 1, 67 Abs. 1, 68 Abs. 1 S. 2 GG), die Wahl der vom Bundestag zu bestimmenden Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses (Art. 53 a Abs. 1 S. 2 GG), des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 S. 1 GG), des Bundesverfassungsgerichts (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG) und des Richterwahlausschusses (Art. 95 Abs. 2 GG). Daneben solche Beschlüsse bei parlamentarischen Rechtsakten mit starkem personalen Bezug, wie der Wahlprüfung (Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG), Entscheidungen über den Verlust der Mitgliedschaft (Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG) oder die Entscheidung über die Anklage des Bundespräsidenten (Art. 61 Abs. 1 GG), sowie bei einer Reihe besonders eilbedürftiger Entscheidungen, so bei der Herbeirufung eines Regierungsmitgliedes (Art. 43 Abs. 1 GG) oder der Feststellung des Verteidigungsfalles (Art. 80 a Abs. 1 GG). Andere Fälle in denen ein schlichter Parlamentsbeschluß erforderlich ist, sind das Aufhebungsverlangen des Bundestages gegenüber haushaltswirtschaftlichen Rechtsverordnungen der Bundes (Art. 109 Abs. 4 S. 4 GG) oder die Zustimmung des Bundestages bei der Errichtung von Behörden im Bereich bundeseigener Verwaltung (Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG). Auf einfachgesetzlicher Grundlage ergehen als schlichte Parlamentsbeschlüsse etwa die Erteilung der vorherigen oder nachträglichen Zustimmung zu einer Rechtsverordnung oder die Zustimmungserklärung zur Veräußerung von Bundeseigentum gemäß § 64 Abs. 2 BHO 8 1 . Für die Gültigkeit dieser Parlamentsbeschlüsse im Falle von Geschäftsordnungsverstößen kann im Prinzip nichts anderes gelten als für Gesetzesbeschlüsse. Auch bei ihrer Entstehung ist zu gewährleisten, daß Alternativen erörtert werden und auch parlamentarische Minderheiten die Gelegenheit erhalten, ihre Vorstellungen darzulegen. Allerdings fehlt für schlichte Parlamentsbeschlüsse ein dem Gesetzgebungsverfahren entsprechendes Verfahren, das bei ihrem Erlaß einzuhalten wäre. Gleichwohl sieht die GOBT Mechanismen vor, die gewährleisten, daß jede parlamentarische Gruppierung ihre Ansichten zum Gegenstand parlamentarischer Beschlüsse im Plenum vortragen kann und nicht dadurch überrascht wird, daß über Gegenstände beraten und beschlossen wird, auf die sie sich nicht einstellen konnte. Bedeutsam ist insoweit insbesondere § 23 GOBT, wonach über jeden Punkt, der auf der Tagesordnung steht, die
81 Vgl. zu den verschiedenen Erscheinungsformen des schlichten Parlamentsbeschlusses Hermann Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, VerwArch 84 (1993), S. 61 f. m.w.N.
230
Sechstes Kapitel: Folgen von Geschäftsordnungsverstößen
Aussprache zu eröffnen ist, wenn sie nicht unzulässig oder an besondere Bedingungen geknüpft ist. Gemäß § 25 Abs. 2 S. 3 GOßT darf die Aussprache nicht geschlossen werden, bis jede Fraktion mindestens einmal zu Wort gekommen ist. Hierdurch erhält jede Fraktion die Gelegenheit ihre Ansichten und ihre gegebenenfalls abweichende Position darzulegen. Dadurch, daß die Tagesordnung gemäß § 20 Abs. 1 GOßT im Ältestenrat vereinbart wird, dem gemäß §§ 6 Abs. 1 S. 1, 12 S. 1 GOBT mindestens ein Mitglied jeder Fraktion angehört, ist sichergestellt, daß die Tagesordnung nicht an einer Fraktion vorbei vereinbart wird. Auch die Gruppe der PDS ist mit einem Mitglied im Ältestenrat vertreten 82. Jede Fraktion hat zudem die Möglichkeit nach § 20 Abs. 3 S. 1 GOBT zu verhindern, daß ein Verhandlungsgegenstand beraten wird, der nicht auf der festgestellten Tagesordnung steht. Der Zweck dieser Vorschrift besteht darin, daß durch Zufallsmehrheiten überraschend neue Gegenstände auf die festgestellte und daher erhöhten Vertrauensschutz genießende Tagesordnung gesetzt werden 83. Sie dient damit auch dem Schutz der parlamentarischen Minderheit vor der Festsetzung von Tagesordnungspunkten, auf die sie sich nicht einstellen konnte. Verfährt der Bundestag im Einzelfall entgegen seiner Geschäftsordnung einmal so, daß eine Fraktion keine Gelegenheit hatte, sich zu einem Gegenstand, über den Beschluß gefaßt wird, zu äußern, setzt er solch einen Gegenstand überraschend und gegen den Widerspruch einer Fraktion auf die festgestellte Tagesordnung oder schließt er eine Fraktion von der Vereinbarung der Tagesordnung aus, so leidet der so zustandegekommene Beschluß an dem Mangel, daß er nicht unter Mitwirkung aller parlamentarischen Kräfte zustandegekommen ist. Dies nimmt ihm die demokratische Legitimität und bewirkt seine Nichtigkeit.
C. Im Hinblick auf Parlamentsbeschlüsse ohne Außenwirkung Die bisherigen Überlegungen zur Wirksamkeit verfahrensfehlerhafter Parlamentsbeschlüsse lassen sich nicht auf solche Beschlüsse übertragen, die nur 82
Wie bereits in der 12. Wahlperiode die Gruppen PDS/Linke Liste und Bündnis 90/Die Grünen; vgl. BT-Drs. 12/149 Nr. lund 2, BT-Drs. 12/150 Nr.l, Sten.Ber. 12. WP, 9.Sitzung, 21.2.1991, S. 398 B ff.. 83 Heinrich Ritzel/.Joseph Bücker , Handbuch für die parlamentarische Praxis, Stand: Juli 1995, §20 Anm. U l l a ) .
C. Im Hinblick auf Parlamentsbeschlüsse ohne Außenwirkung
231
innerhalb des parlamentarischen Funktions- und Machtbereichs Rechtswirkung entfalten 84. Hierbei handelt es sich etwa um Auslegungsentscheidungen des Plenums oder den Beschluß, von der GOBT nach § 126 GOBT abzuweichen. Auch Beschlüsse, die den Gang der parlamentarischen Verhandlung oder die Wahl parlamentarischer Organe betreffen, entfalten allein im parlamentarischen Bereich Rechtswirkungen. Für diese Parlamentsbeschlüsse ist die GOBT uneingeschränkt zu beachten, soweit nicht im Rahmen des Zulässigen von ihr abgewichen wurde 85 . Da Parlamentsbeschlüsse ohne Außenwirkung keine außerparlamentarischen Rechtspositionen tangieren, können auch keine Argumente der Rechtssicherheit angeführt werden, um die Unbeachtlichkeit eines Geschäftsordnungsverstoßes zu begründen. Daher führt ein Verstoß gegen die GOBT für derartige Beschlüsse stets zur Nichtigkeit 86 .
84 Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1995, S. 145, mit weiteren Beispielen. 85 Haug, Bindungsprobleme, S. 146. 86 Ebenda; zur gerichtlichen Durchsetzbarkeit, sogleich Kapitel 7.
Siebtes Kapitel
Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts und ihr Verhältnis zueinander
A. Die Rechtsquellen
I. Die GOBT Das Selbstorganisationsrecht des Deutschen Bundestages ist im wesentlichen in der kodifizierte Geschäftsordnung (GOBT) geregelt. Sie konkretisiert die Aufgaben des Bundestages, organisiert seine Gliederungen und schreibt das Verfahren vor. Allerdings erschließt sich das parlamentarische Verfahrensrecht nicht allein aus der geschriebenen Geschäftsordnung. Parlamentsbräuche, parlamentarisches Gewohnheitsrecht (soweit man seine Geltung anerkennt)1 und im Bundestag dauerhaft akzeptierte Auslegungen können von Fall zu Fall eine ebenso große Bedeutung haben2. Fester Orientierungspunkt bleiben aber auch in diesen Fällen die in der GOBT festgeschriebenen Regeln, die ergänzt oder im Einzelfall ausgesetzt werden. 1. Entwicklung und Herkunft
der GOBT
Die derzeitige Fassung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags, beschloß der Bundestag einstimmig am 25. Juni 19803. Sie wurde am 2. Juli 1980 durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages bekanntgemacht4 und trat am 1. Oktober 1980 in Kraft. Die GOBT wurde zuletzt durch Beschluß vom 21. September 1995 geändert, der am 30.9.1995 bekanntgemacht wurde 5. 1
Hierzu unten Kapitel 7 Abschnitt 1 E I. Wolfgang Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 43 Rz. 12. 3 Sten.Ber. 8.WP, 225. Sitzung, 25.6.1980, S. 18267-18290. 4 BGBl. IS. 1237. 5 BGBl. IS. 1246. 2
A. Die Rechtsquellen
233
So wie sich die Selbstorganisationsgarantie des Art. 40 Abs. 1 GG auf die Verfassung Preußens vom 31. Januar 1850 zurückführen läßt6, so liegen die Ursprünge der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages im preußischen Parlamentsrecht. Das preußische Parlament orientierte sich bei seiner Geschäftsordnung vom 28. Februar 1849 am Vorbild der Geschäftsordnung der belgischen Deputiertenkammer, die ihrerseits das von den Ideen Benthams7 geprägte Reglement des französischen Parlaments rezipiert hatte8. Als der verfassungsberatende Reichstag am 25. Februar 1867 seine Arbeit aufnahm, übernahm er die Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses in der Fassung vom 6. Juni 1862 zunächst provisorisch und verzichtete am 6. März 1867 darauf, eine eigene Geschäftsordnung auszuarbeiten. Der Reichstag des Norddeutschen Bundes begann am 10. September 1867 ebenfalls unter zunächst provisorischer Geltung der Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses, die er mit wenigen Änderungen am 12. Juni 1868 als endgültige Verfahrensregelung annahm9. Diese Geschäftsordnung setzte der Deutsche Reichstag bei seinem Zusammentritt am 21. März 1871 zunächst vorläufig in Kraft. Drei Versuche einer Geschäftsordnungsrevision wurden vergeblich angestrengt, so daß diese Geschäftsordnung von geringen Änderungen abgesehen bis zum Ende des Kaiserreiches Gültigkeit hatte. Als die verfassungsgebende Nationalversammlung nach der Ausrufung der Republik am 6. Februar 1919 zusammentrat, erklärte ihr Alterspräsident ohne Widerspruch die Geschäftsordnung des Reichstages zur provisorischen Geschäftsordnung der Nationalversammlung. An dieser Geschäftsordnung hielt auch der erste Reichstag der Weimarer Republik fest. Erst der zweite Reichstag schuf nach schwierigen Verhandlungen eine neue Geschäftsordnung, die am
6
Siehe oben Kapitel 2 Abschnitt 2. Vgl. Jeremias Bentham, Tactik oder Theorie deliberirender Volksständeversammlungen, Nach dessen hinterlassenen Papieren bearbeitet von St. Dumont, 1817. Als sich die Nationalversammlung 1789 konstituierte, war Benthams „Essay on Political Tactics" der einzige verfügbare Abriß der englischen Parlamentspraxis. Indem Mirabeau dieses Werk in das Französische übersetzte und der verfassunggebenden Versammlung vorgelegte, wurde die englische Parlamentspraxis zur Grundlage des Geschäftsordnungsrechts auf dem Kontinent; vgl. Norbert Lammert, Zur Geschäftsordnung, in: Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848, herausgegeben vom Deutschen Bundestag, 1986, S. 10 f. 8 Hans Rösch, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Geschäftsordnung, 1934, S. 19. 9 Gerald Kretschmer, Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 9 Rz. 8. 7
234
Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
1. Januar 1923 in Kraft trat. Eine Anpassung war aufgrund der veränderten staatsrechtlichen Verhältnisse erforderlich geworden. Auch diese Geschäftsordnung war jedoch nichts völlig neues, sondern eine zeitgemäße Anpassung der früheren 10. Der erste Deutsche Bundestag übernahm zunächst provisorisch die Geschäftsordnung des Reichstages. Am 6. Dezember 195111 beschloß er dann eine eigene Geschäftsordnung, die am 1. Januar 1952 in Kraft trat 12 . Trotz zahlreicher Änderungen und Ergänzungen der alten Reichstagsgeschäftsordnung, orientiert sich auch die Geschäftsordnung des Bundestages maßgeblich an ihrer Vorgängerin, woran auch die Geschäftsordnungsreform vom 25. Juni 1980, bei der die Paragraphenreihenfolge maßgeblich verändert wurde, nichts geändert hat 13 . Es verwundert deshalb nicht, daß sich viele Bestimmungen der Geschäftsordnung des preußischen Abgeordnetenhauses vom 28. Februar 1849 noch in der heute geltenden Geschäftsordnung des Bundestages wiederfinden 14. Ebenso wenig kann es verwundern, daß die Probleme und Begriffe des Geschäftsordnungsrechts weitgehend gleich geblieben sind, wenngleich bei aller inhaltlichen und sprachlichen Kontinuität der grundlegende verfassungsrechtliche Wandel vom Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie in der Ausformung des Grundgesetzes nicht unberücksichtigt bleiben darf 15 . Auf eine Reihe von Problemen, die speziell die GOBT betreffen, wurde bereits an anderer Stelle dieser Arbeit eingegangen. So wurde dargelegt, daß sich ihre Wirkkraft nicht allein auf die Bundestagsabgeordneten beschränkt, Abweichungen von Regelungen der GOBT entgegen § 126 GOBT auch mit Zweidrittelmehrheit in bestimmten Fällen unzulässig sind und der Verstoß gegen Geschäftsordnungsvorstößen nicht in jedem Fall folgenlos bleibt.
10 Otto Theodor Ludwig Zschucke , Die Geschäftsordnungen der deutschen Parlamente, Berlin 1928, S. 8 ff. 11 Sten.Ber. 1. WP, 179 Sitzung, 6.12.1951, S. 7440 C. 12 Bekanntmachung vom 28.1.1952, BGBl. II, S. 389. 13 Kretschmer , in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 10; zur Geschäftsordnungsreform, HansAchim Roll, Geschäftsordnungsreform im Deutschen Bundestag, NJW 1981, S. 23 ff. 14 Vgl. hierzu die vom Deutschen Bundestag herausgegebene, von Werner Güth und Gerald Kretschmer bearbeitete synoptische Darstellung, Die Geschäftsordnungen Deutscher Parlamente, Bonn 1986. 15 Hans-Achim Roll , Erläuterungen zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, in: Das Deutsche Bundesrecht, IA18 S. 43 f.
A. Die Rechtsquellen
235
2. Rechtsnatur der GOßT Die Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen ist bis zum heutigen Tage nicht abschließend geklärt und stets dankbares - weil unerschöpfliches Thema wissenschaftlicher Behandlung16. Die Deutungen reichen von einer autonomen Satzung17 oder einer Verfassungssatzung 18 über eine Rechtsverordnung 19 bis hin zu einer parlamentarischen Innenrechtsnorm 20 oder einem Gebilde sui generis 21. Teilweise wird ihr der Rechtscharakter auch völlig abgesprochen 22. Der praktische Nutzen der weitgehend akademischen Auseinandersetzung um die exakte juristische Einordnung der Geschäftsordnung ist gering. Immerhin hat aber die Frage, ob ihr überhaupt rechtliche Bedeutung zukommt, praktische Auswirkung, was etwa die Angreifbarkeit der Geschäftsordnung in einem Normenkontrollverfahren angeht23. Wer die parlamentarische Geschäftsordnung als autonome Satzung24 oder Rechtsverordnung 25 charakterisiert, wird dazu neigen, aus dieser Qualifizierung selbstverständlich auf ihren Rechtscharakter zu schließen.
16
Vgl. nur die umfangreiche Untersuchung der Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen bei Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1995, S. 166 ff. 17 BVerfGE 1, 144 (148); BayVGHE 8 II 91 (101); Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage, 1995, Rz. 577; Friedrich Schäfer, Der Bundestag, 4. Auflage, 1982, S. 65; weitere Nachweise bei Achterberg, Parlamentsrecht, S. 51 und Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 138 f. 18 Haug, Bindungsprobleme, S. 195 f.; Karl-Hans Rothaug, Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, 1977, S. 80; der Begriff der „Verfassungssatzung" geht zurück auf Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Bundesregierung, 1964, S. 122 f., der so die Geschäftsordnung der Bundesregierung qualifiziert. 19 Friedrich Giese, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Auflage, 1955, Anm. 3; Georg A/eyer/Gerhard Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Auflage, 1919, S. 235. 20 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 59 f. 21 Manfred Bernau, Die verfassungsrechtliche Bedeutung von Geschäftsordnungen oberster Bundesorgane, S. 96 f.; Schweitzer, Aktuelle Probleme des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts, NJW 1956, S. 84 (86). 22 Julius Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1. Teil, 1915, S. 42 („Konventionairegeln"). 23 Hierzu unten Kapitel 8 Abschnitt 1 A. 24 Siehe die unter Fußnote 17 Genannten. 25 Siehe die unter Fußnote 19 Genannten.
236
Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
So befand das Verfassungsgericht Hamburg: „Die Geschäftsordnung ist autonome Satzung, zu deren Erlaß die Bürgerschaft durch Art. 18 Abs. 1 S. 2 Hamb Verf. ermächtigt ist. Aber auch Satzungen schaffen Recht; Autonomie ist eine anerkannte Rechtsquelle. Satzungen gehören jedenfalls dann zum Landesrecht i.S.v. § 14 Nr. 3 HambVerfGG, wenn sie von einer juristischen Person des öffentlichen Rechts des Landes in Ausübung öffentlicher Gewalt erlassen sind." 26 Diese begriffsjuristische Ableitung zeigt, daß der Autonomiebegriff zu Mißverständnissen selbst bei höchsten Gerichten fuhren kann. An sich hätte sich das Gericht nämlich nach seinen Ausführungen mit der Frage auseinander setzen müssen, ob auch „Satzungen", die eben von keiner juristischen Person des öffentlichen Rechts und damit nicht aufgrund von „Autonomie" im überkommenen Sinne erlassen worden sind 27 , geeignet sind, Landesrecht zu schaffen. Richtigerweise kann eine parlamentarische Geschäftsordnung allerdings keine autonome Satzung sein, denn wenn dem Parlament keine Autonomie zukommt, wird mit der Geschäftsordnung auch kein autonomes Recht gesetzt28. Die GOBT ist aber auch keine Rechtsverordnung. Rechtsverordnungen werden von der Exekutive und nicht von der Legislative erlassen, Art. 80 Abs. 1 GG. Außerdem können Rechtsverordnungen nur gesetzesabhängig erlassen werden, weshalb die Charakterisierung der GOBT als Rechtsverordnung nicht die Selbständigkeit des Bundestages beim Erlaß seines Organisationsrechts erklären kann 29 . Will man die parlamentarische Geschäftsordnung gleichwohl als Satzung oder Rechtsverordnung qualifizieren, kommt man deshalb nicht umhin, ihrer Besonderheit Rechnung zu tragen, indem man entweder eine Rechtsverordnung oder Satzung sui generis kreiert oder diese Rechtsquellentypen „umdefiniert", so daß sie „passen" 30 . Verändert man aber in dieser Art das hergebrachte Rechtsquellenschema, so läßt sich hiervon eben auch nicht mehr ohne weiteres auf den Rechtssatzcharakter schließen.
26
HambVerfG, DVB1. 1976, S. 444 (446). vgl. hierzu oben Kapitel 2 Abschnitt 1. 28 siehe oben Kapitel 2 Abschnitt 1. 29 Kretschmer , in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 47. 30 Diesen Weg beschreiten jene Autoren, die etwa bei der Satzung auf die Rechtspersönlichkeit des Satzungsgebers verzichten wollen, wie Gerhard Alois Reifenberg , Die Bundesverfassungsorgane und ihre Geschäftsordnungen, 1958, S. 47 f. oder Hendrik Apetz , Die Grenzen der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie, 1933, S. 141. 27
A. Die Rechtsquellen
237
Auch die von Böckenförde 31 begründete und neuerdings vielfach aufgegriffene 32 Definition der parlamentarischen Geschäftsordnung als Verfassungssatzung schafft eine neue Rechtsquelle eigener Art, über deren Rechtscharakter mit dieser Einordnung wenig ausgesagt ist. Wer die parlamentarische Geschäftsordnung als Rechtsvorschrift ansieht, „die von einem unmittelbaren Verfassungsorgan im Rahmen der ihm verfassungsrechtlich verliehenen Regelungskompetenz mit Wirkung für die innerhalb seines Funktionsbereichs Handelnden erlassen" wird 3 3 , sollte sie auch nicht als (Verfassungs-)Satzung bezeichnen. Gerade weil es kennzeichnend für Satzungen ist, daß sie aufgrund von Satzungsautonomie von eigenständigen, dem Staate eingeordneten Verbänden erlassen werden, handelt es sich bei den parlamentarischen Geschäftsordnungen eben um keine Satzungen, auch nicht um Verfassungssatzungen. Der Begriff der Verfassungssatzung ist zudem unscharf und mehrdeutig und deshalb ungeeignet die parlamentarischen Geschäftsordnungen, die der staatlichen Sphäre und nicht dem Selbstverwaltungsbereich zugehören, zu charakterisieren 34. Gleichwohl ist es zutreffend, daß parlamentarische Geschäftsordnungen Rechtsnormen sind. Die These es handele sich um eine Sammlung nicht rechtsverbindlicher Konventionalregeln 35, ist unter der Herrschaft des Grundgesetzes ebenso wenig vertretbar, wie die paradox anmutende Vorstellung von einer „Rechtsvorschrift ohne Rechtssatzcharakter" 36. Insbesondere kann der parlamentarischen Geschäftsordnung der Rechtscharakter auch dann nicht abgesprochen werden, wenn man ihr entgegen der hier vertretenen Ansicht keinerlei Außenwirkung zuerkennt. Zwar schloß die historisch-konventionelle Definition des Rechtssatzes als einer Regelung, die Freiheit und Eigentum des Bürgers berührt oder darin eingreift 37 , den sogenannten „Innenbereich" des Staates
31
Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 122 f. Etwa von Haug, Bindungsprobleme, S. 194; Siegfried Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 123 f.; Heinhard Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 44 f.; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 80. 33 So Haugs Definition einer Verfassungssatzung, S. 194. 34 Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Auflage, § 25 Rz. 47; kritisch auch Fritz Ossenbühl, Satzung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, §66 Rz.41. 35 Julius Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reichs, 1. Teil, 1915, S. 42 ff. 36 So die in sich widersprüchliche Definition von Karl Friedrich Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, 1966, S. 156 ff. 37 Gerhard Anschütz, Kritische Studien zur Lehre von Rechtssatz und formeller Gesetze, 2. Auflage, 1913, S. 68; Max v. SeydellRobtri Piloty, Bayrisches Staatsrecht, Band 1,2. Aufl., 1913, S. 847 f. 32
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
ebenso aus wie die spätkonstitutionelle Staatsrechtslehre, nach der das wesentliche Merkmal für den Rechtssatzbegriff in der Schrankenziehung zwischen selbständigen Rechtssubjekten bestand38 und die den Staat, wie jeden anderen Hoheitsträger, als ein impermeables Rechtssubjekt ansah39. Nach beiden Definitionen reduziert sich das Verhältnis von Staat und Bürger jedoch auf einen Antagonismus, der sich auf die Abwehr von An- und Eingriffen beschränkt. Sowohl der status activus des Bürgers als auch der gesamte staatliche Innenbereich wird auf diese Weise ausgeklammert 40. Dieses dualistische Verständnis von Staat und Gesellschaft gibt die Situation zur Zeit des Konstitutionalismus treffend wieder, kann im demokratischen Rechtsstaat aber keine Gültigkeit beanspruchen. Natürliche, vorgegebene Herrschaft, wie sie dem Monarchen zukam, gibt es im modernen Verfassungsstaat nicht 41 . Unter der Verfassung des Grundgesetzes ist die Begründung aller staatlichen und öffentlichen Herrschaftsbefugnisse eine Angelegenheit des Rechts und stützt sich nicht auf „natürliche" Vorgaben 42. Staatliche Macht ist demnach prinzipiell begrenzt 43. Im öffentlichen Bereich kann der Rechtssatz deshalb bestimmt werden als Begründung und Maßbestimmung für die Ausübung öffentlicher Gewalt und die Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten44. Diese Begriffsbestimmung verdeutlicht, daß auch die Beziehungen im innerstaatlichen Bereich Rechtsbeziehungen sind. Daraus folgt, daß nicht nur die Verhältnisse der Staatsorgane untereinander, sondern auch die Vorgänge innerhalb dieser Organe durch Rechtssätze geregelt werden 45. Die GOBT, durch die Organe und Organteile des Bundestages geschaffen und diesen Zuständigkeiten zugewiesen sowie Mitwirkungs- und Kontrollbefiignisse begründet oder konkretisiert werden, unterfällt daher als Bestandteil des staatlichen Organisationsrechts dem Rechtssatzbegriff.
38 Georg Jellinek, Gesetz und Verordnung, 1919, S. 240; Manfred Bernau , Die verfassungsrechtliche Bedeutung von Geschäftsordnungen oberster Bundesorgane, 1955, S. 50. 39 Georg Jellinek , System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl., 1919. S. 224 f. 40 Karl Hans Rothaug , Die Leitungskompetenz des Bundestagspräsidenten, 1977, S. 72. 41 Heinhard Steiger , Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 38. 42 Ernst-Wolfgang Böckenförde , Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 74. 43 Steiger , Organisatorische Grundlagen, S. 39. 44 Böckenförde , Organisationsgewalt, S. 74; ihm folgend Rothaug , Leitungskompetenz, S. 73 und Steiger , Organisatorische Grundlagen, S. 39. 45 Norbert Achterberg , Kriterien des Gesetzesbegriffs unter dem Grundgesetz, DÖV 1973, S. 289 (296); Rothaug , Leitungskompetenz, S. 73.
A. Die Rechtsquellen
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Zwar ist Ossenbühl darin zuzustimmen, daß die Problematik der Rechtsquellenlehre nicht in der Definition des Rechtssatzes liegt, sondern in der Heterogenität der verschiedenen Rechtssätze46. Gleichwohl ist die Erkenntnis, daß es sich bei der GOßT nicht um Nicht-Recht handelt, erforderlich, um sie in die hergebrachte Rechtsquellentypologie einzuordnen oder dieser doch zumindest als eigene Rechtsquelle mit eigenen Rechtswirkungen gegenüberzustellen. Außerdem hängt von ihrer Rechtssatzqualität ihre Angreifbarkeit vor dem Bundesverfassungsgericht ab 47 , weshalb diese Frage auch praktische Bedeutung erlangen kann. Steht fest, daß es sich bei der GOBT um einen Rechtssatz handelt, ist hiermit noch nichts über die Art dieser Rechtsquelle ausgesagt, denn „Rechtssatz ist nicht gleich Rechtssatz"48. Die Fehlerhaftigkeit ihrer Qualifikation als Satzung oder Rechtsverordnung wurde bereits dargelegt, so daß an sich nur die Einordnung der GOBT als Rechtsquelle sui generis bleibt. Dieses Eingeständnis bedeutet keineswegs eine Kapitulation der Wissenschaft vor der ihr gestellten Aufgabe wie Haug meint 49 , es ist lediglich Ausdruck der nicht weiter überraschenden Erkenntnis, daß sich bestimmte Regelungsformen des Staatsorganisationsrechts nicht in den herkömmlichen Stufenbau der Rechtsordnung einfügen, der sich aus einem konstitutionellen Rechtssatzverständnis entwickelt hat. Diese Erkenntnis bewegt auch Achterberg, die parlamentarische Geschäftsordnung funktional als parlamentarische Innenrechtsnorm zu bezeichnen50. Diese Qualifikation scheidet aber aus, weil die Wirkkraft der GOBT in bestimmten Fällen über den innerparlamentarischen Raum hinausreicht 51 und zudem mit der Trennung zwischen Innen- und Außenbereich der Versuch unternommen wird, den überholten historisch-konstitutionellen Rechtssatzbegriff insoweit wiederzubeleben als dem Außenrechtssatz ein Innenrechtssatz gegenübergestellt wird. Angesichts dieser insgesamt unbefriedigenden Versuche, die Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen zu bestimmen, erscheint es richtiger anzuerkennen, daß parlamentarische Geschäftsordnungen eine von allen ande-
46 Fritz Ossenbühl, Rechtsquellen und Rechtsbindungen der Verwaltung, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl., 1995, § 5 Rz. 9; derselbe, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 159. 47 Hierzu sogleich unten Kapitel 8 Abschnitt 1. 48 Ossenbühl, in: Erichsen, § 5 Rz. 9. 49 Haug, Bindungsprobleme, S. 183. 50 Achterberg,, Parlamentsrecht, S. 59 ff. 51 Siehe oben Kapitel 3.
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
ren Rechtsquellen abgehobene Rechtsqualität besitzen und deshalb einen ganz eigenen Typ von Rechtssatz darstellen 52. Zur Charakterisierung dieses Regelungstypus sollte allerdings nicht die nichtssagende Bezeichnung als Rechtsquelle sui generis gewählt werden. Treffender und aussagekräftiger ist es, auf parlamentarische Organisations- und Verfahrensnormen, den Begriff der Parlamentarischen Geschäftsordnung anzuwenden. Die Bezeichnung als Parlamentarische Geschäftsordnung hat gegenüber allen anderen Bezeichnungen den Vorteil, daß sie klar zum Ausdruck bringt, welches Rechtsinstitut gemeint ist und auf die Zuordnung zu Rechtssetzungsformen aus dem Bereich der Exekutive verzichtet. Von der parlamentarischen Geschäftsordnung sind dann allerdings andere Regelwerke, die als „Geschäftsordnungen" bezeichnet werden, in ihrer Normqualität zu unterscheiden. Parlamentarische Geschäftsordnungen müssen daher abgegrenzt werden von den Geschäftsordnungen der Gemeindevertretungen oder der Vereine 53 . Als Parlamentarische Geschäftsordnungen sind alle jene Verfahrens- und Organisationsbestimmungen anzusehen, die sich das Parlament aufgrund verfassungsunmittelbarer Rechtssetzungsbefugnis selbst gibt und die der Erfüllung seiner Verfassungsaufgaben dienen. Ihre Bindungswirkung reicht so weit, wie dies für eine effektive Wahrnehmung der jeweiligen Verfassungsaufgabe erforderlich ist. 3. Zeitliche Geltung der GOßT Für die Vorschriften der GOBT sind sowohl hinsichtlich ihres Inkrafttretens als auch hinsichtlich ihrer Geltungsdauer einige Besonderheiten zu beachten. a) Inkrafttreten Nach ganz überwiegender Ansicht erlangen parlamentarische Geschäftsordnungen mit ihrem Erlaß Gültigkeit 54 . Eine Publikation wird als entbehrlich angesehen, da die Geschäftsordnung ja ohnehin nur jene Personen binde, die sie beschlossen hätten.
52
So auch Kretschmer , in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 53. Kretschmer , ebenda. 54 BayVerfGHE 8 II 91 (101); Hatschek , Parlamentsrecht, S. 45; Eduard Mührich , Das demokratische Verfassungsrecht des Deutschen Reichs, 1921, S. 65; Kretschmer , § 9 Rz. 128; Pietzcker , § 10 Rz, 27; Ritzel/Bücker , Einleitung Anm. 4. 53
A. Die Rechtsquellen
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Diese Argumentation kann aber nicht überzeugen, da zumindest nach der hier vertretenen Auffassung die GOßT durchaus geeignet ist, in bestimmten Fällen Rechtswirkungen für nicht dem Parlament angehörige Personen zu entfalten 55 . Diese Personen müssen aber schon aus Gründen der Rechtssicherheit die Möglichkeit erhalten, sich über diese Regeln zu informieren; gleiches gilt für die vom Geschäftsordnungsrecht betroffenen Staatsorgane. Dies setzt aber die Publikation dieser Rechtsvorschriften voraus. Zudem erscheint es im Hinblick auf die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages erforderlich, daß nicht nur die Verhandlungen öffentlich sind, sondern daß auch die Regeln, nach denen die Verhandlungen funktionieren, veröffentlicht werden, da dies die Voraussetzung für eine sachverständige Beurteilung parlamentarischer Vorgänge ist. Deshalb bedarf die GOBT - nicht anders als jede andere Rechtsvorschrift für ihre Gültigkeit der Publikation 56 . Da das Grundgesetz keine Regeln über die Art und Weise ihrer Veröffentlichung enthält, bleibt es dem Parlament aufgrund seiner Selbstorganisationsgarantie überlassen, die Form der Publikation zu bestimmen57. Vor diesem Hintergrund sind parlamentarische Erwägungen zu sehen, das Amtliche Handbuch des Deutschen Bundestages als Verkündungsblatt für parlamentsrechtliche Vorschriften zu benutzen58. Es fragt sich aber, ob nicht besser die auf Bundesebene übliche Publikation im Bundesgesetzblatt beibehalten werden sollte, da so eine breitere Wahrnehmung zu erzielen ist und zudem die kurzen Erscheinungsintervalle sicherstellen, daß die Rechtsverbindlichkeit bestimmter Geschäftsordnungsregeln nicht über einen längeren Zeitraum zweifelhaft bleibt. b) Der Diskontinuitätsgrundsatz Seit geraumer Zeit ist die zeitliche Geltungsdauer des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts umstritten. Nach überwiegender Ansicht gilt das vom Bundestag in einer Legislaturperiode selbst gesetzte Recht nur für den jeweili55
Siehe oben Kapitel 3. Ebenso Haug, Bindungsprobleme, S. 170 und Rothaug, Leitungskompetenz, S. 74; grundsätzlich zum Publikationserfordernis, Almut Wittling, Die Publikation der Rechtsnormen einschließlich der Verwaltungsvorschriften, 1991. 57 Haug, Bindungsprobleme, S. 170 f.; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 74; a.A. Heinz Kraul, Zur Ausfüllung von Lücken in Parlamentarischen Geschäftsordnungen, 1972, S. 20 f. 58 BT-Drs. 13/3121, S. 11. 56
16 Schwerin
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
gen Bundestag59. Der Grund hierfür wird im allgemeinen parlamentarischen Diskontinuitätsgrundsatz und dem hiermit einhergehenden Prinzip der Repräsentationserneuerung gesehen. Unterschieden werden personelle, institutionelle und sachliche Diskontinuität. Mit dem Ablauf einer Legislaturperiode enden die Mandate der Parlamentsmitglieder. Das neue Parlament findet sich zu seiner konstituierenden Sitzung in neuer Zusammensetzung zusammen. Der zumindest teilweise Austausch der agierenden Personen wird als personelle Diskontinuität bezeichnet, womit ausgedrückt ist, daß sich die Organwalter des Verfassungsorgans Parlament durch jede Wahl personell erneuern. Die personelle Diskontinuität folgt unmittelbar aus Art. 39 Abs. 1 S. 1 und 2 GG, der bestimmt, daß der Bundestag auf vier Jahre gewählt wird und daß seine Wahlperiode mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages endet. Sie ist Ausdruck des Gedankens der demokratischen Legitimation und der Repräsentationserneuerung 60. Gleiches gilt für die institutionelle Diskontinuität. Institutionelle Diskontinuität bedeutet, daß die meisten innerparlamentarischen Organe mit dem Ende einer Legislaturperiode aufhören zu existieren 61. Dies gilt nicht für die dem Bundestag vom Grundgesetz vorgeschriebenen Organe, wie dem Präsidium, dem Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten oder dem Verteidigungsausschuß. Diese erneuern sich zwar personell, bleiben aber als abstrakte Institutionen bestehen62. Bei allen anderen Bundestagsausschüssen endet mit der Wahlperiode zugleich ihre abstrakte Existenz, denn der neue Bundestag ist aufgrund seiner Selbstorganisationsbefugnis frei, darüber zu entscheiden, welche Ausschüsse er einsetzt63. Von der personellen und institutionellen Diskontinuität wird auf die sachliche geschlossen, die darin besteht, daß alle noch nicht abschließend bearbeite-
59
Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Auflage, 1. Band, 1911, S. 345; Kurt Pereis , Das autonome Reichstagsrecht, 1903, S. 4; Achterberg , Parlamentsrecht, S. 329; Arndt , Geschäftsordnungsautonomie, S. 128 ff.; Gerhard Alois Reifen berg , Die Bundesverfassungsorgane und ihre Geschäftsordnungen, 1958, S. 68. 60 Haug , Bindungsprobleme, S. 73. 61 Haug , Bindungsprobleme, S. 72; Friedrich Schäfer , Der Bundestag, 4. Auflage, 1982, S. 87 f. 62 Schäfer , Bundestag, S. 88. 63 Schäfer , Bundestag, S. 88.
A. Die Rechtsquellen
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ten parlamentarischen Initiativen und Angelegenheiten von selbst mit dem Ablauf der Legislaturperiode hinfällig werden 64. Nach herrschender Ansicht gilt der Diskontinuitätsgrundsatz auch für das parlamentarische Selbstorganisationsrecht 65. Diese Ansicht ist aber seit der Kritik Georg Jellineks66 nicht unumstritten. Der Streit ist bis heute nicht eindeutig entschieden67. Für die Fortgeltung einer parlamentarischen Geschäftsordnung bis zu ihrer Aufhebung durch einen entgegengesetzten Willensakt wird ins Feld geführt, daß es wegen der Interessenidentität von Vorgänger- und Nachfolgerparlament an einer Fremdbestimmungsgefahr fehle, weshalb sich ein sachlicher Grund für die Diskontinuität in Bezug auf das Geschäftsordnungsrecht nicht finden lasse68. Zudem seien die Willensakte eines Staatsorgans „ganz unabhängig [...] von den sie versehenden Personen und, bei periodisch beratenden Kollegien, von den einzelnen Beratungsperioden" 69. Rechtsvergleichend wird angeführt, daß auch das englische Parlament, auf das sich schließlich die Ursprünge des deutschen Parlamentsrechts zurückführen lassen, zwischen Standing Orders, die bis zu ihrer Außerkraftsetzung durch einen entgegengesetzten Akt und unabhängig von den Legislaturperioden Gültigkeit beanspruchten und sessional Orders, die nur für eine Legislaturperiode Geltung hätten, unterscheide 70. Die Befürworter der Diskontinuität für den Bereich des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts halten dagegen, daß es von dem konkreten Organ Parlament erlassen werde, dessen Befugnisse nicht über seine Organtätigkeit
64 Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Art. 39 Rz. 18; Fritz Ossenbühl, Verfahren der Gesetzgebung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 63 Rz. 41; Leo Kißler, Der Deutsche Bundestag, JöR N. F. 26 (1972), 39 (47); Gerhard Bollmann, Verfassungsrechtliche Grundlagen und allgemeine verfassungsrechtliche Grenzen des Selbstorganisationsrechts des Bundestages, 1992, S. 116. 65 BVerfGE 1, 144 (148); Achterberg, Parlamentsrecht, S. 330; Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 129 f ; Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, l.Band, 5. Auflage, 1911, S. 345; Theodor Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Stand: März 1994, Art. 40 Rz. 19. 66 Ausgewählte Schriften und Reden, Zweiter Band, 1911, S. 253 f. 67 Gegen die Diskontinuität zuletzt Haug, Bindungsprobleme, S. 76 ff. 68 Haug, Bindungsprobleme, S. 78. 69 Jellinek, Schriften und Reden, S. 254; im gleichen Sinne Haug, Bindungsprobleme, S. 78 f. 70 Jellinek, S. 254.
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
andauern könnten 71 . Das neue Parlament sei bei der Regelung seiner Geschäftsordnungsangelegenheiten nicht von irgend einem anderen Willen abhängig, auch nicht von dem des vorhergehenden Parlaments 72. Zudem wird auf den Wortlaut des Art. 40 Abs. 1 GG verwiesen. Indem die Verfassungsnorm dem „Bundestag" das Recht übertrage, sich eine Geschäftsordnung zu geben, spreche sie das konkrete Organ Bundestag an. Das abstrakte Organ bezeichne das Grundgesetz als „Volksvertretung", wie sich aus Art. 17GG ergebe 73. Außerdem folge daraus, daß die Geschäftsordnung politischen Neuerungen aufgeschlossen sein und sich neuen politischen Gegebenheiten immer wieder erneut anpassen müsse, daß sie stets nur für den Bundestag gelte, der sie sich gegeben hat 74 . Der Bundestag selbst geht davon aus, daß seine Geschäftsordnung stets mit dem Ablauf einer Legislaturperiode seine Gültigkeit verliert, was sich daran ersehen läßt, daß er zu Beginn jeder Legislaturperiode über die Weitergeltung des Geschäftsordnungsrechts des vorangegangenen Bundestages entscheidet. Dabei ist in jüngerer Zeit ein Wandel in der parlamentarischen Praxis zu beobachten. Bis zur 9. Wahlperiode war es Usus, daß die Geschäftsordnung des Vorgängerbundestages aufgrund interfraktioneller Vereinbarung auch für den neuen Bundestag übernommen wurde. Der Übernahmebeschluß erfolgte dabei seit der 4. Wahlperiode dergestalt, daß der Alterspräsident den Inhalt der interfraktionellen Vereinbarung bekanntgab und feststellte, daß sich kein Widerspruch erhob 75 . Mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag 1983 änderte sich die Übernahmepraxis. Es war befürchtet worden, die Grünen könnten schon die konstituierende Sitzung des Bundestages dazu benutzen, mit Hilfe geschäftsordnungsmäßiger Minderheitenrechte aufsehenerregende parlamentarische Aktionen zu starten und damit einen geordneten Einstieg in die
71 Achterberg , Parlamentsrecht, S. 329 f.; Norbert Achterberg/Marim Schulte , in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 3. Auflage, 1991, Art. 40 Rz. 55. 72 Norbert Achterberg, Die parlamentarische Verhandlung, 1979, S. 57 f.; Hatschek, Parlamentsrecht, S. 41; Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Art. 40 Rz. 55; Rothaug, Leitungskompetenz, S 69. 73 Rothaug , Leitungskompetenz, S. 69. 74 Schäfer, Bundestag, S. 66. 75 Vgl. Alterspräsident Pferdemenges in der 1. Sitzung des 4. Bundestages, Sten.Ber. 4.WP, 17.10.1991, S. 1 B; Alterspräsident Adenauer in der 1. Sitzung des 5. Bundestages, Sten.Ber. 5. WP, 19.10.1965, S. 1 B; Alterspräsident Born in der 1. Sitzung des 6. Bundestages, Sten.Ber. 6. WP, 20.10.1969, S. 1 B; Alterspräsident Dr. Schmid in der 1. Sitzung des 7 Bundestages, Sten.Ber. 7. WP, 30.10.1972, S. 1 A; Alterspräsident Erhard in der 1. Sitzung des 8. Bundestages, Sten.Ber. 8. WP, 14.12.1976, S. 1 A; Alterspräsident Wehner in der 1. Sitzung des 9. Bundestages, 9. WP, 4.11.1980, S. 1 B.
A. Die Rechtsquelen
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Wahlperiode behindern 76. Um dies zu vermeiden, zog es die Parlamentsmehrheit vor, die konstituierende Sitzung zunächst ohne Geschäftsordnung und allein auf das Mehrheitsprinzip gestützt zu eröffnen und erst im Verlauf der Sitzung über die Übernahme der Geschäftsordnung sowie über Änderungsanträge zur Geschäftsordnung zu beschließen77. Dieses Verfahren behielt der Bundestag bis in die gegenwärtige 13. Wahlperiode bei, wobei es stets zu lebhaften Diskussionen um einzelne Änderungsanträge kam 78 . Diese gewandelte Praxis spricht dafür, daß die Diskontinuität der parlamentarischen Geschäftsordnung auch in der Wissenschaft wieder ernster genommen werden sollte. Sie zeigt insbesondere, daß die These, es handele sich bei der Diskontinuität parlamentarischer Geschäftsordnungen angesichts der parlamentarischen Praxis, die GOBT häufig konkludent und stets unverändert zu übernehmen, um eine bloße Fiktion 79 , heute nicht mehr haltbar ist. Allerdings ist zuzugestehen, daß die Auseinandersetzung um die Frage der Geschäftsordnungsdiskontinuität weder theoretisch noch praktisch von überragender Bedeutung ist. Denn selbst wenn die Geschäftsordnung über eine Legislaturperiode Geltung beanspruchen könnte, gäbe es keine Handhabe, ein neues Parlament daran zu hindern, sich mit einfacher Mehrheit neue Verfahrensregeln zu geben und so die alte Geschäftsordnung außer Kraft zu setzen. Das neue Parlament wäre allerdings belastet mit der „Änderungsinitiative" 80 . Eine ernsthafte Beeinträchtigung der Souveränität des Parlamentes kann hierin allerdings schon deshalb nicht gesehen werden, weil der gleiche Beschluß zu treffen wäre, wenn die alte Geschäftsordnung für das neugewählte Parlament keine Bedeutung mehr hätte und dieses folglich erst einmal in einem dann zu findenden Verfahren 81 seine neue Geschäftsordnung in Kraft setzen müßte. Neben den juristischen streitet aber auch ein politisch-psychologisches Moment für die Diskontinuität der GOBT. Für das Selbstverständnis eines neu gewählten Bundestages macht es einen Unterschied, ob dieser in seiner konkreten personellen Zusammensetzung „seine" Geschäftsordnung beschließt oder 76 Wolfgang Zeh, Literaturbesprechung: Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, AöR 121 (1996), S. 125 (127). 77 Sten.Ber. 10. WP, 1. Sitzung, 29.3.1983, S.8 B ff. 78 Sten.Ber. 11. WP, 1. Sitzung, 18.2.1987, S. 9 B ff.; Sten.Ber. 12. WP, 1. Sitzung, 20.12.1990, S. 8 C ff.; Sten.Ber. 13. WP, 1. Sitzung, 10.11.1994, S. 7 D ff. 79 Hans Schneider, Die Bedeutung der Geschäftsordnungen oberster Staatsorgane für das Verfassungsleben, in: Festschrift für Rudolf Smend, 1952, S. 303 (314). 80 Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 31. 81 Selbst in diesem Fall wäre es zweckmäßig, wenn das Parlament solange die alte Geschäftsordnung in Kraft setzte, bis die neue verabschiedet ist.
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
ob er bereits bei seiner Konstituierung ein vorgefertigtes Geschäftsreglement vorfindet, das ihn von vornherein bindet 82 . Dies gilt in besonderem Maße für die neu in den Bundestag gewählten Abgeordneten und ist eine tatsächliche Folge der rechtlichen Repräsentationserneuerung. Letztlich spricht entscheidend fiir die Diskontinuität, daß sie dem jeweiligen Bundestag die Gelegenheit gibt, die Erfahrungen des Vorgängerparlamentes zu resümieren und sich bereits bei der Inkraftsetzung der GOBT über die Schwächen und Stärken seines Selbstorganisationsrechts Gedanken zu machen. Ohne Diskontinuität drohte das ohnehin vergleichsweise beständige Geschäftsordnungsrecht zu versteinern, was dem Ziel flexibler Verfahrensregeln gerade zuwiderliefe. Auch unter dem Gesichtspunkt, daß es zu den Aufgaben des Bundestages zählt, sein Verfahrensrecht stets zu verbessern und die Notwendigkeit rechtsbegrenzender Geschäftsordnungsregelungen stets neu zu überdenken 83, erscheint es notwendig, daß jeder Bundestag fiir sein eigenes Selbstorganisationsrecht verantwortlich zeichnet und nicht von vornherein an das Recht des vorangegangenen Parlaments gebunden wird. Es ist auch nicht etwa so, daß sich das Parlament in seiner ersten Sitzung vor der Übernahme der alten oder dem Erlaß einer neuen Geschäftsordnung in einer „Münchhausen-Situation"84 befindet, weil der Übernahmebeschluß seinerseits nach einer Geschäftsordnung gefaßt werden müßte. Vielmehr kann dieser Beschluß ohne jegliche Bindung an eine Geschäftsordnung erfolgen. Es gelten ausschließlich die im Grundgesetz vorgeschriebenen Verfahrensregeln; insbesondere die der Öffentlichkeit, Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG. Die Einberufung erfolgt durch den bisherigen Bundestagspräsidenten innerhalb der Dreißig-Tage-Frist des Art. 39 Abs. 2 GG. Die Sitzungsleitung liegt traditionell beim Alterspräsidenten. Hierbei handelt es sich indes nicht um ein Gewohnheitsrecht, vielmehr hat das einberufene Parlament es in der Hand, einem seiner Mitglieder die Sitzungsleitung durch einen Beschluß gemäß Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG zu übertragen 85 . Auch zu dem Beschluß, die Geschäftsordnung des Vorgängerparlaments zu übernehmen oder eine gänzlich neue in Kraft zu setzen, ist gemäß Art. 42 Abs. 2 GG die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich. Gerade weil zu Beginn der ersten Sitzung noch keine Verfahrensvorschriften bestehen, kann dieser Beschluß auch stillschweigend getroffen werden. Warum hierfür ein
82
Zeh, AöR 121 (1996), S. 125 (127). Siehe oben Kapitel 5 Abschnitt 2 C IV. 84 Pietzcker , in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 29. 85 Vgl. die Einwände zur Existenz parlamentarischen Gewohnheitsrechts sogleich, Kapitel 7 Abschnitt 1 E I. 83
A. Die Rechtsquellen
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eigenes Verfahrensreglement erforderlich sein soll, erscheint unverständlich, zumal es dem neuen Parlament selbstverständlich unbenommen ist, im Konsens aller Mitglieder auch schon vor dem Übernahmebeschluß nach der alten Verfahrensordnung zu verfahren 86. In der Praxis bereitet dies offenbar keine Schwierigkeiten. So ist es dem 13. Bundestag ohne weiteres möglich gewesen auch ohne inkraftgesetzte Geschäftsordnung in geheimer Wahl eine Bundestagspräsidenten zu wählen 87 . Da der Diskontinuitätsgrundsatz dem parlamentarischen Selbstverständnis eher gerecht wird und jedem neuen Bundestag die Gelegenheit gibt, die Schwächen und Stärken des Geschäftsordnungsrechts des Vorgängerparlament neu zu überdenken, sollte daher an diesem hergebrachten Prinzip festgehalten werden. Gerade die jüngere parlamentarische Praxis hat gezeigt, daß es durchaus Situationen gibt, in denen ein neu gewählter Bundestag nicht ohne weiteres gewillt ist, die gesamte Geschäftsordnung so, wie sie ihm vom vorangegangenen Bundestag hinterlassen wurde, kommentarlos zu übernehmen. c) Ergebnis Im Ergebnis ist daher festzuhalten, daß Vorschriften der GOBT, ebenso wie alle anderen Rechtsvorschriften, mit ihrer Publikation Rechtsgültigkeit erlangen. Die Art und Weise der Publikation kann der Geschäftsordnungsgeber im Rahmen seines Selbstorganisationsrechts bestimmen. Die gesamte GOBT verliert ihre Gültigkeit mit dem Ablauf einer Wahlperiode und wird in der Praxis vom neuen Bundestag - zum Teil mit einigen Modifikationen - zum Beginn der neuen Wahlperiode wieder in Kraft gesetzt.
IL Anlagen zur GOBT Der GOBT sind insgesamt sieben Anlagen angefugt. Diese Form wurde gewählt, um neue Verfahrensinstitute zu erproben, ohne den Text der GOBT verändern zu müssen88. Die Bezeichnung als Anlagen und ihr Abdruck im Anschluß an die geschäftsordnungsrechtliche Paragraphenfolge könnten zu dem
86 Wie es auch im Konsens ganz andere Verfahrensregeln benutzen könnte. Ist kein Konsens zu erreichen, so bedarf es dagegen zu jedem Verfahrensschritt eines Mehrheitsbeschlusses. 87 Sten.Ber. 13. WP, 1. Sitzung, 10.11.1994, S. 3 C ff. 88 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 57.
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
Schluß verleiten, daß es sich hierbei nicht um vollwertiges Geschäftsordnungsrecht handelt. 7. Inkorporiertes
Geschäftsordnungsrecht
Zumindest dann, wenn die GOBT Anlagen zu ihrem Bestandteil erklärt, handelt es sich aber um Recht, das auf einer Ebene mit der GOBT steht. Dies ist gemäß § 17 GOBT der Fall für die „Geheimschutzordnung" (Anlage 3) und gemäß § 18 GOBT für die „Verhaltensregeln für Mitglieder des Bundestages" (Anlage 1). Allerdings überschreitet der Erlaß von Verhaltensregeln den von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG geschützten Bereich des Selbstorganisationsrechts, weshalb die geschäftsordnungsrechtlichen Festlegungen keine Rechtsverbindlichkeit zu erzeugen vermögen 89. Auch soweit die kodifizierte Geschäftsordnung die Regelung näherer Einzelheiten vom Bundestag zu beschließenden Richtlinien überläßt, die als Anlage der GOBT angefügt sind, handelt es sich um Recht, das mit derselben Verbindlichkeit ausgestattet ist, als wären die betreffenden Einzelheiten in die laufende Paragraphenfolge der GOBT aufgenommen worden. Dies gilt für die „Richtlinien für die Fragestunde und für schriftliche Einzelfragen" (Anlage 4) gemäß § 105 S. 2 GOBT, für die „Richtlinien für Aussprachen zu Themen von allgemeinem aktuellen Interesse" (Anlage 5) gemäß § 106 Abs. 1 GOBT und für die Richtlinien zur „Befragung der Bundesregierung" (Anlage 7) gemäß § 106 Abs. 2 S. 2 GOBT. 2. Sonderfälle:
Anlagen 2 und 6
Allein bei Anlage 2 „Registrierung von Verbänden und deren Vertretern" und Anlage 6 „Beschluß des Deutschen Bundestages betr. Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestages" und „Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten und in Fällen der Genehmigung gemäß § 50 Abs. 3 StPO und § 382 Abs. 3 ZPO sowie bei Ermächtigungen gemäß § 90 b Abs. 2, §194 Abs. 4 StGB" stellt sich die Frage, ob es sich um Recht handelt, das auf einer Normebene mit der GOBT steht.
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Siehe oben Kapitel 2 B I 4.
A. Die Rechtsquellen
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a) Anlage 2 Für Anlage 2 „Registrierung von Verbänden und deren Vertretern" findet sich keine Verankerung in der GOBT. Die Anlage bestimmt in Absatz 1, daß der Bundestagspräsident eine öffentliche Liste führt, in der alle Verbände, die Interessen gegenüber dem Bundestag oder der Bundesregierung vertreten, eingetragen werden. Absatz 2 regelt, daß Verbandsvertreter nur angehört werden, wenn sie sich in diese Liste eingetragen und bestimmte Angaben gemacht haben. Nach Absatz 3 werden Interessenvertretern Hausausweise nur ausgestellt, wenn sie die Angaben nach Absatz 2 gemacht haben. Gemäß Absatz 4 besteht auf die Ausstellung der Hausausweise kein Anspruch und Absatz 5 bestimmt, daß der Bundestagspräsident die Liste jährlich im Bundesanzeiger veröffentlicht. Die Bestrebungen, eine „Lobbyisten-Liste" zu führen, reichen in das Jahr 1965 zurück, als die Interparlamentarische Arbeitsgemeinschaft (IPA) ihren Mitgliedern empfahl, in den Parlamenten die freiwillige Eintragung der Interessenvertreter in eine Liste zu beantragen 90. In der 5. Wahlperiode wurde ein entsprechender Antrag in den Bundestag eingebracht 91, der später durch einen gemeinsamen Antrag der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion ergänzt wurde 92 . Bereits dieser Antrag aus der 5. Wahlperiode stellte die Verknüpfung zwischen Registrierung und Anhörung her. Zu einer Verabschiedung kam es jedoch nicht mehr. Erst gegen Ende der 6. Wahlperiode wurden die Regelungen über die „Registrierung von Verbänden und deren Vertretern" am 21.9.197293 als Anlage 1 a 9 4 der GOBT aufgrund eines Ausschußantrages95 ohne Aussprache angefügt. Der Berichterstatter, der zugleich Vorsitzender des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung war, führte bei der parlamentarischen Beratung aus, daß sowohl die Regeln über die Registrierung der Verbände als auch die gleichzeitig beratenen Verhaltensregeln für Abgeordnete der Selbstreinigung des Parlaments dienten 96 .
90 Vgl. zur Entstehungsgeschichte Peter Schindler, 1994, S. 891 f. und Troßmann, Parlamentsrecht, Anlage 91 BT-Drs. V/125. 92 BT-Drs. V/2954. 93 Sten.Ber. 6. WP, 198. Sitzung, 21.9.1972, S. 19.10.1972, BGBl. IS. 2066. 94 Seit der GO-Reform 1980 Anlage 2. 95 BT-Drs. VI/3807 Nr. 1. 96 Berichterstattung des Abgeordneten Schoettle, 6. 11699.
Datenhandbuch 1983 bis 1991, la zur GO Rz. 1
11699 D; bekanntgemacht am
WP, 198. Sitzung, 21.9.1972, S.
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
Allerdings stehen die Registrierungsvorschriften in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der parlamentarischen Selbstreinigung, denn diese ist nach innen gerichtet, während sich die Registrierungsvorschriften nach außen an die Verbände richten 97 . Um zu erreichen, daß sich die Verbände auch tatsächlich eintragen, legt Absatz 2 fest, daß ohne Eintragung keine Anhörung von Verbandsvertretern stattfindet. Die Eintragung begründet jedoch gemäß Absatz 4 der Anlage keinen Anspruch auf die Anhörung. Diese eigenartige Konstruktion führt dazu, daß die Sanktion der Nichteintragung weniger den nichteingetragenen Verband als vielmehr den anhörenden Ausschuß trifft, denn dieser kann bei einer öffentlichen Anhörung nach § 70 GOBT keine Verbände hören, die nicht registriert sind. Da öffentliche Anhörungen aber nicht die Artikulation von Verbandsinteressen als Selbstzweck verfolgen, sondern der Information des Bundestages dienen, erscheint diese Rechtsfolge fragwürdig. Sachverstand von Vertretern nicht registrierter Verbände oder die Sichtweise, der von einem parlamentarischen Beratungsgegenstand unmittelbar betroffenen Personen, die von einem nichtregistrierten Verband vertreten werden, gingen dem Bundestag auf diese Weise verloren. Dieses Ergebnis kann nicht überzeugen, denn der Bundestag bestrafte sich selbst dafür, daß ein Verband es versäumte, sich in eine Liste einzutragen. Zwar mag man einwenden, daß Verbände, die Interesse daran haben, angehört zu werden, schon im eigenen Interesse die Eintragung vornehmen werden. Es lassen sich aber auch Fälle denken, in denen ein Ausschuß einen Verband, der sein Desinteresse durch Nichteintragung bekundet hat, gleichwohl einladen möchte, da ihm dies immerhin die Möglichkeit gibt, nach außen zu dokumentieren, daß Gesprächsbereitschaft seitens des Bundestages vorhanden war. Auch wenn der Zweck der Liste darin gesehen wird, die Interesseneinflüße transparenter zu gestalten98, ist die Rechtsfolge des Absatz 2 nicht geeignet, diesen Zweck zu erreichen, denn es kennzeichnet öffentliche Anhörungen ja gerade, daß sie vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden. Die Nichtanhörung ist der Transparenz deshalb eher abträglich als zuträglich. Der Zweck der Anlage 2 kann aber darin bestehen, dem Bundestag eine Übersicht über alle Verbände zu geben, die ihrerseits interessiert sind, ihm bei öffentlichen Anhörungen zur Verfügung zu stehen. Diese Liste kann auch insoweit der Transparenz dienen als sie jedermann zugänglich ist und es deshalb 97 98
Troßmann , Parlamentsrecht, Anlage l a zur GO Rz. 1. So Schindler , Datenhandbuch 1983 bis 1991, S. 892.
A. Die Rechtsquellen
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durchschaubar macht, wenn der Bundestag bestimmte Verbände bei seinen Anhörungen immer wieder berücksichtigt, während er andere völlig ausläßt. Dies rechtfertigt es aber nicht, daß Vertreter solcher Verbände, die nicht eingetragen sind, kategorisch nicht angehört werden dürfen. Abgesehen von dieser unpassenden Rechtsfolge erscheint es aber auch fraglich, ob die Anlage 2 überhaupt verbindliches Geschäftsordnungsrecht setzt. Ein Verweis der GOBT auf die Anlage fehlt, woraus sich schließen läßt, daß der Bundestag den Registrierungsvorschriften nicht die gleiche Bedeutung zumißt wie anderen Anlagen, auf die die Geschäftsordnung verweist. Bei der parlamentarischen Beratung wurde ausdrücklich auf den experimentellen Charakter der Regelung hingewiesen" und die Erwartung geäußert, daß die Regelung „demnächst" Eingang in die GOBT finden werde 100 . Es mag sein, daß dies bis heute nur deshalb nicht geschehen ist, weil sich die Registrierungsbestimmungen aus der Sicht des Bundestages auch ohne Aufnahme in die GOBT bewährt haben, denn mittlerweile tragen sich mehr als 1.500 Verbände in die Liste ein 1 0 1 . Die Nichtaufnahme in die GOBT bedeutet aber rechtlich, daß die Registrierungsbestimmungen sich noch im Stadium experimentellen Geschäftsordnungsrechts befinden. Experimentelles Geschäftsordnungsrecht aber kann nicht die gleiche Gültigkeit beanspruchen wie solches, das in der GOBT festgeschrieben ist, ansonsten würde dem erklärten Willen des Bundestages, bestimmte Regeln erst zu erproben, widersprochen. Aus dem Erprobungscharakter experimentellen Geschäftsordnungsrechts folgt, daß es auch ohne Bundestagsbeschluß ausgesetzt werden, wenn es sich im Einzelfall als unzweckmäßig erweist. Hält ein Ausschuß es für erforderlich, so kann er deshalb auch solche Verbände anhören, die sich nicht in die Liste eingetragen haben. Der Bundestagspräsident kann in diesen Fällen auch nicht unter Hinweis auf Absatz 3 der Anlage 2 die Ausstellung von Hausausweisen an die Verbandsvertreter verweigern. Die Auffassung von Rothaug, daß der GOBT untergeordnete Rechtsquellen die gleiche Unverbrüchlichkeit zukommt wie der GOBT selbst 102 , vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Sie hätte zur Folge, daß eine Abweichung stets nur mit der Zweidrittelmehrheit des § 126 GOBT möglich wäre. Dieses Ergebnis kann für eine Regelung, die nach dem erklärten Willen des Bundestages nur Erprobungszwecken dienen soll, nicht überzeugen, denn wenn sich bei der 99 100 101 102
Sten.Ber. 6. WP, 198 Sitzung, 21.9.1972, S. 11699 C. Sten.Ber. 6. WP, 198 Sitzung, 21.9.1972, S. 11699 A. Vgl. Schindler, Datenhandbuch 1983 bis 1991, S. 892. Rothaug, Leitungskompetenz, S. 83.
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
Erprobung die Unstimmigkeit oder Unzweckmäßigkeit einer Bestimmung ergibt, so folgt aus ihrem Erprobungscharakter, daß eine möglichst unkomplizierte Anpassung an die parlamentarischen Bedürfnisse möglich sein muß. Das Plenum wird häufig gar nicht in der Lage sein, über eine entsprechende Anpassung zu befinden, insbesondere dann nicht, wenn es nicht Adressat der Erprobungsregel ist und es deshalb auch nicht über eigene Normanwendungserfahrung verfügt. Unverbrüchlichkeit kann eine Geschäftsordnungsregel erst dann für sich in Anspruch nehmen, wenn sie das Erprobungsstadium überwunden hat und Bestandteil der GOBT geworden ist. Aus diesem Grund erscheint es auch unbedenklich, daß das Präsidium beschlossen hat, daß Körperschaften, Stiftungen und Anstalten des öffentlichen Rechts sich nicht in die Liste eintragen müssen103, denn da es sich bei Anlage 2 um eine Erprobungsregel handelt, können auch parlamentarische Leitungsgremien aus Zweckmäßigkeitserwägungen von ihr abweichen oder Ausnahmen zulassen. Anlage 2 ist damit ein Beispiel für experimentelles Geschäftsordnungsrecht, das erst dann verbindlich wird, wenn es sich in der Praxis bewährt hat und deshalb vom Bundestag entweder direkt oder durch Verweisung zum Bestandteil der GOBT gemacht wird. b) Anlage 6 Auch die im zweiten Teil der Anlage 6 der GOBT geregelten Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten stehen nicht auf einer Regelungsebene mit der GOBT. Diese Grundsätze finden ihre Rechtsgrundlage zwar in § 107 Abs. 2 GOBT und dem im ersten Teil der Anlage 6 abgedruckten „Beschluß des Bundestages betr. Aufhebung der Immunität von Mitgliedern des Bundestages", die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten werden aber nicht vom Plenum, sondern vom Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beschlossen. Aus diesem Grunde scheidet eine Bindung des Plenums an die Grundsätze aus. Sie sind daher auch trotz ihrer räumlichen Verortung als Anlage der GOBT nicht Bestandteil der Geschäftsordnung, wie der Bundestag sie zu Beginn der Wahlperiode beschließt 104 . Vielmehr werden sie vom Geschäftsordnungsaus103
Schindler , Datenhandbuch 1983 bis 1991, S. 892. Hermann Butzer , Die Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten, ZParl 1993, S. 384 (387 f.). 104
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schuß zu Beginn der Wahlperiode als Sondergeschäftsordnungsrecht des Ausschusses beschlossen. Nur für diesen sind sie verbindlich 105 . Ihre Bedeutung für den Bundestag folgt daraus, daß dieser mit § 107 Abs. 2 GOBT und insbesondere dadurch, daß er den Ausschuß durch Beschluß beauftragt hat, eine Vorentscheidung zu treffen (Nr. 3 1. Teil der Anlage 6), einen Teil der zu treffenden Immunitätsentscheidung auf den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung übertragen hat 106 . Daraus folgt, daß eine „Vorentscheidung" des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung die gleiche Wirkung wie ein Plenarbeschluß hat, wenn nicht innerhalb von sieben Tagen Widerspruch erhoben wird (Nr. 13 S. 2 2. Teil der Anlage 6). Trifft das Bundestagsplenum dagegen eine eigene Immunitätsentscheidung, so ist es nicht an die vom Ausschuß aufgestellten „Grundsätze in Immunitätsangelegenheiten" gebunden. 3. Ergebnis Während es sich bei den Vorschriften über die „Registrierung von Verbänden und deren Vertretern" in Anaige 2 der GOBT um experimentelles Geschäftsordnungsrecht handelt, das solange keine rechtliche Verbindlichkeit hat, bis es formell in die GOBT aufgenommen wird, handelt es sich bei den „Grundsätzen in Immunitätsangelegenheiten" in Anlage 6 um Sondergeschäftsordnungsrecht des Geschäftsordnungsausschusses, das nur diesen und nicht das Bundestagsplenum zu binden vermag. Beide Anlagen stehen daher trotz ihrer räumlichen Verbindung nicht auf einer Regelungsebene mit der GOBT.
III. Ergänzungsbeschlüsse Geschäftsordnungsangelegenheiten können ferner außerhalb der GOBT im Einzelfall oder generell durch Beschluß des Plenums entschieden werden 107 . So sieht § 57 Abs. 1 S. 1 GOBT vor, daß der Bundestag das Systems für eine § 12 GOBT entsprechende Zusammensetzung der Ausschüsse und des Ältestenrates bestimmt. Hierüber faßt der Bundestag in einer der ersten Sitzungen jeder 105
Zur Frage, wie weit diese Verbindlichkeit reicht, Butzer, ZParl 1993, S. 284
(391 ff.). 106
Hierzu und allgemein zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Übertragung von Plenarzuständigkeiten auf Parlamentsausschüsse, oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D II 3 und 4 a). 107 Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 94.
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
Wahlperiode Beschluß. So bestimmte er in der sechsten Sitzung der 13. Wahlperiode, daß die Zahl der auf die Fraktionen und die Abgeordneten der PDS entfallenden Sitze im Ältestenrat und in den Ausschüssen nach dem Verfahren der mathematischen Proportion (St. Laguö/Schepers) zu berechnen sind, soweit nichts anderes vereinbart wird 1 0 8 . Da die GOBT ausdrücklich vorsieht, daß der Bundestag das System der Zusammensetzung bestimmt, schließt der Bundestag mit der Festlegung eines entsprechenden Berechnungsverfahrens eine vom Geschäftsordnungsgeber bewußt gelassene Lücke, weshalb der die Lücke ausfüllende Ergänzungsbeschluß die gleiche Wirkung hat als wenn er Teil der GOBT wäre. Daneben kann der Bundestag auch Lücken in der GOBT schließen, die der Geschäftsordnungsgeber unbewußt gelassen hat. Solche Lücken offenbaren sich häufig erst im parlamentarischen Verhandlungsgang und können ohne zeitliche Verzögerung durch (oftmals stillschweigenden) Parlamentsbeschluß geschlossen werden. Hierfür lassen sich zahlreiche Beispiele in der parlamentarischen Praxis finden, wie zum Beispiel die Umbenennung eines Ausschusses109 oder die Änderung oder Ergänzung eines Überweisungsvorschlages des Ältesten" rates 110 . Daß Beschlüsse, die die Geschäftsordnung im Einzelfall ergänzen, das Plenum für diesen Einzelfall auch binden, bedarf keiner Erläuterung. Solchen auf den individuellen Fall zugeschnittenen Ergänzungsbeschlüssen kommt allerdings keine Präzedenzwirkung für zukünftige gleichgelagerte Fälle zu 1 1 1 , obgleich das Parlament selbstverständlich nicht gehindert ist, bei Bewährung erneut einen gleichförmigen Beschluß zu fassen. Bei mehrmaliger gleichförmiger Wiederholung können solche Einzelfallbeschlüsse zur Entstehung eines parlamentarischen Brauchs führen 112 .
108
Sten.Ber. 13. WP, 6. Sitzung, 24.11.1994, S. 157 B. Sten.Ber. 12. WP, 76. Sitzung, 13.2.1992, S. 6273 B. 1,0 Allein in der 222. Sitzung des 12. Bundestages wurde von dieser in der GOBT nicht vorgesehenen Möglichkeit dreimal Gebrauch gemacht, Sten.Ber. 12. WP, 222. Sitzung, 21.4.1994, S. 19219 C, 19240 B, 19249 B. 111 Gert Klinke , Die Geschäftsordnung des Bundestages, insbesondere die Rechtsstellung des Bundestagspräsidenten unter Heranziehung der Geschäftsordnungen der Länderparlamente, 1959, S. 84; a.A. Heinz Kraul , Zur Ausfüllung von Lücken in parlamentarischen Geschäftsordnungen, 1972, S. 57. 1,2 Rothaug , Leitungskompetenz, S. 83; die Erstarkung zu Gewohnheitsrecht kommt dagegen wegen grundsätzlicher Einwände gegen die Entstehung parlamentarischen Gewohnheitsrechts, siehe unten Kapitel 7 Abschnitt 1 E I, nicht in Frage. Zur Rechtsnatur und Bindungswirkung des parlamentarischen Brauchs sogleich Kapitel 7 Abschnitt 1 E II. 109
A. Die Rechtsquellen
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Auch Erprobungsregeln zur GOBT, die eine unbestimmte Zahl künftiger Fälle betreffen, können durch einen Ergänzungsbeschluß in Kraft gesetzt werden. Ihre Veröffentlichung als Anlage zur GOBT, wie bei den Registrierungsbestimmung in Anlage 2 geschehen, ist möglich, aber nicht obligatorisch. Ein Beispiel hierfür ist der Beschluß des 12. Bundestages, bei der Überweisung von EG-Vorlagen probeweise jeweils einen 1. mitberatenden Ausschuß zu bestimmen und diesem Ausschuß besondere Rechte, insbesondere im Hinblick auf die Berichterstattung, einzuräumen 113. Solche generellen Ergänzungsbeschlüsse zählen zum experimentellen Geschäftsordnungsrecht. Ihnen kommt solange keine rechtliche Unverbrüchlichkeit zu, bis sie in die GOBT aufgenommen werden 114 .
IV. Auslegungsentscheidungen
1. Verfahren
und Organe der Geschäftsordnungsauslegung
Das Recht des Bundestages, seine Geschäftsordnung auszulegen, folgt notwendig aus dem Recht, sich eine Geschäftsordnung zu geben und steht deshalb grundsätzlich dem Plenum des Bundestages zu, das mit Mehrheit entscheiden kann 115 . Das Plenum ist aber nicht gehindert, die ihm originär zustehende Auslegungskompetenz auf den Parlamentspräsidenten oder auf parlamentarische Gremien zu übertragen 116. Dementsprechend bestimmt § 127 Abs. 1 S. 1 GOBT, daß während einer Sitzung des Bundestages bei auftretenden Zweifeln über die Auslegung der Geschäftsordnung der Präsident für den Einzelfall entscheidet. Im übrigen obliegt die Auslegung der GOBT dem Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, § 127 Abs. 1 S. 2 Hs. l.GOBT. Gegen eine Entscheidung des Geschäftsordnungsausschusses kann auf Antrag des Präsidenten, eines Ausschusses, einer Fraktion, eines Viertels des Geschäftsordnungsausschusses oder
113
Sten.Ber. 12. WP, 53. Sitzung, 6.11.1991, S. 4406 C. Zum experimentellen Geschäftsordnungsrechts siehe die Ausführungen zu Anlage 2 der GOBT, oben Kapitel 7 Abschnitt 1 B II 1. 115 Haug, Bindungsprobleme, S. 160; Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 121; seit Hatschek, Parlamentsrecht, S. 60, ist diese Ansicht ganz herrschend; a.A. noch Kurt Pereis, das autonome Reichstagsrecht, 1903, S. 17 (Parlamentspräsident). 116 Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 122; vgl. bereits oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D II 3. 114
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages das Plenum als letztentscheidende Instanz angerufen werden, § 127 Abs. 1 S. 2 Hs. 2. GOBT. Im Gegensatz zu den Entscheidungen des Geschäftsordnungsausschusses dürfen Entscheidungen des amtierenden Präsidenten im Bundestag nicht kritisiert werden. Der Präsident selbst hat die Möglichkeit, vor einer Entscheidung die Zweifelsfrage durch den Geschäftsordnungsausschuß prüfen zu lassen und zu diesem Zweck gegebenenfalls die Plenarsitzung zu unterbrechen. Es ist aber auch zulässig, daß er die Zweifelsfrage ohne Vorprüfung durch den Geschäftsordnungsausschuß dem Plenum zur Entscheidung überläßt, denn wenn der Präsident selbst im Zweifel über die richtige Auslegung ist oder die Auslegungsentscheidung gleichzeitig die Entscheidung in der Sache bedeutet, fällt die Auslegungskompetenz an das Plenum zurück 117 . Neben dem Geschäftsordnungsausschuß und dem Bundestagspräsidenten befaßt sich der Ältestenrat mit Auslegungsfragen. Anknüpfungspunkt für den Ältestenrat, Geschäftsordnungsprobleme zu erörtern, sind die Besprechung der Tagesordnung der nächsten Sitzung nach §21 Abs. 1 GOBT und die regelmäßige Besprechung der Plenarsitzungen einer Woche 118 . Diese Besprechungen geben ihm Gelegenheit sowohl auf Geschäftsordnungsprobleme bevorstehender als auch auf das Verfahren zurückliegender Plenarsitzungen einzugehen. Dabei können auch Entscheidungen des Präsidenten erörtert und auf diesem Wege mittelbar, etwa nach Einschaltung des Geschäftsordnungsausschusses (§ 128 GOBT), Plenarentscheidungen in Geschäftsordnungsangelegenheiten herbeigeführt werden 119 . Der Ältestenrat befaßt sich aber auch unabhängig von konkreten Plenarsitzungen mit Geschäftsordnungsfragen. Erledigt werden diese Geschäftsordnungsangelegenheiten durch Vereinbarung im Ältestenrat, nicht durch Beschluß 120 . 2. Reichweite der A uslegungsbefugnis Bei der Auslegung der GOBT sind wie bei der Auslegung aller Rechtssätze die methodologisch anerkannten Auslegungsregeln zu beachten. Die Auslegung 117 Hans-Achim Roll, Auslegung und Fortbildung der Geschäftsordnung, in: Festgabe für Werner Blischke, 1982, S. 93 (99); Hans Troßmann, Der Bundestag: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit, JöR NF 28 (1979), S. 1 (189); derselbe, Parlamentsrecht, § 128 Rz. 3; a.A. ohne Begründung Ritzel/Bücker, § 127 Anm I 1 c). 118 Roll , in: Festgabe für Blischke, S. 93 (95).
119 120
Kretschmer , in: Schneider/Zeh, § 6 Rz. 122.
Roll, in: Festgabe für Blischke, S. 93 (95); zur Rechtsqualität dieser Vereinbarungen sogleich Kapitel 7 Abschnitt 1 F.
A. Die Rechtsquellen
257
erfolgt daher unter historischen, genetischen, systematischen und teleologischen Gesichtspunkten121. Fraglich ist, ob die Kompetenz, die Geschäftsordnung auszulegen, auch zur Rechtsfortbildung berechtigt. Teilweise beantwortet die GOßT diese Frage selbst. So bestimmt § 127 Abs. 1 S. 1 GOßT, daß „der Präsident im Einzelfall" über die Auslegung der Geschäftsordnung entscheidet. Daraus ergibt sich, daß die Entscheidung eben auch nur den Einzelfall betrifft und keine rechtsfortbildende Wirkung hat. Es handelt sich daher nicht um einen Präzedenzfall, dem eine Regel entnommen werden kann, die in künftigen Fällen Anwendung findet 122 . Diese Einschränkung rechtfertigt sich aus Spontaneität, mit der eine Auslegungsentscheidung während einer laufenden Plenarsitzung häufig fallen muß. Zulässig ist es jedoch, bestimmte Auslegungsentscheidungen des Präsidenten bei der Geschäftsordnungsinterpretation als Argumente zu verwenden 123. Die Auslegungsbefugnis des Präsidenten ist aber noch in weiterer Hinsicht beschränkt. § 127 Abs. 1 S. 1 GOßT räumt dem Präsidenten nur das Recht ein, die Geschäftsordnung auszulegen. Das heißt, daß im bisherigen Geschäftsordnungsrecht eine Vorschrift enthalten sein muß, die im gegebenen Fall unmittelbar oder entsprechend angewendet werden soll. Fehlt in der geschriebenen Geschäftsordnung, der parlamentarischen Übung oder in den Auslegungsentscheidungen des Geschäftsordnungsausschusses jedwede Regelung, so kann der Präsident keine Entscheidung nach § 127 Abs. 1 S. 1 GOßT treffen, denn für die Ergänzung der Geschäftsordnung ist nur das Haus zuständig 124 . In diesen Fällen hat der Präsident nur die Möglichkeit, dem Plenum einen Vorschlag zu unterbreiten und im Falle ausdrücklicher oder stillschweigender Billigung hiernach zu verfahren. Unerheblich für die Entscheidung nach § 127 Abs. 1 S. 1 GOBT ist dagegen, ob eine grundsätzliche Zweifelsfrage zu entscheiden ist, denn die Bestimmung
121
Hierzu eingehend Achterberg, Parlamentsrecht, S. 333 ff. sowie Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 118 ff. 122 BT-Drs. 8/3460, S. 116; Ritzel/Bücker, § 127 Anm. I a) cc); Roll, in: Festgabe für Blischke, S. 93 (99). 123 Roll, in: Festgabe für Blischke, ebenda. 124 Troßmann, Parlamentsrecht, § 128 Rz. 5; derselbe!Roll, Ergänzungsband, § 127 Rz. 2. 17 Schwerin
258
Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
unterscheidet nicht nach dem Gewicht der zu treffenden Auslegungsentscheidüng 125 . Für die Auslegungsbefiignis des Ältestenrates enthält sich die GOßT jeglicher Bestimmungen. Hierbei handelt es sich um ein beredtes Schweigen. Es besagt, daß der Ältestenrat mit der Auslegung der Geschäftsordnung keine Aufgabe wahrnimmt, die ihm vom Bundestag übertragen ist. Daraus folgt zwar nicht, daß ihm bei der Auslegung besondere Beschränkungen auferlegt sind. Es bedeutet aber, daß die Vereinbarungen über die Auslegung der Geschäftsordnung, die der Ältestenrat trifft, keine Ausprägung der originär dem Plenum zustehenden Auslegungskompetenz sind und deshalb für das Plenum auch keine rechtliche Verbindlichkeit entfalten zu vermögen. Es handelt sich bei diesen Vereinbarungen lediglich um „informelle Normen" 126 , die erst dann Rechtsqualität erlangen, wenn sie vom Bundestag bestätigt werden 127 . Anders verhält es sich bei den Auslegungsentscheidungen, die der Geschäftsordnungsausschuß auf der Grundlage von § 127 Abs. 1 S. 2 GOßT trifft. Mit § 127 Abs. 1 S. 2 Hs. 1 GOßT hat der Bundestag dem Geschäftsordnungsausschuß einen Teil der ihm zustehenden Auslegungskompetenz übertragen 128. Auslegungsentscheidungen des Ausschusses haben daher die gleiche Qualität wie Auslegungsentscheidungen des Plenums. Allerdings bedeutet Auslegung im Sinne von § 127 Abs. 1 S. 2 GOßT nicht, daß der Ausschuß das Recht hat, die GOßT zu ergänzen. Anderenfalls hätte das Plenum einen Teil seines Rechts zur Geschäftsordnungsgebung übertragen, was im Hinblick auf Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG nicht zulässig wäre 129 . Auf die bloße Interpretation der GOßT treffen diese Bedenken dagegen nicht zu 1 3 0 . Die Auslegung des Geschäftsordnungsausschusses kann dem Plenum zur Entscheidung vorgelegt werden, wenn ein Antrag nach § 127 Abs. 1 Hs. 2 GOBT gestellt wird. Insofern hat das Plenum seine Auslegungskompetenz nur unter Vorbehalt übertragen.
125 Troßmann, Parlamentsrecht, § 128 Rz. 11.1; Roll, in: Festgabe für Blischke, S. 93 (99). 126 Gerhard Loewenberg , Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S. 253. 127 Roll , in: Festgabe für Blischke, S. 93 (95). 128 Zur Zulässigkeit parlamentsinterner Zuständigkeitsübertragungen, oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D 3. 129 Wilhelm Kewenig , Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Ausschußarbeit, 1970, S. 46; Roll, in: Festgabe für Blischke, S.93 (98); Troßmann/ Roll, Ergänzungsband, § 127 Rz. 10.
130
Siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D 3.
A. Die Rechtsquellen
259
Auslegungsentscheidungen des Geschäftsordnungsausschusses bilden das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht nicht anders als Auslegungsentscheidungen des Plenums fort. Damit sie über den Einzelfall hinaus Gültigkeit erlangen, müssen sie bekanntgemacht werden. Die Art und Weise der Bekanntmachung ist gemäß § 127 Abs. 2 GOBT dem Geschäftsordnungsausschuß überlassen. Am weitesten geht naturgemäß die Auslegungsbefugnis des Plenums. Allein das Plenum ist in der Lage, über die bloße Interpretation hinaus auch Lücken im geltenden Geschäftsordnungsrecht auszufüllen. Die Initiative für eine entsprechende Auslegungsentscheidung wird allerdings in den seltensten Fällen im Plenum ihren Ausgang nehmen. Im Regelfall wird das Plenum aufgrund einer Empfehlung des Geschäftsordnungsausschusses nach § 128 GOBT einen entsprechenden Beschluß fassen. 3. Bindungswirkung
der Auslegungsentscheidungen
Während die Auslegungsentscheidungen des Bundestagspräsidenten stets Einzelfallentscheidungen sind und daher keine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung haben, können der Geschäftsordnungsausschuß und das Bundestagsplenum Entscheidungen treffen, die den Inhalt des Geschäftsordnungsrechts bindend für die Zukunft festlegen. Dabei unterscheiden sich die Auslegungsentscheidungen des Geschäftsordnungsausschusses in ihrer Bindungskraft nicht von denen des Plenums, denn der Ausschuß nimmt eine ihm vom Plenum übertragene Kompetenz wahr, mit der Folge, daß sein Wille an die Stelle des Willens des Plenums tritt 1 3 1 . Allein sachlich beschränkt sich seine Auslegungsbefugnisse auf solche Entscheidungen, die bereits bestehende Geschäftsordnungsvorschriften anwenden und nicht Lücken der GOBT ausfüllen. Eine Auslegungsentscheidung bewirkt, daß in künftigen gleichgelagerten Einzelfällen entsprechend zu verfahren ist. Allerdings werden die Auslegungsentscheidungen nicht selbst zum Bestandteil der GOBT. Daraus folgt, daß das Plenum selbst stets in der Lage ist, eine einmal getroffene Auslegungsentscheidung außer Kraft zu setzen, ohne daß es hierfür einer Zweidrittel-Mehrheit nach § 126 GOBT bedarf. Dabei steht es ihm frei, nur im Einzelfall oder generell eine andere Auslegungsentscheidung zu treffen. Diese Entscheidungsfreiheit kommt aber einem Geschäftsordnungsanwender, der vom Plenum verschieden
131
Siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D 2.
260
Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
ist, etwa dem Parlamentspräsidenten oder den Ausschüssen, für deren Sitzungen gemäß § 74 GOBT die Geschäftsordnung entsprechend gilt, nicht zu. Daraus folgt, daß Auslegungsentscheidungen des Plenums und des Geschäftsordnungsausschusses für alle parlamentarischen Organe und Unterorgane verbindliches Recht setzen und allein durch eine entgegenstehende neue Entscheidung ihre Bindungswirkung verlieren.
V. Ungeschriebene Regeln Neben dem geschriebenen Geschäftsordnungsrecht lassen sich eine Reihe von ungeschriebenen Verfahrensregeln ausmachen, die von Höflichkeitsformeln bis zu verbindlichen Verhaltensanweisungen reichen und auf vielfältige Weise Zustandekommen können132. Diese Regeln werden herkömmlich nach ihrem Wirkungsgrad als parlamentarisches Gewohnheitsrecht, Parlamentsbrauch und bloße parlamentarische Übungen und Gepflogenheiten qualifiziert 133 . In der Literatur wird dabei häufig statt Gewohnheitsrecht der Begriff der Observanz verwendet 134 und damit die Konsquenz aus der zur Rechtsnatur der GOBT vertretenen Satzungstheorie gezogen, denn als Observanz wird das das Satzungsrecht autonomer Verbände ergänzende Gewohnheitsrecht bezeichnet135. Dieser Begriffsverwendung liegt daher ein Verständnis des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts zugrunde, das nur zutreffend wäre, wenn dem Bundestag als Verfassungsorgan gegenüber dem Staat eine „verselbständigte" Autonomie zukäme 136 . Dies ist aber gerade nicht der Fall 1 3 7 . Aus diesem Grund sollte diese Begrifflichkeit vermieden werden.
132 Werner Blischke , Ungeschriebene Regeln im Deutschen Bundestag, in: Festschrift für Schellknecht, 1982, S. 55. 133 Bereits Kurt Pereis , Das autonome Reichstagsrecht, 1903, S. 7; Achterberg , Parlamentsrecht, S. 67; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 7. 134 Z.B. Kurt Pereis , Geschäftsgang und Geschäftsformen, in: Anschütz/Thoma, Band I, 1930, S. 449 (450); Wolfgang Zeh, Gliederung und Organe des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 1987, § 42 Rz. 23. 135 Allgemein Fritz Ossenbühl , Rechtsquellen und Rechtsbindungen der Verwaltung, in: Hans-Uwe Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Auflage, 1995, § 6 Rz. 74. 136 Schulze-Fielitz , in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 12; ähnlich auch Rothaug , Leitungskompetenz, S. 84 „konstitutionelles Vorverständnis".
13
Siehe oben Kapitel
Abschnitt .
A. Die Rechtsquellen 1. Parlamentarisches
261
Gewohnheitsrecht
Die bisher von der parlamentsrechtlichen Literatur zum parlamentarischen Gewohnheitsrecht entwickelten Grundsätze weisen eine Reihe von Schwachpunkten auf. Bereits die Abgrenzung des parlamentarischen Gewohnheitsrechts vom Parlamentsbrauch bereitet große Schwierigkeiten. Die Voraussetzungen für die Anerkennung von Gewohnheitsrecht im Parlamentsrecht sollen sich nämlich nicht von denen in anderen Rechtsgebieten unterscheiden, gefordert wird daher die Überzeugung vom Rechtscharakter einer Regel und eine lange Dauer oder konstante Übung 138 . Eine regelmäßig wiederkehrende Übung ist aber auch für die Anerkennung einer Regel als Parlamentsbrauch erforderlich. Dieser darf zwar nicht als Recht (ansonsten handelte es sich um Gewohnheitsrecht), muß aber vom Parlament als grundsätzlich zu bewahrende Tradition angesehen werden 139 . Es liegt auf der Hand, daß angesichts dieser unklaren Unterscheidungskriterien die Übergänge fließend sind und keine Einigkeit darüber zu erzielen ist, ob eine bestimmte Regel noch parlamentarischer Brauch oder schon parlamentarisches Gewohnheitsrecht ist, zumal in jedem Parlamentsbrauch „werdendes Gewohnheitsrecht" gesehen wird 1 4 0 . Es überrascht deshalb auch nicht, daß die parlamentarische Praxis mit der Anerkennung von Gewohnheitsrecht äußerst zurückhaltend ist. In der Literatur werden als Beispiele für Gewohnheitsrecht etwa genannt, daß bei Abstimmungen über den weitergehenden Antrag zuerst abzustimmen ist, -
daß der Antrag auf Überweisung an einen Ausschuß jedem anderen Antrag vorzugehen hat, daß die Wahl der Mitglieder des Richterwahlausschusses geheim zu erfolgen hat,
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138
daß politisch linksgerichtete Parteien nicht auf der rechten Seite im Plenum Platz nehmen,
Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 8. Pereis, in: Anschütz/Thoma, S. 449 (450); Karl-Ulrich Meyn, Parlamentsbrauch und Fraktionsgemeinschaft, JZ 1977, S. 167 (168); Rothaug, Leitungskompetenz, S. 87; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 15. 140 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 67; Haug, Bindungsprobleme, S. 163; Hans LechnerAKlaus Hülshof, Parlament und Regierung, 3. Auflage, 1971, S. 186; Pereis, in: Anschütz/Thoma, S. 449 (450). 139
262 -
Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts oder daß der Bundestagspräsident stets von der stärksten Fraktion gestellt wird 1 4 1 .
Die wenig gelungene Abgrenzung zwischen parlamentarischem Gewohnheitsrecht und parlamentarischem Brauch ist vor allem deshalb unbefriedigend, weil nach herrschender Ansicht weitreichende praktische Konsequenzen mit dieser Qualifikation einhergehen, insbesondere wenn von einer Regel abgewichen werden soll. Bei einer Abweichung von parlamentarischem Gewohnheitsrecht soll nämlich eine Zweidrittelmehrheit gemäß § 126GOBT erforderlich sein, während von einem parlamentarischen Brauch durch eine veränderte Praxis oder mit einfacher Mehrheit abgewichen werden könne 142 . Bedenklich erscheint in diesem Zusammenhang, daß im Einzelfall der Bundestagspräsident nach § 127 Abs. 1 S. 1 GOBT im übrigen der Geschäftsordnungsausschuß und insbesondere der Ältestenrat über die Anerkennung als Gewohnheitsrecht entscheidet143, obwohl es sich nicht um die Auslegung einer Rechtsvorschrift handelt, sondern um die Frage, ob überhaupt ein Rechtssatz vorliegt. Hierdurch erlangen parlamentarische Organe, ohne dazu befugt zu sein, die Definitionsmacht darüber, ob bestimmte Regeln dem Geschäftsordnungsrecht zugehören oder nicht. Die Geschäftsordnung stattet sie nicht mit entsprechenden Kompetenzen aus und könnte es auch nicht, da das Recht, sich gemäß Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG eine Geschäftsordnung zu geben, nicht vom Bundestag wegdelegiert werden darf 144 . Es ist auch nicht etwa so, daß das Plenum dadurch Herr des Verfahrens bliebe, daß es die Anerkennung einer Regelung als Gewohnheitsrecht nachträglich zumindest konkludent billige 1 4 5 , denn im Einzelfall entscheidet nach § 127 Abs. 1 S. 1 GOBT allein der Präsident, ohne daß es auf die Meinung des Plenums ankommt. Fühlt dieser sich bei seiner Entscheidung an eine Vereinbarung im Ältestenrat oder eine „Auslegung" des Geschäftsordnungsausschusses gebunden, so bleibt dem Plenum erst recht nichts anderes übrig, als diese Entscheidung zu „billigen" oder eben mit Zweidrittel-Mehrheit eine Abweichungsentscheidung zu treffen. Trifft das Plenum dagegen selbst einmal die Entscheidung, daß einer bestimmten Regelung dieselbe Rechtsverbindlichkeit zukomme wie der GOBT, so handelt es sich nicht
141
Beispiele bei Schulze-Fielitz , in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 10 m.w.N. Haug, Bindungsprobleme, S. 159; Rothaug , Leitungskompetenz S. 84 f.; SchulzeFielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 7; Troßmann , Parlamentsrecht, § 127 Rz. 5. 143 Schulze-Fielitz , in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 9; Zeh, in: Isensee/Kirchhof, § 42 Rz. 38. 144 Siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 5 D III. 145 So Schulze-Fielitz , in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 11. 142
A. Die Rechtsquellen
263
um Gewohnheitsrecht, da ja ein ausdrücklicher Beschluß des Geschäftsordnungsgebers vorliegt. Da über die Frage, ob ein parlamentarisches Gewohnheitsrecht vorliegt nicht der Geschäftsordnungsgeber, sondern ein von diesem verschiedenes parlamentarisches Organ, entscheidet, ist mit der Anerkennung einer Regel als Gewohnheitsrecht stets eine Beeinträchtigung des Rechts des Parlaments verbunden, seinen Geschäftsgang selbst zu bestimmen. Dies ist mit Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG nicht zu vereinbaren. Darüber hinaus erscheint es aber auch fraglich, ob im parlamentarischen Bereich überhaupt je die Bedingungen für die Entstehung von Gewohnheitsrecht gegeben sein können. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß die kodifizierte Geschäftsordnung jeweils nur für eine Legislaturperiode gilt 1 4 6 . Auch das parlamentarische Gewohnheitsrecht könnte aufgrund des Diskontinuitätsgrundsatzes nur das jeweils amtierende Parlament binden. Deshalb müßte parlamentarisches Gewohnheitsrecht in jeder Legislaturperiode neu entstehen. Das „alte" Gewohnheitsrecht könnte nicht für das „neue" Parlament gelten. Zwar ist es in der Praxis so, daß jedes neue Parlament die Geschäftsordnung des Vorgängerparlamentes übernimmt. Hiermit ist nach herrschender Ansicht die Übernahme der Geschäftsordnung auf dem erreichten Stand und damit auch des Gewohnheitsrechts verbunden 147. Diese Auffassung erscheint aber mehr als fragwürdig, führte sie doch dazu, daß Gewohnheitsrecht nicht durch lange Übung, sondern durch Parlamentsbeschluß in Kraft gesetzt würde. Zudem wird man bei einem neu zusammengetretenen Parlament kaum von einer gemeinsamen Rechtsüberzeugung ausgehen können. Fordert man daher für die Entstehung parlamentarischen Gewohnheitsrechts tatsächlich eine lang dauernde Übung und eine gemeinsame Rechtsüberzeugung, kann etwa für solche parlamentarische Angelegenheiten, die innerhalb einer Wahlperiode nur einmal oder nur sehr selten erledigt werden (z.B. Wahl des Bundestagspräsidenten, Wahl der Mitglieder des Richterwahlausschusses), von vornherein kein Gewohnheitsrecht entstehen. Aber auch für sonstige parlamentarische Angelegenheiten könnte sich innerhalb einer Wahlperiode schwerlich Gewohnheitsrecht bilden, da im allgemeinen die Entstehung einer durch lange Übung getragenen Rechtsüberzeugung einen längeren Zeitraum erfordert 148 .
146 147
Siehe oben Kapitel 7 Abschnitt 1 A II. Troßmann, Parlamentsrecht, § 1 Rz. 7.7; Schulze-Fielitz,
Rz. 8. 148
Arndt, Geschäftsordnungsautonomie, S. 131.
in: Schneider/Zeh, § 11
264
Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
Abgesehen von den Bedenken, denen parlamentarisches Gewohnheitsrecht im Hinblick auf Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG begegnet, fehlen im parlamentarischen Raum daher auch die Entstehungsvoraussetzungen für gewohnheitsrechtliche Regeln. 2. Parlamentsbrauch Parlamentarischer Brauch bestimmt in wesentlichem Umfang den Ablauf des parlamentarischen Geschäftsganges und ist für eine fruchtbare Parlamentsarbeit unerläßlich 149 . Er entwickelt sich anhand einer Mehrzahl von Fällen, in denen gleichgelagerte Sachverhalte in gleicher Weise gehandhabt wurden 150 . Als Beispiele hierfür lassen sich etwa die Übung anführen, schon auf Wunsch einer Fraktion, Ausschuß- und Plenarsitzungen zu unterbrechen oder das Verbot der Kritik an der Amtsführung des Präsidenten 1 5 Aus den soeben gegen die Anerkennung des parlamentarischen Gewohnheitsrechts angeführten Gründen, kann auch der Parlamentsbrauch nicht die gleiche Rechtsqualität wie die GOBT beanspruchen. Dem Parlamentsbrauch kommt insbesondere keine geschäftsordnungsderogierende Kraft zu, da die GOBT (auch partiell) nicht ohne (wenigstens stillschweigenden) Parlamentsbeschluß außer Kraft gesetzt oder abgeändert werden kann, ohne daß die parlamentarische Selbstorganisationsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG verletzt würde. Deshalb kann er sich nur im Einklang mit der GOBT entwickeln. Im Gegensatz zum parlamentarischen Gewohnheitsrecht wird dem Parlamentsbrauch in der Literatur der Rechtscharakter überwiegend ganz abgesprochen 152 . Parlamentarische Bräuche zeichnen sich allgemein dadurch aus, daß sie praxisnah, flexibel und konsensfähig sind. Sie ermöglichen dort praktische Kontinuität, wo rechtliche Normen eine Konsensfindung wesentlich erschweren würden 153 . Der Bundestag kann auf diese Weise experimentieren und die praktische 149 Gerhard Alois Reifenberg, Die Bundesverfassungsorgane und ihre Geschäftsordnungen, 1958, S. 10; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 87. 150 Hatschek, Parlamentsrecht, S. 28; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 87; SchulzeFielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 15. 151 Haug, Geschäftsordnungsautonomie, S. 40. 152 Vgl. etwa Haug, Geschäftsordnungsautonomie, S. 163, Achterberg, Parlamentsrecht, S. 67 Fußnote 102; Karl-Ulrich Meyn, Parlamentsbrauch und Fraktionsgemeinschaft, JZ 1977, S. 167 (168); Rothaug, Leitungskompetenz, S. 87; a.A. Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 62. 153 Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 70.
A. Die Rechtsquellen
265
Bewährung solcher informaler Regelungen abwarten und gegebenenfalls schnell verbessern 154. Es widerspräche dieser Erkenntnis, räumte man parlamentarischen Bräuchen oder allgemein ungeschriebenen Regeln des parlamentarischen Verfahrens und der parlamentarischen Organisation Rechtsverbindlichkeit ein. Der Normgeber selbst muß entscheiden, ob er sich einer Regelung rechtlich unterwirft, indem er sie in die GOBT aufnimmt oder dies bewußt unterläßt und so von einer rechtlichen Bindung absieht. Der Geltungsgrund ungeschriebener Parlamentsregeln ist daher auch nicht rechtlicher Natur. Vielmehr leben sie wie alle nichtvertraglichen Regeln von generalisierter Reziprozität 155 . Sie erzeugen Motive zur Leistungserwiderung über kurzfristige machtverzerrte Interessenkalkulationen hinaus. Ihre Funktion besteht darin, Vertrauen, Kooperation und Solidarität zu stiften und durch immer wieder neue Leistungen auf Gegenseitigkeit aufrechtzuerhalten. Hierdurch wird ein empfindliches Gleichgewicht geschaffen, an dessen Erhaltung alle politischen Kräfte im parlamentarischen Raum Interesse haben müssen, da es die Voraussetzung für eine auf Konsens und nicht ausschließlich auf Konfrontation angelegte Zusammenarbeit ist. Wird mit einem Parlamentsbrauch gebrochen, so stehen sämtliche informellen parlamentarischen Regeln auf dem Spiel, da diese stets nur im Vertrauen auf ein regelgetreues Verhalten der jeweiligen Gegenseite eingehalten werden. Es ist gerade diese Instabilität eines informalen Regelungssystems, die dazu führt, daß einmal eingefahrene parlamentarische Bräuche sehr selten und wenn im Konsens aller übertreten werden. Die ungeschriebenen Parlamentsregeln sind daher eingebettet in ein System parlamentarischer Rücksichten, Erwartungen und Kalküle, das ihre Einhaltung in der Praxis gewährleistet, aber nicht gleichgesetzt werden kann mit einer rechtlichen Verbindlichkeit.
VI. Interfraktionelle Vereinbarungen Eine bedeutende Rolle in der parlamentarischen Praxis spielen die interfraktionellen Vereinbarungen 156. Als interfraktionelle Vereinbarungen bezeichnet man die Ergebnisse der Besprechungen zwischen Fraktionen eines Parla-
154
Schulze-Fieltz, ebenda. Hierzu eingehend Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 76 ff. 156 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 65; Stefan Dammholz, Die interfraktionelle Vereinbarung, 1972, S. 3. 155
266
Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
ments 157 . Interfraktionelle Vereinbarungen können in vielfältiger Weise den parlamentarischen Alltag mitbestimmen. So werden etwa interfraktionelle Vereinbarungen über bestimmte Geschäftsordnungsfragen, den Ablauf der parlamentarischen Verhandlung, über die Besetzung parlamentarischer und nichtparlamentarischer Gremien oder über gemeinsame Gesetzentwürfe, Anträge oder Anfragen getroffen 158 . Soweit sie Gegenstände betreffen, die den allgemeinen Geschäftsgang des Bundestages betreffen, setzen sie ein von allen Fraktionen getragenes Einvernehmen voraus 159 . Die GOBT erwähnt interfraktionelle Vereinbarungen an verschiedenen Stellen. So bestimmt sie in § 6 Abs. 2 S. 2 GOBT, daß der Ältestenrat eine Verständigung zwischen den Fraktionen über die Besetzung der Stellen der Ausschußvorsitzenden und ihrer Vertreter sowie über den Arbeitsplan herbeiführt. § 20 Abs. 1 S. 1 GOBT bestimmt, daß über den Termin und die Tagesordnung jeder Bundestagssitzung eine Vereinbarung im Ältestenrat getroffen wird und § 35 Abs. 1 S. 1 GOBT sieht interfraktionelle Vereinbarungen im Ältestenrat für die Gestaltung und Dauer parlamentarischer Aussprachen vor. Im Bundestag ist der Ältestenrat der Ort, an dem üblicherweise interfraktionelle Vereinbarungen getroffen werden 160 . Alle grundsätzlichen Fragen werden vom Ältestenrat diskutiert und nach Möglichkeit einer einvernehmlichen Lösung zugeführt 161 . Allerdings gibt es auch außerhalb des Ältestenrates Gelegenheiten für den Abschluß interfraktioneller Vereinbarungen, etwa telefonisch oder am Rande der Plenarsitzungen. Initiatoren interfraktioneller Vereinbarungen sind sowohl innerhalb als auch außerhalb des Ältestenrates fast immer die parlamentarischen Geschäftsführer 162. Interfraktionelle Vereinbarungen werden nicht durch Mehrheitsbeschluß, sondern durch Verständigung auf einen gemeinsamen Standpunkt in gegenseitigem Nachgeben und unter Abwägung der unterschiedlichen Interessen und
157
Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, S. 1. Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, S. 3 ff.; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 48 ff. 159 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 88; Alois Rummel, Der Bundestagspräsident, 1974, S. 78. 160 Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, S. 13; Karl Lohmann, der Deutsche Bundestag, 1967, S. 72; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 88. 161 Vgl. § 6 Abs. 2 S. 3 GOBT; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 52. 162 Gerald Kretschmer, Fraktionen, 2. Auflage, 1991, S. 117; Joachim Raschke, Der Bundestag im parlamentarischen Regierungssystem, 1968, S. 43; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 88; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 53. 158
A. Die Rechtsquellen
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Argumente getroffen 163 , obwohl die parlamentarische Mehrheit im Plenum stets das letzte Wort haben könnte 164 . Insoweit fördern die interfraktionellen Vereinbarungen die Verständigungsbereitschaft und zwingen zur Mäßigung im Umgang mit dem politischen Gegner, dessen Zustimmung für ihr Zustandekommen gerade erforderlich ist 1 6 5 . Indem interfraktionelle Vereinbarungen Regelungen auf dem Gebiet des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts betreffen, handelt es sich bei ihnen um Vereinbarungen, die inhaltlich - ebenso wie das Geschäftsordnungsrecht insgesamt - dem materiellen Verfassungsrecht zuzuordnen sind. a) Rechtsnatur interfraktioneller Vereinbarungen Die Rechtsnatur interfraktioneller Vereinbarungen ist umstritten. Dabei stehen sich im wesentlichen zwei Auffassungen gegenüber, wobei die eine Seite interfraktionelle Vereinbarungen insgesamt166 oder zumindest teilweise 167 als verfassungsrechtliche Verträge versteht, während die andere Seite sie als bloß informelle Normen 168 oder als verfassungspolitische Vereinbarungen 169 einstuft. Voraussetzung dafür, daß es sich bei den interfraktionellen Vereinbarungen um verfassungsrechtliche Verträge handelt, ist zunächst, daß die sie schließenden Parteien überhaupt die Kompetenz zum Abschluß solcher Verträge innehaben 170 . Zu den Aufgaben der Fraktionen zählt es, die Parlamentsarbeit durch vorbereitende Tätigkeiten zu erleichtern 171 und zu diesem Zweck ihre Arbeit mit
163
Rothaug, Leitungskompetenz, S. 88. Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 52. 165 Rothaug, Leitungskompetenz, S. 88 f. 166 Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, S. 46 ff. 167 Über die Gleichstellung mit Koalitionsvereinbarungen, Christoph Sasse, Koalitionsvereinbarung und Grundgesetz, JZ 1961, S. 719 (726); Karl Heinrich Friauf, Zur Problematik des verfassungsrechtlichen Vertrages, AöR 88 (1963), S. 257 (261 und 307). 168 Gerhard Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S. 253; Roll, in: Festgabe für Blischke, S. 93 (95); Rothaug, Leitungskompetenz, S. 92; Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 46. 169 Joachim Maiwald, Zum Wesen des „verfassungsrechtlichen Vertrages", 1963, S. 112. 170 Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, S. 46; Rothaug, Leitungskompetenz, S. 90. 171 BVerfGE 10, 4 (14); Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, S. 47; vgl. auch die Ausfuhrungen oben Kapitel 4 Abschnitt 4 B. 164
268
Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
der anderer Fraktionen zu koordinieren 172 . Gleichwohl kann man allein aus dieser Aufgabenstellung noch nicht auf die Zulässigkeit des Gebrauchs bestimmter Rechtsformen schließen können 173 . Das Recht der Fraktionen, interfraktionelle Verpflichtungen einzugehen, folgt aber aus der GOßT, die das Mittel der interfraktionellen Vereinbarung - wie soeben ausgeführt - an verschiedenen Stellen vorsieht 174 . Interfraktionelle Vereinbarungen könnten nur dann nicht als verfassungsrechtliche Verträge eingeordnet werden, wenn sie ohne Rechtsbindungswillen abgeschlossen würden. Daß aber eine Absprache getroffen wird, die von vornherein nicht verbindlich sein soll, widerspricht bereits der allgemeinen Lebenserfahrung 175. Auch handelt es sich bei interfraktionellen Vereinbarungen regelmäßig weder um eine Absprache unter Freunden noch kann auf einer Seite ein uneigennütziges Verhalten festgestellt werden, weshalb es an der Vergleichbarkeit mit einem ohne Rechtsbindungswillen eingegangenen Gefälligkeitsverhältnisses fehlt 176 . Aus diesem Grund kann im Regelfall davon ausgegangen werden, daß interfraktionelle Vereinbarungen mit Rechtsbindungswillen eingegangen werden und daher als Verträge und nicht bloß als informelle Normen gelten müssen. Dies schließt es nicht aus, daß im Einzelfall eine interfraktionelle Vereinbarung unter dem Vorbehalt der politischen Opportunität der getroffenen Regelung abgeschlossen wird. In solch einem Fall fehlt der Rechtsbindungswille und ein Vertrag liegt nicht vor. Ob dies der Fall ist, kann aber nicht generell, sondern nur durch Auslegung für den Einzelfall ermittelt werden. Abschließend ist festzuhalten, daß interfraktionelle Vereinbarungen, soweit nicht im Einzelfall der Rechtsbindungswille fehlt, als verfassungsrechtliche Verträge zu qualifizieren sind. b) Bindungswirkung interfraktioneller Vereinbarungen Die Frage nach der rechtlichen Verbindlichkeit interfraktioneller Vereinbarungen wird unterschiedlich beantwortet. 172
Siehe oben Kapitel 4 Abschnitt 4 B IV. Rothaug , Leitungskompetenz, S. 90. 174 A.A. Rothaug , Leitungskompetenz, S. 90, der aufgrund der von ihm getroffenen Unterscheidung zwischen generellen und individuellen interfraktionellen Vereinbarungen zur fehlenden Vertragsschließungsfahigkeit der Fraktionen in bezug auf generelle Absprachen kommt. 175 Dammholz , Interfraktionelle Vereinbarung, S. 48. 176 Ebenso Dammholz , Interfraktionelle Vereinbarung, S. 49; allgemein zum Gefälligkeitsverhältnis Hans Brox , Allgemeines Schuldrecht, 22. Auflage, 1995, Rz. 19 f. 173
A. Die Rechtsquellen
269
aa) Bindung des Bundestags Einigkeit besteht darüber, daß das Verfassungsorgan Bundestag an diese Vereinbarungen nicht gebunden ist 1 7 7 . Interfraktionelle Vereinbarungen sind stets nur unter dem Vorbehalt der parlamentarischen Zustimmung verbindlich. Hiervon geht auch die GOBT selbst aus, soweit sie interfraktionelle Vereinbarungen vorsieht (§§ 6 Abs. 2 S. 3, 20 Abs. 1 Hs. 2., 35 Abs. 1 S. 2 GOBT). Alles andere wäre mit Art. 40 Abs. 1 S. 2 GOBT nicht zu vereinbaren, denn das Plenum muß stets Herr des Verfahrens bleiben. bb) Bindung der Fraktionen Weniger eindeutig läßt sich die Frage beantworten, ob nicht parlamentarische Organe oder Organteile stets oder doch in bestimmten Fällen interfraktionellen Vereinbarungen Folge zu leisten haben. Zu denken ist zuvörderst an die am Zustandekommen einer interfrakionellen Vereinbarung beteiligten Fraktionen. Namentlich Dammholz folgert aus der Einordnung der interfraktionellen Vereinbarungen als verfassungsrechtliche Verträge, daß jedenfalls die unmittelbaren Vertragsparteien, d.h. die Fraktionen, rechtlich an die getroffenen Vereinbarungen gebunden seien 178 . Diese aus der Rechtsnatur der interfraktionellen Vereinbarungen abgeleitete Bindung der Fraktionen, weist zwar insoweit eine Schwäche auf, als die GOBT an keiner Stelle eine entsprechende Bindung vorsieht 179 . Dem ist indessen zu entgegnen, daß die unmittelbaren Vertragsparteien stets an die von ihnen geschlossenen Verträge gebunden sind. Allerdings werden interfraktionelle Vereinbarungen nicht von den jeweiligen Fraktionsvollversammlungen abgeschlossen, weshalb die Bindung der Fraktionen letztlich davon abhängen muß, ob diese beim Abschluß solch einer Vereinbarung wirksam vertreten werden. Hierbei ist die Rolle der am Zustandekommen interfraktioneller Vereinbarungen maßgeblich beteiligten parlamentarischen Geschäftsführern zu beachten. In allen Fraktionen haben die parlamentarischen Geschäftsführer eigene Aufgabenbereiche, die sie in eigener Zuständigkeit erfüllen. Zu diesen eigenen Zuständigkeiten zählt die
177 Allgemeine Ansicht, Achterberg, Parlamentsrecht, S. 131; Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, S. 70 f.; Haug, Geschäftsordnungsautonomie, S. 164; SchulzeFielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 46; Zeh, in: Isensee/Kirchhof, § 42 Rz. 36. 178 Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, S. 69 f. 179 Achterberg, S. 131.
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
Vertretung der Fraktion im Ältestenrat 180 . Dabei haben die parlamentarischen Geschäftsführer keine unbeschränkte Vertretungsmacht. In Anlehnung an die Bestimmungen der Geschäfts- bzw. Arbeitsordnungen der CDU/CSU- und der SPD-Bundestagsfraktion über die Zuständigkeiten des geschäftsführenden Vorstandes181, beschränkt sich die Zuständigkeit der parlamentarischen Geschäftsführer auf die Führung der laufenden Geschäfte der Fraktionen. Hierdurch wird zugleich ihre Vertretungsmacht begrenzt. Zur Bestimmung dessen, was zu den laufenden Geschäften der Fraktionen zählt, kann die Lehre von den „Geschäften der laufenden Verwaltung" im Kommunalrecht herangezogen werden 182 . Danach zählen hierzu jene Angelegenheiten, die ständig wiederkehren und von geringer Bedeutung sind 183 . Deshalb sind die Fraktionen etwa an Vereinbarungen über den Arbeitsrythmus der Sitzungswochen und sitzungsfreien Wochen, die Wocheneinteilung oder die Festlegung der Sitzungstage und ihrer Stundenpläne gebunden. Dagegen fehlt es den parlamentarischen Geschäftsführern beispielsweise an der erforderlichen Vertretungsmacht für Vereinbarungen, die die Machtverhältnisse im Plenum betreffen, da es sich hierbei regelmäßig um Angelegenheiten von weitreichender Bedeutung handelt. Hierzu zählen insbesondere Pairing-Vereinbarungen 184, bei denen es sich um Absprachen zwischen einer Regierungs- und einer Oppositionsfraktion handelt, nach denen die Abwesenheit von Abgeordneten der einen Seite durch Nichtbeteiligung der entsprechenden Anzahl von Abgeordneten der Gegenseite auszugleichen ist. Allerdings können auch solche Vereinbarungen Verbindlichkeit für die Fraktionen erlangen, wenn sie von diesen genehmigt werden. Diese Genehmigung kann nicht ohne weiteres (konkludent) in der bloßen Befolgung einer entsprechenden Vereinbarung gesehen werden, denn der hochpolitische Charakter des Pairings spricht gegen die rechtliche Verbindlichkeit solcher Vereinbarungen. Gleichwohl ist die Fraktion nicht gehindert, einer Pairing-Abrede ihrer parlamentarischen Geschäftsführer durch ausdrückliche Genehmigung durch die Fraktionsvollversammlung Rechtsverbindlichkeit zuzuerkennen.
180 Sylvia Kürschner , Das Binnenrecht der Bundestagsfraktionen, 1995, S. 117 f.; Schäfer , Bundestag, S. 144. 181 § 5 Ziff. 2 AO-CDU/CSU, § 28 Abs. 1 GO-SPD, abgedruckt in Ritzel/Bücker unter Fraktionen GO. 182 Kürschner , Binnenrecht, S. 114. 183 BGH DVB1. 1979, S. 514 f.; Eberhard Schmidt-Aßmann , Kommunalrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Auflage, 1995, 1. Abschnitt Rz. 74. 184 Ausführlich zum Pairing, das vom 13. Bundestag derzeit nicht praktiziert wird, Troßmann , Parlamentsrecht, Anh. B zu § 54.
A. Die Rechtsquellen
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cc) Bindung der einzelnen Abgeordneten Nach den bisherigen Ausführungen ergibt sich ein widersprüchliches Bild, was die Bindung des einzelnen Bundestagsabgeordneten anbelangt. Einerseits ist er als Mitglied des Verfassungsorgans Bundestag an interfraktionelle Vereinbarungen nicht gebunden, andererseits ist er aber regelmäßig Mitglied einer Bundestagsfraktion, für die die Vereinbarung regelmäßig verbindlich ist und die ihrer Verpflichtung häufig nur nachkommen kann, wenn die Fraktionsmitglieder eine entsprechende Vereinbarung befolgen. Gegen eine Bindung spricht, daß nicht die einzelnen Abgeordneten, sondern die Fraktionen die Vertragsparteien sind. Wie auch sonst im Rechtsverkehr, wenn Verbände mit eigener Rechtspersönlichkeit Verträge abschließen, wird im Verhältnis zum Vertragspartner nur das Kollektiv und nicht das einzelne Mitglied gebunden 185 . Das einzelne Fraktionsmitglied kann deshalb nur mittelbar über die Bindung an seine Fraktion an eine interfraktionelle Vereinbarung gebunden sein 186 . Auch im Verhältnis zu seiner Fraktion ist der einzelne Abgeordnete aber nicht rechtlich zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, denn er ist gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur seinem Gewissen unterworfen. Dies schließt indessen eine faktische oder politische Bindung auch des einzelnen Abgeordneten an interfraktionelle Vereinbarungen nicht aus, solange diese nicht mit unzulässigen Mitteln erzwungen wird 1 8 7 . Eine rechtliche Bindung des einzelnen Abgeordneten besteht hingegen nicht. dd) Bindung anderer parlamentarischer
Organteile und Organe
Neben den Fraktionen als den Vertragsparteien interfraktioneller Vereinbarungen gibt es weitere parlamentarische Organteile und Organe, für die die Vereinbarungen Rechtsverbindlichkeit entfalten. So sind etwa die Bundestagsausschüsse bei der Bestimmung ihrer Vorsitzenden an interfraktionelle Vereinbarungen gebunden. Aus der Bestimmung des § 58 GOBT, wonach die Ausschüsse ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreter nach den Vereinbarungen im Ältestenrat bestimmen, folgt, daß es sich hierbei
185 Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, S. 75; vgl. Friedrich Kubier, Gesellschaftsrecht, 4. Auflage, 1994, § 4 IV 2 (S. 27). 186 Dammholz, Interfraktionelle Vereinbarung, ebenda.
187
Hesse, Verfassungsrecht, Rz. 600.
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
nicht bloß um eine faktische, sondern um eine rechtliche Bindung handelt 188 . Zwar deutet das Wort „bestimmen" darauf hin, daß den Ausschüssen ein eigener Gestaltungsspielraum verbleibt, was gegen eine Rechtsbindung sprechen könnte. Da sich das „Bestimmen" aber nach den Vereinbarungen im Ältestenrat richtet, beurteilt sich dieser Gestaltungsspielraum nach der konkreten Vereinbarung. Beläßt diese dem Ausschuß nur eine mögliche Entscheidung - und dies ist in der Praxis häufig der Fall -, so hat der Ausschuß der Vereinbarung Folge zu leisten. Diese Bindung ist vor dem Hintergrund der Selbstorganisationsgarantie unbedenklich, zumal der Bundestag die Entscheidung darüber, in welchem Verhältnis die Ausschußvorsitze auf die Fraktionen verteilt werden, in § 12 GOBT selbst getroffen hat, und es nur noch um die Auswahl der konkreten Personen geht. Es steht dem Bundestag frei, sich hierzu der Unterstützung der Fraktionen zu bedienen 189 , wenn ihm dies zur Herbeiführung eines gerechten Ausgleichs sinnvoll erscheint. Eine Bindung an interfraktionelle Vereinbarungen - jedenfalls an solche, die im Ältestenrat getroffen werden - besteht auch für den Bundestagspräsidenten und zwar auch bei solchen Angelegenheiten, die die GOBT allein ihm zuweist, wie etwa die Bestimmung der Reihenfolge der Redner gemäß § 28 Abs. 1 GOBT. Diese Bindung wird von der parlamentsrechtlichen Literatur einhellig anerkannt. Nur wird in diesen Fällen zumeist eine lediglich faktische und keine rechtliche Verbindlichkeit angenommen190. Diese „faktische" Bindung reicht nach Auffassung mancher Autoren sehr weit. Loewenberg etwa ist der Ansicht, der Präsident sei an einstimmige „Beschlüsse" des Ältestenrates gebunden, „gleichgültig was die Geschäftsordnung vorsieht" 191 . Dies kann aber bereits deshalb nicht überzeugen, weil weder der Präsident noch der Ältestenrat in der
188 Ebenso Achim Maibaum, Der Ältestenrat des Deutschen Bundestages, 1986, S. 79, warum dieser aber, nachdem er einen Verstoß gegen die GOBT festgestellt hat, umständlich auf einen Verstoß gegen Satzungsgewohnheitsrecht rekurriert, S. 79 ff., ist unverständlich. 189 Dies hat das Bundesverfassungsgericht für die Verteilung eines fraktionslosen Abgeordneten auf einen bestimmten Bundestagsausschuß ausdrücklich zugelassen, BVerfGE 80, 188 (226). 190 Hermann Borgs-Maciejewski, Parlamentsorganisation - Institutionen des Bundestages und ihre Aufgaben, 2. Auflage, 1983, S. 60; Leo Kißler, Der Deutsche Bundestag - Eine verfassungssystematische, verfassungsrechtliche und verfassungsinstitutionelle Untersuchung, JöR N.F. 26 (1977), S. 39 (112); Ritzel/Bücker § 6 Anm II 1 b); Rothaug, Leitungskompetenz, S. 164; Harald Franke, Vom Seniorenkonvent des Reichstages zum Ältestenrat des Bundestages, 1987, S. 118 f. 191 Gerhard Loewenberg, Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S. 248.
A. Die Rechtsquellen
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Lage sind, neues Geschäftsordnungsrecht zu schaffen 192, und sich dementsprechend auch nicht im Zusammenspiel über die geltende Geschäftsordnung hinwegsetzen können. Selbst wenn die resignative Selbsteinschätzung des früheren Bundestagsvizepräsidenten Schoettle zutreffend sein sollte, daß gegen „Verabredungen der Fraktionen [...] selbst der amtierende Präsident machtlos" ist 1 9 3 , so ermächtigt ihn dies nicht zum Rechtsbruch. Vielmehr hat er ungeachtet der Zwänge, denen er ausgesetzt sein mag, auf die Einhaltung der GOBT zu achten. Gegebenenfalls muß er einen Abweichungsbeschluß nach § 126 GOBT erwirken. Befinden sich die Vereinbarungen des Ältestenrates dagegen in Übereinstimmung mit der GOBT und ergehen sie - wie in der Praxis stets 194 - einvernehmlich, so ist der Bundestagspräsident nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich daran gehindert, hierüber einfach hinwegzugehen. Seine Bindung resultiert zum einen daraus, daß er selbst gemäß § 6 Abs. 1 S. 1 GOBT Mitglied des Ältestenrates und daher am Zustandekommen einer entsprechenden Vereinbarung beteiligt ist. Da Verständigungen im Ältestenrat auf der Basis allseitigen Einvernehmens erfolgen, folgt die Bindung zum anderen daraus, daß eine Vereinbarung, die die parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen im Rahmen ihrer Vertretungsmacht abgeschlossen haben, die Vermutung in sich trägt, mit dem Willen des Hauses übereinzustimmen. Hat der Präsident im Einzelfall einmal berechtigte Zweifel daran, ob die Vereinbarung im Ältestenrat tatsächlich mit dem Willen des Plenums übereinstimmt, so hat er aber das Recht, „in einem solchen Falle das Haus zu fragen, wie es denkt" 195 . Diese Möglichkeit ändert aber nichts an der rechtlichen Bindung des Bundestagspräsidenten 196. Sie ist lediglich Ausdruck davon, daß das Haus stets Herr des Verfahrens bleibt und daher auch interfraktionelle Vereinbarungen außer Kraft setzen kann. Solange kein anderslautender Parlamentsbeschluß besteht, ist der Präsident an eine interfraktionelle Vereinbarung gebunden. Die Bindung des Bundestagspräsidenten endet dort, wo die Fraktionen ihre Macht mißbrauchen, um beispielsweise eines ihrer Mitglieder daran zu hindern, im Plenum das Wort zu ergreifen und auszusprechen, was ihm sein Gewissen
192
Siehe oben Kapitel 7 Abschnitt 1 D II. Sten.Ber. 4.WP, 164. Sitzung, 17.2.1965, S. 8102 D. 194 Schulze-Fielitz, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 52. 195 Bundestagsvizepräsident Carlo Schmid als er von einer interfraktionellen Vereinbarung abweichen wollte, Sten.Ber. 2. WP, 151. Sitzung, 21.6.1956, S. 8062 C. 196 A.A. Franke, Seniorenkonvent, S. 119 f. 193
18 Schwerin
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Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
gebietet 197 . Ebenso ist der Präsident nicht gehindert, die Interessen fraktionsloser Abgeordneter wahrzunehmen. Hieran kann ihn auch eine Vereinbarung im Ältestenrat nicht hindern, da dieses Gremium nur für die fraktionsangehörigen Abgeordneten spricht und fraktionslose Abgeordnete anderenfalls befürchten müßten, daß interfraktionelle Vereinbarungen zu ihren Lasten getroffen werden.
B. Vorrang und Vorbehalt der Geschäftsordnung
I. Vorrang der GOßT Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, daß die GOßT unter den parlamentarischen Rechtsquellen eine Sonderstellung einnimmt. Rechtsfortbildung, Auslegung und Ergänzung des Geschäftsordnungsrechts können sich nur im Rahmen und nicht im Gegensatz zur GOßT entwickeln. Entgegen einer in der Literatur vertretenen Auffassung 198 kommt der GOßT im parlamentarischen Bereich daher eine ähnliche Vorrangstellung zu, wie dem Gesetz im außerparlamentarischen Recht. Diesem Befund widerspricht es nicht, daß das Parlament seine Geschäftsordnungsangelegenheiten nicht nur durch oder aufgrund einer generellen Anordnung, sondern auch ohne solche Grundlage von Fall zu Fall regeln kann 199 . So richtig die Feststellung ist, daß das Parlament seine internen Angelegenheiten nicht nur durch oder aufgrund einer generellen Anordnung treffen kann, so unzutreffend ist die Schlußfolgerung hieraus, es bestehe kein Vorrang der Geschäftsordnung. Sowenig der Gesetzgeber durch den Vorrang des Gesetzes gehindert ist, bestimmte Sachverhalte für die eine generell-abstrakte Regelung fehlt oder unsachgemäß ist, in Form von Maßnahmegesetzen zu regeln 200 , sowenig ist der Geschäftsordnungsgeber gehindert, Geschäftsordnungsangelegenheiten im Einzelfall zu regeln. Daß Einzelfallregelungen in Geschäfts197 198
BVerfGE 10, 4 (15 f.). Achterberg , Parlamentsrecht, S 61; Dammholz , Interfraktionelle Vereinbarung,
S. 62. 199
Dieses Argument führt Arndt , Geschäftsordnungsautonomie, S. 157 gegen den Vorrang der GOßT an. 200 Abgesehen von den in Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG aufgeführten Ausnahmen. Im übrigen sind Maßnahme- oder Einzelfallgesetze durchaus zulässig, solange keine willkürliche Ungleichbehandlung vorliegt; BVerfGE 25, 371 (399); 42, 263 (305).
B. Vorrang und Vorbehalt der Geschäftsordnung
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Ordnungsangelegenheiten häufiger vorkommen als Einzelfallgesetze, liegt vor allem an der im Vergleich zum Gesetzgeber größeren Sachnähe des Geschäftsordnungsgebers und dem einfacheren Verfahren. Hinzu kommt, daß aufgrund der notwendigen Flexibilität, die das parlamentarische Verfahren erfordert, eine generell-abstrakte Regelung des gesamten Geschäftsordnungsrechts im Hinblick auf die Unwägbarkeiten des parlamentarischen Alltags überhaupt nicht möglich wäre. Aus diesem Grund kann eine parlamentarische Geschäftsordnung das parlamentarische Verfahren stets nur fragmentarisch festlegen 201. Der Versuch einer lückenlosen Regelung führte notwendigerweise zu einer Paralysierung der parlamentarischen Arbeit, die in einer lebendigen Demokratie nicht erwünscht sein kann. Selbst die fragmentarische Festlegung des Parlaments auf bestimmte Verfahrensregeln kann sich aber im Einzelfall als unzweckmäßig erweisen. Deshalb wurde es zu jeder Zeit als zulässig angesehen, wenn das Parlament unter bestimmten Bedingungen von seinem kodifizierten Verfahrensregeln abweicht; die GOBT sieht zu diesem Zweck in § 126 die Möglichkeit vor, daß mit Zwei-Drittel-Mehrheit von ihren Vorschriften abgewichen werden kann 202 . Weder diese Abweichensmöglichkeit noch der fragmentarische Charakter einer parlamentarischen Geschäftsordnung führen jedoch dazu, daß ein Vorrang der Geschäftsordnung nicht gegeben ist. Sie besagen eben nur, daß der Geschäftsordnungsgeber selbst nicht nur durch oder aufgrund seiner kodifizierten Geschäftsordnung seine inneren Angelegenheiten regeln kann, sondern auch durch Einzelfallentscheidungen, wofür im Falle eines Abweichens von der GOBT eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Darüber hinaus aber gilt der Vorrang der Geschäftsordnung kategorisch für alle parlamentarischen Gremien und Organe, die nicht identisch mit dem Geschäftsordnungsgeber sind. Deshalb sind etwa Ausschüsse, Unterausschüsse und Enquéte-Kommissionen strikt an die Bestimmungen der Geschäftsordnung gebunden. Folgerichtig regelt die GOBT in den §§ 54 ff. das Verfahren der Ausschüsse selbst und bestimmt in § 74, daß im übrigen die GOBT für Ausschüsse und Enquéte-Kommissionen entsprechend anwendbar ist, ohne diesen Gremien aber die Möglichkeit einzuräumen, nach § 126 GOBT von dieser Geschäftsordnung abzuweichen. Während sich der Vorrang des Gesetzes auf Art. 20 Abs. 3 GG stützt, der bestimmt, daß die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht gebunden ist, ergibt sich der Vorrang der GOBT aus dem Willen des Geschäftsordnungsgebers. 201
Kretschmer, in: Schneider/Zeh, § 9 Rz. 33. Daß auch nach § 126 GOBT nicht von jeder Geschäftsordnungsvorschrift abgewichen werden kann, wurde oben Kapitel 5 Abschnitt 3 dargelegt. 202
276
Siebtes Kapitel: Rechtsquellen des Selbstorganisationsrechts
Allein er hat es in der Hand, ob er eine Bestimmung in die GOßT aufnimmt und damit auf deren Ebene anhebt. Sieht er wegen des Probecharakters einer Regelung oder aus sonstigen Gründen hiervon bewußt ab, so trifft er damit zugleich eine Entscheidung über die Rangstufe 203. Es bedeutete einen Eingriff in die durch Artikel 40 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistete Selbstorganisationsgarantie, wenn am Geschäftsordnungsgeber vorbei solche Rechtssätze auf eine Stufe mit der GOßT gestellt würden, die nicht deren Bestandteil sind. Hinzu kommt, daß andere parlamentarische Rechtsquellen, wie zum Beispiel die Auslegungsentscheidungen des Geschäftsordnungausschusses oder des Bundestagspräsidenten (§ 127 GOßT), ihre Rechtsgrundlage in der GOßT finden. Diese dürfen deshalb ihrerseits nicht außerhalb der GOßT als ihrer Quelle stehen204.
II. Vorbehalt der GOBT Fraglich ist, ob nicht nur ein Vorrang, sondern auch ein Vorbehalt der GOBT besteht. Allerdings widerspräche ein Vorbehalt der GOBT dem praktischen Bedürfnis nach einem möglichst flexiblen Verfahrenswerk, das bei Bedarf für den Einzelfall der parlamentarischen Praxis auch ohne ausdrückliche Änderung angepaßt werden kann. Arndt schließt daraus, daß die GOBT selbst die Möglichkeit vorsehe, daß im Einzelfall von ihr abgewichen werden könne, daß alle Argumente, die für den Zwang zur Regelung in der kodifizierten Geschäftsordnung angeführt werden könnten, ihre Überzeugungskraft verlören 205 . Indessen wurde bereits darauf hingewiesen, daß der Bundestag nicht von jeder Geschäftsordnungsregel durch Beschluß mit Zweidrittelmehrheit gemäß § 126 GOBT abweichen kann. Rechtsstaatliche Erwägungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß parlamentarische Minderheitenrechte im Einzelfall auch von einer Zweidrittelmehrheit nicht übergangen werden können 206 . Auch in anderen Fällen, in den von der GOBT abgewichen werden soll, ist stets die Frage zu stellen, ob eine Abweichung im konkreten Fall nicht rechtsmißbräuchlich oder aus anderen Gründen verfassungswidrig ist 2 0 7 . Die mangelnde Unverbrüchlichkeit
203
Rothaug , Leitungskompetenz, S. 81. Rothaug , ebenda. 205 Arndt , Geschäftsordnungsautonomie, S. 102. 206 Siehe oben Kapitel 5 Abschnitt 3. 207 Etwa, weil sie der Sicherung eines demokratischen und rechtsstaatlichen Gesetzgebungsverfahrens dient, siehe oben Kapitel 6 Abschnitt 1 B II. 204
B. Vorrang und Vorbehalt der Geschäftsordnung
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der GOßT kann daher nicht gegen den Vorbehalt der kodifizierten Geschäftsordnung angeführt werden. Insbesondere rechtsstaatliche Erwägungen sprechen dafür, daß bestimmte wichtige Regelungen in der GOßT selbst getroffen werden. So kann etwa die Beschlußfähigkeit des Bundestages nur in der GOßT und in keiner ihr nachgeordneten Rechtsquelle geregelt werden. Dies folgt daraus, daß mit den Geschäftsordnungsbestimmungen über die Beschlußfähigkeit das Grundgesetz, das sich diesbezüglich einer eigenen Regelung enthält, konkretisiert wird. Auch müssen die wesentlichen Geschäftsordnungsbestimmungen für den einzelnen Abgeordneten jederzeit nachvollziehbar sein, was am ehesten gewährleistet wird, wenn sie Eingang in die GOBT gefunden haben und nicht in ein anderes, den meisten Abgeordneten womöglich gar nicht bekanntes Regelwerk. Zudem stellt das Publizitätserfordernis der GOBT sicher, daß nicht nur die Abgeordneten, sondern auch die Öffentlichkeit die wesentlichen Verfahrens- und Organisationsbestimmungen des Bundestages wahrnehmen können, was insbesondere für solche Bestimmungen, die grundgesetzkonkretisierend wirken, von wesentlicher Bedeutung auch für die Rechtsanwendung ist 2 0 8 . Aus diesen Gründen besteht für bestimmte Regelungen des parlamentarischen Geschäftsganges und der parlamentarischen Organisation ein Vorbehalt der GOBT. Zur Bestimmung der Reichweite dieses Vorbehalts ist insbesondere auf die Verfassungsrelevanz der Regelung abzustellen. Parlamentarische Minderheitenrechte, Bestimmungen die das Verhältnis des Parlaments zu anderen Verfassungsorganen oder die bereits erwähnten Regeln über die Beschlußfähigkeit müssen daher in der GOBT festgelegt werden. Auch das Gesetzgebungsverfahren und das Verfahren in den Ausschüssen, die Gesetzesbeschlüsse vorbereiten, muß sich wenigstens in den groben Zügen in der GOBT wiederfinden. Darüber hinaus ist der Bundestag frei, über die Regelungsdichte der GOBT selbst zu befinden.
208
Hierzu sogleich unten Kapitel 8 Abschnitt 3 III 2.
Achtes Kapitel
Selbstorganisationsrecht und richterliche Kontrolle Vor der Ausformung des parlamentarischen Regierungssystems, als das Parlament einer mit ihm rivalisierenden monarchischen Exekutive gegenüberstand, wurde die gerichtliche Unüberprüfbarkeit der parlamentsinternen Vorgänge als wichtiger Bestandteil der Selbstorganisationsgarantie angesehen, da die Gerichte noch der Abhängigkeit von der Krone verdächtigt und als Einfallstore monarchischer Einflußnahme betrachtet wurden 1. Die Polarität zwischen Regierung und Parlament ist im parlamentarischen Regierungssystem weitgehend einer Polarität zwischen der Regierung und der sie stützenden parlamentarischen Mehrheit einerseits und der parlamentarischen Minderheit andererseits gewichen. Hierdurch wird die Frage nach der Überprüfbarkeit des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts und seiner Anwendung in ein anderes Licht gerückt, da insbesondere das Interesse der Parlamentsminderheit schutzwürdig erscheint, daß die von der Mehrheit getroffenen Entscheidungen einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich gemacht werden 2. Die Frage der gerichtlichen Überprüfbarkeit des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts kann sich dabei in zweierlei Hinsicht stellen. Zum einen kann es um die Überprüfung der Geschäftsordnung selbst oder anderer geschriebener oder ungeschriebener genereller Regelungen von Geschäftsordnungsangelegenheiten gehen. Zum anderen können parlamentarische Einzelakte angegriffen werden, wobei sich nicht nur die Frage nach deren prinzipieller Überprüfbarkeit stellt, sondern zudem zu klären ist, an welchem Prüfungsmaßstab sie zu messen sind.
A. Rechtsschutz gegen die GOBT I. Abstrakte Normenkontrolle Bei der Frage nach der richterlichen Überprüfbarkeit der GOBT ist zunächst an die Durchführung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nach Art. 93 1
Hellmut Wollmann , Die Stellung der Parlamentsminderheiten in England, der Bundesrepublik Deutschland und Italien, 1969, S. 213. 2 Wollmann , ebenda.
A. Rechtsschutz gegen die GOBT
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Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG zu denken, auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht mit der GOBT bislang noch nicht im Rahmen einer Normenkontrolle zu befassen hatte3. Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle kann nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 BVerfGG alles Bundes- und Landesrecht gleichgültig welchen Ranges sein. Daher kommt auch die GOBT als Bestandteil des Bundesrechts4 als Prüfungsgegenstand in Betracht 5. Die vereinzelt vertretene Auffassung, die Überprüfung der Geschäftsordnung oder einzelner ihrer Bestimmungen ohne konkreten Anlaß sei nicht möglich, dem stehe die sogenannte Geschäftsordnungsautonomie 6 entgegen7, vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Durch das in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gewährleistete Recht des Bundestages zur Selbstorganisation wird das parlamentarische Geschäftsordnungsrecht nicht zu einer Rechtsmaterie, die außerhalb der Verfassung steht8. Allerdings ist Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG bei der Reichweite und bei der Intensität der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu beachten, denn bei der Entscheidung darüber, welcher Regeln der Bundestag zur Gewährleistung eines geordneten Geschäftsganges bedarf, hat er einen weiten Gestaltungsspielraum9, weshalb sich die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts auf eine Evidenzkontrolle beschränkt 10.
3 Das Bundesverfassungsgericht hat sich auch nicht zur Überprüfbarkeit der GOBT im Wege einer Normenkontrolle geäußert. Insbesondere betrifft BVerfGE 10, 20 (54), die von Stuth, in: Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 76 Rz. 15, als Beleg herangezogen wird, einen völlig anderen Fall. Dort ging es um die „Satzung4' der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und die Frage, ob die Satzungsermächtigung den Anforderungen von Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG entsprechen muß. Das Verfassungsgericht Hamburg hat die Überprüfbarkeit der GO der Hamburger Bürgerschaft in einem Normenkontrollverfahren allerdings ausdrücklich bejaht, HambVerfG, DVB1. 1976, S. 444 (446). 4 Siehe oben Kapitel 7 Abschnitt 1 A II. 5 Ebenso HambVerfG, DVB1. 1976, 444 (446); Norbert AchterbergMartm Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/Schulte, Das Bonner Grundgesetz, 3. Auflage, 1991, Art. 40 Rz. 59; Volker Haug, Bindungsprobleme und Rechtsnatur parlamentarischer Geschäftsordnungen, 1994, S. 54 f.; Jost Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10 Rz. 44; Schneider, in: Alternativkommentar, Art. 40 Rz. 11. 6 Zur Begrifflichkeit bereits oben Kapitel 1 Abschnitt 1. 7 Friedrich Schäfer, Der Bundestag, 4. Auflage, 1982, S. 67. 8 Zum Verhältnis zwischen Selbstorganisationsrecht und Grundgesetz oben Kapitel 2 Abschnitt 1. 9 BVerfGE 80, 188 (220); Achterberg/Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Achterberg/ Schulte, Art. 40 Rz. 60. 10 Siehe hierzu bereits die Ausführungen zur Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der kollektiven Ausgestaltung parlamentarischer Verfahrensrechte, oben Kapitel 5 Abschnitt 2 C.
280
Achtes Kapitel: Selbstorganisationsrecht und richterliche Kontrolle
Antragsteller im Normenkontrollverfahren können Gruppen von Abgeordneten oder eine oder mehrere Fraktionen sein, die mindestens ein Drittel der Mitglieder des Bundestages umfassen. Die Bundesregierung ist nur dann antragsbefugt, wenn eine sie betreffende Geschäftsordnungsvorschrift angegriffen wird, denn es würde die Selbstorganisationsgarantie des Bundestages beeinträchtigen, wenn das Bundesverfassungsgericht von anderen Verfassungsorganen angerufen werden könnte, um Rechtsfragen zu entscheiden, die allein Angelegenheiten des Bundestages betreffen 11.
II. Organstreit Außer im Wege der abstrakten Normenkontrolle können einzelne Geschäftsordnungsbestimmungen auch im Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG angegriffen werden, denn Geschäftsordnungsbestimmungen können ebenso wie Gesetze Maßnahmen im Sinne von § 64 Abs. 1 BVerfGG sein 12 . So können ein Abgeordneter, eine Fraktion oder eine Abgeordnetengruppe geltend machen, eine Geschäftsordnungsnorm verletze sie in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG 1 3 . Antragsgegner ist der Bundestag, der die GOBT erlassen hat. Ein anderes Verfassungsorgan, z.B. die Bundesregierung oder der Bundesrat können einen zulässigen Antrag stellen, wenn sie geltend machen, daß Geschäftsordnungsbestimmungen unzulässigerweise in ihre grundgesetzlichen Befugnisse eingreifen 14.
I I I . Konkrete Normenkontrolle Die Überprüfung bestimmter Geschäftsordnungsvorschriften im Wege einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG ist nur in ganz bestimmten Konstellationen denkbar. Sie setzt zunächst voraus, daß sich überhaupt ein Fachgericht mit einem Streit, der im parlamentarischen Raum fußt, befaßt. Dies ist zwar nicht ausgeschlossen15, dürfte in der Praxis aber kaum vorkommen, da 11
Haug, Bindungsprobleme, S. 55; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 11 Rz. 46. BVerfGE 80, 188 (209); 84, 304 (318). 13 BVerfGE 80, 188 (209); 84, 304 (318); BayVerfGH 29, 63 (79 f.); bereits StGH RGZ 139, Anh. S. 17; Christian Pestalozzi Verfassungsprozeßrecht, 3. Auflage, 1991, § 7 Fußnote 96; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 44. 14 Pietzcker, ebenda. 12
1
Siehe e
Kapitel
Abschnitt 3 .
B. Rechtsschutz gegen andere geschriebene generelle Regelungen
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Streitigkeiten zwischen Abgeordneten und dem Bundestag, in denen es auf die Gültigkeit der GOBT ankommt, als verfassungsrechtliche Streitigkeiten von vornherein in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts fallen 16 . In Frage kommt eine konkrete Normenkontrolle etwa dann, wenn ein Bürger einen subjektiv-öffentlichen Anspruch aus der GOBT geltend macht und das entscheidende Gericht die entscheidungserhebliche Geschäftsordnungsbestimmung fiir verfassungswidrig hält. Zumindest theoretisch wäre dies etwa für den Fall denkbar, daß Streit über den Auslagenersatz eines Sachverständigen nach § 70 Abs. 6 GOBT besteht. In der Praxis dürfte es aber wohl nie zu einer Überprüfung von Geschäftsordnungsbestimmungen im Wege einer konkreten Normenkontrolle kommen.
IV. Verfassungsbeschwerde Eine Möglichkeit des Bürgers, bestimmte Geschäftsordnungsbestimmungen im Wege der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, §§13 Nr. 8 a, 90 ff. BVerfGG zu überprüfen, gibt es nicht. Abgesehen davon, daß nur sehr selten Privatpersonen Adressaten einer Geschäftsordnungsbestimmung sind, fehlt es stets an der erforderlichen Unmittelbarkeit der Rechtsbetroffenheit.
B. Rechtsschutz gegen andere geschriebene generelle Regelungen Nicht anders als die GOBT können auch solche geschriebene Regelungen von Geschäftsordnungsangelegenheiten, die mit Normqualität ausgestattet sind, Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle oder eines Organstreits sein. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Auslegungsentscheidungen des Plenums und des Geschäftsordnungsausschusses. Praktisch wird die Relevanz dieser Bestimmungen allerdings kaum je ausreichen, um einen Verfassungsstreit herbeizuführen. Dies um so weniger, als alle verfassungsrelevanten Regelungen in der GOBT selbst zu treffen sind 17 . Ungeschriebene Parlamentsregeln sind demgegenüber von vornherein nicht dazu geeignet, im Wege einer Normenkontrolle einer verfassungsrechtlichen Überprüfung zugeführt zu werden, da es sich bei ihnen nicht um Rechtsregeln 16 17
Haug, Bindungsprobleme, S. 55; Pietzcker, in: Schneider/Zeh, § 10 Rz. 46. Siehe oben Kapitel 7 Abschnitt 2 B.
282
Achtes Kapitel: Selbstorganisationsrecht und richterliche Kontrolle
handelt18. Auch im Organstreitverfahren können sie nicht angegriffen werden, da es ihnen an der notwendigen Rechtserheblichkeit fehlt. Rechtserheblich ist eine Maßnahme, durch die der Antragsteller in seinem Rechtskreis konkret betroffen wird 1 9 . Eine konkrete Betroffenheit vermag aber nicht bereits eine ungeschriebene Parlamentsregel, sondern erst deren Umsetzung im Einzelfall auszulösen.
C. Überprüfung parlamentarischer Einzelakte Auch bei parlamentarischen Einzelakten stellt sich die Frage nach ihrer richterlichen Überprüfbarkeit.
I. Normenkontrolle Da es sich bei ihnen um individuell-konkrete Regelungen handelt, kommt eine Normenkontrolle von vornherein nicht in Frage. Wurde allerdings eine Geschäftsordnungsbestimmung übertreten, die konstitutiv für die Durchführung eines demokratischen Gesetzgebungsverfahrens, so kann dieser Geschäftsordnungsverstoß sowohl im Rahmen eines abstrakten als auch eines konkreten Normenkontrollverfahrens zur Verfassungswidrigkeit des verfahrensfehlerhaft zustandegekommenen Gesetzes führen 20 und daher zwar nicht selbst Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens sein, in einem solchen aber inzidenter festgestellt werden.
II. Organstreit In der verfassungsgerichtlichen Praxis kam es bisher vor, daß parlamentarische Einzelakte, wie z.B. ein Parlamentsbeschluß über die Ablehnung einer Gesetzesinitiative21 oder die Ablehnung des Antrags auf Anerkennung als Fraktion 2 2 , Gegenstand eines Organstreitverfahrens waren.
18
Siehe oben Kapitel 7 Abschnitt 1 E I und II. BVerfGE 1, 208 (228 f.); Clemens , in: Umbach/Clemens, §§ 64, 65 Rz. 138; zu dem Kriterium der Rechtserheblichkeit, vgl. auch unten Kapitel 8 Abschnitt B I. 20 Siehe oben Kapitel 6 Abschnitt 1 B II. 21 BVerfGE 80, 188(215). 22 BVerfGE 84, 304 (318). 19
C. Überprüfung parlamentarischer Einzelakte
283
1. Rechtserheblichkeit Voraussetzung für eine verfassungsgerichtliche Überprüfung im Organstreitverfahren ist aber, daß die angegriffene parlamentarische Maßnahme überhaupt rechtserheblich ist 23 . Dies setzt voraus, daß der Antragsteller durch die Maßnahme konkret in seinem Rechtskreis betroffen ist 24 . Hieran fehlt es etwa, wenn der Parlamentspräsidenten einem Abgeordneten eine Rüge erteilt. Die Rüge ist das mildeste Mittel zur Aufrechterhaltung der parlamentarischen Ordnung und mit keiner Sanktion verbunden 25. Sie dient lediglich als Hinweis, parlamentarische Gepflogenheiten zu beachten. Aus ihrem vorwiegend mahnenden Charakter folgt, daß sie normalerweise die verfassungsmäßigen Rechte eines Abgeordneten, gegen den sie gerichtet ist, nicht beeinträchtigen kann. Da sie weder mittelbar noch unmittelbar einen Rechtsnachteil zur Folge hat, fehlt ihr die Rechtserheblichkeit 26. Gleiches gilt für die von einer Fraktion geäußerte Ansicht, ein Gesetzentwurf enthalte verfassungswidrige Vorschriften, denn die bloße Meinungsäußerung einer Fraktion kann verfassungsmäßige Zuständigkeiten anderer Verfassungsorgane nicht beeinträchtigen und ist daher auch nicht rechtserheblich 27. 2. Parlamentarische Akte, die „ die Geschäftsordnung lediglich anwenden lt2 H Das Bundesverfassungsgericht macht eine wichtige Ausnahme, was die Überprüfbarkeit parlamentarischer Einzelakte angeht: Solche parlamentarische Akte, die lediglich in Anwendung der GOBT ergehen, sollen kein zulässiger Angriffsgegenstand im Organstreitverfahren sein 29 . Alleiniger Gegenstand soll in diesen Fällen die Geschäftsordnungsvorschrift sein, auf deren Grundlage weitere Entscheidungen getroffen wurden.
23 BVerfGE 2, 143 (168); 3, 12 (17); Clemens, in: Umbach/Clemens, § 63, 64 Rz. 140 f. 24 BVerfGE 1, 208 (228 f.); Clemens, in: Umbach/Clemens, § 63, 64 Rz. 138. 25 BVerfGE 60, 374 (381 f.); Joseph Bücker, Das parlamentarische Ordnungsrecht, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 34 Rz. 16; Reinhart Vogler, Die Ordnungsgewalt der deutschen Parlamente, 1926, S. 13 f. 26 BVerfGE 60, 374 (382 f.). 27 BVerfGE 2, 143 (168). 28 BVerfGE 80, 188(209). 29 BVerfGE 80, 188 (209); Clemens, Umbach/Clemens, §§ 63, 64 Rz. 139.
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Achtes Kapitel: Selbstorganisationsrecht und richterliche Kontrolle
Als Begründung hierfür führte es in der Wüppesahl-Entscheidung30 an, daß, wenn auf der Grundlage der GOBT weitere Entscheidungen getroffen würden, die die GOBT lediglich anwendeten, diese Entscheidungen ihrerseits keine weitere Beschwer enthielten. Die Problematik dieser Feststellung lag im konkreten Fall darin, daß der Antragsteller durch die von ihm angegriffenen Geschäftsordnungsbestimmungen erst beschwert war, nachdem er von seiner Fraktion ausgeschlossen worden war und zu diesem Zeitpunkt die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG an sich schon abgelaufen war, da die GOBT bereits länger als sechs Monate in Kraft war. Deshalb führt das Bundesverfassungsgericht weiter aus, daß eine Geschäftsordnungsvorschrift erst dann eine Maßnahme i.S.v. § 64 Abs. 1 BVerfGG darstelle, wenn sie je nach der gegebenen Situation beim Antragsteller eine aktuelle rechtliche Betroffenheit auszulösen vermöge. Dieser Zeitpunkt könne, müsse aber nicht mit dem Erlaß der Vorschrift zusammenfallen. Er trete später ein, wenn die Bestimmung an rechtliche Voraussetzungen anknüpfe, die sich in der Person des Antragstellers erst später verwirklichten. Hierzu könne die Fraktionslosigkeit oder Fraktionsangehörigkeit eines Abgeordneten gehören. Zwar wäre es ein unbefriedigendes Ergebnis, wenn der Antrag des Abgeordneten, der ja erst durch den Fraktionsaustritt dadurch beschwert war, daß ihm die Rechte eines fraktionsangehörigen Abgeordneten nicht mehr zustanden, wegen Fristversäumung abgelehnt worden wäre. Der Weg, den das Bundesverfassungsgericht zur Erzielung dieses Ergebnisses beschritten hat, vermag jedoch dogmatisch nicht zu überzeugen. Die GOBT ist mit ihrem Erlaß rechtserheblich, stellt also eine Maßnahme i.S.v. § 64 Abs. 1 BVerfGG dar. Die Frage, ob sie auch gerade für den Antragsteller eine rechtliche Belastung bedeutet, ist für die Beurteilung als Maßnahme ohne Bedeutung. Die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG beginnt für jede Rechtsvorschrift unabhängig davon, wann sie für den Antragsteller relevant wird, sobald sie ihm bekannt geworden ist 31 . Es ist ein Widerspruch, wenn das Bundesverfassungsgericht einerseits die abstrakte Regelung der GOBT als Angriffsgegenstand ansieht, andererseits aber für die Frage des Fristablaufs auf die konkrete Situation des Antragstellers abstellt 32 , Die Frage nach der aktuellen rechtlichen Betroffenheit läßt sich bei abstrakten Regelungen typischerweise erst dann mit Sicherheit beantworten, 30
BVerfGE 80, 188. Pestalozza , Verfassungsprozeßrecht, § 7 Fußnote 90. 32 Martin Morlok, Parlamentarisches Geschäftsordnungsrecht zwischen Abgeordnetenrechten und politischer Praxis, JZ 1989, S. 1035 (1040). 31
C. Überprüfung parlamentarischer Einzelakte
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wenn diese im konkreten Fall Anwendung gefunden haben. Insofern unterscheiden sich Geschäftsordnungsregeln nicht von Gesetzen. Für Gesetze aber steht das Bundesverfassungsgericht kategorisch auf dem Standpunkt, daß die Sechsmonatsfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGG mit der Verkündung des Gesetzes beginnt 33 . Dies hat es zuletzt in einer Entscheidung über ein Organstreitverfahren gegen die bei der Bundestagswahl 1994 angefallenen Überhangmandate bestätigt34, obgleich es - bei Anlegung der im Zusammenhang mit der GOBT aufgestellten Maßstäbe - auch in diesem Fall nahegelegen hätte, nicht bereits mit der Verkündung des Wahlgesetzes, sondern erst mit der Durchführung der Wahl, bei der die Überhangmandate entstanden sind, die entsprechenden Gesetzesvorschriften als Maßnahmen i.S.v. § 64 Abs. 1 BVerfGG anzusehen. Diesen Weg lehnte das Gericht aber ausdrücklich ab 35 . Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erweist sich in diesem Punkt daher als widersprüchlich und wenig überzeugend. Indem es Entscheidungen des Parlaments, die die GOBT lediglich anwenden, von der Kontrolle im Organstreitverfahren ausnimmt, schneidet es sich zudem die Möglichkeit ab, zu überprüfen, ob die Anwendung der Geschäftsordnungsvorschrift in dem konkreten Einzelfall nicht mißbräuchlich war und den Antragsteller deshalb in seinen verfassungsmäßigen Rechten verletzte. All diese Schwierigkeiten lassen sich einfach und überzeugend vermeiden, wenn man anerkennt, daß neben der GOBT auch Maßnahmen, die diese „lediglich" anwenden, Maßnahmen i.S.v. § 64 Abs. 1 BVerfGG sind. Nicht die Norm selbst, sondern der die Norm anwendenden Einzelakt ist dann der regelmäßige Angriflfsgegenstand. Die parlamentarische Einzelfallentscheidung hat insofern Ähnlichkeit mit dem verwaltungsrechtlichen Instrument des Verwaltungsaktes, da durch sie eine abstrakt-generelle Regelung ihre konkretindividuelle Ausgestaltung („Parlamentsrechtsakt" 36) erfährt. Die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG beginnt daher, jedenfalls bei Geschäftsordnungsnormen, die sich nicht selbst vollziehen, mit der Anwendung der betreffenden Norm auf den Einzelfall und nicht bereits mit dem Normerlaß zu laufen. Als Antragsgegner kommen insbesondere der die GOBT anwendende oder auslegende Bundestagspräsident, im Einzelfall aber auch das Plenum, eine Fraktion oder ein Ausschuß in Betracht.
33 34 35 36
BVerfGE 13, 1 (10); 24, 252 (258); 64, 301 (316). BVerfG NJW 1995, S. 2775 = DVB1. 1995, 298 (299) = N V w Z 1995, 1197. Ebenda. Morlok, JZ 1989, S. 1035 (1040).
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Achtes Kapitel: Selbstorganisationsrecht und richterliche Kontrolle 3. Prüfungsmaßstab
Zu ermitteln ist der Prüfungsmaßstab, anhand dessen das Bundesverfassungsgericht eine parlamentarische Einzelfallentscheidung im Organstreitverfahren überprüft. a) Verfassung Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG bestimmt, daß das Bundesverfassungsgericht über die Auslegung des Grundgesetzes über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Diese Bestimmung wird durch § 64 Abs. 1 BVerfGG dahingehend konkretisiert, daß der Antragsteller geltend machen muß, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet zu sein. § 64 Abs. 1 GG stellt damit klar, daß die Betroffenheit von Rechten oder 37 Pflichten, die allein im einfachen Gesetzesrecht oder in anderen Rechtsvorschriften, etwa der GOBT, wurzeln, nicht ausreichend ist, sondern im Organstreitverfahren allein das formelle Verfassungsrecht als Prüfungsmaßstab in Betracht kommt 38 . b) Geschäftsordnung Auf den ersten Blick erscheint es deshalb undenkbar, die GOBT als Prüfungsmaßstab im Organstreitverfahren heranzuziehen . Zwar begründet die Ausstattung mit eigenen Rechten in der GOBT die Parteifähigkeit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG, der Streit selbst aber muß sich um die Auslegung des Grundgesetzes drehen. Hieraus läßt sich schließen, daß Geschäftsordnungsstreitigkeiten nie Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein können. Etwas anderes könnte allerdings für Streitigkeiten gelten, in denen ein Recht oder eine Pflicht durch eine die Verfassung konkretisierende Geschäftsord37
Mit „Rechte und Pflichten" in § 64 Abs. 1 BVerfGG ist nach allgemeiner Ansicht „Rechte oder Pflichten" gemeint; vgl. für alle Clemens , in: Umbach/Clemens, §§ 63, 64 Rz. 135. 38 Gerhard Ulsamer , in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand: Dezember 1995, § 64 Rz. 2; Pestalozza , § 7 Rz. 28.
C. Überprüfung parlamentarischer Einzelakte
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nungsvorschrift begründet wird, da in diesen Fällen ein innerer Zusammenhang zwischen GOBT und Grundgesetz besteht, ein konkreter Prüfungsmaßstab aber nicht aus dem Grundgesetz, sondern erst aus einer Geschäftsordnungsbestimmung abgeleitet werden kann. Der verfassungskonkretisierende Charakter der GOBT ergibt sich bereits daraus, daß sie die Art und Weise des parlamentarischen Verfahrens bestimmt und damit wesentliche Bedingungen für die Ausübung legislativer Befugnisse schafft. Sie ist nicht irgendein Verfahrensreglement, sondern ein Teil der Verfassungsorganisation 39. Sie wird daher zu Recht als sekundäres oder ergänzendes Verfassungsrecht bezeichnet40. Trotz dieser unbestrittenen verfassungskonkretisierenden Funktion hat die GOBT am Rang der Verfassung nicht teil, denn die GOBT ist eindeutig kein formelles Verfassungsrecht. Dem steht bereits die Art ihrer Entstehung und die Tatsache entgegen, daß bei ihrem Erlaß die Bestimmungen des Grundgesetzes zu beachten sind 41 . Gleichwohl stellt sich die Frage, ob nicht dort, wo der Inhalt von Verfassungsbestimmungen maßgeblich von Geschäftsordnungsvorschriften abhängt, Verfassungsrecht also erst vermittels der GOBT anwendbar und bestimmbar wird, Geschäftsordnungsrecht die Verfassung in einer Weise ausfüllt, aus der sich Rückschlüsse für die Rechtsfolgen von Geschäftsordnungsverstößen ergeben. Zwar muß sich die GOBT auch soweit sie Bestimmungen des Grundgesetzes konkretisiert im Rahmen der Verfassung bewegen. Indem sie aber bestimmte Verfassungsnormen ausfüllt und überhaupt erst anwendbar macht, stellt sich in besonders gelagerten Fällen ein Verstoß gegen die GOBT als Verfassungsverstoß dar. Sie nimmt dann nach außen, d.h. gegenüber anderen Rechtsquellen an der Rangstufe der Verfassung teil 4 2 . Dies soll anhand dreier Beispiele belegt werden. aa) Art. 76 Abs. 1 Alt. 2 GG und § 76 GOBT Die Bestimmungen des Grundgesetzes zum Gesetzesinitiativrecht des Deutschen Bundestages sind denkbar knapp. Art. 76 Abs. 1 Alt. 2 GG bestimmt 39
So für die Geschäftsordnung der Bundesregierung Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Organisationsgewalt der Regierung, 1964, S. 119. 40 Rüdiger Altmann, Zum Rechtscharakter der Geschäftsordnung des Bundestages, DÖV 1956, S. 751 (753); Heinhard Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystem, 1972, S. 44; Haug, Bindungsprobleme, S. 21. 41 Siehe oben Kapitel 2 Abschnitt 1 A. 42 Ähnlich für die Geschäftsordnung der Bundesregierung Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 124.
288
Achtes Kapitel: Selbstorganisationsrecht und richterliche Kontrolle
lediglich, daß Gesetzesvorlagen aus der Mitte des Bundestages beim Bundestag eingebracht werden können. Die Geschäftsordnung ergänzt diese Bestimmung, indem sie in § 76 Abs. 1 GOBT festlegt, daß Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages von einer Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet sein müssen, solange die Geschäftsordnung nichts anderes vorschreibt oder zuläßt. § 76 GOBT ergänzt die Verfassung, indem er festlegt, was mit der von Art. 76 Abs. 1 GG gewählten Formulierung „aus der Mitte des Bundestages" gemeint ist. Liegt eine Gesetzesinitiative im Sinne dieser Bestimmung vor, so kann der Gesetzesinitiant verlangen, daß das Gesetzgebungsorgan Bundestag über seinen Vorschlag berät und Beschluß faßt 43 . Geht der Bundestag über einen ordnungsgemäß eingebrachten Gesetzentwurf ohne Beratung oder Beschlußfassung hinweg, verletzt er den Gesetzesinitianten daher in seinen verfassungsmäßigen Rechten aus Art. 76 Abs. 1 GG. Diese Rechtsverletzung kann dieser im Wege des Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen, denn der Gesetzesinitiant ist sowohl durch das Grundgesetz (Art. 76 Abs. 1 GG) als auch durch die GOBT (§ 76 GOBT) mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG. Antragsgegner ist der Bundestag als oberstes Bundesorgan. In seiner Entscheidung stellt das Bundesverfassungsgericht gemäß § 67 S. 1 BVerfGG fest, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Dies setzt voraus, daß tatsächlich eine Gesetzesvorlage „aus der Mitte des Bundestages" eingebracht wurde. Da aber die Bestimmung des hierfür erforderlichen Quorums dem Geschäftsordnungsrecht des Bundestages überlassen ist 44 , kann das Bundesverfassungsgericht nur prüfen, ob die Geschäftsordnungsbestimmung ihrerseits verfassungsgemäß ist, ist aber im übrigen darauf beschränkt festzustellen, ob das in der GOBT festgelegte Quorum die Initiative unterstützt hat oder nicht.
43
BVerfGE 1, 144 (153) unter Verweis auf Heinrich Triepel, gebung nach der Reichsverfassung, AöR 39 (1920) S. 456 (476). 44
BVerfGE 1, 144(153).
Der Weg der Gesetz-
C. Überprüfung parlamentarischer Einzelakte
289
Die Bestimmung in § 76 GOBT unterscheidet sich insoweit in keiner Weise von formellem Verfassungsrecht. Das in § 76 Abs. 1 GOBT festgelegte Quorum bestimmt konstitutiv, daß diese Gruppe von Abgeordneten gleichbedeutend ist mit der „Mitte des Bundestages" im Sinne von Art. 76 Abs. 1 GG. Nur wenn die Voraussetzungen der Geschäftsordnungsnorm erfüllt sind, kann die Gruppe überhaupt verfassungsmäßige Rechte aus Art. 76 Abs. 1 GG haben, die verletzt worden sein könnten. Die Geschäftsordnungsbestimmung ist damit verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab und nicht bloß Voraussetzung für die Parteifähigkeit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG. bb) Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und Abgeordnetenrechte in der GOBT Noch deutlicher wird die Verfassungsfunktion der GOBT für die Beantwortung der Frage, welche Rechte der einzelne Bundestagsabgeordnete aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ableiten kann. Die Vorschrift bestimmt lediglich, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verpflichtet" sind. Die vom Bundesverfassungsgericht in der Wüppesahlentscheidung vertretene Auffassung, daß die dem einzelnen Abgeordneten aus seinem verfassungsrechtlichen Status zufließenden Rechte durch die Geschäftsordnung nicht begründet, sondern lediglich die Art und Weise ihrer Ausübung geregelt werde 45 , erscheint zwar zunächst zwingend und plausibel, erweist sich aber bei genauerer Untersuchung als problematisch. Dies zeigt bereits die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts selbst. Nachdem ausführlich auf die zentrale Bedeutung der Arbeit der Parlamentsausschüsse für die politische Willensbildung eingegangen wird 4 6 , folgert es hieraus, daß dem fraktionslosen Abgeordneten ein Sitz im Ausschuß nicht vorenthalten werden dürfe 47 . Erst die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens führt also zu dem verfassungsrechtlich abgesicherten Abgeordnetenrecht aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG auf Mitgliedschaft in einem Ausschuß. Schaffte der Bundestag seine Ausschüsse ab 48 , gäbe es kein Recht auf Aus-
45
BVerfGE 80, 188(219). BVerfGE 80, 188(221 ff.). 47 BVerfGE 80, 188(224). 48 Das Recht hierzu steht ihm aufgrund seiner Organisationshoheit grundsätzlich zu, solange nicht bestimmte Ausschüsse im Grundgesetz vorgeschrieben sind und solange er durch ein ersatzweises anderes Gliederungsprinzip sicherstellt, daß durch die Abschaffung der Ausschüsse keine parlamentarische Handlungsunfähigkeit eintritt. 46
19 Schwerin
2 9 0 A c h t e s Kapitel: Selbstorganisationsrecht undrichterliche Kontrolle schußmitgliedschaft. Dies ist indes eine mittelbare Auswirkung des Geschäftsordnungsrechts auf die konkreten Befugnisse des einzelnen Abgeordneten und läßt diese noch nicht zum Prüfungsmaßstab werden. Allerdings wurde bereits bei der Beurteilung der rechtlichen Zulässigkeit der Ausgestaltung parlamentarischer Verfahrensrechte als Minderheitenrechte ausgeführt, daß jede kollektive Ausgestaltung parlamentarischer Befugnisse nicht nur eine Regelung der Ausübung dieser Befugnis ist, sondern dazu führt, daß dem einzelnen Abgeordneten dieses Recht entzogen wird. Die Maßstäbe nach denen sich die Rechtmäßigkeit solcher Geschäftsordnungsregeln bemißt, wurden bereits oben dargelegt 49. Wurde eine Befugnis verfassungsgemäß kollektiv ausgestaltet, so führt dies dazu, daß sie dem einzelnen Abgeordneten nicht mehr zusteht, er eine Verletzung dieser Befugnis daher auch nicht im Wege eines Organstreits als Verletzung eigener Rechte aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG geltend machen kann. Umgekehrt folgt hieraus, daß jene Befugnisse, die die GOBT beim einzelnen Abgeordneten beläßt, dessen Status ausmachen und verfassungsrechtlichen Schutz gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG genießen. D.h. wird eines dieser Rechte vom Bundestag übergangen, oder weicht er von einem dieser Rechte im Einzelfall nach § 126 GOBT ab 50 , so kann sich der einzelne Abgeordnete im Wege eines Organstreits hiergegen wehren. Das aber wiederum bedeutet, daß die konkrete Ausgestaltung, die die Abgeordnetenrechte in der GOBT erfahren - vorausgesetzt, die Ausgestaltung ist ihrerseits verfassungsgemäß - konstitutiv für die Rechte ist, die der einzelne Abgeordnete verfassungsgerichtlich durchsetzen kann. cc) Art. 43 Abs. 1 GG und das geschäftsordnungsmäßige
Interpellationsrecht
Ebenso verhält es sich mit der Ausgestaltung, die das parlamentarische Interpellationsrecht durch die GOBT erhalten hat. Wie bereits im dritten Kapitel dieser Arbeit ausgeführt 51, konkretisiert das Interpellationsrecht das verfassungsrechtliche Zitierrecht des Parlaments gemäß Art. 43 Abs. 1 GG. Diese Konkretisierung bewirkt, daß die Regierung verpflichtet ist, Anfragen, die einzelne Abgeordnete oder Gruppen von Abgeordneten in Ausübung des parlamentarischen Interpellationsrechts an sie herantragen, zu beantworten, soweit die Geschäftsordnung selbst nicht vorsieht, daß keine Antwort Verpflichtung
49
Siehe oben Kapitel 5 Abschnitt 2 D. Zur rechtlichen Unzulässigkeit der Abweichung von solchen Geschäftsordnungsbestimmungen, siehe oben Kapitel 5 Abschnitt 3. 50
51
Siehe oben Kapitel 3 Abschnitt 3 A III.
C. Überprüfung parlamentarischer Einzelakte
291
besteht. Weigert sich die Bundesregierung, auf eine geschäftsordnungsgemäße Anfrage aus dem Parlament zu antworten, so verletzt sie ein Recht, das dem Fragesteller aufgrund der GOBT zusteht. Indem diese Art. 43 Abs. 1 GG konkretisiert, verletzt die Regierung mit der Antwortverweigerung aber mittelbar auch ihre verfassungsrechtliche Pflicht, auf entsprechende Anfragen zu antworten, weshalb auch in diesem Fall die Voraussetzungen für ein Organstreitverfahren vorliegen. dd) Folgerungen In bestimmten Fällen kann ein Verstoß gegen die GOBT, der nicht unmittelbar einen Verstoß gegen das Grundgesetz bedeutet, Gegenstand eines Organstreitverfahrens sein. Zwar geht es bei einem Organstreit gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG um eine Streitigkeit über die Auslegung des Grundgesetzes über den Umfang von Rechten und Pflichten. Demgemäß muß der Antragsteller nach § 64 Abs. 1 B VerfGG geltend machen, „in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten" betroffen zu sein. In bestimmten Konstellationen lassen sich diese Rechte und Pflichten dem Grundgesetz aber nur mittelbar entnehmen, da sie ihre Konkretisierung erst durch die GOBT erfahren. In diesen Fällen füllt die GOBT Grundgesetzbestimmungen in einer Weise aus, als handele es sich bei ihr um formelles Verfassungsrecht, weshalb sie als Prüfungsmaßstab im Organstreitverfahren hinzuzuziehen ist. Hierdurch wird die GOBT nicht zu Verfassungsrecht im formellen Sinne. Nicht der Verstoß gegen die Geschäftsordnung, sondern der Verstoß gegen die dahinter stehende Grundgesetznorm wird sanktioniert. Der Geschäftsordnungsverstoß stellt sich mittelbar als Verfassungsverstoß dar. Gleichwohl ist es die konkrete Geschäftsordnungsbestimmung, die die Grenze des verfassungsmäßig Zulässigen markiert, eine grundgesetzliche Pflicht oder ein grundgesetzliches Recht begründet, denn indem sie das Grundgesetz konkretisiert, schafft sie erst den verbindlichen Maßstab für eine verfassungsrechtliche Überprüfung.
III. Verfassungsbeschwerde Die verfassungsgerichtliche Überprüfung parlamentarischer Einzelakte im Wege der Verfassungsbeschwerde spielt in der Praxis keine Rolle, da nur die Träger eines der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG genannten Grundrechte beschwerdefähig sind. Im parlamentarischen Funktionsbereich treten aber ganz überwiegend Verfassungsorgane, Teile von Verfassungsorganen oder Organwalter auf, die als Teile des Staates diesem gegenüber keine Grundrechte gel-
292
Achtes Kapitel: Selbstorganisationsrecht undrichterliche Kontrolle
tend machen können. Soweit ein Abgeordneter, der ja als Privatperson zugleich Grundrechtsträger ist, um seinen verfassungsrechtlichen Status als Abgeordneter streitet, sah das Bundesverfassungsgericht lange Zeit die Organstreitigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG als den spezielleren Rechtsbehelf gegenüber der Verfassungsbeschwerde an 52 . Dies gelte selbst dann, wenn er zugleich eine Grundrechtsverletzung rügt 53 . Von dieser Auffassung ist das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 84, 290 abgerückt, wenn es daß die vom Antragsteller geltend gemachten Einzelfreiheitsrechte für ein Organstreitverfahren allenfalls mittelbar unter dem Gesichtspunkt der Sonderbehandlung erheblich sein könnten. In seiner Entscheidung zur Überprüfung von Abgeordneten auf eine frühere Stasi-Tätigkeit hat es in Fortführung dieser Auffassung schließlich ausgeführt, daß „ein Abgeordneter im Organstreit ausschließlich Rechte geltend machen kann, die sich aus seiner organschaftlichen Stellung im Sinne des Art. 38 Abs. 1 Satz2GG ergeben", nicht aber Grundrechte 54. Dies erscheint letztlich überzeugend, weil es kein „zugleich" von Status- und Grundrechtsbeeinträchtigung gibt und im Organstreit Konflikte um die Kompetenzen und den besonderen Status von Staatsorganen und von Organteilen ausgetragen werden und nicht Auseinandersetzungen um jedermann zustehende Grundrechte 55. Soweit ein Abgeordneter durch einen parlamentarischen Akt in seinen Grundrechten betroffen ist, steht ihm als Rechtsbehelf daher die Verfassungsbeschwerde offen. Zumindest theoretisch kann auch der durch einen parlamentarischen Einzelakt negativ betroffene Bürger Verfassungsbeschwerde erheben. Denkbar ist dies indessen nur in seltenen, besonders gelagerten Fällen, etwa dann, wenn dem Bürger gegenüber ein Petitionsbescheid ergeht und dieser geltend macht, hierdurch in seinem Grundrecht aus Art. 17 GG beeinträchtigt zu sein 56 . Auch für eine Verfassungsbeschwerde gegen parlamentarische Einzelakte ist die Erschöpfung des Rechtsweges nach § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG erforderlich 57.
52
BVerfGE 60, 374 (380); 70, 324 (359); 80, 188 (208 f.). BVerfGE 43, 142 (148 f.); 64, 301 (312); siehe auch Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 3. Auflage, 1995, Art. 38 Rz. 36. 54 BVerfGE 94, 351 (365); ihm folgend MVVerfG, L K V 1997, 95 (96). 55 So auch MVVerfG, L K V 1997, 95 (96). 56 Zu diesem Fall eingehend Achterberg , Parlamentsrecht, S. 774 ff. 57 HessStGH, ESVGH 28, 134. 53
D. Durchsetzbarkeit interfraktioneller Vereinbarungen
293
IV. Verwaltungsgerichtliche Kontrolle Die Überprüfung parlamentarischer Einzelfallentscheidungen auf dem Verwaltungsrechtsweg kommt gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO nur dann in Frage, wenn eine öffentliche-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art vorliegt. Dies ist indessen nur in eng begrenzten Einzelfällen der Fall. Zwar handelt es sich durchweg um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, da sie ihre Grundlage im Geschäftsordnungsrecht als Teil des öffentlichen Rechts haben. Allerdings ist der Verwaltungsrechtsweg nicht für verfassungsrechtliche Streitigkeiten eröffnet, § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. Eine verfassungsrechtliche Streitigkeit ist eine Streitigkeit zwischen am Verfassungsleben unmittelbar beteiligten Rechtsträgern, Verfassungsorganen und Teilen von solchen um die ihnen in dieser Eigenschaft zukommenden Rechte, Pflichten und Kompetenzen58. In diesem Sinne sind Streitigkeiten in Geschäftsordnungsangelegenheiten so gut wie immer verfassungsrechtlicher Art, allein im Falle einer Streitigkeit um subjektiv-öffentliche Rechte von Bürgern, liegt eine nichtverfassungsrechtliche Streitigkeit vor, so daß der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist. Ein Beispiel hierfür ist der Anspruch auf Auslagenerstattung von Sachverständigen und Auskunftspersonen nach § 70 Abs. 6 GOBT 5 9 , ein anderes die Rechtsbeeinträchtigung durch einen Petitionsbescheid60.
D. Durchsetzbarkeit interfraktioneller Vereinbarungen Auch bei interfraktionellen Vereinbarungen stellt sich die Frage nach ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit. Streitigkeiten aus interfraktionellen Vereinbarungen können - wenn überhaupt - allein vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen werden, da es sich um eine Streitigkeit zwischen am Verfassungsleben unmittelbar beteiligter Rechtsträgern bzw. Teilen von solchen handelt, die auch materiell Verfassungsrecht, nämlich die Rechte und Pflichten aus einem verfassungsrechtlichen Vertrag 61 , betrifft, so daß nach § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten versperrt ist. 58
BVerwGE 36, 228; 51,71; Ferdinand O. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, 10. Auflage, 1994, § 40 Rz. 32. 59 Haug, Bindungsprobleme, S. 155. 60 Ächterberg, Parlamentsrecht, S. 774 ff. m.w.N., der auch ausführlich auf die hier nicht näher zu erörternde Frage nach der statthaften Klageart eingeht. 61 Zur Rechtsnatur interfraktioneller Vereinbarungen oben Kapitel 7 Abschnitt 1 F 1.
294
Achtes Kapitel: Selbstorganisationsrecht und richterliche Kontrolle
Vor dem Bundesverfassungsgericht kommt für den Streit zwischen zwei oder mehreren Fraktionen bzw. zwischen einer Fraktion und einem Parlamentsorgan allein der Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG in Betracht 62. Ebenso wie bei der Überprüfbarkeit von Geschäftsordnungsverstößen stellt sich daher die Frage, ob der Antragsteller oder das Organ dem er angehört in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten oder Pflichten betroffen sein kann, wenn eine interfraktionelle Vereinbarung nicht eingehalten wird. Es ist daher ausgeschlossen, daß Rechte und Pflichten Gegenstand eines Organstreites sind, die sich nicht aus dem Grundgesetz, sondern lediglich aus einer interfraktionellen Vereinbarung ergeben. Aus diesem Grund kann der Bruch einer interfraktionellen Vereinbarung in der Regel keiner verfassungsgerichtlichen Kontrolle im Wege eines Organstreitverfahrens unterzogen werden. Allerdings ist die willkürliche Abweichung von interfraktionellen Vereinbarungen verfassungsgerichtlich dann angreifbar, wenn hierdurch grundgesetzliche Rechtspositionen einer der an der interfraktionellen Vereinbarung beteiligten Seite beeinträchtigt sind. Dies ist etwa dann der Fall, wenn es durch die Mißachtung der interfraktionellen Vereinbarung zu einer sachlich nicht begründbaren Benachteiligung der parlamentarischen Minderheit, d.h. der Opposition, kommt 63 . Deshalb kann etwa der Bruch einer interfraktionellen Vereinbarung über die Verteilung der Redezeiten während einer parlamentarischen Aussprache im Wege eines Organstreitverfahrens einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden, wenn hierdurch die Artikulationsmöglichkeiten einer Fraktion in erheblichem Maße verkürzt wurden.
62 63
Stefan Dammholz , Die interfraktionelle Vereinbarung, 1972, S. 82. Troßmann/ Roll, Ergänzungsband, § 35 Rz. 2.
Zusammenfassung in Thesen
Erstes Kapitel 1.
Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG garantiert dem Bundestag das Recht, selbständig sein Verfahren zu bestimmen und selbständig seine Organe zu bestellen.
2.
Das vom Verfassungsorgan Bundestag selbst gesetzte Recht ist staatliches und nicht autonomes Recht. Es läßt sich treffend als Selbstorganisationsrecht bezeichnen, da es der zielgerichteten Ordnung bzw. Regelung der Aufgaben und Tätigkeiten des Bundestages dient.
Zweites Kapitel 3.
Das Selbstorganisationsrecht findet seine alleinige Schranke im Grundgesetz. Es vermag aber seinerseits das Grundgesetz zu konkretisieren und in bestimmten Fällen sogar die Verfassungsform zu wandeln.
4.
Die Selbstorganisationsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG schützt den Bundestag vor der Einflußnahme anderer Verfassungsorgane auf seine Geschäftsordnungsangelegenheiten. Durch Gesetz dürfen deshalb keine Gegenstände des Selbstorganisationsrechts geregelt werden.
5.
Dem Geschäftsordnungsgeber dürfen ebenso wie parlamentarischen Organen keine Gesetzgebungsbefugnisse übertragen werden. Das Grundgesetz sieht insoweit eine eindeutige Kompetenzzuweisung vor, die weder durch gesetzliche noch durch geschäftsordnungsmäßige Regelung verändert werden darf. Sowohl die Verhaltensregeln für Abgeordnete als auch die Ausftihrungsbestimmungen des Ältestenrates zu einzelnen Bestimmungen des Abgeordnetengesetzes sind unter diesem Gesichtspunkt verfassungsrechtlich zu beanstanden. Drittes Kapitel
6.
Die Bindungswirkung des Selbstorganisationsrechts reicht über den parlamentsinternen Bereich hinaus. Es ist sowohl in der Lage, Bürger als auch
296
Zusammenfassung in Thesen andere Verfassungsorgane oder deren Mitglieder zu binden, wenn dies zur effektiven Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben erforderlich ist.
Viertes Kapitel 7.
Indem das Selbstorganisationsrecht den Rahmen für die Bildung von Fraktionen und Ausschüssen schafft, ermöglicht es die parlamentarische Mehrheitsfindung. a)
Die Fraktionen sorgen für eine Themenbegrenzung und einen gestuften Willensbildungsbildungsprozeß, der der Qualität der parlamentarischen Verhandlung dient.
b)
Die Fraktionen dienen in gleicher Weise der effektiven Wahrnehmung der Abgeordnetenrechte wie der Vertretung der politischen Parteien im Bundestag und der Gewährleistung effektiver Parlamentsarbeit. Sie finden ihre verfassungsrechtliche Verankerung daher in Art. 21, 38 Abs. 1 S. 2 und 40 Abs. 1 S. 2 GG. Da ohne die Fraktionen die Funktionstüchtigkeit des Bundestages nicht mehr gewährleistet wäre, steht der Zweck der Selbstorganisationsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG ihrer Abschaffung entgegen.
c)
Gruppen von Abgeordneten, die einer Partei angehören, der der Einzug in den Bundestag gelungen ist, ist aufgrund des Grundsatzes der formalen Gleichheit aller Abgeordnetengruppen der Fraktionsstatus zuzuerkennen, da bereits das Wahlrecht den Gefahren vorbeugt, die von einer Parteienzersplitterung für die parlamentarische Funktionstüchtigkeit ausgehen.
d)
Fraktionslose Abgeordnete haben das Recht, einem Ausschuß mit beratender Stimme anzugehören. Ein Stimmrecht kommt ihnen im Ausschuß dagegen nicht zu, da dieses notwendig überproportional wirkte.
e)
Neben den Fraktionen bilden die Ausschüsse das zweite parlamentarische Gliederungsprinzip, das die Mehrheitsfindung im Bundestag ermöglicht.
f)
Die Aufgabe der Ausschüsse besteht in der Entlastung des Plenums. Zu diesem Zweck findet die parlamentarische Willensbildung verstärkt in den Ausschüssen und weniger im Plenum statt.
g)
In bestimmten Fällen kann den Ausschüssen nicht nur die Vorbereitung parlamentarischer Entscheidungen, sondern die Entscheidung
Zusammenfassung in Thesen selbst übertragen werden. Aufgrund der Unterscheide zwischen Ausschüssen und Plenum hinsichtlich Zusammensetzung, Arbeitsziel, Verfahren und Auswirkung ihrer Arbeit, ist dies allerdings nur möglich, wenn es sich um eine Entscheidung handelt, die allein unter Sachgesichtspunkten zu treffen ist und sich nicht für eine Politisierung eignet. Betrifft die Entscheidung nicht nur parlamentarische Interessen, so hat der betreffende Ausschuß öffentlich zu tagen, da nur so die parlamentarische Verantwortung vor dem Wähler hergestellt werden kann.
Fünftes Kapitel 8.
Aufgabe des Selbstorganisationsrechts ist nicht allein die Schaffung von Verfahrensregeln, die die Mehrheitsfindung ermöglichen, sondern auch die Sicherstellung des Schutzes der parlamentarischen Minderheit. a)
Zum Schutze der parlamentarischen Minderheit enthält die GOBT zahlreiche Minderheitenrechte, die sich danach unterscheiden, ob ihnen bei Geltendmachung entsprochen werden muß (absolute Minderheitenrechte) oder ob sie eine Entscheidung des Bundestages erzwingen (relative Minderheitenrechte).
b)
Die Mehrzahl der Minderheitenrechte können nicht vom einzelnen Abgeordneten (als kleinster parlamentarischen Minderheit), sondern nur von Fraktionen oder Gruppen von Abgeordneten in Fraktionsstärke wahrgenommen werden.
c)
Die kollektive Ausgestaltung der Minderheitenrechte hat zur Folge, daß dem einzelnen Abgeordneten wichtige parlamentarische Befugnisse im Vorfeld von Abstimmungen verschlossen bleiben.
d)
Da Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG dafür streitet, möglichst viele parlamentarische Befugnisse beim einzelnen Abgeordneten zu belassen, ist die kollektive Ausgestaltung parlamentarischer Verfahrensrechte nicht uneingeschränkt zulässig. Zur Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen der in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG angelegten repräsentativen Stellung des einzelnen Abgeordneten, der am besten durch eine Vielzahl eigener Wahrnehmungszuständigkeiten Rechnung getragen wird und der Funktionstüchtigkeit des Bundestages, die herzustellen Zweck von Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG ist, und der am besten durch die kollektive Ausgestaltung möglichst vieler Verfahrensrechte gedient ist, ist auf den allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz abzustellen.
Zusammenfassung in Thesen
298 e)
Bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind die Besonderheiten der durch Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten Selbstorganisationsbefugnis zu beachten. Die Verfassungsgarantie des Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG fuhrt dazu, daß der Geschäftsordnungsgeber einen weiten Spielraum bei der Beurteilung hat, ob die kollektive Ausgestaltung eines Verfahrensrechts erforderlich ist, um die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu gewährleisten oder zu verbessern, wenn er den erheblichen Sachverhalt ermittelt und die Vor- und Nachteile der Regelung nachvollziehbar gegeneinander abgewogen hat. Die Angemessenheitskontrolle beschränkt sich auf eine Evidenzkontrolle.
f)
Von Minderheitenrechten darf aufgrund des aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatzes eines fairen Verfahrens nicht mit Zweidrittelmehrheit nach § 126 GOBT abgewichen werden. Sechstes Kapitel
9.
Verstöße gegen die GOBT sind nicht stets unbeachtlich. a)
Im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren muß die GOBT Regeln bereithalten, die sicherstellen, daß alle im Parlament vertretenen Kräfte in fairer Weise so an der Willensbildung beteiligt sind, daß alle gesellschaftlich relevanten Alternativen erörtert und alle verfugbaren Informationen verwertet werden können. Nur die Einhaltung dieser Regeln stellt ein demokratisches Gesetzgebungsverfahren sicher. Der Verstoß gegen solche Geschäftsordnungsregeln führt dann zur Nichtigkeit des verfahrensfehlerhaft zustandegekommenen Gesetzes, wenn er offensichtlich war und wenn nicht auszuschließen ist, daß ohne den Verstoß kein oder ein inhaltlich anderes Gesetz zustandegekommen wäre.
b)
Bei sonstigen Parlamentsbeschlüssen mit Außenwirkung führt die Mißachtung solcher Verfahrensvorschriften, die gewährleisten sollen, daß jede parlamentarische Gruppierung ihre Ansichten vortragen kann und nicht dadurch überrascht wird, daß über Gegenstände beraten und beschlossen wird, auf die sie sich nicht einstellen konnte, zur Nichtigkeit des Beschlusses.
c)
Für Parlamentsbeschlüsse, deren Rechtswirkungen sich auf den parlamentarischen Bereich beschränken ist die Einhaltung der GOBT unbedingte Wirksamkeitsvoraussetzung, so daß jeder Geschäftsordnungsverstoß ihre Nichtigkeit bewirkt.
Zusammenfassung in Thesen Siebtes Kapitel 10. Unter den Rechtsquellen des parlamentarischen Selbstorganisationsrechts ist die GOBT hervorzuheben. a)
Die GOBT läßt sich keinem hergebrachten Rechtsquellentypus zuordnen. Daher ist von einem neuen Rechtsquellentyp der Parlamentarischen Geschäftsordnungen auszugehen.
b)
Die GOBT erlangt mit ihrer Publikation Rechtsgültigkeit und gilt stets nur für den Bundestag, der sie beschlossen hat (Diskontinuitätsgrundsatz).
11. Die Anlagen der GOBT sind nur dann deren Bestandteil, wenn dies in einer Geschäftsordnungsnorm ausdrücklich bestimmt ist. 12. Ergänzungsbeschlüsse binden den Bundestag, wenn sie für den Einzelfall ergehen oder eine Lücke schließen, die der Geschäftsordnungsgeber bewußt offen gelassen hat. Erprobungsregeln, die durch einen Ergänzungsbeschluß in Kraft gesetzt werden, erlangen erst mit ihrer Aufnahme in die GOBT rechtliche Verbindlichkeit. 13. Auslegungsentscheidungen des Plenums und des Geschäftsordnungsausschusses setzen verbindliches Recht für alle parlamentarischen Organe und Organteile. Das Plenum selbst kann mit einfacher Mehrheit von ihnen abweichen. Auslegungsentscheidungen des Bundestagspräsidenten haben keine über den Einzelfall hinausgehenden Rechtswirkungen. 14. Gewohnheitsrecht kann im Bereich des Selbstorganisationsrechts nicht entstehen. Dies ergibt sich zum einen daraus, daß aufgrund der auf eine Wahlperiode begrenzten zeitlichen Geltungsmacht des Organisationsrechts des jeweiligen Bundestages die Voraussetzungen für eine langdauernde Übung fehlen. Zum anderen führte die Anerkennung von Gewohnheitsrecht zu einer mit Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG nicht zu vereinbarenden Fremdbestimmung des Geschäftsordnungsgebers, da ansonsten parlamentarische Organe, ohne dazu befugt zu sein, die Definitionsmacht darüber erhielten, ob bestimmte Regeln zum Geschäftsordnungsrecht gehören oder nicht.
300
Zusammenfassung in Thesen
15. Auch parlamentarischer Brauch kann keine rechtliche Verbindlichkeit für sich beanspruchen. Seine tatsächliche Bindungskraft beruht auf generalisierter Reziprozität. 16. Interfraktionelle Vereinbarungen sind verfassungsrechtliche Verträge. Sie entfalten Bindungswirkung für die an ihrem Zustandekommen beteiligten Fraktionen und für parlamentarische Organe und Organteile. Das Plenum oder einzelne Abgeordnete sind dagegen nicht an die Beachtung interfraktioneller Vereinbarungen gebunden, wie sich aus Art. 40 Abs. 1 S.2 bzw. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ergibt. 17. Für das Selbstorganisationsrecht des Bundestages gilt ein Vorrang der GOBT. Dies bedeutet, daß sich das parlamentarische Verfahren (zumindest nicht ohne ausdrücklichen Beschluß nach § 126 GOBT) nicht im Widerspruch zur GOBT entwickeln darf. Außerdem bewirkt der Vorrang der GOBT für alle parlamentarischen Organe und Organteile ein Anwendungsgebot der GOBT und ein Abweichungsverbot von der GOBT. 18. Darüber hinaus besteht für bestimmte Regelungen des parlamentarischen Geschäftsganges und der parlamentarischen Organisation ein Vorbehalt der GOBT. Zur Bestimmung der Reichweite dieses Vorbehalts ist auf die Verfassungsrelevanz der jeweiligen Regelung abzustellen.
Achtes Kapitel 19. Die GOBT kann Gegenstand einer abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG sein, da sie Bundesrecht setzt. Die Bundesregierung kommt als Antragsteller nur in Betracht, wenn sie eine Geschäftsordnungsbestimmung angreift, die sie betrifft. Auch im Organstreit kann gegen die GOBT vorgegangen werden. Dagegen spielt die theoretische Möglichkeit einer konkreten Normenkontrolle praktisch keine Rolle und eine Verfassungsbeschwerde gegen die GOBT ist ausgeschlossen. 20. Parlamentarische Einzelakte können insbesondere im Wege eines Organstreitverfahrens angegriffen werden. Dies gilt auch, soweit es sich um Akte handelt, „die die GOBT lediglich anwenden". In diesen Fällen ist nicht die Bestimmung der GOBT, sondern der Umsetzungsakt Gegenstand des Organstreits, da erst dieser die konkrete Rechtsbetroffenheit auszulösen vermag. Im Wege des Organstreites kann nicht nur die Betroffenheit der Rechte geltend gemacht werden, die sich unmittelbar aus dem Grundgesetz
Zusammenfassung in Thesen ergeben, sondern auch solcher Rechte, die sich aus grundgesetzkonkretisierenden Geschäftsordnungsbestimmungen ergeben. 21. Die theoretisch gegebene Möglichkeit, bestimmte parlamentarische Einzelakte im Wege einer Verfassungsbeschwerde oder vor den Verwaltungsgerichten anzugreifen, spielt in der Praxis keine Rolle. 22. Interfraktionelle Vereinbarungen können in der Regel weder gerichtlich noch verfassungsgerichtlich durchgesetzt werden. Eine Ausnahme gilt lediglich dann, wenn durch die willkürliche Nichteinhaltung einer interfraktionellen Vereinbarung grundgesetzliche Rechtspositionen einer der an der Vereinbarung beteiligten Seiten beeinträchtigt wird. In diesem Fall ist ein Organstreit möglich.
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Kritische Studien zur Lehre von Rechtssatz und formeller Gesetze, 2. Auflage, 1913
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trtverzeichnis Abgeordnetengruppe ohne Fraktionsstatus 137 ff., s. auch PDS Abgeordneter - fraktionsloser 146 ff. - Informationsanspruch 98 ff. - Parteigebundenheit 132 ff. - und Fraktion 33, 130 ff., 194 ff. - zweiter Klasse 144 Abstimmungsverfahren 122 Absolutes Minderheitenrecht 190 f. Abstrakte Normenkontrolle 278 ff,
282 Ältestenrat 34, 66 ff., 113, 129, 159, 230, 254 ff., 266, 272 ff. Anlagen zur GOBT - allgemein 247 ff. - experimentelles Geschäftsordnungsrecht 251 f. - inkorporiertes Geschäftsordnungsrecht 248 - Sonderfälle 248 ff. Ausführungsbestimmungen - allgemein 66 f f - Delegation von Gesetzgebungszuständigkeiten 67 f. - Publizität 70 Auskunftsverpflichtung der Bundesregierung 95 ff. Auslegungsentscheidungen - allgemein 255 ff. - Bindungswirkung 259 - Reichweite der Auslegungsbefugnis 256 - Verfahren 255 Ausschüsse - allgemein 156 ff.
- Arbeitsziel 173 - Ausschußmitgliedschaft ohne Stimmrecht 148 f. - Besetzung 159 - Delegation von Befugnissen 164 ff. - Rechte und Pflichten 160 ff. - Typen 157 f. - und fraktionslose Abgeordnete 153 f. - Verhältnis zum Plenum 162 ff., 172 ff. Autonomes Parlamentsrecht 19 f f , 38 ff. Befragung der Bundesregierung 94 Beschlußarten 118 Beschlußempfehlungen 160 f. Beschlußfähigkeit 120 ff. Bindung der Bundesregierung 89 ff. Bindung des Bürgers - als Mitglied einer EnqueteKommission 81 ff. - als Zeuge 87 f. - als Zuhörer 77 ff. Bundesverfassungsrichterwahl 167, 181 ff. Deklaratorisches Geschäftsordnungsrecht 71 ff. Delegationsverbote 169 Diskontinuitätsgrundsatz 241 ff., 263 Einzelfragen 248 Ergänzungsbeschlüsse 253 ff. Erweiterte öffentliche Ausschußberatung 163
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trtverzeichnis
Fragestunde 93 Fraktionen - allgemein 123 ff. - Funktion 126 ff. - verfassungsrechtliche Verankerung 130 ff. - rechtliche Stellung 124 f. Fraktionsgesetz 71 ff. Gebundenes Mandat 197 Geheimhaltung 48 f., 110 f. Geschäftsordnungsausschuß 69, 71 f., 173, 253, 256, 260 f. Geschäftsordnungsinterpretation s. Auslegungsentscheidungen Gesetzgebungsverfahren -
inneres und äußeres 212 ff. Mindestanforderungen 224 Rationalität 212 und GOßT 211 ff. und Legitimation 219 ff. verfassungsrechtliche Optimierungspflicht 212 ff. Gesetzesvorbehalt 59 ff., 73 GOßT - Adressaten 75 f. - als Verfassungswandler 32 ff. - Begriff 22 ff. - Entwicklung 232 ff. - Geltungsdauer 240 ff. - kodifizierte 18, 25 f., 32, 41, 75 - Konkretisierungswirkung 31 ff., 55, 59,61,69, 78, 100, 103 f., 108, 211, 232, 238, 277, 286 f., 290 f. - Rechtsnatur 235 ff. - Rechtsschutz 278 ff. - Regelungsbereich 23 ff. - und Gesetz 36 ff. - und Grundgesetz 29 ff. - Vorrang und Vorbehalt der 274 ff. - zeitliche Geltung 240 ff. Große Anfragen 91 f., 109
Grundsatz formaler Gleichheit 64 f., 73, 108, 141 f., 151 ff. Haushaltskontrolle 166, 178 ff. Hausrecht 77 ff., 113 f. Immunitätsentscheidung 165 f., 177 f. Interfraktionelle Koordination 128 f. Interfraktionelle Vereinbarungen - allgemein 13, 265 ff. - Bindungswirkung 268 ff. - Durchsetzbarkeit 293 f. - Rechtsnatur 267 f. Interpellationsrecht 16, 76, 90 ff., 290 Jour fixe 129 Kernbereich des freien Mandats 195 ff. Kleine Anfragen 91 ff., 138, 193 Konkrete Normenkontrolle 280 f., 282 Kontrollaufgaben des Parlaments 43 ff, 46 ff. Lobbyistenliste 249 Mehrheitsbildung 127 Mehrheitsprinzip 118 ff., 188, 219 f. Minderheitenschutz -
Abweichungen 207 f. allgemein 188 ff. kollektiver 194 ff. Minderheitenrechte 190 ff.
Öffentliche Anhörung 225 ff. Ordnungsrecht 55, 77 ff., 113 ff. Organstreit 280, 282 ff. Parlamentarisches Gewohnheitsrecht 261 ff. Parlamentarisches Innenrecht 75 ff.
Stichwortverzeichnis Parlamentarische Ordnung s. Ordnungsrecht Parlamentsbrauch 264 f. Parlamentsgeschäfte 29 ff. PDS 93, 137 ff. Persönlichkeitsrecht, Schutz des 111 Prognosentscheidung 203 Rechtsfolgen von Geschäftsordnungsverstößen - allgemein 209 ff. - im Hinblick auf Gesetzesbeschlüsse 210 ff., 219 ff. - im Hinblick auf sonstige Parlamentsbeschlüsse 228 ff. Rederecht für Nichtparlamentarier 84 ff. Relatives Minderheitenrecht 191 f. Selbstbefassungsrecht 161 f. Selbstorganisationsrecht - Begriff 19 ff. - Inhalt 22 ff. - richterliche Kontrolle 279 ff. - Zweck 27 f., 37 ff. Sperrklausel 138, 140, 143 f. Staatsgeheimnisse, Schutz von 110 f. Überprüfung von Abgeordneten 64 f.
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Ungeschriebene Regeln 260 ff. Untersuchungsrecht 65
Verfassungsbeschwerde 281,291 f. Verhaltensregeln 78, 248 - allgemein 52 ff. - Inhalt 53 - und Geschäftsordnungsrecht 54 ff. - unzulässige Delegation 57 ff. - unzulässiger Grundrechtseingriff 61 f. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz - Angemessenheit 205 f. - Anwenbarkeit im Parlamentsrecht 199 f. -
Erforderlichkeit 202 ff. Geeignetheit 202 legitimer Zweck 201 und kollektive Minderheitenrechte 198 ff.
Wahlfreiheit zwischen GOBT und Gesetz 36 ff, 46 ff. Wahlrechtsgleichheit 139 ff. Wahlmännerausschuß 167, 183 Wüppesahl 146, 194 f. Zitierrecht 89 ff, 290