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German Pages 232 Year 2020
Joosten Wilhelm Meyer Die Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO aus arbeitsrechtlicher Perspektive
Die Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO aus arbeitsrechtlicher Perspektive
von Joosten Wilhelm Meyer
RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH & Co. KG · Köln
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Vorwort Die vorliegende Arbeit ist an der Bucerius Law School – Hochschule für Rechtswissenschaft – als Dissertation angenommen worden. Das Rigorosum fand am 13. November 2019 statt. Literatur und Rechtsprechung entsprechen dem Stand Januar 2020. Danken möchte ich zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Matthias Jacobs, der die Erstellung dieser Arbeit betreut hat. Er hatte jederzeit ein offenes Ohr und hat mit seinen Anregungen maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Mein weiterer Dank gilt dem Zweitgutachter dieser Arbeit, Prof. Dr. Curt Wolfgang Hergenröder, für die zügige Erstellung seines Gutachtens. Den langen Weg vom Studienbeginn bis zum Abschluss dieser Arbeit haben mich meine Freunde Madlen Lübker, Merle Herrmann, Dr. Lukas Halfmann und Moritz Geißler stets begleitet. Ich danke ihnen für unzählige Kaffeepausen, Mittagessen, Abende und Urlaube, durch die eine enge Freundschaft entstanden ist, die sicherlich noch lange bestehen wird. Genauso lange begleitet mich nun schon Dr. Friederike Juncker. Ihr gebührt mein Dank für die tägliche Lebensfreude und die volle Unterstützung, die sie mir nun schon seit fast einem Jahrzehnt gibt. Auf meinem gesamten Lebensweg unterstützt haben mich meine Eltern Maaike Groeneveld-Meyer und Lambert Meyer sowie meine Schwester Teelke Meyer. Diese Unterstützung hat mir schon immer den Mut gegeben, mich vielen Herausforderungen zu stellen. Danke!
Düsseldorf, im April 2020
Joosten Meyer
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Vorwort ................................................................................................................ V Inhaltsverzeichnis .............................................................................................. XI A. Einleitung und Gang der Untersuchung ......................................... 1 ........ 1 I. Einleitung ........................................................................................... 1 ........ 1 II. Gang der Untersuchung ...................................................................... 5 ........ 2 B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO ............... 13 ........ 5 I. Historischer Regelungsbedarf bei der Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners ............................................................................. 14 ........ 5 1. Verfassungsrechtliche Garantie der selbständigen Tätigkeit ...... 15 ........ 5 2. Notwendigkeit einer Neuregelung durch den Gesetzgeber ........ 18 ........ 6 II. Doppelte Zweckverfolgung .............................................................. 1. Zweck 1 – Schutz der Masse ...................................................... 2. Zweck 2 – Ermöglichung der selbständigen Tätigkeit ............... 3. Eigenständiger Zweck der klaren Sphärentrennung? ................. 4. Rangverhältnis der verfolgten Ziele? .........................................
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III. Inhalt der Neufassung ....................................................................... 1. Optionen des Insolvenzverwalters .............................................. 2. Untätigkeit des Insolvenzverwalters ........................................... 3. Die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO im System der anerkannten Freigabeformen ...................................................... 4. Voraussetzungen der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ............... 5. Zeitpunkt der Freigabeerklärung ................................................ 6. Veröffentlichung der Erklärung durch das Insolvenzgericht ......
34 ...... 12 35 ...... 12 39 ...... 13 45 62 79 80
........ 8 ........ 8 ........ 9 ........ 9 ...... 10
...... ...... ...... ......
15 21 28 28
IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung ............................. 81 ...... 28 1. Positiverklärung .......................................................................... 82 ...... 29 2. Negativerklärung ........................................................................ 83 ...... 29
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Inhaltsübersicht Rn.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis .......................................................................... 122 ...... 43 I. Wirkung der Insolvenzeröffnung auf das Arbeitsverhältnis ........... 123 ...... 43 1. Der Insolvenzverwalter in der Arbeitgeberstellung .................. 124 ...... 43 2. Die Arbeitnehmeransprüche in der Insolvenz .......................... 133 ...... 45 II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses ................................................... 138 ...... 47 1. Nach Freigabe neu begründete Schuldverhältnisse .................. 139 ...... 47 2. Übergang der Arbeitgeberfunktion durch die Freigabeerklärung ............................................................... 141 ...... 48 D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen .............................................................. 224 ...... 75 I. Verfassungsrechtliche Wertung und Insolvenzrecht ....................... 225 ...... 75 II. Einfluss des Verfassungsrechts auf § 35 Abs. 2 InsO ..................... 228 ...... 76 III. Auslegung im Lichte der Verfassung .............................................. 1. Grundrechte der Arbeitnehmer ................................................. 2. Grundrechte der Gläubiger ....................................................... 3. Grundrechte des Schuldners .....................................................
230 231 287 305
...... 77 ...... 77 ...... 94 .... 101
IV. Ergebnis der verfassungsrechtlichen Prüfung ................................. 321 .... 105 E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen ........................................................................... 324 .... 107 I. Übertragung der vereinfachten Kündigungsmöglichkeit auf den Schuldner ........................................................................... 325 .... 107 II. Übertragung der Kündigungsfrist aus § 109 InsO .......................... 332 .... 109 III. Ausgleichsmodell nach Gotter ........................................................ 344 .... 114 IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe ................ 1. Grundsätzliche Anwendbarkeit von § 613a BGB im Insolvenzrecht ..................................................................... 2. Anwendbarkeit in Bezug auf die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ....................................................................... 3. Rechtsfolgen des § 613a BGB im Zusammenhang mit § 35 Abs. 2 InsO .......................................................................
348 .... 115 349 .... 116 352 .... 117 417 .... 139
V. Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung der grundrechtlichen Wertungen und Zwischenergebnis .................................................. 485 .... 161
VIII
Inhaltsübersicht Rn.
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F. Gläubigerwiderspruch und die Wirkung auf das Arbeitsverhältnis .......................................................................... 497 .... 165 I. Ausübung des Widerspruchs durch die Gläubiger .......................... 1. Allgemeine Bedenken gegen eine ex tunc Wirkung ................. 2. Durchgreifende arbeitsrechtliche Bedenken gegen eine ex tunc Wirkung ............................................................... 3. Fehlende Arbeitnehmerinformation .........................................
498 .... 165 500 .... 165 505 .... 167 511 .... 169
II. Zwischenergebnis für die Wirkung des Gläubigerwiderspruchs auf Arbeitsverhältnisse ................................................................... 515 .... 171 G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld .......................................................................... 517 .... 173 I. Möglichkeit eines Zweitinsolvenzverfahrens ................................. 518 .... 173 II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren .......................................................................... 526 .... 175 1. Grundlagen des Insolvenzgeldanspruchs .................................. 527 .... 176 2. Anspruch auf Insolvenzgeld im Zweitinsolvenzverfahren ....... 530 .... 177 III. Zwischenergebnis für den Anspruch auf Insolvenzgeld nach Freigabe .................................................................................. 565 .... 188 H. Reformvorschlag ........................................................................... 568 .... 189 I. Reform der Freigabeerklärung – Ergänzender Abs. 2a ................... 572 .... 189 II. Reform des Insolvenzgelds – Entsprechende Erweiterung des Insolvenzgeldanspruchs ............................................................ 577 .... 190 I. Thesen und Schlussbetrachtung .................................................. 581 .... 193 I. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen ................................. 581 .... 193 II. Schlussbetrachtung ......................................................................... 582 .... 195 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 197 Stichwortverzeichnis ........................................................................................ 213
IX
Inhaltsverzeichnis Rn.
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Vorwort ................................................................................................................ V Inhaltsübersicht ................................................................................................ VII A. Einleitung und Gang der Untersuchung ......................................... 1 ........ 1 I. Einleitung ........................................................................................... 1 ........ 1 II. Gang der Untersuchung ...................................................................... 5 ........ 2 B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO ............... 13 ........ 5 I. Historischer Regelungsbedarf bei der Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners ............................................................................. 14 ........ 5 1. Verfassungsrechtliche Garantie der selbständigen Tätigkeit ...... 15 ........ 5 2. Notwendigkeit einer Neuregelung durch den Gesetzgeber ........ 18 ........ 6 II. Doppelte Zweckverfolgung .............................................................. 1. Zweck 1 – Schutz der Masse ...................................................... 2. Zweck 2 – Ermöglichung der selbständigen Tätigkeit ............... 3. Eigenständiger Zweck der klaren Sphärentrennung? ................. 4. Rangverhältnis der verfolgten Ziele? .........................................
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........ 8 ........ 8 ........ 9 ........ 9 ...... 10
III. Inhalt der Neufassung ....................................................................... 1. Optionen des Insolvenzverwalters .............................................. 2. Untätigkeit des Insolvenzverwalters ........................................... 3. Die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO im System der anerkannten Freigabeformen ...................................................... a) Insolvenzmasse als notwendige Voraussetzung einer Freigabe ....................................................................... aa) Vermögen der Insolvenzmasse ...................................... bb) Insolvenzmasse als Haftungsmasse ............................... b) Bisher anerkannte Formen der Freigabe .............................. aa) Echte Freigabe ............................................................... bb) Unechte Freigabe ........................................................... cc) Modifizierte oder erkaufte Freigabe ............................... c) § 35 Abs. 2 InsO im System der anerkannten Freigabeformen .................................................................... 4. Voraussetzungen der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ............... a) Anwendbarkeit nur auf natürliche Personen ........................
34 ...... 12 35 ...... 12 39 ...... 13 45 ...... 15 47 48 52 54 55 57 58
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59 ...... 20 62 ...... 21 63 ...... 21
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b) Selbständige Tätigkeit .......................................................... c) Eröffnung des Insolvenzverfahrens ...................................... d) Erforderliche Ausübungs- und Fortführungsabsicht des Schuldners ...................................................................... aa) LAG Hessen: Keine Fortführungsabsicht erforderlich ..... bb) Inhaltliche Kritik am Urteil ............................................ 5. Zeitpunkt der Freigabeerklärung ................................................ 6. Veröffentlichung der Erklärung durch das Insolvenzgericht ......
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64 ...... 22 65 ...... 23 68 69 70 79 80
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IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung ............................. 81 1. Positiverklärung .......................................................................... 82 2. Negativerklärung ........................................................................ 83 a) Grundsätzliche enthaftende Wirkung ................................... 83 b) Insolvenzbeschlag aufhebende Wirkung .............................. 85 aa) Vertretene Ansichten ..................................................... 87 bb) Stellungnahme ............................................................... 89 (1) Wortlaut: Keine klare Aussage durch das Gesetz .... 90 (2) Historie: Abwendung vom Einzug des Neuerwerbs ........................................................ 95 (3) Gesetzesbegründung: Tendenz zur Aufhebung des Insolvenzbeschlags ............................................ 97 (4) Zweck: Schädigung der Masse zugunsten des Schuldners? ..................................................... 104 (a) Förderung der selbständigen Tätigkeit ............ 105 (b) Schutz der Insolvenzmasse .............................. 112 (5) Systematik: Widerspruchsrecht der Gläubiger zum Schutz der Masse ........................................... 117 cc) Zwischenergebnis ........................................................ 120
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28 29 29 29 30 30 31 31
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis .......................................................................... 122 ...... 43 I. Wirkung der Insolvenzeröffnung auf das Arbeitsverhältnis ........... 1. Der Insolvenzverwalter in der Arbeitgeberstellung .................. a) Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ............................. b) Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens .......................... 2. Die Arbeitnehmeransprüche in der Insolvenz .......................... a) Ansprüche vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens ........... b) Ansprüche nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens .........
123 124 125 130 133 134 137
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43 43 43 45 45 46 47
II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses ................................................... 138 ...... 47 1. Nach Freigabe neu begründete Schuldverhältnisse .................. 139 ...... 47 2. Übergang der Arbeitgeberfunktion durch die Freigabeerklärung ............................................................... 141 ...... 48 XII
Inhaltsverzeichnis Rn.
a) Rechtsprechung .................................................................. aa) BAG-Rechtsprechung zur Rechtslage vor Einführung des § 35 Abs. 2 InsO ........................... bb) OLG Dresden: Keine Auswirkungen der Freigabe auf Vertragsverhältnisse ............................................... cc) BGH: Umfassende Wirkung der Freigabe auch auf Vertragsverhältnisse ............................................... dd) BAG: Auch Arbeitsverhältnisse von der Freigabe erfasst ............................................................ b) Stimmen in der Literatur .................................................... aa) Ablehnende Stimmen: Dauerschuldverhältnisse von Freigabe nicht erfasst ............................................ bb) Zustimmende Stimmen: Dauerschuldverhältnisse von Freigabe erfasst ..................................................... c) Stellungnahme .................................................................... aa) Ein unergiebiger Wortlaut ............................................ (1) Kausalitäts- oder Modalitätsvoraussetzung – „aus“ der selbständigen Tätigkeit .......................... (2) „Vermögen“ und „Ansprüche“ als Überbegriffe ... (3) Fehlen einer klaren Ermächtigung? ....................... bb) Historie, Gesetzgebungsprozess und Gesetzesbegründung: Der erkennbare Wille des Gesetzgebers ............ (1) Grundsätzliche Erfassung von Vertragsverhältnissen ............................................................... (2) Differenzierung anhand des Zeitpunkts der Begründung der Arbeitsverhältnisse? .................... cc) Ziele des § 35 Abs. 2 InsO: Enthaftung zugunsten von Masse und Schuldner? .......................................... (1) Fortführung der selbständigen Tätigkeit ................ (2) Schutz der Insolvenzmasse vor einer Belastung durch die selbständige Tätigkeit ............................ (3) Arbeitnehmerschutz als ungeschriebener Zweck? .................................................................. dd) Insolvenzrechtliche Systematik .................................... d) Zwischenergebnis ...............................................................
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144 ...... 49 144 ...... 49 146 ...... 49 151 ...... 51 155 ...... 52 160 ...... 53 162 ...... 53 166 ...... 54 169 ...... 55 170 ...... 55 171 ...... 55 178 ...... 57 182 ...... 59 186 ...... 60 187 ...... 60 192 ...... 62 195 ...... 64 196 ...... 64 203 ...... 67 207 ...... 69 209 ...... 69 219 ...... 73
D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen .............................................................. 224 ...... 75 I. Verfassungsrechtliche Wertung und Insolvenzrecht ....................... 225 ...... 75 II. Einfluss des Verfassungsrechts auf § 35 Abs. 2 InsO ..................... 228 ...... 76
XIII
Inhaltsverzeichnis Rn.
III. Auslegung im Lichte der Verfassung .............................................. 1. Grundrechte der Arbeitnehmer ................................................. a) Art. 1 Abs. 1 GG – die Menschenwürde oder: Verobjektivierung durch Freigabe? .................................... b) Art. 1 Abs. 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip ................. c) Art. 12 Abs. 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip ............... aa) Bestandsschutz ............................................................. bb) Vertragsfreiheit ............................................................ d) Art. 14 GG – der Eigentumsschutz .................................... e) Art. 3 Abs. 1 GG – der allgemeine Gleichheitssatz ........... aa) Relevante Ungleichbehandlung ................................... bb) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ..................... (1) Der Rechtfertigungsmaßstab ................................. (2) Die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer ................................................... f) Art. 2 Abs. 1 GG – die Vertragsfreiheit ............................. g) Rechtsstaatliches Auslegungsgebot .................................... h) Zwischenergebnis ............................................................... 2. Grundrechte der Gläubiger ....................................................... a) Art. 14 GG – Eigentumsschutz .......................................... b) Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung ........................ c) Zwischenergebnis ............................................................... 3. Grundrechte des Schuldners ..................................................... a) Art. 12 Abs. 1 GG – die Berufsfreiheit bei Ablehnung des Übergangs .................................................................... b) Art. 12 Abs. 1 GG – die Berufsfreiheit bei Annahme des Übergangs .................................................................... c) Art. 14 GG in Verbindung mit dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ................. d) Zwischenergebnis ...............................................................
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230 ...... 77 231 ...... 77 232 236 241 242 250 252 256 257 261 261
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306 .... 101 309 .... 102 311 .... 103 317 .... 105
IV. Ergebnis der verfassungsrechtlichen Prüfung ................................. 321 .... 105 E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen ........................................................................... 324 .... 107 I. Übertragung der vereinfachten Kündigungsmöglichkeit auf den Schuldner ........................................................................... 325 .... 107 II. Übertragung der Kündigungsfrist aus § 109 InsO .......................... 332 .... 109 III. Ausgleichsmodell nach Gotter ........................................................ 344 .... 114
XIV
Inhaltsverzeichnis Rn.
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe ................ 1. Grundsätzliche Anwendbarkeit von § 613a BGB im Insolvenzrecht ..................................................................... 2. Anwendbarkeit in Bezug auf die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ....................................................................... a) BAG lässt Anwendbarkeit ausdrücklich offen ................... b) Vorliegen der Voraussetzungen des § 613a BGB bzgl. der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ................................... aa) Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils ................. bb) Identitätswahrender Übergang des Betriebs oder Betriebsteils ......................................................... (1) Identitätswahrender Übergang bei Wirkung der Freigabe auf Arbeitsverhältnisse und Betriebsmittel ........................................................ (a) Betriebsmittelarme Betriebe ............................ (b) Betriebsmittelreiche Betriebe .......................... (aa) Konstitutive Freigabe von dem Insolvenzbeschlag unterfallenden Gegenständen ..... (bb) Umfassender Pfändungsschutz nach § 36 InsO ................................................... (2) Exkurs .................................................................... (a) Arbeitsverhältnisse werden von der Freigabewirkung erfasst, nicht aber das Betriebsvermögen .............................................................. (b) Weder Arbeitsverhältnisse noch Betriebsvermögen werden von der Freigabewirkung erfasst .............................................................. (c) Nur das Betriebsvermögen, nicht aber die Arbeitsverhältnisse werden von der Erklärung erfasst .............................................. (3) Zwischenergebnis .................................................. cc) Insolvenzschuldner als „neuer“ Betriebsinhaber .......... (1) Betriebsinhaberschaft in der Insolvenz .................. (a) Insolvenzverwalter als verantwortlicher Betriebsinhaber ................................................ (b) Vergleich zur Betriebsinhaberschaft des Zwangsverwalters ............................................ (2) Übergang auf den Insolvenzschuldner durch Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ............................. dd) Übergang durch Rechtsgeschäft ................................... c) Zwischenergebnis für die Anwendbarkeit von § 613a BGB ........................................................................
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348 .... 115 349 .... 116 352 .... 117 354 .... 117 357 .... 118 358 .... 118 361 .... 119
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XV
Inhaltsverzeichnis Rn.
3. Rechtsfolgen des § 613a BGB im Zusammenhang mit § 35 Abs. 2 InsO ....................................................................... a) Übergang der Arbeitsverhältnisse ...................................... b) Haftung des Erwerbers ....................................................... c) Haftung des bisherigen Inhabers ........................................ aa) Bereits entstandene Masseforderungen ........................ bb) Forthaftung für noch nicht entstandene Masseforderungen aus Vertrauensschutz ....................................... d) Kündigungsverbot .............................................................. aa) Anwendung der arbeitsrechtlichen Vereinfachungen der InsO zugunsten des Schuldners? ............................ bb) Kündigung durch den Insolvenzverwalter mit Wirkung für den Schuldner .......................................... cc) Eigenständiges Kündigungsverbot aus § 109 InsO analog? ...................................................... e) Informationspflicht ............................................................. aa) Keine Informationspflicht aus § 35 Abs. 2 InsO .......... bb) Der Wechsel der Passivlegitimation ............................ cc) Information über Klagegegner ..................................... dd) Umfang und Adressat der Informationspflicht ............. f) Widerspruchsrecht .............................................................. aa) Wahlfreiheit des Vertragspartners ............................... bb) Insolvenzrechtliches Einschränkungsbedürfnis ........... (1) Problem der kompensationslosen Bezuschussung ............................................................... (2) Insolvenzrechtliche Auslegung des § 613a Abs. 6 BGB im Fall der Freigabe ..........................
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V. Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung der grundrechtlichen Wertungen und Zwischenergebnis .................................................. 485 .... 161 F. Gläubigerwiderspruch und die Wirkung auf das Arbeitsverhältnis .......................................................................... 497 .... 165 I. Ausübung des Widerspruchs durch die Gläubiger .......................... 1. Allgemeine Bedenken gegen eine ex tunc Wirkung ................. 2. Durchgreifende arbeitsrechtliche Bedenken gegen eine ex tunc Wirkung ............................................................... 3. Fehlende Arbeitnehmerinformation .........................................
498 .... 165 500 .... 165 505 .... 167 511 .... 169
II. Zwischenergebnis für die Wirkung des Gläubigerwiderspruchs auf Arbeitsverhältnisse ................................................................... 515 .... 171
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Inhaltsverzeichnis Rn.
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G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld .......................................................................... 517 .... 173 I. Möglichkeit eines Zweitinsolvenzverfahrens ................................. 518 .... 173 II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren .......................................................................... 1. Grundlagen des Insolvenzgeldanspruchs .................................. 2. Anspruch auf Insolvenzgeld im Zweitinsolvenzverfahren ....... a) LSG NRW: Kein Unterschied zu jeder anderen Fortführung nach erstmaligem Insolvenzereignis .............. b) BSG: Vergleich zum Insolvenzplan ................................... c) Stellungnahme .................................................................... aa) Unpassender Vergleich zur sonstigen Unternehmensfortführung ................................................................... bb) Überzeugender Vergleich zu § 613a BGB ................... d) Zusammenspiel des Insolvenzgeldanspruchs mit § 35 Abs. 2 InsO ................................................................
526 .... 175 527 .... 176 530 .... 177 532 .... 177 536 .... 179 543 .... 180 544 .... 181 550 .... 182 559 .... 186
III. Zwischenergebnis für den Anspruch auf Insolvenzgeld nach Freigabe .................................................................................. 565 .... 188 H. Reformvorschlag ........................................................................... 568 .... 189 I. Reform der Freigabeerklärung – Ergänzender Abs. 2a ................... 572 .... 189 II. Reform des Insolvenzgelds – Entsprechende Erweiterung des Insolvenzgeldanspruchs ............................................................ 577 .... 190 I. Thesen und Schlussbetrachtung .................................................. 581 .... 193 I. Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen ................................. 581 .... 193 II. Schlussbetrachtung ......................................................................... 582 .... 195 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 197 Stichwortverzeichnis ........................................................................................ 213
XVII
A. Einleitung und Gang der Untersuchung I.
Einleitung
Auch wenn seit Jahren rückläufig, machen natürliche Personen als selbständig tätige 1 Schuldner den zweitgrößten Anteil der 19.302 Unternehmensinsolvenzen in Deutschland im Jahr 2018 aus. Unter den Rechtsformen liegen die Einzelunternehmer mit 7.407 Insolvenzen knapp hinter der Rechtsform der GmbH mit 7.744 Insolvenzen auf Platz zwei der Liste der Unternehmensinsolvenzen. 13.027 Arbeitnehmer waren dabei von der Insolvenz eines selbständig tätigen Arbeitgebers betroffen.1) Mit der Einführung des Gesetzes zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens im 2 Jahr 20072) wurde § 35 InsO durch zwei weitere Absätze ergänzt, die sich mit der Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners befassen. Durch sie ist es möglich, die selbständige Tätigkeit des Schuldners von der Insolvenzmasse zu trennen, um dem Schuldner die Ausübung seiner Tätigkeit weiter zu ermöglichen und zugleich die Insolvenzmasse vor dadurch hervorgerufenen Belastungen zu schützen. Auch wenn das Gesetz grundsätzlich das Insolvenzverfahren vereinfachen will, sind die Auswirkungen auf andere Rechtsgebiete, insbesondere auf das Arbeitsrecht, nicht weniger kompliziert. Auch zehn Jahre nach der Einführung der Absätze 2 und 3 bestehen erhebliche Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Norm.3) Besonders schwierig ist die Einordnung von Arbeitsverhältnissen in die Rege- 3 lungswirkung des § 35 Abs. 2 u. Abs. 3 InsO. Sowohl das Insolvenzrecht als auch das Arbeitsrecht werden regelmäßig vor die Aufgabe gestellt, widerstreitende Interessen auszugleichen. Klassischerweise stehen sich dabei die Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer beziehungsweise von Schuldner und Gläubiger gegenüber. Übt der Schuldner eine selbständige Tätigkeit aus, in deren Rahmen er Arbeitnehmer beschäftigt, verschwimmen die widerstreitenden Interessen. Das ursprünglich bipolare Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird nunmehr auch durch die Gläubigerinteressen beeinflusst; ebenso kommt den Arbeitnehmern als besondere Gläubigergruppe eine herausgehobene Stellung im Insolvenzverfahren zu. Den Arbeitnehmern ist in der Regel daran gelegen, solange wie möglich, trotz Insolvenz des Arbeitgebers, ihre Lohnansprüche (gegebenenfalls gegen die Insolvenzmasse) zu befriedigen. Die Gläubiger hingegen sind am Schutz und Erhalt der Insolvenzmasse als zu verteilende Haftungsmasse interessiert. In engem Zusammenhang dazu steht schließlich das Schuldnerinteresse, der Zahlungsunfähigkeit zu ent___________ 1)
2) 3)
Statistisches Bundesamt, Statistisches Bundesamt 2019, https://www.destatis.de/GPStatistik/ servlets/MCRFileNodeServlet/DEHeft_derivate_00042635/2020410181124.pdf, S. 11 (letzter Zugriff am 12.1.2020). BGBl. I, S. 509 ff.; BT-Drucks. 16/3227. Siehe dazu im Überblick B. Wegener, VIA 2017, 25, 25 ff.
1
A. Einleitung und Gang der Untersuchung
fliehen und einen wirtschaftlichen Neuanfang wagen zu können. Alle diese zum Teil widerstreitenden Interessen berührt die Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO.
4 Zahlreiche Fragen nach den Auswirkungen einer Unternehmensfreigabe auf die bestehenden Arbeitsverhältnisse kommen in diesem Zusammenhang auf: Fällt die Arbeitgeberfunktion in Bezug auf die bestehenden Arbeitsverhältnisse mit der Freigabe zurück an den Schuldner? Welche Arbeitsschutzvorschriften werden von § 35 Abs. 2 InsO verdrängt? Welche schränken im Gegenzug die Wirkung von § 35 Abs. 2 InsO ein? Ist ein Zweitinsolvenzverfahren über die freigegebene Tätigkeit möglich und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Arbeitnehmer? Mittlerweile hat sich eine beträchtliche Menge an Literatur und Rechtsprechung zu der Thematik der Freigabe der selbständigen Tätigkeit angesammelt. Einen ausschließlich arbeitsrechtlichen Bezug hat sie dabei jedoch nur selten. Ziel dieser Arbeit ist es, die Stimmen aus Literatur und Rechtsprechung zu ordnen, zu bewerten und wo erforderlich mit arbeitsrechtlichem Fokus fortzuführen.
II. Gang der Untersuchung 5 Die vorliegende Arbeit befasst sich mit den Auswirkungen der Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis. In diesem Zusammenhang wird ausschließlich die Rechtslage betrachtet, die bei der Insolvenz des Arbeitgebers und in Betracht kommender Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO für den Arbeitnehmer besteht.
6 Zunächst wird der historische Hintergrund von § 35 Abs. 2 InsO beleuchtet, um daraus die von der Norm verfolgten Ziele zu ermitteln. Die Grundsätze der Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO einschließlich der Voraussetzungen und der für diese Arbeit nebensächlichen nicht arbeitsrechtlichen Rechtsfolgen werden knapp dargestellt. In einem ersten Schwerpunkt wird der Umfang der Freigabeerklärung im Hinblick auf das dem Massebeschlag unterliegenden Bestandsvermögen diskutiert.
7 Im Anschluss geht die Arbeit vertieft auf die Frage ein, ob grundsätzlich auch Arbeitsverhältnisse von der Unternehmensfreigabe erfasst sind. Das gefundene Ergebnis wird sodann unter Einbeziehung aller Interessen der von der Freigabe betroffenen Parteien in einen verfassungsrechtlichen Kontext gesetzt.
8 Sodann gilt es, das Zusammenspiel von § 35 Abs. 2 InsO mit anderen, vor allem arbeitsrechtlichen Vorschriften des einfachen Rechts, zu betrachten. Ein Schwerpunkt liegt hier auf der Frage, ob § 613a BGB im Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO anwendbar ist. Daneben werden die von § 613a BGB vorgesehenen Rechtsfolgen betrachtet und auf den Fall der Freigabe der selbständigen Tätigkeit in der Insolvenz nach § 35 Abs. 2 InsO übertragen.
2
II. Gang der Untersuchung
Im Anschluss werden die arbeitnehmerseitigen Rechtsfolgen eines Gläubigerwi- 9 derspruchs nach § 35 Abs. 2 S. 3 InsO geprüft, wobei insbesondere darauf einzugehen ist, ob dem Widerspruch eine ex nunc oder ex tunc Wirkung zukommt. Betrachtet wird ebenfalls der Fall des Zweitinsolvenzverfahrens über die freigegebene 10 Tätigkeit, wobei ein Schwerpunkt auf der sozialrechtlichen Frage liegt, ob auch in diesem Fall ein Anspruch der Arbeitnehmer auf Insolvenzgeld aus § 165 SGB III besteht. Zuletzt wird eine Gesetzesreform diskutiert. In diesem Rahmen wird vorgeschla- 11 gen, § 35 InsO durch einen Abs. 2a zu ergänzen, der die in dieser Arbeit gefundenen Ergebnisse berücksichtigt. Ebenso wird § 165 SGB III in diesem Zusammenhang an die Besonderheiten der Freigabe der selbständigen Tätigkeit angepasst.
12
Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen.
3
B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO Mit der Einführung der Absätze 2 und 3 in § 35 InsO durch das Gesetz zur Verein- 13 fachung des Insolvenzverfahrens im Jahr 20074) hat der Gesetzgeber die Voraussetzungen für eine Trennung der selbständigen Tätigkeit des Schuldners von der Insolvenzmasse durch die Möglichkeit einer Unternehmensfreigabe geschaffen.
I.
Historischer Regelungsbedarf bei der Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners
Die selbständige Tätigkeit des Schuldners in der Insolvenz stellte die Praxis bereits 14 vor Einführung des § 35 Abs. 2 und Abs. 3 InsO vor erhebliche Probleme.5) Das grundrechtlich garantierte Recht des Schuldners auf die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit ging mit der Gefahr der Begründung von unerwünschten Masseverbindlichkeiten durch den Schuldner einher.
1.
Verfassungsrechtliche Garantie der selbständigen Tätigkeit
Die Entscheidung, ob der Schuldner überhaupt einer Erwerbstätigkeit nachgeht und 15 welche Erwerbstätigkeit das ist, steht alleine ihm zu. Der Insolvenzverwalter kann den Schuldner aufgrund von Art. 12 Abs. 1 GG weder zu einer Tätigkeit zwingen, noch kann er ihm eine Tätigkeit untersagen.6) Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG verbürgt das Recht der freien Berufswahl und Berufsausübung.7) Der Grundrechtsträger kann jede Arbeit als Beruf ergreifen, für die er sich geeignet hält, damit seine eigene Persönlichkeit ausleben und seinen Beruf zur Grundlage seiner Lebensführung machen.8) Der Insolvenzschuldner verliert dieses Recht auch nicht durch seine Insolvenz. Ihm ist vielmehr verfassungsrechtlich garantiert, seine berufliche Tätigkeit, egal ob selbständig oder unselbständig, weiter auszuüben oder eine neue Tätigkeit aufzunehmen.9) Würde man ihm dies versagen, läge darin eine subjektive Berufswahlschranke, an deren Rechtfertigung erhöhte Anforderungen zu stellen wären. Sie ist einzig zulässig, wenn der Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter den Eingriff zwingend erfordert.10) Daraus ergibt sich, dass die Arbeitskraft des Schuldners nicht in den Insolvenzbeschlag fällt und der Insolvenzverwalter dementsprechend ___________ 4) BGBl. I, S. 509 ff.; BT-Drucks. 16/3227. 5) Im Überblick Voigt/Gerke, ZInsO 2002, 1054, 1054 ff. 6) Andres, NZI 2006, 198, 198; Holzer, ZVI 2007, 289, 289; Ahrens, KSzW 2012, 303, 303; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 9.25; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 105; Grote, FS Wimmer, 219, 226. 7) Maunz/Dürig-Scholz, Art. 12 Rn. 1. 8) Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 12 Rn. 4. 9) Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 90. 10) Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 12 Rn. 52.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
nicht über selbige verfügen kann.11) Einzig dem Insolvenzschuldner steht die Entscheidung zu, ob er einer Arbeit nachgeht und ob diese selbständiger oder unselbständiger Natur ist.
16 Die bloße Insolvenz führt nicht dazu, dass dem Insolvenzschuldner eine erneute selbständige Tätigkeit versagt werden könnte. Aus dem Vorliegen eines Insolvenztatbestandes lässt sich nicht auf die Fähigkeit des Schuldners schließen, eine selbständige Tätigkeit auszuüben. Selbst wenn man eine mangelnde Eignung annehmen würde, wäre die Versagung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit per se jedenfalls unverhältnismäßig, da eventuell geschädigte Gläubiger sich den Schuldner im Rahmen ihrer Privatautonomie selbst ausgesucht haben und durch das geltende Insolvenzrecht geschützt sind.
17 Hinzu kommt, dass dem Schuldner das verfassungsrechtlich aus Art. 1 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip gebotene Ziel der Restschuldbefreiung ermöglicht werden soll.12) Auf welche Weise er wieder zu einem Einkommen kommt, das zur Restschuldbefreiung beiträgt, liegt nach Art. 12 Abs. 1 GG in seinem Ermessen.13)
2.
Notwendigkeit einer Neuregelung durch den Gesetzgeber
18 Aus dem verfassungsmäßig garantierten Recht des Schuldners selbständig tätig zu sein, ergeben sich Probleme für das Insolvenzverfahren. So kommt es vor, dass der Schuldner mit oder ohne Wissen des Insolvenzverwalters seine ursprünglich ausgeübte selbständige Tätigkeit weiter fortführen oder eine selbständige Tätigkeit neu aufnehmen möchte. Vor Einführung des § 35 Abs. 2 InsO ergaben sich hieraus weitreichende Probleme, wie zum Beispiel: Was geschieht mit dem neu erwirtschafteten Vermögen? Auf welche Haftungsmasse können die durch die erneut ausgeübte selbständige Tätigkeit entstandenen Neugläubiger zugreifen?14) In seiner „Psychologinnen“-Entscheidung15) schuf der BGH Klarheit. Er entschied darin, dass die vom Schuldner im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit neu erwirtschafteten Überschüsse der Insolvenzmasse zustünden.16) Dabei gilt nach Ansicht des BGH das sogenannte „Bruttobeschlagsprinzip“, wonach der gesamte Neuerwerb in die Insolvenzmasse fällt.17) Eventuelle Aufwendungen, die der Schuldner getätigt ___________ 11) BAG, Urt. v. 20.6.2013 – 6 AZR 789/11, NZA, 1147, 1149, m. w. N.; Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 409. 12) Smid, DZWIR 2008, 133, 139. 13) Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034; Ahrens, KSzW 2012, 303, 303; Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 409; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 825; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47b. 14) Siehe dazu Voigt/Gerke, ZInsO 2002, 1054, 1054 ff. 15) BGH, Beschl. v. 20.3.2003 – IX ZB 388/02, NJW 2003, 2167, 2167 ff. 16) BGH, Beschl. v. 20.3.2003 – IX ZB 388/02, NJW 2003, 2167, 2167 ff.; siehe dazu ebenfalls Smid, DZWIR 2008, 133, 136. 17) BGH, Beschl. v. 20.3.2003 – IX ZB 388/02, NJW 2003, 2167, 2170.
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I. Historischer Regelungsbedarf bei der Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners
hat, um den Neuerwerb zu erlangen, werden hiervon nicht abgezogen, sodass kein beschlagfreies Vermögen verbleibt.18) Wurde sämtlicher Neuerwerb zur Masse gezogen, verblieb nur noch der nach 19 § 36 InsO unpfändbare Teil beim Insolvenzschuldner. Hierdurch wurde die Frage aufgeworfen, welche Haftungsmasse den Neugläubigern zur Deckung ihrer Ansprüche zur Verfügung stand. Da die Forderung bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch nicht bestand, schied eine Einordnung als Insolvenzforderung aus.19) In der Literatur wurden verschiedene Lösungsansätze diskutiert. Nach einer weit verbreiteten Ansicht wurden die Neugläubiger auf das insolvenzfreie Schuldnervermögen verwiesen.20) Mit der „Psychologinnen“-Entscheidung des BGH verblieb jedoch beim Insolvenzschuldner in der Regel nur das pfändungsfreie Vermögen nach § 36 InsO, da der gesamte Neuerwerb zur Insolvenzmasse gezogen wurde. Den Neugläubigern stand demnach nur das pfändungsfreie Vermögen und damit keine ausreichende Haftungsmasse zur Verfügung.21) Für den Insolvenzschuldner beutete dies, dass sein verfassungsmäßig gewährtes Recht auf Ausübung einer selbständigen Tätigkeit faktisch leerlief, da sich kein Vertragspartner finden lassen würde, der sich auf eine entsprechend schlechte Haftungsgrundlage einlässt.22) Die Gegenansicht ging davon aus, dass nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO Masseverbind- 20 lichkeiten entstünden, da der Insolvenzverwalter die selbständige Tätigkeit dulde.23) Nach dieser Ansicht sollte der Neuerwerb zur Insolvenzmasse gezogen werden, während gleichzeitig die Insolvenzmasse durch die neu begründeten Verbindlichkeiten belastet wurde. Der Insolvenzschuldner könne durch seine selbständige Tätigkeit weitere Ansprüche gegen die Insolvenzmasse begründen, ohne dass dem Insolvenzverwalter hiergegen ein Abwehrmittel zur Verfügung gestanden hätte. Betätigte der Schuldner sich defizitär, wurde die Insolvenzmasse hierdurch verpflichtet, ohne durch den Neuerwerb eine adäquate Gegenleistung zu erlangen.24) In der Literatur wurde, um die selbständige Tätigkeit des Schuldners zu fördern und 21 um Haftungsrisiken zu vermeiden, bereits vor Einführung des § 35 Abs. 2 InsO eine ___________ 18) BGH, Beschl. v. 20.3.2003 – IX ZB 388/02, NJW 2003, 2167, 2170; Tetzlaff, ZInsO 2005, 393, 394; Andres, NZI 2006, 198, 198; Undritz, FS Runkel, 449, 454 f.; Smid, DZWIR 2008, 133, 136; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 257. 19) Andres, NZI 2006, 198, 198. 20) Andres/Pape, NZI 2005, 141, 142; Tetzlaff, ZInsO 2005, 393, 396 f.; Sternal, NZI 2006, 185, 189; Andres, NZI 2006, 198, 198 f.; Sternal, NJW 2007, 1909, 1911 f. 21) Andres, NZI 2006, 198, 198 f.; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1102. 22) BT-Drucks. 16/3227, S. 17; Sternal, NZI 2006, 185, 189; Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1240. 23) Zipperer, ZVI 2007, 541, 541; Undritz, FS Runkel, 449, 455 f.; Kritik bei Voigt/Gerke, ZInsO 2002, 1054, 1359 f.; Andres, NZI 2006, 198, 199; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 825 f.; Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1563 f. 24) BT-Drucks. 16/3224, S. 17.
7
B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
Freigabe des Gewerbebetriebs diskutiert.25) Auf dieser Grundlage sah der Gesetzgeber die Notwendigkeit zur Regelung der nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausgeübten selbständigen Tätigkeit des Schuldners.26)
II. Doppelte Zweckverfolgung 22 Auf dieser historischen Grundlage entstanden § 35 Abs. 2 und Abs. 3 InsO, die der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens von 200727) eingeführt hat, um die oben dargestellte Konfliktlage durch eine Freigabe der selbständigen Tätigkeit zu lösen.28) In diesem Zusammenhang musste die neue Regelung mehreren Zielen gerecht werden. Zum einen sollte die Masse vor einer Schmälerung durch Neuverbindlichkeiten, die der Insolvenzschuldner im Rahmen seiner ausgeübten selbständigen Tätigkeit begründet, geschützt werden.29) Zum anderen sollte dem Schuldner zugleich die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit mit realistischen Erfolgsaussichten ermöglicht werden.30)
1.
Zweck 1 – Schutz der Masse
23 § 35 Abs. 2 InsO verfolgt dementsprechend den Gedanken des Masseschutzes. Für den Fall, dass der Schuldner während des Insolvenzverfahrens eine defizitäre selbständige Tätigkeit ausübt, soll es dem Insolvenzverwalter ermöglicht werden, eine Belastung der Masse abzuwehren. Der Zweck des Masseschutzes ist der Insolvenzordnung dabei grundsätzlich schon von sich aus inhärent. Je weniger Ansprüche sich gegen die Insolvenzmasse richten, desto größer ist am Ende das nach § 1 S. 1 InsO auf die Gläubiger zu verteilende Vermögen. Auch der Insolvenzverwalter hat jederzeit bei seinem Handeln die Belange der Masse zu berücksichtigen.31)
24 Da eine Untersagung der selbständigen Tätigkeit verfassungsrechtlich nicht möglich ist, beabsichtigt § 35 Abs. 2 InsO die verlustbringende Tätigkeit von der Insolvenzmasse zu trennen. So soll eine Begründung von Masseverbindlichkeiten durch die selbständige Tätigkeit des Schuldners vermieden werden.32)
___________ 25) Etwa Voigt/Gerke, ZInsO 2002, 1054, 1061 f.; Andres/Pape, NZI 2005, 141, 143 f.; Tetzlaff, ZInsO 2005, 393, 397 f.; jeweils m. w. N. 26) Die Notwendigkeit einer Neuregelung ablehnend Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 55 ff. 27) BT-Drucks. 16/3227. 28) Sternal, NZI 2006, 185, 189; Andres, NZI 2006, 198, 198 ff. 29) BT-Drucks. 16/3224, S. 17. 30) BT-Drucks. 16/3224, S. 11 u. S. 17. 31) Kübler/Prütting/Bork-Lüke, § 60 Rn. 31; Uhlenbruck-Sinz, § 60 Rn. 26. 32) BT-Drucks. 16/3224, S. 11, S. 17 u. S. 26.
8
II. Doppelte Zweckverfolgung
2.
Zweck 2 – Ermöglichung der selbständigen Tätigkeit
Daneben steht die Absicht, dem Insolvenzschuldner eine selbständige Tätigkeit zu 25 ermöglichen. Dabei geht der Zweck des § 35 Abs. 2 InsO jedoch über das bloße Pflichtprogramm, das den Gesetzgeber aus Art. 12 Abs. 1 GG trifft, hinaus. Dem Schuldner wird nicht nur ermöglicht, eine selbständigen Tätigkeit auszuüben (die ihm ohnehin nicht untersagt werden kann). Vielmehr beabsichtigt der Gesetzgeber darüber hinaus, den Schuldner in Anerkennung seines Interesses, sich außerhalb des Insolvenzverfahrens eine neue Existenz zu schaffen, zu motivieren.33) Dem Schuldner soll frühzeitig wieder die Chance gegeben werden, am Wirtschaftsleben teilzunehmen.34) Das Anliegen, dem Schuldner wieder zu einer wirtschaftlichen Selbständigkeit zu 26 verhelfen, ist dabei gleichlaufend mit dem Gedanken der Restschuldbefreiung. Auch während des Restschuldbefreiungsverfahrens ist der Schuldner trotz verbleibender Schulden wieder wirtschaftlich handlungsfähig und ihm wird ein wirtschaftlicher Neuanfang gewährt.35) Die Aussicht auf eine Restschuldbefreiung trägt damit dem Wunsch nach einem schuldenfreien Leben nach dem Insolvenzverfahren Rechnung.36) Diesen Gedanken verfolgt auch § 35 Abs. 2 InsO. Als der Restschuldbefreiung vorgelagerten Möglichkeit, wieder wirtschaftlich selbständig zu sein und zur Befriedigung der Gläubiger beizutragen, wird ein Schritt in Richtung selbstbestimmte Erwerbstätigkeit ermöglicht. Dem Schuldner wird durch die Freigabe seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ein wirtschaftliches Leben neben dem Insolvenzverfahren gewährt.37)
3.
Eigenständiger Zweck der klaren Sphärentrennung?
Fraglich ist, ob § 35 Abs. 2 InsO zudem noch als eigenständigen Zweck eine klare 27 Sphärentrennung zwischen dem Vermögen der Insolvenzmasse und dem Vermögen der selbständigen Tätigkeit anstrebt. Die höchstrichterliche Rechtsprechung scheint den Regelungszweck von § 35 Abs. 2 InsO auch dahingehend zu verstehen, dass „es einer eindeutigen Abgrenzung, inwieweit Gläubiger ihre Verbindlichkeiten entweder gegen die Altmasse oder den Schuldner beziehungsweise die Masse eines Zweitinsolvenzverfahrens zu verfolgen haben“38) bedarf und dass die „Frei___________ 33) BT-Drucks. 16/3224, S. 11 u. S. 17; Pannen/Riedemann, NZI 2006, 193, 195; Grote, FS Wimmer, 219, 219 f. 34) Ahrens, KSzW 2012, 303, 303. 35) Kübler/Prütting/Bork-Prütting, § 1 Rn. 42. 36) Uhlenbruck-Pape, § 1 Rn. 15; K. Schmidt-K. Schmidt, § 1 Rn. 13; HmbKInsO-Andreas Schmidt, § 1 Rn. 43. 37) So K. Schmidt-K. Schmidt, § 1 Rn. 13. 38) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 412; ebenso OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406; SG München, Teilurteil v. 21.3.2016 – S 15 R 582/14, ZInsO 2016, 859, 862.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
gabeerklärung des Insolvenzverwalters nach § 35 Abs. 2 InsO […] die im Interesse der Rechtssicherheit gebotene klare Unterscheidung [ermöglicht].“39) Ebenso sieht Pape § 35 Abs. 2 InsO als „eigenständiges Instrument […], das zu einer kompletten Trennung zwischen der Insolvenzmasse und der selbständigen Tätigkeit des Schuldners führt.“40)
28 Richtigerweise wird man jedoch mangels gesetzgeberischer Intention nicht davon ausgehen können, dass es sich dabei um einen eigenständigen Zweck des § 35 Abs. 2 InsO handelt. Vielmehr erfordert es der Zweck der Masseschonung und die Förderungsabsicht, dass klar zwischen den entstehenden Haftungsmassen getrennt wird. Die Trennung der beiden Haftungsmassen ist damit kein eigens von § 35 Abs. 2 InsO verfolgter Zweck, sondern allenfalls eine Folge der beiden in der Gesetzesbegründung genannten Ziele.
4.
Rangverhältnis der verfolgten Ziele?
29 Die herausgearbeiteten Ziele sind nicht gleichläufig. Sie treten regelmäßig miteinander in Konflikt.41) So verlangt der uneingeschränkte Zweck der Förderung der selbständigen Tätigkeit des Schuldners etwa die möglichst umfassende Freigabe von Vermögen, das der selbständigen Tätigkeit zugeordnet ist, wohingegen der bezweckte Schutz der Insolvenzmasse die Freigabewirkung in Bezug auf Massegegenstände so gering wie möglich halten möchte.42) Gleiches gilt für den potentiellen Übergang von Arbeitsverhältnissen. Für den Schutz der Insolvenzmasse ist eine sofortige Enthaftung von Arbeitnehmeransprüchen wünschenswert, wohingegen der Schuldner sich bei sofortigem Übergang der Arbeitsverhältnisse erneut sämtlichen Forderungen ausgesetzt sieht.43) Es ist demnach zu fragen, ob die beiden mit der Freigabe der selbständigen Tätigkeit verfolgten Zwecke gleichwertig sind oder ob sie in einem Rangverhältnis stehen, sodass ein Ziel per se vorrangig ist. Aus der Antwort auf diese Frage ergeben sich wichtige Anhaltpunkte für die weitere Auslegung der Norm.
30 Zweifel an der Gleichwertigkeit kommen dadurch auf, dass das Insolvenzverfahren nach § 1 S. 1 InsO vornehmlich der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung dient. Es wird von einem Teil des insolvenzrechtlichen Schrifttums als Hauptziel der Insolvenzordnung angesehen, das maßgeblich für alle Entscheidungen innerhalb des Insolvenzverfahrens und damit übergeordneter Zweck ist.44) Hieraus ließe sich her___________ BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 412. Pape, WM 2013, 1145, 1153. Harder, VIA 2018, 17, 19. Siehe ausführlicher zu dem Problem weiter unten unter Rn. 85 ff. Gutsche, ZVI 2008, 41, 44; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 186; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 32. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Problem erfolgt weiter unten unter Rn. 141 ff. 44) MüKoInsO-Ganter/Lohmann, § 1 Rn. 20; FK-InsO-Schmerbach, § 1 Rn. 12. 39) 40) 41) 42) 43)
10
II. Doppelte Zweckverfolgung
leiten, dass das Ziel des Masseschutzes auch für die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO vorrangig ist.45) Das Ziel, die selbständige Tätigkeit des Schuldners zu fördern, dürfte demnach nur dann zur Auslegung des § 35 Abs. 2 InsO herangezogen werden, wenn es nicht dem Ziel des Masseschutzes entgegensteht. Eine solche Annahme gewichtet jedoch sowohl die verfassungsrechtliche Grundlage 31 der Regelung des § 35 Abs. 2 InsO als auch die Nähe der Unternehmensfreigabe zur Restschuldbefreiung nicht ausreichend. Wie bereits erörtert, liegt dem Recht des Schuldners auf Ausübung einer selbständigen Tätigkeit seine verfassungsmäßig gewährte Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG zugrunde.46) Ries nimmt aus diesem Grund sogar einen gegenteiligen Vorrang an, wonach die wirtschaftlichen Interessen der Gläubiger hinter dem Selbstbestimmungsinteresse des Schuldners zurücktreten müssten.47) Diese Annahme geht jedoch ebenfalls zu weit. Grund des Insolvenzverfahrens ist schließlich nicht die Entschuldung des Insolvenzschuldners, als hätte es nie eine Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung gegeben. Vielmehr bedarf es eines möglichst schonenden Ausgleichs der verfolgten Ziele. Das Interesse des Schuldners an einem wirtschaftlichen Neubeginn nach der Insol- 32 venz wird ferner durch die Möglichkeit der Restschuldbefreiung gewahrt.48) Wie gezeigt, weist der Zweck, die selbständige Tätigkeit des Schuldners zu fördern, Parallelen zur Restschuldbefreiung auf.49) Richtigerweise werden die Restschuldbefreiung und damit das Interesse des Schuldners an einem wirtschaftlicher Neustart von der herrschenden Meinung als eigenständiges Ziel der Insolvenzordnung aufgefasst.50) Sie steht gleichwertig neben dem Ziel der gemeinschaftlichen Gläubigerbefriedigung, was sich unter anderem auch aus ihrer prominenten Nennung in § 1 S. 2 InsO ergibt.51) Aufgrund der Parallelen zwischen der Restschuldbefreiung und der Freigabe der selbständigen Tätigkeit kann die gesetzgeberische Wertung zur Restschuldbefreiung auch auf § 35 Abs. 2 InsO übertragen werden.
___________ 45) So wohl FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 29. Er sieht in der selbständigen Betätigung des Schuldners keinen eigenständigen Zweck von § 35 Abs. 2 InsO, sondern es sei allenfalls ein angemessener Ausgleich zwischen dem Masseschutz und dem Schuldnerinteresse beabsichtigt. 46) Siehe dazu Rn. 15 ff. 47) Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034. 48) Uhlenbruck-Pape, § 1 Rn. 15; K. Schmidt-K. Schmidt, § 1 Rn. 13; HmbKInsO-Andreas Schmidt, § 1 Rn. 43. 49) Siehe bereits oben unter Rn. 25 f. und bei HmbKInsO-Andreas Schmidt, § 1 Rn. 43; K. SchmidtK. Schmidt, § 1 Rn. 13. 50) KKInsO-Hess, § 1 Rn. 27; FK-InsO-Schmerbach, § 1 Rn. 13 f.; K. Schmidt-K. Schmidt, § 1 Rn. 10; a. A. Jaeger-Henckel, § 1 Rn. 20. 51) KKInsO-Hess, § 1 Rn. 27; FK-InsO-Schmerbach, § 1 Rn. 13 f.; K. Schmidt-K. Schmidt, § 1 Rn. 10; a. A. Jaeger-Henckel, § 1 Rn. 20.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
33 Der Zweck, die selbständige Tätigkeit des Schuldners zu fördern steht damit gleichwertig neben dem Zweck des Schutzes der Insolvenzmasse. Keinem der von § 35 Abs. 2 InsO verfolgten Ziele kommt damit per se ein Vorrang zu.
III. Inhalt der Neufassung 34 Um diesen Zielen gerecht zu werden, entschied sich der Gesetzgeber, zur Schaffung einer „Art ‚Freigabe‘“52) oder einer „freigabeähnliche[n] Erklärung eigenen Typs“53) für die selbständige Tätigkeit des Schuldners. § 35 Abs. 2 InsO gestattet es dem Insolvenzverwalter, dem Schuldner gegenüber zu erklären, ob Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört und ob Ansprüche aus dieser Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können.
1.
Optionen des Insolvenzverwalters
35 Dem Insolvenzverwalter wird ermöglicht, zu erklären, ob das Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit des Schuldners zur Insolvenzmasse gehört und ob die Ansprüche, die aus dieser Tätigkeit resultieren, im Rahmen des Insolvenzverfahrens als Masseforderungen geltend gemacht werden können oder nicht. Dem Wortlaut von § 35 Abs. 2 S. 1 InsO folgend, hat der Insolvenzverwalter eine Erklärung gegenüber dem Schuldner abzugehen. Ihm kommt somit eine Erklärungspflicht zu.54) Inhaltlich hat er sich zwischen einer Freigabe und Enthaftung einerseits und einer Duldung der Tätigkeit bei gleichzeitiger Belastung der Masse andererseits zu entscheiden. Ihm stehen demnach zwei Wege offen.55)
36 Zum einen kann er durch eine „Positiverklärung“56) festlegen, dass das Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit nach wie vor zur Insolvenzmasse gehört und auch der gesamte Neuerwerb nach dem Bruttobeschlagsprinzip zur Masse gezogen wird.57) Im Gegenzug begründen die durch die selbständige Tätigkeit des Schuldners entstehenden Forderungen bevorzugt zu befriedigende Masseforderungen nach § 55 Abs. 1 S. 1 InsO. Die Positiverklärung manifestiert damit die nach der „Psychologinnen“-Entscheidung58) geltende Rechtslage.59) Sie wirkt rein deklaratorisch, indem ___________ 52) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 53) BT-Drucks. 16/3227, S. 26. 54) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411; Ahrens, KSzW 2012, 303, 305; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 117. 55) Zu den Erklärungen Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 23 ff. 56) Der Begriff wurde, soweit ersichtlich, erstmals von Ahrens, NZI 2007, 622, 622 ff. verwendet. 57) Ahrens, NZI 2007, 622, 624 f.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 96; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 259. 58) BGH, Beschl. v. 20.3.2003 – IX ZB 388/02, NJW 2003, 2167, 2167 ff. 59) FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 44.
12
III. Inhalt der Neufassung
sie Zweifel an der Massezugehörigkeit des Neuerwerbs und der aus der selbständigen Tätigkeit resultierenden Forderungen beseitigt.60) Zum anderen kann der Insolvenzverwalter eine „Negativerklärung“61) abgeben. 37 Diese konstituierende Erklärung führt dazu, dass das Schuldnervermögen aus der selbständigen Tätigkeit nicht zur Insolvenzmasse gehört. Der Neuerwerb des Schuldners kommt fortan (mit Ausnahme einer Ausgleichzahlung nach § 295 Abs. 2 InsO) nicht mehr der Masse zu Gute.62) Im Gegenzug werden durch die selbständige Tätigkeit des Schuldners keine Masseverbindlichkeiten mehr nach § 55 Abs. 1 S. 1 InsO begründet.63) Der Insolvenzverwalter wird sich zwecks Schutzes der Masse hierzu immer dann entschließen, wenn aus der Fortführung der selbständigen Tätigkeit des Schuldners keine gewinnbringenden Einkünfte zu erwarten sind.64) Die Erklärung hat der Insolvenzverwalter gegenüber dem Schuldner abzugeben. Sie ist zumindest mit Blick auf die Negativerklärung endgültig und unbedingt.65) Auch wenn der Wortlaut der Erklärung keine Einschränkung enthält, ist eine bloße 38 Enthaftung bei weiterer Vereinnahmung des Neuerwerbs nicht möglich.66) Die Enthaftung und Freigabe des Neuerwerbs sind vielmehr zwei untrennbare Seiten einer Medaille.67)
2.
Untätigkeit des Insolvenzverwalters
Erklärt sich der Insolvenzverwalter nicht zu einer bestehenden selbständigen Tä- 39 tigkeit des Schuldners, stellt sich die Frage, ob diese Untätigkeit zu einer Haftung der Insolvenzmasse für die mit der selbständigen Tätigkeit verbundenen Verbindlichkeiten (unter anderem auch für Ansprüche aus Arbeitsverhältnissen) führt. Bereits bevor § 35 Abs. 2 InsO geschaffen wurde, war darüber gestritten worden, 40 ob die bloße Untätigkeit des Insolvenzverwalters zu einer Haftung der Insolvenzmasse führt. Diese Zweifel hat die Gesetzesbegründung zu § 35 Abs. 2 InsO ausgeräumt, indem sie davon ausgeht, dass eine vom Insolvenzverwalter geduldete ___________ 60) Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 27; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 44; HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 76; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 113. 61) Der Begriff wurde, soweit ersichtlich, erstmals von Ahrens, NZI 2007, 622, 622 ff. verwendet. 62) Ahrens, NZI 2007, 622, 623 ff.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 99; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 114. Ausführlich Grote, FS Wimmer, 219, 219 ff. 63) Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 259. 64) Ehlers, ZInsO 2014, 53, 55 ff.; Ahrens, NZI 2017, 862, 865; Rein, NZI 2018, 308, 309; JaegerWindel, § 80 Rn. 33; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 97; Bartels, KTS 2012, 381, 392. 65) BT-Drucks. 16/3227, S. 17; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1104 f.; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 45 ff.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 73. 66) FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 35. 67) Statt aller HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 263; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 112; jeweils m. w. N.
13
B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
selbständige Tätigkeit des Schuldners zugunsten und zulasten der Masse wirkt.68) In der Duldung der selbständigen Tätigkeit durch den Insolvenzverwalter wird demnach ein Verwalterhandeln gesehen, das nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO zur Begründung von Masseverbindlichkeiten führt.
41 Nunmehr wird diskutiert, wann eine Duldung mit massebelastender Wirkung und wann bloß eine unschädliche Unkenntnis vorliegt. Andres und Gehrlein äußern sich bezüglich einer Verpflichtung der Insolvenzmasse aufgrund bloßer Duldung kritisch.69) Sie plädieren für eine entsprechende Anwendung der Regeln über die Rechtscheinvollmachten: Wenn der Insolvenzverwalter die Fortführung der selbständigen Tätigkeit kannte oder kennen musste, werde gegenüber dem gutgläubigen Vertragspartner angenommen, dass keine Freigabe erklärt worden sei und die Masse durch die Tätigkeit verpflichtet werde.70) Diese Ansicht überzeugt nicht.71) Zum einen – worauf auch Andres hinweist – liegt bei der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO keine Erklärung des Schuldners in fremdem Namen vor, sodass die Vertretungsnormen schon im Grundsatz nicht anwendbar sind.72) Zum anderen kommen nur dem schutzwürdigen Vertragspartner, der keine Kenntnis von dem Fehlen der Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO hat, die Vorzüge einer Anscheinsvollmacht zugute.73) Für Vertragspartner, die wissen, dass der Insolvenzverwalter noch keine Aussage zur Haftung nach § 35 Abs. 2 InsO getroffen hat, gelten die Regeln der Anscheinsvollmacht mithin nicht. Für sie besteht weiterhin die Frage, ob ihre Ansprüche aus der selbständigen Tätigkeit des Schuldners Masseforderungen sind oder nicht. Schlimmstenfalls wirkt sich die selbständige Tätigkeit negativ auf die Insolvenzmasse aus. Dies gilt es, dem Zweck des § 35 Abs. 2 InsO entsprechend, zu vermeiden.74)
42 Überzeugender ist es, der herrschenden Meinung zu folgen und aus der Erklärungspflicht aus § 35 Abs. 2 S. 1 InsO – der Verwalter „hat“ eine Erklärung abzugeben75) – ein Verwalterhandeln abzuleiten.76) Zwar kommt bloßem Schweigen grundsätzlich ___________ 68) 69) 70) 71) 72) 73) 74) 75)
76)
14
BT-Drucks. 16/3227, S. 17 u. S. 24. Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 99 ff.; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 825 f. Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 102 f.; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 825 f. Kritisch gegenüber dem Vorliegen der Voraussetzungen der Anscheinsvollmacht Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 826. Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 100. Staudinger-Schilken, § 167 Rn. 43. Siehe dazu Rn. 27 ff. Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 94; eingeführt durch die Beschlussempfehlung und den Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/4194, S. 14. Zum Gang der Gesetzgebung siehe Holzer, ZVI 2007, 289, 289 ff. Berger, ZInsO 2008, 1101, 1105; Jaeger-Windel, § 80 Rn. 33; Ahrens/Gehrlein/RingstmeierAhrens, § 35 Rn. 156; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 259.
III. Inhalt der Neufassung
keine Rechtsbedeutung zu77), etwas anderes muss aber nach den Grundsätzen des Unterlassens im Sinne einer pflichtwidrigen Untätigkeit gelten. Ein Unterlassen, um das es sich bei bloßer Duldung der selbständigen Tätigkeit handelt, entspricht nur dann einem Tun, das heißt einer Positiverklärung, wenn den Unterlassenden eine Pflicht zur Handlung trifft.78) Diesen Grundsatz findet man auch in § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, sodass ein Unterlassen des Insolvenzverwalters nur dann Masseverbindlichkeiten durch Verwalterhandeln begründet, wenn eine Handlungspflicht besteht.79) Der Insolvenzverwalter ist nach § 35 Abs. 2 S. 1 InsO Adressat einer solchen Handlungspflicht, sodass einem Unterlassen grundsätzlich Handlungsqualität zukommt.80) Von einem pflichtwidrigen Unterlassen kann aber nur bei Kenntnis oder grobfahr- 43 lässiger Unkenntnis des Insolvenzverwalters über die Fortführung der selbständigen Tätigkeit ausgegangen werden.81) Das Unterlassen einer Pflicht, von der keine Kenntnis besteht oder bestehen muss, kann nicht pflichtwidrig sein. Hier fehlt es an einem Zurechnungstatbestand. Unterlässt der Insolvenzverwalter eine Erklärung nach § 35 Abs. 2 S. 1 InsO, kommt 44 dem die Wirkung einer Positiverklärung zu, wenn er die selbständige Tätigkeit des Schuldners kannte oder grob fahrlässig nicht kannte. Andernfalls wird durch das Schuldnerhandeln die Insolvenzmasse nicht weiter belastet.
3.
Die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO im System der anerkannten Freigabeformen
Große Unklarheiten bestehen bezüglich der systematischen Einordnung der Erklärung 45 des Insolvenzverwalters. Vielfach wird die Erklärung als „Freigabe“ bezeichnet.82) Auch der Gesetzgeber bezeichnet in der Gesetzesbegründung zu § 35 Abs. 2 InsO die Erklärung des Insolvenzverwalters unter anderem als eine „Art ‚Freigabe‘“83) ___________ 77) Statt aller Staudinger-Singer, Vorbem. zu §§ 116 ff. Rn. 60, m. w. N. 78) Vgl. RG, Urt. v. 30.10.1902 – VI 208/02, RGZ, 373, 375 f.; BeckOKBGB-Förster, § 823 Rn. 100, m. w. N. 79) Braun-Bäuerle/Schneider, § 55 Rn. 19. 80) Berger, ZInsO 2008, 1101, 1105; Jaeger-Windel, § 80 Rn. 33; Ahrens/Gehrlein/RingstmeierAhrens, § 35 Rn. 156; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 259. 81) Berger, ZInsO 2008, 1101, 1105; Jaeger-Windel, § 80 Rn. 33; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 260; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 51. 82) So etwa BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 409 ff.; BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 324 ff.; Zipperer, ZVI 2007, 541, 541 ff.; Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1240 ff.; Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 696 ff.; Heinze, ZVI 2007, 349, 349 ff.; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 825 ff.; N. M. Schmidt, ZInsO 2016, 1235, 1235 ff.; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47c ff. 83) BT-Drucks. 16/3227, S. 17.
15
B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
oder eine „freigabeähnliche[n] Erklärung eigenen Typs“84). In der Insolvenzordnung sind verschiedene Freigabeformen anerkannt, die Inhalt und Zusammensetzung der Insolvenzmasse betreffen. Auch wenn die Freigabe nicht ausdrücklich durch die Insolvenzordnung geregelt ist, wird sie doch zumindest in § 32 Abs. 3 S. 1 InsO vorausgesetzt und ist als Rechtsprinzip sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung gewohnheitsrechtlich anerkannt.85)
46 Im Folgenden wird auf die Insolvenzmasse als Ausgangspunkt der Freigabe eingegangen, um sodann in gebotener Kürze die bereits anerkannten Freigabeformen zu skizzieren. Im Anschluss wird die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO in das bestehende System der Freigabeerklärungen eingeordnet.
a) Insolvenzmasse als notwendige Voraussetzung einer Freigabe 47 Die Freigabe setzt voraus, dass eine Insolvenzmasse besteht, die durch die Freigabe von Vermögensgegenständen entwertet und entlastet werden kann.
aa) Vermögen der Insolvenzmasse 48 Nach § 35 Abs. 1 InsO erfasst die Insolvenzmasse das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört und das er während des Verfahrens erlangt. Die Insolvenzmasse ist damit das den Gläubigern haftungsrechtlich zugewiesene Sondervermögen.86) Zur Insolvenzmasse gehören insbesondere dingliche Rechte, Immaterialgüterrechte, Forderungen und die Firma.87) Neben dem Bestandsvermögen des Schuldners erfasst die Insolvenzmasse zusätzlich den gesamten Neuerwerb, den der Schuldner während des Insolvenzverfahrens erlangt.88)
49 Differenziert wird zwischen der Ist- und der Soll-Masse.89) Die Ist-Masse besteht aus dem im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung beim Schuldner tatsächlich vorhandenen Vermögen. Dieses wird im Rahmen des Insolvenzverfahrens durch den Insolvenzverwalter beispielsweise durch Forderungseinzug (§ 148 Abs. 1 InsO in Verbindung mit § 80 Abs. 1 InsO) und Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO) gemehrt oder durch Aussonderung von nicht zum Vermögen des Schuldners gehörenden Gegenständen und Ansprüchen (§ 47 InsO), Absonderung bei besonders gesicherten Forderungen (§§ 49 ff., 165 ff. InsO) und Befriedigung der Massegläubiger ___________ 84) BT-Drucks. 16/3227, S. 26. 85) BGH, Urt. v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, NZI 2005, 387, 388; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 84; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 71; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 71. 86) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 1. 87) Foerste, Insolvenzrecht, Rn. 141 ff. 88) BGH, Beschl. v. 20.3.2003 – IX ZB 388/02, NJW 2003, 2167, 2170; Braun-Bäuerle, § 35 Rn. 122. 89) Zum folgenden Bork, Insolvenzrecht, Rn. 227 ff.
16
III. Inhalt der Neufassung
(§ 53 InsO) verringert. Zum Schluss verbleibt die bereinigte Soll-Masse, aus der die Insolvenzgläubiger befriedigt werden.90) Die Insolvenzmasse erfasst nicht unbeschränkt das gesamte Vermögen des Schuld- 50 ners. § 36 Abs. 1 InsO nimmt von der vom Insolvenzbeschlag umfassten Insolvenzmasse das Vermögen aus, das nicht der Zwangsvollstreckung unterliegt. Für die vorliegende Frage der Freigabe der selbständigen Tätigkeit ist insbesondere § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO von Bedeutung, der in eng skizzierten Grenzen die zur Erwerbsausübung notwendigen Betriebsmittel von der Pfändung und damit vom Insolvenzbeschlag ausnimmt.91) Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht nach § 80 Abs. 1 InsO die Verwal- 51 tungs- und Verfügungsbefugnis über das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen auf den Insolvenzverwalter über. Der Schuldner bleibt dabei Eigentümer des vom Insolvenzbeschlag umfassten Vermögens, kann jedoch nicht mehr darüber verfügen.92) Ausnahmen ergeben sich hier nur im Rahmen der Eigenverwaltung, auf die mangels Relevanz für das Thema vorliegend jedoch nicht näher eingegangen werden soll.93)
bb) Insolvenzmasse als Haftungsmasse Grundsätzlich dient die Insolvenzmasse der Befriedigung von vor Eröffnung des 52 Insolvenzverfahrens begründeten Forderungen der Insolvenzgläubiger.94) Darüber hinaus ist sie auch Haftungsmasse für Verbindlichkeiten, die erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen, sogenannte Masseverbindlichkeiten (§§ 53 ff. InsO). Dazu gehören insbesondere die Verbindlichkeiten, die durch den Insolvenzverwalter begründet werden oder die dadurch entstehen, dass nach der Eröffnung der Insolvenz eine Leistung weiter in Anspruch genommen wird, § 55 Abs. 1 InsO. Daneben können auch Masseverbindlichkeiten entstehen, die nicht durch eine Handlung des Insolvenzverwalters, sondern nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO „in anderer Weise“ hervorgerufen werden.95) Dazu gehören unter anderem Steuerforderungen96) oder öffentliche Lasten97). Nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO entstehen auch, ohne dass der Insolvenzverwalter handelt, Masseansprüche, wenn das Gesetz eine Erfüllung für die Zeit nach der Insolvenzeröffnung verlangt. Nach § 108 Abs. 1 S. 1 InsO be___________ 90) Dazu Bork, Insolvenzrecht, Rn. 227 ff. 91) Siehe zum Streit, ob die Ausnahme auch für kleinbetriebliche Produktionsmittel gilt, Seidler, Selbständige in der Insolvenz, S. 127 ff. 92) Foerste, Insolvenzrecht, Rn. 155. 93) Siehe dazu Foerste, Insolvenzrecht, Rn. 160. 94) § 1 S. 1 InsO; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 22; Braun-Bäuerle, § 35 Rn. 1. 95) Tiefergehend dazu MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 66 ff. 96) MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 68 ff. 97) MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 81 f.
17
B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
stehen zum Beispiel Dienstverhältnisse mit Wirkung für und gegen die Insolvenzmasse auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens fort, sodass die daraus entstehenden Lohnansprüche Masseverbindlichkeiten sind.98) Man spricht von oktroyierten Masseverbindlichkeiten, da sie unabhängig von einer konkreten Inanspruchnahme der Leistung oder Erfüllungswahl durch den Insolvenzverwalter entstehen und damit „aufgezwungen“ werden.99)
53 Die Besserstellung von Massegläubigern wird dadurch gerechtfertigt, dass der Insolvenzverwalter andernfalls keine Rechtsgeschäfte mehr abschließen könnte, wenn die Vertragspartner nur als Insolvenzgläubiger zu befriedigen wären und mit einem zumindest teilweisen Ausfall ihrer Forderungen rechnen müssten.100) Zudem wird der Masse durch die Tätigkeit des Gläubigers in der Regel ein Vorteil als Gegenleistung zufließen.101) Für Arbeitsverhältnisse gilt diese Annahme nicht uneingeschränkt, da der Insolvenzverwalter in vielen Fällen keine Verwendung für die einzelnen Arbeitnehmer haben wird. Dass er dennoch zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist an sie gebunden ist und die Masse durch die Lohnforderungen geschmälert wird, lässt vereinzelt Kritik an der bevorzugten Behandlung von Arbeitnehmern laut werden.102) Die Insolvenzmasse werde erheblich geschmälert, ohne dass sichergestellt ist, dass ihr durch die Arbeitsverhältnisse auch eine adäquate Gegenleistung zufließt. Die Insolvenzordnung biete keinen Platz für sozialpolitische Erwägungen, sondern sei durch den Grundsatz der gleichmäßigen Verteilung der vorhandenen Masse auf alle Gläubiger geprägt.103)
b) Bisher anerkannte Formen der Freigabe 54 Vermögen, das grundsätzlich in die Insolvenzmasse fällt, kann vom Insolvenzverwalter durch die Erklärung einer Freigabe wieder in die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners überführt und damit der Haftungsmasse entzogen werden. Da sich auch der Gesetzgeber ausdrücklich auf die bisher bestehenden Freigabeformen der Insolvenzordnung bezieht und die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO als „freigabeähnlich“104) beschreibt, wird im Folgenden das System der Freigabe in der Insolvenzordnung dargestellt, um später eine Einordnung der „freigabeähnlichen“ Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO zu ermöglichen. ___________ 98) 99) 100) 101) 102)
Dazu ausführlich weiter unten unter Rn. 137. MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 147. Mohrbutter/Ringstmeier-Mohrbutter, Kap. 6 Rn. 322. Mohrbutter/Ringstmeier-Mohrbutter, Kap. 6 Rn. 322. Siehe dazu Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 3; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. 23.08; MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 147; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 103) Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08. 104) BT-Drucks. 16/3227, S. 26.
18
III. Inhalt der Neufassung
aa) Echte Freigabe Durch die sogenannte echte Freigabe kann der Insolvenzverwalter einen einzelnen 55 Vermögensgegenstand, der eigentlich zur Insolvenzmasse gehört und vom Insolvenzbeschlag umfasst ist, aus der Insolvenzmasse herauslösen.105) Als Rechtsfolge fällt die nach § 80 Abs. 1 InsO entfallene Verfügungsbefugnis an den Schuldner zurück und der Vermögenswert wird Bestandteil des insolvenzfreien Schuldnervermögens.106) Der freigegebene Gegenstand steht den Gläubigern nicht mehr als Haftungsmasse zur Verfügung. Im Gegenzug wird die Masse jedoch auch nicht mehr durch die vom Vermögensgegenstand hervorgerufenen Masseverbindlichkeiten geschmälert, sodass eine echte Freigabe in der Regel angebracht ist, wenn die Kosten für die Verwaltung und Verwertung einen potentiellen Verwertungserlös übersteigen.107) Das klassische Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Freigabe eines über seinen eigentlich Wert belasteten oder unverwertbaren Grundstücks, das aufgrund der mit ihm einhergehenden steuerlichen Belastung nachteilig für die Masse ist.108) Die echte Freigabe unterliegt einem strengen Spezialitätsprinzip. Es können nur kon- 56 kret bestimmbare Vermögenswerte freigegeben werden.109) Die Freigabe ist eine Verfahrenserklärung und damit unwiderruflich und unbedingt.110)
bb) Unechte Freigabe Die unechte Freigabe ist keine Freigabe eines Vermögenswertes aus der Insol- 57 venzmasse im engeren Sinne. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Herausgabe von nicht zur Masse gehörenden Vermögenswerten an einen Berechtigten.111) In diesem Fall wird mangels Insolvenzbeschlags, etwa aufgrund von § 36 InsO oder § 47 InsO, durch die Freigabe nicht die Verwaltungs- und Verfügungsbeschränkung aufgehoben, sodass keine echte Freigabe vorliegt.112) Vielmehr wird nur die geltende Rechtslage durch eine rein deklaratorische Erklärung des Insolvenzverwalters festgestellt.113) ___________ 105) HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 53; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 254. 106) Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 13.14; KKInsO-Hess, §§ 35, 36 Rn. 120; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 53. 107) BGH, Urt. v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, NZI 2005, 387, 388; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 254; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 74. 108) BGH, Urt. v. 21.4.2005 – IX ZR 281/03, NZI 2005, 387, 388; HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 54; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 60. 109) Jaeger-Windel, § 80 Rn. 38. 110) Statt aller Braun-Bäuerle, § 35 Rn. 8, m. w. N. 111) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 60. 112) FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 72. 113) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 60; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 25.
19
B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
cc) Modifizierte oder erkaufte Freigabe 58 Auch die modifizierte Freigabe ist keine endgültige Freigabe im engeren Sinne. Bei der modifizierten Freigabe wird dem Schuldner ein Vermögenswert aus der Masse unter der Auflage freigegeben, dass er in irgendeiner Form wieder der Insolvenzmasse zufließt.114) Ein Beispiel ist die Forderung, die grundsätzlich zur Insolvenzmasse gehört, aber in eigenem Namen zugunsten der Insolvenzmasse vom Schuldner gerichtlich geltend gemacht wird.115)
c)
§ 35 Abs. 2 InsO im System der anerkannten Freigabeformen
59 Unabhängig davon, welche Reichweite der Erklärung des § 35 Abs. 2 InsO zugemessen wird116), ist eine Bezeichnung als Freigabe ungenau. Zum Teil wird angenommen, dass § 35 Abs. 2 InsO keine masseschmälernde Wirkung zukommt und die Erklärung des Insolvenzverwalters nicht den Insolvenzbeschlag in Bezug auf Gegenstände, die der selbständigen Tätigkeit zugeordnet sind, aufhebt.117) Die Erklärung bezieht sich nach dieser Ansicht nur auf den Neuerwerb, der nicht mehr zur Insolvenzmasse gezogen wird, und die Neuverbindlichkeiten, die die Insolvenzmasse nicht mehr belasten. Beschlagsaufhebende Wirkung wird der Erklärung nicht zugeschrieben. Entgegen einer echten Freigabeerklärung, die immer einen individuellen Vermögenswert aus der Masse herauslöst, begründet die Erklärung nach dieser Ansicht keine Masseschmälerung, sondern nur eine enthaftende Wirkung für die Verbindlichkeiten aus der ausgeübten selbständigen Tätigkeit des Schuldners.118) In Zusammenhang mit § 35 Abs. 2 InsO spricht Berger deshalb von einer „Haftungserklärung“119) oder „haftungsrechtliche[n] Gesamterklärung“120).
60 Nimmt man an, dass einer Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO auch ein die Masse berührender Verfügungsgehalt in Bezug auf die der selbständigen Tätigkeit zugeordneten Gegenstände zukommt, besteht als Parallele zur echten Freigabe zumindest ___________ 114) 115) 116) 117)
MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 88; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 26. HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 61. Hierzu ausführlich weiter unten unter Rn. 85 ff. BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, ZInsO 2011, 2339, 2340 f.; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 112 ff.; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 21 ff.; Wischemeyer/ Schur, ZInsO 2007, 1240, 1245 f.; Undritz, FS Runkel, 449, 458 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 942 f.; Menn, ZVI 2011, 197, 202; Lindemann, BB 2011, 2357, 2358; Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 411; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 696; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 826 f.; Gehrlein, ZInsO 2016, 1238, 1238 f.; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 272; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 52 f.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 100. 118) HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 272; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 53; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 100. 119) Berger, ZInsO 2008, 1101, 1101. 120) Berger, ZInsO 2008, 1101, 1103; in Anlehnung an Ahrens, NZI 2007, 622, 624 f. Zustimmend Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2121.
20
III. Inhalt der Neufassung
die beschlagsaufhebende Wirkung.121) Hierin erschöpfen sich jedoch die Parallelen zur echten Freigabe. Schreibt man der Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO beschlagsaufhebende Wirkung zu, werden sämtliche Vermögensgegenstände, die zur selbständigen Tätigkeit gehören, aus der Insolvenzmasse herausgelöst.122) Entgegen der dem strengen Spezialitätsprinzip unterliegenden echten Freigabe, die sich immer nur individuell auf einzelne Vermögensgegenstände beziehen kann, wird hier eine Gesamtheit von Gegenständen und Rechten „freigegeben“.123) Die Erklärung in die gegebenen Strukturen der Freigabe einzuordnen, ist demnach 61 nicht möglich. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich jedoch, dass der Gesetzgeber auch gar nicht beabsichtigt hat, sich streng an einer bestehenden Form der Freigabe zu orientieren. Die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO wird hier als „eine Art ‚Freigabe‘“124) oder „freigabeähnliche Erklärung eigenen Typs“125) umschrieben. Eine endgültige Einordnung in das bekannte System der Verfahrenshandlungen der Insolvenzordnung ist demnach weder möglich noch gewollt. In dem Bewusstsein, dass die Erklärung keiner echten Freigabe entspricht, wird der Einfachheit halber jedoch in der Regel bloß von einer „Freigabe“ gesprochen.126) Dem soll auch in dieser Arbeit gefolgt werden.
4.
Voraussetzungen der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO
Die Voraussetzungen der Freigabe neben der bereits erörterten Erklärung des In- 62 solvenzverwalters werden im Folgenden genauer behandelt.
a) Anwendbarkeit nur auf natürliche Personen Die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ist nach ganz herrschender Meinung nur bei 63 der Insolvenz natürlicher Personen anwendbar.127) Das ergibt sich zunächst aus ___________ 121) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 410 f.; Urt. v. 22.5.2014 – IX ZR 136/13, NZI 2014, 614, 616; BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 621; Ahrens, NZI 2007, 622, 624 f.; Bartels, KTS 2012, 381, 387 ff.; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 260 f.; Kayser, ZIP 2015, 1083, 1085; N. M. Schmidt, ZInsO 2016, 1235, 1236 f.; Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1563 ff.; Heinze, ZInsO 2016, 2067, 2069; Jaeger-Windel, § 80 Rn. 33; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47e; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 115; KKInsO-Hess, §§ 35, 36 Rn. 120; Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Ahrens, § 35 Rn. 152 ff.; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 54; HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 68. 122) Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 259. 123) K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 53; Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1241; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2021; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1103; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 259. 124) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 125) BT-Drucks. 16/3227, S. 26. 126) BT-Drucks. 16/3227, S. 17 u. S. 24; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 259. 127) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 410; BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 325; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 113 ff.; Holzer, ZVI 2007, 289, 291; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 107; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/ Kexel, § 35 Rn. 21; a. A. Heinze, ZVI 2007, 349, 351; Bartels, KTS 2012, 381, 401 f.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
dem Wortlaut, der die Anwendbarkeit auf selbständige Tätigkeiten beschränkt. Der Begriff der selbständigen Tätigkeit dient als Abgrenzungsbegriff zur abhängigen Beschäftigung. Da eine juristische Person nicht einer abhängigen Beschäftigung nachgehen kann, liefe die vom Wortlaut gemachte Einschränkung für sie leer, sodass im Umkehrschluss nur natürliche Personen von § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden.128) Ferner legt die Gesetzesbegründung Wert darauf, dass durch die Regelung Selbständige nicht gegenüber abhängig Beschäftigten bessergestellt werden und begründet damit die in § 35 Abs. 2 S. 2 InsO angeordnete entsprechenden Anwendung von § 295 Abs. 2 InsO.129) Dieser Vergleich zwischen Selbständigen und abhängig Beschäftigten lässt ebenfalls den Schluss zu, dass § 35 Abs. 2 InsO nur bei der Insolvenz natürlicher Personen anwendbar ist. Letztlich spricht auch der Regelungsanlass dafür, die Freigabe auf die Insolvenz natürlicher Personen zu beschränken.130) Nur bei ihnen kann die selbständige Tätigkeit nicht von der natürlichen Person „an sich“ getrennt werden. Da der Insolvenzverwalter anders als bei juristischen Personen keine Verfügungsmacht über die Arbeitskraft des natürlichen Schuldners hat, besteht nur hier das Bedürfnis, die selbständig ausgeübte Tätigkeit des Schuldners von der Insolvenzmasse zu trennen.131)
b) Selbständige Tätigkeit 64 Wie bereits dargestellt, ergibt sich aus § 35 Abs. 2 S. 1 InsO, dass nur selbständig Tätige erfasst werden sollen. Eine Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ist demnach nicht bei natürlichen Personen in abhängiger Beschäftigung möglich. Erfasst werden dagegen Freiberufler, Gewerbetreibende und sonstige Einzelunternehmer – beispielsweise Ärzte, Architekten, Rechtsanwälte und eingetragene Kaufleute.132) Die bisher zu § 35 Abs. 2 InsO ergangenen Urteile behandelten beispielsweise Schuldner, die eine Autoreparaturwerkstatt133), ein Transportunternehmen134), einen Tischlereibetrieb135), einen Pflegedienst136) oder eine Zahnarztpraxis137) betreiben. ___________ 128) Holzer, ZVI 2007, 289, 291; Bartels, KTS 2012, 381, 401 f.; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 107. 129) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 130) Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 410. 131) Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 410. 132) K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 49. 133) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 409 ff. 134) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 324 ff.; BGH, Beschl. v. 18.12.2014 – IX ZB 22/13, NZI 2015, 289, 289 f. 135) LG Hamburg, Beschl. v. 29.6.2016 – 326 T 76/16, NZI 2016, 772, 772 f. 136) LSG NRW, Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 747 ff. 137) AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905, 905 ff.; BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 620 ff.; LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1940 ff.
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III. Inhalt der Neufassung
c)
Eröffnung des Insolvenzverfahrens
Umstritten ist ferner, ob § 35 Abs. 2 InsO auch bereits im Eröffnungsverfahren an- 65 wendbar ist. Vereinzelt wird unter Hinweis auf die vergleichbare Interessenlage auch bereits zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit der Freigabe für wünschenswert erachtet. Auch im Eröffnungsverfahren bestehe bereits das Bedürfnis der Fortführung der selbständigen Tätigkeit und des Schutzes der Masse vor fortlaufender Haftung.138) Dem stellt sich jedoch die ganz herrschende Meinung richtigerweise entgegen.139) 66 Im Umkehrschluss zu § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO, der ausdrücklich normiert, welche Vorschriften im Eröffnungsverfahren Anwendung finden, ist § 35 Abs. 2 InsO nicht anwendbar.140) Ferner setzt § 35 Abs. 2 InsO Strukturen voraus, die im Eröffnungsverfahren noch gar nicht gegeben sind. So gibt es vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch keinen Massebeschlag oder einen haftungsrechtlichen Verbund, von dem die zur selbständigen Tätigkeit gehörenden Gegenstände befreit werden könnten.141) Gleiches gilt für die von § 35 Abs. 2 S. 2 InsO vorausgesetzte Gläubigerversammlung, die im Eröffnungsverfahren noch nicht besteht.142) Zudem ist die Anwendung von Normen aus dem eröffneten Insolvenzverfahren die 67 Ausnahme von der Regel, dass der vorläufige Insolvenzverwalter nur beschränkte Befugnisse hat. In einem solchen Regel-Ausnahme-Verhältnis muss die Ausnahme eng ausgelegt werden. Da für den Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO keine Anhaltpunkte ersichtlich sind, warum sie auch im Eröffnungsverfahren anwendbar sein soll, ist eine solche Auslegung abzulehnen. Auch inhaltlich überzeugt eine Anwendung der Vorschrift nicht, da der vorläufige Insolvenzverwalter in der Regel nur sehr beschränkte Sanierungsmöglichkeiten hat. Er wäre gezwungen die selbständige Tätigkeit wirtschaftlich unverändert freizugeben. Wünschenswert ist jedoch, dass der Insolvenzverwalter vor der Freigabe der selbständigen Tätigkeit bereits Sanierungsmaßnahmen vornimmt, um dem Schuldner und seiner selbständigen Tätigkeit eine Chance auf ein wirtschaftliches Überleben zu geben.143) Dazu gehört insbesondere, dass der Insolvenzverwalter die vereinfachte Möglichkeit nutzt, wirtschaftlich nachteilige Verträge nach §§ 103 ff. InsO zu beenden. Diese Möglichkeit besteht jedoch nur im eröffneten Verfahren. § 35 Abs. 2 InsO kann daher nur nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zweckentsprechend angewandt werden. ___________ 138) Heinze, ZVI 2007, 349, 355; ausdrücklich offenlassend Undritz, FS Runkel, 449, 459. 139) Windel, AP InsO § 35 Nr. 1; Ahrens, KSzW 2012, 303, 305; Menn, ZVI 2011, 197, 197; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 261; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 49; HmbKInsOM. Lüdtke, § 35 Rn. 253; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 117; jeweils m. w. N. 140) Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 108 f.; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 261. 141) Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 261; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 253. 142) Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 261. 143) Ehlers, ZInsO 2014, 53, 54.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
d) Erforderliche Ausübungs- und Fortführungsabsicht des Schuldners 68 Bisher kaum Teil der rechtswissenschaftlichen Diskussion ist die Frage, ob die Freigabe voraussetzt, dass der Schuldner beabsichtigt, seine selbständige Tätigkeit weiter auszuüben oder eine neue selbständige Tätigkeit aufzunehmen. Die Literatur, sofern sie sich überhaupt mit der Frage beschäftigt, bejaht diese Frage.144)
aa) LAG Hessen: Keine Fortführungsabsicht erforderlich 69 Anders entschied das LAG Hessen.145) Im zu entscheidenden Sachverhalt hatte der Schuldner, ein Zahnarzt, nicht die Absicht, seine Praxis im Insolvenzverfahren fortzuführen. Nichtsdestotrotz hat der Insolvenzverwalter die Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO erklärt.146) Das LAG Hessen entschied, dass die Freigabe wirksam erklärt worden sei und sich aus dem Umstand, dass der Schuldner gar nicht beabsichtige seine selbständige Tätigkeit fortzuführen, auch nichts anderes ergebe.147) Inhaltlich sah das Gericht die Gefahr eines unsicheren Schwebezustands, der drohe, wenn der Schuldner der Freigabe erst zustimmen müsse. Währenddessen könne der Rechtsverkehr nicht erkennen, ob ein Recht zur Insolvenzmasse gehöre oder nicht.148) Für den Zweck des Masseschutzes sei es erforderlich, dass der Insolvenzverwalter die nachteilige Tätigkeit unabhängig von einem Fortführungswillen des Schuldners freigeben könne.149)
bb) Inhaltliche Kritik am Urteil 70 Das Urteil des LAG Hessen überzeugt sowohl argumentativ als auch vom Ergebnis her nicht.
71 Die Wortwahl im Urteil macht deutlich, dass das Gericht den Willen zur Fortführung mit einem Zustimmungsbedürfnis durch den Schuldner vermischt.150) Hierzwischen besteht jedoch ein erheblicher Unterschied. Die Zustimmung des Schuldners ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO. Vielmehr ist als Rechtshandlung einzig die Freigabeerklärung durch den Insolvenzverwalter ___________ 144) Heinze, ZVI 2007, 349, 351; Holzer, ZVI 2007, 289, 291; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034; Ries/Böhner, FD-InsR 2009, 283559; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 259; N. M. Schmidt, ZInsO 2016, 1235, 1238; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 110; HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 69; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 124 ff.; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 121. 145) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1940 ff. 146) Zum Sachverhalt LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941. 147) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941 f. 148) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941. 149) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941 f. 150) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941.
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III. Inhalt der Neufassung
und der Zugang derselben beim Schuldner erforderlich.151) Eine Zustimmung im Sinne einer Rechtshandlung des Schuldners ist hingegen nicht erforderlich, da die Entscheidung, ob eine Tätigkeit zugunsten oder zulasten der Insolvenzmasse geht, nicht dem Schuldner zusteht. Als eine Rechtshandlung mit Auswirkungen auf die Insolvenzmasse ist nach § 80 Abs. 1 InsO alleine der Insolvenzverwalter berechtigt zu entscheiden, ob er von der Freigabemöglichkeit nach § 35 Abs. 2 InsO Gebrauch macht. Damit einher geht, dass der Schuldner umgekehrt auch keinen Anspruch auf Freigabe der selbständigen Tätigkeit durch den Insolvenzverwalter hat.152) Eine nicht erforderliche rechtsgeschäftliche Zustimmungserklärung des Schuldners 72 ist jedoch von einem bloßen subjektiven Element der Ausübungs- oder Fortführungsabsicht zu unterscheiden. Der Schuldner muss sich zunächst entscheiden, ob er überhaupt eine selbständige Tätigkeit ausüben will. Sodann kann er in einem zweiten Schritt einen Willen dahingehend bilden, ob er diese Tätigkeit mit Wirkung für und gegen die Insolvenzmasse ausüben will oder ob er „auf eigene Faust“ wirtschaftet. Nur der zweite Wille ist unerheblich. Der Schuldner möchte in diesem Fall weiter selbständig tätig sein, verweigert es jedoch, dieser Tätigkeit außerhalb der Insolvenzmasse nachzugehen. Fehlt es hingegen bereits am vorangehenden Willen die selbständige Tätigkeit (wieder) auszuüben, kann keine Freigabe erfolgen. Dahingehend ist auch der Wortlaut von § 35 Abs. 2 S. 1 InsO zu verstehen. Er setzt voraus, dass der Schuldner eine selbständige Tätigkeit ausübt oder demnächst eine solche Tätigkeit auszuüben beabsichtigt. Übt der Schuldner noch keine selbständige Tätigkeit aus, stellt der Gesetzestext selbst auf das subjektive Element der Ausübungsabsicht ab. Übt der Schuldner die Tätigkeit bereits aus, ist in der Regel auch ein subjektives Element anzunehmen. Das LAG Hessen bezieht sich in seiner Argumentation auf einen drohenden Schwebe- 73 zustand, währenddessen nicht klar sein soll, ob ein Recht zur Insolvenzmasse gehört oder nicht.153) Ein solcher Schwebezustand droht jedoch allenfalls, wenn die Freigabeerklärung bedingt oder widerruflich erklärt werden könnte. Wie grundsätzlich jede Verfahrenshandlung ist auch die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO bedingungsfeindlich und unwiderruflich.154) Auch die Kommentarstellen, die das Gericht an dieser Stelle zitiert, nehmen nur einen nicht hinnehmbaren Schwebezustand aufgrund von Bedingungen und Widerrufsrechten an. Die Aussage, dass die Zustimmungsbedürftigkeit zu einem rechtsunsicheren Schwebezustand führt, fin___________ 151) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411; BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 325; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47c; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 93. 152) KKInsO-Hess, §§ 35, 36 Rn. 79. 153) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941. 154) Berger, ZInsO 2008, 1101, 1104 f.; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 38; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 73; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 53. Auch der Gesetzgeber geht davon aus, dass der Insolvenzverwalter „endgültig und unbedingt auf seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis verzichtet“, BT-Drucks. 16/3227, S. 17.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
det man an den zitierten Stellen nicht.155) Eine fehlende Zustimmung droht dagegen (anders als ein Widerruf oder eine Bedingung) nicht, die Freigabeerklärung rückwirkend zu beseitigen. Die Zustimmung ist vielmehr eine Wirksamkeitsvoraussetzung. Durch sie droht kein Schwebezustand, da kein rückwirkender Wegfall der rechtswirksamen Freigabeerklärung in Betracht kommt. Vielmehr ist sie vorgelagerte Wirksamkeitsvoraussetzung der Freigabeerklärung. Beabsichtigt der Schuldner gar nicht, eine selbständige Tätigkeit auszuüben, sind bereits die Voraussetzungen von § 35 Abs. 2 InsO nicht erfüllt.
74 Auch ein systematischer Vergleich zur echten oder modifizierten Freigabe, auf die sich die vom Gericht zitierten Kommentarstellen beziehen156), ist unzulässig. Zwar ließe sich argumentieren, dass es bei ihr auch nicht auf einen eventuell der Freigabe von Vermögensgegenständen entgegenstehenden Willen des Schuldners ankommt.157) Aufgrund des bereits dargestellten atypischen Charakters der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO verbietet sich jedoch eine umfassende Übertragung der Grundsätze.158) Systematisch ist mit Gotter ein Vergleich zu den §§ 157 f. InsO zu ziehen, die die Stilllegung des schuldnerischen Unternehmens regeln.159) Könnte der Insolvenzverwalter trotz fehlender Fortführungsabsicht das Unternehmen des Schuldners einfach freigeben, wären die eigentlich einschlägigen Normen zur Stilllegung obsolet.160)
75 Ferner widerspricht die Auffassung auch den Vorstellungen des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber setzt den Willen zur Fortführung der selbständigen Tätigkeit voraus, indem er als einen Zweck der Regelung die Ermöglichung und Förderung der selbständigen Tätigkeit benennt.161) Das LAG Hessen geht nur darauf ein, dass die Freigabe nicht bloß im Interesse des Schuldners erfolgen soll.162) Auch wenn diese Aussage inhaltlich richtig ist, passt sie doch nicht in den vorliegenden Zusammenhang. Sie mag ein Argument dafür sein, warum der Schuldner keinen Einfluss darauf hat, ob die Tätigkeit mit Wirkung für und gegen die Insolvenzmasse erfolgt oder nicht. Ist der Schuldner aber gar nicht gewillt, eine selbständige Tätigkeit auszuführen, verkennt die Aussage den von § 35 Abs. 2 InsO verfolgten Förderungs-
___________ 155) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941; unter Verweis auf Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 73 u. Rn. 86. 156) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941; unter Verweis auf Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 73 u. Rn. 86. 157) Heinze, ZVI 2007, 349, 351. 158) Siehe dazu bereits Rn. 59 ff. 159) Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 121. 160) Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 121. 161) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 162) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941.
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III. Inhalt der Neufassung
und Ermöglichungszweck. Will der Schuldner überhaupt nicht selbständig tätig sein, bedarf es auch keiner Ermöglichung dieser selbständigen Tätigkeit.163) Zudem soll den Neugläubigern nach dem Willen des Gesetzgebers der Neuerwerb 76 des Schuldners als Haftungsmasse zur Verfügung stehen.164) Beabsichtigt der Schuldner jedoch, seine selbständige Tätigkeit nicht fortzuführen, gibt es auch keinen Neuerwerb, der als Haftungsmasse dienen könnte. Zwar ließe sich dagegen einwenden, dass dann auch keine Neuverbindlichkeiten begründet wurden. Dieses Argument überzeugt aber zumindest für Arbeitsverhältnisse nicht, wenn man – wie das LAG Hessen – annimmt, dass von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auch die Arbeitsverhältnisse erfasst sind.165) Durch die Arbeitsverhältnisse werden neue Lohnforderungen begründet, die bei einem Übergang fortan den Schuldner treffen und für die nach dem Willen des Gesetzgebers sodann mindestens der Neuerwerb als Haftungsmasse zur Verfügung stehen soll. Beabsichtigt der Schuldner jedoch nicht, seine selbständige Tätigkeit fortzuführen, fehlt es an der vorgesehenen Haftungsmasse und die Ansprüche gingen ins Leere. Zuletzt unterliegt die Arbeitskraft des Schuldners, wie bereits dargestellt, nicht der 77 Disposition des Insolvenzverwalters.166) Er kann den Schuldner dementsprechend nicht zur Ausübung einer selbständigen Tätigkeit zwingen und damit durch seine Erklärung eine erforderliche Ausübungsabsicht in Bezug auf die selbständige Tätigkeit ersetzen.167) Im Gegenteil bezweckt § 35 Abs. 2 InsO den Schutz des Schuldners, indem es ihm im Einklang mit Art. 12 Abs. 1 GG ermöglicht wird, eine selbständige Tätigkeit (weiter) auszuüben.168) Beabsichtigt der Schuldner aber überhaupt nicht, eine solche selbständige Tätigkeit auszuüben, kommt eine Grundrechtsbeeinträchtigung des Schuldners auch nicht in Betracht.169) Demnach muss der Schuldner eine selbständige Tätigkeit ausüben wollen, damit 78 der Insolvenzverwalter ebendiese auch an ihn freigeben kann. Holzer lässt die erkennbare Absicht zur Aufnahme einer Tätigkeit ausreichen.170) Bai schlägt konkretisierend als gangbaren Weg vor, dass als äußeres Merkmal ein hinreichend bestimmter Businessplan vorgelegt werden muss und der Schuldner innerlich willens ist, seine selbständige Tätigkeit fortzuführen.171) ___________ 163) So auch Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 130. 164) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 165) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941; zu dem Problem tiefergehend weiter unten unter Rn. 141 ff. 166) Siehe dazu bereits unter Rn. 15. 167) Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 130. 168) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 169) Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 121. 170) Holzer, ZVI 2007, 289, 291. 171) Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 127 ff.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
5.
Zeitpunkt der Freigabeerklärung
79 Das Gesetz gibt keinen ausdrücklichen Zeitpunkt für die Erklärung vor. Um eine Haftung nach § 60 Abs. 1 InsO für neu entstehende Masseverbindlichkeiten durch eine selbständige Tätigkeit des Schuldners zu vermeiden, ist jedoch eine frühe Erklärung notwendig.172) Zum Teil wird dem Insolvenzverwalter eine Bedenk- und Prüfzeit zugestanden, in der er bewerten kann, ob die selbständige Tätigkeit erfolgsversprechend ist und mit Wirkung für und gegen die Insolvenzmasse fortgeführt werden soll.173) Andere verlangen eine unverzügliche Erklärung, also eine Erklärung ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 S. 1 BGB).174) Eine Prüfung der Erfolgsaussichten der selbständigen Tätigkeit wird jedoch wohl kaum als schuldhaftes Zögern angesehen werden können, zumal sie darauf gerichtet ist, die Insolvenzmasse zu schützen. Gemeinhin werden vier Wochen als ausreichend angesehen.175) Dabei kann es sich jedoch nur um eine Leitlinie handeln, da § 35 Abs. 2 InsO keine Beschränkung bezüglich des Umfangs der von ihm erfassten Verfahren enthält.176) Wie Ries richtigerweise anmerkt, sind sowohl eine kleine Zahnarztpraxis mit drei Arzthelferinnen oder Arzthelfern als auch ein Unternehmen wie Anton Schlecker eK mit mehreren zehntausend Mitarbeitern vom Anwendungsbereich der Norm umfasst.177) Eine feste Frist wird der unterschiedlichen Komplexität der einzelnen Verfahren nicht gerecht.
6.
Veröffentlichung der Erklärung durch das Insolvenzgericht
80 Der Gesetzestext verlangt in § 35 Abs. 2 S. 1 InsO lediglich eine Erklärung der Freigabe gegenüber dem Schuldner. Nach Abs. 3 ist die erfolgte Erklärung dem Insolvenzgericht gegenüber anzuzeigen. Dieses macht die Erklärung öffentlich. Hierbei handelt es sich nicht um eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Freigabe.178) Die Veröffentlichung ist demnach rein deklaratorisch und dient der Information der Neugläubiger über die geänderten Haftungsumstände.179)
IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung 81 Bevor schwerpunktmäßig auf die arbeitsrechtlichen Konsequenzen der Unternehmensfreigabe eingegangen wird, sind die allgemeinen Rechtsfolgen der Freigabe___________ 172) 173) 174) 175) 176) 177) 178) 179)
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BT-Drucks. 16/4194, S. 14. FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 41. Windel, AP InsO § 35 Nr. 1; Heinze, ZVI 2007, 349, 355 f. Lindemann, ZInsO 2014, 695, 696; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 262. Kritisch HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 70. HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 70. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411; ebenso Sternal, NJW 2007, 1909, 1912.
IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung
erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO zu beleuchten. Wie bereits erläutert, kann der Insolvenzverwalter eine Positiv- oder eine Negativerklärung abgeben.180)
1.
Positiverklärung
Bei der Positiverklärung erklärt der Insolvenzverwalter, dass das Vermögen aus 82 der selbständigen Tätigkeit und die Ansprüche aus dieser Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehören. Die grundsätzlich geltende Rechtslage verändert sich dementsprechend durch die Erklärung nicht. Sie ist rein deklaratorisch.181) Im Rahmen der selbständigen Tätigkeit begründete Verbindlichkeiten sind nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO weiterhin Masseverbindlichkeiten, da in der Erklärung des Insolvenzverwalters ein Verwalterhandeln zu sehen ist. Der Masse fließt dafür auch sämtlicher Neuerwerb zu.182)
2.
Negativerklärung
a) Grundsätzliche enthaftende Wirkung Bei der Negativerklärung wird das „rechtliche Band“183) zwischen Insolvenzmasse 83 und selbständiger Tätigkeit unwiderruflich zerschnitten, indem der Insolvenzverwalter erklärt, dass das Vermögen und die Ansprüche aus der selbständigen Tätigkeit nicht mehr im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können. Unstreitig fällt der durch die fortgeführte selbständige Tätigkeit des Schuldners erwirtschaftete Neuerwerb nicht mehr in die Insolvenzmasse.184) Es entsteht ein die selbständige Tätigkeit betreffendes, von der Insolvenzmasse getrenntes Vermögen, dessen Rechtsträger der Schuldner ist und das den Neugläubigern aus der freigegebenen selbständigen Tätigkeit als Haftungsmasse dient.185) Damit der Schuldner nicht gegenüber abhängig beschäftigten Personen bessergestellt ist, muss er einzig nach § 35 Abs. 2 S. 2 InsO in Verbindung mit § 295 Abs. 2 InsO ein fiktiv zu ermittelndes Einkommen an die Masse abführen.186) Im Gegenzug werden durch die Tätigkeit des Schuldners keine Neumasseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO mehr
___________ 180) Zu den Begriffen Ahrens, NZI 2007, 622, 622 ff. 181) Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Ahrens, KSzW 2012, 303, 305; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 113; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 27. 182) Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 113; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 27; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 46 ff. 183) So auch BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411; Holzer, ZVI 2007, 289, 292. 184) MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47c; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 99; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 46 ff. 185) Undritz, FS Runkel, 449, 460 f.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 99. 186) Siehe dazu ausführlich Undritz, FS Runkel, 449, 464 ff.; Grote, FS Wimmer, 219, 219 ff.
29
B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
begründet.187) Das Risiko der erfolgreichen Fortführung wird damit von der Insolvenzmasse abgewälzt.
84 Eine Erklärung, die dazu führt, dass der Neuerwerb zur Masse vereinnahmt wird, zugleich die Masse aber nicht mehr für neue Verbindlichkeiten haftet, ist freilich nicht möglich.188)
b) Insolvenzbeschlag aufhebende Wirkung 85 Umstritten ist die Frage, ob der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO neben dem bloß enthaftenden Charakter auch ein bestandsvermögenswirksamer Erklärungsgehalt zukommt. Es geht darum, ob durch die Freigabeerklärung der Insolvenzschuldner die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis bezüglich des Vermögens zurückerhält, das der selbständigen Tätigkeit zugeordnet ist und bis zur Freigabe dem Insolvenzbeschlag nach § 35 Abs. 1 InsO unterliegt.
86 Unstreitig wirkt sich die Freigabeerklärung auf den mit der selbständigen Tätigkeit erwirtschafteten Neuerwerb aus. Der im Rahmen der freigegebenen Tätigkeit erwirtschaftete Neuerwerb wird nicht mehr zur Insolvenzmasse gezogen, im Gegenzug wird die Insolvenzmasse nicht mehr mit Neuverbindlichkeiten belastet.189) Fraglich ist jedoch, ob auch der Insolvenzmasse nach § 35 Abs. 1 InsO unterfallendes Vermögen, das der selbständigen Tätigkeit des Schuldners zuzuordnen ist, aus dem Insolvenzbeschlag entlassen wird und dem Schuldner fortan wieder unbegrenzt zur Verfügung steht. Erhält zum Beispiel ein Taxiunternehmer wieder die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über seine Taxis zurück? Kann etwa ein Zahnarzt wieder über seine Praxisausstattung disponieren? Für Arbeitnehmer ist die Frage von erheblicher Relevanz, da ihnen freigegebenes Vermögen bei Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf den Schuldner bei Fortführung der selbständigen Tätigkeit als Haftungsmasse zur Verfügung stünde. Ferner können sich hieraus Anhaltspunkte für eine eventuelle Anwendbarkeit des § 613a BGB bei der Freigabe der selbständigen Tätigkeit ergeben.190)
aa) Vertretene Ansichten 87 Einerseits wird vertreten, dass von der Freigabe kein dem Insolvenzbeschlag unterliegendes Bestandsvermögen erfasst wird. Die Freigabe wirke vielmehr lediglich beschränkt auf den zukünftig zu erwirtschaftenden Neuerwerb, der nicht mehr in die Insolvenzmasse fällt. Einzig die individuelle „echte“ Freigabe von einzelnen ___________ 187) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 80 ff. 188) HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 263; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 111 f. 189) BT-Drucks. 16/3227, S. 17; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 2; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 46 ff.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 99. 190) Hierzu weiter unten unter Rn. 348 ff.
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IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung
Gegenständen durch den Insolvenzverwalter sei denkbar. Betriebszugehöriges Vermögen werde nicht alleine durch die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO aus dem Insolvenzbeschlag herausgelöst. Die Bedenken der Vertreter dieser Ansicht basieren hauptsächlich auf Masseschutzgesichtspunkten, da durch die insolvenzbeschlagsaufhebende Wirkung die Insolvenzmasse erheblich geschmälert werde.191) Andererseits finden sich Stimmen in Literatur und Rechtsprechung, die auch einen 88 Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis bezüglich des dem Insolvenzbeschlag unterfallenden Vermögens, das der selbständigen Tätigkeit zugeordnet ist, annehmen. Ihre Hauptargumente ergeben sich aus der Gesetzesbegründung zu § 35 Abs. 2 InsO und dem Zweck der Förderung der selbständigen Tätigkeit des Schuldners.192)
bb) Stellungnahme Der überzeugenderen Ansicht soll auch in dieser Arbeit gefolgt werden. Um fest- 89 zustellen, für welchen Lösungsweg die besseren Argumente sprechen, soll anhand der Auslegungscanones eine Stellungnahme erfolgen.193)
(1) Wortlaut: Keine klare Aussage durch das Gesetz Der Wortlaut des § 35 Abs. 2 InsO ist im Gegenteil zur ausführlichen (wenn auch 90 nicht immer aufschlussreichen) Gesetzesbegründung recht knapp ausgefallen. Vereinzelt wird aus der Formulierung, dass die Erklärung das Vermögen „aus“ der selbständigen Tätigkeit umfasst, geschlossen, dem Wortlaut liege ein Kausalitäts___________ 191) Siehe dazu BGH, Urt. v. 21.2.2019 – IX ZR 246/17, NZI 2019, 374, 376 f.; BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, ZInsO 2011, 2339, 2340 f.; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 142 ff.; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 111 ff.; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 21 ff.; Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1245 f.; Undritz, FS Runkel, 449, 458 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 942 f.; Menn, ZVI 2011, 197, 202; Lindemann, BB 2011, 2357, 2358; Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 411; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 696; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 826 f.; Gehrlein, ZInsO 2016, 1238, 1238 f.; Haberzettl, NZI 2017, 474, 477 f.; Harder, VIA 2018, 17, 19; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 272; FK-InsOBornemann, § 35 Rn. 52 f.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 100. 192) Siehe dazu BGH, Urt. v. 22.5.2014 – IX ZR 136/13, NZI 2014, 614, 616; BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 621; Tetzlaff, ZInsO 2005, 393, 397 f.; Ahrens, NZI 2007, 622, 624 f.; Bartels, KTS 2012, 381, 387 ff.; Ahrens, KSzW 2012, 303, 306 f.; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 260 f.; Pape, WM 2013, 1145, 1149 f.; Priebe, ZInsO 2015, 936, 938 f.; Kayser, ZIP 2015, 1083, 1085; N. M. Schmidt, ZInsO 2016, 1235, 1236 f.; Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1563 ff.; Heinze, ZInsO 2016, 2067, 2069; Jaeger-Windel, § 80 Rn. 33; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47e; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 115; Ahrens/Gehrlein/ Ringstmeier-Ahrens, § 35 Rn. 165; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 54; HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 69 u. Rn. 77; Braun-Bäuerle, § 35 Rn. 137; BeckOKInsO-Jilek, § 35 Rn. 67. 193) Eine Problemlösung ebenfalls anhand der Auslegungscanones findet man bei Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 21 ff.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
erfordernis zugrunde.194) Freigegeben würde demnach nur, was kausal durch die freigegebene Tätigkeit erwirtschaftet wird, das heißt der Neuerwerb, der aus der Tätigkeit herrührt, nicht aber das bereits erwirtschaftete und das der selbständigen Tätigkeit gewidmete Vermögen. Hierfür spricht der Vergleich mit dem zweiten Halbsatz von § 35 Abs. 2 S. 1 InsO, der bestimmt, ob Verbindlichkeiten aus der selbständigen Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können oder nicht. In diesem Zusammenhang ist weitgehend anerkannt, dass die Erklärung einzig Wirkung für die zukünftig aus der selbständigen Tätigkeit entstehenden Verbindlichkeiten entfaltet. Eine Rückwirkung auf bereits gegen die Insolvenzmasse entstandene Ansprüche erfolgt nach einhelliger Meinung nicht.195)
91 Dass diese Deutung auch für die dem Insolvenzbeschlag unterliegenden tätigkeitsbezogenen Vermögensgegenstände gilt, ist jedoch keineswegs zwingend. Ebenso kann das Merkmal „aus“ der selbständigen Tätigkeit mit Ahrens und Heinze als bloße Modalitätsvoraussetzung verstanden werden, der kein zeitliches Element innewohnt.196) Demnach wäre zur Bestimmung des freizugebenden Vermögens nicht auf die Kausalität abzustellen, sondern auf die Art und Weise der Verwendung.197) Zur Verdeutlichung kann die Bezeichnung der selbständigen Tätigkeit als Synonym für das Unternehmen198) oder die berufliche Sphäre199) an sich verstanden werden. Demnach würde das freizugebende Vermögen durch die Tätigkeit bestimmt, das heißt, das Vermögen aus dem Unternehmen/der beruflichen Sphäre würde freigegeben.200) Es wäre das gesamte Vermögen „aus“ der selbständigen Tätigkeit – sowohl vor als auch nach Freigabe – erfasst.201)
92 Unterstützt wird diese Deutung durch einen Vergleich zu der Formulierung in § 35 Abs. 1 InsO. In § 35 Abs. 2 S. 1 InsO wird geregelt, dass sich die Freigabe auf das Vermögen, das zur Insolvenzmasse „gehört“, erstreckt. Das Verb „gehören“ wird auch in § 35 Abs. 1 InsO im Zusammenhang mit der Legaldefinition der Insolvenzmasse verwendet. Die Insolvenzmasse umfasst hiernach zunächst das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahren „gehört“. Daneben erfasst die Insolvenzmasse nach § 35 Abs. 1 Var. 2 InsO das Vermögen, ___________ 194) Soweit ersichtlich erstmals Ahrens, NZI 2007, 622, 625; ebenso OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406; Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Menn, ZVI 2011, 197, 202; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 114; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 22 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2126; kritisch Dahl, NJWSpezial 2007, 485, 485; Haberzettl, NZI 2017, 474, 478. 195) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 82. 196) Ahrens, NZI 2007, 622, 625; Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1564. 197) Ahrens, NZI 2007, 622, 625. 198) Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1564 f. 199) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 69. 200) Ahrens, NZI 2007, 622, 625; Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1564 f. 201) Ahrens, NZI 2007, 622, 625; Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1564.
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IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung
was der Schuldner während des Verfahrens „erlangt“. In Abs. 1 Var. 1 wird das Verb „gehören“ damit im Zusammenhang mit Bestandsvermögen verwendet, das zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorhanden ist. Der Neuerwerb und dessen Inbeschlagnahme wird vielmehr als das „erlangte“ Vermögen bezeichnet. Wird dem Insolvenzverwalter nunmehr die Möglichkeit gegeben zu entscheiden, „ob Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört“, ist in Zusammenhang mit Abs. 1 davon auszugehen, dass davon auch Bestandsvermögen erfasst sein soll. Um ausschließlich eine Freigabe des Neuerwerbs zu ermöglichen, hätte der Gesetzgeber in § 35 Abs. 2 InsO dementsprechend vom aus der selbständigen Tätigkeit erlangten Vermögen sprechen müssen. Nimmt man eine Freigabe des Bestandsvermögens an, wird vielfach eingewandt, 93 dass der Wortlaut keine Anhaltspunkte dafür gebe, welche konkreten Gegenstände zur selbständigen Tätigkeit gehören und somit vom Insolvenzbeschlag zu befreien sind.202) Mit diesem Problem steht § 35 Abs. 2 InsO aber nicht alleine. Der Gesetzgeber ist immer gezwungen pauschalisierte Regelungen zu schaffen, um die Vielfältigkeit der vorstellbaren Situationen zu erfassen. Letztlich obliegt es den Gerichten eine Konkretisierung vorzunehmen und Rechtssicherheit für die Praxis zu schaffen. Als Vergleich lässt sich § 811 ZPO heranziehen. Auch hier bedurfte es insbesondere zu Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 erst einer dezidierten Rechtsprechung zur Konkretisierung der erfassten Gegenstände, wobei es fast immer auf den konkreten Einzelfall ankommt.203) Gleiches gilt für § 35 Abs. 2 InsO, sodass hier in Bezug auf die konkret freizugebenden Gegenstände keine genauere Regelung möglich ist. Abschließend ist festzustellen, dass der Wortlaut beide Deutungen zulässt. Im Er- 94 gebnis hat der Gesetzgeber nicht klar geregelt, welches Vermögen er vom Insolvenzbeschlag befreit sehen möchte. Keines der gefundenen Argumente lässt einen zwingenden Rückschluss auf den wirklichen Willen des Gesetzgebers zu, sondern lässt allenfalls einen Fingerzeig erkennen, den es durch die weitere Auslegung der Norm zu konkretisieren gilt.
___________ 202) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1246; Menn, ZVI 2011, 197, 202. Ähnlich Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 942 f., jedoch unter der Prämisse, dass keine bestimmte Tätigkeit freigegeben werden kann, sondern nur jede Form der selbständigen Tätigkeit „an sich“. Die wohl h. M. geht jedoch von der Möglichkeit der Freigabe eines bloß abgrenzbaren Teils aus Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 698; Ahrens, NZI 2007, 622, 625 f.; Heinze, ZVI 2007, 349, 351; Menn, ZVI 2011, 197, 198; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 116a; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 52; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 271; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 53; a. A. Berger, ZInsO 2008, 1101, 1103; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2123 f.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 98. 203) Kindl/Meller-Hannich/Wolf-Kindl, § 811 Rn. 23; Thomas/Putzo-Seiler, § 811 Rn. 17.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
(2) Historie: Abwendung vom Einzug des Neuerwerbs 95 Vor Einführung der Insolvenzordnung, das heißt noch im Geltungsbereich der Konkursordnung, wurde der Neuerwerb nicht zur Insolvenzmasse gezogen. Er stand alleine dem Schuldner zu und sollte ihm ermöglichen, eine neue Existenz aufzubauen, indem er den Neugläubigern des Schuldners als Haftungsmasse diente.204) Mit Einführung der Insolvenzordnung wurde der Neuerwerb nach § 35 Abs. 1 Hs. 2 InsO zur Insolvenzmasse gezogen.205) Einen wirtschaftlichen Neuanfang sollte nunmehr die Restschuldbefreiung ermöglichen. Um die damit einhergehende Beschneidung der Gläubiger abzumildern, wird fortan der Neuerwerb ebenfalls zur Mehrung der Insolvenzmasse und damit zur Gläubigerbefriedigung herangezogen, während zugleich die Neugläubiger auf das insolvenzfreie Vermögen verwiesen werden.206) Da eine Fortführung der selbständigen Tätigkeit, ohne dass dem Schuldner der Neuerwerb als Haftungsmasse für die Neugläubiger zugutekommt, unattraktiv ist,207) ließe sich annehmen, dass der Gesetzgeber die mit Einführung der Insolvenzordnung gemachten Veränderungen in Bezug auf die Vereinnahmung des Neuerwerbs wieder rückgängig machen möchte. Dafür wäre nur erforderlich, dass der Neuerwerb den Neugläubigern wieder zur Verfügung steht. Gegenstände, die dem Insolvenzbeschlag unterfallen, standen hingegen auch nach früherem Recht nie als Haftungsmasse für die Neugläubiger bereit. Die Haftungssphären waren vielmehr aufgeteilt, sodass der Neuerwerb den Neugläubigern zur Verfügung stand, während die Insolvenzmasse zur Befriedigung der Altgläubiger diente.
96 Die historische Betrachtung spricht demnach dafür, dass nur der Neuerwerb von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst wird.
(3) Gesetzesbegründung: Tendenz zur Aufhebung des Insolvenzbeschlags 97 Auf die besprochene historische Perspektive geht der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung jedoch nicht ein. Er beginnt zwar seine Ausführungen mit der Problematik der selbständigen Tätigkeit des Schuldners, geht aber nicht gesondert auf die früher bestehende Rechtslage als Grund für die Neuregelung ein.208)
98 In der ersten Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zu § 35 Abs. 2 InsO spricht wenig für eine über den Neuerwerb hinausgehende insolvenzbeschlagsaufhebende Wirkung.209) Ein erster Blick lässt erkennen, dass als Haftungsmasse für die Gläubiger, die nach erklärter Freigabe der selbständigen Tätig___________ 204) 205) 206) 207) 208) 209)
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BT-Drucks. 12/2443, S. 122; dazu Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 33. BT-Drucks. 12/2443, S. 122. Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 34. Siehe dazu bereits unter Rn. 18 ff. BT-Drucks. 16/3227, S. 17. BT-Drucks. 16/3227, S. 17.
IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung
keit mit dem Schuldner kontrahieren, der durch die selbständige Tätigkeit erwirtschaftete Neuerwerb vorgesehen ist.210) Diese Aussage lässt die Interpretation zu, dass für die vom Schuldner neu begründeten Verbindlichkeiten einzig der durch die selbständige Tätigkeit nach Freigabe erwirtschaftete Neuerwerb haftet. Auf die möglicherweise vom Insolvenzbeschlag befreiten und damit den Neugläubigern als Haftungsmasse zur Verfügung stehenden Betriebsmittel geht die Gesetzesbegründung an dieser Stelle nicht ein. Zwar ließe sich hieraus im Umkehrschluss annehmen, dass über den Neuerwerb hinaus keine weiteren Werte vom Insolvenzbeschlag befreit werden. Ebenso gut ließe sich jedoch andersherum argumentieren, dass der Gesetzgeber hiermit lediglich die freigebende Wirkung bezüglich des Neuerwerbs verdeutlichen wollte. Der Neuerwerb wird grundsätzlich nach § 35 Abs. 1 Hs. 2 InsO für die Masse vereinnahmt. Der rechtliche Mehrwert der Aussage liegt dann nicht in einer Begrenzung der Haftungsmasse, auf die die Neugläubiger Zugriff haben. Der Gesetzgeber kann ebenso dahingehend verstanden werden, dass er nur das Grundkonzept des § 35 Abs. 2 InsO verdeutlichen wollte. Die Norm weicht vom Grundsatz des § 35 Abs. 1 Hs. 2 InsO ab, sodass der Neuerwerb nicht mehr der Insolvenzmasse, sondern den Neugläubigern zugute kommt und im Gegenzug die Insolvenzmasse nicht mehr für neue Verbindlichkeiten haftet. Dass den Neugläubigern aber ausschließlich der Neuerwerb zusteht, ergibt sich aus der Aussage des Gesetzgebers nicht. Im Gegenteil wird der Neuerwerb, der eigentlich dem Zugriff der Neugläubiger aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Masse entzogen ist, ihnen zur Verfügung gestellt. Eine Beschränkung der den Neugläubigern zur Verfügung stehenden Haftungsmasse regelt der Gesetzgeber an dieser Stelle nicht. Die Formulierung, dass eine „Art ‚Freigabe‘ des Vermögens, das der gewerblichen 99 Tätigkeit gewidmet ist“211), vom Gesetzgeber angestrebt wird, liefert jedoch einen Hinweis auf eine umfassende Freigabewirkung, die auch das dem Insolvenzbeschlag unterfallende Vermögen erfasst. „Gewidmetes“ Vermögen ist richtigerweise nicht das erzielte Vermögen und damit der Neuerwerb, sondern das zum Erwerb eingesetzte Vermögen.212) Dass der Gesetzgeber nur von einer „freigabeähnliche[n] Erklärung eigenen Typs“213) oder einer „Art ‚Freigabe‘“214) spricht, rechtfertigt es auch nicht, die vom Insolvenzbeschlag umfassten Gegenstände von der Erklärung auszunehmen. Die Einschränkung des Begriffs „Freigabe“ erfolgt, um ihn von der „echten“ Freigabe, die nur einen einzelnen Gegenstand aus dem Insolvenzbeschlag befreit, und von der Freigabe nach § 109 Abs. 1 InsO, die nur ein einzelnes konkret ___________ 210) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 211) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 212) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; N. M. Schmidt, ZInsO 2016, 1235, 1237; Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1565. 213) BT-Drucks. 16/3227, S. 26. 214) BT-Drucks. 16/3227, S. 17.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
bezeichnetes Vertragsverhältnis erfasst, abzugrenzen.215) § 35 Abs. 2 InsO will hingegen die Verbindung der Gesamtheit, die den Kern der schuldnerischen Tätigkeit ausmacht, zur Insolvenzmasse trennen und geht damit über eine bloße einzelgegenstandsbezogene Wirkung hinaus.216) Da es damit an einem wesensgebenden Merkmal der echten Freigabe fehlt, kann hier auch nur von einer „Art ‚Freigabe‘“217) oder einer „freigabeähnliche[n] Erklärung eigenen Typs“218) gesprochen werden.
100 Der Gesetzgeber legt darüber hinaus ausdrücklich dar, dass die Freigabe von Vermögen aus dem Insolvenzbeschlag bereits anerkannt sei. § 35 Abs. 2 InsO komme diesbezüglich zunächst klarstellende Wirkung zu.219) Nimmt man an, dass die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO nur den Neuerwerb erfasst, ist zumindest fraglich, warum der Gesetzgeber noch einmal feststellt, dass der Insolvenzverwalter „Vermögensbestandteile aus dem Insolvenzbeschlag zugunsten des Schuldners freigeben [kann]“220). Hätte die Norm keine Auswirkungen auf das massebeschlagene Betriebsvermögen, käme § 35 Abs. 2 InsO auch keine klarstellende Wirkung zu. Letzteres deutet darauf hin, dass § 35 Abs. 2 InsO so zu verstehen ist, dass auch bereits vom Insolvenzbeschlag umfasste Gegenstände von der Freigabe der selbständigen Tätigkeit erfasst werden.
101 Entscheidende Hinweise auf eine umfassende Wirkung der Freigabe der selbständigen Tätigkeit finden sich ferner in der Gegenäußerung der Bundesregierung auf die Stellungnahme des Bundesrats.221) Hier nimmt die Bundesregierung an, dass eine „Gesamtheit von Gegenständen und Werten“222) durch die Erklärung nach § 35 Abs. 2 S. 1 InsO übergeht. Da die „echte Freigabe“ einem strengen Spezialitätsprinzip unterliegt, kann diese Äußerung nur so verstanden werden, dass bereits durch die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO die Verfügungsmacht auch bezüglich sämtlicher Betriebsgegenstände zurück an den Insolvenzschuldner fällt.223)
102 Trotz anfänglicher Zweifel wird damit aus den Aussagen der Gesetzesbegründung deutlich, dass die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO nicht nur eine bloße den Neuerwerb freigebende Haftungserklärung ist. Sie soll vielmehr auch den Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das entsprechende Sachvermögen ___________ 215) 216) 217) 218) 219) 220) 221) 222) 223)
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Ahrens, NZI 2007, 622, 624; Jaeger-Windel, § 80 Rn. 38. HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 69 u. Rn. 77. BT-Drucks. 16/3227, S. 17. BT-Drucks. 16/3227, S. 26. BT-Drucks. 16/3227, S. 17. BT-Drucks. 16/3227, S. 17. BT-Drucks. 16/3227, S. 26 f. BT-Drucks. 16/3227, S. 26 f. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 410 f.; Urt. v. 22.5.2014 – IX ZR 136/13, NZI 2014, 614, 616; BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 621; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47e; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 53.
IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung
auf den Schuldner zur Rechtsfolge haben. Mithin bedarf es keiner eigenen „echten Freigabe“ in Bezug auf die einzelnen Vermögensbestandteile mehr.224) Die Gesetzesbegründung spricht dafür, auch vom Insolvenzbeschlag erfasste Ge- 103 genstände von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO zu umfassen.
(4) Zweck: Schädigung der Masse zugunsten des Schuldners? Wie bereits erläutert, verfolgt § 35 Abs. 2 InsO zwei unterschiedliche Ziele. Zum 104 einen soll die Insolvenzmasse vor der Begründung von Masseverbindlichkeiten durch die selbständige Tätigkeit des Schuldners geschützt werden. Zum anderen soll es dem Schuldner ermöglicht werden, seine selbständige Tätigkeit fortzuführen.225)
(a) Förderung der selbständigen Tätigkeit Richtigerweise verlangt § 35 Abs. 2 InsO keinesfalls eine ungerechtfertigte Bevor- 105 teilung des Schuldners zulasten der Masse.226) Dem steht vielmehr der Zweck des Schutzes der Insolvenzmasse entgegen. Doch besteht ein Unterschied zwischen einer Bevorteilung und einer bloßen Ermöglichung der selbständigen Tätigkeit. Zur Fortführung seiner selbständigen Tätigkeit im Rahmen eines funktionsfähigen Betriebs wird der Schuldner vielfach auch vom Insolvenzbeschlag erfasste Betriebsmittel benötigen.227) Die Fortführung einer Zahnarztpraxis ist beispielsweise ohne Zahnarztstuhl, Bohrer und Dentalinstrumente schwer vorstellbar. Ebenso wird ein Fuhrunternehmer nicht ohne seinen Fuhrpark selbständig tätig sein können. Hiergegen wird vielfach eingewandt, dass bereits nach § 811 Abs. 1 Nr. 5 und 106 Nr. 7 ZPO die für die Erwerbstätigkeit und Berufsausübung erforderlichen Gegenstände zumeist pfändungsfrei sind und damit nach § 36 Abs. 1 S. 1 InsO nicht dem Insolvenzbeschlag unterfallen.228) Gegenstände, die nicht zur Insolvenzmasse gehören, könne der Insolvenzverwalter jedoch auch nicht an den Schuldner freigeben, sodass sich der Erklärungsgehalt auf die Haftung der Insolvenzmasse in Bezug auf zukünftige Verbindlichkeiten beschränke.229) ___________ 224) A. A. etwa Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 410 ff.; Undritz, FS Runkel, 449, 457 ff.; FK-InsOBornemann, § 35 Rn. 53; ähnlich skeptisch Foerste, Insolvenzrecht, Rn. 171c. 225) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. Ausführlich bereits unter Rn. 22 ff. 226) Diese Gefahr sieht Menn, ZVI 2011, 197, 202. 227) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 69. 228) BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, ZInsO 2011, 2339, 2341; Undritz, FS Runkel, 449, 458; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 827; Haberzettl, NZI 2017, 474, 478; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 116. Unklar an dieser Stelle Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/ Kexel, § 35 Rn. 24, die zwar von einer Freigabe von Gegenständen über den bloßen Neuerwerb hinaus ausgehen, die enthaftende Wirkung sodann aber auf das den Pfändungsschutzbestimmungen unterfallende Vermögen beschränken. 229) BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, ZInsO 2011, 2339, 2341; Undritz, FS Runkel, 449, 458; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 827.
37
B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
107 Zuzugeben ist, dass vielfach eine Überschneidung zwischen dem für die selbständige Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO erforderlichen Vermögen und den nach § 36 Abs. 1 S. 1 InsO in Verbindung mit § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO geschützten Gegenständen vorliegen wird. Jedoch kann daraus nicht pauschal geschlossen werden, dass für die Fälle, bei denen ein über den Pfändungsschutz hinausgehendes Betriebsvermögen vorhanden ist, keine Freigabewirkung gegeben sein soll.230) Dass solche Fälle vorstellbar sind, zeigt der Schutzumfang von § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO. Die Norm schützt nämlich keine kapitalistische Produktionsweise, bei der der Einsatz der eigenen Tätigkeit hinter dem Kapitaleinsatz zurücktritt.231) § 35 Abs. 2 InsO erfasst hingegen auch selbständige Tätigkeiten, die nicht durch die persönliche körperliche oder geistige Leistung geprägt sind, sondern auf einer kapitalistischen Produktionsweise beruhen. Für diese Fälle erfordert der Zweck, dem Schuldner seine selbständige Tätigkeit zu ermöglichen, durchaus eine Freigabe von Betriebsvermögen aus der Insolvenzmasse.232) Insbesondere für selbständige Tätigkeiten, für die sich der Schuldner der Hilfe von Arbeitnehmern bedient, muss diese Annahme gelten. Der Erwerb ist damit nicht alleine auf die persönliche Leistung des Schuldners zurückzuführen, sondern er lässt auf eine kapitalistische Produktionsweise schließen, sodass er nicht von § 811 Abs. 1 Nr. 5, Nr. 7 ZPO geschützt ist.
108 Darüber hinaus schützen § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO nur die für eine Fortführung der Tätigkeit notwendigen Gegenstände, wohingegen § 35 Abs. 2 InsO auch die nur nützlichen Gegenstände erfasst, die für die selbständige Tätigkeit sinnvoll sind.233) Die vereinzelt vorgeschlagene echte Freigabe des Betriebsvermögens gegen Entgelt ist wenig praktikabel, da es häufig an einer Finanzierung durch den Schuldner scheitern wird.234)
109 Zudem käme selbst bei einer vollkommenen Überschneidung des Betriebsvermögens mit § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO der Freigabe eine Rechtsfolge zu. Wird die Tätigkeit eingestellt, entfällt der Pfändungsschutz und die Vermögensgegenstände können zur Masse gezogen werden.235) Kommt der Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO hingegen eine freigebende Wirkung zu, würden die Gegenstände trotz Aufgabe des Unternehmens beim Schuldner verbleiben und den Neugläubigern als Haftungsmasse dienen.236) Die Verbindung zur Masse wird durch § 35 Abs. 2 InsO ___________ 230) Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1565. 231) Smid, DZWIR 2008, 133, 140; Saenger-Kemper, § 811 Rn. 22; Kindl/Meller-Hannich/WolfKindl, § 811 Rn. 18; Thomas/Putzo-Seiler, § 811 Rn. 27. 232) Smid, DZWIR 2008, 133, 140. 233) Ahrens, KSzW 2012, 303, 306. 234) So aber Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2126. 235) Thomas/Putzo-Seiler, § 811 Rn. 25; a. A. unter Hinweis auf den verfassungsrechtlichen Hintergrund der Vorschrift Ahrens, KSzW 2012, 303, 306. 236) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1565; a. A. ohne nähere Begründung K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 54.
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IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung
getrennt, während § 36 Abs. 1 S. 1 InsO in Verbindung mit § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO nur bedingt eine Pfändung und Verwertung ausschließt. Schließlich überzeugt auch der Einwand aus der Literatur, dass die Ermöglichung des 110 wirtschaftlichen Neuanfangs durch die Restschuldbefreiung gewährleistet ist und es keiner Ergänzung durch die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO bedarf, nicht.237) Die Restschuldbefreiung soll anders als § 35 Abs. 2 InsO dem Schuldner nicht die Wahrnehmung seines verfassungsmäßig garantierten Rechts auf Ausübung einer selbständigen Tätigkeit ermöglichen. Sie soll ihm lediglich ein schuldenfreies Leben als Ausdruck seiner Menschenwürde und seines Persönlichkeitsrechts in Aussicht stellen.238) Um dieses Privileg zu erhalten, muss der Schuldner seinen Erwerbsobliegenheiten nach §§ 287b, 295 InsO nachkommen. Wie er das tut, steht einzig in seinem Ermessen. Auch die Aufnahme oder Fortführung einer selbständigen Tätigkeit ist ein taugliches Mittel, um seine Erwerbsobliegenheit zu erfüllen und die Restschuldbefreiung zu erreichen.239) Die Ausübung einer selbständigen Tätigkeit, die § 35 Abs. 2 InsO ermöglichen möchte, ist demnach eine vorgelagerte Voraussetzung der Restschuldbefreiung und keine Befreiung von Verbindlichkeiten an sich. Sie verdrängt demnach den Förderungs- und Ermöglichungszweck des § 35 Abs. 2 InsO nicht. Der Zweck, die selbständige Tätigkeit des Schuldners zu fördern, spricht demnach 111 für eine Wirkung der Freigabe auch auf Betriebsvermögen.
(b) Schutz der Insolvenzmasse Auch der zweite von § 35 Abs. 2 InsO verfolgte Zweck, die Insolvenzmasse vor 112 Belastungen durch die Fortführung der selbständigen Tätigkeit zu schützen, gebietet entgegen der Ansicht des BFH kein anderes Ergebnis.240) Der BFH argumentiert, dass § 35 Abs. 2 InsO die Masse davor schützen solle, durch die wirtschaftliche Tätigkeit des Schuldners belastet zu werden. Der Abfluss des gewerblichen Vermögens sei jedoch eine solche Masseschmälerung.241) Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, das Argument überzeugt aber für die hier dis- 113 kutierte Frage nicht. Schließlich soll die Masse ausdrücklich nur vor zukünftigen Ansprüchen aus der Tätigkeit des Schuldners geschützt werden. Einen Schutzgedanken, der dem Abfluss von Massegegenständen zum Zweck der Fortführung der ___________ 237) So aber Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 943; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2126. 238) FK-InsO-Ahrens, § 286 Rn. 22. 239) In § 295 Abs. 2 InsO wird die selbständige Tätigkeit ausdrücklich als taugliches Mittel genannt. Für § 287b InsO ist trotz fehlender Nennung ebenfalls anerkannt, dass auch eine selbständige Tätigkeit der Erwerbsobliegenheit genügt; statt aller K. Schmidt-Henning, § 287b Rn. 2, m. w. N. 240) BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, ZInsO 2011, 2339, 2341. 241) BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, ZInsO 2011, 2339, 2341; ebenso Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1246; Haberzettl, NZI 2017, 474, 478.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
gewerblichen Tätigkeit des Schuldners entgegensteht, enthält § 35 Abs. 2 InsO indes nicht. Nur unzureichend berücksichtigt der BFH, indem er isoliert den Zweck des Masseschutzes heranzieht, dass § 35 Abs. 2 InsO auch eine Förderung der selbständigen Tätigkeit des Schuldners anstrebt.242) Hierbei handelt es sich, wie gezeigt, nicht nur um einen untergeordneten Nebenzweck, sondern um einen nach Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht des Schuldners.243)
114 Darüber hinaus ist zum einen auch nicht auszuschließen, dass das Bestandsvermögen zu massebelastenden Kosten führt.244) Indes könnte dem auch mit einer einfachen Freigabe des einzelnen Gegenstandes entgegengewirkt werden.
115 Zum anderen kann durch den Zuschnitt der freizugebenden selbständigen Tätigkeit verhindert werden, dass die Insolvenzmasse zu umfangreich geschmälert wird. So wird in Rechtsprechung und Literatur diskutiert, dass der Insolvenzverwalter entscheiden kann, was der Schuldner zur Ausübung seiner selbständigen Tätigkeit bedarf.245) Dieser vermittelnde Ansatz überzeugt – er ist aber im Licht des Förderungszwecks von § 35 Abs. 2 InsO zu sehen. Der Insolvenzverwalter hat die Bestimmung der Gegenstände, die der selbständigen Tätigkeit gewidmet sind, nach pflichtgemäßem Ermessen vorzunehmen.246) Er hat dabei insbesondere den Förderungszweck zu wahren. Handelt er dem Zweck zuwider, droht aufgrund seines pflichtwidrigen Verhaltens eine Haftung nach § 60 Abs. 1 InsO.
116 Demnach erfordert auch der Zweck des § 35 Abs. 2 InsO, dass die vom Insolvenzbeschlag umfassten Gegenstände, die für die Fortführung der selbständigen Tätigkeit erforderlich sind, in Folge der Freigabeerklärung auf den Schuldner übergehen.
(5) Systematik: Widerspruchsrecht der Gläubiger zum Schutz der Masse 117 Vereinzelt wird § 35 Abs. 2 InsO als Ausnahme zu der von § 35 Abs. 1 Hs. 2 InsO aufgestellten Regel, dass Neuerwerb in die Insolvenzmasse gezogen wird, angesehen.247) Aus diesem systematischen Zusammenhang ergebe sich, dass auch § 35 Abs 2 InsO nur den Neuerwerb in die freigebende Wirkung mit einschließe, sich ___________ 242) 243) 244) 245)
BT-Drucks. 16/3227, S. 17. Siehe zum Rangverhältnis der von § 35 Abs. 2 InsO verfolgten Ziele bereits Rn. 29 ff. Heinze, ZVI 2007, 349, 354 nennt als Beispiel die für ein Fahrzeug anfallende Kfz-Steuer. AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905, 907; Ahrens, NZI 2007, 622, 624 f.; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 260; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 116. Ähnlich Ahrens, KSzW 2012, 303, 307, der dem Schuldner die Entscheidung überlassen möchte, welche Gegenstände der selbständigen Tätigkeit gewidmet sind, dem Insolvenzverwalter aber ein Recht zugesteht, einzelne Gegenstände von der Freigabe auszunehmen. Das Ergebnis wäre jedoch wohl regelmäßig das gleiche. 246) AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905, 907. 247) BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, ZInsO 2011, 2339, 2340; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 114; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 52.
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IV. Allgemeine Rechtsfolgen der Freigabeerklärung
aber nicht auf bereits vorhandenes Bestandsvermögen auswirke.248) Dass die Wirkung von § 35 Abs. 2 InsO sich auf § 35 Abs. 1 Hs. 2 InsO beschränkt, ist jedoch nicht ersichtlich. Vielmehr kann § 35 Abs. 2 InsO als Ausnahme zu § 35 Abs. 1 InsO und den angeordneten Insolvenzbeschlag insgesamt gesehen werden.249) In der Systematik des § 35 InsO ist zu beachten, dass den Gläubigern ein Wider- 118 spruchsrecht im Hinblick auf die Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters einräumt wird. Nach § 35 Abs. 2 S. 3 InsO kann der Gläubigerausschuss beziehungsweise die Gläubigerversammlung beantragen, dass die Freigabe durch den Insolvenzverwalter für unwirksam erklärt wird. Ein solches Widerspruchsrecht der Gläubiger ist nur sinnvoll, wenn es darum geht, ihnen den Zugriff auf die Masse garantieren zu wollen.250) Eine Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO wird der Insolvenzverwalter nur aussprechen, wenn aus einer Fortführung der selbständigen Tätigkeit keine Vorteile für die Masse zu erwarten sind.251) Da der Insolvenzverwalter im Gegensatz zu den Gläubigern regelmäßig eine wesentlich bessere Einschätzung zur Wirtschaftlichkeit des Unternehmens abgeben kann, bliebe kaum ein Fall denkbar, in dem die Gläubiger zu einem anderen Ergebnis kommen und ihr Widerspruchsrecht ausüben würden. Ein solch einschneidendes Gläubigerrecht – ursprünglich geplant und vom Bundesrat gefordert war sogar ein noch strengeres vorheriges Zustimmungserfordernis durch die Gläubigerorgane252) – ist nur gerechtfertigt, wenn es um den Zusammenhalt der Insolvenzmasse und damit der Haftungsmasse für die Gläubiger geht.253) Ferner steht die Widerspruchsregelung des § 35 Abs. 2 S. 3 InsO in Konflikt mit den 119 Stimmen, die anstelle einer umfassenden Freigabewirkung des § 35 Abs. 2 InsO auf die Möglichkeit der echten Freigabe von Einzelgegenständen durch den Insolvenzverwalter hinweisen.254) Lehnt man eine insolvenzbeschlagsaufhebende Wirkung des § 35 Abs. 2 InsO ab, verbleibt dem Insolvenzverwalter lediglich die Möglichkeit der „echten“ Freigabe von einzelnen Vermögensgegenständen. Zahlreiche Stimmen in der Literatur verweisen darauf, dass der Insolvenzverwalter in einzelnen „echten“ Freigabeerklärungen entscheiden könne, welche Einzelgegenstände dem ___________ 248) BFH, Urt. v. 8.9.2011 – II R 54/10, ZInsO 2011, 2339, 2340; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 114; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 52. 249) Siehe dazu bereits oben unter Rn. 89 ff. 250) AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905, 907. 251) Ehlers, ZInsO 2014, 53, 55 ff.; Jaeger-Windel, § 80 Rn. 33; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 97; Bartels, KTS 2012, 381, 392. 252) BR-Drucks. 549/06, S. 3 f.; BT-Drucks. 16/3227, S. 23 f.; Andres, NZI 2006, 198, 199 f. 253) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 78. 254) Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 202; Smid, DZWIR 2008, 133, 141; Kübler/ Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 28; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 19; UhlenbruckHirte, § 35 Rn. 73.
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B. Die Grundlagen zur Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO
Schuldner für seine selbständige Tätigkeit zur Verfügung zu stellen seien.255) Neben dem Einwand, dass diese Handhabung aufgrund der Vielzahl von Einzelerklärungen unpraktikabel ist, muss sich diese Ansicht entgegenhalten lassen, dass sie im Widerspruch zur Systematik des § 35 Abs. 2 InsO steht.256) Nach § 35 Abs. 2 S. 3 InsO kann der Gläubigerausschuss beziehungsweise die Gläubigerversammlung beantragen, dass die Erklärung des Insolvenzverwalters für unwirksam erklärt wird. Geht man davon aus, dass § 35 Abs. 2 InsO lediglich eine Haftungserklärung ohne Auswirkungen auf die dem Insolvenzbeschlag unterfallenden Gegenstände ist, kann der Gläubigerwiderspruch nach S. 3 demnach auch nur die Wirkungen der Haftungserklärung umkehren. Auf die durch eine „echte“ Freigabe aus dem Insolvenzbeschlag entfallenden Gegenstände wirkt sich die Erklärung nicht aus. Sie sind auf Dauer verloren, da eine „echte“ Freigabe nach allgemeiner Ansicht nicht widerrufen werden kann und bedingungsfeindlich ist.257) Eine Anwendung des Widerspruchsrechts der Gläubiger auch auf die „echte“ Freigabe gibt der Wortlaut des § 35 Abs. 2 S. 3 InsO nicht her. Dass so aber die unternehmensbezogenen Massegegenstände dauerhaft gegen den Willen der Gläubiger aus der Insolvenzmasse entfallen, ist nicht mit dem von § 35 Abs. 2 S. 3 InsO verfolgten Gläubigerschutz vereinbar.258) Würde der Widerspruch nur die Wirkungen der Haftungserklärung erfassen, wären die Gläubiger in Bezug auf eine masseschmälernde „echte“ Freigabe durch den Insolvenzverwalter schutzlos gestellt.
cc) Zwischenergebnis 120 Die besseren Argumente sprechen demnach für eine den Insolvenzbeschlag aufhebende Wirkung der Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO. Der Schuldner erhält durch die Freigabeerklärung das zur selbständigen Tätigkeit erforderliche Vermögen aus der Insolvenzmasse zur freien Verfügung zurück.
121 Trotz des unklaren Wortlauts ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, dass der Schuldner die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die mit der selbständigen Tätigkeit verbundenen materiellen Betriebsmittel zurückerhalten soll. Zwar wird so die Masse geschmälert und der legislative Zweck des Masseschutzes eingeschränkt, jedoch ist diese Masseschmälerung durch die ebenfalls verfolgte Ermöglichungsabsicht gerechtfertigt. Bestätigt wird dieses Verständnis durch das Widerspruchsrecht der Gläubiger aus § 35 Abs. 2 S. 3 InsO, was zur Wahrung der Gläubigerinteressen beiträgt. ___________ 255) Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 24; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 53; UhlenbruckHirte, § 35 Rn. 100; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1104; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2126; Menn, ZVI 2011, 197, 202; Haberzettl, NZI 2017, 474, 478. 256) Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1567. 257) Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 202; Smid, DZWIR 2008, 133, 141; Kübler/ Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 28; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 19; UhlenbruckHirte, § 35 Rn. 73; HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 52. 258) BT-Drucks. 16/3227, S. 17.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis Um arbeitsrechtliche Konflikte der Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 122 Abs. 2 InsO mit den arbeitsrechtlichen und insolvenzrechtlichen Grundsätzen festzustellen, muss zunächst auf die allgemeinen Auswirkungen der Insolvenzeröffnung auf das Arbeitsverhältnis eingegangen werden (dazu I.), bevor ein Blick auf die Auswirkungen der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO auf die Arbeitsverhältnisse geworfen wird (dazu II.).
I.
Wirkung der Insolvenzeröffnung auf das Arbeitsverhältnis
Zunächst soll kurz der Rahmen abgesteckt werden, in dem sich das Arbeitsverhältnis 123 bei Insolvenz des Arbeitgebers befindet. Dabei wird darauf eingegangen, welche Position der Insolvenzverwalter in Bezug auf das Arbeitsverhältnis einnimmt und welche Ansprüche den Arbeitnehmern zustehen.
1.
Der Insolvenzverwalter in der Arbeitgeberstellung
Die Insolvenzeröffnung über das Vermögen des Schuldners wirkt sich neben zahl- 124 reichen anderen Rechtsfolgen auch auf das Vertragsverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber aus.
a) Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens Auch bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann die Bestellung eines vor- 125 läufigen Insolvenzverwalters Auswirkungen auf die bestehenden Arbeitsverhältnisse haben. Nach Beantragung des Insolvenzverfahrens aber vor dessen Eröffnung hängt die Frage des Verhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Insolvenzverwalter davon ab, welche Befugnisse das Amtsgericht als Insolvenzgericht dem vorläufigen Insolvenzverwalter zugewiesen hat. Einem vorläufigen Insolvenzverwalter, dem das Insolvenzgericht keine Kompeten- 126 zen zugewiesen hat, kommt keinerlei arbeitsrechtliche Relevanz zu. Der Insolvenzverwalter ist lediglich ein vom Gericht eingesetzter Sachverständiger oder Berater, dem keine Befugnis zur Prozessführung oder zur Verpflichtung der zukünftigen Insolvenzmasse zukommt.259) Der Schuldner behält die Arbeitgeberstellung inne und verbleibt Prozesspartei bei bereits anhängigen Verfahren.260) Anders verhält es sich mit einem vorläufigen Insolvenzverwalter, der vom Insol- 127 venzgericht nach § 22 Abs. 1 InsO mit Verwaltungs- und Verfügungsbefugnissen über das Vermögen des Schuldners ausgestattet ist. Dieser „starke“ vorläufige In___________ 259) Uhlenbruck-Vallender, § 22 Rn. 6. 260) Uhlenbruck-Ries/Zobel, § 22 Rn. 65.
43
C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
solvenzverwalter übernimmt auch die Arbeitgeberfunktion des Schuldners.261) Der Übergang der Arbeitgeberfunktion führt dazu, dass der Schuldner zwar Vertragspartner der Arbeitnehmer bleibt, der Insolvenzverwalter aber die massebezogenen Rechte und Pflichten des Insolvenzschuldners übernimmt.262) Ihm kommt fortan das Recht zu Neueinstellungen vorzunehmen und Kündigungen auszusprechen. Daneben übt das Direktionsrecht aus, ebenso treffen ihn aber auch Schutz- und Fürsorgepflichten und er ist an Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats gebunden.263) Auch kommt einzig ihm in einem Kündigungsschutzprozess die Passivlegitimation zu.264) Bereits anhängige Verfahren werden nach § 240 S. 2 ZPO unterbrochen und können nach § 240 S. 2 ZPO in Verbindung mit §§ 24 Abs. 2, 86 Abs. 1 Nr. 3 InsO fortgeführt werden.
128 Schließlich ist hiervon der vorläufige Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt abzugrenzen. Dem Schuldner wurde demnach vom Insolvenzgericht nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO in Verbindung mit § 22 Abs. 2 S. 1 InsO nur auferlegt, dass Verfügungen ohne die Mitwirkung des Insolvenzverwalters unwirksam sind. Der Insolvenzverwalter tritt dann nicht in die Arbeitgeberstellung des Schuldners ein, ihm kommt lediglich ein Zustimmungsvorbehalt zu allen das Schuldnervermögen betreffenden Verfügungen des Schuldners zu.265) Eine das Arbeitsverhältnis betreffende Verfügung des Schuldners ohne Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters ist dann ipso iure nichtig.266)
129 Im Einzelnen kann das Insolvenzgericht jedoch durch gerichtliche Zuweisung von Einzelkompetenzen nach § 22 Abs. 2 S. 1 InsO etwas anderes bestimmen.267) Hieraus folgt jedoch nicht zwingend, dass der vorläufige Insolvenzverwalter vollständig in die Arbeitgeberstellung eintritt. So kann etwa das Insolvenzgericht anordnen, dass der vorläufige Insolvenzverwalter lediglich zur Kündigung berechtigt ist, ein Eintritt in die Arbeitgeberstellung jedoch nicht erfolgt.268) Der Schuldner verbleibt in der Arbeitgeberposition. Auch bei einer durch den Insolvenzverwalter ausgesprochenen Kündigung ist dann einzig der Insolvenzschuldner passivlegitimiert und richtiger Klagegegner für eine Kündigungsschutzklage.269) ___________ 261) K. Schmidt-Hölzle, § 22 Rn. 16. 262) Uhlenbruck-Ries/Zobel, § 22 Rn. 62 f.; Nerlich/Römermann-Mönning, § 22 Rn. 103 ff.; ErfKMüller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37 f. 263) Ausführlich Nerlich/Römermann-Mönning, § 22 Rn. 103 ff. und Jaeger-Windel, § 80 Rn. 109 u. Rn. 112 f. 264) Gottwald-Vuia, § 14 Rn. 113 f.; ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. 265) BGH, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, NZI 2003, 509, 510 f.; Beck/Depré-S. Beck/Wimmer, § 5 Rn. 142. 266) BGH, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, NZI 2003, 509, 510 f.; Braun-Böhm, § 22 Rn. 34. 267) Beck/Depré-S. Beck/Wimmer, § 5 Rn. 159 ff. 268) Uhlenbruck-Ries/Zobel, § 22 Rn. 64 f. 269) Uhlenbruck-Ries/Zobel, § 22 Rn. 65.
44
I. Wirkung der Insolvenzeröffnung auf das Arbeitsverhältnis
b) Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens wirkt sich nicht auf den Bestand eines be- 130 stehenden Arbeitsverhältnisses aus (vgl. § 108 Abs. 1 S. 1 InsO).270) Es besteht mit dem gleichen Inhalt fort, den es vor Eröffnung der Insolvenz hatte.271) Die allgemein gültigen Vorschriften des Arbeitsrechts (z. B. das KSchG, § 613a BGB) behalten zumindest grundsätzlich auch im Insolvenzverfahren ihre Geltung.272) Zum Teil werden sie durch die Insolvenzordnung aber modifiziert und zugunsten eines geordneten Verfahrens eingeschränkt.273) Vertragspartner bleibt aber auch hier nach wie vor der Schuldner.274) Die bedeutendste Veränderung, die durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens 131 eintritt, ist der Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners auf den Insolvenzverwalter nach § 80 Abs. 1 InsO. Damit einher geht auch der Übergang der Arbeitgeberstellung in Bezug auf die bereits bestehenden Arbeitsverhältnisse.275) Ebenso wie beim „starken“ vorläufigen Verwalter übernimmt der Insolvenzverwalter spätestens ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens die massebezogenen Rechte und Pflichten des Insolvenzschuldners auch in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse.276) Lediglich im Rahmen der Eigenverwaltung, wenn der Schuldner berechtigt ist, un- 132 ter der Aufsicht eines Sachwalters die Insolvenzmasse zu verwalten und über sie zu verfügen (§§ 270 ff. InsO), verbleiben die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis und die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis beim Schuldner.277)
2.
Die Arbeitnehmeransprüche in der Insolvenz
Die Insolvenz des Arbeitgebers trifft den Arbeitnehmer insbesondere mit Blick auf 133 seine Vergütungsansprüche aus dem Arbeitsverhältnis. So bestehen häufig noch ausstehende Forderungen aus der Zeit vor der Insolvenzeröffnung. Auch nachdem ___________ 270) ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. 271) Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, Einführung Rn. 147; ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. 272) ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. 273) ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. 274) GmS-OGB, Beschl. v. 27.9.2010 – GMS-OGB 1/09 (BGH), NJW 2011, 1211, 1213. 275) GmS-OGB, Beschl. v. 27.9.2010 – GMS-OGB 1/09 (BGH), NJW 2011, 1211, 1213; BAG, Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1217; Urt. v. 15.1.2013 – 9 AZR 448/11, NZI 2013, 406, 407. 276) BAG, Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1217; Urt. v. 15.1.2013 – 9 AZR 448/11, NZI 2013, 406, 407; Jaeger-Windel, § 80 Rn. 108; Mohrbutter/Ringstmeier-Plössner, Kap. 29 Rn. 11 u. Rn. 18; K. Schmidt-Sternal, § 80 Rn. 67; ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. 277) Uhlenbruck-Mock, § 80 Rn. 22.
45
C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
die Insolvenz eröffnet wurde und der Insolvenzverwalter in die Arbeitgeberposition eingetreten ist, bestehen insolvenzrechtliche Besonderheiten in Bezug auf den Vergütungsanspruch des Arbeitnehmers.278) Für die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO sind diese grundsätzlich von der Insolvenzordnung vorgesehen Rechtsfolgen bedeutsam, da zu untersuchen ist, wie sich eine Freigabe des Arbeitsverhältnisses auf die Ansprüche der Arbeitnehmer auswirkt.
a) Ansprüche vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens 134 Nach § 108 Abs. 3 InsO sind alle Ansprüche von Arbeitnehmern gegen den Arbeitgeber, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, Insolvenzforderungen. Die Arbeitnehmer sind Insolvenzgläubiger im Sinne des § 38 InsO. Mit vereinzelten Ausnahmen sind sie darauf verwiesen, diese Forderungen zur Insolvenztabelle anzumelden und auf eine quotale Befriedigung zu hoffen.279)
135 Um eine untragbare Härte zu vermeiden, besteht neben dem originären Anspruch des Arbeitnehmers auf Arbeitsentgelt häufig ein Anspruch auf Insolvenzgeld nach §§ 165 ff. SGB III für noch ausstehende Forderungen gegen die Bundesagentur für Arbeit.280) Der Anspruch ist beschränkt auf Ausfälle in Bezug auf die Leistung des Arbeitsentgelts durch den Schuldner, die in einem Zeitraum von drei Monaten vor einem der in § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB III definierten Insolvenzereignisse entstanden sind. Als taugliches Insolvenzereignis gilt dabei insbesondere die Insolvenzeröffnung (§ 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB III).281) Liegen mehrere Insolvenzereignisse gleichzeitig vor, ist das als erstes auftretende maßgeblich.282) Beziehen die Arbeitnehmer Insolvenzgeld, gehen die Lohnansprüche der Arbeitnehmer nach § 169 S. 1 SGB III im Rang einer Insolvenzforderung gegen die Insolvenzmasse auf die Bundesagentur für Arbeit über.
136 Im Sonderfall des „starken“ vorläufigen Insolvenzverwalters entstehen nach § 55 Abs. 2 InsO bevorzugt zu befriedigende Ansprüche gegen die Insolvenzmasse in Form von Masseverbindlichkeiten, wenn der „starke“ vorläufige Insolvenzverwalter die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers in Anspruch nimmt.283)
___________ 278) Siehe dazu ausführlich Zwanziger, AuR 2013, 199, 199 ff. 279) Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, § 108 Rn. 16; Däubler, et al.-Schulze, InsO § 55 Rn. 47. 280) Zwanziger, AuR 2013, 199, 202. Zu den Besonderheiten des Insolvenzgelds in Zusammenhang mit dem freigegebenen Arbeitsverhältnis siehe weiter unten unter Rn. 517 ff. 281) Däubler, et al.-Schulze, InsO § 55 Rn. 47. 282) Mohrbutter/Ringstmeier-Plössner, Kap. 29 Rn. 217. 283) ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 41a; Zwanziger, AuR 2013, 199, 201.
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II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
b) Ansprüche nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens Der Insolvenzeröffnung kommt für die Arbeitnehmerforderungen eine Zäsurwir- 137 kung zu.284) Nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO entstehen für Ansprüche aus Verträgen nur dann bevorzugt zu befriedigende Masseverbindlichkeiten, soweit die Erfüllung der Verträge zur Insolvenzmasse vom Insolvenzverwalter verlangt wird oder soweit die Erfüllung für die Zeit nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgen muss. Letzteres ist bei Arbeitsverhältnissen gemäß § 108 Abs. 1 S. 1 InsO der Fall. Damit handelt es sich bei Arbeitsverhältnissen um sogenannte oktroyierte, das heißt aufgezwungene Masseverbindlichkeiten.285) Der Insolvenzverwalter hat in diesem Fall kein Wahlrecht (wie sonst nach § 103 Abs. 1 InsO), ob er die Erfüllung des Vertrages zugunsten und zulasten der Insolvenzmasse verlangt. Ihm bleibt grundsätzlich nur die Möglichkeit der Kündigung unter den vereinfachten Voraussetzungen des § 113 InsO, um die Masse zumindest für den Zeitraum nach Ablauf der Kündigungsfrist zu entlasten.286) In der Zwischenzeit wird die Insolvenzmasse mit Masseverbindlichkeiten belastet, ohne dass der Insolvenzverwalter etwas dagegen unternehmen kann.
II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses An dieser Stelle knüpft die Diskussion an, ob auch Arbeitsverhältnisse von der 138 Freigabewirkung der Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden. Bejaht man diese Frage, würde durch die Freigabe die Arbeitgeberfunktion mit sofortiger Wirkung an den Insolvenzschuldner zurückfallen und die Insolvenzmasse würde nicht weiter mit Forderungen aus den Arbeitsverhältnissen belastet.
1.
Nach Freigabe neu begründete Schuldverhältnisse
Begründet der Schuldner nach Freigabe seiner selbständigen Tätigkeit neue Schuld- 139 verhältnisse, bestehen diese nur noch mit Wirkung für und gegen den Schuldner. Da es sich bei den begründeten Ansprüchen um Neuverbindlichkeiten handelt, haftet nicht mehr die Insolvenzmasse, sondern einzig das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners einschließlich des Neuerwerbs.287)
___________ 284) Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, § 108 Rn. 9. 285) Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 147; Gottwald-Klopp/Kluth/Wimmer, § 56 Rn. 21; Braun-Kroth, § 90 Rn. 6; Beck/Depré-Ringstmeier, § 12 Rn. 3; Beck/Depré-Ringstmeier, § 12 Rn. 3. 286) Kritik dazu bei Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 3; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 147; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 287) Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 262; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 49; ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37c.
47
C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
140 Diese Rechtsfolge überzeugt im Hinblick auf den bezweckten Masseschutz und ist ein Kerngedanke der Neuregelung des § 35 Abs. 2 InsO. Könnte der Schuldner durch das Eingehen von neuen Arbeitsverhältnissen die Insolvenzmasse weiter belasten, während zugleich der Neuerwerb ins insolvenzfreie Vermögen fällt, würde die freigegebene Tätigkeit vollkommen zulasten der Insolvenzmasse ausgeübt.288) Ferner besteht für die neuen Vertragspartner aufgrund der Bekanntmachung der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 3 S. 2 InsO durch das Insolvenzgericht kein schutzwürdiges Vertrauen im Hinblick auf eine Haftung der Masse.
2.
Übergang der Arbeitgeberfunktion durch die Freigabeerklärung
141 In Bezug auf bereits bestehende Dauerschuldverhältnisse und insbesondere Arbeitsverhältnisse ist denkbar, dass auch sie von der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden. Die Arbeitgeberfunktion würde dann vom Insolvenzverwalter zurück an den Schuldner fallen. Der Übergang der Arbeitgeberfunktion hätte zur Folge, dass fortan nicht mehr die Insolvenzmasse für die aus den Arbeitsverhältnissen begründeten Ansprüche nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 S. 1 InsO haftet.289) Als Haftungsmasse für die Ansprüche der Arbeitnehmer stünde sodann, wie bei neu abgeschlossenen Verträgen, nur das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners und der Neuerwerb zur Verfügung.
142 Lehnt man hingegen einen Rückfall der Arbeitgeberfunktion auf den Schuldner durch die Freigabe ab, blieben die Arbeitsverhältnisse weiter mit Wirkung für und gegen die Insolvenzmasse bestehen. Der Insolvenzverwalter wäre weiter Inhaber der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis und die Arbeitnehmeransprüche entstünden nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO als bevorzugt zu befriedigende Masseansprüche zulasten der Insolvenzmasse. Um sich von den Arbeitsverhältnissen zu lösen und die Insolvenzmasse vor einer weiteren Belastung zu schützen, wäre der Insolvenzverwalter zur Kündigung unter den vereinfachten Voraussetzungen des § 113 S. 1 InsO und gegebenenfalls zu einer Freistellung der Arbeitnehmer von ihrer Arbeitsleistung gezwungen.290)
143 Zur Frage, welchem der beiden Wege zu folgen ist, haben sich zahlreiche Stimmen in Rechtsprechung und Literatur geäußert, die zunächst dargestellt werden sollen. Schließlich soll im Rahmen einer Stellungnahme die überzeugendere Ansicht herausgearbeitet werden. ___________ 288) Heinze, ZVI 2007, 349, 354. 289) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 410 ff.; BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 324 ff.; LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1941. 290) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 2 f.; Andres, NZI 2012, 413, 413.
48
II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
a) Rechtsprechung aa) BAG-Rechtsprechung zur Rechtslage vor Einführung des § 35 Abs. 2 InsO Unter der früheren Rechtslage hatte sich das BAG bereits mit den Auswirkungen 144 einer „echten“ Freigabe auf die zulasten der Masse geschlossenen Arbeitsverhältnisse zu beschäftigen.291) Unter § 35 InsO aF, das heißt vor Einführung der Abs. 2 und 3 und vor der Mög- 145 lichkeit einer Unternehmensfreigabe, ging das BAG davon aus, dass Arbeitsverhältnisse nicht Teil einer „echten“ Freigabe sein können. Eine einseitige „echte“ Freigabe könne nicht zweiseitig bindende Verträge erfassen.292) Arbeitsverträge würden nicht nur zugunsten der Masse, sondern auch zu deren Lasten bestehen.293) Vielmehr bedürfe es einer Zustimmung des Arbeitnehmers für den Übergang des Arbeitsverhältnisses.294) Ein Übergang könne sich einzig aus einer (gegebenenfalls entsprechenden) Anwendung des § 613a BGB ergeben295), soweit dessen Voraussetzungen in Bezug auf einen formwahrenden Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils als Einheit im Sinne des § 613a Abs. 1 S. 1 BGB durch die Freigabe von Einzelgegenständen gegeben seien.296) Dann bestehe jedoch auch ein Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers nach § 613a Abs. 4 BGB.297)
bb) OLG Dresden: Keine Auswirkungen der Freigabe auf Vertragsverhältnisse Das OLG Dresden traf, soweit ersichtlich, die erste obergerichtliche Entscheidung 146 zu der Frage, ob unter Anwendung des reformierten § 35 InsO mit der Einführung der Unternehmensfreigabe nach Abs. 2 auch Dauerschuldverhältnisse von der Freigabe durch den Insolvenzverwalter umfasst sein sollen.298) Zwar hatte die Ent-
___________ 291) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1127 ff.; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1215 ff. 292) BAG, Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218. 293) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1129; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218. 294) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1129; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218. 295) Auf die Problematik der Anwendbarkeit des § 613a BGB wird im Verlauf dieser Arbeit noch eingegangen. Siehe dazu ausführlich Rn. 352 ff. 296) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1129 f.; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218. 297) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1130; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218. 298) OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406.
49
C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
scheidung den Übergang eines Mietverhältnisses zum Inhalt, jedoch können die getroffenen Aussagen für Dauerschuldverhältnisse verallgemeinert werden.
147 In dieser Entscheidung hatte das OLG Dresden zu klären, ob der Vermieter von Räumlichkeiten einer insolventen Autoreparaturwerkstatt Ansprüche auf Zahlung der Miete gegen die Insolvenzmasse hat. Dieser Frage kam grundlegende Bedeutung zu, nachdem der Insolvenzverwalter das Vermögen des Schuldners aus seiner freiberuflichen Tätigkeit als Automechaniker nach § 35 Abs. 2 InsO freigegeben hatte.
148 Das OLG Dresden bejahte den Anspruch auf Mietzahlung gegen die Insolvenzmasse. § 35 Abs. 2 S. 1 InsO betreffe nur den Neuerwerb, nicht aber bestehende Vertragsverhältnisse.299) Zwar gehe der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung davon aus, dass § 35 Abs. 2 S. 1 InsO wie „eine Art ‚Freigabe‘“300) wirke und auch die zur wirtschaftlichen Tätigkeit gehörenden Vertragsverhältnisse erfasse, diese Ansicht finde jedoch im Wortlaut der Norm keinen hinreichenden Ausdruck.301) Vielmehr wolle der Gesetzgeber nicht von den in §§ 109 ff. InsO getroffenen Regeln abweichen, die den Umgang mit gegenseitigen Verträgen hinreichend reglementierten. Das würde auch durch den Verweis der Gesetzesbegründung auf § 109 Abs. 1 S. 2 InsO deutlich. Zudem nähmen §§ 103 ff. InsO einen Interessenausgleich vor, der nicht unterlaufen werden dürfe.302)
149 Auch der Zweck des § 35 Abs. 2 S. 1 InsO spreche nicht dafür, bestehende Vertragsverhältnisse von der Freigabeerklärung zu erfassen.303) Ziel sei es, Klarheit darüber zu schaffen, welche Vermögenswerte für Verbindlichkeiten haften, die durch den Schuldner im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet werden.304) Ab der Freigabeerklärung stehe hierfür nur der Neuerwerb, der im Rahmen der wirtschaftlichen Tätigkeit erwirtschaftet werde, zur Verfügung. Es sei gerade nicht das erklärte Ziel, dem Schuldner seine selbständige Tätigkeit zu erleichtern und „Starthilfe“ zu geben.305)
150 Demnach kommt das OLG Dresden zu dem Ergebnis, dass die Erklärung nach § 35 Abs. 2 S. 1 InsO nur das vom Schuldner nach der Freigabe erwirtschaftete Vermögen betrifft, nicht aber die bereits bestehenden Dauerschuldverhältnisse.
___________ 299) 300) 301) 302) 303) 304) 305)
50
OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406, Ziff. 2. BT-DruckS. 16/3227, S. 17. OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406, Ziff. 2 b) aa). OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406, Ziff. 2 b) bb) (3). OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406, Ziff. 2 b) bb). OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406, Ziff. 2 b) aa). OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406, Ziff. 2 b) (2).
II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
cc) BGH: Umfassende Wirkung der Freigabe auch auf Vertragsverhältnisse Die gegen das Urteil des OLG Dresden eingelegte Revision hatte beim BGH Er- 151 folg. Mit seiner Entscheidung vom 9. Februar 2012306) betrat der BGH den Weg zu einer neuen Rechtsprechung der Bundesgerichte, indem er der Revision gegen das oben skizzierte Urteil des OLG Dresden stattgab. Der BGH argumentierte, aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich, dass der Ge- 152 setzgeber von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auch Dauerschuldverhältnisse erfasst wissen wollte.307) Der Gesetzgeber habe dem Insolvenzverwalter die Pflicht aufgetragen, sich über die mögliche Freigabe zu erklären, um klarzustellen und Rechtsicherheit dahingehend zu schaffen, ob bereits durch den Schuldner begründete Verbindlichkeiten Masseverbindlichkeiten seien.308) Verweise auf § 109 InsO in der Gesetzesbegründung seien bloße Beispiele dafür, wie, abgesehen von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO, die Masse sonst noch von Ansprüchen aus Dauerschuldverhältnissen enthaftet werden könne. Der Gesetzgeber wolle damit nicht etwa das Erfordernis einer zusätzlichen Kündigung etablieren.309) Auch der Zweck des § 35 Abs. 2 InsO erfordere die Einbeziehung bereits beste- 153 hender Dauerschuldverhältnisse in die Freigabe. Dem Schuldner solle die Möglichkeit gegeben werden, wieder selbst wirtschaftlich tätig zu sein.310) Dazu bedürfe es auch und insbesondere einer Fortführung der bereits bestehenden Vertragsverhältnisse.311) Den Vertragspartnern stehe sodann auch eine neue Haftungsmasse in Form des Neuerwerbs zur Verfügung.312) Daneben verlange die Rechtssicherheit, dass zu einem klar definierten Zeitpunkt die Vertragsverhältnisse übergehen, um einen einheitlichen Übergang der selbständigen Tätigkeit zu gewährleisten.313) Als systematisches Argument bringt der BGH schließlich vor, dass nach der echten 154 Freigabe gemäß § 32 Abs. 3 S. 1 InsO nur einzelne Vermögenswerte freigegeben werden könnten. § 35 Abs. 2 InsO wolle hingegen eine umfassende Freigabe aller Vermögenswerte herbeiführen. Hierzu gehörten nach Ansicht des BGH auch bereits bestehende Vertragsverhältnisse. Das „Band“ zwischen Masse und neuer wirtschaftlicher Tätigkeit werde komplett zerschnitten.314) ___________ 306) 307) 308) 309) 310) 311) 312) 313) 314)
BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409 ff. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411. BT-Drucks. 16/3227, S. 17. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411 f. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 412. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 412. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 410 f.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
dd) BAG: Auch Arbeitsverhältnisse von der Freigabe erfasst 155 Das erste Mal hatte sich das BAG Ende 2013 mit der Frage auseinanderzusetzen, ob auch Arbeitsverhältnisse von der Regelung des § 35 Abs. 2 S. 1 InsO erfasst sind.
156 Das BAG hatte über die Kündigungsschutzklage eines Kraftfahrers eines Kurierund Kleintransportdienstes zu entscheiden. Über das Vermögen des Einzelunternehmers wurde nach Ausspruch der Kündigung das Insolvenzverfahren eröffnet. Der bestellte Insolvenzverwalter gab am Tag der Insolvenzeröffnung die selbständige Tätigkeit des Schuldners nach § 35 Abs. 2 InsO frei. Der Kläger erhob Kündigungsschutzklage gegen den Insolvenzverwalter, der die Klage aufgrund – nach seiner Ansicht – fehlender Passivlegitimation zurückwies. Durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit sei auch die Verfügungsbefugnis über das Arbeitsverhältnis des Klägers wieder auf den Schuldner übergegangen, sodass nur er passiv legitimiert sei.315)
157 Nachdem das LAG Niedersachsen in der Vorinstanz bereits die Passivlegitimation des Insolvenzverwalters nach der Freigabe verneint hatte316), schloss sich auch das BAG dieser Auffassung und damit der Rechtsprechung des BGH ausdrücklich an.317)
158 Das BAG kommt zu dem Ergebnis, dass die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Arbeitsverhältnis, die ursprünglich mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf den Insolvenzverwalter übergegangen ist, durch Freigabe nach § 35 Abs. 2 S. 1 InsO zurück auf den Schuldner falle. Hiermit erlösche gleichzeitig die Passivlegitimation des Insolvenzverwalters nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 ArbGG.318) In großen Teilen folgt das BAG der Argumentation des BGH im oben genannten Urteil.319)
159 Ergänzend führt das BAG zum konkreten Fall der Arbeitsverhältnisse aus, dass der Schuldner ansonsten die für die selbständige Tätigkeit erforderlichen Arbeitsverhältnisse verlieren würde. Die Arbeitnehmer sähen in der Regel davon ab, mit dem einmal in die Insolvenz geratenen Schuldner erneut ein Arbeitsverhältnis einzugehen, sodass ein automatischer Übergang im Rahmen der Freigabe notwendig sei.320)
___________ 315) 316) 317) 318) 319) 320)
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BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 324. LAG Niedersachsen, Urt. v. 14.12.2011 – 2 Sa 97/11, BeckRS 2012, 69845. BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 325. BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 325. BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 325 f. BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326.
II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
b) Stimmen in der Literatur In der Literatur war die Frage nach den Auswirkungen der Freigabe auf Dauer- 160 schuldverhältnisse und insbesondere Arbeitsverhältnisse bereits vor den höchstrichterlichen Entscheidungen Thema zahlreicher Publikationen. Vereinzelt wurde von der Entscheidung des BAG vom 10.4.2008321) zur früheren 161 Rechtslage bereits eine wegweisende Auslegung für den § 35 Abs. 2 InsO auch in der neuen Fassung erwartet.322) Die Ausführungen, die das BAG in diesem Urteil jedoch zur Freigabe von Arbeitsverhältnissen nach früherer Rechtslage traf, stehen im Ergebnis im diametralen Gegensatz zu der oben skizzierten Rechtsprechung zum neugeschaffenen § 35 Abs. 2 und Abs. 3 InsO.
aa) Ablehnende Stimmen: Dauerschuldverhältnisse von Freigabe nicht erfasst Insbesondere vor den Entscheidungen des BGH und des BAG vertrat eine starke 162 Ansicht in der Literatur, dass Dauerschuldverhältnisse nicht von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 S. 1 InsO erfasst werden.323) Diese Ansicht wird unter anderem auf das schutzwürdige Vertrauen des Vertragspartners gestützt, das dahingehend bestehe, dass er auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zumindest für die dreiwöchige Kündigungsfrist nach § 113 S. 2 InsO einen privilegiert zu befriedigenden Anspruch gegen die Insolvenzmasse habe.324) Ferner sei es der Zweck des § 35 Abs. 2 S. 1 InsO, deutlich zwischen den Haf- 163 tungsmassen für „Altansprüche“ und „Neuansprüche“, die im Rahmen der selbständigen Tätigkeit entstanden sind, zu unterscheiden. Verträge, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens geschlossen wurden, gehörten zu den Altansprüchen, für die die Insolvenzmasse zu haften habe und nicht das freigegebene Vermögen und der Neuerwerb.325)
___________ 321) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1127 ff. 322) Ahrens, NZI 2008, 292, 292; Windel, AP InsO § 35 Nr. 1. 323) Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 171 ff.; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 127 ff.; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 21 ff.; Lüke, FS Laufs, 989, 1001 ff.; Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1240 ff.; Windel, AP InsO § 35 Nr. 1; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 941 f.; Undritz, FS Runkel, 449, 461 ff.; Windel, RdA 2012, 366, 366 f.; Nungeßer, NZI 2012, 359, 362 ff.; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 267 f.; Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 413 f.; Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung (4. Aufl.), § 108 Rn. 2; ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37c. 324) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; Gutsche, ZVI 2008, 41, 44 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2124 f. 325) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
164 Es sei zudem unüblich, einem Vertragspartner den Schuldner zu nehmen und durch einen anderen zu ersetzen, ohne dass der Vertragspartner an der Entscheidung beteiligt oder zumindest über sie informiert werde.326) Dieser Grundsatz gelte gerade im Hinblick auf besonders schutzbedürftige Vertragstypen, wie zum Beispiel Arbeitsverträge, die die Insolvenzordnung auch durch die besonderen Vorschriften in §§ 108, 109, 113 InsO als schutzwürdig kennzeichne.327)
165 Letztlich könnten Verträge gar nicht „freigegeben“ werden, da sie nicht zur Masse gehörten und lediglich die Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter überginge.328) Dies zeige auch die Schaffung des § 109 Abs. 1 S. 1 InsO und des § 113 S. 1 InsO, der eine Lösungsmöglichkeit anstelle einer (für Verträge nicht anwendbaren) Freigabe für besondere Vertragstypen zur Verfügung stelle.329)
bb) Zustimmende Stimmen: Dauerschuldverhältnisse von Freigabe erfasst 166 Spätestens nach den höchstrichterlichen Entscheidungen des BGH und des BAG schlossen sich überwiegende Teile der Literatur der Ansicht an, dass § 35 Abs. 2 S. 1 InsO auch Dauerschuldverhältnisse und damit Arbeitsverhältnisse erfasse.330)
167 Hierbei wird insbesondere auf den Willen des Gesetzgebers eingegangen, der in der Begründung zum Regierungsentwurf ausdrücklich auch Vertragsverhältnisse von § 35 Abs. 2 InsO erfasst wissen wollte.331) Der Verweis auf § 109 Abs. 1 S. 2 InsO zeige diesen Willen deutlich.332) Der Gesetzgeber spreche bewusst von einer Art „Freigabe“, um eine klare Abgrenzung zur echten Freigabe zu erreichen, die keine Schuldverhältnisse erfasst.333)
___________ 326) Nungeßer, NZI 2012, 359, 362. 327) Gutsche, ZVI 2008, 41, 44 f.; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 942. 328) Holzer, ZVI 2007, 289, 292. 329) Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; Gutsche, ZVI 2008, 41, 44 f.; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 941 f.; a. A. Bartels, KTS 2012, 381, 390. 330) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Zipperer, ZVI 2007, 541, 541 f.; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031 ff.; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1374 ff.; Menn, ZVI 2011, 197, 201 f.; Andres, NZI 2012, 413, 413; Peters, WM 2012, 1067, 1069 f.; Bartels, KTS 2012, 381, 395 ff.; Ahrens, KSzW 2012, 303, 307; Pape, WM 2013, 1145, 1151; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 697; Haberzettl, NZI 2017, 474, 478; Kübler/Prütting/Bork-Moll, § 113 Rn. 50; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 116; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 56; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 331) Andres, NZI 2012, 413, 413. 332) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Dahl, NJW-Spezial 2007, 485, 485 f.; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2033; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 3; a. A. Undritz, FS Runkel, 449, 463 f.; Lindemann, BB 2011, 2357, 2359. 333) Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375 f.; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273.
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II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
Ferner streite auch der Zweck des § 35 Abs. 2 InsO für eine Freigabe von Dauer- 168 schuldverhältnissen. Die Entlastung der Insolvenzmasse bei zeitgleicher Fortführung der selbständigen Tätigkeit durch den Schuldner sei nur möglich, wenn auch Dauerschuldverhältnisse von der Freigabe erfasst würden.334) Andernfalls müsse der Insolvenzverwalter die Vertragsverhältnisse kündigen, was die Fortführung der Tätigkeit des Schuldners erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen würde.335)
c)
Stellungnahme
Im Folgenden wird insbesondere unter Zuhilfenahme der Auslegungscanones336) 169 auf die unterschiedlichen Ansichten eingegangen, deren Argumente werden auf Stichhaltigkeit überprüft und bei Bedarf weitergeführt.
aa) Ein unergiebiger Wortlaut Primärer Anknüpfungspunkt bei der Feststellung des Willens des Gesetzgebers ist 170 der Wortlaut des Gesetzes. Das Schicksal der Arbeitsverhältnisse wird in § 35 Abs. 2 InsO nicht ausdrücklich erwähnt. Eine Aussage trifft die Norm einzig zu dem Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit und zu den Ansprüchen aus dieser Tätigkeit.
(1) Kausalitäts- oder Modalitätsvoraussetzung – „aus“ der selbständigen Tätigkeit Zunächst ließe sich daran anknüpfen, dass nur das Vermögen „aus“ der selbständi- 171 gen Tätigkeit erfasst wird. Die Diskussion ähnelt der Frage nach dem Umfang der Freigabewirkung in Bezug auf die dem Insolvenzbeschlag unterfallenden Betriebsmittel. In diesem Rahmen wurde bereits erläutert, dass die Präposition „aus“ der selbständigen Tätigkeit unterschiedliche Deutungen zulässt.337) Einerseits kann ein Kausalitätsverständnis zugrunde gelegt werden, wonach nur 172 das zukünftige Vermögen und die zukünftigen Verbindlichkeiten freigegeben werden, die aus der freigegebenen selbständigen Tätigkeit entstehen werden.338) Die ___________ 334) Andres, NZI 2012, 413, 413. 335) Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 2 f.; Andres, NZI 2012, 413, 413; Bartels, KTS 2012, 381, 395 f. 336) Eine Problembehandlung anhand der Auslegungscanones nehmen auch Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 21 ff. und Alvarez-Scheuern, Wirkungen der Freigabe, S. 28 ff. vor. 337) Siehe dazu bereits Rn. 90 ff. 338) Soweit ersichtlich erstmals Ahrens, NZI 2007, 622, 62; ebenso OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406; Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Menn, ZVI 2011, 197, 202; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 114; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 22 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2126; kritisch Dahl, NJW-Spezial 2007, 485, 485.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
Arbeitsverhältnisse wurden im Laufe der bereits ausgeübten selbständigen Tätigkeit begründet und stellen damit Altverträge dar, die in die Sphäre der ursprünglich ausgeübten, noch nicht freigegebenen Tätigkeit fallen. Hält man in Bezug auf das Merkmal „aus“ ein Kausalverhältnis für erforderlich339), wären keine Arbeitsverhältnisse von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst. Die Erklärung würde sich nur auf Vertragsverhältnisse beziehen, die durch die zukünftig ausgeübte, bereits freigegebene Tätigkeit begründet werden. Die Ansprüche daraus könnten nicht mehr gegen die Insolvenzmasse geltend gemacht werden.
173 Andererseits lässt sich die Präposition „aus“ auch durch die Modalität bestimmen, in deren Rahmen die Arbeitsverträge ursprünglich begründet wurden.340) Entscheidend ist hiernach, die Art und Weise der selbständigen Tätigkeit.341) Heinze bringt vor, dass der Begriff der selbständigen Tätigkeit auch mit dem des „Unternehmens“ ausgetauscht werden könne und somit alles „aus“ dem Unternehmen von der Freigabewirkung erfasst werde.342) Versteht man das Merkmal „aus“ demnach als Modalitätsvoraussetzung, sind auch Dauerschuldverhältnisse von der Freigabe erfasst, die der freigegebenen selbständigen Tätigkeit zugeordnet sind.
174 Dass die Präposition „aus“ als Modalitätsvoraussetzung verstanden werden muss, wurde bereits im Rahmen der Frage nach der Freigabewirkung auf die Betriebsmittel hergeleitet. Ein Vergleich zu § 35 Abs. 1 InsO, der ebenso wie § 35 Abs. 2 InsO das Verb „gehören“ verwendet, um das dem Insolvenzbeschlag unterfallenden Vermögen zu bestimmen, hat gezeigt, dass ein dahingehendes Verständnis überzeugender ist.343)
175 Anders als für konkrete Vermögensgegenstände kommt für Dauerschuldverhältnisse und insbesondere Arbeitsverträge erschwerend hinzu, dass die Kausalitätsvoraussetzung nicht zu einem klaren Ergebnis kommt. Dauerschuldverhältnisse sind anders als konkrete Vermögensgegenstände nur schwer einer zeitlichen Sphäre zuzuordnen.344) Zwar spricht der in der Vergangenheit liegende Vertragsschluss für eine Zuordnung zum Altvermögen, jedoch wird der Anspruch auf Lohnzahlung nach § 614 BGB immer wieder aufs Neue fällig. Bei einer Fortführung der selbständigen Tätigkeit ist zwar der ursprüngliche Vertragsschluss kausal für das Entstehen des Arbeitsverhältnisses, im Rahmen der Fortführung entsteht aber monatlich die ___________ 339) So etwa OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406; Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Menn, ZVI 2011, 197, 202; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 114; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 22 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2126; kritisch Dahl, NJW-Spezial 2007, 485, 485. 340) Ebenfalls erstmals Ahrens, NZI 2007, 622, 625; ebenso Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1564. 341) Ahrens, NZI 2007, 622, 625. 342) Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1564 f.; tiefergehend dazu unter Rn. 90 ff. 343) Siehe dazu ausführlich unter Rn. 90 ff. 344) So auch Bartels, KTS 2012, 381, 395 ff.
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II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
neue Belastung mit den Lohnforderungen. Es ist demnach nicht systemfremd, auch unter Annahme eines Kausalitätsverständnisses nach Freigabe fällig gewordene Lohnansprüche spiegelbildlich dem Neuerwerb zuzuordnen. Ebenfalls lässt sich daran zweifeln, die Arbeitnehmeransprüche der Fortführung 176 der selbständigen Tätigkeit zuzuordnen. Bei Arbeitnehmern handelt es sich nicht um Gläubiger, die ihre Ansprüche aus der fortgeführten selbständigen Tätigkeit herleiten345), sondern um Gläubiger, deren Ansprüche aus dem Gesetz resultieren.346) Dass die Arbeitnehmeransprüche Masseverbindlichkeiten sind, entscheidet nicht der Schuldner durch die Fortführung seiner selbständigen Tätigkeit, sondern das Gesetz.347) Nach § 108 InsO hat der Insolvenzverwalter bei Dienstverhältnissen ausdrücklich kein Wahlrecht darüber, ob er Erfüllung verlangt, wie es in § 103 InsO als Grundsatz dargelegt ist.348) Es wird somit eine gesetzliche Ausnahme statuiert, aus der sich ergibt, dass die Insolvenzmasse haftet. Dies geschieht unabhängig davon, ob der Schuldner seine selbständige Tätigkeit fortführt oder nicht. Die Verbindlichkeiten aus Arbeitsverträgen entstehen somit nicht erst durch die selbständige Tätigkeit des Schuldners, sondern ipso iure.349) Sowohl die Kausalitäts- als auch die Modalitätstheorie können demnach Arbeits- 177 verhältnisse nicht zweifelsfrei einordnen.
(2) „Vermögen“ und „Ansprüche“ als Überbegriffe Der Wortlaut sieht eine Rechtsfolge der Freigabe nur für das Vermögen und die 178 Ansprüche aus der selbständigen Tätigkeit vor. Der Insolvenzverwalter soll mit seiner Erklärung entscheiden, ob Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört und Ansprüche aus der selbständigen Tätigkeit im Rahmen des Insolvenzverfahrens geltend gemacht werden können. Die Erklärung enthaftet die Masse von den Ansprüchen beziehungsweise befreit nach hier vertretener Ansicht das Betriebsvermögen, soweit es nicht ohnehin pfändungsfrei ist, vom Insolvenzbeschlag.350) Nach unvoreingenommener Betrachtung des Wortlauts könnte der Insolvenzver- 179 walter einzig einseitig die Ansprüche des Arbeitnehmers auf Lohnzahlung „freigeben“ und die Insolvenzmasse im Sinne des § 35 Abs. 2 InsO von zukünftig entstehenden Lohnforderungen befreien.351) Über die Arbeitgeberfunktion trifft § 35 Abs. 2 ___________ 345) 346) 347) 348) 349) 350) 351)
So aber Andres, NZI 2012, 413, 413. Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1244. Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107. HeidelbKInsO-Marotzke, § 108 Rn. 3. Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107. Siehe dazu bereits oben unter Rn. 89 ff. Menn, ZVI 2011, 197, 201.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
InsO hingegen keine Aussage. Der Arbeitnehmer müsste sich nach einem engen Wortlautverständnis mit seinen Lohnforderungen an den Schuldner wenden, während zugleich die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis noch beim Insolvenzverwalter verbleibt. Der Insolvenzverwalter wäre einzig zur Kündigung und zum Empfang der Arbeitsleistung berechtigt, während der Insolvenzschuldner zur Leistung des Arbeitslohns verpflichtet wäre. Dass dieses Ergebnis nicht gewollt sein kann, liegt auf der Hand, da der Schuldner mit der Lohnforderung belastet wäre, sich aber mangels Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nicht vom Arbeitsverhältnis lösen könnte. Der Schuldner wäre voll und ganz von der Kooperation des Insolvenzverwalters abhängig. Der Insolvenzverwalter hat aber mangels Belastung der Masse mit den Lohnforderungen kein Interesse, von seinem Kündigungsrecht Gebrauch zu machen. Vielmehr ginge er das Risiko eines Kündigungsschutzprozesses ein. Ein so enges Wortlautverständnis, das die einseitige isolierte Freigabe der Lohnansprüche beinhaltet, überzeugt daher nicht und wird, soweit ersichtlich, auch nicht vertreten. Wenn es zu einem Übergang der Arbeitsverhältnisse kommt, kann dieser nur umfassend, das heißt einschließlich der Verwaltungsbefugnis bezüglich des Arbeitsverhältnisses, erfolgen. Dieses gebotene Ergebnis lässt sich jedoch nicht unter die Freigabe von Ansprüchen fassen.
180 Damit verbleibt als Anknüpfungspunkt für einen Übergang des Vertragsverhältnisses im Wortlaut nur noch das Merkmal des Vermögens. Der Vermögensbegriff ist vor allem im Zusammenhang mit der Insolvenzmasse relevant, die aus dem zusammengefassten Vermögen des Schuldners besteht und vornehmlich der gemeinschaftlichen Befriedigung der Gläubiger dient.352) Hieran muss sich auch eine Bestimmung des Vermögensbegriffs ausrichten. Bei einem Arbeitsverhältnis handelt es sich aber nach klassischem Verständnis nicht um Vermögen, das freigegeben werden kann.353) Es kann den Gläubigern nicht in irgendeiner Form als Haftungsmasse dienen. So unterliegt ein Vertragsverhältnis auch nicht dem Insolvenzbeschlag – lediglich die Arbeitgeberfunktion geht nach § 80 Abs. 1 InsO auf den Insolvenzverwalter über.354)
181 Ein Übergang der Arbeitgeberfunktion durch die Freigabe, ließe sich damit einzig mit einer sehr weiten Interpretation des Wortlautes unter Zugrundelegung eines extensiven Vermögensbegriffs annehmen. Dass ein solches Verständnis möglich ist, zeigt der BGH durch seine Interpretation des Vermögensbegriffs aus § 2 InsO bei der Anordnung vorläufiger Maßnahmen.355) Bei der Bestimmung der Rechte und Pflichten des vorläufigen Insolvenzverwalters geht der BGH davon aus, dass Ver___________ 352) Statt aller K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 1. 353) Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; Gutsche, ZVI 2008, 41, 44 f.; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 941 f. 354) Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 941 f.; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 23. 355) BGH, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, NZI 2003, 509, 510 f.
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II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
mögen auch die Ansprüche auf Erbringung von Arbeitsleistung und damit die Arbeitsverhältnisse umfasst.356) Dementsprechend lässt sich auch für § 35 Abs. 2 InsO ein weiter Vermögensbegriff zugrunde legen, wonach unter die Freigabe des Vermögens auch der umfassende Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis bezüglich aller sich aus der selbständigen Tätigkeit ergebenden Rechtsbeziehungen ergibt.357) Über den bloßen Anspruch auf Arbeitslohn hinaus wird das gesamte Arbeitsverhältnis von der Insolvenzmasse gelöst. Für ein solch weites Verständnis liefert der Wortlaut zwar keine Anhaltspunkte, er schließt es jedoch auch nicht explizit aus. Ob eine dahingehende Interpretation dennoch gewollt ist, kann einzig eine weitere Auslegung ergeben.
(3) Fehlen einer klaren Ermächtigung? Der Wortlaut von § 35 Abs. 2 InsO trifft demnach keine eindeutige Aussage dazu, 182 ob Dauerschuldverhältnisse von der Freigabe erfasst werden.358) Hieraus könnte man den Schluss ziehen, dass ein derart einschneidender Eingriff 183 für die Vertragspartner – schließlich geht es um nicht weniger als den Austausch der Haftungsmasse und des Anspruchsgegners359) – einer klaren gesetzlichen Grundlage bedarf. Der BGH weist darauf hin, dass die „echte“ Freigabe ganz ohne Gesetzesgrundlage und durch bloße Rechtsfortbildung seit jeher als zulässig angesehen werde.360) § 35 Abs. 2 InsO wolle umfassend das Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit von der Insolvenzmasse abgrenzen. Dieses Verständnis ergebe sich daraus, dass im Unterschied zur echten Freigabe, die einem strengen Bestimmtheitsgrundsatz unterliege, bei § 35 Abs. 2 InsO eine „Gesamtheit von Gegenständen und Werten“361) von der Erklärung erfasst werde. Aufgrund der von § 35 Abs. 2 InsO angestrebten umfassenden Wirkung würden keine Bedenken bestehen, diese auch auf Dauerschuldverhältnisse auszudehnen.362) Zwar ist dem BGH zuzustimmen, dass das Gesetz die Grundform der Freigabe 184 auch nicht ausdrücklich regelt und sie nur gewohnheitsrechtlich anerkannt ist. Hieraus lässt sich aber nicht schließen, dass geringere Anforderungen an die Regelung einer Freigabe mit umfassenderer Wirkung, die auch Dauerschuldverhältnisse erfassen soll, zu stellen sind. Vielmehr stehen vorliegend andere, zum Teil verfassungsrechtlich geschützte Interessen im Raum.363) Zwar verliert die Insolvenzmas___________ 356) 357) 358) 359) 360) 361) 362) 363)
BGH, Urt. v. 10.10.2002 – 2 AZR 532/01, NZI 2003, 509, 510 f. Dieses Verständnis zugrunde legend Ries, ZInsO 2009, 2030, 2033. So auch Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2124. Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 270. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411. BT-Drucks. 16/3227, S. 26 f. BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411. Siehe dazu weiter unten unter Rn. 230 ff.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
se durch die „echte“ Freigabe einen Massegegenstand, jedoch liegt dem in der Regel das Interesse zugrunde, die Masse vor einer Belastung durch den freizugebenden Gegenstand zu schützen.364) Das grundsätzlich betroffene Interesse der Gläubiger am Masseerhalt wird durch die Freigabeerklärung gewahrt. Anders verhält es sich bei § 35 Abs. 2 InsO. Die Insolvenzmasse wird durch die Freigabe der Dauerschuldverhältnisse im Interesse der Gläubiger geschützt. Belastet werden dadurch jedoch andere Gläubigergruppen, unter anderem die Arbeitnehmer, die von ihrer bevorzugten Befriedigung als Massegläubiger ausgeschlossen werden. Die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ist damit keineswegs für alle Beteiligten von grundsätzlich positiver Natur. Ein Vergleich, wie sie der BGH vornimmt, überzeugt dementsprechend nicht.
185 Diese Gleichstellung von den anerkannten Formen der Freigabe mit der Freigabe der selbständigen Tätigkeit hat jedoch auch der Gesetzgeber nicht vorgenommen. Schließlich hat er eine Regelung zur Freigabe der selbständigen Tätigkeit in § 35 Abs. 2 InsO geschaffen und nicht nur auf eine gewohnheitsrechtliche Klärung der Frage vertraut. Die Norm dient als legislative Grundlage für den zu diskutierenden Eingriff in die Arbeitnehmerrechte. Der Wortlaut bietet im Sinne der oben gewonnenen Erkenntnisse keinen stichhaltigen Anhaltspunkt, dass Arbeitsverhältnisse von der Freigabeerklärung erfasst werden sollen. Im Gegenzug ergibt sich aber auch nicht ausdrücklich, dass Arbeitsverhältnisse von der Erklärung ausgenommen werden. Somit führt die alleinige Betrachtung des Wortlauts in der vorliegenden Frage zu keinem eindeutigen Hinweis darauf, dass auch Dauerschuldverhältnisse und insbesondere Arbeitsverhältnisse von einer Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden.365)
bb) Historie, Gesetzgebungsprozess und Gesetzesbegründung: Der erkennbare Wille des Gesetzgebers 186 Der Wille des Gesetzgebers, der sich nicht ausdrücklich im Wortlaut niedergeschlagen hat, ergibt sich häufig aus der Gesetzesbegründung. Auch die Gesetzesbegründung zu § 35 Abs. 2 InsO366) gibt Anhaltpunkte für die zu klärende Frage, ob Arbeitsverhältnisse durch die Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters zurück an den Schuldner fallen.
(1) Grundsätzliche Erfassung von Vertragsverhältnissen 187 Der Gesetzgeber spricht in der Gesetzesbegründung davon, eine die Freigabe der selbständigen Tätigkeit ermöglichende Erklärung schaffen zu wollen.367) In der ___________ 364) Siehe dazu bereits unter Rn. 55 f. 365) Ebenso Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2124; Windel, RdA 2012, 366, 367. 366) BT-Drucks. 16/3227, S. 17, S. 23 f. u. S. 26 f. 367) BT-Drucks. 16/3227, S. 17.
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II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
Gesetzesbegründung findet damit keine Einschränkung auf das Vermögen und die Ansprüche aus der selbständigen Tätigkeit statt, die schließlich Einfluss in den Gesetzestext gefunden hat. Eine Freigabe von Vertragsverhältnissen ist dennoch nach klassischem Verständnis nicht möglich.368) Die gewohnheitsrechtlich anerkannte „echte“ Freigabe hebt den Insolvenzbeschlag eines einzelnen Vermögensgegenstandes auf und lässt den betreffenden Gegenstand zurück in das insolvenzfreie Schuldnervermögen übergehen.369) Bereits dem Wortsinn der Freigabe entsprechend können damit nur Gegenstände aus der Insolvenzmasse „freigegeben“ werden, die ursprünglich „unfrei“, das heißt im Rahmen der Insolvenzmasse gebunden sind. Ein Vertragsverhältnis unterliegt aber nach einhelliger Meinung nicht dem Insolvenzbeschlag – lediglich die Arbeitgeberfunktion geht aufgrund des Übergangs der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter über.370) Da Vertragsverhältnisse damit mangels Vermögenseigenschaft nicht dem Insolvenzbeschlag unterfallen, können sie auch nicht davon „befreit“ werden.371) Die bis hierhin geführte Diskussion ist jedoch sehr geprägt vom Begriff der Freigabe. 188 Der Gesetzgeber geht aber, wie bereits gezeigt, gar nicht davon aus, einen Unterfall der klassischen „echten“ Freigabe zu regeln.372) Im Gegenteil macht er wiederholt in der Gesetzesbegründung deutlich, dass zwischen einer Freigabe im klassischen Sinne und einer Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO unterschieden wird. Vielmehr wollte der Gesetzgeber eine bloß an die echte Freigabe angelehnte Erklärung schaffen. So legt die Gesetzesbegründung Wert darauf, dass es sich bloß um eine „Art ‚Freigabe‘“373) handelt. Die Bundesregierung differenziert erneut in der Erwiderung zur Stellungnahme des Bundesrates, indem hier nur von einer „freigabeähnliche[n] Erklärung eigenen Typs“ gesprochen wird.374) Hiermit verdeutlicht der Gesetzgeber, dass er zwischen einer Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO und einem klassischen Fall der Freigabe unterscheidet.375) Im selben Atemzug nutzt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung zwar auch den Begriff der „Freigabe“ ohne weitergehende Einschränkung für die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO376), was je___________ 368) Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2121 f.; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 114; GrafSchlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 25; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 62. 369) Statt aller Braun-Bäuerle, § 35 Rn. 7 ff. 370) Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 941 f.; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 23; MüKoInsO-Ott/Vuia, § 80 Rn. 121; K. SchmidtSternal, § 80 Rn. 67. 371) Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 941 f.; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 23. 372) Siehe dazu bereits oben unter Rn. 59 ff. 373) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 374) BT-Drucks. 16/3227, S. 26; nochmals als „freigabeähnliche Handlung eigenen Typs“ auf S. 27. 375) Ahrens, NZI 2007, 622, 624 f.; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1103; Smid, DZWIR 2008, 133, 133; Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 410. 376) BT-Drucks. 16/3227, S. 17.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
doch wohl der sprachlichen Vereinfachung geschuldet ist, wie sie auch in dieser Arbeit vorgenommen wird.377)
189 Zuzugeben ist zwar, dass die Differenzierung keinen Eingang in den Normtext gefunden hat.378) Gleiches gilt jedoch für den Begriff der Freigabe selbst, der ebenfalls nicht vom Gesetz verwendet wird. Selten schlägt sich die konkrete Gesetzesbegründung genau im konkreten Wortlaut der Vorschrift nieder. Alleine aus Gründen der beschränkten Länge ist der Gesetzgeber gezwungen, seine beabsichtigte Regelung zu komprimieren. Aus diesem Grund ist bei Unklarheiten auf die Gesetzesbegründung zurückzugreifen, die – mit Ausnahme von evidenten Fehlern – als ausdrücklicher Wille des Gesetzgebers als maßgebend zu erachten ist. Demnach kann aus der Verwendung des Begriffs der Freigabe in der Gesetzesbegründung nicht geschlossen werden, dass hier ein Fall der klassischen echten Freigabe geregelt werden sollte, die keine Vertragsverhältnisse erfasst.379)
190 Vielmehr spricht für eine Wirkung der Freigabe auch auf Vertragsverhältnisse an sich, dass der Gesetzgeber eine solche anordnet. So soll eine „Art ‚Freigabe‘ des Vermögens, das der gewerblichen Tätigkeit gewidmet ist, einschließlich der dazu gehörenden Vertragsverhältnisse“380) erfolgen. Wischemeyer und Windel halten die Diskussion, ob Vertragsverhältnisse auch von § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden, für ein bloßes Missverständnis, dass sich einzig aus dieser in ihren Augen unglücklichen Formulierung in der Gesetzesbegründung ergebe.381) Beide lassen aber eine alternative Deutungsweise für die unzweideutige Einbeziehung der Vertragsverhältnisse durch den Gesetzgeber vermissen.
191 Als Zwischenergebnis ist damit festzuhalten, dass der Gesetzgeber grundsätzlich Vertragsverhältnisse von einer Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst wissen wollte.
(2) Differenzierung anhand des Zeitpunkts der Begründung der Arbeitsverhältnisse? 192 Hält man an dem gezogenen Zwischenergebnis fest, ergibt sich daraus jedoch nicht zwingend, dass auch bereits bestehende Arbeitsverhältnisse von der Erklärung erfasst werden sollen.382) Im Ergebnis kommt es hier wieder auf die Frage an, ob § 35 Abs. 2 InsO ex tunc oder ex nunc wirkt. Parallel zu der Frage, ob nur der Neuer___________ 377) Siehe zur Begründung unter Rn. 59 ff. 378) OLG Dresden, Urt. v. 4.5.2011 – 13 U 1007/10, BeckRS 2012, 5406; Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 410. 379) Gutsche, ZVI 2008, 41, 42. 380) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 381) Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2124; Windel, AP InsO § 35 Nr. 1. 382) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1243.
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II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
werb von § 35 Abs. 2 InsO vom Insolvenzbeschlag befreit wird oder ob auch Bestandsvermögen mit der Freigabe auf den Schuldner zurückfällt, stellt sich hier die Frage, ob nur Neuverträge nicht mehr zugunsten und zulasten der Insolvenzmasse gelten sollen oder ob auch bereits bestehende Arbeitsverhältnisse von der Insolvenzmasse gelöst werden können. Bei dieser Thematik kann weitgehend auf die bereits vorgenommene Argumentation zu der Frage verwiesen werden, ob die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auch Bestandsvermögen oder nur den Neuerwerb erfasst.383) Auch hier kann überzeugend nur von einer ex tunc Wirkung der Freigabeerklärung ausgegangen werden. Mit Blick auf Arbeitsverhältnisse findet man in der Gesetzesbegründung keine Un- 193 terscheidung in Bezug auf den Entstehungszeitpunkt. Dementsprechend könnte die Gesetzesbegründung auch so ausgelegt werden, dass nur Arbeitsverhältnisse von der Freigabe erfasst werden sollen, die der Schuldner für seine selbständige Tätigkeit nach Erklärung der Freigabe neu begründet.384) Einer solchen Erklärung käme dann aber bloß klarstellende Wirkung zu. Ihrer bedarf es eigentlich nicht, da sämtliche Schuldverhältnisse, das heißt auch Arbeitsverhältnisse, die der Schuldner nach der Freigabe der selbständigen Tätigkeit abschließt, die Insolvenzmasse nach allgemeiner Ansicht ohnehin nicht mehr binden.385) Einer der beiden Gründe, warum § 35 Abs. 2 InsO geschaffen wurde, liegt darin, die Haftung der Masse für das schuldnerische Handeln mit der Freigabeerklärung zu beenden.386) Zweifel, dass hiervon durch den Schuldner nach der Freigabe eingegangenen Vertragsverhältnisse ausgenommen sind, gehen gegen den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers. Er macht bereits an anderer Stelle in der Gesetzesbegründung deutlich, dass Grund für sein Tätigwerden die Schutzbedürftigkeit der Insolvenzmasse vor der Begründung von weiteren Verbindlichkeiten durch den Schuldner während des Insolvenzverfahrens ist.387) Der zusätzlichen Erwähnung der Vertragsverhältnisse als Teil der freigegebenen selbständigen Tätigkeit bedarf es nicht. Dass der Gesetzgeber dennoch explizit die Vertragsverhältnisse in die Erklärung einschließt und diese in einen Zusammenhang mit dem der Tätigkeit gewidmeten Vermögen setzt, spricht dafür, dass er auch bestehende Vertragsverhältnisse von der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst wissen wollte. Entscheidend gegen eine bloß klarstellende Wirkung der Gesetzesbegründung in 194 Bezug auf die Vertragsverhältnisse spricht ferner der Verweis des Gesetzgebers auf § 109 Abs. 1 S. 2 InsO.388) Diese als vergleichbare Regelung präsentierte Norm ___________ 383) Siehe dazu oben unter Rn. 85 ff. 384) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 942. 385) Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 2; Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 413. 386) Statt aller FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 29; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 267. 387) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 388) BT-Drucks. 16/3227, S. 17.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
bezieht sich auf das bestehende Wohnraummietverhältnis des Schuldners und gestattet es dem Insolvenzverwalter statt einer Kündigung zu erklären, dass diesbezügliche Ansprüche nach Ablauf der in S. 1 genannten Frist nicht mehr im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können. Einziger Anwendungsbereich für § 109 Abs. 1 S. 2 InsO ist damit das bereits zugunsten und zulasten der Insolvenzmasse bestehende vorinsolvenzliche Mietverhältnis des Schuldners. Wird § 109 Abs. 1 S. 2 InsO als vergleichbare Norm genannt, spricht dies entscheidend dafür, dass der Gesetzgeber die Freigabe einschließlich der dazu gehörenden – bereits bestehenden – Vertrags- und damit Arbeitsverhältnisse beabsichtigt hat.389)
cc) Ziele des § 35 Abs. 2 InsO: Enthaftung zugunsten von Masse und Schuldner? 195 Wie bereits erläutert390), verfolgt § 35 Abs. 2 InsO zwei Ziele: Zum einen soll die Norm es dem Schuldner ermöglichen, sein Unternehmen trotz Insolvenz fortzuführen (dazu (1)), zum anderen soll sie die Insolvenzmasse vor einer zusätzlichen Belastung durch die wirtschaftliche Tätigkeit des Schuldners schützen (dazu (2)).391)
(1) Fortführung der selbständigen Tätigkeit 196 Ziel des § 35 Abs. 2 InsO ist es nach gesetzgeberischer Intention zunächst, dem Schuldner zu ermöglichen, seine selbständige Tätigkeit fortzuführen.392)
197 Der Schuldner hat ein von Art. 12 Abs. 1 GG geschütztes Recht, selbständig tätig zu sein.393) Möchte der Schuldner seine selbständige Tätigkeit weiter fortführen und hat er sich dazu in der Vergangenheit der Unterstützung von Arbeitnehmern bedient, liegt es nahe, dass er im Rahmen der Fortführung seiner selbständigen Tätigkeit zumindest auf einen Teil der Arbeitskräfte angewiesen ist.394) Fällt die Arbeitgeberfunktion nicht durch die Freigabeerklärung zurück an den Schuldner, müsste der Insolvenzverwalter andere Maßnahmen zum Schutz der Masse ergreifen, um sich nicht selbst einer Haftung nach § 60 Abs. 1 InsO auszusetzen. Um die Insolvenzmasse vor weiteren Masseverbindlichkeiten zu schützen, wird er in der Regel die Arbeitsverhältnisse zum nach § 113 InsO nächstmöglichen Zeitpunkt ___________ 389) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411; BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326; Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2033; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 113. 390) Siehe dazu unter Rn. 22 ff. 391) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 392) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 393) Siehe dazu bereits unter Rn. 15 ff. 394) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Menn, ZVI 2011, 197, 201; Andres, NZI 2012, 413, 413; Haberzettl, NZI 2017, 474, 478; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 55.
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II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
kündigen. Der Schuldner würde in diesem Fall ohne die zur Fortführung benötigten Arbeitsverhältnisse in die selbständige Tätigkeit entlassen. Auch das mit den Arbeitnehmern verkörperte Know-How ginge verloren und eine Fortführung der selbständigen Tätigkeit wäre erheblich erschwert.395) Dem wird entgegengehalten, dass der Schuldner neue Arbeitsverhältnisse abschließen 198 könne um sein Unternehmen fortzuführen.396) Der Schuldner wird jedoch oftmals Schwierigkeiten haben, alte und neue Arbeitnehmer von einem Vertragsschluss mit ihm zu überzeugen – schließlich hat er sich in der Vergangenheit nicht als der beste Unternehmer und verlässlichste Schuldner herausgestellt.397) Dieses Argument kann zwar bezweifelt werden, da gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten viele Selbständige in die Insolvenz geraten. In der Rezession kommt § 35 Abs. 2 InsO besondere Bedeutung zu. Für viele Arbeitnehmer besteht dann nicht die Möglichkeit, sich ohne Weiteres zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen einen auszusuchen. Ihnen bleibt häufig bloß die Wahl zwischen einem wirtschaftlich erfolglosen Arbeitgeber und der Arbeitslosigkeit. Trotz der schlechten Perspektive wird in diesem Fall regelmäßig die Wahl auf den neuen Arbeitsvertrag mit dem alten Arbeitgeber fallen. Hierbei handelt es sich um ein praktisches Argument, dass nicht in jedem Fall gel- 199 ten mag. Zumindest im Zeitraum der Kündigungsfrist widerspricht die Ansicht aber der vom Gesetzgeber verfolgten Ermöglichungsabsicht. Geht man davon aus, dass der Insolvenzverwalter die Arbeitsverhältnisse kündigen muss, würden für die einzelnen Arbeitnehmer unterschiedliche Kündigungsfristen gelten. § 113 S. 2 InsO statuiert nur eine Höchstfrist von drei Monaten – kürzere Kündigungsfristen sind möglich. Gelten für einzelne Arbeitnehmer unterschiedliche Kündigungsfristen und muss der Schuldner im Höchstfall drei Monate auf „seine“ Arbeitnehmer warten, lässt sich kaum ein einheitlicher Übergang der selbständigen Tätigkeit ermöglichen, wenn nur Schritt für Schritt die erforderlichen Arbeitnehmer in den Schuldnerbetrieb zurückkehren.398) Eine zwischenzeitliche Tätigkeit der Arbeitnehmer für den Schuldner bereits wäh- 200 rend die Kündigungsfrist noch läuft, ist auch keine angemessene Lösung. In der Regel hat der Insolvenzverwalter keine Verwendungsmöglichkeit mehr für die Arbeitnehmer, wenn er sich zu einer Freigabe der selbständigen Tätigkeit entschließt. ___________ 395) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 2 f.; Andres, NZI 2012, 413, 413. 396) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1243. 397) SG München, Teilurteil v. 21.3.2016 – S 15 R 582/14, ZInsO 2016, 859, 862; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 2 f.; Ahrens, KSzW 2012, 303, 307; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 697; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 33; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 398) So auch BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1376; Lindemann, BB 2011, 2357, 2360; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 697.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
Es ist dann naheliegend, dass er die Arbeitnehmer für den Zeitraum der Kündigungsfrist freistellt, um auf diese Weise Lohnnebenkosten wie Berufsgenossenschaftsbeiträge und Lohnsteuer zu sparen.399) Zwar könnte der Arbeitnehmer dann bereits für den Schuldner arbeiten, aber hieraus folgt die Frage, wer in dieser Zeit dann für Lohn- und Lohnnebenkosten haftet. Eine Wirkung zulasten der Masse kann bei Kenntnis des Insolvenzverwalters zumindest nicht ausgeschlossen werden, sodass der Insolvenzverwalter in seiner Arbeitgeberfunktion eine Tätigkeit für den Schuldner zwecks Risikominimierung untersagen wird.400) Unabhängig davon bestünde auch kein Anspruch des Schuldners auf die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers. Die Freistellung der Arbeitnehmer durch den Insolvenzverwalter erfolgt in der Regel unwiderruflich und der Schuldner wäre gezwungen neue Arbeitsverträge mit den Schuldnern zu schließen.401)
201 Nicht außer Acht gelassen werden darf aber, dass der Übergang der Arbeitsverhältnisse auf den Schuldner nicht nur positive Effekte hat. Mit Rückfall der Arbeitgeberstellung ist der Schuldner auch wieder den Lohnforderungen der Arbeitnehmer ausgesetzt. Eine Fortführung der selbständigen Tätigkeit und Restrukturierung des Unternehmens durch den Schuldner außerhalb des Insolvenzverfahrens wird kaum möglich sein, wenn der Schuldner wieder sämtliche Forderungen aus laufenden Dauerschuldverhältnissen bedienen muss.402) Er wird die Ansprüche zu diesem Zeitpunkt kaum besser erfüllen können als vor der Eröffnung der Insolvenz. Vielmehr droht durch den Übergang der Arbeitsverhältnisse der angestrebte Zweck des § 35 Abs. 2 InsO, nämlich eine selbständige Tätigkeit wieder zu ermöglichen, unterlaufen zu werden.403)
202 Der Zweck des § 35 Abs. 2 InsO, die Unternehmensfortführung des Schuldners zu ermöglichen, bietet damit keinen Anhaltspunkt für die Frage, ob die Arbeitsverhältnisse von der Freigabe der selbständigen Tätigkeit erfasst werden sollen. Vielmehr kommt es auf den Einzelfall an, ob ein sofortiger Rückfall der Arbeitgeberfunktion für den Schuldner und dessen selbständige Tätigkeit vorteilhaft ist oder nicht. Eine pauschale Anwendung auf die Fälle der Freigabe der selbständigen Tätigkeit ist mit Blick auf die Arbeitsverhältnisse nicht möglich. Hier droht im Einzelfall vielmehr eine die selbständige Tätigkeit hindernde Wirkung. Der Gesetzgeber hat an dieser Stelle die Ermöglichungsabsicht nicht weiter konkretisiert. Er hat das Problem des Übergangs der Arbeitsverhältnisse nicht voll erfasst. Da der Zweck ___________ 399) 400) 401) 402)
Statt aller Mohrbutter/Ringstmeier-Plössner, Kap. 29 Rn. 198 ff. Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1376. Lindemann, ZInsO 2014, 695, 702. Gutsche, ZVI 2008, 41, 44; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 186; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 32. Zur praktischen Relevanz Ehlers, ZInsO 2014, 53, 54 f. 403) Gutsche, ZVI 2008, 41, 44; Gleichenstein, ZVI 2013, 409, 414; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 32; im Bezug auf § 103 InsO Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 174 ff. Bestätigt wird diese Befürchtung durch Ehlers, ZInsO 2014, 53, 55.
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II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
der Ermöglichungsabsicht auch für die Freigabe des Neuerwerbs und des betriebszugehörigen Bestandsvermögens fruchtbar gemacht werden kann, läuft er nicht leer. Eine befriedigende Lösung in Bezug auf den Übergang der Arbeitsverhältnisse lässt sich alleine unter Betrachtung der Ermöglichungsabsicht aber nicht erreichen.
(2) Schutz der Insolvenzmasse vor einer Belastung durch die selbständige Tätigkeit Der Zweck der Ermöglichungsabsicht wird flankiert vom Gedanken des Masse- 203 schutzes. Der Gesetzgeber will eine selbständige Tätigkeit durch den Schuldner ermöglichen, zugleich aber verhindern, dass Ansprüche gegen die Insolvenzmasse entstehen.404) Insbesondere mit Blick auf Arbeitnehmeransprüche kommt diesem Zweck erhebliche Bedeutung zu, zumal die durch die Arbeitnehmer begründeten Ansprüche häufig einen Großteil der Masseverbindlichkeiten ausmachen.405) Wann bevorzugt zu befriedigenden Masseverbindlichkeiten gegen die Insolvenz- 204 masse entstehen, wird vornehmlich durch die §§ 53 ff. InsO geregelt. Der Hauptanwendungsbereich ist dabei die Begründung von Verbindlichkeiten durch Handlungen des Insolvenzverwalters nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Zweck der Vorschrift ist es, den Insolvenzverwalter in eine handlungsfähige Position zu versetzen.406) Würden neue Vertragspartner nur eine Insolvenzschuld begründen und damit auf die später zu verteilende Masse und eine bloß quotale Befriedigung verwiesen, wären sie kaum bereit, mit dem Insolvenzverwalter zu kontrahieren. Der Insolvenzverwalter wäre wirtschaftlich handlungsunfähig und damit nicht zur Verwaltung und Verwertung der Insolvenzmasse in der Lage.407) Zudem erhält die Insolvenzmasse durch das Verwalterhandeln in der Regel auch eine geldwerte Gegenleistung, die die Belastung zumindest teilweise kompensiert.408) In Bezug auf Arbeitsverhältnisse resultiert die Begründung von Masseverbindlich- 205 keiten nicht aus einem Handeln des Insolvenzverwalters. Vielmehr handelt es sich bei Lohnansprüchen um oktroyierte Masseverbindlichkeiten.409) Sie zeichnen sich dadurch aus, dass das Gesetz nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 S. 1 InsO die Forderungen im Rang einer Masseverbindlichkeit entstehen
___________ 404) 405) 406) 407) 408) 409)
BT-Drucks. 16/3227, S. 17. Andres, NZI 2012, 413, 413; K. Schmidt-Ringstmeier, § 108 Rn. 3. Jaeger-Henckel, § 55 Rn. 5; K. Schmidt-Thole, § 55 Rn. 2; Beck/Depré-Ringstmeier, § 12 Rn. 2. Statt aller Beck/Depré-Ringstmeier, § 12 Rn. 2. Kübler/Prütting/Bork-Pape/Schaltke, § 55 Rn. 149. Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; Gottwald-Klopp/Kluth/Wimmer, § 56 Rn. 21; Braun-Kroth, § 90 Rn. 6; Beck/Depré-Ringstmeier, § 12 Rn. 3; Beck/Depré-Ringstmeier, § 12 Rn. 3.
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C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
lässt, ohne dass es hierfür eines Verwalterhandelns bedarf.410) Arbeitsverhältnisse, für die der Insolvenzverwalter die Arbeitgeberfunktion ausübt, mindern somit die Insolvenzmasse. Zum Teil wird die bevorzugte Befriedigung von Arbeitnehmern in der Literatur stark kritisiert.411) Es wird unabhängig von einer Freigabe verlangt, Arbeitnehmer gar nicht mehr als oktroyierte Massegläubiger zu privilegieren. Den generierten Masseverbindlichkeiten stehe keine kompensierende Gegenleistung für die Insolvenzmasse gegenüber, sodass sie dem Insolvenzrecht fremd seien.412) Der Insolvenzordnung liege der allgemeine Gedanke zu Grunde, dass für begründete Masseverbindlichkeiten der Insolvenzmasse auch ein gleichwertiger wirtschaftlicher Vorteil zufließen soll.413) Für die an die Arbeitnehmer geleisteten Lohnzahlungen kann dieser Vorteil aber nicht garantiert werden. Nach den Grundsätzen des Annahmeverzugs, die auch in der Insolvenz gelten, besteht der Lohnanspruch des Arbeitnehmers nach §§ 611 Abs. 1 Alt. 1, 615 S. 1 BGB auch dann fort, wenn der Insolvenzverwalter keine Verwendung für die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers hat. Die Insolvenzmasse erhält als Gegenleistung das Angebot der Arbeitsleistung.414) Die Werthaltigkeit der Gegenleistung ist dabei zweifelhaft, da es für einen Annahmeverzug des Insolvenzverwalters nicht darauf ankommt, ob eine Verwendungsmöglichkeit für die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers besteht beziehungsweise ob eine Annahme der Arbeitsleistung überhaupt möglich ist.415) Es ist deshalb für den Anspruch des Arbeitnehmers auf Arbeitslohn auch unerheblich, ob der Insolvenzverwalter den Betrieb fortführt oder nicht.416) Auch im Fall der Unternehmensfreigabe nach § 35 Abs. 2 InsO bestünde demnach der Anspruch auf Arbeitsentgelt fort, wenn die Arbeitgeberfunktion und die damit einhergehenden Rechte und Pflichten nicht auf den Insolvenzschuldner zurückfallen würden. Es bliebe unberücksichtigt, dass der Insolvenzverwalter aufgrund der Freigabewirkung auch mit Blick auf das Betriebsvermögen keine Verwendungsmöglichkeit mehr für die Arbeitsleistung hat. Einen Bedarf an der Arbeitsleistung hat einzig der Insolvenzschuldner, der seine selbständige Tätigkeit fortführt. ___________ 410) Kritisch dazu Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Dahl/ Schindler, VIA 2011, 1, 3; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; MüKoInsOHefermehl, § 55 Rn. 147; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 411) Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031.; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 3; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 147; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 412) Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031.; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 3; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 413) Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. 23.08; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 3; Windel, RdA 2012, 366, 368; MüKoInsOHefermehl, § 55 Rn. 147; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 414) MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 171. 415) MüKoBGB-Henssler, § 615 Rn. 8 u. 28; Boecken, et al.-Boemke, BGB § 615 Rn. 6; ErfKPreis, BGB § 615 Rn. 7. 416) Statt aller Uhlenbruck-Ries, § 108 Rn. 46.
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II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
Dem Zweck des Masseschutzes wäre deshalb am Besten gedient, wenn ein soforti- 206 ger Rückfall der Arbeitgeberfunktion durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit an den Schuldner bejaht wird. Nur auf diese Weise wäre der Insolvenzverwalter nicht mehr Dienstberechtigter im Sinne des § 615 BGB, sodass eine Beendigung des Annahmeverzugs und eine Enthaftung der Masse eintritt. Nur wenn auch eine Lösung von Dauerschuldverhältnissen stattfindet und die Haftung der Insolvenzmasse nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO endet, wird die Masse wirkungsvoll geschützt. Hierin liegt freilich eine Abkehr von der bisher geltenden Rechtslage, wonach der Insolvenzverwalter nur durch eine Kündigung unter den vereinfachten Voraussetzungen des § 113 InsO verhindern kann, dass die Insolvenzmasse für die Arbeitsverhältnisse forthaftet. Selbst im Fall einer Kündigung wird die Insolvenzmasse jedoch zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bis zu drei Monate weiter belastet.417) Für den Belang des Masseschutzes ist es demnach notwendig, dass die Insolvenzmasse mit sofortiger Wirkung nicht mehr für die Lohnansprüche haftet.
(3) Arbeitnehmerschutz als ungeschriebener Zweck? Sobald Arbeitnehmer von den Auswirkungen eines Gesetzes betroffen sind, spielt 207 in der Regel auch der Arbeitnehmerschutz eine Rolle. Es ist nicht ersichtlich, dass bei der gesetzgeberischen Entscheidung zu § 35 Abs. 2 InsO der Arbeitnehmerschutz eine Rolle gespielt hat. Der Gesetzgeber geht in seiner Gesetzesbegründung zu § 35 Abs. 2 InsO nicht konkret auf Arbeitsverhältnisse und Arbeitnehmer ein.418) § 35 Abs. 2 InsO beinhaltet demnach keinen ausdrücklichen Arbeitnehmerschutzgedanken. Einzig der Masseschutz und die Förderung der Fortführung der selbständigen Tä- 208 tigkeit sind legislative Ziele des § 35 Abs. 2 InsO. Obwohl sich aus der Ermöglichungsabsicht kein Hinweis auf die Auswirkungen der Freigabe der selbständigen Tätigkeit auf die Arbeitsverhältnisse ergibt, muss zumindest unter dem Gedanken des Masseschutzes ein Rückfall der Arbeitgeberfunktion mit allen damit einhergehenden Vor- und Nachteilen an den Schuldner angenommen werden.
dd) Insolvenzrechtliche Systematik Die Lösung für die Frage, ob auch bestehende Vertragsverhältnisse und insbeson- 209 dere Arbeitsverhältnisse von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden, ist ferner in systematischen Erwägungen zu suchen.
___________ 417) Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 108. Ausführlicher dazu bei der systematischen Auslegung unter Rn. 209 ff. 418) BT-Drucks. 16/3227, S. 17, S. 23 f. u. S. 26 f.
69
C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
210 Allgemein behalten arbeitsrechtliche Vorschriften, wie etwa der Kündigungsschutz oder § 613a BGB, auch in der Insolvenz ihre Gültigkeit.419) Durch die Insolvenzordnung werden nur punktuell Ausnahmen gemacht, die eine Sanierung oder Abwicklung des insolventen Unternehmens erleichtern.420) Für Dauerschuldverhältnisse, die bereits vor Eröffnung der Insolvenz bestanden, hat der Gesetzgeber beispielsweise durch Schaffung der §§ 109, 113 InsO besondere Lösungsmöglichkeiten vom Vertrag zur Verfügung gestellt. Dabei wird auf besondere Anforderungen einzelner Vertragsarten, wie Miet- (§ 109 InsO) und Arbeitsverträge (§ 113 InsO), Rücksicht genommen.421) § 113 InsO ermöglicht es dem Insolvenzverwalter, ein Arbeitsverhältnis mit einer maximalen Kündigungsfrist von drei Monaten zu kündigen, selbst wenn die ordentliche Kündigung eigentlich ausgeschlossen ist.
211 Lässt man eine Freigabe auch von bestehenden Arbeitsverhältnissen zu, würden §§ 108, 113 InsO umgangen.422) Zum einen liefe § 108 InsO leer, da Arbeitsverträge dann nicht mehr oktroyierte Masseverbindlichkeiten wären. Der Insolvenzverwalter könnte durch die Erklärung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ähnlich wie bei § 103 InsO mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens entscheiden, ob durch das Arbeitsverhältnis Masseverbindlichkeiten begründet werden oder nicht. Gibt er die selbständige Tätigkeit und damit das Arbeitsverhältnis frei, lehnt er entsprechend § 103 InsO eine Erfüllung der Arbeitnehmeransprüche ab. Mit sofortiger Wirkung würde der Arbeitnehmer nicht mehr bevorzugt zu befriedigende Masseverbindlichkeiten begründen, sondern auf den Schuldner als Gläubiger verwiesen. Dabei geht die Rechtsfolge der Freigabeerklärung sogar noch über die Wirkung des § 103 InsO hinaus. § 103 Abs. 2 S. 1 InsO gesteht dem Vertragspartner schließlich zumindest noch einen Anspruch wegen Nichterfüllung als Insolvenzgläubiger zu.423) Dass dieser Anspruch auch bei der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO bestehen soll, erschließt sich nicht. Priebe stellt in diesem Zusammenhang richtigerweise fest, dass der von der Freigabe betroffene Vertragspartner, der eigentlich privilegierter Inhaber von Masseverbindlichkeiten sein soll, sogar noch schlechter steht.424)
212 Zum anderen werden aber auch die allgemeinen Voraussetzungen des Kündigungsschutzes unterlaufen. Nimmt man an, dass die Arbeitsverhältnisse mit Erklärung der Freigabe zurück an den Schuldner fallen, bedürfte es nicht mehr der Voraussetzungen einer Kündigung. Eine schlichte Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters gegenüber dem Schuldner würde ausreichen.425) Damit einher geht eine Um___________ 419) 420) 421) 422)
Statt aller ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Windel, AP InsO § 35 Nr. 1. Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; Holzer, ZVI 2007, 289, 292; Gutsche, ZVI 2008, 41, 44 f.; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1107; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 941 f. 423) Priebe, ZInsO 2010, 1673, 1677. 424) Priebe, ZInsO 2010, 1673, 1677. 425) So etwa Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 116; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273.
70
II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
gehung der ansonsten geltenden Regelungen der Insolvenzordnung und des allgemeinen Kündigungsrechts zur Beendigung und damit Enthaftung der Insolvenzmasse von Dauerschuldverhältnissen. Gerechtfertigt wird diese Umgehung mit der hohen Belastung der Insolvenzmasse durch die Arbeitnehmerforderungen.426) Dabei hat der Gesetzgeber gesehen, dass die Insolvenzmasse durch Arbeitsverhältnisse besonders belastet wird. Er hat die Kündigungsfrist nach § 113 S. 2 InsO verkürzt und damit die Haftung der Masse durch Höchstfristen limitiert, wodurch zumindest partiell Abhilfe geschaffen wurde.427) In Bezug auf Arbeitsverhältnisse wurde eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen durch den Gesetzgeber vorgenommen.428) Hinzu kommt, dass § 113 InsO keinen Kündigungsgrund „an sich“ enthält, sondern 213 einen eigenständigen Kündigungsgrund voraussetzt und nur punktuell die Kündigung vereinfacht.429) Eine Anwendbarkeit von § 35 Abs. 2 InsO auf bereits bestehende Arbeitsverhältnisse umgeht damit nicht nur §§ 108, 113 InsO, sondern ebenfalls das gesamte KSchG, das grundsätzlich auch in der Insolvenz gilt.430) Auch wenn in der Regel ein (betriebsbedingter) Kündigungsgrund im Fall der Unternehmensfreigabe vorliegt, ist die Freigabe nur eines Betriebsteils, soweit man diese Teilfreigabe mit der wohl herrschenden Meinung431) für möglich hält, denkbar. Dann würde zumindest die Pflicht zur nötigen Sozialauswahl umgangen. Kommen mehrere Arbeitsverhältnisse für einen Ausschluss von der Insolvenzmasse und einen Rückfall an den Schuldner in Betracht, müsste der Insolvenzverwalter im Rahmen einer Sozialauswahl bei einer Kündigung entscheiden, welche Arbeitsverhältnisse an den Schuldner zurückfallen und welche weiterhin Masseverbindlichkeiten begründen aber letztlich beendet werden.432) Das Erfordernis der Sozialauswahl würde ebenfalls durch die Entbehrlichkeit einer Kündigungserklärung bei Freigabe der selbständigen Tätigkeit unter Einbeziehung der Arbeitsverhältnisse umgangen. Ries und Bornemanns Einwand, dass § 35 Abs. 2 InsO eine Ausnahmevorschrift 214 sei, die gerade eine Ausnahme von den in der Regel anwendbaren Vorschriften machen wolle, überzeugt als Argument für einen Übergang der Arbeitsverhältnisse ___________ 426) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2035 f. 427) Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung (4. Aufl.), § 108 Rn. 2; Däubler, et al.-Markowski, InsO § 113 Rn. 4; Ascheid/Preis/Schmidt-Künzl, InsO § 113 Rn. 3. u. Rn. 6; jeweils m. w. N. 428) Ascheid/Preis/Schmidt-Künzl, InsO § 113 Rn. 3 u. Rn. 6. 429) BAG, Urt. v. 15.12.2011 – 8 AZR 692/10, ZInsO 2012, 1851, 1855. 430) Zur Geltung des KSchG in der Insolvenz ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. 431) Str. Für die Möglichkeit der Freigabe eines abgrenzbaren Teils Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 698; Ahrens, NZI 2007, 622, 625 f.; Heinze, ZVI 2007, 349, 351; Menn, ZVI 2011, 197, 198; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 116a; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 36; HmbKInsOM. Lüdtke, § 35 Rn. 271; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 53; a. A. Berger, ZInsO 2008, 1101, 1103; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937 942 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2123 f.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 98. 432) Statt aller Nerlich/Römermann-Hamacher, § 113 Rn. 133 ff., m. w. N.
71
C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
unabhängig von §§ 108, 113 InsO in dieser Form nicht.433) Als Ausnahme von einer Regel wäre die Norm grundsätzlich eng auszulegen. Vorliegend ist jedoch unklar, ob bereits bestehende Dauerschuldverhältnisse von dem generellen Ausnahmetatbestand des § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden sollen oder nicht. Der Verweis darauf, dass § 35 Abs. 2 InsO ein Ausnahmecharakter zukomme, ist vielmehr ein Argument für die enge Auslegung, die nicht bereits bestehende Arbeitsverhältnisse erfasst.
215 Würde man anstelle einer Freigabe der Arbeitsverhältnisse eine Kündigung verlangen, wirft Andres ein, dass der Insolvenzverwalter dann viele Einzelerklärungen in Form von Kündigungen abgeben müsste – vielfach wisse er aber gar nicht, mit wem Vertragsbeziehungen bestehen würden.434) Diese Bedenken überzeugen für einfache Schuldverhältnisse, die § 103 InsO unterfallen. Bei Dauerschuldverhältnissen und insbesondere bei Arbeitsverhältnissen stellt sich das Problem jedoch in der Regel nicht, da sich in den allermeisten Fällen Aufzeichnungen, etwa in Form einer Lohnbuchhaltung oder in schriftlichen Arbeitsverträgen, finden lassen werden.
216 Vereinzelt wird vertreten, § 108 InsO baue in Verbindung mit § 113 InsO ein schutzwürdiges Vertrauen auf Seiten des Arbeitnehmers dahingehend auf, dass er zumindest für den Zeitraum der höchstens dreimonatigen Kündigungsfrist aus § 113 S. 2 InsO bevorzugt zu befriedigender Massegläubiger ist.435) Der Arbeitnehmer konnte bei Vertragsschluss auf die Haftungsmasse im Rahmen des geltenden Insolvenzrechts vertrauen.436) Wendet man nun § 35 Abs. 2 InsO auch auf Arbeitsverhältnisse an, tritt an die Stelle des Anspruchs gegen die Insolvenzmasse eine neue Haftungsmasse in Form der freigegeben Werte und des Neuerwerbs. Diese Haftungsmasse lag bei Vertragsschluss noch nicht vor, sodass sich der Arbeitnehmer nicht darauf einstellen konnte.437)
217 Dagegen wird berechtigterweise eingewandt, dass § 113 S. 2 InsO nicht bezweckt, die Arbeitnehmer zu begünstigen. Mit der Norm soll die Masse vor langen Kündigungsfristen oder ordentlicher Unkündbarkeit des Arbeitnehmers geschützt werden.438) § 113 S. 2 InsO liegt damit nicht der Gedanke des Arbeitnehmerschutzes zugrunde, sondern – im Gegenteil – der Schutz der Insolvenzmasse zulasten des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes. Ein Schutzgedanke zugunsten von Arbeitnehmern lässt sich aber auch im Insolvenzrecht nicht verleugnen. So trifft § 108 Abs. 1 S. 1 InsO die von § 103 InsO abweichende Regelung, dass unter anderem Arbeitsverhältnisse nicht vom Wahlrecht des Insolvenzverwalters abhängig sind und der ___________ 433) 434) 435) 436) 437) 438)
72
Ries, ZInsO 2009, 2030, 2035; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 54. Andres, NZI 2012, 413, 413. Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; Gutsche, ZVI 2008, 41, 44 f. Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1243. Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1243. HmbKInsO-A. Ahrendt, § 113 Rn. 30 ff.; K. Schmidt-Ahrens, § 113 Rn. 1; Uhlenbruck-Ries, § 108 Rn. 50; Braun-Bäuerle, § 35 Rn. 138.
II. Freigabe des Arbeitsverhältnisses
Insolvenzmasse aufgezwungen werden. Hierdurch werden Arbeitnehmer gegenüber anderen Gläubigern erheblich privilegiert.439) Auch wenn man durch § 113 InsO keinen besonderen Vertrauensschutz begründet sieht, kann nicht bezweifelt werden, dass auch das Insolvenzrecht den Arbeitnehmer als im Grunde schutzbedürftig ansieht. Das Zugeständnis einer höchstens dreimonatigen Kündigungsfrist, in denen die Arbeitnehmer bevorzugte Massegläubiger sind, ist ebenfalls das Ergebnis einer Abwägung zwischen dem Interesse der Arbeitnehmer an möglichst langer vorzugsweiser Befriedigung und dem Interesse der Insolvenzgläubiger, die Masse möglichst frei von Ansprüchen zu halten.440) Demnach ergeben sich aus der insolvenzrechtlichen Systematik Zweifel an einer 218 Anwendung des § 35 Abs. 2 InsO auf bereits bestehende Arbeitsverhältnisse.
d) Zwischenergebnis Die zugrundeliegende Frage nach dem Übergang der Arbeitsverhältnisse ist kon- 219 trovers diskutierbar. Dass die Diskussion überhaupt aufkommen konnte, ist dem unklaren Wortlaut des § 35 Abs. 2 InsO geschuldet. Aus der Norm ergibt sich nach einer ersten Lektüre nicht, ob auch Arbeitsverhältnisse von einer Vertragsfreigabe betroffen sein sollen. Vielmehr ist eine Auslegung des Wortlauts in beide Richtungen möglich. Insbesondere die Deutung des Abschnitts über den Freigabegegenstand „aus der selbständigen Tätigkeit“ lässt zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten darüber zu, was von der Freigabe erfasst ist und was nicht. Unter Rückgriff auf die weiteren Auslegungscanones spricht insbesondere die Sys- 220 tematik des Insolvenzrechts gegen einen Übergang der Arbeitsverhältnisse durch die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO. Durch die Freigabe des Arbeitsverhältnisses würden die bisher anerkannten Lösungsmöglichkeiten, die es dem Insolvenzverwalter bereits vor Einführung des § 35 Abs. 2 InsO ermöglichten, die Insolvenzmasse vor unbegrenzten Masseverbindlichkeiten durch Arbeitnehmeransprüche zu schützen, umgangen. Eine Freigabe von Arbeitsverhältnissen ist systemfremd. Der sich aus der Gesetzesbegründung ergebende Zweck der Förderung der selb- 221 ständigen Tätigkeit durch den Schuldner ist, wie gezeigt, kein tauglicher Abgrenzungspunkt für die Frage nach dem Übergang der Arbeitsverhältnisse. Er ermöglicht eine Interpretation in beide Richtungen. Vielmehr kommt es zur Erfüllung des Zwecks auf den konkreten Einzelfall an, sodass sich hieraus kein zwingender Schluss auf einen Verbleib des Arbeitsverhältnisses in der Insolvenzmasse ergibt. Einen eindeutigen Fingerzeig gibt aber das Ziel des Masseschutzes. Die Insolvenzmasse wird vor Forderungen aus Arbeitsverhältnissen am effektivsten geschützt, ___________ 439) K. Schmidt-Ringstmeier, § 108 Rn. 1 ff. 440) Ascheid/Preis/Schmidt-Künzl, InsO § 113 Rn. 3 u. Rn. 6.
73
C. Wirkung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis
indem mit sofortiger Wirkung keine bevorzugt zu befriedigenden Masseverbindlichkeiten mehr entstehen.
222 Das größte Gewicht kommt aber dem Willen des Gesetzgebers zu. Hier ist davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber auch ein Übergang der Vertragsverhältnisse bei Schaffung des § 35 Abs. 2 InsO vor Augen schwebte und die Insolvenzmasse von bereits bestehenden Vertragsverhältnissen entlastet werden sollte. Ob der Gesetzgeber dabei die der selbständigen Tätigkeit zugehörigen Arbeitsverhältnisse im Blick hatte, ergibt sich aus der Gesetzesbegründung hingegen nicht. Zweifellos wird aber die Insolvenzmasse geschützt, indem die Arbeitnehmer von der Begründung bevorzugt zu befriedigender Masseverbindlichkeiten abgehalten werden. Wie der Gesetzgeber dieses erstrebte Ziel erreicht, steht ihm – in den Grenzen des höherrangigen Rechts – frei.
223 Ein Übergang der Arbeitgeberfunktion und damit ein Rückfall der Arbeitsverhältnisse auf den Schuldner einschließlich eines Wechsels der Haftungsmasse von der Insolvenzmasse zum insolvenzfreien Vermögen des Schuldners findet damit statt.
74
D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen Nach Anwendung der Auslegungscanones kommt man zu dem Ergebnis, dass der 224 Gesetzgeber beabsichtigt hat, die Insolvenzmasse durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit auch von den Arbeitsverhältnissen zu enthaften. Dieses Ergebnis berührt die Interessen von den beteiligten Parteien in mehrfacher Hinsicht. Wie so oft im Insolvenzrecht sind gleich mehrere Parteien von der Regelung des § 35 Abs. 2 InsO betroffen. Zahlreiche Interessen der Betroffenen sind durch die Grundrechte verfassungsrechtlich garantiert. Ob das vom Gesetzgeber nach hier vertretener Ansicht beabsichtigte Ergebnis der Auslegung des § 35 Abs. 2 InsO mit den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Grundgesetzes, insbesondere den Grundrechten der betroffenen Parteien, vereinbar ist, gilt es zu prüfen.
I.
Verfassungsrechtliche Wertung und Insolvenzrecht
Die objektive Werteordnung des Grundgesetzes und insbesondere die Grundrechte 225 beeinflussen die Insolvenzordnung.441) Die Grundrechte binden mit ihrer objektivrechtlichen Funktion zuvorderst den Staat. Sie enthalten Handlungsgebote und Verbote, das heißt sie gebieten den Schutz von Rechten und Interessen der Grundrechtsträger und verbieten den ungerechtfertigten Eingriff in Rechte des Bürgers.442) Aus der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte ergeben sich neben dem Eingriffsverbot in einzelne Grundrechte auch Schutzpflichten des Staates, die den Staat dazu verpflichten, dem Grundrechtsträger optimal die Ausübung seiner Grundrechte zu ermöglichen.443) Die Grundrechte verkörpern in diesem Zusammenhang eine objektive Werteordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung von allen Grundrechtsgebundenen zu wahren ist.444) Daneben tritt die subjektiv-rechtliche Funktion, die dem einzelnen Bürger das Recht zubilligt, vom Staat ein Tun oder Unterlassen zu fordern.445) Der Gesetzgeber ist sowohl beim Erlass von öffentlich-rechtlichen Vorschriften als 226 auch beim Erlass von Privatrechtsvorschriften, zu denen die Insolvenzordnung trotz der vereinzelten Befugnis zu gerichtlichen Eingriffen in Verfahrensrechte von Pri___________ 441) Dazu ausführlich Lepa, Insolvenzordnung und Verfassungsrecht, S. 15 ff. 442) Epping, Grundrechte, Rn. 11. 443) BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/57, NJW 1958, 257, 257; Urt. v. 25.2.1975 – 1 BvF 16/74, NJW 1975, 573, 575. 444) Grundlegend BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/57, NJW 1958, 257, 257; Sachs-Sachs, Vor. Art. 1 Rn. 32; Schmidt-Bleibtreu/Klein-Müller-Franken, Vor. Art. 1 Rn. 21 f.; Jarass/PierothJarass, Art. 1 Rn. 52 ff. 445) Epping, Grundrechte, Rn. 12.
75
D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
vaten gehört446), unmittelbar an die Grundrechte gebunden.447) Er muss also auch bei Schaffung der Freigabemöglichkeit nach § 35 Abs. 2 InsO die Grundrechte der von der Norm betroffenen Personen als wertsetzende Grundentscheidung der Verfassung für alle Bereiche des Rechts und damit auch für das Insolvenzrecht achten und in seine Entscheidung einbeziehen.448)
227 Besonders wenn eine Norm dem Rechtsanwender durch unbestimmte Rechtsbegriffe oder andere auslegungsbedürftige und auslegungsfähige Tatbestandsmerkmale die Möglichkeit zur Interpretation gibt, ist das zu erreichende Auslegungsergebnis vorrangig, das die betroffenen Grundrechte so weit wie möglich wahrt.449)
II. Einfluss des Verfassungsrechts auf § 35 Abs. 2 InsO 228 Mit Blick auf die Freigabe der Arbeitsverhältnisse ist festzustellen, dass der Wortlaut von § 35 Abs. 2 InsO sehr weit gefasst ist. Wie gezeigt, ist eine direkte Aussage darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen auch Arbeitsverhältnisse von einer Freigabeerklärung erfasst werden, der Norm nicht zu entnehmen. Erst durch die Auslegung, insbesondere unter Einbeziehung des Willens des Gesetzgebers, kann der Norm eine Aussage über die Frage nach dem Übergang der Arbeitgeberfunktion entnommen werden.450)
229 § 35 Abs. 2 InsO unterliegt dabei aber der wertenden Grundentscheidung der Verfassung. In Bezug auf auslegungsbedürftige und auslegungsfähige Tatbestandsmerkmale ist § 35 Abs. 2 InsO im Lichte des Grundgesetzes zu sehen.451) Kann ein verfassungskonformes Ergebnis durch methodisch vertretbare Gesetzesauslegung erlangt werden, ist diese Interpretation maßgeblich.452) Ob das bereits anhand der anerkannten Auslegungscanones erarbeitete Ergebnis auch im Lichte der Verfassung Bestand haben kann, gilt es zu prüfen. Das erlangte Auslegungsergebnis muss dabei die Grundrechte der Betroffenen berücksichtigen und bei entgegenstehenden ___________ 446) K. Schmidt-K. Schmidt, Einleitung Rn. 19. 447) Vertiefend Lepa, Insolvenzordnung und Verfassungsrecht, S. 36 ff. u. S. 43 ff. Auch der Insolvenzverwalter ist trotz seiner Berufung durch das Insolvenzgericht nach § 27 Abs. 1 InsO nicht der öffentlichen Gewalt zuzuordnen, da er nicht im Interesse des Staates, sondern im Interesse der Gläubiger handelt. Dazu Lepa, Insolvenzordnung und Verfassungsrecht, S. 30; Doebert, Die Insolvenzanfechtung von Lohnzahlungen, S. 247; Foerste, Insolvenzrecht, Rn. 48. 448) BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/57, NJW 1958, 257, 257; Beschl. v. 19.4.2005 – 1 BvR 1644/00, NJW 2005, 1561, 1565; Lepa, Insolvenzordnung und Verfassungsrecht, S. 33 ff. u. S. 60 ff. 449) BVerfG, Beschl. v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3428, 3432. 450) Siehe dazu bereits oben Rn. 169 ff. 451) BVerfG, Beschl. v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09, NJW 2011, 3428, 3432. 452) BVerfG, Urt. v. 24.4.1985 – 2 BvF 2/83, NJW 1985, 1519, 1527 f.; Beschl. v. 9.1.1991 – 1 BvR 929/89, NJW 1991, 1807, 1809; BAG, Beschl. v. 29.6.2011 – 7 ABR 15/10, NZA 2012, 408, 409.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
Interessen im Rahmen der praktischen Konkordanz zu einem die Grundrechte weitest möglich wahrenden Ergebnis kommen.453)
III. Auslegung im Lichte der Verfassung Um eine verfassungsrechtliche Bewertung des § 35 Abs. 2 InsO im Hinblick auf die 230 Freigabe der Arbeitsverhältnisse zu ermöglichen, müssen zunächst die betroffenen Grundrechtsträger und deren Grundrechte herausgearbeitet werden.
1.
Grundrechte der Arbeitnehmer
Zunächst wird den Arbeitnehmern ein neuer Schuldner und eine neue Haftungs- 231 masse in Bezug auf ihre Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis vermittelt. Ob dadurch ein Eingriff in ihre Grundrechte vorliegt, ist somit zu prüfen. Für die Arbeitnehmer kommen mehrere potentiell durch die Freigabe betroffene Grundrechte in Betracht.
a) Art. 1 Abs. 1 GG – die Menschenwürde oder: Verobjektivierung durch Freigabe? Zunächst lässt sich an die allgemeine Menschenwürde des Arbeitnehmers aus Art. 232 1 Abs. 1 GG denken. Die Menschenwürde wird vom BVerfG als der soziale Wert und Achtungsanspruch des Menschen verstanden, der jedem unabhängig von Verdiensten, Eigenschaften, sozialem Status oder körperlichem oder geistigem Zustand alleine kraft seines Personseins zukommt.454) Ein Eingriff in die Menschenwürde liegt immer dann vor, wenn der soziale Wert 233 und Achtungsanspruch des Menschen, der es verbietet, ihn zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen, berührt ist.455) Diese sogenannte Objektformel456) wird aufgrund der Gegebenheit, dass der Mensch sich als Rechtsadressat häufig in einer Objektstellung befindet, einschränkend dahingehend ausgelegt, dass nicht bei jeder bagatellartigen Beeinträchtigung bereits ein Eingriff in den Schutzbereich der Menschenwürde vorliegt. Es bedarf vielmehr einer die Subjektivität des Menschen an sich verneinenden Behandlung, die den Menschen zum Objekt bloßer Willkür macht.457) ___________ 453) BVerfG, Urt. v. 15.1.1958 – 1 BvR 400/57, NJW 1958, 257, 257 f.; Beschl. v. 19.4.2005 – 1 BvR 1644/00, NJW 2005, 1561, 1565; Beschl. v. 25.10.2005 – 1 BvR 1696/98, NJW 2006, 207, 208; BAG, Beschl. v. 29.6.2011 – 7 ABR 15/10, NZA 2012, 408, 409. 454) BVerfG, Urt. v. 15.12.1970 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 1/69, 2 BvR 308/69, NJW 1971, 275, 279; Beschl. v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94, NJW 1998, 519, 521. 455) BVerfG, Beschl. v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94, NJW 1998, 519, 521; Beschl. v. 17.12.2005 – 1 BvR 1359/05, NJW 2006, 1580, 1580 f. 456) Zum Begriff Maunz/Dürig-Herdegen, Art. 1 Abs. 1 Rn. 36. 457) BVerfG, Urt. v. 15.12.1970 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 1/69, 2 BvR 308/69, NJW 1971, 275, 279.
77
D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
234 Nimmt man an, das Arbeitsverhältnis des Arbeitnehmers würde nach § 35 Abs. 2 InsO durch die Freigabe ohne weitere Voraussetzungen an den Insolvenzschuldner zurückfallen, ist darin ein Verstoß gegen die Objektformel zu sehen.458) Grundsätzlich können nur Vermögensgegenstände von einer insolvenzrechtlichen Freigabe erfasst werden.459) Gegenstände können und sollen aus der Insolvenzmasse freigegeben werden, wenn sie massebelastend sind.460) Das Gleiche soll nun für Arbeitsverhältnisse durch § 35 Abs. 2 InsO ermöglicht werden. Wenn § 35 Abs. 2 InsO Arbeitsverhältnisse erfasst, lässt sich eine Parallelität zwischen einem Arbeitnehmer und einem Vermögensgegenstand als Verobjektivierung der Person des Arbeitnehmers deuten. Er wird gleich eines Gegenstandes „freigegeben“ um die Insolvenzmasse vor durch den Arbeitnehmer generierten Masseverbindlichkeiten zu schützen.
235 Durch die Freigabe entfällt zudem der sonst nach § 113 InsO in Verbindung mit den allgemeinen Vorschriften bestehende Kündigungsschutz. Die Aufgabe des Kündigungsschutzes ist es, die Interessen des Arbeitnehmers zu wahren und zu verhindern, dass er zu einem bloßen Produktionsfaktor wird, der beliebig ausgetauscht und verringert werden kann.461) Auch dieser Überlegung wohnt der Gedanke des Schutzes der Menschenwürde inne.462) Nimmt man nunmehr an, dass § 35 Abs. 2 InsO den Arbeitnehmer ohne weitere Voraussetzungen aus seiner Stellung als Anspruchsberechtigter gegen die Insolvenzmasse ausscheiden lässt, wird er zum bloßen Produktionsfaktor, der Kosten für die Insolvenzmasse verursacht. Lässt man eine Enthaftung durch bloße Erklärung des Insolvenzverwalters zu, ohne dass es weiterer Voraussetzungen, etwa in Form von § 113 InsO oder den allgemeinen Vorschriften des Arbeitnehmerschutzes bedarf, wird der Arbeitnehmer in diesem Sinne verobjektiviert und in Art. 1 Abs. 1 GG berührt.
b) Art. 1 Abs. 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip 236 Ebenfalls könnte das Sozialstaatsprinzip durch eine Freigabe des Arbeitsverhältnisses berührt sein.463) Bei dem Sozialstaatsprinzip, das im Grundgesetz in Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG niedergelegt ist, handelt es sich nicht um ein Grundrecht im engeren Sinne, sondern um eine Staatszielbestimmung, die aufgrund ihrer Unbestimmtheit durch den Gesetzgeber zu konkretisieren ist.464) In die___________ 458) 459) 460) 461)
A. A. Jaeger-Giesen, Vor. § 113 Rn. 15. Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 114; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 25. Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 254; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 74. Zur Aufgabe des Kündigungsschutzes, diese Herabwertung zu verhindern MünchArbRBerkowsky, § 108 Rn. 38. 462) MünchArbR-Berkowsky, § 108 Rn. 38. 463) Ausführlich zum Sozialstaatsprinzip Neuner, Privatrecht und Sozialstaat; Kingreen, Sozialstaatsprinzip. Das Sozialstaatsprinzip mit Blick auf die Insolvenzanfechtung von Lohnforderungen Doebert, Die Insolvenzanfechtung von Lohnzahlungen, S. 265 ff. 464) Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 139 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht, § 11 Rn. 11.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
sem Zusammenhang ist das Sozialstaatsprinzip durch den Gesetzgeber zu berücksichtigen und durch die Gerichte bei der Auslegung staatlicher Normen als verfassungsrechtliche Grundentscheidung heranzuziehen.465) Dabei kann das Sozialstaatsprinzip insbesondere bestehende grundrechtliche Schutzpflichten, die ihrerseits bereits einen sozialstaatlichen Kern innehaben (etwa Art. 6 GG, Art. 12 Abs. 1 GG oder Art. 14 Abs. 2 GG), verstärken.466) Inhaltlich garantiert das Sozialstaatsprinzip zunächst die Einhaltung sozialer Ge- 237 rechtigkeit und die gleichmäßige Verteilung von Lasten durch den Staat. Hierzu gehört, dass der Staat angemessene Voraussetzungen zu schaffen hat, die eine Fürsorge für hilfsbedürftige Bürger sicherstellt.467) Daneben soll das Sozialstaatsprinzip die Grundlage für ein Leben in Freiheit bieten. Damit einher geht die Garantie von Chancengleichheit beim Erwerb von Vermögen und der Ausgleich von sozialen Gegensätzen zum Erhalt einer gerechten Sozialordnung.468) In diesem Zusammenhang sind insbesondere in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG 238 die Mindestvoraussetzungen für eine menschenwürdige Existenzgrundlage zu schaffen.469) Das Gebot richtet sich zuvorderst an den Gesetzgeber, der die Voraussetzungen für ein effektives System der sozialen Sicherheit schaffen muss. Dieses System hat der Gesetzgeber unter anderem durch den Aufbau von Sozial- und Rentenversicherungen, die Gewährung von Sozialhilfe und konkret für das Insolvenzrecht mit dem Anspruch des Arbeitnehmers auf Insolvenzgeld geschaffen.470) Dass eine Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO mit sofortiger Wirkung für die Arbeits- 239 verhältnisse die menschenwürdige Existenzgrundlage berührt, ist jedoch nicht ersichtlich. Zwar ließe sich zunächst daran anknüpfen, dass der Arbeitnehmer durch eine unmittelbar auf sein Arbeitsverhältnis wirkende Freigabe seine Lohnforderungen nicht mehr gegen die Insolvenzmasse geltend machen kann. Der Arbeitslohn ist dabei im allgemeinen die wirtschaftliche Lebensgrundlage. Zu einer Gefährdung der im Lichte der Menschenwürde gebotenen Existenzgrundlage kommt es dennoch nicht. Schließich entstehen neue Lohnansprüche gegen den Schuldner, der durch die Freigabe wieder Berechtigter und Verpflichteter aus dem Arbeitsverhältnis würde. Zudem greift das staatliche Sicherungssystem in Form von Arbeitslosen___________ 465) BVerfG, Beschl. v. 19.12.1951 – 1 BvR 220/51, NJW 1952, 297, 298; Beschl. v. 13.1.1982 – 1 BvR 848/77 u. a., NJW 1982, 1447, 1449; Stern, Staatsrecht I, S. 916 f. 466) Kloepfer, Verfassungsrecht, § 11 Rn. 98; Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 20 Rn. 28. 467) Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 20 Rn. 156. 468) BVerfG, Beschl. v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, NJW 1999, 3033, 3034; Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 20 Rn. 159 ff. 469) BVerfG, Beschl. v. 29.5.1990 – 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, NJW 1990, 2869, 2870; Urt. v. 9.4.2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, NJW 2010, 505, 507 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 20 Rn. 27 u. 35; Hömig/Wolff-Antoni, Art. 20 Rn. 4. 470) Weitere Beispiele bei Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 20 Rn. 29.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
geld, Sozialhilfe und gegebenenfalls Insolvenzgeld.471) Dass eine eventuelle staatliche Unterstützung der ursprünglichen Vergütung nicht gleichsteht, ist unerheblich, da es dem Staat nach seinem Ermessen freisteht, mit welchem Mittel er die menschwürdige Existenzgrundlage sichert.472)
240 Ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip scheidet somit aus.
c)
Art. 12 Abs. 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip
241 Die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG ist ebenfalls von der Ausstrahlwirkung des Sozialstaatsprinzips erfasst.473) Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG schützt, anders als der Wortlaut vermuten lässt, nicht ausschließlich die Wahl des Berufes, sondern auch die Freiheit der Berufsausübung und ist damit ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit.474)
aa) Bestandsschutz 242 Das Sozialstaatsprinzip umfasst nicht nur die Fürsorge für Bedürftige, was im Rahmen von Art. 1 Abs. 1 GG von besonderer Bedeutung ist, sondern auch die Pflicht, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen.475) Im Zusammenspiel mit Art. 12 Abs. 1 GG ergibt sich ein grundsätzlicher Bestandsschutz für das Arbeitsverhältnis, der in Abwägung mit Interessen des Arbeitgebers und potentiellen Arbeitsplatzbewerbern gewährt werden muss.476) Den Staat trifft insbesondere eine Schutzpflicht vor ungerechtfertigtem Verlust des Arbeitsplatzes.477) Dieser Schutz wird grundsätzlich durch das KSchG gewährt. Sozial nicht gerechtfertigte Kündigungen sind nach § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam. Das KSchG gilt allerdings nur für Betriebe, die nach § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG in dessen Anwendungsbereich fallen. Mitarbeiter von Kleinbetrieben, auf die das Gesetz nicht anwendbar ist, sind jedoch auch nicht schutzlos gestellt. Für sie besteht zumindest ein grundlegender Schutz des Bestandsinteresses durch Art. 12 Abs. 1 GG, der über die zivilrechtlichen ___________ 471) Zur Frage nach dem Insolvenzgeldanspruch im Zweitverfahren siehe tiefergehend unter Rn. 526 ff. 472) St. Rspr. BVerfG, Beschl. v. 27.4.1999 – 1 BvR 2203/93, 1 BvR 897/95, NJW 1999, 3033, 3034; Sachs-Sachs, Art. 20 Rn. 48. 473) Stern, Staatsrecht I, S. 926. 474) St. Rspr. BVerfG, Urt. v. 11.6.1958 – 1 BvR 596/56, NJW 1958, 1035, 1036 f.; Beschl. v. 21.2.1995 – 1 BvR 1397/93, NZA 1995, 619, 620; Beschl. v. 20.3.2001 – 1 BvR 491/96, NJW 2001, 1779, 1779. 475) Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 20 Rn. 161. 476) BVerfG, Beschl. v. 13.1.1982 – 1 BvR 848/77 u. a., NJW 1982, 1447, 1448 ff.; Beschl. v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, NJW 1998, 1475, 1476. 477) BVerfG, Beschl. v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, NJW 1998, 1475, 1475; Ascheid/Preis/SchmidtPreis, 1. Teil, J., Rn. 64.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
Generalklauseln aus § 138 BGB und § 242 BGB auch im Privatrecht wirkt.478) Bei mehreren in Betracht kommenden Arbeitnehmern garantiert Art. 12 Abs. 1 GG daneben eine grundlegende Rücksichtnahme bei der Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer, wobei insbesondere soziale Belange beachtet werden sollen.479) Nimmt man an, das Arbeitsverhältnis fiele bei Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ohne 243 weitere Voraussetzungen auf den Schuldner zurück, ließe sich darin ein Verstoß gegen den von Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip gewährten Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses sehen. Grundsätzlich muss der Insolvenzverwalter eine Kündigung aussprechen, um die Insolvenzmasse vor der Entstehung von Lohnforderungen zu schützen. § 108 Abs. 1 InsO statuiert, dass der Bestand des Arbeitsverhältnisses nicht von der Eröffnung der Insolvenz berührt wird. Dem Insolvenzverwalter wird aus Gründen des Masseschutzes und zum Zweck der Verschlankung des Unternehmens aber in § 113 S. 1 InsO eine vereinfachte Kündigungsmöglichkeit mit verkürzten Kündigungsfristen zugestanden.480) Die Insolvenzordnung berührt darüber hinaus nicht die allgemeinen Grundsätze des Kündigungsschutzes, das heißt, der Insolvenzverwalter muss grundsätzlich die allgemeinen kündigungsschutzrechtlichen Regeln beachten.481) Zur Rechtfertigung der Beendigung des Arbeitsverhältnisses bedarf es eines eigenständigen Grundes, wobei die bloße Eröffnung des Insolvenzverfahrens kein eigenständiger Kündigungsgrund ist.482) Der von Art. 12 Abs. 1 GG garantierte Bestandsschutz wird somit auch in der Insolvenz durch die Regelungen des KSchG und die zivilrechtlichen Generalklauseln gewährt. Geht man davon aus, dass ohne die Notwendigkeit weiterer Erklärungen die Frei- 244 gabe nach § 35 Abs. 2 InsO die Arbeitgeberstellung direkt vom Insolvenzverwalter auf den Schuldner übergeht, ist auch der Ausspruch einer Kündigung unter Einhaltung des oben dargelegten Kündigungsschutzes durch den Insolvenzverwalter nicht mehr notwendig. Die Insolvenzmasse wird von der Belastung durch die Arbeitsverhältnisse ganz ohne Abgabe einer Erklärung gegenüber dem Schuldner befreit. Es besteht demnach auch keine Erklärung, die auf eine Sozialwidrigkeit kontrolliert werden könnte, sodass der von Art. 12 Abs. 1 GG gewährte Bestandsschutz nicht mehr durch die Voraussetzungen des KSchG oder die zivilrechtlichen Generalklauseln garantiert wird. Dem BAG ist diese Rechtsfolge bewusst und es rechtfertigt sie in seiner grundlegenden Entscheidung zu § 35 Abs. 2 InsO mit fehlen___________ 478) BVerfG, Beschl. v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, NJW 1998, 1475, 1476; ErfK-I. Schmidt, GG Art. 12 Rn. 37; ausführlich dazu P. Hanau, FS Dieterich, 201, 201 ff. 479) P. Hanau, FS Dieterich, 201, 207 f. 480) Braun-A. Beck, § 113 Rn. 1 f. 481) Nerlich/Römermann-Hamacher, § 113 Rn. 31; Uhlenbruck-Zobel, § 113 Rn. 22; ErfK-MüllerGlöge, InsO § 113 Rn. 1. 482) BAG, Urt. v. 5.12.2002 – 2 AZR 571/01, NJW 2003, 2258, 2258 f.; HeidelbKInsO-Linck, § 113 Rn. 1.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
dem schutzwürdigen Vertrauen des Arbeitnehmers.483) Es wendet ein, dass der Arbeitnehmer kein schutzwürdiges Vertrauen auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses gegenüber dem Insolvenzverwalter aufgebaut habe. Vielmehr bestehe ein Bestandsschutz nur gegenüber dem ursprünglichen Vertragspartner, das heißt dem Schuldner. Dieser Bestandsschutz werde nicht berührt, da durch die Freigabe einzig die ursprüngliche Rechtslage wiederhergestellt werde, in der der Schuldner Inhaber der Arbeitgeberfunktion und auch die einzige zur Lohnzahlung verpflichtete Partei aus dem Arbeitsverhältnis ist.484)
245 Das BAG übersieht durch diese Überlegung jedoch in zweierlei Hinsicht, dass die Belange des Art. 12 Abs. 1 GG und der daraus fließende Bestandsschutz durch die Freigabe verletzt werden können.
246 Erstens ist es möglich, dass der Schuldner in Absprache mit dem Insolvenzverwalter nur einen Teil seiner ursprünglich ausgeübten selbständigen Tätigkeit fortführen will.485) Wird dann aber der in der Insolvenzmasse verbleibende Teil der selbständigen Tätigkeit eingestellt, ist eine Sozialauswahl geboten. Es fällt nur ein Teil der Arbeitsverhältnisse an den Schuldner zurück. Die Belange der sozial schwächeren Arbeitnehmer müssen bei der Entscheidung berücksichtigt werden, welche Arbeitnehmer auf den Schuldner zurückfallen und welche beim stillzulegenden Betriebsteil verbleiben.
247 Zweitens gewährt der Bestandsschutz in Verbindung mit der Vertragsfreiheit auch ein grundsätzliches Vertrauen darauf, dass dem Arbeitnehmer nicht ohne Weiteres die für seine Lohnforderungen zur Verfügung stehende Haftungsmasse entzogen wird.486) Zwar schützt kein Grundrecht vor wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder beschränkter Liquidität des Vertragspartners. Dennoch sucht sich der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Vertragsfreiheit in der Regel einen Vertragspartner aus, bei dem er damit rechnen kann, dass seine Ansprüche erfüllt werden. Hierbei handelt es sich um einen entscheidenden Faktor für den Vertragsschluss. Für den Fall der Nichterfüllung eines Anspruchs kann der Vertragspartner dann auf pfändbares Vermögen zugreifen. Im Falle der Insolvenz des Vertragspartners, hier des Arbeitgebers, kann der Arbeitnehmer nach der Regelung aus § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 S. 1 InsO auf Ansprüche gegen die Insolvenzmasse ___________ 483) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326. 484) Zum vorstehenden BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326. 485) Str. Für die Möglichkeit der Freigabe eines abgrenzbaren Teils Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 698; Ahrens, NZI 2007, 622, 625 f.; Heinze, ZVI 2007, 349, 351; Menn, ZVI 2011, 197, 198; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 116a; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 36; HmbKInsOM. Lüdtke, § 35 Rn. 271; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 53; a. A. Berger, ZInsO 2008, 1101, 1103; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937 942 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2123 f.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 98. 486) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; zur Vertragsfreiheit siehe tiefergehend unter Rn. 250 f.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
vertrauen. Die Insolvenzmasse setzt sich nach § 35 Abs. 1 InsO wiederum aus dem Vermögen des Schuldners zusammen. Geht man nun davon aus, dass das Arbeitsverhältnis ohne Weiteres durch die Freigabe auf den Schuldner übergeht, wird dem Arbeitnehmer die Haftungsmasse genommen, die ihm als Sicherheit für seine zukünftigen Forderungen dient oder aus der er im Rahmen des Insolvenzverfahrens zumindest für die Dauer der Kündigungsfrist bevorzugt als Massegläubiger befriedigt werden könnte.487) Dem BAG ist damit insoweit zuzustimmen, dass der Arbeitnehmer kein Vertrauen auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses mit dem Insolvenzverwalter aufbaut.488) Dennoch besteht ein schutzwürdiges Vertrauen des Arbeitnehmers auf eine bevorzugte Befriedigung aus dem Vermögen des Arbeitgebers, den er sich in Ausübung seiner Vertragsfreiheit ursprünglich als Vertragspartner ausgesucht hat. Über dieses Vermögen verfügt nun jedoch nicht mehr der Arbeitgeber, sondern der Insolvenzverwalter. Der Bestandsschutz aus Art. 12 Abs. 1 GG garantiert dem Arbeitnehmer dabei zumindest für die Zeit der Kündigungsfrist nach § 113 S. 1 InsO eine bevorzugte Befriedigung aus der Insolvenzmasse als Massegläubiger.489) Dem wird entgegengehalten, dass die verkürzte Kündigungsfrist aus § 113 InsO 248 nicht vertrauensschützend sei, sondern gerade das Vertrauen auf eine längere Kündigungsfrist beseitige.490) Diese Ansicht berücksichtigt jedoch nicht hinreichend, dass § 113 S. 3 InsO das verletzte Vertrauen mit einem Schadenersatzanspruch des Arbeitnehmers zumindest monetarisiert.491) § 113 InsO berücksichtigt damit durchaus das Vertrauen des Arbeitnehmers. Hinzu kommt, dass das Vertrauen des Arbeitnehmers, als Massegläubiger befriedigt zu werden, sich nicht aus § 113 S. 1 InsO ergibt, sondern aus § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 S. 1 InsO. Diese Normen sind arbeitnehmerschützend und begründen ein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der zumindest vorübergehenden vorzugsweisen Befriedigung als Massegläubiger. Unabhängig davon erschüttert § 113 InsO allenfalls das Vertrauen, dauerhaft als Massegläubiger befriedigt zu werden, nicht aber, überhaupt für einen begrenzten Zeitraum bevorzugt zu befriedigende Masseansprüche zu gewinnen. Aufgrund des verletzten Bestandsschutzes sind die Arbeitnehmer durch den Über- 249 gang ihres Arbeitsverhältnisses im Rahmen der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO in Art. 12 Abs. 1 GG berührt.
___________ Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 270. BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326. Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; Gutsche, ZVI 2008, 41, 44 f. HmbKInsO-A. Ahrendt, § 113 Rn. 30 ff.; K. Schmidt-Ahrens, § 113 Rn. 1; Uhlenbruck-Ries, § 108 Rn. 50; Braun-Bäuerle, § 35 Rn. 138. 491) Jaeger-Giesen, § 113 Rn. 5 u. Rn. 11.
487) 488) 489) 490)
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
bb) Vertragsfreiheit 250 In Bezug auf die Vertragsfreiheit im Rahmen von erwerbswirtschaftlicher Tätigkeit verdrängt Art. 12 Abs. 1 GG das allgemeine Freiheitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.492) Von Art. 12 GG ist dabei insbesondere die freie Wahl eines Arbeitsplatzes und damit die freie Wahl des Vertragspartners geschützt.493) Die Berufsfreiheit schützt als lex specialis damit auch die Vertragsfreiheit des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers.494)
251 Wie die Vertragsfreiheit in Verbindung mit dem Bestandsschutz den Arbeitnehmer schützt, wurde bereits erörtert.495) Ein darüber hinausgehender Schutz des Arbeitnehmers, der sich alleine aus dem Wechsel der Arbeitgeberfunktion ergibt, besteht nicht. Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens tritt der Insolvenzverwalter nach § 80 Abs. 1 InsO in die Arbeitgeberposition ein.496) Die Insolvenzmasse haftet fortan für die Ansprüche auf Arbeitslohn und dem Insolvenzverwalter kommen die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis zu. Nimmt man nunmehr an, dass von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auch das Arbeitsverhältnis erfasst ist, fällt die Arbeitgeberfunktion zurück auf den Schuldner. Letzterer ist, wie auch vom BAG festgestellt, der Vertragspartner, den der Arbeitnehmer sich bei Vertragsschluss in Ausübung seiner Privatautonomie selbst ausgesucht hat.497) Ein Eingriff in die Vertragsfreiheit ist durch den bloßen Wechsel der Arbeitgeberfunktion daher nicht anzunehmen, da lediglich der vorinsolvenzliche Zustand wieder eintritt.
d) Art. 14 GG – der Eigentumsschutz 252 Auch Art. 14 GG könnte von § 35 Abs. 2 InsO berührt sein. Art. 14 GG soll dem Grundrechtsträger die materielle Grundlage für ein eigenverantwortliches und freies Leben sichern, indem er konkrete vermögenswerte Rechte schützt, die dem Inhaber zur eigenen Verfügung und privaten Nutzung zugeordnet sind.498) Geschützt ist dabei insbesondere der Bestand der durch eigene Arbeit erworbenen Güter.499) ___________ 492) Auf den Streitstand soll hier mangels Bedeutung für die übergeordnete Frage nicht eingegangen werden. Für einen Vorrang von Art. 12 Abs. 1 GG als lex specialis siehe v. Münch/ Kunig-Kämmerer, Art. 12 Rn. 95; Sachs-Mann, Art. 12 Rn. 194; Maunz/Dürig-Scholz, Art. 12 Rn. 123; Boecken, et al.-H. Hanau, GG Art. 12 Rn. 60; a. A. Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 12 Rn. 101. 493) Henssler/Willemsen/Kalb-Hergenröder, GG Art. 12 Rn. 12. 494) V. Münch/Kunig-Kämmerer, Art. 12 Rn. 44. 495) Siehe dazu vorstehend unter Rn. 242 ff. 496) MüKoInsO-Ott/Vuia, § 80 Rn. 121; ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37. 497) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326. 498) BVerfG, Beschl. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66 u. a., NJW 1971, 1255, 1260; Hömig/WolffAntoni, Art. 14 Rn. 2; ErfK-I. Schmidt, GG Art. 14 Rn. 4. 499) BVerfG, Beschl. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66 u. a., NJW 1971, 1255, 1260; Beschl. v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, NJW 2006, 2613, 2614 f.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
Grundsätzlich zählen auch privatrechtliche Ansprüche zu den von Art. 14 GG ge- 253 schützten vermögenswerten Rechten.500) § 35 Abs. 2 InsO führt bei Ausübung der Freigabe durch den Insolvenzverwalter dazu, dass der Arbeitnehmer seinen grundsätzlich vom Gesetz in § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 S. 1 InsO vorgesehenen Masseanspruch nicht begründen kann. Zwar kann die Belastung auch nach dem Willen des Gesetzgebers durch Kündigung des zugrundeliegenden Arbeitsverhältnisses nach § 113 S. 1 InsO beendet werden, jedoch besteht die ursprünglich beabsichtigte bevorzugte Befriedigung durch den Masseanspruch zumindest für die Dauer der Kündigungsfrist. Nimmt man an, dass § 35 Abs. 2 InsO ohne weitere Einschränkungen auch Arbeitsverhältnisse erfasst, würde dieser Anspruch des Arbeitnehmers bei Trennung des Arbeitsverhältnisses von der Insolvenzmasse entfallen. Nicht einmal für eine Übergangszeit hätte der Arbeitnehmer einen Anspruch auf bevorzugte Befriedigung als Massegläubiger. Art. 14 GG wird jedoch gemeinhin dahingehend verstanden, dass nur vermögens- 254 werte Rechte erfasst werden, die dem Grundrechtsträger bereits zustehen.501) In extensiver Auslegung werden solche vermögenswerten Rechtspositionen vom Schutz des Art. 14 GG erfasst, auf die der Grundrechtsträger bereits eine Anwartschaft begründet hat, die ihm also nicht mehr einseitig entzogen werden können. Insbesondere auf Rechtsstellungen, die aufgrund eigener Leistung des Berechtigten eingenommen wurden, wie etwa bei sozialversicherungsrechtlichen Ansprüchen, wird der Schutzbereich des Art. 14 GG erstreckt.502) Nicht vom Schutzbereich umfasst sind hingegen bloße Erwerbschancen.503) Bei der bevorzugten Befriedigung als Massegläubiger, zumindest für die Zeit zwi- 255 schen Kündigung und Ende des Arbeitsverhältnisses, handelt es sich um eine bloße Erwerbschance, die noch nicht hinreichend gesichert ist. Damit unterfällt sie nicht dem Schutzbereich des Art. 14 GG. Zwar schützt Art. 14 GG auch privatrechtliche Ansprüche und Forderungen.504) Zudem kann der Insolvenzverwalter sich nicht einseitig von der Pflicht aus § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO lösen, sodass von einer gesicherten Position ausgegangen werden kann. Jedoch besteht der Anspruch im Zeitpunkt einer zu erklärenden Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO noch nicht. Der von ___________ 500) BVerfG, Beschl. v. 26.4.1995 – 1 BvL 19/94; 1 BvR 1454/94, DtZ 1995, 323, 323; Beschl. v. 7.12.2004 – 1 BvR 1804/03, NJW 2005, 879, 880; Beschl. v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, NJW 2006, 2613, 2614. 501) BVerfG, Beschuss v. 20.4.1966 – 1 BvR 20/62; 1 BvR 27/64, NJW 1966, 1211, 1211; Beschl. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66 u. a., NJW 1971, 1255, 1260. 502) Sachs-Wendt, Art. 14 Rn. 28 ff. 503) BVerfG, Beschl. v. 16.3.1971 – 1 BvR 52/66 u. a., NJW 1971, 1255, 1260; Beschl. v. 21.6.1977 – 2 BvR 70/75; 2 BvR 361/75, NJW 1977, 1629, 1631. 504) BVerfG, Beschl. v. 26.4.1995 – 1 BvL 19/94; 1 BvR 1454/94, DtZ 1995, 323, 323; Beschl. v. 7.12.2004 – 1 BvR 1804/03, NJW 2005, 879, 880; Beschl. v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, NJW 2006, 2613, 2614.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO vorausgesetzte Lohnanspruch ist nach § 614 BGB erst nach Ablauf der Dienste oder nach Ablauf des vereinbarten Zeitabschnitts zu entrichten. Der Arbeitnehmer ist demnach vorleistungspflichtig.505) Die Freigabe würde bei einschränkungsloser Anwendung vielmehr dazu führen, dass der Anspruch mangels Erbringung der Arbeitsleistung niemals fällig würde, sodass die Rechtsposition nicht auf bereits erbrachten Leistungen des Arbeitnehmers beruht, sondern vielmehr eine bloße Erwerbsaussicht ist. Eine solche ist nicht vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG umfasst. Eine Anwendung der Freigabe auf das Arbeitsverhältnis ohne weitere Voraussetzungen verstößt damit nicht gegen Art. 14 Abs. 1 GG.
e)
Art. 3 Abs. 1 GG – der allgemeine Gleichheitssatz
256 Aus der Anwendung von § 35 Abs. 2 InsO auf Arbeitsverhältnisse könnte sich des Weiteren ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG ergeben.
aa) Relevante Ungleichbehandlung 257 Art. 3 Abs. 1 GG gewährleistet, dass im Rahmen einer Vergleichsgruppe alles wesentlich Gleiche nicht ungleich- und alles wesentlich Ungleiche nicht gleichbehandelt wird.506) Die relevante Vergleichsgruppe muss sich aus Personen zusammensetzen, deren tatsächliche Umstände ein derart enger innerer Sachzusammenhang verbindet, dass sich für sie ein gemeinsamer Oberbegriff finden lässt.507)
258 Mit Blick auf § 35 Abs. 2 InsO lässt sich zunächst zwischen Arbeitnehmern, die bei selbständig Tätigen angestellt sind, und solchen, deren Arbeitsverhältnis mit einer juristischen Person besteht, unterscheiden. Beide lassen sich dem allgemeinen Oberbegriff der „Arbeitnehmer von Arbeitgebern, über deren Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet wurde“ unterordnen. Für § 35 Abs. 2 InsO wird nach ganz herrschender Meinung der Adressatenkreis auf natürliche Personen beschränkt.508) Aus der Beschränkung der Freigabemöglichkeit auf selbständige Tätigkeiten und dem Verweis auf § 295 Abs. 2 InsO wird geschlossen, dass die Norm nicht für ju___________ 505) ErfK-Preis, BGB § 614 Rn. 1. 506) St. Rspr. BVerfG, Urt. v. 16.3.1955 – 2 BvK 1/54, NJW 1955, 625, 625; Beschl. v. 18.7.2012 – 1 BvL 16/11, NJW 2012, 2719, 2720; Beschl. v. 21.4.2016 – 2 BvR 273/16, NVwZ 2016, 1242, 1242. 507) Schmidt-Bleibtreu/Klein-Krieger, Art. 3 Rn. 23 ff.; Henssler/Willemsen/Kalb-Hergenröder, GG Art. 3 Rn. 40. 508) Vergleiche dazu bereits unter Rn. 63 und bei Ahrens, NZI 2007, 622, 623 f.; Holzer, ZVI 2007, 289, 291; Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 697; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1104; Lindemann, BB 2011, 2357, 2358; Bartels, KTS 2012, 381, 401 f.; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 696; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 93; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 251; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 49; HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 70; a. A. Heinze, ZVI 2007, 349, 351.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
ristische Personen gilt.509) Eine Freigabe des Arbeitsverhältnisses unter Missachtung der Kündigungsschutzvorschriften und der Kündigungsfrist aus § 113 S. 1 InsO wäre damit nur für Arbeitnehmer einer natürlichen Person möglich. Die Arbeitnehmer einer natürlichen Person, deren selbständige Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO freigegeben würde, bekämen, wie bereits aufgezeigt, den zumindest für den Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist aus § 113 S. 1 InsO vorgesehenen Anspruch gegen die Insolvenzmasse aus § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO nicht zugestanden. Arbeitnehmern einer juristischen Person stünde der Anspruch hingegen weiterhin zu. Ihr Arbeitsverhältnis kann nicht freigegeben werden. Eine relevante rechtliche Ungleichbehandlung durch § 35 Abs. 2 InsO liegt demnach vor. Hieraus ergibt sich auch ein von Art. 3 Abs. 1 GG vorausgesetzter Nachteil für die Arbeitnehmer von Selbständigen, da sie nach der Freigabe keine weiteren Masseansprüche generieren können.510) Zwar ließe sich der Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den Schuldner und da- 259 mit die Vermittlung eines neuen/alten Anspruchsgegners als ausgleichender Vorteil ansehen, jedoch lässt sich zumindest an der erforderlichen Gleichwertigkeit zweifeln.511) Der Schuldner führt seine bereits einmal gescheiterte selbständige Tätigkeit fort, für die der Insolvenzverwalter in der Regel zu einer negativen Fortführungsprognose kommt und sich somit zu einer Freigabe entscheidet.512) Das Problem lässt sich anhand eines Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen verdeutlichen, in dessen Rahmen der Insolvenzverwalter vor Erklärung der Freigabe der selbständigen Tätigkeit (Pflegedienst) zu dem Ergebnis kam, dass der Schuldner „durchgehend nicht in der Lage war, den Pflegebetrieb wirtschaftlich weiterzuführen“513) und dass „zwingend davon auszugehen [ist], dass eine Fortführungsperspektive für den schuldnerischen Betrieb nicht besteht“514). Käme er zu einem anderen Ergebnis, wäre er überdies auch zur Vereinnahmung des Neuerwerbs zugunsten der Insolvenzmasse angehalten.515) An der Gleichwertigkeit des Anspruchs auf Lohnzahlung gegen den Schuldner bestehen demnach erhebliche Zweifel. Im Ergebnis liegt somit eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung vor.
260
___________ 509) Ahrens, NZI 2007, 622, 623 f.; Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 697; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1104; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 251; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 49. 510) Zum Erfordernis der Benachteiligung Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 3 Rn. 14 f. 511) Zur Gleichwertigkeit BVerfG, Beschl. v. 18.11.1986 – 1 BvL 29/83 u. a., NJW 1987, 2001, 2002. 512) Berger, ZInsO 2008, 1101, 1104; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034. 513) LSG NRW, Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 748 unter Verweis auf S. 3 des Berichts des Insolvenzverwalters gemäß § 156 InsO vom 28.11.2012. 514) LSG NRW, Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 748 unter Verweis auf den Bericht des Insolvenzverwalters vom 30.7.2012. 515) Ahrens, NZI 2017, 862, 865; Rein, NZI 2018, 308, 309.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
bb) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung (1) Der Rechtfertigungsmaßstab 261 Art. 3 Abs. 1 GG enthält zwei unterschiedliche Maßstäbe, an denen sich eine Rechtfertigung messen lassen muss. Welcher Maßstab anwendbar ist, richtet sich nach der Art und Schwere der Ungleichbehandlung.516)
262 Knüpft die Ungleichbehandlung an ein personenbezogenes Differenzierungsmerkmal an, liegt also eine Ungleichbehandlung von Personengruppen vor, ist unter dem vom BVerfG entwickelten Grundsatz und von Zuck geprägten Begriff der „Neuen Formel“517) eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen.518) Die personenbezogene Ungleichbehandlung liegt insbesondere dann vor, wenn die nachteilige Behandlung nicht durch eigenes Verhalten abgewendet werden kann und ihr auf diesem Weg ein diskriminierender Charakter zukommt.519) Daneben kann ein strengerer Rechtfertigungsmaßstab geboten sein, wenn der Regelungsgegenstand Freiheitsrechte erheblich beeinträchtigt.520)
263 Bei nicht personenbezogenen Differenzierungskriterien setzt eine Rechtfertigung lediglich das Bestehen eines Sachgrundes voraus, welcher einer Willkürkontrolle standhält.521) Eine tatbestandserfüllende Ungleichbehandlung beziehungsweise Gleichbehandlung liegt nur dann vor, wenn es an einem vernünftigen und sachlich einleuchtenden Grund fehlt und deshalb offensichtlich eine Ungleichbehandlung von Gleichem oder eine Gleichbehandlung von Ungleichem gegeben ist.522)
264 In der neueren Rechtsprechung bezieht sich das BVerfG weniger auf eine strenge Trennung zwischen den beiden Grundsätzen und nimmt stattdessen eine stufenlose Kontrolle am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vor, wobei die bloße Willkürkontrolle als geringste Rechtfertigung bestehen bleibt.523) ___________ 516) BVerfG, Urt. v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 1 BvR 905/00, NVwZ 2004, 846, 847; ausführlich dazu Sachs-Osterloh/Nußberger, Art. 3 Rn. 8 ff. 517) Zuck, MDR 1986, 723, 724. 518) BVerfG, Urt. v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 1 BvR 905/00, NVwZ 2004, 846, 847; Stern, Staatsrecht IV/2, S. 1529 f.; Sachs-Osterloh/Nußberger, Art. 3 Rn. 13 ff.; v. Mangoldt/Klein/ Starck-Wollenschläger, Art. 3 Rn. 93. 519) Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 3 Rn. 24; Henssler/Willemsen/Kalb-Hergenröder, GG Art. 3 Rn. 41; v. Mangoldt/Klein/Starck-Wollenschläger, Art. 3 Rn. 94. 520) Sachs-Osterloh/Nußberger, Art. 3 Rn. 15. 521) BVerfG, Urt. v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 1 BvR 905/00, NVwZ 2004, 846, 847; SachsOsterloh/Nußberger, Art. 3 Rn. 8 ff.; Henssler/Willemsen/Kalb-Hergenröder, GG Art. 3 Rn. 41. 522) BVerfG, Urt. v. 23.10.1951 – 2 BVG 1/51, NJW 1951, 877, 878 f.; Urt. v. 20.4.2004 – 1 BvR 1748/99, 1 BvR 905/00, NVwZ 2004, 846, 847; Sachs-Osterloh/Nußberger, Art. 3 Rn. 8 f.; Henssler/Willemsen/Kalb-Hergenröder, GG Art. 3 Rn. 41. 523) BVerfG, Beschl. v. 18.7.2012 – 1 BvL 16/11, NJW 2012, 2719, 2720; Urt. v. 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, NJW 2015, 303, 306; Beschl. v. 23.6.2015 – 1 BvL 13/11; 1 BvL 14/11, NJW 2015, 3221, 3224; Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 3 Rn. 20; v. Mangoldt/Klein/Starck-Wollenschläger, Art. 3 Rn. 141 ff. Ähnlich mittlerweile auch das BAG. Siehe dazu Henssler/Willemsen/KalbHergenröder, GG Art. 3 Rn. 42.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
(2) Die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer Wie gezeigt, kommen die Arbeitnehmer von juristischen Personen über die das In- 265 solvenzverfahren eröffnet wurde als Vergleichsgruppe in Betracht.524) In beiden Fällen liegt der gemeinsame Oberbegriff in der Arbeitnehmerstellung bei einem insolventen Arbeitgeber. Die Arbeitnehmer von selbständig tätigen Personen sind bei Annahme einer Frei- 266 gabemöglichkeit des Arbeitsverhältnisses nach § 35 Abs. 2 InsO in ihren Grundrechten berührt. Dass durch die Ungleichbehandlung Grundrechte berührt werden, spricht nach dem dargestellten Maßstab für eine erhebliche Beeinträchtigung des Gleichheitssatzes. In diesem Zusammenhang ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Ungleichbehand- 267 lung nicht an ein personenbezogenes Merkmal anknüpft. Das Differenzierungsmerkmal ist die Eigenschaft, Arbeitnehmer einer insolventen selbständig tätigen natürlichen Person zu sein. Diese Eigenschaft liegt nicht in der Person des Arbeitnehmers an sich und kann jederzeit durch den Grundrechtsträger selbst geändert werden, indem er kündigt oder einen neuen Arbeitsvertrag abschließt. Es steht ihm frei, sich dem Anwendungsbereich des § 35 Abs. 2 InsO zu entziehen. Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal sprechen damit für eine Bindung des Gesetzgebers an das bloße Willkürverbot. Demnach darf die Unterscheidung zwischen Arbeitnehmern von natürlichen Personen und Arbeitnehmern von juristischen Personen nicht evident unsachlich und damit willkürlich sein.525) Bartels nennt als möglichen Differenzierungsgrund, dass bei juristischen Personen 268 regelmäßig nur die unternehmerische Tätigkeit vorliegt. Würde sie freigegeben, bliebe anders als bei der natürlichen Person, bei denen noch das Privatvermögen verbleibt, kein Vermögen mehr übrig.526) Diese Ansicht überzeugt jedoch nicht, da mit der herrschenden Meinung auch die Freigabe nur eines Betriebsteils möglich ist.527) Als sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen Arbeitnehmern von selbst- 269 ständigen natürlichen Personen und Arbeitnehmern, die bei juristischen Personen ___________ 524) Siehe dazu oben unter Rn. 257 ff. 525) Ebenso BAG, Urt. v. 19.4.1990 – 2 AZR 487/89, NJW 1990, 2405, 2405 f. für die Frage, ob § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG durch den Ausschluss von Kleinbetrieben aus dem Anwendungsbereich des KSchG gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. In diesem vergleichbaren Fall misst das BAG die Vorschrift nur an der Willkürkontrolle. 526) Bartels, KTS 2012, 381, 402. 527) Str. Für die Möglichkeit der Freigabe eines abgrenzbaren Teils Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 698; Ahrens, NZI 2007, 622, 625 f.; Heinze, ZVI 2007, 349, 351; Menn, ZVI 2011, 197, 198; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 116a; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 36; HmbKInsOM. Lüdtke, § 35 Rn. 271; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 53; a. A. Berger, ZInsO 2008, 1101, 1103; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937 942 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2123 f.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 98.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
angestellt sind, lässt sich die in der Regel unterschiedliche Größe der Betriebe anführen. Die Kritik von Ries, dass das Merkmal der selbständigen Tätigkeit große Unternehmen nicht kategorisch aus dem Anwendungsbereich von § 35 Abs. 2 InsO ausschließt, ist begründet.528) Für den Ausschluss großer Unternehmen wäre eine Beschränkung des Geltungsbereichs in Form von konkreten Arbeitnehmergrenzen, wie etwa in § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG, geeigneter gewesen.529) Hierbei ist jedoch zu beachten, dass dem Gesetzgeber bei der Auswahl seiner Maßnahmen eine Einschätzungsprärogative zukommt.530) Welche Maßnahme er ergreift, um sein Ziel zu erlangen, obliegt ihm. Da selbstständig tätige natürliche Personen zumindest in der Regel einen Betrieb von beschränkter Größe führen, ist das Differenzierungsmerkmal der selbständigen Tätigkeit nicht alleine deshalb ungeeignet und willkürlich.
270 § 35 Abs. 2 InsO verfolgt, wie gezeigt, zwei Ziele.531) Zunächst soll die Insolvenzmasse vor Ansprüchen geschützt werden, die aus der Fortführung der selbständigen Tätigkeit durch den Schuldner resultieren.532) Der Schutz vor einer Massebelastung durch die Arbeitsverhältnisse kommt dementsprechend als Rechtfertigungsgrund in Frage. Die Gefahr eines massebelastenden Verhaltens des Schuldners ergibt sich aus seinem Recht, eine selbständige Tätigkeit ausüben zu können, aus Art. 12 Abs. 1 GG.533) Diese Gefahr besteht bei juristischen Personen jedoch nicht. Einer juristischen Person muss kein wirtschaftlicher Neubeginn in alter Form ermöglicht werden.534) Hier entscheidet der Insolvenzverwalter selbst, ob er das Unternehmen fortführt oder abwickelt.535) Zu einer ungewollten, aufgedrängten Belastung der Insolvenzmasse durch die Entscheidung eines Dritten kann es somit nicht kommen, sodass das Rechtfertigungsmerkmal des Masseschutzes zunächst einleuchtet. Der Gedanke des Schutzes vor der selbständigen Tätigkeit des Schuldners überzeugt jedoch nicht. Zwar kann nur eine natürliche Person die selbständige Tätigkeit gegen den Willen des Insolvenzverwalters (wieder) aufnehmen, doch ergeben sich daraus (zumindest zunächst) nicht die Arbeitnehmeransprüche. Die Masseansprüche der Arbeitnehmer auf Lohnzahlung entstehen nämlich nicht durch die Fortführung der selbständigen Tätigkeit des Schuldners. Sie entstehen vielmehr unabhängig von einer Fortführung der selbständigen Tätigkeit, indem sie als oktroyierte Masseverbindlichkeit durch Gesetz, namentlich durch § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO, be___________ 528) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 70. Ries bringt das passende Beispiel von Anton Schlecker eK mit 50.000 Mitarbeitern. Ebenso Bartels, KTS 2012, 381, 401. 529) Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs auf Kleinbetriebe mit max. fünf Mitarbeitern oder einem Umsatzvolumen bis EUR 250.000,- befürwortend HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 70. 530) Stern, Staatsrecht IV/2, S. 1518. 531) Siehe zu den von § 35 Abs. 2 InsO verfolgten Zielen Rn. 22 ff. 532) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 533) Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 937 f.; Undritz, FS Runkel, 449, 454 ff. 534) Berger, ZInsO 2008, 1101, 1104. 535) Holzer, ZVI 2007, 289, 291; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 251.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
gründet werden.536) Das Bedürfnis des Schutzes der Insolvenzmasse besteht daher unabhängig davon, ob über das Vermögen einer natürlichen Person oder das einer juristischen Person das Insolvenzverfahren eröffnet wird. Der Gedanke des Masseschutzes ist somit sowohl für Arbeitnehmer natürlicher Personen als auch für Arbeitnehmer juristischer Personen einschlägig. Als Differenzierungsgrund für den unterschiedlichen Anwendungsbereich von § 35 Abs. 2 InsO überzeugt er nicht. Daneben verfolgt § 35 Abs. 2 InsO aber das Ziel, dem Schuldner die Fortführung 271 seiner selbständigen Tätigkeit zu ermöglichen.537) Dass hierfür zwecks Aufrechterhaltung des Betriebs auch die Arbeitsverhältnisse übergehen sollen, ist keine sachfremde Erwägung. Da die insolvenzfreie Fortführung der selbständigen Tätigkeit noch während des laufenden Insolvenzverfahrens nur für natürliche Personen in Betracht kommt, ist die Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern von natürlichen Personen und Arbeitnehmern von juristischen Personen mit Blick auf den weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers zumindest nicht willkürlich. Eine im Grundsatz bestehende Ungleichbehandlung ist damit gerechtfertigt. Ein Ver- 272 stoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG besteht nicht.
f)
Art. 2 Abs. 1 GG – die Vertragsfreiheit
Art. 2 Abs. 1 GG schützt unter anderem die Vertragsfreiheit und die Privatautono- 273 mie des Einzelnen.538) Dem Grundrechtsträger wird garantiert, sich durch Verträge mit einem Vertragspartner seiner Wahl an einen unter übereinstimmenden Willen gebildeten Vertragsinhalt zu binden.539) Mit Blick auf die Berufswahl und -ausübung ist Art. 12 Abs. 1 GG jedoch spezieller, was dazu führt, dass Art. 2 Abs. 1 GG im Bereich der Vertragsfreiheit von Art. 12 Abs. 1 GG verdrängt wird.540) Es gelten somit die bisherigen Ausführungen.541)
g) Rechtsstaatliches Auslegungsgebot Durch Wegfall des eigentlich nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO vorgesehenen Massean- 274 spruchs des Arbeitnehmers könnte der sich aus Art. 20 Abs. 3 GG und dem Rechts-
___________ 536) 537) 538) 539) 540)
HmbKInsO-Jarchow, § 55 Rn. 20; FK-InsO-Bornemann, § 55 Rn. 42. BT-Drucks. 16/3227, S. 17. Grundlegend Maunz/Dürig-Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 101 ff. Maunz/Dürig-Di Fabio, Art. 2 Abs. 1 Rn. 101 ff.; Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 2 Rn. 22a. Str., siehe v. Münch/Kunig-Kämmerer, Art. 12 Rn. 95; Maunz/Dürig-Scholz, Art. 12 Rn. 123; Boecken, et al.-H. Hanau, GG Art. 12 Rn. 60; a. A. Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 12 Rn. 101. 541) Siehe dazu unter Rn. 250.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
staatsgebot ergebende Grundsatz des Vertrauensschutzes verletzt sein.542) Jeder Bürger darf grundsätzlich auf ein Mindestmaß staatlicher Kontinuität vertrauen.543)
275 Das Vertrauen in die Rechtslage gilt zunächst gegenüber dem Gesetzgeber. Eine tatbestandliche Rückanknüpfung, die die Rechtsfolge des bereits in Gang gesetzten Sachverhalts für die Zukunft ändert (sogenannte unechte Rückwirkung), ist grundsätzlich möglich und lediglich beschränkt durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.544) Eine Rückwirkung von Rechtsfolgen, das heißt die Schaffung neuer Rechtsfolgen für einen bereits in der Vergangenheit abgeschlossenen Sachverhalt (sogenannte echte Rückwirkung), ist hingegen grundsätzlich verfassungswidrig und nur in Ausnahmefällen, etwa aufgrund zwingender Gründe des Allgemeinwohls, zur Aufklärung einer unklaren und verworrenen Rechtslage oder bei fehlendem schutzwürdigen Vertrauen des Bürgers zulässig.545) Haben Gesetzesänderungen indes nur Wirkung für die Zukunft, stehen ihnen keine derartigen Einschränkungen entgegen, um den Gesetzgeber in seiner verfassungsmäßig vorgegebenen Rolle als rechtsetzende Gewalt nicht einzuschränken.546) Es besteht kein verfassungsrechtlicher Schutz vor einer nachteiligen Änderung der Rechtslage, der die voraussichtliche zukünftige Anwendbarkeit einer Rechtsnorm und die Gewährung eines Vorteils garantiert.547)
276 Wird durch § 35 Abs. 2 InsO die Verbindung der Arbeitsverhältnisse zur Insolvenzmasse ohne weitere Voraussetzungen durchtrennt, entfällt damit der Anspruch der Arbeitnehmer gegen die Insolvenzmasse im Rang einer Masseverbindlichkeit, der eigentlich nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO vorgesehen ist. Der Arbeitnehmer vertraut darauf, zumindest für die Zeit der Kündigungsfrist bevorzugt als Massegläubiger befriedigt zu werden. Durch § 35 Abs. 2 InsO würde dieses Vertrauen verletzt. Da der Vergütungsanspruch, der bevorzugt durch die Insolvenzmasse befriedigt werden muss, jedoch gemäß § 614 BGB in der Regel noch nicht fällig ist, scheidet eine echte Rückwirkung aus. Auch ist aus dem gleichen Grund fraglich, ob man eine Anknüpfung an einen in der Vergangenheit begonnenen Sachverhalt mit Rechtsfolgen für die Zukunft und damit eine unechte Rückwirkung annehmen kann. Zwar ließe sich das Arbeitsverhältnis als bereits begonnener Sachverhalt qualifizieren, wobei die zukünftigen Ansprüche der Arbeitnehmer in einer potentiellen Insolvenz entwertet werden. Die Annahme, das Arbeitsverhältnis an sich sei ___________ 542) Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 20 Rn. 56 u. Rn. 75. 543) Maunz/Dürig-Grzeszick, Art. 20 VII. Rn. 69. 544) BVerfG, Beschl. v. 2.5.2012 – 1 BvL 5/10, NVwZ 2012, 876, 876 f.; Beschl. v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, NJW 2013, 145, 146; Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 20 Rn. 77. 545) BVerfG, Beschl. v. 2.5.2012 – 1 BvL 5/10, NVwZ 2012, 876, 876 f.; Beschl. v. 10.10.2012 – 1 BvL 6/07, NJW 2013, 145, 146; Beschl. v. 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, NVwZ 2014, 577, 578; Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 20 Rn. 76. 546) Sachs-Sachs, Art. 20 Rn. 139. 547) BVerfG, Beschl. v. 7.12.2010 – 1 BvR 2628/07, NJW 2011, 1058, 1061.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
der in der Vergangenheit begonnene Sachverhalt, greift jedoch zu weit, da der Anspruch aus § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO ebenfalls gemäß § 614 BGB noch nicht fällig ist. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses unter Entziehung der vorzugsweisen Befriedigungsmöglichkeit wirkt ab Erklärung des Insolvenzverwalters nur für die Zukunft. Die Rechtsfolgen für einen bereits laufenden Lebenssachverhalt werden dadurch nicht berührt. Vielmehr wird nur die zukünftige Begründung von Masseansprüchen durch Arbeitnehmer verhindert. Auf die zukünftige Anwendbarkeit einer vorteilhaften Norm besteht jedoch kein berechtigtes Vertrauen.548) Ein Verstoß gegen den sich aus dem Rechtsstaatsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG er- 277 gebenden Vertrauensschutz ist damit nicht ersichtlich.
h) Zwischenergebnis Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Arbeitnehmer durch eine uneinge- 278 schränkte Anwendbarkeit von § 35 Abs. 2 InsO auf das Arbeitsverhältnis in zweierlei Hinsicht in ihren Grundrechten berührt sind. Zunächst sind die betroffenen Arbeitnehmer in Art. 1 Abs. 1 GG berührt. Indem 279 man ihre Arbeitsverhältnisse der Freigabe zugänglich macht, werden sie auf eine Ebene mit massebelastenden Vermögensgegenständen gestellt. Der Arbeitnehmer wird zum Schutz der Masse gleich eines Gegenstands freigegeben und damit unter Verletzung seines sozialen Wertes und Achtungsanspruchs verobjektiviert. Der Arbeitnehmer wird zu einem bloßen massebelastenden Produktionsfaktor herabgewertet, vor dem die Insolvenzmasse zu schützen ist. Bei uneingeschränkter und isolierter Anwendung des § 35 Abs. 2 InsO wird ihm ohne das Erfordernis einer Frist, geschweige denn einer Abgabe der Erklärung gegenüber dem Arbeitnehmer selbst, die Haftungsmasse entzogen. Zugleich wird in den Schutzbereich von Art. 12 Abs. 1 GG der betroffenen Arbeit- 280 nehmer eingegriffen. Indem man annimmt, die Freigabe wirke ohne eine Erklärung gegenüber dem Arbeitnehmer oder dem Verstreichen einer Übergangsfrist, werden die eigentlich dem Bestandsschutz des Arbeitnehmers Rechnung tragenden Kündigungsschutzvorschriften umgangen. Zum einen wird den Arbeitnehmern ohne Frist die Haftungsmasse in Form der Insolvenzmasse entzogen. Zum anderen entfällt unter anderem das Erfordernis einer Sozialauswahl bei Freigabe nur eines Betriebsteils. Eine Berührung des Schutzbereichs weiterer Grundrechte ist dagegen nicht ersicht- 281 lich. Ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip scheitert bereits an den ausreichend vorhandenen sozialstaatlichen Sicherheitssystemen. ___________ 548) BVerfG, Beschl. v. 7.12.2010 – 1 BvR 2628/07, NJW 2011, 1058, 1061.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
282 Die sich ebenfalls aus Art. 12 Abs. 1 GG ergebende Vertragsfreiheit wird nicht verletzt, da die Arbeitgeberfunktion letztlich an den ursprünglich ausgewählten Vertragspartner zurückfällt. Bedenken in Bezug auf die nicht mehr vorhandene Haftungsmasse werden im Rahmen des Bestandsschutzes berücksichtigt.
283 Mangels hinreichender Konkretisierung der Ansprüche liegt auch keine Beschränkung des Schutzbereichs von Art. 14 Abs. 1 GG vor. Zwar sind grundsätzlich auch privatrechtliche Ansprüche von Art. 14 Abs. 1 GG erfasst, jedoch handelt es sich bei der von der Insolvenzordnung in Aussicht gestellten vorzugsweisen Befriedigung als Massegläubiger um eine bloße Erwerbschance, die noch nicht hinreichend gesichert ist, um in den Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG zu fallen.
284 Ein Verstoß gegen das Gleichheitsrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG ist zwar im Rahmen einer Gegenüberstellung zu Arbeitnehmern von juristischen Personen denkbar. An die Rechtfertigung wegen der nicht personenbezogenen Ungleichbehandlung sind aber keine erhöhten Maßstäbe zu setzen. Vielmehr reicht eine bloße Willkürkontrolle aus, welcher durch die von § 35 Abs. 2 InsO verfolgten Ziele Rechnung getragen werden kann. Nur für selbständig tätige Schuldner besteht das verfassungsrechtlich garantierte Interesse, schon während des Insolvenzverfahrens weiter selbständig tätig zu sein. Hierfür benötigt er im Einzelfall die bestehenden Arbeitsverhältnisse. Damit liegt ein Grund für eine Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern von juristischen Personen und Arbeitnehmern von selbständig tätigen natürlichen Personen vor, der die Willkürgrenze wahrt.
285 In § 35 Abs. 2 InsO ist schließlich auch keine gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßende Rückwirkung zu sehen, da das eingegangene Arbeitsverhältnis alleine noch kein in der Vergangenheit begonnenen Sachverhalt ist, an den andere Rechtsfolgen geknüpft werden. Vielmehr werden aufgrund der nur schrittweisen Fälligkeit der Lohnansprüche der Arbeitnehmer nach § 614 BGB nur neue Rechtsfolgen für zukünftige Lohnforderungen statuiert. Bereits im Rang einer Masseverbindlichkeit entstandene Lohnforderungen werden von § 35 Abs. 2 InsO nicht berührt.
286 Dementsprechend sind die Arbeitnehmer im Ergebnis in dem Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG berührt.
2.
Grundrechte der Gläubiger
287 Nach dem BVerfG ist Wesen des Privatrechts vor allem der „Ausgleich widerstreitender Interessen, die in den Grundrechten verankert sind.“549) So sind nicht nur einseitig die Interessen der Arbeitnehmer zu betrachten, sondern auch die Grundrechte der Gläubiger. Bei Verneinung der Frage, ob Arbeitsverhältnisse freigegeben werden können, würde die Befriedigung ihrer Ansprüche geringer ausfallen, da sie ___________ 549) BVerfG, Beschl. v. 27.1.1998 – 1 BvL 15/87, NJW 1998, 1475, 1475 f.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
sich das vorhandene Vermögen mit einem weiteren Anspruchsinhaber teilen müssten. Umgekehrt geht aber auch die Freigabe mit der Entscheidung einher, dass die selbständige Tätigkeit fortan nicht mehr zugunsten der Insolvenzmasse ausgeübt wird. Die Insolvenzmasse profitiert unter anderem auch nicht mehr von dem durch die Arbeitnehmer erwirtschafteten Neuerwerb.
a) Art. 14 GG – Eigentumsschutz Auch für die Gläubiger gilt der verfassungsrechtlich gewährleistete Eigentums- 288 schutz aus Art. 14 Abs. 1 GG. Wie bereits festgestellt, erfasst Art. 14 Abs. 1 GG auch vermögenswerte Rechte und damit privatrechtliche Ansprüche.550) § 35 Abs. 2 InsO soll nach dem Willen des Gesetzgebers die Insolvenzmasse vor 289 zusätzlicher Belastung durch die selbständige Tätigkeit des Schuldners schützen.551) Durch die Negativerklärung wird zum einen einer möglichen Massearmut entgegengewirkt und zum anderen eine höhere Quote für die Insolvenzgläubiger erreicht. Es profitieren somit sowohl die übrigen bevorzugt zu befriedigenden Massegläubiger als auch die Insolvenzgläubiger, wenn die Arbeitsverhältnisse sofort mit der Freigabe übergehen. Dabei ist die Freigabe jedoch nicht ausschließlich positiv für die Gläubiger, wenn man richtigerweise annimmt, dass auch die Betriebsmittel durch die Freigabe wieder dem Schuldner zur Verfügung gestellt werden und die Insolvenzmasse so geschmälert wird.552) Fraglich ist, ob die Aspekte eigentumsrechtlich relevant sind. Für erst zukünftig 290 entstehende Ansprüche gelten die bereits gemachten Ausführungen.553) Sie werden nicht vom Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG erfasst. Art. 14 Abs. 1 GG als durch den Gesetzgeber normgeprägtes Grundrecht schützt im Rahmen seiner Institutsgarantie die Zugehörigkeit des Eigentums zu einem Rechtsträger, die Privatnützigkeit des Eigentums und die grundsätzliche Verfügungsbefugnis des Berechtigten.554) Die bereits bestehenden Forderungen sowohl von Massegläubigern als auch von Insolvenzgläubigern werden jedoch weder durch die Positiverklärung noch durch die Negativerklärung im Sinne des § 35 Abs. 2 InsO berührt. Die Forderungen bleiben im Rahmen der personellen Zuordnung beim Gläubiger bestehen und er ist auch nach wie vor dispositionsbefugt. Die bloße abstrakte Entwertung durch den teilweisen Verlust der Haftungsmasse bei einer Negativerklärung oder die Begründung neuer Masseforderungen bei einer Positiverklärung reichen für eine ___________ 550) BVerfG, Beschl. v. 26.4.1995 – 1 BvL 19/94; 1 BvR 1454/94, DtZ 1995, 323, 323; Beschl. v. 7.12.2004 – 1 BvR 1804/03, NJW 2005, 879, 880; Beschl. v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, NJW 2006, 2613, 2614. 551) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 552) Siehe zu dem Problem bereits oben unter Rn. 85 ff. 553) Siehe dazu unter Rn. 252 ff. 554) Hömig/Wolff-Antoni, Art. 14 Rn. 2.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
Beeinträchtigung des Eigentumsrechts der Gläubiger nicht aus, da die Forderung der Gläubiger an sich bestehen bleibt. Das BVerfG hat zwar eine Beeinträchtigung des Eigentumsrechts aus Art. 14 Abs. 1 GG angenommen, wenn die Forderung zwar fortbesteht, ihr aber kein wirtschaftlicher Wert mehr zukommt, das heißt sie nicht einmal mehr mit der Quote befriedigt wird.555) Eine vergleichbare vollständige Entwertung kann bei der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO jedoch nicht pauschal angenommen werden. Im Gegenteil: Der Insolvenzverwalter hat die Wahl, ob er die selbständige Tätigkeit freigibt oder nicht. Seine Entscheidung wird maßgeblich davon geprägt sein, was er für die Masse und damit für die Gläubiger am Besten hält. Er wird sie so ausüben, dass den Gläubigern die größtmögliche Quote zugutekommt. Letztlich kann das Insolvenzgericht auf Antrag der Gläubiger nach § 35 Abs. 2 S. 3 InsO die Erklärung des Insolvenzverwalters auch für unwirksam erklären. Eine vollständige Entwertung der Gläubigerforderungen droht dementsprechend nicht.
291 Die Gläubiger sind demnach weder durch die Positiverklärung noch durch die Negativerklärung in Art. 14 Abs. 1 GG berührt.
b) Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung 292 Unabhängig davon, ob der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung aus Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG oder einer wechselseitigen Ausgleichshaftung der Gläubiger hergeleitet wird556), ist zumindest anerkannt, dass er mit dem Prinzip „par conditio creditorum“ grundsätzlich eine gleichmäßige Befriedigung aller Gläubiger bezweckt.557) Vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens gilt das der Zivilprozessordnung zugrundeliegende Prioritätsprinzip, wonach die Gläubiger in der Reihenfolge befriedigt werden, in der sie die Vollstreckung ihrer Forderungen betreiben.558) Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens wird das Prioritätsprinzip von der Gesamtvollstreckung durch alle Gläubiger gemeinsam abgelöst, wonach jedem Gläubiger unabhängig vom Zeitpunkt der Vollstreckung seiner Forderung quotal nach Höhe seiner Forderung das Gleiche zukommen soll.559) Vom Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung werden jedoch Ausnahmen gemacht.560) Die für Arbeitnehmer wohl Bedeutendste ist die vorrangige Befriedigung vor den Insolvenzgläubigern als Massegläubiger nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO für alle nach der Insolvenzeröffnung begründeten Forderungen. Insbesondere Lohnforderungen entstehen ___________ 555) BVerfG, Beschl. v. 26.4.1995 – 1 BvL 19/94; 1 BvR 1454/94, DtZ 1995, 323, 323; a. A. Doebert, Die Insolvenzanfechtung von Lohnzahlungen, S. 264 f. 556) Siehe zu der Frage nach der dogmatischen Grundlage des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung ausführlich Doebert, Die Insolvenzanfechtung von Lohnzahlungen, S. 282 ff. 557) Gottwald-G. Koch/Bra, § 66 Rn. 18. 558) Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 2.21. 559) Foerste, Insolvenzrecht, Rn. 8. 560) Siehe hierzu Foerste, Insolvenzrecht, Rn. 10; Mohrbutter/Ringstmeier-Mohrbutter, Kap. 1 Rn. 5.
96
III. Auslegung im Lichte der Verfassung
damit als privilegierte Masseverbindlichkeiten. Für neu begründete Ansprüche werden Arbeitnehmer somit gegenüber anderen Gläubigern bessergestellt.561) Eine solche Ausnahme vom Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung ist rechtfer- 293 tigungsbedürftig.562) Es ist allgemein anerkannt, dass der Insolvenzverwalter zur Verwaltung, Vermehrung und Verwertung der Masse und damit zur Befriedigung aller Gläubiger auf Verträge angewiesen ist.563) Hierdurch rechtfertigt sich die Besserstellung der in § 55 InsO genannten privilegierten Gläubiger.564) Würden deren Forderungen nur quotal als Insolvenzforderungen befriedigt, wäre kaum jemand dazu bereit, mit dem Insolvenzverwalter zu kontrahieren.565) Wird durch die Freigabe die selbständige Tätigkeit des Schuldners aus der Insol- 294 venz herausgelöst, haftet zwar die Insolvenzmasse nicht mehr für im Rahmen der selbständigen Tätigkeit neu begründete Forderungen, sie profitiert aber auch nicht mehr unmittelbar vom Neuerwerb. Geht man davon aus, dass die Arbeitsverhältnisse nicht mit der Freigabeerklärung auf den Schuldner übergehen, müssten die Arbeitnehmer dennoch (zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist aus § 113 S. 2 InsO) weiter nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO bevorzugt als Massegläubiger befriedigt werden. Ob diese fortdauernde Belastung gerechtfertigt ist, ist zweifelhaft. Zum einen erlangt die Masse keine Gegenleistung aus der selbständigen Tätigkeit 295 des Schuldners mehr, da sämtlicher Neuerwerb mit Ausnahme des abzuführenden Beitrags nach § 295 Abs. 2 InsO nunmehr dem Insolvenzschuldner zusteht. Es besteht darüber hinaus auch keine unmittelbare Beziehung zwischen der Lohnzahlung an die Arbeitnehmer und dem erwirtschafteten Neuerwerb.566) Zum anderen erhält die Masse auch keine Gegenleistung unmittelbar aus der Rechts- 296 beziehung zu den Arbeitnehmern. Zwar „erlangt“ die Insolvenzmasse im weitesten Sinne das Angebot der Arbeitsleistung.567) Die Werthaltigkeit der Gegenleistung ist dabei aber zweifelhaft, da der Insolvenzverwalter aufgrund der Freigabe des Unternehmens keine Verwendungsmöglichkeit mehr für die Arbeitsleistung hat und, wie Ries richtigerweise einwendet, eine eigentlich von § 108 InsO ermöglichte Fortführung des Unternehmens von vornherein ausscheidet.568) Dass keine Verwendungsmöglichkeit für die angebotene Arbeitsleistung besteht oder eine An___________ 561) 562) 563) 564) 565) 566)
Statt aller Regh, et al.-Fanselow/Kreplin, § 4 Rn. 112 f. u. 118 f. KKInsO-Röpke, § 55 Rn. 3; K. Schmidt-K. Schmidt, § 1 Rn. 5. KKInsO-Röpke, § 55 Rn. 2. Statt aller Jaeger-Henckel, § 55 Rn. 5. MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 1; KKInsO-Röpke, § 55 Rn. 2. Ebenfalls mit Blick auf den Grundsatz der par condictio creditorum Ries, ZInsO 2009, 2030, 2036. 567) MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 171. 568) Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031 unter Verweis auf die Gesetzesbegründung zu § 108 InsO, BTDrucks. 12/2443, S. 147.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
nahme sogar unmöglich ist, ist für den Lohnanspruch nach den Grundsätzen des Annahmeverzugs nach § 615 S. 1 BGB unerheblich.569) Nach unvoreingenommener Betrachtung ist damit eine bevorzugte Befriedigung der Arbeitnehmer als Massegläubiger nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO unter Außerachtlassung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung mangels Gegenleistung für die Insolvenzmasse demnach nicht gerechtfertigt.
297 Jedoch besteht in der bevorzugten Befriedigung von Arbeitnehmern als Massegläubigern trotz fehlender Gegenleistung für die Insolvenzmasse keine Besonderheit der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO. Im Fall des Annahmeverzugs des Insolvenzverwalters entstehen zum Beispiel ebenfalls Annahmeverzugslohnforderungen im Rang von Masseverbindlichkeiten, ohne dass die Masse gemehrt wird.570) Diese unabhängig von einem Massevorteil begründeten oktroyierten Masseverbindlichkeiten sind kritisch zu sehen. Sie widersprechen dem grundsätzlichen Gedanken hinter der Begründung von bevorzugt zu befriedigenden Masseverbindlichkeiten, wonach diese nur begründet werden sollen, soweit die Insolvenzmasse aus dem zugrundeliegenden Geschäft einen Vorteil erlangt.571) Letztlich kommt nämlich der erwirtschaftete Vorteil durch eine angereicherte Insolvenzmasse wieder allen Gläubigern im Wege einer erhöhten Quote zugute. Ein solcher Vorteil kann durch fortbestehende Arbeitsverhältnisse nicht immer erwirtschaftet werden. Schließlich kann die angebotene Arbeitsleistung nur dann in einen Vorteil für die Insolvenzmasse umgewandelt werden, wenn der Insolvenzverwalter sie annehmen und sinnvoll einsetzen kann. Das ist regelmäßig nur bei einer Unternehmensfortführung zugunsten der Masse der Fall und damit im Rahmen des Anwendungsbereichs der Negativerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO zwangsläufig ausgeschlossen.572)
298 Dass die Insolvenzordnung in Bezug auf Arbeitsverhältnisse vom Erfordernis des Massevorteils abweicht, ergibt sich aus § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 S. 1 InsO. Dem Insolvenzverwalter steht in Bezug auf Arbeitsverhältnisse unter Abweichung von § 103 InsO kein Erfüllungswahlrecht zu. Er kann die Insolvenzmasse nicht durch sofortige Erklärung vor weiteren Ansprüchen aus den Arbeitsverhältnissen schützen. Auch wenn die Arbeitsverhältnisse mangels Verwendbarkeit der Arbeitsleistung keinen Vorteil für die Insolvenzmasse begründen, entstehen nach §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 108 Abs. 1 S. 1 InsO Masseverbindlichkeiten. Zwar ließe sich argumentieren, dass der Vergütungsanspruch der synallagmatische Ausgleich für die nach § 108 Abs. 1 S. 1 InsO fortbestehende Pflicht des Arbeit___________ 569) MüKoBGB-Henssler, § 615 Rn. 8 u. Rn. 28; Boecken, et al.-Boemke, BGB § 615 Rn. 6; ErfKPreis, BGB § 615 Rn. 7. 570) Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, § 108 Rn. 28; Gottwald-Bertram, § 107 Rn. 15; Nerlich/Römermann-Andres, § 55 Rn. 101; Uhlenbruck-Ries, § 108 Rn. 46. 571) Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 147. 572) Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031 unter Hinweis auf BT-Drucks. 12/2443, S. 147.
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III. Auslegung im Lichte der Verfassung
nehmers, seine Leistung weiter anzubieten, ist.573) Dennoch ergibt sich aus der bloßen Pflicht des Arbeitnehmers, die Arbeitsleistung anzubieten, noch kein vermögenswerter Vorteil für die Insolvenzmasse, der allen Gläubigern zugutekommt. Der eigentlich die Entstehung von Masseverbindlichkeiten rechtfertigende Vorteil für die Insolvenzmasse kann damit bei Arbeitsverhältnissen nicht pauschal angenommen werden. Ein Ausscheiden der Arbeitsverhältnisse aus dem Kreis der bevorzugt zu befriedigenden Massegläubiger kann daher mit Blick auf den Masseschutz und die anderen Gläubiger wünschenswert sein.574) § 35 Abs. 2 InsO stellt mit der Annahme, dass auch Arbeitsverhältnisse von der 299 Freigabe erfasst werden, eine Lösungsmöglichkeit von der weiteren Belastung der Insolvenzmasse zur Verfügung. Dem Insolvenzverwalter kommt damit faktisch ein Wahlrecht im Sinne des § 103 InsO zu. Er kann entscheiden, ob die Arbeitsverhältnisse weiter zulasten der Masse bestehen oder mit sofortiger Wirkung auf den Schuldner zurückfallen und damit keine Masseverbindlichkeiten mehr begründen. Gegen eine Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO wird er sich nur dann entscheiden, wenn er sich von der Fortführung der wirtschaftlichen Tätigkeit durch den Schuldner einen Gewinn für die Insolvenzmasse verspricht. Dass dann auch die Arbeitsverhältnisse weiter nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO Masseverbindlichkeiten begründen, ist gerechtfertigt, da hierdurch spiegelbildlich die Masse gemehrt wird. Bei einer Negativerklärung kommt der unter anderem mit den Arbeitnehmern erwirtschaftete Neuerwerb nur noch dem Insolvenzschuldner zugute, die Insolvenzmasse wird aber auch nicht mehr mit den Lohnforderungen belastet. Den Interessen der Gläubiger wird damit vornehmlich Rechnung getragen, wenn man die Freigabe der selbständigen Tätigkeit so versteht, dass auch die Arbeitsverhältnisse von ihr erfasst werden. Schließlich wäre es erst recht mit dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung 300 unvereinbar, wenn die Arbeitnehmer weiter für den Schuldner arbeiten, ohne dass das Arbeitsverhältnis formal auf den Schuldner übergegangen wäre. Die Arbeitnehmer würden weiter aus der Masse befriedigt, während sowohl das Angebot der Arbeitsleistung als auch der von ihnen erwirtschaftete Vorteil nicht der Masse, sondern dem Schuldner zugutekäme.575) Lediglich der nach § 35 Abs. 2 S. 2 InsO in Verbindung mit § 295 Abs. 2 InsO abzuführende Ausgleichsbeitrag käme noch der Masse zu, welcher mittelbar von den Arbeitnehmern erwirtschaftet wurde. Heinze bezeichnet eine solche Finanzierung der Arbeitnehmer durch die Insolvenzmasse passend als „Subventionierung“ der von der Insolvenzmasse getrennten wirtschaftlichen Tätigkeit des Schuldners auf Kosten der übrigen Gläubiger.576) Eine ___________ 573) 574) 575) 576)
MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 171. Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 147. Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031. Heinze, ZVI 2007, 349, 354.
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D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
solche ist der Insolvenzordnung fremd und auch nicht mehr vom Förderungszweck des § 35 Abs. 2 InsO gedeckt.577)
301 Demnach ist es zur bestmöglichen Verwirklichung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung, unabhängig davon, ob dieser sich aus Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 14 Abs. 1 GG oder einer wechselseitigen Ausgleichshaftung der Gläubiger ergibt578), geboten, die Arbeitsverhältnisse auch von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO als erfasst anzusehen.
c)
Zwischenergebnis
302 Zusammenfassend kann damit festgestellt werden, dass die übrigen Gläubiger durch die Frage, ob auch die Arbeitsverhältnisse von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden, nicht in ihrem Eigentumsrecht nach Art. 14 Abs. 1 GG berührt werden. Verneint man den Übergang der Arbeitsverhältnisse, würde zwar die Insolvenzmasse durch die Lohnforderungen weiter belastet. Es kann aber nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass die Belastung so schwer wiegt, dass das Eigentum der Gläubiger an ihren bereits bestehenden Forderungen ausgehöhlt wird. Vielmehr ist in der Regel noch immer mit einer quotalen Befriedigung zu rechnen.
303 Anderes gilt für den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung. Unabhängig davon, worin man die Grundlage des Gläubigergleichbehandlungsgrundsatzes sieht, bevorteilt die Insolvenzordnung die Arbeitnehmer durch ihren Lohnanspruch gegen die Masse, ohne dass dem Insolvenzverwalter ein Erfüllungswahlrecht zukommt (sog. oktroyierte Masseverbindlichkeit). Die Besonderheit liegt entgegen dem sonstigen Grundsatz darin, dass die lohnbezogenen Masseverbindlichkeiten unabhängig von einem im Gegenzug der Insolvenzmasse zugutekommenden Vorteil entstehen. Hierdurch wird die Insolvenzmasse und damit die Haftungsmasse der Schuldner geschmälert. Arbeitnehmer werden damit bessergestellt als sonstige Gläubiger, die, um in den Genuss einer privilegierten Befriedigung zu kommen, in der Regel einen Mehrwert für die Insolvenzmasse leisten müssen. Ein solcher Vorteil gegenüber den anderen Gläubigern ließe sich durch die Annahme, dass § 35 Abs. 2 InsO zu einem Übergang der Arbeitsverhältnisse führt, ausgleichen. Dem Insolvenzverwalter käme dann auch für die Arbeitsverhältnisse ein Wahlrecht zu, ob sie weiter zugunsten und zulasten der Insolvenzmasse bestehen oder ob die Arbeitgeberfunktion mit sofortiger Wirkung wieder auf den Schuldner zurückfällt und die Arbeitnehmer damit keine weiteren Masseverbindlichkeiten mehr begründen.
___________ 577) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2030 ff.; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 3; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 147; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 578) Dazu Doebert, Die Insolvenzanfechtung von Lohnzahlungen, S. 282 ff.
100
III. Auslegung im Lichte der Verfassung
Im Rahmen der objektiven Werteordnung des Grundgesetzes streitet der Grundsatz 304 der Gläubigergleichbehandlung demnach für einen sofortigen Übergang der Arbeitgeberfunktion durch die Freigabe der selbstständigen Tätigkeit auf den Schuldner.
3.
Grundrechte des Schuldners
Zuletzt spielen die Grundrechte des Schuldners eine Rolle bei der Frage, ob die 305 Arbeitsverhältnisse durch die Freigabe vom Insolvenzverwalter auf den Schuldner übergehen. Er würde die Arbeitgeberfunktion über die Arbeitsverhältnisse zurückerhalten, wäre aber zugleich auch den Ansprüchen aus den Arbeitsverhältnissen wieder ausgesetzt.
a) Art. 12 Abs. 1 GG – die Berufsfreiheit bei Ablehnung des Übergangs Wie bereits dargestellt, ist ein wesentlicher Grund für die Schaffung des § 35 306 Abs. 2 InsO das in Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsmäßig garantierte Recht des Schuldners, selbständig tätig zu sein.579) Auf die Herleitung des Rechts des Schuldners, auch in einem laufenden Insolvenzverfahren selbständig tätig zu sein, sei an dieser Stelle verwiesen.580) Art. 12 Abs. 1 GG schützt nicht nur die Wahl, selbständig tätig zu sein, sondern auch die Ausübung der selbständigen Tätigkeit an sich. Staatliches Handeln, dass die Ausübung der selbständigen Tätigkeit erschwert oder gar unmöglich macht, greift in den Schutzbereich von Art. 12 Abs. 1 GG ein.581) Lehnt man einen Übergang der Arbeitsverhältnisse auf den Schuldner ab, müsste 307 der Insolvenzverwalter zum Schutz der Masse die Kündigung aussprechen und die der selbständigen Tätigkeit zugeordneten Arbeitsverhältnisse beenden.582) Zur Ausübung der selbständigen Tätigkeit benötigt der selbständig tätige Schuldner jedoch in der Regel Arbeitnehmer. Führt er eine selbständige Tätigkeit fort, die bereits an strukturellen Mängeln krankt und bezüglich derer bereits einmal ein Insolvenzgrund vorlag, wird es für den Schuldner schwerlich möglich sein, neue Vertragspartner zu finden, die bereit sind, das Risiko eines neuerlichen Scheiterns auf sich zu nehmen.583) Dass ein erhebliches Risiko einer erneuten Insolvenz der freigegebenen Tätigkeit besteht, zeigt Ehlers.584) Er analysiert die bis 2014 erschienenen ___________ 579) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. Siehe dazu bereits unter Rn. 15 ff. 580) Siehe dazu bereits unter Rn. 15 ff. 581) St. Rspr. BVerfG, Urt. v. 11.6.1958 – 1 BvR 596/56, NJW 1958, 1035, 1036 f.; Beschl. v. 21.2.1995 – 1 BvR 1397/93, NZA 1995, 619, 620; Beschl. v. 20.3.2001 – 1 BvR 491/96, NJW 2001, 1779, 1779. 582) Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 583) Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273; für ein Gewerberaummietverhältnis LG Krefeld, Urt. v. 24.2.2010 – 2 O 346/09, ZInsO 2010, 1704, 1705. 584) Ehlers, ZInsO 2014, 53, 54 f. Diese Einschätzung wird von der Praxis bestätigt Schmerbach, VIA 2015, 81, 81.
101
D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
Gerichtsentscheidungen, die § 35 Abs. 2 InsO zum Gegenstand haben. Hierbei stellt er fest, dass ein Großteil der Entscheidungen zu § 35 Abs. 2 InsO ein erneutes Insolvenzverfahren über das freigegebene Unternehmen betreffen.585) Auch eine Betrachtung von neueren Entscheidungen bestätigt, dass viele Urteile, in denen § 35 Abs. 2 InsO relevant wird, ein Zweitinsolvenzverfahren über die freigegebene Tätigkeit zum Inhalt haben.586) Ahrens bezeichnet die Zweitinsolvenz über das Vermögen der freigegebenen selbständigen Tätigkeit als „ganz alltägliche Erscheinung“587). Diese Tendenz ist nicht verwunderlich, nachdem sich der Insolvenzverwalter in der Regel nur nach einer negativen Fortführungsprognose für die Freigabe der selbständigen Tätigkeit entscheiden wird.588) Nur wenn er davon ausgeht, dass die Fortführung einen Gewinn erwirtschaftet, der über den nach § 295 Abs. 2 InsO zu entrichtenden Anteil hinausgeht, wird er die selbständige Tätigkeit freigeben. Andernfalls wird er durch eine Positiverklärung das erwirtschaftete Vermögen für die Masse sichern.
308 Kommt man zu dem Ergebnis, dass die Freigabe nicht zu einem Übergang der Arbeitsverhältnisse führt, müsste der Schuldner unter den beschriebenen erschwerten Bedingungen neue Arbeitnehmer für seine fortzuführende selbständige Tätigkeit suchen. Ferner ginge ihm das mit seinen Mitarbeitern einhergehende Know-How verloren. Dem Schuldner würde damit durch die Ablehnung des Übergangs der Arbeitsverhältnisse die Ausübung seiner selbständigen Tätigkeit erheblich erschwert und er wäre in seinem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG berührt.589)
b) Art. 12 Abs. 1 GG – die Berufsfreiheit bei Annahme des Übergangs 309 Auch dem Übergang der Arbeitsverhältnisse stehen Bedenken entgegen. Bei einem Übergang würde sich der Schuldner im Zeitpunkt der Freigabe unmittelbar sämtlichen Lohnkosten erneut ausgesetzt sehen.590) Findet nicht eine vorherige Reduzierung der Lohnkosten (in Absprache mit dem Insolvenzverwalter) statt, wird die Fort___________ 585) Ehlers, ZInsO 2014, 53, 55; siehe zu den Urteilen über die Insolvenz des freigegebenen Unternehmens die dortigen Verweise in den Fn. 18 – 21. 586) Beispielhaft sind hier zu nennen: BSG, Urt. v. 23.5.2017 – B 12 AL 1/15 R, ZInsO 2017, 1890, 1980 ff.; Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2183 ff.; BGH, Beschl. v. 18.12.2014 – IX ZB 22/13, NZI 2015, 289, 289 f.; LG Hamburg, Beschl. v. 29.6.2016 – 326 T 76/16, NZI 2016, 772, 772 f.; AG Göttingen, Beschl. v. 27.5.2016 – 74 IN 93/16, NZI 2016, 849, 849. 587) Ahrens, NZI 2017, 862, 865. 588) Berger, ZInsO 2008, 1101, 1104; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034; Ahrens, NZI 2017, 862, 865; Rein, NZI 2018, 308, 309. 589) Genauso für ein aus gewerblichen Gründen eingegangenes Mietverhältnis LG Krefeld, Urt. v. 24.2.2010 – 2 O 346/09, ZInsO 2010, 1704, 1705. 590) Gutsche, ZVI 2008, 41, 45 (Fn. 30). Zu nicht oktroyierten schwebenden Verträgen Heinze, ZVI 2007, 349, 355.
102
III. Auslegung im Lichte der Verfassung
führung der selbständigen Tätigkeit selten von Erfolg gekrönt sein.591) Häufig sind die Lohnkosten eine beträchtliche, wenn nicht sogar die größte wirtschaftliche Belastung. Dem Schuldner droht, wie zahlreich in der Rechtsprechung ersichtlich, die Zweitinsolvenz für das freigegebene Unternehmen und damit ein von Ehlers passend beschriebener „Drehtüreffekt“.592) Hierdurch würde der Erhalt der vom Schuldner begründeten selbständigen Tätig- 310 keit und damit seines Unternehmens wesentlich erschwert.
c)
Art. 14 GG in Verbindung mit dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb
Jedenfalls im Zivilrecht ist das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbe- 311 betrieb anerkannt.593) Es schützt die gegenwärtige, selbständige, gewerbliche Tätigkeit vor konkret betriebsbezogenen Eingriffen.594) Neben dem Bestand der Gegenstände des Betriebs ist auch dessen Funktionsfähigkeit geschützt, wovon alle zur Teilnahme am Wirtschaftsleben erforderlichen Gegebenheiten umfasst sind.595) Auch im Verfassungsrecht wird ein Schutz des eingerichteten und ausgeübten Ge- 312 werbebetriebs im Rahmen von Art. 14 GG diskutiert.596) Das BVerfG hat die zugrundeliegende Frage bisher offengelassen, stellt aber fest, dass der Schutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs nicht weitergehen kann, als der Schutz, der auch der wirtschaftlichen Grundlage selbst zuteil wird.597) Die allgemeinen Eingrenzungen des Schutzbereichs von Art. 14 GG gelten demnach auch für ein potentiell geschütztes Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb.598) Dementsprechend werden bloße zukünftige Erwerbsaussichten und Chancen nicht geschützt.599) Ferner besteht auch kein Schutz in Bezug auf bloße Umstände, die keinen Bezug zu dem konkreten Gewerbebetrieb haben, selbst wenn sie ___________ 591) Ehlers, ZInsO 2014, 53, 55. In Bezug auf überhöhte Mietverbindlichkeiten Schmerbach, VIA 2015, 81, 81 f. 592) Ehlers, ZInsO 2014, 53, 55; siehe zu aktuellen Urteilen über die Insolvenz des freigegebenen Unternehmens bereits Fn. 586. 593) Statt aller MüKoBGB-Wagner, § 823 Rn. 316 f., m. w. N. 594) Jauernig-Teichmann, § 823 Rn. 96 ff. 595) BGH, Urt. v. 28.1.1957 – III ZR 141/55, NJW 1957, 630, 631; Staudinger-Hager, § 823 Rn. D 9. 596) Das Recht am Gewerbebetrieb ablehnend etwa Bonner Kommentar-Dederer, Art. 14 Rn. 164; befürwortend Berliner Kommentar-Sieckmann, Art. 14 Rn. 45. 597) So etwa BVerfG, Beschl. v. 10.6.2009 – 1 BvR 198/08, NVwZ 2009, 1426, 1428; Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821/11, 1 BvR 3 321/12, 1 BvR 1456/12, NJW 2017, 217, 223 f.; jeweils m. w. N. 598) BVerfG, Beschl. v. 10.6.2009 – 1 BvR 198/08, NVwZ 2009, 1426, 1428; Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821/11, 1 BvR 3 321/12, 1 BvR 1456/12, NJW 2017, 217, 223 f.; jeweils m. w. N. 599) BVerfG, Beschl. v. 10.6.2009 – 1 BvR 198/08, NVwZ 2009, 1426, 1428; Urt. v. 6.12.2016 – 1 BvR 2821/11, 1 BvR 3 321/12, 1 BvR 1456/12, NJW 2017, 217, 223.
103
D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
für das Unternehmen von erheblicher Bedeutung sind.600) Die Mehrheit der Literatur bezieht Stellung und entscheidet sich für einen Schutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs durch und in den Grenzen von Art. 14 GG. Hiernach fällt auch die bestehende organisatorische Gesamtheit des Unternehmens, das heißt alles, was den Wert des Betriebs ausmacht, in den Schutzbereich von Art. 14 GG.601)
313 Erkennt man mit dem überwiegenden Teil der Literatur das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb an,602) wird dieses durch die Ablehnung des Übergangs der Arbeitsverhältnisse beeinträchtigt. Bei den bereits abgeschlossenen Arbeitsverhältnissen handelt es sich weder um eine bloße Erwerbschance noch um einen allgemeinen Umstand, der keinen Bezug zum schuldnerischen Betrieb hat. Die Arbeitsverhältnisse sind vielmehr Bestandteil der bereits vorgenommenen Organisation von Betriebsmitteln und Arbeitnehmern durch den Schuldner. Ferner sind sie vertraglich konkret dem schuldnerischen Betrieb zugeordnet. Der Schutz der dem Betrieb zugehörigen Arbeitsverhältnisse scheitert demnach nicht bereits daran, dass das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb nicht weiter reichen kann, als der originäre Eigentumsschutz von Art. 14 GG.
314 Durch die Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters unter Ausschluss der Arbeitsverhältnisse werden der betriebliche Neuerwerb und das Betriebsvermögen von den Arbeitsverhältnissen getrennt. Bedient sich der Schuldner der Hilfe von Arbeitnehmern, um seine selbständige Tätigkeit auszuüben, sind letztere ein Teil der Betriebsorganisation. Sie sind regelmäßig für die Betriebsfortführung unentbehrlich. Den Betriebsablauf aufrechtzuerhalten, wäre ohne die Arbeitsverhältnisse als Betriebsgrundlage regelmäßig unmöglich.603) Die bisherige Betriebsorganisation wird damit durch die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO zerstört.
315 Die Trennung von Arbeitsverhältnissen und Betriebsvermögen wäre in diesem Fall auch nicht bloße Nebenfolge, sodass auch eine Betriebsbezogenheit der Rechtsfolge des § 35 Abs. 2 InsO zu bejahen ist.
___________ 600) So etwa BVerfG, Beschl. v. 8.6.1977 – 2 BvR 499/74, 2 BvR 1042/75, NJW 1977, 2024, 2027; Sachs-Wendt, Art. 14 Rn. 47; jeweils m. w. N. 601) Sachs-Wendt, Art. 14 Rn. 47; Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 14 Rn. 16; Berliner Kommentar-Sieckmann, Art. 14 Rn. 45; Maunz/Dürig-Papier/Shirvani, Art. 14 Rn. 200; BeckOKGG-Axer, Art. 14 Rn. 52; a. A. Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 14 Rn. 21; Epping, Grundrechte, Rn. 450. 602) Sachs-Wendt, Art. 14 Rn. 47; Schmidt-Bleibtreu/Klein-Hofmann, Art. 14 Rn. 16; Berliner Kommentar-Sieckmann, Art. 14 Rn. 45; Maunz/Dürig-Papier/Shirvani, Art. 14 Rn. 200; BeckOKGG-Axer, Art. 14 Rn. 52; a. A. Jarass/Pieroth-Jarass, Art. 14 Rn. 21; Epping, Grundrechte, Rn. 450. 603) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2187; SG München, Teilurteil v. 21.3.2016 – S 15 R 582/14, ZInsO 2016, 859, 862; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273.
104
IV. Ergebnis der verfassungsrechtlichen Prüfung
Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, soweit man es als 316 von Art. 14 GG geschützt ansieht, fordert damit einen Übergang der Arbeitsverhältnisse im Rahmen der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO.
d) Zwischenergebnis Es entsteht die paradoxe Situation, dass je nach Einzelfall sowohl ein Übergang 317 der Arbeitsverhältnisse auf den Schuldner als auch ein Verbleib der selbigen beim Insolvenzverwalter den Schuldner in seiner Berufsfreiheit berührt. So oder so ist er damit in Art. 12 Abs. 1 GG betroffen. Verbleiben die Arbeitsverhältnisse beim Insolvenzverwalter, droht der Schuldner 318 seines Know-Hows beraubt zu werden. Er wird in der Regel auf die Arbeitsverhältnisse angewiesen sein, zumal ein Neuabschluss von Arbeitsverträgen bei bereits erwiesener Erfolglosigkeit nicht ohne Weiteres möglich sein wird. Gehen die Arbeitsverhältnisse hingegen auf den Schuldner über, wird er von dem 319 einen auf den anderen Moment wieder mit den gesamten Lohnkosten belastet. Die Fortführung der selbständigen Tätigkeit droht hierdurch zum Scheitern verurteilt zu sein. Ein Zweitinsolvenzverfahren über das freigegebene Unternehmen droht. Dass eine nach § 35 Abs. 2 InsO freigegebenen Tätigkeit generell erfolglos ist, steht nicht im Einklang mit Art. 12 Abs. 1 GG, zumal § 35 Abs. 2 InsO beabsichtigt, dem Schuldner die Ausübung seiner selbständigen Tätigkeit und damit seines verfassungsmäßigen Rechts auf Berufsfreiheit, zu ermöglichen. Somit wird auch im Hinblick auf die verfassungsmäßigen Rechte der Beteiligten erneut die Mehrdeutigkeit der vom Gesetzgeber verfolgten Ermöglichungsabsicht deutlich.604) Darüber hinaus wäre der Schuldner durch die Annahme, dass die Arbeitsverhält- 320 nisse nicht von der Freigabeerklärung erfasst werden, in seinem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb betroffen, da die Trennung der Arbeitsverhältnisse von der selbständigen Tätigkeit des Schuldners die bisherige Betriebsorganisation zerstört.
IV. Ergebnis der verfassungsrechtlichen Prüfung Die Ausführungen machen deutlich, dass die Entscheidung, ob die Verwaltungs- 321 und Verfügungsbefugnis über die Arbeitsverhältnisse durch die Freigabe auf den Schuldner übergehen, in engem Zusammenhang mit den Grundrechten der beteiligten Parteien stehen. Dabei erschwert insbesondere die Mehrpersonenkonstellation aus Gläubiger, Schuldner und Arbeitnehmer, § 35 Abs. 2 InsO einzuordnen und auszulegen. ___________ 604) Siehe dazu bereits oben unter Rn. 196 ff.
105
D. Verfassungsrechtliche Bedenken an der Freigabe von Arbeitsverhältnissen
322 Die jeweils verfolgten Interessen stehen sich dabei regelmäßig entgegen. So geht für die Arbeitnehmer mit der Freigabe der Arbeitsverhältnisse ein Verlust der von der Insolvenzordnung in Aussicht gestellten Masseverbindlichkeiten einher. Zugleich ist aber der dadurch bezweckte Schutz der Insolvenzmasse für die Gläubiger unter dem Gesichtspunkt der Gläubigergleichbehandlung wünschenswert. Schließlich führt die Ermöglichungsabsicht des Gesetzgebers alleine schon bei der isolierten Betrachtung der Schuldnerinteressen zu schwer überwindbaren Konflikten.
323 Eine uneingeschränkte Anwendung von § 35 Abs. 2 InsO unter der Prämisse, dass die Arbeitgeberfunktion zurück auf den Schuldner fällt, steht demnach in Konflikt mit den Grundrechten. Eine solche isolierte Betrachtung lässt aber außer Acht, dass flankierende Normen des Privatrechts eventuell bereits Ausgleichsmechanismen vorhalten.
106
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen § 35 Abs. 2 InsO darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Die Vorschrift und 324 ihre Rechtsfolgen sind vielmehr im Gesamtkontext des einfachen Rechts zu sehen. Hierbei ist zu prüfen, ob das einfache Recht bereits ergänzende ausgleichende Normen vorhält, deren Anwendung die betroffenen Grundrechte in einen schonenden Ausgleich bringt.
I.
Übertragung der vereinfachten Kündigungsmöglichkeit auf den Schuldner
Abhilfe könnte geschaffen werden, indem man dem Schuldner die arbeitsrechtlichen 325 Vereinfachungen der Insolvenzordnung zur Verfügung stellt. Neben §§ 120 ff. InsO und §§ 125 ff. InsO wäre dabei für den Schuldner die vereinfachte Kündigungsmöglichkeit nach § 113 InsO besonders vorteilhaft.605) Der Schuldner könnte sich von nicht erforderlichen Arbeitsverhältnissen leichter lösen. Die Bedenken bezüglich einer erdrückenden Belastung des Schuldners aufgrund eines sofortigen Übergangs der Arbeitsverhältnisse könnten damit entschärft werden. Heinze schlägt in diesem Zusammenhang für nicht oktroyierte Verträge vor, dass 326 dem Schuldner dasselbe Wahlrecht wie dem Insolvenzverwalter nach § 103 InsO zukommen soll. Der Schuldner könnte dann für gegenseitige Verträge, deren Erfüllung nicht von der Insolvenzordnung angeordnet wird, die Erfüllung des Vertrags ablehnen und seine Haftung beschränken.606) Entsprechend ließe sich diese Ansicht auf Arbeitsverhältnisse anwenden, die aufgrund von § 108 Abs. 1 S. 1 InsO oktroyierte Masseverbindlichkeiten sind. Dem Schuldner wäre dann das Recht zur vereinfachten Kündigung nach § 113 InsO einzuräumen, das eigentlich nur dem Insolvenzverwalter zusteht. Der Wortlaut von § 113 InsO spricht hier jedoch eine klare Sprache, die eine An- 327 wendbarkeit ausschließlich auf den Insolvenzverwalter begrenzt.607) Es käme dementsprechend einzig eine analoge Anwendung zugunsten des Schuldners in Betracht. An einer analogen Anwendbarkeit des § 113 InsO auf die Kündigungsmöglichkeit des Schuldners bestehen jedoch erhebliche Zweifel. Eine erforderliche planwidrige Unvollständigkeit des Rechts ließe sich zwar noch begründen, da der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung mit keinem Wort auf die Belastung des ___________ 605) Smid, DZWIR 2008, 133, 141 geht auf das spiegelbildliche Problem ein und vertritt, dass den Arbeitnehmern ihr gegenüber dem Insolvenzverwalter bestehendes vereinfachtes Kündigungsrecht nicht genommen werden darf. 606) Heinze, ZVI 2007, 349, 354 f. 607) So zur Frage der Übertragung der Befugnis von § 103 InsO auf den Schuldner Gutsche, ZVI 2008, 41, 43; ebenso Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 107.
107
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
Schuldners durch übergehende Arbeitsverhältnisse eingeht. Eine analoge Anwendung scheitert aber spätestens an der ebenfalls erforderlichen vergleichbaren Interessenlage.
328 Bei § 113 InsO handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, die von den gesetzlich geregelten Kündigungsfristen und -voraussetzungen abweicht. § 113 InsO bezweckt, die Insolvenzmasse vor einer allzu langen zeitlichen Belastung durch Arbeitnehmeransprüche zu schützen, die nicht zu ihr beitragen.608) Dass der der arbeitsrechtliche Bestandsschutz beschränkt wird, rechtfertigt der Gesetzgeber mit dem Interesse der anderen Gläubiger am Erhalt der Masse als Grundlage ihrer Befriedigung.609) Wendet man § 113 InsO entsprechend zugunsten des Schuldners an, wird sein Interesse an einer flexiblen Minderung der Lohnkosten berücksichtigt. Dem gegenüber steht der Bestandsschutz der Arbeitnehmer, der zugunsten des Schuldners eingeschränkt wird. Die Arbeitnehmer würden aufgrund von § 35 Abs. 2 InsO nicht nur ihre von der Insolvenzordnung vorgesehenen Ansprüche gegen die Insolvenzmasse verlieren, sondern darüber hinaus durch eine entsprechende Anwendung von § 113 InsO auch in ihrem Bestandsschutz außerhalb des Insolvenzverfahrens beschränkt.
329 Der Bestandsschutzes würde dabei ungerechtfertigterweise eingeschränkt. Mit der Freigabe wird die selbständige Tätigkeit aus der Insolvenz herausgelöst und es entsteht ein von der Insolvenzmasse unabhängiges Vermögen, dem auch die Arbeitnehmer zugewiesen sind.610) Die Insolvenzordnung ist insoweit nicht mehr anzuwenden. Es bestehen keine schützenswerten Gläubigerinteressen, die eine Einschränkung der Arbeitnehmerrechte zugunsten einer gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger rechtfertigen. Einzig das Schuldnerinteresse fordert eine vereinfachte Lösung von den Arbeitsverhältnissen. Das Interesse des Arbeitgebers, sich von Arbeitsverhältnissen einfacher lösen zu können, kann aber nicht alleiniger Grund für eine Aushöhlung des arbeitnehmerseitigen Bestandsschutzes sein. Die Belange des Arbeitgebers hat der Gesetzgeber bereits bei Schaffung der allgemeinen Regeln des Kündigungsschutzes beachtet, sodass sie bereits ins allgemeinen Kündigungsschutzrecht eingeflossen sind.611) Erst wenn Drittinteressen hinzutreten, wie die der übrigen Gläubiger in der Insolvenz,612) ist es in engen Grenzen gerechtfertigt, vom allgemeinen Kündigungsschutz abzuweichen. Die Rechtfertigung setzt jedoch voraus, dass der Kündigungsschutz nur im Rahmen eines vorzugswürdigen insolvenzrechtlichen Gesamtkonzepts, das die Gleichbehandlung der Gläubiger ver___________ 608) BT-Drucks. 12/7302, S. 169; HeidelbKInsO-Linck, § 113 Rn. 1. 609) BT-Drucks. 12/7302, S. 169. 610) AG Hamburg, Beschl. v. 18.6.2008 – 67g IN 37/08, ZIP 2009, 384, 384 f.; BGH, Beschl. v. 9.6.2011 – IX ZB 175/10, NZI 2011, 633, 633 f. 611) Statt aller MüKoBGB-Hergenröder, KSchG Einl. Rn. 15 ff. 612) BT-Drucks. 12/7302, S. 169.
108
II. Übertragung der Kündigungsfrist aus § 109 InsO
folgt, begrenzt wird. Ein bloßes Interesse des Schuldners an der Verringerung von Lohnkosten rechtfertigt jedoch nicht die Einschränkungen des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes, da dieses Interesse bereits in den allgemeinen Kündigungsschutzvorschriften berücksichtigt wird. Eine analoge Anwendung des § 113 InsO zugunsten des Schuldners scheidet demnach 330 aus. § 113 InsO steht ausschließlich dem Insolvenzverwalter zur Verfügung. Aus den gleichen Gründen kommt auch eine analoge Anwendung der sonstigen arbeitsrechtlichen Privilegien des Insolvenzverwalters auf den Schuldner nicht in Betracht. Unabhängig davon wäre auch der Nutzen einer solchen entsprechenden Anwen- 331 dung des § 113 InsO begrenzt. Der Insolvenzverwalter, der die selbständige Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 S. 1 InsO freigibt, hat in der Regel bereits eine negative Prognose für die Fortführung des Unternehmens getroffen.613) Wenn der Insolvenzverwalter selbst unter Einbeziehung der vereinfachten Kündigungsmöglichkeit des § 113 InsO keine Zukunftsperspektive für das Unternehmen sieht, ist fraglich, wie viel eine unzulässige Erstreckung des § 113 InsO auf den Schuldner nützen würde.614)
II. Übertragung der Kündigungsfrist aus § 109 InsO Um die Arbeitnehmer nicht über Gebühr zu belasten, wird vorgeschlagen, 332 § 109 Abs. 1 S. 2 InsO ebenfalls auf die Freigabe der selbständigen Tätigkeit anzuwenden.615) Die Norm bezweckt den Schutz des Schuldners vor einem Verlust seiner Mietwohnung, der zur Vermeidung der Obdachlosigkeit eine existenzielle Bedeutung für den Schuldner beigemessen wird.616) Um dieser Bedeutung gerecht zu werden, wird dem Insolvenzverwalter eine Alternative zur Beendigung des Mietvertrags an die Hand geben.617) § 109 Abs. 1 S. 2 InsO ermöglicht es dem Insolvenzverwalter, anstelle einer Kündigung zu erklären, dass Ansprüche aus dem Wohnraummietverhältnis des Schuldners nach Ablauf der Kündigungsfrist nicht mehr im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können. Der Insolvenzverwalter kann damit die Masse vor Ansprüchen aus dem Mietverhältnis für die Zeit nach dem Ablauf der Kündigungsfrist nach § 109 Abs. 1 S. 1 InsO schützen, ohne dass er gezwungen ist, die für den Schuldner notwendige Mietwohnung zu kündigen.618) ___________ 613) Ahrens, NZI 2017, 862, 865; Rein, NZI 2018, 308, 309. 614) Zu § 103 InsO Gutsche, ZVI 2008, 41, 43. 615) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Dahl, NJW-Spezial 2007, 485, 485 f.; Gutsche, ZVI 2008, 41, 46; Uhlenbruck (13. Aufl.)-Hirte, § 35 Rn. 101. In der aktuellen 14. Aufl. findet man diese Ansicht nicht mehr. Kritik bei Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 113 f. 616) BT-Drucks. 14/5680, S. 27. 617) BT-Drucks. 14/5680, S. 27; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 182; K. SchmidtRingstmeier, § 109 Rn. 19; Uhlenbruck-D. Wegener, § 109 Rn. 14; MüKoInsO-Eckert, § 109 Rn. 7. 618) K. Schmidt-Ringstmeier, § 109 Rn. 19; Uhlenbruck-D. Wegener, § 109 Rn. 14; MüKoInsOEckert, § 109 Rn. 7.
109
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
333 Mit Blick auf § 35 Abs. 2 InsO soll § 109 Abs. 1 S. 2 InsO entsprechend auch auf Arbeitsverträge angewendet werden.619) Der Insolvenzverwalter wäre nicht zur Kündigung gezwungen, sondern könnte erklären, dass alle Ansprüche, die nach dem Ablauf der Kündigungsfrist aus § 113 S. 2 InsO fällig werden, nicht mehr im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden könnten.620) Das Arbeitsverhältnis würde nach Ablauf der Kündigungsfrist von höchstens drei Monaten zum Monatsende an den Insolvenzschuldner zurückfallen. In der Zwischenzeit würden die Arbeitnehmer noch Masseverbindlichkeiten begründen. Mit Ablauf der Frist entfiele dieses Recht.
334 Der Vorteil dieser Regelung liegt zum einen in der Entlastung der Insolvenzmasse für die Zeit nach Fristablauf und zum anderen im Fortbestehen der Arbeitsverhältnisse. Möchte der Insolvenzverwalter die Insolvenzmasse davor schützten, dass sie nach §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 108 Abs. 1 S. 1 InsO unbeschränkt forthaftet, bliebe ihm nur die Möglichkeit der Kündigung. Eine solche ginge, wie bereits erläutert, für den Schuldner mit dem Verlust der betriebsnotwendigen Arbeitnehmer einher. § 109 Abs. 1 S. 2 InsO ersetzt darüber hinaus das Erfordernis eines Kündigungsgrundes und schließt das Risiko einer Kündigungsschutzklage zulasten der Insolvenzmasse aus, während zugleich der von der Insolvenzordnung vorgesehene Interessenausgleich zwischen der erleichterten Enthaftung der Masse von Arbeitsverhältnissen und dem Interesse der Arbeitnehmer an einer fortlaufenden Befriedigung aus der Masse zumindest zum Teil gewahrt wird.621)
335 Vorgebracht wird, dass auch die Gesetzesbegründung zu § 35 Abs. 2 InsO auf § 109 Abs. 1 S. 2 InsO hinweist und die Norm als eine bereits bestehende „vergleichbare Regelung“ bezeichnet.622) Eine Anwendbarkeit kommt jedoch einzig analog in Betracht. Eine Analogie setzt neben einer vergleichbaren Interessenlage eine planwidrige Unvollständigkeit des Rechts voraus. Es ist bestehen allerdings Zweifel daran, ob diese Voraussetzungen gegeben sind.
336 An der planwidrigen Unvollständigkeit des Rechts fehlt es. Der Gesetzgeber hat zwar in der Gesetzesbegründung ausdrücklich auf § 109 InsO hingewiesen, letztlich § 35 Abs. 2 InsO aber dennoch anders formuliert.623) § 35 Abs. 2 InsO geht gar nicht auf Schuldverhältnisse oder eine eventuell einzuhaltende Frist ein. Dass eine ___________ 619) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Dahl, NJW-Spezial 2007, 485, 485 f.; Gutsche, ZVI 2008, 41, 46; Uhlenbruck (13. Aufl.)-Hirte, § 35 Rn. 101. 620) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Dahl, NJW-Spezial 2007, 485, 485 f.; Gutsche, ZVI 2008, 41, 46; Uhlenbruck (13. Aufl.)-Hirte, § 35 Rn. 101. 621) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1243; Uhlenbruck (13. Aufl.)-Hirte, § 35 Rn. 101; Heinze, ZVI 2007, 349, 354, der sodann aber doch von der Möglichkeit einer sofortigen Freigabe ausgeht. 622) BT-Drucks. 16/3227, S. 17; Uhlenbruck (13. Aufl.)-Hirte, § 35 Rn. 101. 623) BT-Drucks. 16/3227, S. 17; ebenso Lindemann, BB 2011, 2357, 2359.
110
II. Übertragung der Kündigungsfrist aus § 109 InsO
dahingehende Aussage wünschenswert gewesen wäre, ändert nichts daran, dass der Gesetzgeber offensichtlich § 109 Abs. 1 S. 2 InsO gesehen hat, ihn aber nur als „vergleichbare Regelung“624), nicht aber als entsprechend anwendbare Regelung versteht.625) Die Vergleichbarkeit bezieht sich vielmehr auf den Charakter der atypischen Vermögensfreigabe, die nicht nur einzelne Vermögensgegenstände betrifft, sondern die selbständige Tätigkeit in ihrer Gesamtheit, einschließlich der Vertragsverhältnisse.626) Es fehlt somit bereits eine planwidrige Unvollständigkeit des Rechts. Darüber hinaus verfolgt § 109 Abs. 1 S. 2 InsO auch ein anderes Ziel als § 35 337 Abs. 2 InsO und bedient damit eine andere Interessenlage. § 109 Abs. 1 S. 2 InsO bezieht sich nur auf Wohnraum, der nicht in Zusammenhang mit der selbständigen Tätigkeit steht. Andres weist darauf hin, dass bei der Fortführung der selbständigen Tätigkeit regelmäßig Neuerwerb entsteht, der den Vertragspartnern als Haftungsmasse zusteht.627) Da der Wohnraum des Schuldners nicht in Zusammenhang mit einer selbständigen Tätigkeit besteht, sei dem Vermieter ein Zugriff auf den Neuerwerb verwehrt. Nur deshalb sei eine Forthaftung der Insolvenzmasse nach § 109 Abs. 1 S. 2 InsO gerechtfertigt. Bei einer Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO entstehe in der Regel Neuerwerb als Haftungsmasse, sodass es eines Schutzes in Form der Forthaftung nach § 109 Abs. 1 S. 2 InsO nicht bedürfe.628) Das Argument überzeugt nicht. Nach einem Urteil des LAG Hessen ist es nicht er- 338 forderlich, dass der Schuldner die Absicht besitzt, seine selbständige Tätigkeit tatsächlich weiterzuführen.629) Besteht die Möglichkeit, die selbständige Tätigkeit freizugeben, ohne dass der Schuldner im Anschluss eine selbständige Tätigkeit (weiter) ausübt und einen Neuerwerb als Haftungsmasse erwirtschaftet, ist die Situation mit dem Wohnraumvermieter durchaus vergleichbar. In beiden Fällen bestünde keine Haftungsmasse, die an die Stelle des Masseanspruchs tritt. Unabhängig davon ist aber auch aus Gründen des Bestandsschutzes ein bloßer 339 Verweis auf den Neuerwerb als Haftungsmasse unbefriedigend. Aufgrund der negativen wirtschaftlichen Prognose bestehen erhebliche Zweifel am Umfang und an der Höhe des Neuerwerbs und damit auch an der Werthaltigkeit der Ansprüche gegen den Schuldner nach Freigabe der selbständigen Tätigkeit. Aus diesem Gesichtspunkt kann damit eine Vergleichbarkeit zwischen der Schutzbedürftigkeit des Vermieters der Wohnung und den Arbeitnehmern des Schuldners angenommen ___________ 624) BT-Drucks. 16/3227, S. 17 (Hervorhebung durch den Verfasser). 625) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1243; Lindemann, BB 2011, 2357, 2359. 626) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411; BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326; Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 113. 627) Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 113. 628) Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 113. 629) LAG Hessen, Urt. v. 14.10.2015 – 2 Sa 536/15, ZInsO 2016, 1940, 1940 ff.; siehe zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Entscheidung bereits unter Rn. 68 ff.
111
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
werden. Zwar würde die Insolvenzmasse noch immer zumindest für den Zeitraum des Fristablaufs mit den Lohnzahlungen belastet und damit der Masseschutzaspekt für die Gläubiger entwertet, jedoch ist zu beachten, dass im Gegenzug die Schwierigkeiten einer eventuell erforderlichen Kündigung und das Prozessrisiko einer Kündigungsschutzklage vermieden werden. Den Arbeitnehmern wird im Gegenzug nicht der vorgesehene Anspruch auf bevorzugte Befriedigung als Massegläubiger genommen, auf dessen Erhalt ein schutzwürdiges Vertrauen und Bestandsinteresse besteht.630)
340 Mit Ausnahme des Fortbestehungsinteresses in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse wahrt die Norm jedoch die Belange des Schuldners nicht ausreichend. Wie gezeigt, ist er für die von Art. 12 Abs. 1 GG und dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geschützte Fortführung seiner selbständigen Tätigkeit häufig auf den Übergang der Arbeitsverhältnisse angewiesen.631) Zwar würde der Schuldner hier wieder über die Arbeitsverhältnisse verfügen, jedoch erst nach Ablauf der Frist aus § 109 Abs. 1 S. 1 InsO oder § 113 S. 2 InsO.632) Für die Zwischenzeit, das heißt vom Zeitpunkt der Freigabeerklärung bis zum Ablauf der Frist und dem endgültigen Übergang der Arbeitsverhältnisse, müsste der Schuldner unter den oben aufgezeigten Problemen Aushilfen einstellen oder, soweit überhaupt möglich, ohne Mitarbeiter tätig sein. Erschwerend kommt hinzu, dass die normierten drei Monate lediglich Höchstfristen sind. Eine kürzere Frist ist also nicht ausgeschlossen. Es ist demnach denkbar, dass der Schuldner die Verfügungsbefugnis über die einzelnen Arbeitsverhältnisse nur unzusammenhängend Monat für Monat zurückerhält. Ein solcher stückweiser Übergang erschwert die Fortführung der selbständigen Tätigkeit erheblich.633)
341 Der Insolvenzverwalter könnte trotz Forthaftung der Masse für die Arbeitslöhne die Arbeitnehmer bereits während der laufenden Kündigungsfrist für die freigegebene selbständige Tätigkeit des Schuldners arbeiten lassen. Näherliegend ist es für den Insolvenzverwalter aber, zum Schutz der Masse die Arbeitnehmer für den Zeitraum der Frist freizustellen.634) Durch die Freistellung spart die Insolvenzmasse zumindest die auf die freigestellten Arbeitnehmer entfallenden Beiträge zur Berufsgenossenschaft und die Lohnsteuer.635) Außerdem werden die Arbeitnehmer auch von ihrer Pflicht zur Leistungserbringung aus dem Arbeitsvertrag befreit.636) ___________ 630) 631) 632) 633)
Siehe dazu bereits oben unter Rn. 242 ff. Siehe dazu bereits oben unter Rn. 305 ff. Heinze, ZVI 2007, 349, 354. BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 697. 634) Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1376; Nungeßer, NZI 2012, 359, 363. 635) Mohrbutter/Ringstmeier-Plössner, Kap. 29 Rn. 198 ff. 636) BAG, Urt. v. 23.1.2008 – 5 AZR 393/07, NZA 2008, 595, 595 f.; ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 38.
112
II. Übertragung der Kündigungsfrist aus § 109 InsO
Da zu diesem Zeitpunkt der Insolvenzverwalter noch über das Arbeitsverhältnis verfügungsbefugt ist, kann auch der Insolvenzschuldner die Erbringung der Leistung aus dem Arbeitsvertrag nicht mehr fordern.637) Beschäftigt der Insolvenzschuldner die Arbeitnehmer trotzdem weiter, setzt sich der Insolvenzverwalter zudem einem Haftungsrisiko aus, wenn er die Weiterbeschäftigung kennt und duldet.638) Eine erfolgreiche Fortführung der selbständigen Tätigkeit ab dem Zeitpunkt der Freigabe ist damit kaum möglich. Daneben erreicht § 109 Abs. 1 S. 2 InsO auch nicht den von § 35 Abs. 2 InsO ge- 342 forderten Masseschutz, was entscheidend gegen eine Vergleichbarkeit der Interessenlage und damit gegen eine analoge Anwendung spricht. § 109 Abs. 1 S. 2 InsO will den Schuldner vor Verlust seiner Wohnung schützen, der eine existenzielle Bedeutung für den Schuldner zukommt.639) Um dieser Bedeutung gerecht zu werden, wird dem Insolvenzverwalter statt der Kündigung des Mietvertrags eine alternative Möglichkeit der Enthaftung der Insolvenzmasse von Mietansprüchen gegeben.640) Die Forthaftung der Insolvenzmasse zumindest für den Zeitraum der Frist aus § 109 Abs. 1 S. 1 InsO zeigt jedoch, dass der Masseschutz nicht über die bereits durch Kündigung des Vertragsverhältnisses zu erlangende Entlastung der Masse hinausgeht. § 109 Abs. 1 S. 2 InsO verstärkt dementsprechend den Schutz der Insolvenzmasse nicht über das Niveau hinaus, was bereits ohnehin nach § 109 Abs. 1 S. 1 InsO oder § 113 S. 1 InsO besteht. Die Insolvenzmasse haftet jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist. § 35 Abs. 2 InsO soll hingegen nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers auch die Interessen der Gläubiger berücksichtigen und die Insolvenzmasse soweit wie möglich vor einer Belastung durch die selbständige Tätigkeit des Schuldners schützen.641) Durch die pauschale Annahme, dass die Masse bis zum Fristablauf belastet wird, unabhängig davon, ob der Insolvenzverwalter das Mietverhältnis kündigt oder es nach § 109 Abs. 1 S. 2 InsO freigibt, ist mit dem Ziel des Masseschutzes nicht vereinbar. Durch die mit der wirtschaftlichen Tätigkeit verbundenen Arbeitsverhältnisse entstehen dann für den Zeitraum der Frist weitere Masseverbindlichkeiten. Der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO käme faktisch keine Wirkung mehr in Bezug auf Arbeitsverhältnisse zu, wenn die Haftung der Insolvenzmasse genauso weitreichend wäre, wie beim Ausspruch einer Kündigung. Der Insolvenzverwalter wäre einzig nicht mehr gezwungen, die Arbeitsverhältnisse zu beenden, sodass die Regelung nur die Interessen des Schuldners an der Fortführung seiner selbständigen Tätigkeit mit ___________ Lindemann, ZInsO 2014, 695, 702. Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1376. BT-Drucks. 14/5680, S. 27. BT-Drucks. 14/5680, S. 27; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 182; K. SchmidtRingstmeier, § 109 Rn. 19; Uhlenbruck-D. Wegener, § 109 Rn. 14; MüKoInsO-Eckert, § 109 Rn. 7. 641) BT-Drucks. 16/3227, S. 17; Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1244.
637) 638) 639) 640)
113
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
seinen Altarbeitsverhältnissen und die Interessen der Arbeitnehmer an einer zumindest vorübergehenden Begründung von Masseverbindlichkeiten wahrt. Die Insolvenzmasse würde aber bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortgehend belastet. Etwas anderes ergibt sich nur, wenn man mit Gutsche von einer bloß subsidiären Ausfallhaftung der Insolvenzmasse ausgeht, die nur dann besteht, wenn die Arbeitnehmer nicht durch den Schuldner und seinen Neuerwerb befriedigt werden.642) Ein solches Rangverhältnis mit bloß subsidiärer Haftung der Insolvenzmasse kennt § 109 Abs. 1 S. 2 InsO aber nicht und wird auch von Gutsche nicht näher begründet. Auch wenn es in der Praxis des § 109 Abs. 1 S. 2 InsO zum Teil möglich sein mag, dass der Schuldner die Kosten für seine Mietwohnung aus seinem pfändungsfreien Vermögen noch während der laufenden Frist selbst bestreitet, kann hieraus jedoch keine verallgemeinerungsfähige Rechtsnorm einer bloß subsidiären Haftung der Insolvenzmasse gezogen werden.643)
343 § 109 Abs. 1 S. 2 InsO schafft demnach einzig Abhilfe in Bezug auf die Bedenken, die darin bestehen, dass bei dem Erfordernis einer Kündigung der Schuldner die für seine selbständige Tätigkeit notwendigen Arbeitsverhältnisse verliert und die Arbeitnehmer keine Masseansprüche begründen. Der von § 35 Abs. 2 InsO bezweckte Masseschutz wird hingegen vernachlässigt. § 109 Abs. 1 S. 2 InsO überzeugt daher als eine, die Rechte der Beteiligten wahrende Ausgleichsregelung nicht.
III. Ausgleichsmodell nach Gotter 344 Gotter schlägt vor, die Masse nach wie vor auch für die fortlaufenden Dauerschuldverhältnisse haften zu lassen.644) Zum Schutz der Masse halte §§ 35 Abs. 2 S. 2, 295 Abs. 2 InsO ein eigenständiges Ausgleichsmodell vor. Der Verweis auf § 295 Abs. 2 InsO ordne an, dass der Schuldner die Insolvenzmasse so stellen muss, wie sie stünde, wenn der Schuldner in einem angemessenen Dienstverhältnis beschäftig wäre. Gotter argumentiert, dass es in diesem Fall keine beruflich genutzten Dauerschuldverhältnisse gebe, für die die Masse nach seiner Ansicht trotzdem forthaften müsste. Der Ausgleichsanspruch nach § 295 Abs. 2 InsO umfasse dementsprechend nicht nur ein fiktives Arbeitseinkommen, sondern darüberhinausgehend auch alle Mehrkosten, die aufgrund der selbständigen Tätigkeit die Masse belasten.645)
345 Zweifel an diesem Verständnis werden zum einen durch die Gesetzesbegründung hervorgerufen. Es ist der gesetzgeberische Wille, dass auch die Dauerschuldver___________ 642) Gutsche, ZVI 2008, 41, 46. 643) Zur Praxis der Zahlung der Miete durch den Schuldner HmbKInsO-Pohlmann-Weide, § 109 Rn. 26. 644) Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 117 f. 645) Zur gesamten Argumentation Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 117 f.
114
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
hältnisse von der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden.646) Gotters Lösungsweg basiert auf der Prämisse, dass die Arbeitgeberfunktion weiter beim Insolvenzverwalter verbleibt und dementsprechend die Lohnforderungen der Arbeitnehmer weiter nach §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 108 Abs. 1 S. 1 InsO Masseverbindlichkeiten sind. Zum anderen bürdet Gotter der Insolvenzmasse das Insolvenzrisiko einer Zweitin- 346 solvenz des Schuldners auf. Dass das Risiko einer Zweitinsolvenz erheblich ist, wird von Ehlers aufgezeigt und durch aktuelle Gerichtsentscheidungen bestätigt.647) Die Insolvenzmasse droht im Fall einer Zweitinsolvenz mit den Lohnkosten der Arbeitnehmer belastet zu werden, während diese ihre Arbeitsleistung beim Schuldner anbieten. Die Insolvenzmasse wird dementsprechend belastet, ohne eine Gegenleistung zu erhalten, sei es in Form eines Angebots der Arbeitsleistung durch die Arbeitnehmer oder einer Ausgleichszahlung. Zahlt der Schuldner auf den Ausgleichsanspruch nicht, entsteht das Risiko einer Bezuschussung der selbständigen Tätigkeit des Schuldners. Dass ein solches Sponsoring nicht erwünscht ist, sieht auch Gotter.648) Sein Lösungsvorschlag bietet zwar bei einem liquiden und zahlungswilligen Schuldner Abhilfe, dem erheblichen Zweitinsolvenzrisiko wird aber keine Rechnung getragen. Das daneben von Gotter entwickelte Freigabemodell, wonach die Arbeitsverhält- 347 nisse ohne weitere Voraussetzungen oder gesonderte Rechtsfolgen auf den Schuldner zurückfallen, entspricht im Ergebnis einem uneingeschränkten Übergang der Arbeitsverhältnisse auf den Schuldner, der aus verfassungsrechtlichen Bedenken abzulehnen ist.649)
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe Bei dem Übergang einer Gesamtheit von Gegenständen und Rechten von einem 348 Rechtsträger auf einen anderen liegt aus arbeitsrechtlicher Perspektive die Anwendung von § 613a BGB nahe. Der Übergang einer Gesamtheit von Gegenständen und Rechten, wie sie der Gesetzgeber in § 35 Abs. 2 InsO anordnet, ähnelt auf den ersten Blick dem Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils nach § 613a BGB. Ob in der Freigabe der selbständigen Tätigkeit somit auch ein Betriebsübergang nach § 613a BGB zu sehen ist, gilt es zu untersuchen.
___________ 646) Siehe dazu bereits unter Rn. 169 ff. 647) Ehlers, ZInsO 2014, 53, 55 und unter Rn. 307. Ebenso Schmerbach, VIA 2015, 81, 81. 648) Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 117; zum Begriff des Sponsoring in diesem Zusammenhang Heinze, ZVI 2007, 349, 354. 649) Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 118 ff.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
1.
Grundsätzliche Anwendbarkeit von § 613a BGB im Insolvenzrecht
349 Bereits die grundsätzliche Anwendbarkeit des § 613a BGB im Insolvenzrecht ist nicht selbstverständlich. § 613a BGB ist größtenteils durch das Europarecht geprägt. Der Norm liegt überwiegend die EG-Betriebsübergangs-RL 77/187/EWG vom 14.2.1977, neu gefasst durch RL 2001/23/EG vom 12.2.2002 zu Grunde und die nationale Rechtsprechung ist vielfach durch Entscheidungen des EuGH beeinflusst.650)
350 Art. 5 RL 2001/23/EG nimmt ausdrücklich die Übertragung eines Betriebs oder Betriebsteils im Rahmen eines Insolvenzverfahrens vom Anwendungsbereich der Richtlinie aus, sodass eine Anwendung von § 613a BGB in der Insolvenz nicht vom europäischen Normgeber vorgegeben ist. Den Einzelstaaten ist es jedoch freigestellt, die Regelungen zum Betriebsübergang dennoch für anwendbar zu erklären. Letzteres hat das BAG aufgrund des besonderen Schutzbedürfnisses der Arbeitnehmer in der Insolvenz angenommen und wendet seitdem in ständiger Rechtsprechung § 613a BGB bei der Veräußerung eines in der Insolvenz befindlichen Betriebs oder Betriebsteils an.651) Die Rechtsprechung wird durch § 128 Abs. 2 InsO legislativ bestätigt, indem der Gesetzgeber eine Vermutung der Wirksamkeit der Kündigung mit Blick auf das Kündigungsverbot aus § 613a Abs. 4 BGB aufstellt und damit die Geltung von § 613a BGB neben den Vorschriften der Insolvenzordnung anerkennt.652)
351 Das BAG nimmt jedoch Einschränkungen bei der Anwendung des § 613a Abs. 2 BGB in der Insolvenz vor, indem die Haftung des Betriebserwerbers beschränkt wird.653) Für alle im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bereits entstandenen Insolvenzforderungen steht mit dem Insolvenzverfahren ein vorrangiges Sonderverfahren zur Verfügung, dem der Grundsatz der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung zu Grunde liegt. Würde daneben oder stattdessen der Betriebserwerber für Ansprüche aus der Zeit vor der Insolvenzeröffnung haften, stünde den anspruchsberechtigten Arbeitnehmern ein neuer liquider Schuldner zur Verfügung, was einer ungerechtfertigten Besserstellung gleichkäme. Der Erwerber preist das Haftungsrisiko in den Kaufpreis mit ein. Dadurch käme den verbleibenden Gläubigern ein Nachteil zu und die Arbeitnehmer würden ungerechtfertigterweise bevorzugt.654) Eine Haftung nach § 613a Abs. 2 BGB kommt daher nur für Ansprüche in Frage, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet werden. Rechtsdogmatisch wird dieses ___________ 650) Statt aller ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 146, m. w. N. 651) Grundlegend BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124, 1124 f.; Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203, 206; jeweils m. w. N. 652) BT-Drucks. 12/2443, S. 149; BR-Drucks. 1/91, S. 97. 653) Grundlegend BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124, 1124 ff. 654) Zur Argumentation grundlegend BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124, 1124 ff.
116
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
Ergebnis durch eine teleologische Reduktion erreicht.655) Der darüber hinaus gewährleistete Bestandsschutz für die Arbeitsverhältnisse bleibt hingegen auch in der Insolvenz weitgehend unberührt.656) Dementsprechend bestehen bei einem Betriebsübergang in der Insolvenz zum Beispiel die Arbeitsverhältnisse und der Betriebsrat fort und das Kündigungsverbot aus § 613a Abs. 4 BGB behält seine Geltung.657)
2.
Anwendbarkeit in Bezug auf die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO
Ungeklärt ist nach wie vor, ob § 613a BGB auf die Freigabe der selbständigen Tä- 352 tigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO angewendet werden kann. Die Frage hat in jeder Auslegungsmöglichkeit des § 35 Abs. 2 InsO Bedeutung. 353 Nimmt man an, Arbeitsverhältnisse werden von der Freigabeerklärung nicht erfasst, könnte eine Anwendbarkeit von § 613a Abs. 1 S. 1 BGB dennoch einen Übergang der Arbeitgeberfunktion begründen. Umgekehrt würde § 613a Abs. 6 S. 1 BGB, bei Annahme eines Übergangs der Arbeitsverhältnisse nach § 35 Abs. 2 InsO, den betroffenen Arbeitnehmern ein Widerspruchsrecht zugestehen. Durch Ausübung desselben würde das betroffene Arbeitsverhältnis zurück an den Insolvenzschuldner fallen.
a) BAG lässt Anwendbarkeit ausdrücklich offen An einer höchstrichterlichen Entscheidung zur direkten oder analogen Anwend- 354 barkeit des § 613a BGB auf die Fälle der Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO fehlt es. Das BAG hat in zwei Entscheidungen zu § 35 InsO in der früheren Fassung die 355 Anwendbarkeit des § 613a BGB bei einer echten Freigabe bejaht.658) In den zugrundeliegenden Sachverhalten hatte der Insolvenzverwalter die für die selbständige Erwerbstätigkeit des Schuldners erforderlichen einzelnen Betriebsmittel (nicht den Geschäftsbetrieb als solchen) freigegeben. Das BAG verneinte einen Übergang der Arbeitsverhältnisse durch die Freigabe einzelner Gegenstände, nahm jedoch mit sehr knapper Begründung an, dass § 613a BGB aufgrund einer vergleichbaren Interessenlage zumindest entsprechend angewendet werden müsse.659) ___________ 655) BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124, 1124 ff.; Regh, et al.-Jakubowski, § 8 Rn. 2 ff. u. Rn. 47 ff.; Staudinger-Annuß, § 613a Rn. 341 ff.; Röger-Meyer, § 8 Rn. 164 ff. 656) BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124, 1124 f.; Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203, 206. 657) ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 59 ff. 658) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1127 ff.; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218. Siehe zu den Urteilen bereits unter Rn. 144 f. 659) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1129 f.; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218.
117
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
Das habe zur Folge, dass die Arbeitsverhältnisse auf den Schuldner übergehen würden, wenn die freigegebenen Gegenstände eine Einheit im Sinne des § 613a BGB seien und man das Arbeitsverhältnis dieser Einheit zuordnen könne.660) Die Entscheidung wurde im Allgemeinen begrüßt, da die Insolvenzmasse von den Ansprüchen aus den Arbeitsverhältnissen befreit wurde, den Arbeitnehmern aber zugleich die Möglichkeit des Widerspruchs nach § 613a Abs. 6 BGB zur Wahrung ihrer Rechte blieb.661)
356 In einer Entscheidung zur neuen Rechtslage hat das BAG die Anwendbarkeit von § 613a BGB für die neu geregelte Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO ausdrücklich offengelassen.662)
b) Vorliegen der Voraussetzungen des § 613a BGB bzgl. der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO 357 Grundsätzlich tritt nach § 613a Abs. 1 S. 1 BGB im Falle des Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils durch Rechtsgeschäft der Erwerber in die arbeitsrechtlichen Rechte und Pflichten des Veräußerers ein. Entgegen der von Windel vertretenen Ansicht, dass die Regeln über den Betriebsübergang „ganz unproblematisch anwendbar“ sind663), bestehen Zweifel am Vorliegen der Voraussetzungen des § 613a BGB. Im Folgenden werden kurz die allgemeinen Voraussetzungen des Betriebsübergangs skizziert und jeweils deren Vorliegen im Falle der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO geprüft.
aa) Übergang eines Betriebs oder Betriebsteils 358 Gegenstand des Betriebsübergangs im Sinne des § 613a BGB muss der Übergang eines Betriebs oder eines Betriebsteils sein. Dabei handelt es sich nach ständiger Rechtsprechung des BAG um eine auf Dauer angelegte wirtschaftliche Einheit, das heißt eine organisierte Gesamtheit von Betriebsmitteln zur Ausübung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit mit eigenem Zweck.664) Vom Begriff der
___________ 660) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1129 f.; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218. 661) Henkel, EWiR 2008, 687, 688; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2035 f.; kritisch Lindemann, ZInsO 2014, 695, 700. 662) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326. 663) Windel, RdA 2012, 366, 369. Ähnlich pauschal FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 57; HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 78; Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Ahrens, § 35 Rn. 166. Eine Anwendbarkeit von § 613a BGB verneinend Frind, Praxishandbuch, 621a. 664) BAG, Urt. v. 13.10.2011 – 8 AZR 455/10, NZA 2012, 504, 507.
118
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
Betriebsmittel werden sowohl materielle und immaterielle Betriebsmittel als auch die menschliche Arbeitskraft erfasst.665) Übertragen auf § 35 Abs. 2 InsO ist zu prüfen, ob der Begriff des Vermögens aus 359 der selbständigen Tätigkeit im Sinne des § 35 Abs. 2 InsO dem des Betriebs oder Betriebsteils im Sinne des § 613a BGB entspricht. Vor Einführung des § 35 Abs. 2 InsO in der neuen Fassung war bereits eine echte Freigabe einzelner Massegegenstände möglich.666) Hier nahm das BAG eine Einzelfallprüfung dahingehend vor, ob die einzelnen freigegebenen Massegegenstände einen Betrieb oder Betriebsteil ausmachen und ob das betroffene Arbeitsverhältnis dieser betrieblichen Einheit zugeordnet ist.667) Mit der Schaffung des § 35 Abs. 2 InsO und der Einführung der Freigabe der selb- 360 ständigen Tätigkeit wird die individuellen Prüfung, ob ein Betrieb oder Betriebsteil gegeben ist, weitgehend obsolet.668) Dem Insolvenzschuldner soll nach der Gesetzesbegründung ermöglicht werden, seine selbständige Tätigkeit weiter auszuführen.669) Von der Erklärung des Insolvenzverwalters wird dabei die zur selbständigen Tätigkeit gehörende Rechtsgesamtheit erfasst.670) Dazu gehören nach hier vertretener Ansicht671) die Gegenstände, die der Fortführung der Tätigkeit gewidmet oder zumindest für sie zwingend erforderlich sind.672) Hierbei wird es sich in der Regel um eine auf Dauer angelegte wirtschaftliche Einheit, das heißt eine organisierte Gesamtheit von Betriebsmitteln zur Ausübung einer wirtschaftlichen Haupt- oder Nebentätigkeit mit eigenem Zweck, handeln. Das der selbständigen Tätigkeit zugeordnete Vermögen entspricht damit einem Betrieb im Sinne des § 613a BGB.
bb) Identitätswahrender Übergang des Betriebs oder Betriebsteils Der Aspekt, dass es sich bei den der selbständigen Tätigkeit zugeordneten Sachen 361 um einen Betrieb- oder Betriebsteil im Sinne des § 613a BGB handelt, reicht für die Annahme eines Betriebsübergangs freilich nicht aus. Vielmehr muss der entsprechende Betrieb- oder Betriebsteil identitätswahrend vom Insolvenzgläubiger auf den Insolvenzschuldner übergehen. ___________ 665) EuGH, Urt. v. 13.9.2007 – C-458/05, NZA 2007, 1151, 1152; BAG, Urt. v. 13.10.2011 – 8 AZR 455/10, NZA 2012, 504, 507; Däubler, et al.-Karthaus/Richter, BGB § 613a Rn. 9. 666) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1129. 667) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1129 f. 668) Windel, RdA 2012, 366, 368 f.; Beck/Depré-Popp, § 42 Rn. 24. 669) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 670) K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 53. 671) Siehe zur Diskussion, ob auch materielle Betriebsmittel von der Freigabewirkung erfasst werden, bereits unter Rn. 85 ff. 672) BT-Drucks. 16/3227, S. 17; Ahrens, NZI 2007, 622, 625; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/ Kexel, § 35 Rn. 24.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
362 Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und des BAG ist für die Annahme eines identitätswahrenden Übergangs eines Betriebs und Betriebsteils erforderlich, dass eine organisierte Gesamtheit von Personen und/oder Sachen zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mit eigener Zielsetzung übergeht.673) Der EuGH, dem sich das BAG anschließt, hat in seiner Rechtsprechung sieben Merkmale definiert, die zur Bestimmung des identitätswahrenden Übergangs einer wirtschaftlichen Einheit herangezogen werden können.674) Dazu gehören die Art des betreffenden Unternehmens oder Betriebes, der Übergang der materiellen Betriebsmittel, der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, die Übernahme der Hauptbelegschaft, der Übergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeiten.675) Hierbei handelt es sich jedoch nur um Teilaspekte, die nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern im Rahmen einer Gesamtbewertung zu gewichten sind.676) Für die Gewichtung der einzelnen Kriterien ist darauf abzustellen, wo der Kern des zur Wertschöpfung erforderlichen Funktionszusammenhangs des Unternehmens liegt.677) Um eine unterschiedliche Gewichtung zwischen den sieben Punkten vorzunehmen – insbesondere um festzustellen, welches Gewicht dem Übergang von Betriebsmitteln oder Arbeitsverhältnissen zukommt – wird zwischen betriebsmittelarmen und betriebsmittelreichen Betrieben unterschieden.678) Bei betriebsmittelarmen Betrieben, zum Beispiel im Dienstleistungsbereich, nimmt das BAG einen Betriebsübergang nach § 613a BGB an, wenn der neue Inhaber den nach Zahl und Sachkunde wesentlichen Teil der Arbeitnehmer übernimmt und mit ihnen die bisherige Tätigkeit weiter ausführt.679) Bei betriebsmittelreichen Betrieben kommt es weniger auf die menschliche Arbeitskraft an, als auf den Übergang des materiellen und immateriellen Betriebsvermögens.680) Für Dienstleistungsunternehmen ergibt sich daraus, dass der
___________ 673) EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – C-51/00, NZA 2002, 265, 266; BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485, 487. 674) Statt aller EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – C-51/00, NZA 2002, 265, 266; BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485, 487. 675) EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – C-51/00, NZA 2002, 265, 266; BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485, 487. 676) EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – C-51/00, NZA 2002, 265, 266; BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485, 487; Urt. v. 22.1.2015 – 8 AZR 139/14, NZA 2015, 1325, 1326. 677) BAG, Urt. v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021, 1023. 678) EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – C-51/00, NZA 2002, 265, 266; BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485, 487. 679) BAG, Urt. v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021, 1024. 680) BAG, Urt. v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021, 1024.
120
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
Übergang immaterieller Betriebsmittel und Arbeitsverhältnisse höher gewichtet werden muss, als für Betriebe im produzierenden Gewerbe.681)
(1) Identitätswahrender Übergang bei Wirkung der Freigabe auf Arbeitsverhältnisse und Betriebsmittel Auswirkungen auf die Frage nach dem identitätswahrenden Übergang des Betriebs 363 oder Betriebsteils haben die bereits problematisierten Fragen, ob der Negativerklärung des Insolvenzverwalters beschlagsaufhebende Wirkung zukommt und ob sie auch die Zugehörigkeit der Arbeitsverhältnisse betrifft.682) Nach hier vertretener Auffassung sind beide Fragen zu bejahen. Es ist demnach darauf einzugehen, ob durch die Freigabe der Betriebsmittel und durch den Übergang der Arbeitsverhältnisse ein identitätswahrender Übergang im Sinne des § 613a BGB gegeben ist.
(a) Betriebsmittelarme Betriebe Nach der Unternehmensfreigabe wird der Insolvenzschuldner seine selbständige 364 Tätigkeit in der Regel mit den ihm zur Verfügung gestellten Mitteln unverändert fortführen. Die Art des Betriebes, der Kundenstamm und die Tätigkeit an sich werden unverändert für die außerhalb der Insolvenzmasse fortgesetzte Tätigkeit übernommen. Die Freigabe führt im Wesentlichen dazu, dass die Verbindung zwischen Insolvenzmasse und selbständiger Tätigkeit durchtrennt wird.683) Änderungen am Betrieb oder der Betriebsidentität gehen damit nicht einher. Vielmehr bleiben – und das ist entscheidend für den identitätswahrenden Übergang – die betrieblichorganisatorischen Strukturen dieselben.684) Auch wird die Fortführung der selbständigen Tätigkeit sofort, das heißt ohne relevante Unterbrechung, stattfinden. Der Insolvenzverwalter ist bemüht, die selbständige Tätigkeit schnell nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens freizugeben, um eine Belastung der Insolvenzmasse zu vermeiden. Auch wenn § 35 Abs. 2 InsO keine Frist für die Erklärung vorgibt, verlangt die Literatur eine zeitnahe oder unverzügliche Erklärung.685) Der Insolvenzschuldner wird seine selbständige Tätigkeit schnell wieder aufnehmen wollen, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen und um seiner Obliegenheit aus §§ 295 Abs. 2, 296 Abs. 1 InsO nachzukommen. ___________ 681) EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – C-51/00, NZA 2002, 265, 266 f.; BAG, Urt. v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021, 1023; Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485, 487 f.; Urt. v. 22.1.2015 – 8 AZR 139/14, NZA 2015, 1325, 1326; Boecken, et al.-Breinlinger, BGB § 613a Rn. 28 ff. 682) Siehe dazu bereits oben unter Rn. 85 ff. und unter Rn. 141 ff. 683) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 410 f.; Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 697. 684) ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 28. 685) Siehe dazu bereits oben unter Rn. 105 ff. und bei Windel, AP InsO § 35 Nr. 1; Heinze, ZVI 2007, 349, 355 f.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
365 Kommt es bei einem betriebsmittelarmen Betrieb, bei dem die Betriebsidentität vor allem durch die Mitarbeiter geprägt wird, zu einem Übergang der Arbeitgeberfunktion vom Insolvenzverwalter auf den Insolvenzschuldner, kann an einem identitätswahrenden Übergang nicht gezweifelt werden. Der Betrieb wird dann mit einem nach Anzahl und Sachkunde wesentlichen Teil der Arbeitnehmer fortgeführt.686)
(b) Betriebsmittelreiche Betriebe 366 Für betriebsmittelreiche Betriebe kann diese Aussage nicht ohne Weiteres übernommen werden. Der Übergang der Arbeitgeberfunktion ist hier nicht alleine identitätswahrend. Es kommt vielmehr darauf an, ob auch die Betriebsmittel übergehen.687) Unter der Annahme, dass der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO eine insolvenzbeschlagsaufhebende Wirkung bezüglich der Betriebsmittel zukommt, scheint dieses Merkmal auf den ersten Blick gegeben zu sein.
(aa) Konstitutive Freigabe von dem Insolvenzbeschlag unterfallenden Gegenständen 367 Damit wird aber, wie Wischemeyer und Lindemann richtigerweise einwenden, der Pfändungsschutz nach § 36 Abs. 1 S. 1 InsO in Verbindung mit § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO außer Acht gelassen.688) Nach § 36 Abs. 1 S. 1 InsO besteht für gesetzlich geregelte Fälle eine Anordnung der Unpfändbarkeit. Geschützt sind dabei nach § 36 Abs. 1 S. 1 InsO die Gegenstände, die § 811 ZPO von der Zwangsvollstreckung ausnimmt. Für diese pfändungsfreien Gegenstände besteht kein Insolvenzbeschlag, sodass eine Freigabeerklärung rein deklaratorisch wirkt.689)
368 Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters beschränkt sich ausschließlich auf das der Insolvenzmasse zugehörige Vermögen. Für die nicht vom Insolvenzbeschlag umfasste Vermögensmasse bleibt der Schuldner verwaltungs- und verfügungsbefugt.690) Von der Insolvenzmasse sind nach § 36 Abs. 1 S. 1 InsO in Verbindung mit § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO insbesondere die Gegenstände ausgenommen, die zur Fortsetzung der Erwerbstätigkeit oder Ausübung des Berufes des Schuldners erforderlich sind. Hierzu gehören bei einem Arzt etwa die Praxisausstattung und bei einem Rechtsanwalt beispielsweise die Büromöblie-
___________ 686) BAG, Urt. v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021, 1024; ebenso Windel, RdA 2012, 366, 369. 687) St. Rspr. Statt aller BAG, Urt. v. 13.12.2007 – 8 AZR 937/06, NZA 2008, 1021, 1024. 688) Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2126 f.; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 699; a. A. Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 112. 689) MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47d. 690) K. Schmidt-Sternal, § 80 Rn. 7.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
rung, der Computer, das Diktiergerät und die Fachliteratur.691) Mit Blick auf den Begriff des Vermögens aus der selbständigen Tätigkeit in § 35 Abs. 2 InsO wird häufig ein großer Überschneidungsgrad gegeben sein, sodass ein Großteil des Vermögens vom Pfändungsschutz erfasst ist und damit nicht zur Insolvenzmasse gehört.692) Hatte der Insolvenzverwalter demnach nie die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das schuldnerische Betriebsvermögen, kann selbiges auch nicht durch die Freigabeerklärung vom Insolvenzverwalter an den Schuldner zurückfallen, sodass ein Übergang grundsätzlich ausscheidet.693) Auch das BAG scheint von einer Unanwendbarkeit des § 613a BGB bei der Freigabe unpfändbarer Betriebsmittel auszugehen. Es fordert für eine Anwendbarkeit des § 613a BGB eine Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO von „dem Beschlag der Masse unterliegenden Betriebsmitteln“694). Dennoch kann das der selbständigen Tätigkeit zugeordnete Betriebsvermögen rich- 369 tigerweise nicht mit dem nach § 811 ZPO unpfändbaren Vermögen gleichgesetzt werden.695) Dem Schuldner soll durch § 35 Abs. 2 InsO unter anderem ermöglicht werden, seine Geschäftstätigkeit in Form der früheren Geschäftseinheit weiter auszuüben, sodass eine umfassende Freigabe von Vermögensgegenständen erfolgen muss.696) Erfasst sind davon nicht nur die von § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO zur Betriebsfortführung notwendigen Gegenstände, sondern auch bloß dafür nützliche Gegenstände, die für die selbständige Tätigkeit sinnvoll sind.697) Darüber hinaus setzt § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO anders als § 35 Abs. 2 InsO voraus, dass der Erwerb durch persönliche Leistung des Schuldners überwiegt.698) Eine kapitalistische Arbeitsweise unter Nutzung sächlicher Betriebsmittel und fremder Arbeitskraft wird nicht von § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO erfasst.699) Beispielhaft kann hier mit Smid der selbständig tätige Taxiunternehmer mit mehreren Wagen ___________ 691) Saenger-Kemper, § 811 Rn. 27; Kindl/Meller-Hannich/Wolf-Kindl, § 811 Rn. 25; Thomas/PutzoSeiler, § 811 Rn. 31. 692) Kritisch unter dem Gläubigerschutzaspekt, dass dadurch bei Kleinbetrieben ein Großteil des Vermögens unpfändbar ist AG Köln, Beschl. v. 15.4.2003 – 71 IN 25/02, ZInsO 2003, 667, 669; MüKoInsO-Peters, § 36 Rn. 24 ff.; Uhlenbruck-Hirte, § 36 Rn. 15; Foerste, Insolvenzrecht, Rn. 151; Braun-Bäuerle, § 36 Rn. 16 ff.; a. A. Voigt/Gerke, ZInsO 2002, 1054, 1058 f. 693) A. A. Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 112. 694) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326 (Hervorhebungen durch den Verfasser); ebenso bereits zur alten Rechtslage Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218; dazu Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 942; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2126 f. 695) Siehe dazu bereits oben unter Rn. 105. 696) Ahrens, NZI 2007, 622, 624; N. M. Schmidt, ZInsO 2016, 1235, 1237; Heinze, ZInsO 2016, 1563, 1564; a. A. Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 942; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 826 f. 697) So Ahrens, KSzW 2012, 303, 306. 698) Saenger-Kemper, § 811 Rn. 22; Kindl/Meller-Hannich/Wolf-Kindl, § 811 Rn. 18; Thomas/PutzoSeiler, § 811 Rn. 27. 699) Saenger-Kemper, § 811 Rn. 22; Kindl/Meller-Hannich/Wolf-Kindl, § 811 Rn. 18; Thomas/PutzoSeiler, § 811 Rn. 27.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
oder der Betreiber eines Sonnenstudios genannt werden.700) Bei beiden steht nicht die persönliche Arbeit des Schuldners im Vordergrund, sodass nur ein eingeschränkter Pfändungsschutz besteht. § 35 Abs. 2 InsO nimmt eine solche Einschränkung nicht vor. Ferner ist aus Gesichtspunkten des Gläubigerschutzes der Pfändungsschutz eng auszulegen, um keine umfassende Unpfändbarkeit aller werthaltigen Gegenstände des Schuldners herbeizuführen und so die Insolvenzmasse erheblich zu schmälern.701) Der Begriff der selbständigen Tätigkeit aus § 35 Abs. 2 InsO ist damit weiter, als der Schutz persönlicher Arbeitsleistung aus § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO, sodass trotz des Pfändungsschutzes noch freizugebendes Betriebsvermögen vorhanden ist.702)
370 Für die vorliegend behandelte Frage nach den Auswirkungen der Negativerklärung auf die Arbeitsverhältnisse wird die selbständige Tätigkeit aber regelmäßig zumindest zum Teil aus pfändbarem Vermögen bestehen. Bei selbständigen Tätigkeiten, für deren Ausübung sich der Schuldner der Hilfe von Arbeitnehmern bedient, wird eine kapitalistische Produktionsweise vorliegen, die nicht umfassend dem Pfändungsschutz unterfällt. Im Regelfall wird damit das Betriebsvermögen sowohl aus unpfändbarem als auch aus pfändbarem Vermögen bestehen. Die Negativerklärung hat dann nur Auswirkungen auf die der Pfändung unterliegenden Gegenstände. Die diesbezügliche Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis fällt zurück an den Insolvenzschuldner.703) Für die pfändungsfreien Gegenstände kann der Insolvenzverwalter allenfalls die Freigabe rein deklaratorisch erklären. Eine Rechtswirkung ergibt sich daraus nicht.704)
371 Dennoch muss auch für diese Fälle eine Anwendbarkeit von § 613a BGB angenommen werden. Zwar wird argumentiert, dass auch das BAG die Freigabe einer Einheit im Sinne des § 613a BGB verlange, was hier aufgrund der nur teilweisen Pfändbarkeit nicht gegeben sei.705) Die Argumentation überzeugt jedoch nicht, da sie nicht berücksichtigt, dass der Insolvenzverwalter anders als nach der früheren Rechtslage nicht nur betriebszugehörige Einzelgegenstände freigibt, sondern den
___________ 700) Smid, DZWIR 2008, 133, 140. 701) AG Köln, Beschl. v. 15.4.2003 – 71 IN 25/02, ZInsO 2003, 667, 669; MüKoInsO-Peters, § 36 Rn. 24 ff.; Uhlenbruck-Hirte, § 36 Rn. 15; Foerste, Insolvenzrecht, Rn. 151; Braun-Bäuerle, § 36 Rn. 17; a. A. Voigt/Gerke, ZInsO 2002, 1054, 1058 f. 702) Smid, DZWIR 2008, 133, 140; siehe zur ähnlichen Argumentation bei der Frage nach der Freigabe von Betriebsvermögen bereits oben unter Rn. 105 ff. 703) K. Schmidt-Sternal, § 80 Rn. 7; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 942; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 699. 704) Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 942; a. A. Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 113 f., der auch bei nur pfändungsfreiem Vermögen § 613a BGB entsprechend anwenden will. 705) Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2127, unter Hinweis auf BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1129 f.; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1217.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
Geschäftsbetrieb als solchen, einschließlich der damit verbundenen Arbeitsverhältnisse.706) Ein Übergangstatbestand liegt damit vor. Der Übergang ist trotz der teilweisen Unpfändbarkeit identitätswahrend. Die Krite- 372 rien der Betriebsmittelarmut und des Betriebsmittelreichtums dürfen nicht als alleinentscheidendes Merkmal gesehen werden. Sie sind nach ständiger Rechtsprechung nur ein Teilaspekt aus einer Vielzahl von Indizien, die bei der Bestimmung des Übergangs einer betrieblichen Einheit berücksichtigt werden müssen.707) Es ist vielmehr eine umfassende Gesamtbetrachtung vorzunehmen, bei der der „SiebenPunkte-Katalog“ als Leitlinie gilt.708) Auch wenn ein betriebsmittelreicher Betrieb von der Freigabe betroffen ist und die Betriebsmittel nur zum Teil übergehen, schließt dies einen identitätswahrenden Übergang einer betrieblichen Einheit nicht generell aus. Vielmehr müssen auch die sonstigen Ähnlichkeiten zwischen der nunmehr ausgeübten selbständigen Tätigkeit und der vormals im Herrschaftsbereich des Insolvenzverwalters gelegenen Tätigkeit beachtet werden. Der Insolvenzschuldner wird in der Regel seine selbständige Tätigkeit mit unveränderten Betriebsmethoden im gleichen Tätigkeitsfeld fortführen, dabei weiterhin seine Arbeitnehmer beschäftigen, mit demselben Kundenstamm arbeiten und dabei zumindest teilweise das ursprünglich massebefangene Vermögen nutzen.709) Die betrieblichen Organisationsstrukturen werden häufig – und das ist entscheidend für den identitätswahrenden Übergang – identisch sein.710) Damit kann auch bei teilweiser Unpfändbarkeit ein identitätswahrender Übergang der selbständigen Tätigkeit bejaht werden.
(bb)Umfassender Pfändungsschutz nach § 36 InsO Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wenn aufgrund des Pfändungsschutzes 373 gar kein Betriebsvermögen dem Insolvenzbeschlag unterliegt und damit auch nicht freigegeben werden kann. Vor allem für betriebsmittelreiche Betriebe ist es ein problematisch, dass dann gar kein Übergang von Betriebsvermögen mehr stattfindet, sondern einzig die Arbeitsverhältnisse freigegeben werden. Das Problem ist dabei jedoch eher theoretischer Natur, da bei einem betriebsmittelreichen Betrieb der Schwerpunkt der Wertschöpfung regelmäßig nicht in der persönlichen Arbeits-
___________ 706) Zum Übergang des Geschäftsbetriebs als solchem ebenfalls Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 114. 707) EuGH, Urt. v. 24.1.2002 – C-51/00, NZA 2002, 265, 266; BAG, Urt. v. 30.10.2008 – 8 AZR 397/07, NZA 2009, 485, 487. 708) ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 11. 709) ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 28. 710) ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 28.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
kraft des Schuldners liegt, sodass der Pfändungsschutz nach § 811 Abs. 1 Nr. 5, Nr. 7 ZPO nicht eingreift.711)
374 Ein Übergangstatbestand wird auch hier alleine aufgrund des Übergangs der Arbeitsverhältnisse zu bejahen sein. Lediglich die Frage, ob die diesbezügliche Betriebsidentität gewahrt wird, ist zweifelhaft. In diesem Zusammenhang müssen aber auch die überwiegende Ähnlichkeit der ausgeübten Tätigkeit, die gleichbleibende Arbeitsorganisation und die unveränderten Betriebsmethoden berücksichtigt werden.712) Man stelle sich die vergleichbare Situation vor, dass ein Erwerber, der bereits alle Betriebsmittel hat, vom Veräußerer alle Arbeitsverhältnisse, den Kundenstamm, die Arbeitsorganisation, die Mietverhältnisse über Betriebsimmobilien etc. übernimmt und umfassend in die alte Betriebstätigkeit einsteigt. Die Arbeitnehmer gehen zum gleichen Arbeitsort, verüben die gleiche Arbeit an den gleichen Maschinen für die gleichen Kunden. Hier kann es im Rahmen einer gebotenen umfassenden Gesamtbetrachtung auch für betriebsmittelreiche Unternehmen für die Annahme eines identitätswahrenden Übergangs nicht darauf ankommen, ob Betriebsmittel übernommen werden oder nicht.
375 Es reicht vielmehr aus, dass zu der identischen Fortführung der selbständigen Tätigkeit ein weiteres Merkmal des „Übergangs“ hinzukommt. Das ist im Fall der Unternehmensfreigabe der Übergang der Arbeitsverhältnisse, der somit auch bei betriebsmittelreichen Betrieben für die Annahme des identitätswahrenden Übergangs des ansonsten unterschiedslos fortgeführten Betriebs ausreicht. Ein eventuell nach § 36 Abs. 1 InsO bestehender Pfändungsschutz steht damit der Annahme eines identitätswahrenden Übergangs einer betrieblichen Einheit im Sinne des § 613a BGB nicht entgegen.713)
(2) Exkurs 376 Entscheidet man sich mit den anderen Ansichten in der Literatur, wonach unterschiedliche Meinungen mit Blick auf den Insolvenzbeschlag der Betriebsmittel und/oder die Zuordnung der Arbeitsverhältnisse bestehen, ergibt sich zum Teil eine andere Rechtslage. Auf die Auswirkungen der anderen Ansichten auf das Vorliegen eines Betriebsübergangs soll kurz eingegangen werden.
___________ 711) Zu den Schranken des Pfändungsschutzes Saenger-Kemper, § 811 Rn. 22; Kindl/MellerHannich/Wolf-Kindl, § 811 Rn. 18; Thomas/Putzo-Seiler, § 811 Rn. 27. 712) ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 28. 713) Ebenso Windel, RdA 2012, 366, 369.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
(a) Arbeitsverhältnisse werden von der Freigabewirkung erfasst, nicht aber das Betriebsvermögen Interpretiert man die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO so, dass sie keine Auswir- 377 kungen auf die vom Insolvenzbeschlag umfassten Betriebsmittel hat, gehen in dieser Konstellation lediglich die Arbeitsverhältnisse durch die Freigabe auf den Insolvenzschuldner über, nicht aber das Betriebsvermögen.714) Das Ergebnis ist in diesem Fall mit entsprechender Argumentation das gleiche wie für den Fall, dass dem Betrieb ausschließlich unpfändbares Vermögen zugrunde liegt und somit keine Übertragung von Betriebsvermögen durch die Unternehmensfreigabe stattfindet. Aufgrund der Übertragung der Arbeitsverhältnisse und der in der Regel identischen Fortführung der selbständigen Tätigkeit ist dennoch auch hier ein identitätswahrender Betriebsübergang anzunehmen.715)
(b) Weder Arbeitsverhältnisse noch Betriebsvermögen werden von der Freigabewirkung erfasst Wie bereits dargestellt, nehmen Teile der Literatur an, dass § 35 Abs. 2 InsO nur 378 die Befugnis zur Abgabe einer auf die Zukunft bezogenen Haftungserklärung enthält.716) Die Erklärung hat danach nur Auswirkungen auf den Neuerwerb und auf die im Rahmen der selbständigen Tätigkeit begründeten Verbindlichkeiten.717) Sieht man die Arbeitsverhältnisse als nicht von der Freigabewirkung erfasst an und lehnt man darüber hinaus auch eine Aufhebung des Insolvenzbeschlags bezüglich der Betriebsmittel ab, fehlt es an jeglichem Übergangstatbestand. Der Schuldner kann zwar eine selbständige Tätigkeit weiter ausüben, er nutzt dafür aber weder seine alten Betriebsmittel noch seine alten Arbeitsverhältnisse. Die Konstellation, in der lediglich die rechtliche Verbindung zwischen der selb- 379 ständigen Tätigkeit und der Insolvenzmasse zerschnitten wird, ähnelt dabei allenfalls dem Übergang einer bloßen Geschäftstätigkeit. Letzterer war bereits mehrfach Gegenstand viel beachteter EuGH- und BAG-Entscheidungen. In der Entscheidung „Christel Schmidt“ lässt der EuGH den Übergang einer bloßen Geschäftstätigkeit als ausreichendes Merkmal für die Annahme eines identitätswahrenden Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils im Sinne des § 613a BGB ausreichen.718) Hierbei wurde insbesondere auf die Gleichartigkeit der vor und nach dem Übergang ausge___________ 714) So etwa Smid, DZWIR 2008, 133, 135 ff.; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 1 ff.; Lindemann, BB 2011, 2357, 2358 ff. 715) Siehe zur Argumentation oben unter Rn. 373 ff. 716) Siehe zu dem Streit bereits Rn. 87 ff. 717) So etwa Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1241 ff.; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1106 f.; Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 941 ff.; Windel, AP InsO § 35 Nr. 1; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 21 ff. 718) EuGH, Urt. v. 14.4.1994 – C-392/92, NZA 1994, 545, 546.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
übten Aufgaben abgestellt – auf den Übergang von Arbeitnehmern oder Betriebsmitteln komme es daneben nicht an.719) Nach der Freigabe führt der Insolvenzschuldner seine selbständige Tätigkeit fort, sodass man auch hier annehmen könnte, in der Freigabe der selbständigen Tätigkeit liege der Übergang einer Geschäftstätigkeit, die die Rechtsfolgen des § 613a BGB auslöst.
380 Nach erheblicher Kritik aus dem Schrifttum720) relativierte der EuGH seine Rechtsprechung in der Entscheidung „Ayse Süzen“ zum Teil.721) Hiernach reicht es nicht mehr aus, dass die vormals ausgeübte Tätigkeit der nunmehr ausgeübten Tätigkeit entspricht.722) Statt eines Betriebsübergangs liegt eine bloße Funktions- oder Auftragsnachfolge vor, die nicht den Tatbestand des § 613a BGB erfüllt.723) Es bedarf zur Annahme eines identitätswahrenden Betriebsübergangs vielmehr der Übernahme eines wesentlichen Teils des bisherigen Personals oder der Betriebsmittel.724) Somit lässt sich aus dem Umstand, dass der Insolvenzschuldner mit Freigabe der selbständigen Tätigkeit nur wieder eine unternehmerische Tätigkeit ausübt, dabei aber weder auf Betriebsmittel noch auf Arbeitsverhältnisse zurückgreift, keine Anwendung des § 613a BGB begründen. Es liegt vielmehr eine bloße Funktionsnachfolge vor.
381 Ein identitätswahrender Übergang des Betriebs oder Betriebsteils ist für die Ansicht, wonach es sich bei § 35 Abs. 2 InsO um eine bloße Haftungserklärung ohne Übergang von Betriebsmitteln oder Arbeitsverhältnissen handelt, demnach abzulehnen. Eine bloße Funktionsnachfolge ist nicht ausreichend, um einen identitätswahrenden (Teil-)Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB zu begründen.725)
(c) Nur das Betriebsvermögen, nicht aber die Arbeitsverhältnisse werden von der Erklärung erfasst 382 Nur der Vollständigkeit halber soll auf die Konstellation eingegangen werden, dass nur das Betriebsvermögen von der Negativerklärung erfasst wird, nicht aber die Arbeitsverhältnisse. Soweit ersichtlich, wird diese Ansicht in der Literatur richtigerweise nicht vertreten. Auch hierfür müsste entsprechend der bisherigen Argumentation angenommen werden, dass aufgrund der identischen Fortführung des Betriebs oder Betriebsteils das Hinzutreten eines weiteren Merkmals genügt, um ___________ 719) 720) 721) 722) 723) 724) 725)
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EuGH, Urt. v. 14.4.1994 – C-392/92, NZA 1994, 545, 546. Siehe statt aller ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 38, m. w. N. EuGH, Urt. v. 11.3.1997 – C-13/95, NZA 1997, 433, 433 f. EuGH, Urt. v. 11.3.1997 – C-13/95, NZA 1997, 433, 434. Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 46. Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 47; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 37. Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 46 f.; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 37; a. A. Windel, RdA 2012, 366, 369.
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
einen Betriebsübergang zu bejahen. Besteht kein pfändungsfreies Vermögen, was freigegeben werden könnte, kann kein Betriebsübergang angenommen werden.
(3) Zwischenergebnis Somit ergibt sich ein differenziertes Bild in Bezug auf die Frage, ob ein identitäts- 383 wahrender Übergang einer betrieblichen Einheit vorliegt. Ein Übergang ist wegen der im Grunde unveränderten Fortführung der selbständigen Tätigkeit immer dann anzunehmen, wenn zwecks Abgrenzung von einer bloßen Funktionsnachfolge zur Fortführung durch den Schuldner noch ein weiteres Merkmal hinzukommt. Das ist für die Ansicht, nach der die Arbeitsverhältnisse von der Freigabeerklärung 384 erfasst werden, der Übergang ebendieser Arbeitsverhältnisse. Nimmt man hingegen an, dass die Negativerklärung des Insolvenzverwalters nicht 385 die Arbeitsverhältnisse betrifft, lässt sich ein identitätswahrender Übergang einer betrieblichen Einheit nur annehmen, wenn auch Betriebsmittel von der Freigabeerklärung erfasst werden. Das ist nur dann der Fall, wenn pfändbares Vermögen außerhalb des Anwendungsbereichs von § 36 Abs. 1 InsO in Verbindung mit § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO aus der Insolvenzmasse durch § 35 Abs. 2 InsO freigegeben wird. Die gefundenen Ergebnisse sind auch in der Gesamtbetrachtung schlüssig. Fallen 386 nach herrschender Meinung, der auch in dieser Arbeit gefolgt wird, die Arbeitsverhältnisse ohne Beteiligung der Arbeitnehmer bereits nach § 35 Abs. 2 InsO auf den Insolvenzschuldner zurück, ist ihnen die Schutzvorschrift aus § 613a BGB zuzugestehen. § 613a BGB soll als Schutzgesetz den Arbeitnehmer vor Nachteilen schützen, die sich aus dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf einen neuen Inhaber ergeben und die Kontinuität des Arbeitsverhältnisses sichern.726) Werden nach anderer Ansicht die Arbeitsverhältnisse hingegen nicht von der Er- 387 klärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst, besteht nur dann ein Grund zur Entlastung der Insolvenzmasse von den Ansprüchen aus den Arbeitsverhältnissen, wenn die Insolvenzmasse bereits durch Freigabe von dem Massebeschlag unterliegenden Betriebsmitteln geschmälert wurde. Durch die Freigabe der massezugehörigen Betriebsmittel erlangt die Insolvenzmasse im Gegenzug eine Enthaftung der Masse von den Ansprüchen aus dem Arbeitsverhältnis. Ohne die betriebsnotwendigen Gegenstände hätte der Insolvenzverwalter ohnehin keine Verwendungsmöglichkeit für die Arbeitsleistung. Die Betriebsmittel gehen in diesem Fall nach § 35 Abs. 2 InsO auf den Schuldner über. Nach § 613a Abs. 1 S. 1 BGB folgen die Arbeitsverhältnisse nach. Dadurch treffen den Schuldner freilich wieder die Ansprüche aus den Arbeitsverhältnissen. Diese wirtschaftliche Belastung ist jedoch dadurch ge___________ 726) Boecken, et al.-Breinlinger, BGB § 613a Rn. 4.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
rechtfertigt, dass er für seine selbständige Tätigkeit ursprünglich dem Insolvenzbeschlag unterliegendes Vermögen erlangt.727) Dieses Vermögen dient zugleich den Arbeitnehmern als Haftungsmasse, die das Risiko des Neuanfangs auf sich nehmen.
cc) Insolvenzschuldner als „neuer“ Betriebsinhaber 388 Unabhängig von dem erforderlichen identitätswahrenden Übergang einer betrieblichen Einheit ist eine weitere Voraussetzung des Betriebsübergangs der Wechsel der Betriebsinhaberschaft. Um einen Betriebsübergang nach § 613a BGB in direkter Anwendung bejahen zu können, muss der Insolvenzschuldner neuer Inhaber der betrieblichen Einheit werden.
(1) Betriebsinhaberschaft in der Insolvenz 389 Ein Erwerb der Inhaberstellung kommt einzig vom Insolvenzverwalter in Betracht. Fraglich ist dabei, ob der Insolvenzverwalter überhaupt Inhaber des Betriebs im Sinne des § 613a BGB ist oder ob der Insolvenzschuldner die Betriebsinhaberschaft nie an ihn verloren hat.
390 In der Regel stellt sich die Frage nach der Betriebsinhaberschaft des Insolvenzverwalters nicht. Selten kommt es darauf an, von wem die Betriebsinhaberschaft in der Insolvenz erworben wird. Beim Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis bei Eröffnung der Insolvenz kommt es auf einen eventuellen Wechsel der Betriebsinhaberschaft vom Insolvenzschuldner auf den Insolvenzverwalter nicht an, da es für eine Anwendbarkeit des § 613a BGB wegen § 80 Abs. 1 InsO zumindest an einem Übergang durch Rechtsgeschäft fehlt.728) Bei einer Veräußerung des Betriebs durch den Insolvenzverwalter an einen Dritten als Verwertungsmaßnahme spaltet das BAG die Inhaberstellung in eine „Rechtsinhaberschaft“ des Schuldners und eine „Verfügungsrechtsinhaberschaft“ des Insolvenzverwalters auf.729) Da der Erwerber sowohl die Verfügungsrechtsinhaberschaft vom Insolvenzverwalter als auch die Rechtsinhaberschaft vom Schuldner übernimmt, kommt es hier ebenfalls nicht darauf an, ob der Insolvenzverwalter selber Inhaber des Betriebs ist oder nicht.
391 Bei der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO verliert hingegen nur der Insolvenzverwalter seine Verfügungsrechtsinhaberschaft. Ob der Übergang der Verfügungsrechtsinhaberschaft für einen Wechsel der Inhaberstellung nach § 613a BGB ausreicht, gilt es zu prüfen.
___________ 727) Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 943. 728) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 347/03, ZInsO 2005, 222, 225. 729) BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 347/03, ZInsO 2005, 222, 223.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
Die wohl herrschende Meinung in der Literatur nimmt an, dass der Insolvenzver- 392 walter nicht Inhaber des Betriebs des Insolvenzschuldners wird.730) Dem ist aus nachfolgenden Gründen zu widersprechen.
(a) Insolvenzverwalter als verantwortlicher Betriebsinhaber Häufig findet man in der Literatur die Aussage, dass der Insolvenzverwalter nicht 393 Betriebsinhaber werde, da er den insolventen Betrieb nicht durch Rechtsgeschäft übernehme, sondern der Übergang vielmehr durch Gesetz nach § 80 Abs. 1 InsO erfolge.731) Hierbei werden jedoch zwei voneinander zu trennende Voraussetzungen des Betriebsübergangs vermischt. Die Frage nach der Betriebsinhaberschaft ist unabhängig von der Frage, ob der Betrieb oder Betriebsteil durch Rechtsgeschäft oder auf sonstige Art und Weise übergeht, zu beantworten. Das „ob“ der Betriebsinhaberschaft ist unabhängig davon zu beurteilen, „wie“ sie erlangt wurde. Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG ist für die Betriebsinhaberstellung 394 maßgeblich, dass der Inhaber für den Betrieb „verantwortlich“ ist. Verantwortlich ist, wer den Betrieb in eigenem Namen führt und nach Außen als Betriebsinhaber auftritt, dabei jedoch nicht zwingend auf eigene Rechnung tätig ist.732) Annuß beschreibt die Inhaberstellung überzeugend als einen Wechsel der natürlichen oder juristischen Person, die innerhalb des Betriebs oder Betriebsteils den Einsatz der betrieblichen Merkmale zur Verfolgung des jeweiligen arbeitstechnischen Zwecks in eigenem Namen koordiniert.733) Eine Betriebsinhaberschaft des Insolvenzverwalters bei Fortführung des Betriebs 395 wird in diesem Zusammenhang häufig unter Hinweis auf eine bloße Vertretung des Insolvenzschuldners durch den Insolvenzverwalter verneint. Eine Inhaberstellung ergebe sich aus der stellvertretenden Fortführung nicht, da die Betriebsfortführung nur für den Schuldner als Inhaber und nicht in eigenem Namen erfolge.734)
___________ 730) Lindemann, ZInsO 2014, 695, 698; Bernsau/Dreher/Hauck-Bernsau, InsO Rn. 233; KRTreber, BGB § 613a Rn. 73; Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 54; Gallner/ Mestwerdt/Nägele-Mestwerdt/Wemheuer, BGB § 613a Rn. 44; Henssler/Willemsen/KalbWillemsen, § 613a Rn. 44 u. Rn. 210; Erman-Edenfeld, § 613a Rn. 11; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 48; Nerlich/Römermann-Wittkowski/Kruth, § 80 Rn. 106. 731) Bernsau/Dreher/Hauck-Bernsau, InsO Rn. 233; KR-Treber, BGB § 613a Rn. 73; differenzierter Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 54 u. Rn. 77. 732) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 312/02, NZA 2003, 1338, 1339 f.; Urt. v. 22.6.2011 – 8 AZR 107/10, NZA-RR 2012, 119, 122. 733) Staudinger-Annuß, § 613a Rn. 66. 734) Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen, § 613a Rn. 44 u. Rn. 210; Erman-Edenfeld, § 613a Rn. 11; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 48; Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 54.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
396 Das überzeugt jedoch nicht. Der Insolvenzverwalter handelt nach der herrschenden Amtstheorie735) ausdrücklich in eigenem Namen mit Wirkung für und gegen die Insolvenzmasse, während der Schuldner lediglich weiterhin Träger von Rechten und Pflichten bleibt.736) Er tritt nach ganz herrschender Meinung gerade nicht im Sinne der Vertretertheorie als auf die Insolvenzmasse beschränkter Vertreter des Schuldners auf.737) Vielmehr ist nach ständiger Rechtsprechung anerkannt, dass der Insolvenzverwalter nicht im Namen des Insolvenzschuldners auftritt, sondern als Partei kraft Amtes in eigenem Namen handelt.738)
397 Der Insolvenzverwalter nimmt alle Handlungen des Schuldners in Bezug auf die Masse mit Ausnahme von höchstpersönlichen Pflichten eigenständig wahr.739) Arbeitsrechtlich interessant ist dabei insbesondere der Eintritt in die Arbeitgeberfunktion und die Möglichkeit der eigenständigen Betriebsfortführung oder -einstellung durch den Insolvenzverwalter ohne oder sogar gegen den Willen des Schuldners.740) Der Insolvenzverwalter kann über das Betriebsvermögen verfügen, Arbeitsverhältnisse begründen oder beenden und auch sonst allgemein alle Rechtshandlungen vornehmen, die zur Fortführung des Unternehmens erforderlich sind.741) Er koordiniert damit nach der von Annuß vorgeschlagenen Definition den Einsatz der betrieblichen Mittel im eigenen Namen und ist damit Betriebsinhaber des in der Insolvenz befindlichen Betriebs.742) Dass der Schuldner weiterhin Träger der Rechte und Pflichten und damit „Rechtsinhaber“ bleibt, ist unerheblich.743) Der Wechsel der Inhaberstellung setzt keinen Wechsel des Eigentums voraus.744) Es kommt einzig auf den Wechsel der Verantwortung für den Betrieb und dessen Fortführung in eigenem Namen an.745) Dem Insolvenzverwalter kommt darüber hinaus die Arbeit___________ 735) St. Rspr. BGH, Urt. v. 26.1.2006 – IX ZR 282/03, ZInsO 2006, 260, 260 f.; Urt. v. 7.7.2008 – II ZR 26/07, NZI 2008, 561, 562 f.; Uhlenbruck-Mock, § 80 Rn. 58; K. Schmidt-Sternal, § 80 Rn. 20; MüKoInsO-Ott/Vuia, § 80 Rn. 26 ff.; jeweils m. w. N. 736) MüKoInsO-Ott/Vuia, § 80 Rn. 27; K. Schmidt-Sternal, § 80 Rn. 19; BeckOKInsO-Riewe, § 80 Rn. 16. 737) Kritik zu Vertretertheorie, die heute kaum noch vertreten wird, bei MüKoInsO-Ott/Vuia, § 80 Rn. 34. 738) St. Rspr. BGH, Urt. v. 26.1.2006 – IX ZR 282/03, ZInsO 2006, 260, 260 f.; Urt. v. 7.7.2008 – II ZR 26/07, NZI 2008, 561, 562 f. 739) MüKoInsO-Ott/Vuia, § 80 Rn. 46. 740) MüKoInsO-Ott/Vuia, § 80 Rn. 121; Uhlenbruck-Mock, § 80 Rn. 100 ff. 741) Statt aller Nerlich/Römermann-Wittkowski/Kruth, § 80 Rn. 87, m. w. N. 742) Staudinger-Annuß, § 613a Rn. 100; a. A. Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen, § 613a Rn. 44 u. Rn. 210; Erman-Edenfeld, § 613a Rn. 11; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 48; Ascheid/Preis/ Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 54. 743) Zum Begriff der Rechtsinhaberschaft in Abgrenzung zur Verfügungsrechtsinhaberschaft BAG, Urt. v. 18.11.2003 – 9 AZR 347/03, ZInsO 2005, 222, 223. 744) Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen, § 613a Rn. 41 f. 745) MüKoBGB-Müller-Glöge, § 613a Rn. 59.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
geberfunktion zu, die unter anderem für die Inhaberstellung nach § 613a BGB maßgebend ist.746) Ebenfalls wird eine Inhaberschaft nicht dadurch ausgeschlossen, dass durch die 398 Handlungen des Insolvenzverwalters nur die Insolvenzmasse verpflichtet und berechtigt wird und nicht der Insolvenzverwalter selbst. Zwar nahm das BAG in seiner früheren Rechtsprechung an, dass es für das Merkmal der Inhaberschaft eines Betriebs oder Betriebsteils auf eine „eigenwirtschaftliche Nutzung“ ankomme.747) Letztere kann in Bezug auf den Insolvenzverwalter nicht angenommen werden, da er unter Nutzung der Betriebsmittel des Insolvenzschuldners ausschließlich massebezogen und nicht eigenwirtschaftlich handelt.748) Nach den EuGH-Entscheidungen „Abler“749) und „Güney-Görres“750), in denen der EuGH ausdrücklich feststellt, dass es weder auf die Eigentumslage bezüglich der Betriebsmittel noch auf die eigenwirtschaftliche Nutzung ankommt, hat auch das BAG diese Voraussetzungen verworfen.751) Es ist somit für das Merkmal der Inhaberschaft unschädlich, dass der Insolvenzverwalter keinen eigenen wirtschaftlichen Nutzen aus den Betriebsmitteln zieht. Vielmehr reicht es aus, dass der Einsatz der fremden Betriebsmittel der Kern der Wertschöpfung des Insolvenzverwalters ist.752) Das ist in der Regel der Fall. Lindemann versucht, angelehnt an die vom BAG vorgenommene Differenzierung 399 zwischen der Betriebsführungsbefugnis und der Betriebsinhaberschaft zu trennen.753) Nur erstere gehe über, nicht aber die Inhaberschaft, da der Insolvenzverwalter treuhänderisch handele und nur unmittelbarer Fremdbesitzer sei, während der Insolvenzschuldner mittelbarer Eigenbesitzer bleibe.754) Diese Überlegung überzeugt nicht. Zum einen versucht Lindemann hier den Begriff der Verfügungsrechtsinhaberschaft des BAG zu vermeiden und ersetzt ihn durch den Begriff der Betriebsführungsbefugnis. Inhaltlich ergibt sich jedoch kein Unterschied. Die inhaltliche Kritik überzeugt ebenfalls nicht. Es bietet sich hier ein Vergleich zur Sicherungsübereignung an. Hierbei ist der Sicherungsgeber in der Regel unmittelbarer Fremdbesitzer, während der Sicherungsnehmer mittelbarer Eigenbesitzer ist.755) Es geht genauso um eine Treuhandkonstellation, in der jemand treuhänderisch über ___________ 746) Windel, AP InsO § 35 Nr. 1; Beck/Depré-Popp, § 42 Rn. 24. 747) BAG, Urt. v. 11.12.1997 – 8 AZR426/94, NZA 1998, 532, 533; Urt. v. 22.1.1998 – 8 AZR 775/96, NZA 1998, 638, 639 f. 748) K. Schmidt-Sternal, § 80 Rn. 15. 749) EuGH, Urt. v. 20.11.2003 – C-340/01, NZA 2003, 1385, 1387. 750) EuGH, Urt. v. 15.12.2005 – C-232, 233/04, NZA 2006, 29, 29 ff. 751) BAG, Urt. v. 2.3.2006 – 8 AZR 147/05, NZA 2006, 1105, 1106 ff. 752) Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen, § 613a Rn. 49. 753) Lindemann, ZInsO 2014, 695, 698. 754) Lindemann, ZInsO 2014, 695, 698. 755) Grziwotz/Keukenschrijver/Ring-Meller-Hannich, § 930 Rn. 26.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
das Vermögen eines anderen verfügt.756) Für den Fall der Sicherungsübereignung ist es aber in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BAG anerkannt, dass die Betriebsinhaberschaft auch bei einem bloßen unmittelbaren Fremdbesitzer, dem Sicherungsgeber, liegen kann. Er überträgt zwar den mittelbaren Besitz an den Sicherungsnehmer behält jedoch – und das ist entscheidend – die Nutzungsmöglichkeit.757) Der Insolvenzverwalter mag daher zwar nur unmittelbarer Fremdbesitzer für den Insolvenzschuldner sein, die Qualität des Besitzes ist jedoch unschädlich für die Frage der Betriebsinhaberschaft im Sinne des § 613a BGB.
400 In der freigabebezogenen Rechtsprechung lehnt das BAG die Anwendung von § 613a BGB bei der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO nicht kategorisch ab. Vielmehr lässt es die Frage, ob eine (zumindest entsprechende) Anwendung des § 613a BGB bei der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO in Betracht kommt, ausdrücklich offen.758)
(b) Vergleich zur Betriebsinhaberschaft des Zwangsverwalters 401 Für die Annahme einer Betriebsinhaberschaft des Insolvenzverwalters spricht ferner ein vergleichender Blick auf andere Konstellationen, in denen ein Dritter die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Eigentum eines Dritten erlangt. So lässt sich insbesondere ein Vergleich zur Stellung des Zwangsverwalters bei Grundstücken heranziehen.759)
402 Durch die Zwangsverwaltung wird dem Schuldner nach § 148 Abs. 2 ZVG die Verwaltung und Benutzung seines Grundstücks entzogen. Der bestellte Zwangsverwalter übernimmt nach § 152 Abs. 1 ZVG die Verwaltungsbefugnis über das betreffende Grundstück. Die Rechtsstellung des Zwangsverwalters ist damit vergleichbar mit der des Insolvenzverwalters. Zwar erlangt der Zwangsverwalter nur die Verwaltungs-, nicht aber die Verfügungsbefugnis über das der Beschlagnahme unterworfene Grundstück. Dennoch gilt auch für den Zwangsverwalter nach herrschender Meinung die Amtstheorie, sodass er selbständig, in eigenem Namen und aus eigenem Recht das beschlagnahmte Vermögen auf Rechnung des Schuldners verwaltet.760)
403 Vielfach wird auch für den Zwangsverwalter von der Literatur eine Inhaberstellung im Sinne des § 613a BGB abgelehnt. Auch hier fehle es an einer Fortführung in ei-
___________ 756) Grziwotz/Keukenschrijver/Ring-Meller-Hannich, § 930 Rn. 27. 757) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 312/02, NZA 2003, 1338, 1340. 758) BAG, Urt. v. 10.4.2008 – 6 AZR 368/07, NZA 2008, 1127, 1127 ff.; Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1218; Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326. 759) Lindemann, ZInsO 2014, 695, 699; allerdings mit anderer Schlussfolgerung, da dieser die Entscheidung mit den Besonderheiten des Einzelfalls begründet. 760) Stöber-Drasdo, § 152 Rn. 4.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
genem Namen, da der Verwalter den Betrieb nur für den Schuldner leite.761) Dem hat sich das BAG jedoch entgegengestellt, indem es einen Betriebsübergang auf ihn als Inhaber bejaht.762) Dementsprechend ist davon auszugehen, dass der Übergang der Verfügungsrechts- 404 inhaberschaft des Insolvenzverwalters auf den Insolvenzschuldner als Wechsel der Inhaberschaft im Sinne des § 613a BGB anzusehen ist.
(2) Übergang auf den Insolvenzschuldner durch Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO Der Übergang der Inhaberstellung vom Insolvenzverwalter auf den Insolvenz- 405 schuldner durch die Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO verläuft parallel zu der Frage des identitätswahrenden Übergangs einer betrieblichen Einheit. Fällt die Verfügungsinhaberschaft des Insolvenzverwalters bezüglich einer betrieblichen Einheit einschließlich der Arbeitgeberfunktion auf Insolvenzschuldner zurück, verliert der Insolvenzverwalter die Betriebsinhaberschaft und der Schuldner ist erneut als Inhaber des Betriebs oder Betriebsteils anzusehen. Dass er bereits vorher Betriebsinhaber war, ist unschädlich, da er zumindest zwischenzeitlich mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens seine Betriebsinhaberschaft an den Insolvenzverwalter verloren hat.
dd) Übergang durch Rechtsgeschäft Um den Tatbestand des Betriebsübergangs nach § 613a BGB bejahen zu können, 406 bedarf es zusätzlich noch eines Übergangs durch Rechtsgeschäft. Dabei ist der Begriff des Rechtsgeschäfts weit auszulegen und vornehmlich zur 407 Abgrenzung von einem Betriebsübergang durch Gesetz oder Hoheitsakt heranzuziehen.763) Ein Übergang durch Rechtsgeschäft liegt nach Definition des BAG im Fall einer Fortführung der wirtschaftlichen Einheit im Rahmen vertraglicher und sonstiger rechtsgeschäftlicher Beziehungen oder Übertragungsakte vor, ohne dass unmittelbar Vertragsbeziehungen zwischen dem bisherigen Inhaber und dem Erwerber bestehen müssen.764) ___________ 761) Henssler/Willemsen/Kalb-Willemsen, § 613a Rn. 44; Erman-Edenfeld, § 613a Rn. 11; ErfKPreis, BGB § 613a Rn. 48; Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 54. 762) BAG, Urt. v. 9.1.1980 – 5 AZR 21/78, NJW 1980, 2148, 2149; Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 230/10, NZA 2012, 267, 268 f. 763) BAG, Urt. v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04, NZA 2006, 723, 726 f.; Urt. v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367, 369; Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 230/10, NZA 2012, 267, 269; Boecken, et al.-Breinlinger, BGB § 613a Rn. 60. 764) BAG, Urt. v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04, NZA 2006, 723, 726 f.; Urt. v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367, 369; Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 230/10, NZA 2012, 267, 269.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
408 Fraglich ist dementsprechend, ob die Erklärung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO eine entsprechende rechtsgeschäftliche Erklärung ist. Rechtsgeschäfte bestehen in der Regel aus Willenserklärungen, vereinzelt wird der Begriff der Willenserklärung auch als Synonym für das Rechtsgeschäft verwendet.765) Mit seiner Freigabe beabsichtigt der Insolvenzverwalter eine Erklärung abzugeben, die die in § 35 Abs. 2 S. 1 InsO dargelegte Rechtsfolge herbeiführen soll, sodass es sich bei der Freigabeerklärung um eine Willenserklärung handelt.766) Da die Willenserklärung nur durch den Schuldners empfangen werden muss, dieser jedoch keine eigene Willenserklärung abgibt, handelt es sich bei der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO um eine einseitige, empfangsbedürftige Willenserklärung und damit um ein Rechtsgeschäft.767) Dass es sich hierbei lediglich um ein einseitiges Rechtsgeschäft handelt, ist unschädlich.768) Das Merkmal „Rechtsgeschäft“ ist richtigerweise weit auszulegen, um seinem Zweck, einen Ausschluss des Übergangs durch Gesetz oder sonstigen Hoheitsakt herbeizuführen, gerecht zu werden.769) Eine Einschränkung des Tatbestands von § 613a BGB ist durch das Merkmal generell nicht beabsichtigt.770) Durch die Erklärung wird die Fortführung des Betriebs durch den Schuldner erst ermöglicht, indem der Insolvenzbeschlag aufgehoben und die betriebliche Leitungsmacht an ihn zurückfällt. Letzteres ist entscheidend für die Annahme eines Betriebsübergangs durch Rechtsgeschäft.771)
409 Kritisiert werden könnte an dieser Auffassung nur, dass die Freigabeerklärung als actus contrarius zum gesetzlichen Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis nach § 80 Abs. 1 InsO ebenfalls ein hoheitlicher/gesetzlicher Akt sein könnte.772) Dem folgt die Kritik, dass der Übergang der betrieblichen Einheit schließlich von § 35 Abs. 2 InsO angeordnet wird und daher durch Gesetz erfolgt.773) Diese Überlegung greift jedoch zu kurz. Ein Betriebsübergang durch Gesetz kann nur dann angenommen werden, wenn sich unmittelbar aus dem Gesetz die Rechtsfolge des ___________ 765) Staudinger/Eckpfeiler-Schiemann, C. Das Rechtsgeschäft Rn. 6 u. Rn. 18; Medicus/Petersen, BGB AT, Rn. 242. 766) Zu den Voraussetzungen der Willenserklärung Staudinger/Eckpfeiler-Schiemann, C. Das Rechtsgeschäft Rn. 18 ff. 767) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 65 und Rn. 72; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 265; Kübler/ Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 119. 768) Zum ähnlichen Fall der Zwangsverwaltung Birkholz, Betriebsübergang nach § 613a BGB in der Insolvenz, S. 118. 769) Küttner-Kreitner, Betriebsübergang, Rn. 27; BeckOKArbR-Gussen, BGB § 613a Rn. 57; Ascheid/ Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 67. 770) BAG, Urt. v. 6.4.2006 – 8 AZR 222/04, NZA 2006, 723, 726 f.; Urt. v. 25.10.2007 – 8 AZR 917/06, NZA-RR 2008, 367, 369; Urt. v. 18.8.2011 – 8 AZR 230/10, NZA 2012, 267, 269; BeckOKBGB-Fuchs, § 613a Rn. 20. 771) BAG, Urt. v. 26.3.1996 – 3 AZR 965/94, NZA 1997, 94, 95 f.; Boecken, et al.-Breinlinger, BGB § 613a Rn. 64; MüKoBGB-Müller-Glöge, § 613a Rn. 64. 772) So Lindemann, ZInsO 2014, 695, 696; Kübler/Prütting/Bork-Moll, § 113, Rn. 52a. 773) Lindemann, ZInsO 2014, 695, 698.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
Übergangs einer betrieblichen Einheit ergibt.774) Im Rahmen des § 35 Abs. 2 InsO fällt aber erst durch die Freigabeerklärung die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis bezüglich der der selbständigen Tätigkeit zugeordneten Gegenstände zurück an den Schuldner. Der vorinsolvenzliche Zustand ist zwar die von § 35 Abs. 2 InsO angeordnete Konsequenz. Diese Rechtsfolge tritt aber nur aufgrund der vom Insolvenzverwalter abgegebenen Willenserklärung in Form der Negativerklärung ein. Gibt der Insolvenzverwalter keine Erklärung ab, kommt es auch nicht zum Übergang einer betrieblichen Einheit. Dementsprechend ist § 35 Abs. 2 InsO nur die vom Gesetzgeber vorgesehene Rechtsfolge für die Willenserklärung des Insolvenzverwalters. Die von § 35 Abs. 2 InsO angeordnete Rechtsfolge hängt damit von eben dieser Willenserklärung und somit von einem Rechtsgeschäft im Sinne des § 613a BGB ab. Dieses Ergebnis gebietet auch ein Vergleich mit den Regeln des Umwandlungsge- 410 setzes. Hier war lange umstritten, ob Verschmelzung, Spaltung oder Vermögensübertragung die Voraussetzungen des Rechtsgeschäfts im Sinne des § 613a BGB erfüllen.775) Das BAG verneinte die Frage ursprünglich mit dem Hinweis darauf, dass sich die Rechtsfolge aus einer kraft Gesetzes erfolgenden Universalsukzession durch Eintragung in das Handelsregister (§§ 20, 131, 176 ff. UmwG) ergibt.776) Durch die Einführung von § 324 UmwG hat sich der Gesetzgeber jedoch der Ansicht angeschlossen, dass eine kraft Gesetzes angeordnete Gesamtrechtsnachfolge dem Merkmal des Übergangs durch Rechtsgeschäft nicht entgegensteht.777) Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die Rechtsnachfolge sich zwar aus einer Anordnung durch den Gesetzgeber ergibt, der zur Anwendung des Gesetzes führende Tatbestand aber ein Rechtsgeschäft beinhaltet.778) Nichts anderes kann für § 35 Abs. 2 InsO gelten. Auch wenn sich die eigentliche Rechtsfolge aus § 35 Abs. 2 InsO ergibt, wird der Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis bezüglich des Betriebs nicht unmittelbar vom Gesetz, sondern von der Willenserklärung des Insolvenzverwalters herbeigeführt. Der Übergang erfolgt demnach durch Rechtsgeschäft. Die Annahme eines Betriebsübergangs scheitert dementsprechend auch nicht am 411 Merkmal des Rechtsgeschäfts. ___________ 774) So etwa bei BAG, Urt. v. 2.3.2006 – 8 AZR 124/05, NZA 2006, 848, 848 ff.; für einen vergleichbaren Fall nahm der EuGH in seiner „Scattolon“-Entscheidung sogar einen Betriebsübergang trotz eines Übergangs durch Gesetz an, EuGH, Urt. v. 6.9.2011 – C-108/10, NZA 2011, 1077, 1081 f. 775) Statt aller ErfK-Oetker, UmwG § 324 Rn. 1. 776) BAG, Urt. v. 6.2.1985 – 5 AZR 411/83, NZA 1985, 735, 735 f.; Ascheid/Preis/SchmidtSteffan, UmwG § 324 Rn. 1. 777) Boecken, et al.-Boecken, UmwG § 324 Rn. 3; ErfK-Oetker, UmwG § 324 Rn. 1; LutterSagan, UmwG § 324 Rn. 1f. 778) Lutter-Sagan, UmwG § 324 Rn. 1 f.
137
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
c)
Zwischenergebnis für die Anwendbarkeit von § 613a BGB
412 Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO die Voraussetzungen des § 613a BGB erfüllt.
413 Jede selbständige Tätigkeit ist ein übergangsfähiger Betrieb. Aufgrund der regelmäßig identischen Fortführung der selbständigen Tätigkeit ist ein identitätswahrender Übergang immer dann anzunehmen, wenn zur bloßen Freigabe der selbständigen Tätigkeit noch ein weiteres identitätswahrendes Merkmal hinzutritt. Das Merkmal ist zum einen dann erfüllt, wenn Betriebsmittel, die vom Insolvenzbeschlag erfasst sind, ebenfalls durch die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO freigegeben werden. Zum anderen ist der identitätswahrende Übergang einer betrieblichen Einheit anzunehmen, wenn man davon ausgeht, dass auch die Arbeitsverhältnisse von der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden. Eine bloße Funktionsnachfolge und damit kein Übergang einer betrieblichen Einheit ist aber anzunehmen, wenn man die Freigabe, entgegen der hier vertretenen Ansicht, als bloße Haftungserklärung ansieht, die weder Auswirkungen auf das Betriebsvermögen noch auf die Arbeitsverhältnisse hat. Geht man davon aus, dass nur das Betriebsvermögen, nicht aber die Arbeitsverhältnisse von der Negativerklärung erfasst werden, muss neben dem nach § 36 Abs. 1 S. 1 InsO in Verbindung mit § 811 Abs. 1 Nr. 5, 7 ZPO pfändungsfreien Vermögen darüber hinausgehendes pfändbares Betriebsvermögen bestehen. Der Rückfall der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis begründet einen identitätswahrenden Übergang.
414 Auch das Merkmal des Übergangs der Inhaberschaft ist erfüllt. Der Insolvenzverwalter koordiniert den Einsatz der betrieblichen Mittel im eigenen Namen und ist damit Inhaber der Verwaltungs- und Verfügungsrechteinhaberschaft bezüglich des Betriebs. Einer eigenwirtschaftlichen Nutzung bedarf es nicht, sodass es unschädlich ist, dass der Insolvenzverwalter nur zugunsten und zulasten der Insolvenzmasse handelt. Die Betriebsinhaberschaft des Insolvenzverwalters fällt durch die Negativerklärung zurück an den Insolvenzschuldner, worin zugleich ein Übergang der Inhaberstellung zu sehen ist.
415 Der Übergang der Inhaberschaft erfolgt schließlich auch aufgrund einer einseitigen empfangsbedürftigen Willenserklärung in Form der Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters und damit durch Rechtsgeschäft. Dass sich die unmittelbar herbeigeführte Rechtsfolge aus § 35 Abs. 2 InsO und damit aus einem Gesetz ergibt, ist unschädlich, da zumindest die Veranlassung der Rechtsfolge eine rechtsgeschäftliche Handlung des Insolvenzverwalters voraussetzt.
416 Nach hier vertretener Auffassung liegen damit die Voraussetzungen von § 613a BGB im Falle einer Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO vor.
138
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
3.
Rechtsfolgen des § 613a BGB im Zusammenhang mit § 35 Abs. 2 InsO
Auch die Rechtsfolgen des § 613a BGB sind im Lichte des Insolvenzrechts und 417 insbesondere des § 35 Abs. 2 InsO zu bewerten.
a) Übergang der Arbeitsverhältnisse Nach § 613a Abs. 1 S. 1 BGB gehen durch den Betriebsübergang die Arbeitsver- 418 hältnisse auf den neuen Inhaber, hier auf den Insolvenzschuldner, über, die der betroffenen betrieblichen Einheit zugeordnet sind. Nimmt man an, dass die die selbständige Tätigkeit betreffenden Arbeitsverhältnis- 419 se nach § 35 Abs. 2 InsO bereits durch die Freigabe an den Schuldner zurückfallen, kommt der Anordnung des Übergangs der Arbeitsverhältnisse durch § 613a Abs. 1 S. 1 BGB keine eigenständige Bedeutung mehr zu. Der Schuldner tritt bereits nach § 35 Abs. 2 InsO wieder in seine Arbeitgeberposition ein. Werden nach anderer Ansicht die Arbeitsverhältnisse nicht von der Freigabeerklä- 420 rung berührt, führt der Betriebsübergang nach § 613a Abs. 1 S. 1 BGB zu einem Übergang der Arbeitgeberfunktion und der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Arbeitsverhältnisse auf den Insolvenzschuldner. Im Ergebnis würde nach beiden vertretenen Ansichten die Insolvenzmasse durch 421 die Freigabe der selbständigen Tätigkeit von einer Forthaftung für die Arbeitsverhältnisse befreit – entweder unmittelbar durch § 35 Abs. 2 InsO oder mittelbar durch § 613a Abs. 1 S. 1 BGB. Die Insolvenzmasse wird dadurch vor der Begründung weiterer Masseverbindlichkeiten geschützt und der Insolvenzschuldner erhält zugleich die für die Fortführung der selbständigen Tätigkeit erforderlichen Arbeitsverhältnisse zurück. Er sieht sich aber auch wieder den Lohnansprüchen der Arbeitnehmer ausgesetzt.
b) Haftung des Erwerbers Problematisch ist, dass § 613a Abs. 1 S. 1 BGB über den bloßen Übergang der Ar- 422 beitsverhältnisse hinaus einen Eintritt in alle Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis anordnet und damit auch eine Forthaftung des Erwerbers für bereits beim Veräußerer begründete Ansprüche der Arbeitnehmer normiert.779) Der Erwerber hat unter anderem für rückständige Lohnansprüche zu haften.780) Zwar be___________ 779) A. A. Windel, RdA 2012, 366, 369, der annimmt, dass sich die Forthaftung des Schuldners nicht aus § 613a Abs. 1 S. 1 BGB ergibt, sondern bereits aus der fehlenden Geltung der Rechtsverfolgungssperren (§§ 87, 89 InsO) für Masseverbindlichkeiten. Im Ergebnis ergibt sich kein Unterschied. 780) BAG, Urt. v. 18.8.1976 – 5 AZR 95/75, NJW 1977, 1168, 1168; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 73.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
steht, wie bereits dargestellt, eine Haftungsbegrenzung des Betriebserwerbers, sodass dieser nicht für Insolvenzforderungen gemäß § 38 InsO haftet, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind.781) Die Haftungsbegrenzung umfasst jedoch nicht die Masseforderungen, die nach Insolvenzeröffnung entstehen. Hierfür haftet der Erwerber unbeschränkt.782)
423 Für die Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO bedeutet der Betriebsübergang, dass der Schuldner für die Ansprüche haftet, die zwischen Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Erklärung der Freigabe begründet wurden.783) Hierbei wird es sich regelmäßig um Lohnforderungen handeln, die gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 S. 1 InsO nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens Masseforderungen sind. Insbesondere in Fällen der Masseunzulänglichkeit werden sich die Arbeitnehmer mit ihren Forderungen an den Schuldner wenden.784)
424 Vereinzelt wird hierin eine ungerechtfertigte Besserstellung der Arbeitnehmer und damit ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung gesehen.785) Andere bemängeln, dass der Schuldner dann für Verbindlichkeiten haftet, auf deren Entstehen er keinen Einfluss hatte.786) Zur Lösung dieses Scheinproblems wird von Lindemann vorgeschlagen, dass § 35 Abs. 2 InsO eine Sonderregelung auch für die Haftung nach § 613a BGB sei. § 35 Abs. 2 InsO wolle den Schuldner nur mit Ansprüchen von Neugläubigern belasten, das heißt mit Ansprüchen, die aus der nach der Freigabe fortgeführten selbständigen Tätigkeit entstehen. Die Ansprüche der Arbeitnehmer aus der Zeit zwischen Eröffnung des Insolvenzverfahrens und Erklärung der Freigabe der selbständigen Tätigkeit seien hingegen Altansprüche.787)
425 Beide Einwände überzeugen nicht. Bezüglich des Verstoßes gegen die Gläubigergleichbehandlung hat das BAG in seinen Entscheidungen zu § 613a BGB bereits früh klargestellt, dass eine ungerechtfertigte Besserstellung nur dann gegeben ist, wenn die Arbeitnehmer auch in Bezug auf vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandene Insolvenzforderungen den Erwerber in Anspruch nehmen könnten.788) Nur für Insolvenzforderungen bestehen eine Reihe von Spezialregelungen in der ___________ 781) Siehe dazu bereits unter Rn. 349 ff. 782) Grundlegend BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124, 1124 ff.; dazu Regh, et al.-Jakubowski, § 8 Rn. 2 ff. u. Rn. 47 ff.; Staudinger-Annuß, § 613a Rn. 343. 783) Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 940; Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2126; Lindemann, BB 2011, 2357, 2361. 784) Lindemann, ZInsO 2014, 695, 699. 785) Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 943; Lindemann, BB 2011, 2357, 2361. 786) Lindemann, ZInsO 2014, 695, 697 f. 787) Lindemann, BB 2011, 2357, 2361. 788) BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124, 1125 f.; Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203, 206.
140
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
Insolvenzordnung, die auch den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung verkörpern.789) Die Verteilungsgrundsätze betreffen jedoch nur vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandene Forderungen und nicht die Masseverbindlichkeiten, um die es vorliegend geht. Für Masseverbindlichkeiten gibt es keine vorrangigen Verteilungsgrundsätze, die zwecks Wahrung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung nicht umgangen werden dürften. Vorrangige, den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung schützende Regeln der Insolvenzordnung werden somit durch die Erwerberhaftung nicht berührt. Auch der Einwand, dass der Schuldner für Verbindlichkeiten hafte, deren Entste- 426 hen er nicht beeinflussen konnte, hält einer kritischen Analyse nicht stand. Die Forthaftung des Erwerbers ist § 613a Abs. 1 S. 1 BGB inhärent und sollte nicht übermäßig eingeschränkt werden. Die für das Insolvenzverfahren bereits anerkannte Einschränkung, dass der Erwerber nur für Forderungen haftet, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehen, ist bereits eine Ausnahme von § 613a Abs. 1 S. 1 BGB, um die Arbeitnehmer als Gläubiger nicht über Gebühr zu begünstigen. Zudem ist es für den effektiven Masseschutz sinnvoll, dass der Schuldner für nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstandene Forderungen haftet. Die Arbeitnehmer können sich nunmehr an ihn wenden und belasten nicht mehr die Insolvenzmasse. Im Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erhält der Insolvenzschuldner nach der hier vertretenen Ansicht zudem werthaltige Betriebsmittel aus der Insolvenzmasse, sodass es ihm zuzumuten ist, auch für die auf den Zeitraum zwischen Insolvenzeröffnung und Freigabeerklärung begrenzten Ansprüche der Arbeitnehmer zu haften.790) Zuzugeben ist, dass es sich bei den Lohnforderungen, die in diesem Zeitraum ent- 427 stehen, nicht um neue Verbindlichkeiten im Sinne des § 35 Abs. 2 InsO handelt, denen eigentlich der Neuerwerb zugestanden wird.791) Argumentativ wurde aber bereits im Zusammenhang mit der Frage nach einer beschlagsaufhebenden Wirkung hergeleitet, dass § 35 Abs. 2 InsO nicht ausschließlich ex nunc wirkt.792) Die Norm schließt eine rückwirkende Haftung des betriebsübernehmenden Schuldners für die Arbeitnehmeransprüche aus der Zeit zwischen Insolvenzeröffnung und Freigabeerklärung nicht kategorisch aus, ordnet sie aber zugleich auch nicht an. § 35 Abs. 2 InsO trennt, die vom Schuldner im Rahmen seiner selbständigen Tätigkeit begründeten Neuverbindlichkeiten von der Insolvenzmasse und schreibt ihnen den Neuerwerb zu.793) Eine Aussage dazu, dass der Schuldners für Altverbindlichkeiten ___________ 789) BAG, Urt. v. 17.1.1980 – 3 AZR 160/79, NJW 1980, 1124, 1125 f.; Urt. v. 25.10.2012 – 8 AZR 575/11, NZA 2013, 203, 206. 790) So auch Wischemeyer, ZInsO 2009, 937, 943. 791) Lindemann, BB 2011, 2357, 2361. 792) Siehe dazu bereits unter Rn. 85 ff. 793) BT-Drucks. 16/3227, S. 17.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
haftet, trifft § 35 Abs. 2 InsO hingegen nicht. Diese Anordnung ergibt sich jedoch aus § 613a Abs. 1 S. 1 BGB. Dass § 35 Abs. 2 InsO eine solche Forthaftung nicht nur nicht vorsieht, sondern auch andere Normen dahingehend einschränken will, wie von Lindemann vertreten, ergibt sich weder aus dem Wortlaut der Norm noch aus dem Willen des Gesetzgebers.794) Aus Satz 1 ergibt sich nur, dass der Insolvenzverwalter erklärt, ob Ansprüche aus der selbständigen Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können, nicht aber umgekehrt, ob insolvenzrechtliche Masseansprüche außerhalb des Insolvenzverfahrens gegen den Insolvenzschuldner bestehen. Zudem bezweckt § 35 Abs. 2 InsO den Schutz der Masse.795) Der Masseschutz wird dadurch verwirklicht, dass sich die Arbeitnehmer bezüglich ihrer eigentlich nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 S. 1 InsO bestehenden Masseverbindlichkeiten an den Schuldner wenden können.
428 Einer Haftung des Schuldners für Ansprüche aus der Zeit zwischen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der Negativerklärung durch den Insolvenzverwalter steht demnach nichts entgegen. In der Praxis wird sich das Problem einer übermäßigen Erwerberhaftung nur selten stellen. Der Insolvenzverwalter wird eine in seinen Augen unwirtschaftliche Tätigkeit schnell freigeben, um eine unnötige Massebelastung zu verhindern. Er wird die Negativerklärung im eigenen Interesse zeitnah nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erklären, sodass sich die Forthaftung auf einen überschaubaren Zeitraum von in der Regel nicht mehr als ein paar Tagen beschränkt. Eine übermäßige Haftung, die die neue Existenz des Schuldners sogleich wieder bedrohen würde, ist demnach nicht zu erwarten.
c)
Haftung des bisherigen Inhabers
429 Gemäß § 613a Abs. 2 S. 1 BGB haftet der bisherige Inhaber für Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis fort, die vor dem Zeitpunkt des Übergangs entstanden sind und im Zeitraum eines Jahres nach dem Übergang fällig werden. Zweck der Regelung ist es, den Arbeitnehmern für bereits entstandene Forderungen einen Anspruch gegen den alten Inhaber, dem auch die Früchte der Arbeit zugutekamen, zuzugestehen.796)
aa) Bereits entstandene Masseforderungen 430 Der Grundsatz der Forthaftung des Veräußerers ist auch in der Insolvenz anwendbar. Die bereits entstandenen Ansprüche des Arbeitnehmers basieren grundsätzlich auf Gegenleistungen, die der Insolvenzmasse zugutekommen und auf die der Arbeitnehmer nach Freigabe keinen Zugriff mehr hat. ___________ 794) A. A. Lindemann, BB 2011, 2357, 2361. 795) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 796) ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 133.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
Unproblematisch anwendbar ist § 613a Abs. 2 BGB damit für die bereits entstan- 431 denen Ansprüche auf Arbeitslohn für die Zeit nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens aus §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 113 S. 1 InsO. Auch in diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass die Einstufung der Lohnforderungen als oktroyierte Masseverbindlichkeit nach §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 113 S. 1 InsO die Insolvenzmasse ohne messbare Gegenleistung belastet.797) Dem ist aber auch an dieser Stelle entgegenzuhalten, dass der Arbeitnehmer dem Insolvenzverwalter seine Arbeitskraft zumindest anbietet und einen Anspruchstatbestand in Form des Annahmeverzugs schafft. Dass der Insolvenzverwalter die angebotene Arbeitsleistung nicht verwerten kann, liegt, wie § 615 BGB zeigt, nicht in der Risikosphäre des Arbeitnehmers.798) Zudem schafft § 35 Abs. 2 InsO durch die richtigerweise anzunehmende sofortige Freigabe der Arbeitsverhältnisse selbst einen Ausgleich. Die Insolvenzmasse wird mit sofortiger Wirkung vom Entstehen weiterer Masseverbindlichkeiten geschützt. Ein darüberhinausgehender Schutz, zum Beispiel durch eine teleologische Reduktion des § 613a Abs. 2 S. 1 BGB, ist nicht erforderlich. Auch der Zweck des § 35 Abs. 2 InsO verlangt eine solche nicht. Zwar beabsichtigt die Norm den Schutz der Insolvenzmasse, beschränkt diesen jedoch auf Ansprüche aus der Fortführung der selbständigen Tätigkeit.799) Die vor der Freigabe begründeten Ansprüche entstanden zeitlich vor der Freigabeerklärung durch den Insolvenzverwalter. Der Insolvenzverwalter konnte zu diesem Zeitpunkt den durch die selbständige Tätigkeit erwirtschafteten Neuerwerb noch zur Masse ziehen. Im Gegenzug haftet die Insolvenzmasse auch für die begründeten Forderungen.
bb) Forthaftung für noch nicht entstandene Masseforderungen aus Vertrauensschutz Windel geht die Geltung von § 613a Abs. 2 BGB nicht weit genug. Er fordert viel- 432 mehr einen Ausgleich der durch die Umgehung von §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 113 S. 1 InsO gerissenen Schutzlücke für den Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmer dürften darauf vertrauen, dass sie noch für die Zeit ihrer Kündigungsfrist als bevorzugt zu befriedigende Massegläubiger behandelt werden.800) Hierfür sei § 613a Abs. 2 BGB aufgrund seiner zeitlichen Beschränkung auf Ansprüche, die vor der Freigabe begründet wurden, jedoch ungeeignet.801) Gibt der Insolvenzverwalter die selbständige Tätigkeit unmittelbar nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens frei, entstehen keine ___________ 797) Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 3; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; MüKoInsO-Hefermehl, § 55 Rn. 147; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 798) BAG, Urt. v. 19.7.2007 – 6 AZR 1087/08, DB 2008, 1329, 1329 f. 799) BT-Drucks. 16/3227, S. 11 u. S. 17; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 21; FKInsO-Bornemann, § 35 Rn. 29; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 49. 800) Windel, RdA 2012, 366, 369 f. 801) Windel, RdA 2012, 366, 369 f.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
Ansprüche der Arbeitnehmer nach §§ 55 Abs. 1, 113 S. 1 InsO, sodass § 613a Abs. 2 BGB für die von Windel gesehene Schutzlücke keine Abhilfe schaffen kann.802)
433 Windel ist dahingehend zuzustimmen, dass § 613a Abs. 2 BGB ungeeignet ist, um das durch §§ 55 Abs. 1, 113 S. 1 InsO begründete Vertrauen auf bevorzugte Befriedigung von Ansprüchen auf Arbeitslohn zu schützen, soweit der Anspruch noch nicht entstanden ist. Der Anspruch auf Befriedigung des Arbeitslohnes im Rang einer Masseforderung ist nicht unabhängig von der Zugehörigkeit des Arbeitsverhältnisses. Wurde die selbständige Tätigkeit freigegeben, verliert das Arbeitsverhältnis nach hier vertretener Ansicht durch § 35 Abs. 2 InsO den Bezug zur Insolvenzmasse. Die Haftung der Insolvenzmasse für die oktroyierte Masseverbindlichkeit aus §§ 55 Abs. 1, 113 S. 1 InsO besteht aber nur, wenn das Arbeitsverhältnis noch der Insolvenzmasse zugeordnet werden kann. § 613a Abs. 2 BGB wäre nur direkt anwendbar, wenn der Insolvenzverwalter die Freigabe erst nach dem Abwarten einer hypothetischen Kündigungsfrist erklären würde. Erst dann wären die Lohnansprüche entstanden und die Insolvenzmasse würde nach § 613a Abs. 2 BGB haften. Da das ausdrücklich nicht gewollt ist und die Arbeitsverhältnisse mit sofortiger Wirkung von der Insolvenzmasse getrennt werden, käme einzig eine analoge Anwendung in Betracht, wodurch zum Beispiel eine subsidiäre Haftung der Insolvenzmasse hergeleitet werden könnte.
434 Diesbezüglich stehen sich die Schutzzwecke von § 613a Abs. 2 BGB und § 35 Abs. 2 InsO aber entgegen. § 613a Abs. 2 BGB versucht eine Forthaftung des Veräußerers, hier der Insolvenzmasse, zu begründen.803) § 35 Abs. 2 InsO beabsichtigt hingegen, die Insolvenzmasse durch die Freigabeerklärung soweit wie möglich vor weiteren Ansprüchen zu schützen.804) § 613a Abs. 2 BGB durch Annahme einer abstrakten Forthaftung nach §§ 55 Abs. 1, 113 S. 1 InsO trotz fehlender Zuordnung des Arbeitsverhältnisses zur Insolvenzmasse einen bedingungslosen Vorrang zu verschaffen, entbehrt jeglicher Grundlage. Diese Forthaftung ist zudem nicht erforderlich. Die Bedenken bezüglich des Vertrauensschutzes können vielmehr im Rahmen des Widerspruchsrechts der Arbeitnehmer nach § 613a Abs. 6 BGB berücksichtigt werden.805)
435 Über eine Forthaftung nach § 613a Abs. 2 BGB den Entzug des in Aussicht gestellten Anspruchs aus §§ 55 Abs. 1, 113 S. 1 InsO auszugleichen, überzeugt demnach nicht.
___________ 802) Windel, RdA 2012, 366, 369 f. 803) ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 133; Boecken, et al.-Breinlinger, BGB § 613a Rn. 121. 804) BT-Drucks. 16/3227, S. 11 u. S. 17; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 21; FKInsO-Bornemann, § 35 Rn. 29; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 49. 805) Dazu später unter Rn. 464 ff.
144
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
d) Kündigungsverbot In § 613a Abs. 4 BGB ist das Verbot der Kündigung aufgrund des Betriebsüber- 436 gangs normiert. Für jede Kündigung bedarf es grundsätzlich eines Kündigungsgrundes. § 613a Abs. 4 BGB regelt, dass der Betriebsübergang nicht der tragende Grund für die Kündigung, sondern allenfalls der äußere Anlass sein darf.806) Einzelne Arbeitnehmer sollen nicht grundlos vom Übergang des Arbeitsverhältnisses und damit vom Grundsatz der Kontinuität des Arbeitsverhältnisses im Betriebsübergang ausgeschlossen werden.807) Da § 613a Abs. 4 BGB als eigenständiges Kündigungsverbot im Sinne des § 13 437 Abs. 1 KSchG und § 134 BGB im Umkehrschluss zu § 128 Abs. 2 InsO auch in der Insolvenz gilt, ist es dem Insolvenzverwalter und dem Schuldner dementsprechend verwehrt, wegen des durch § 35 Abs. 2 InsO ausgelösten Betriebsübergangs ein Arbeitsverhältnis zu kündigen. Aus § 613a Abs. 4 S. 2 BGB ergibt sich jedoch, dass eine Kündigung aus anderen 438 Gründen weiterhin möglich ist.808) Es bedarf demnach eines Kündigungsgrundes, der über den Betriebsübergang hinausgeht. Häufig wird es sich dabei um eine betriebsbedingte Kündigung handeln, der eine Unternehmerentscheidung vorausgegangen ist, wonach etwa aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen ein Überhang an Arbeitsverhältnissen vorliegt, der die Beendigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigt.809) Die Insolvenz an sich ist kein eigenständiger Kündigungsgrund.810) Im Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO kann der Übergang der Arbeitsverhält- 439 nisse den Schuldner erneut mit hohen Lohnkosten belasten. Hierdurch droht im Einzelfall die selbständige Tätigkeit zu scheitern, sodass das Bedürfnis nach einer Kündigung der Arbeitsverhältnisse und Verringerung der Lohnkosten besteht.
aa) Anwendung der arbeitsrechtlichen Vereinfachungen der InsO zugunsten des Schuldners? Auch hier würde eine analoge Anwendung der arbeitsrechtlichen Privilegierungen 440 des Insolvenzverwalters auf den Schuldner Abhilfe schaffen. Diese Analogie scheidet ___________ 806) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, NZA 2003, 1027, 1028. 807) Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 173 ff.; MüKoBGB-Müller-Glöge, § 613a Rn. 6 f. u. Rn. 200. 808) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, NZA 2003, 1027, 1028; Gallner/Mestwerdt/NägeleMestwerdt/Wemheuer, BGB § 613a Rn. 121; Boecken, et al.-Breinlinger, BGB § 613a Rn. 131. 809) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, NZA 2003, 1027, 1028; Gallner/Mestwerdt/NägeleMestwerdt/Zimmermann, KSchG § 1 Rn. 660; Gallner/Mestwerdt/Nägele-Mestwerdt/Wemheuer, BGB § 613a Rn. 121; Gottwald-Bertram, § 106 Rn. 74; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 153. 810) ErfK-Müller-Glöge, InsO Einführung Rn. 37; Boecken, et al.-Regh, InsO § 113 Rn. 4; HeidelbKInsO-Linck, § 113 Rn. 1.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
jedoch, wie bereits gezeigt, aufgrund des schutzwürdigen Bestandsinteresses der Arbeitnehmer aus. Das Bestandsinteresse der Arbeitnehmer kann zugunsten einer gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung einzig im Rahmen eines insolvenzrechtlichen Gesamtkonzeptes eingeschränkt werden.811)
bb) Kündigung durch den Insolvenzverwalter mit Wirkung für den Schuldner 441 Da eine Anwendung der arbeitsrechtlichen Privilegien des Insolvenzverwalters auf den Schuldner ausscheidet, kann es wünschenswert sein, dass der Insolvenzverwalter vor Erklärung der Freigabe einen Teil der Arbeitsverhältnisse unter den erleichterten Voraussetzungen des § 113 InsO kündigt und dabei von der verkürzten Kündigungsfrist aus § 113 S. 2 InsO Gebrauch macht. Als Folge könnte er vor Erklärung der Freigabe den Ablauf der Kündigungsfrist abwarten, sodass nur noch die bestehenden Arbeitsverhältnisse an den Schuldner zurückfallen.812) Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Insolvenzverwalter zwecks zügiger Enthaftung der Masse kündigt und bereits vor Ablauf der Kündigungsfrist die Freigabe erklärt. Nach § 613a BGB geht das Arbeitsverhältnis dann in gekündigtem Zustand auf den Schuldner über.813)
442 Trotz Belastung durch die Lohnkosten für den Zeitraum der Kündigungsfrist ist die Lösung für den Schuldner von Vorteil. Häufig wird die ursprüngliche Insolvenz auch durch übermäßige Personalkosten bedingt gewesen sein. Gehen sämtliche zur selbständigen Tätigkeit gehörenden Arbeitsverhältnisse mit der Freigabe auf den Schuldner über und müsste er die Überschüssigen nach den üblichen Kündigungsschutzregeln kündigen, sofern eine Kündigung überhaupt möglich ist, kann die unveränderte Belastung mit Personalkosten erneut zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen.814)
443 Durch den Übergang in gekündigtem Zustand kommen dem Schuldner aber faktisch die kündigungsrechtlichen Vorzüge der Insolvenzordnung, insbesondere die verkürzte Kündigungsfrist und die Aufhebung von Kündigungsverboten nach § 113 S. 1 InsO, zu. Dieses Ergebnis ist auch wünschenswert, da § 35 Abs. 2 InsO nach dem Willen des Gesetzgebers schließlich nicht nur die Insolvenzmasse entlas___________ 811) Siehe dazu bereits ausführlich oben unter Rn. 325 ff. 812) A. A. Ries/Böhner, FD-InsR 2009, 283559; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034, die unter entsprechender Anwendung des § 109 Abs. 1 S. 2 InsO ein allgemeines Kündigungsverbot für den Insolvenzverwalter anzunehmen scheinen. 813) Gallner/Mestwerdt/Nägele-Mestwerdt/Wemheuer, BGB § 613a Rn. 58; MüKoBGB-MüllerGlöge, § 613a Rn. 83. 814) Gutsche, ZVI 2008, 41, 44; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 185 f.; Ehlers, ZInsO 2014, 53, 55. In Bezug auf nicht oktroyierte schwebende Verträgen Heinze, ZVI 2007, 349, 355. Für Mietverhältnisse eine Insolvenzverwalterkündigung für wünschenswert haltend Schmerbach, VIA 2015, 81, 82.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
ten, sondern auch dem Schuldner eine Fortführung der selbständigen Tätigkeit ermöglichen soll.815) Dieser Zweck wird durch die einfachere Kündigung von wirtschaftlich nicht erforderlichen Arbeitsverhältnissen gefördert.816) Die Freigabe an sich und die ebenfalls bezweckte Entlastung und Förderung der 444 selbständigen Tätigkeit ist jedoch kein hinreichender Kündigungsgrund, da es sich hierbei im Ergebnis um den Betriebsübergang handelt. Es steht dem Insolvenzverwalter jedoch frei, aus anderen Gründen zu kündigen. Er selbst kann Rationalisierungsmaßnahmen treffen, die zu einem Überhang an Arbeitsverhältnissen führen und damit einen Kündigungsgrund schaffen, der unabhängig vom konkreten Betriebsübergang ist.817) Er kann sodann die Kündigungen aussprechen, auch wenn der konkrete wirtschaftliche Erfolg erst beim Schuldner eintritt.818) Das BAG erkennt in der Insolvenz auch eine Kündigung nach Erwerberkonzept an, sodass der Bedarf der Arbeitsverhältnisse beim Erwerber entscheidend ist, wobei der bloße Wunsch die Belegschaft zu verkleinern auch hier freilich nicht ausreicht.819) Durch Absprache zwischen Insolvenzverwalter und Schuldner kann somit der Bedarf an Arbeitskräften für die selbständige Tätigkeit des Schuldners ermittelt werden und der Insolvenzverwalter kann unter den bevorzugten Bedingungen der Insolvenzordnung für den Schuldner die Anzahl der Mitarbeiter verringern. So wird die selbständige Tätigkeit des Schuldners nicht direkt erneut hohen Personalkosten ausgesetzt. § 613a Abs. 4 BGB steht dem nicht entgegen.
cc) Eigenständiges Kündigungsverbot aus § 109 InsO analog? Ries und Böhner nehmen in Anlehnung an § 109 Abs. 1 S. 2 InsO ein Kündi- 445 gungsverbot des Insolvenzverwalters an.820) § 109 Abs. 1 S. 2 InsO verbietet es dem Insolvenzverwalter das Wohnraummietverhältnis des Schuldners zu kündigen, um die Kontinuität des für den Schuldner notwendigen Wohnraummietverhältnisses zu wahren. An die Stelle der Kündigung tritt das Recht, das Mietverhältnis an den Schuldner freizugeben.821) Ries und Böhmer argumentieren, dass aufgrund des Förderungszwecks von § 35 Abs. 2 InsO der Insolvenzverwalter die für die selbständige Tätigkeit notwendigen Arbeitsverhältnisse mit Blick auf die Kontinuität der Betriebsfortführung nicht vor Erklärung der Freigabe kündigen darf. Unter___________ 815) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 816) Zu Mietverhältnissen Schmerbach, VIA 2015, 81, 82. 817) Zwanziger, Arbeitsrecht der Insolvenzordnung, § 128 Rn. 18; MüKoBGB-Müller-Glöge, § 613a Rn. 188. 818) Ausführlich Röger-Meyer, § 8 Rn. 217 ff.; MüKoBGB-Müller-Glöge, § 613a Rn. 188. 819) BAG, Urt. v. 20.3.2003 – 8 AZR 97/02, NZA 2003, 1027, 1028 f.; Ascheid/Preis/SchmidtSteffan, BGB § 613a Rn. 189 ff.; Kritik bei Däubler, et al.-Karthaus/Richter, BGB § 613a Rn. 250 ff. 820) Ries/Böhner, FD-InsR 2009, 283559; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034. 821) Statt aller K. Schmidt-Ringstmeier, § 109 Rn. 19, m. w. N.
147
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
mauert werde diese Auffassung durch den Verweis der Gesetzesbegründung auf § 109 InsO.822)
446 Diese Annahme eines umfassenden Kündigungsverbots ist jedoch zu pauschal. Es muss vielmehr differenziert werden. Unstreitig kommt dem Insolvenzverwalter nach der Negativerklärung und dem Übergang der Arbeitgeberfunktion kein Kündigungsrecht mehr zu. Mit der Freigabe verliert er die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Arbeitsverhältnisse und kann dementsprechend auch keine Gestaltungserklärungen mehr abgeben.823)
447 Vor Abgabe der Negativerklärung hat der Insolvenzverwalter noch die Arbeitnehmerfunktion inne, sodass er auch die Arbeitsverhältnisse nach § 113 InsO und unter den allgemeinen Kündigungsvoraussetzungen beenden kann.824) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 109 Abs. 1 S. 2 InsO. Dass eine analoge Anwendung von § 109 Abs. 1 S. 2 InsO im Hinblick auf Arbeitsverhältnisse nicht in Betracht kommt, wurde anhand der Gesetzesbegründung und der unterschiedlichen Interessenlage bereits ausführlich hergeleitet.825) Der sowohl in § 109 Abs. 1 S. 2 InsO als auch in § 35 Abs. 2 InsO verkörperte Kontinuitätsgedanke erfordert auch keine andere Bewertung. Im Gegenteil kann es, wie gezeigt, notwendig sein, dass der Insolvenzverwalter überflüssige Arbeitsverhältnisse unter Ausnutzung der vereinfachten Kündigungsmöglichkeit nach § 113 InsO nach Erwerberkonzept kündigt, um den Schuldner von überflüssigen, die wirtschaftliche Fortführung behindernden Arbeitsverhältnissen zu befreien. Hierdurch wird die Fortführung der wirtschaftlichen Tätigkeit nicht behindert, sondern vielmehr erst ermöglicht. Die Annahme, dass eine Kündigung die Fortführung immer erschwert, ist damit zu pauschal. Der Insolvenzverwalter hat vielmehr in Absprache mit dem Schuldner zu entscheiden, welche Arbeitsverhältnisse für die Fortführung der selbständigen Tätigkeit erforderlich sind und eventuell überflüssige Arbeitsverhältnisse zu kündigen. Ein Kündigungsverbot erschwert somit die Fortführung.
e)
Informationspflicht
448 § 613a Abs. 5 BGB statuiert die Pflicht, den Arbeitnehmer über den Betriebsübergang und die damit verbundenen Rechtsfolgen zu unterrichten.
aa) Keine Informationspflicht aus § 35 Abs. 2 InsO 449 Nimmt man mit der herrschenden Meinung an, dass auch die Arbeitsverhältnisse von der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst werden, fällt die Arbeit___________ 822) 823) 824) 825)
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Dazu Ries/Böhner, FD-InsR 2009, 283559; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2034. K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 56. MüKoInsO-Ott/Vuia, § 80 Rn. 121 f. Siehe dazu oben unter Rn. 332 ff.
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
geberfunktion vom Insolvenzverwalter auf den Insolvenzschuldner zurück, ohne dass der Arbeitnehmer nach § 35 Abs. 2 InsO an dieser Entscheidung beteiligt oder individuell darüber informiert werden muss. Aus der Anwendung von § 613a Abs. 5 BGB ergibt sich eine wünschenswerte und 450 notwendige Informationspflicht. Aus § 35 InsO ergibt sich keine individuelle Informationspflicht gegenüber den Arbeitnehmern bezüglich der möglichen Folgen einer Freigabe der selbständigen Tätigkeit des Schuldners. Haarmeyer und Moll nehmen in einer extensiven Auslegung des § 35 Abs. 3 S. 1 InsO an, dass der Insolvenzverwalter alle ihm bekannten Vertragspartner über die Freigabe und die damit einhergehenden Rechtswirkungen informieren muss.826) Lindemann will über eine (nach)vertragliche Nebenpflicht des Insolvenzverwalters eine Informationspflicht statuieren.827) Diese Ansichten überzeugen jedoch bei genauerer Betrachtung nicht. Zum einen 451 finden sich für sie keinerlei Anhaltspunkte im Wortlaut des § 35 Abs. 3 InsO, der ausschließlich eine Erklärung gegenüber dem Insolvenzgericht vorschreibt. Im Umkehrschluss bestehen keine weiteren Informationspflichten des Insolvenzverwalters. Ferner beschränken Haarmeyer und Moll die Informationspflicht auf alle bekannten Vertragspartner. Das ist zumindest für Arbeitnehmer bedenklich. Das Risiko einer fehlenden Information mangels Kenntnis über das Arbeitsverhältnis würde damit in die Sphäre des Arbeitnehmers fallen. Das ist mit dem allgemeinen Arbeitnehmerschutzgedanken nicht vereinbar. Auch Lindemanns Ansicht würde nur zu einem Schadensersatzanspruch nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB gegen den Insolvenzverwalter führen. Den Insolvenzverwalter müsste demnach ein Verschulden treffen, damit dem Arbeitnehmer ein Anspruch auf Schadensersatz zukommt. Der Schadensersatzanspruch bleibt dabei sowohl im Bezug auf die erhöhten Voraussetzungen als auch im Bezug auf die Rechtsfolge weit hinter dem Schutzniveau des § 613a Abs. 5 BGB zurück, der bei fehlender oder fehlerhafter Information ein unbefristetes Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers annimmt. Dem Wortlaut von § 35 InsO folgend muss der Insolvenzverwalter einzig nach 452 Abs. 2 S. 1 dem Schuldner gegenüber seine Erklärung abgeben und sie nach Abs. 3 dem Gericht anzeigen. Das Gericht hat nach Abs. 3 S. 2 diese Entscheidung öffentlich bekannt zu machen. Die Bekanntmachung wird vom BGH als angemessene Gläubigerinformation angesehen.828) Für Gläubiger aus einem punktuellen Austauschverhältnis mag diese Bekanntmachung ausreichen, jedoch wird hierdurch nicht den Besonderheiten eines Dauerschuldverhältnisses Rechnung getragen. Hieraus ergeben sich regelmäßig laufende Verpflichtungen und Ansprüche sowie das Er___________ 826) Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 698; Kübler/Prütting/Bork-Moll, § 113 Rn. 53. 827) Lindemann, ZInsO 2014, 695, 701; ebenso Frind, Praxishandbuch, Rn. 621a. 828) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 411.
149
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
fordernis fristgebundene Rechtshandlungen, wie etwa Kündigungen, abzugeben. Von einem Arbeitnehmer kann in diesem Zusammenhang regelmäßig nicht erwartet werden, dass er Einsicht in die Insolvenzbekanntmachungen nimmt, um sich über die Zugehörigkeit seines Arbeitsverhältnisses und damit über den Schuldner seines Arbeitslohns und den Inhaber der Verwaltungs- und Verfügungsmacht seines Arbeitsverhältnisses klar zu werden.829)
453 Die Folgen eines unbemerkten Wechsels in der Arbeitgeberstellung können dabei für die Arbeitnehmer weitreichend sein. Dass ihnen dadurch der eigentlich nach § 113 S. 1 InsO in Verbindung mit § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO gegebene Mindestanspruch auf Arbeitslohn in Form von bevorzugt zu befriedigenden Masseansprüchen genommen wird, ist nur eine (wenn auch erhebliche) Auswirkung. Ein noch größeres Risiko birgt der Wechsel der Passivlegitimation.
bb) Der Wechsel der Passivlegitimation 454 Denkbar ist, dass der Insolvenzverwalter dem Arbeitnehmer unter Ausnutzung der verkürzten Kündigungsschutzfrist nach § 113 S.1 InsO kündigt (eventuell, um in Absprache mit dem Schuldner ein gekündigtes Schuldverhältnis übergehen zu lassen) und dann die das Arbeitsverhältnis betreffende Freigabe erklärt. Will sich der betroffene Arbeitnehmer nun gegen die Kündigung wehren und Kündigungsschutzklage erheben, weiß er nicht, dass die ihn betreffende Arbeitgeberfunktion gewechselt hat.830) Das kann schwerwiegende Konsequenzen haben, nachdem der Wechsel der Arbeitgeberfunktion auch Auswirkungen auf die Passivlegitimation in Bezug auf eine Kündigungsschutzklage hat.831) Verklagt der Arbeitnehmer den Unterzeichner der Kündigung, das heißt den Insolvenzverwalter, hat dieser aber gar nicht mehr die Arbeitgeberfunktion inne, droht die Klage mangels Passivlegitimation als unbegründet abgewiesen zu werden. Erschwert wird dieses Problem im Arbeitsrecht durch die kurze Klagefrist aus § 4 S. 1 KSchG und die Wirksamkeitsfiktion aus § 7 KSchG. Zweifel über die Passivlegitimität können hier zum Fristablauf und zur Wirksamkeitsfiktion im Hinblick auf die Kündigung führen. Dass dieses Problem nicht nur auf dem Papier besteht, zeigt sich durch das bisher bedeutendste Urteil des BAG zur Freigabe der selbständigen Tätigkeit, in dem die Auswirkungen des § 35 Abs. 2 InsO auf die Passivlegitimation des Insolvenzverwalters im Kündigungsschutzprozess thematisiert wurde.832)
___________ 829) Andres, NZI 2012, 413, 413. 830) Zu dem Problem ausführlich Nungeßer, NZI 2012, 359, 362 ff. 831) Nungeßer, NZI 2012, 359, 362. Lindemann, ZInsO 2014, 695, 700 sieht das Problem auch, ist aber aufgrund der ablehnenden Haltung zur Anwendung des § 613a BGB gezwungen, eine Passivlegitimation des Insolvenzverwalters trotz Freigabe der selbständigen Tätigkeit zu fingieren. 832) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 324 ff.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
§ 613a BGB kann hier direkt in mehrfacher Hinsicht Abhilfe schaffen. Zunächst 455 bleibt nach ständiger Rechtsprechung des BAG bei Kündigung und anschließendem Betriebsübergang der ehemalige Betriebsinhaber trotz Übergang des Arbeitsverhältnisses für die Kündigungsschutzklage gegen die von ihm ausgesprochene Kündigung passivlegitimiert.833) Gleiches gilt auch in der Insolvenz, wenn der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis kündigt und der Betrieb anschließend auf einen neuen Inhaber übergeht.834) Der Arbeitnehmer kann in diesem Fall den Unterzeichner seiner Kündigungserklärung verklagen und die Frist aus §§ 4 S. 1, 7 KSchG wahren.835)
cc) Information über Klagegegner Darüber hinaus werden durch die Informationspflicht aus § 613a Abs. 5 BGB et- 456 waige Zweifel über den Inhaber der Arbeitgeberstellung beseitigt. Durch die Information läuft der Arbeitnehmer nicht mehr Gefahr, einen falschen Klagegegner auszuwählen.836) Dass hierin trotz der angenommenen Passivlegitimation des Betriebsveräußerers ein praxisrelevantes Risiko zu sehen ist, hat die BAG-Entscheidung vom 21.11.2013 zur Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO gezeigt.837) Dieser Entscheidung lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem der Schuldner noch vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens dem klagenden Arbeitnehmer gekündigt hat. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat der Arbeitnehmer seine Kündigungsschutzklage gegen den nach seiner Auffassung nunmehr passivlegitimierten Insolvenzverwalter gerichtet. Der Insolvenzverwalter hatte jedoch unmittelbar nach Eröffnung der Insolvenz die Freigabe der selbständigen Tätigkeit des Schuldners erklärt. Aufgrund des Rückfalls des Arbeitsverhältnisses durch die Freigabe übte der Schuldner erneut die Arbeitgeberfunktion aus, sodass die Klage mangels Passivlegitimation als unbegründet abgewiesen wurde.838) Für diesen Fall hätte auch die Rechtsprechung des BAG zur Kündigung durch den 457 Betriebsveräußerer keine Abhilfe geschaffen. Sie ist anzuwenden, wenn der Betriebsveräußerer, hier der freigebende Insolvenzverwalter, kündigt und das Arbeitsverhältnis dann auf den Schuldner als neuen Betriebsinhaber übergeht. Im Fall den das BAG zu entscheiden hatte, war es jedoch der Schuldner, der vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Kündigung erklärt hat. Da mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Arbeitgeberfunktion und damit auch die Passivlegitimation für ___________ 833) BAG, Urt. v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, NJW 1984, 627, 627 f.; Urt. v. 16.5.2002 – 8 AZR 319/01, NZA 2003, 93, 96; Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 249; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 174. 834) BAG, Urt. v. 26.5.1983 – 2 AZR 477/81, NJW 1984, 627, 627 f. 835) Nungeßer, NZI 2012, 359, 363. 836) Nungeßer, NZI 2012, 359, 362 f. 837) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 324 ff. 838) BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 324 ff.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
eine etwaige Kündigungsschutzklage auf den Insolvenzverwalter übergeht, liegt es zunächst nahe eine Kündigungsschutzklage gegen den Insolvenzverwalter zu richten.839) Fällt das Arbeitsverhältnis sodann aber aufgrund der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO wieder an den Schuldner zurück, ändert sich auch die Passivlegitimation erneut.840) Der Insolvenzverwalter ist fortan nicht mehr passivlegitimiert und der Schuldner ist der einzig richtige Klagegegner. Die Rechtsprechung des BAG zu § 613a BGB schafft hier keine Abhilfe, da nicht der Insolvenzverwalter als Veräußerer die Kündigung ausgesprochen hat, sondern der Insolvenzschuldner. Für eben diese Fälle, in denen die Rechtsprechung des BAG zu § 613a BGB für die Kündigung des Betriebsveräußerers nicht direkt anwendbar ist, ist eine Information über den Inhaber der Arbeitgeberstellung unerlässlich.841)
458 Dass dieses Ergebnis richtig ist, zeigt ein vergleichender Blick auf die ähnliche Vorschrift des § 109 Abs. 1 S. 2 InsO. Der BGH nimmt hierzu an, dass eine Erklärung der Freigabe gegenüber dem Vermieter erfolgen muss, da die Rechte des Vermieters gegen die Masse aus § 108 Abs. 1 S. 1 InsO in Verbindung mit § 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO beschnitten würden und der Vermieter in der Regel auch bekannt ist.842) Gleiches gilt jedoch für die Arbeitnehmer. Sie verlieren durch die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ihre Ansprüche aus §§ 108 Abs. 1 S. 1, 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO und sind in der Regel leicht zu ermitteln, sodass sie über die Freigabe in Kenntnis gesetzt werden können und müssen. Smid widerspricht und nimmt an, dass Arbeitnehmer im Unterschied zu Vermietern kein gesteigertes Interesse an der Kenntnis von der Person haben, die ihre Arbeitgeberfunktion innehat, da sich in der Regel ohnehin nichts an ihrer Tätigkeit ändert. Im Gegensatz zu Vermietern, die eventuell ihre Rechte durch die Kündigung des Mietverhältnisses wahren müssten, bestehe bei ihnen kein Handlungsdruck, der eine Kenntnis von dem Inhaber der Arbeitgeberfunktion voraussetzt.843) Diese Ansicht überzeugt nicht. Wie gezeigt wurde, haben Arbeitnehmer zur Wahrung ihrer Rechte, insbesondere aus §§ 4, 7 KSchG ein erhebliches Interesse an der Kenntnis über die Person, die die sie betreffende Arbeitgeberfunktion innehat.
459 Somit bietet auch hier § 613a BGB mit der Informationspflicht aus Abs. 5 eine passende Lösung.
dd) Umfang und Adressat der Informationspflicht 460 Die Informationspflicht aus § 613a Abs. 5 BGB umfasst die Identität des Erwerbers, den Grund für den Betriebsübergang und dessen rechtliche, wirtschaftliche ___________ 839) 840) 841) 842) 843)
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Statt aller Kübler/Prütting/Bork-Moll, § 113 Rn. 48. Kübler/Prütting/Bork-Moll, § 113 Rn. 50. BAG, Urt. v. 21.11.2013 – 6 AZR 979/11, NZI 2014, 324, 326. BGH, Urt. v. 22.5.2014 – IX ZR 136/13, NZI 2014, 614, 616. Smid, DZWIR 2008, 133, 141.
IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
und soziale Folgen.844) Es soll damit eine ausreichende Wissensgrundlage geschaffen werden, auf deren Grundlage der Arbeitnehmer eine gut informierte Entscheidung über die Zugehörigkeit seines Arbeitsverhältnisses treffen kann.845) Für den Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO muss grundsätzlich der gleiche 461 Maßstab gelten. Gelockert werden kann die Informationspflicht im Bezug auf die Identität des Erwerbers, da die Arbeitnehmer ihren früheren, bereits hinreichend bekannten Arbeitgeber zurückerhalten.846)Ausreichend informiert werden muss jedoch über die Rechtsfolgen der Freigabeerklärung des § 35 Abs. 2 InsO. Den Arbeitnehmern muss verdeutlicht werden, welche Rechtslage sie beim Insolvenzschuldner erwartet und welche Rechtslage bei einem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses für und gegen die Insolvenzmasse gilt. Für einen Fortbestand des Arbeitsverhältnisses beim Insolvenzschuldner muss auf die weitgehend auf den Neuerwerb beschränkte Haftungsmasse hingewiesen werden und dass durch die Freigabeerklärung die Begründung von bevorzugt zu befriedigenden Masseverbindlichkeiten verwehrt wird. Bei einem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses für und gegen die Insolvenzmasse, das heißt nach einem Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB, muss darüber informiert werden, dass zwar bevorzugt zu befriedigende Masseverbindlichkeiten begründet werden, der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis aber in der Regel sobald wie möglich beenden wird. Hinzu kommt das Risiko der Masseunzulänglichkeit, auf das gesondert hinzuweisen ist. Schließlich kommt dem Grund für die Freigabeerklärung eine besondere Bedeu- 462 tung zu. Die Arbeitnehmer müssen darüber informiert werden, warum der Insolvenzverwalter sich zur Freigabe der selbständigen Tätigkeit entschieden hat. Hieraus wird sich in der Regel ergeben, ob und warum der Insolvenzverwalter keine positiven Effekte der selbständigen Tätigkeit für die Insolvenzmasse gesehen hat. Dieses Wissen ist die Grundlage für eine informierte Arbeitnehmerentscheidung und beeinflusst, welche der erläuterten Rechtsfolgen die Arbeitnehmer wählen. Grundsätzlich trifft nach § 613a Abs. 5 BGB sowohl den Erwerber als auch den 463 Veräußerer die Informationspflicht. Für den Fall des § 35 Abs. 2 InsO ist diese Vorgabe unbillig. Der Insolvenzschuldner als Erwerber im Sinne des § 613a BGB hat keine Möglichkeit, den Betriebsübergang zu verhindern. Der Betriebsübergang erfolgt alleine aufgrund der Entscheidung des Insolvenzverwalters, sodass auch ihm alleine die Informationspflicht zukommen sollte. Unterstützt wird dieses Ergebnis dadurch, dass nur der Insolvenzverwalter alle Gründe für die Freigabe der selbständigen Tätigkeit kennt und darüber hinaus auch einen höheren Kenntnisstand über die Rechtsfolgen der Negativerklärung hat. Einzig er ist hinreichend in___________ 844) Siehe dazu grundlegend BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682, 683 ff. 845) BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682, 683 f. 846) Feußner, NZI 2014, 326, 327.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
formiert und damit in der Lage der Informationspflicht aus § 613a Abs. 5 BGB nachzukommen.
f)
Widerspruchsrecht
464 Nach § 613a Abs. 6 BGB kann der Arbeitnehmer dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses innerhalb eines Monats widersprechen. Durch den Widerspruch bleibt das Arbeitsverhältnis mit dem Veräußerer bestehen.847) Für die Freigabe der selbständigen Tätigkeit ergibt sich hieraus, dass das Arbeitsverhältnis weiter zulasten der Insolvenzmasse besteht und der Insolvenzverwalter die Arbeitgeberfunktion innehat.
aa) Wahlfreiheit des Vertragspartners 465 Diese Rechtsfolge ist auch für den Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO wünschenswert. Der Rechtsgrund für die Einräumung eines Widerspruchsrechts in Form des § 613a Abs. 6 BGB liegt vor allem in der Menschenwürde, dem Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und dem damit einhergehenden Recht auf freie Arbeitsplatzwahl nach Art. 12 Abs. 1 GG.848) Das BAG hat erkannt, dass ein Übergang des Arbeitsverhältnisses ohne dem Arbeitnehmer die Möglichkeit des Widerspruchs einzuräumen, grundsätzlich einem die Menschenwürde verletzenden „Verkauf“ des Arbeitsverhältnisses gleichkäme.849) Der Arbeitnehmer wäre in seinen verfassungsmäßig geschützten Rechten berührt, wenn er verpflichtet wäre, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, den er nicht selbst gewählt hat.850)
466 Fragt man, warum einem Arbeitnehmer ein neuer Arbeitgeber nicht aufgezwungen werden darf, bestehen hierfür mehrere Gründe. Zunächst soll aus verfassungsrechtlichen Gründen niemand für einen Arbeitgeber arbeiten müssen, den er sich nicht selbst ausgesucht hat.851) Dieser Rechtsgrund ist in der aktuellen Fragestellung nicht betroffen. Der Schuldner war die ganze Zeit Vertragspartner des Arbeitnehmers. Lediglich die Arbeitgeberfunktion geht mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf den Insolvenzverwalter nach § 80 Abs. 1 InsO über.852) Der Insolvenzverwalter rückt in die Arbeitgeberstellung ein, wird jedoch nicht Vertragspartner des Arbeitnehmers.853) Dadurch, dass sich der vertragliche Arbeitgeber nicht ändert, ___________ 847) BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682, 686; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 105; Tschöpe-Fuhlrott, 2 G Rn. 400. 848) BT-Drucks. 14/7760, S. 20. 849) BAG, Urt. v. 2.10.1974 – 5 AZR 504/73, NJW 1975, 1378, 1378. 850) BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682, 686; BT-Drucks. 14/7760, S. 20. 851) BT-Drucks. 14/7760, S. 20; ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 96; Tschöpe-Fuhlrott, 2 G Rn. 400. 852) BAG, Urt. v. 5.2.2009 – 6 AZR 110/08, NZA 2009, 1215, 1217; Urt. v. 15.1.2013 – 9 AZR 448/11, NZI 2013, 406, 407; Regh, et al.-Regh, § 3 Rn. 24. 853) Gottwald-Bertram, § 104 Rn. 27.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
ließe sich annehmen, dass auch das verfassungsmäßig garantierte Recht auf freie Arbeitsplatzwahl und die Vertragsfreiheit nicht betroffen sind. Schließlich hat sich der Arbeitnehmer bei Beginn seiner Tätigkeit nicht den Insolvenzverwalter als Arbeitgeber ausgesucht, sondern den Insolvenzschuldner, an den nunmehr die Arbeitgeberfunktion zurückfällt.854) Hierin liegt jedoch nicht der einzige Grund für das Verbot eines Wechsels des Ar- 467 beitgebers ohne Beteiligung des Arbeitnehmers. Wie jeder Wechsel des Vertragspartners, geht der Betriebsübergang mit einem Wechsel des Schuldners und damit einem Wechsel der Haftungsmasse einher. Der Rechtsgedanke, dass ein Schuldnerwechsel nicht ohne Zustimmung des Gläubigers erfolgen kann, ergibt sich unter anderem aus §§ 414, 415 Abs. 1 S. 1 BGB.855) Zum Schutz des Gläubigers ist vor einem potentiell nachteiligen Schuldnerwechsel die Zustimmung des Gläubigers erforderlich. §§ 414, 415 Abs. 1 S. 1 BGB sind nur begrenzt übertragbar, da der Regelungsgehalt sich nur auf die Übernahme von bereits entstandenen Forderungen erstreckt. Bereits entstandene Forderungen der Arbeitnehmer, sowohl Insolvenzforderungen als auch Masseforderungen, bestehen jedoch nach § 613a Abs. 2 S. 1 BGB gegen die Insolvenzmasse fort, sodass sich insofern keine Bedenken ergeben. Problematisch ist aber die Eigenschaft des Arbeitsverhältnisses als Dauerschuld- 468 verhältnis. Forderungen gegen den Vertragspartner entstehen immer wieder aufs Neue. Der Arbeitnehmer sucht sich dabei seinen Vertragspartner vornehmlich aufgrund zu erwartender Erfüllung seiner Lohnansprüche aus. Dementsprechend spielt auch die zu erwartende Liquidität des Schuldners und dessen Haftungsmasse eine Rolle. Die Insolvenzeröffnung und Freigabe der selbständigen Tätigkeit haben bezüglich der zur Verfügung stehenden Haftungsmasse eine Zäsurwirkung. Zwar wird mit Eröffnung der Insolvenz der Zugriff auf die beim Schuldner vorhandene Haftungsmasse, die nunmehr die Insolvenzmasse ausmacht, durch eine Ablösung des Prioritätsprinzips und der Einzelvollstreckung durch die Gesamtvollstreckung beschränkt.856) Dennoch dient sie auch der Befriedigung von noch nicht erfüllten Lohnforderungen im Rang einer Insolvenzforderung und zukünftig noch entstehenden Lohnforderungen im Rang von Masseverbindlichkeiten. Durch die Freigabe entsteht eine neue Haftungsmasse für Neuverbindlichkeiten, 469 wie zum Beispiel die neu entstehenden Lohnforderungen. Getrennt von der Insolvenzmasse entsteht durch den Neuerwerb und die freigegebenen Betriebsmittel ein insolvenzfreies Vermögen, das der Befriedigung der Neugläubiger dient. Ein Zugriff auf die ehemalige, noch im Insolvenzbeschlag befindliche Haftungsmasse ist ___________ 854) Braun-Bäuerle, § 35 Rn. 138. 855) Staudinger-Rieble, § 414 Rn. 4. 856) Statt aller Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 2.01 ff.
155
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
dagegen versperrt.857) Aus diesem Grund hat sich der Arbeitnehmer nicht die nunmehr von Schuldner ausgeübte selbständige Tätigkeit und die damit einhergehende neue Haftungsmasse ausgesucht, sondern nur die mit der ursprünglichen Tätigkeit einhergehende Haftungsmasse, die nunmehr die Insolvenzmasse darstellt.858) Damit wechselt zwar nicht der Vertragspartner im engeren Sinne, wohl aber, und das ist entscheidend, die Haftungsmasse für neu zu begründende Ansprüche, auf die der Arbeitnehmer ursprünglich vertrauen durfte.
470 Eng damit verbunden ist die schutzwürdige Erwartung der Arbeitnehmer einer bevorzugten Befriedigung als Massegläubiger für neu entstehende Lohnforderungen nach §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 108 Abs. 1 S. 1 InsO. Durch die Freigabe wird die Begründung von Masseverbindlichkeiten gegen die ursprünglich gewählte Haftungsmasse des Schuldners ausgeschlossen. Eine Begründung von Arbeitslohnforderungen ist nach Erklärung der Freigabe nur noch gegen den Schuldner möglich. Als Haftungsmasse bestimmt der Gesetzgeber den vom Schuldner erwirtschafteten Neuerwerb.859) Dem Arbeitnehmer wird die Möglichkeit genommen, bevorzugt zu befriedigende Masseverbindlichkeiten zumindest für den Zeitraum der Kündigungsfrist nach § 113 S. 2 InsO gegen die Insolvenzmasse und damit die ursprünglich gewählte Haftungsmasse zu begründen.860) Ersetzt wird dieser Anspruch durch einen Lohnanspruch, der aus dem unsicheren Neuerwerb des Schuldners zu bedienen ist.
471 Faktisch kommt die Freigabe des Arbeitsverhältnisses damit einem Austausch der Haftungsmassen zulasten der Arbeitnehmer gleich.861) Statt bevorzugt zu befriedigende Masseverbindlichkeiten gegen die ursprünglich gewählte Haftungsmasse zu begründen, werden sie nun auf den noch zu erwirtschafteten unsicheren Neuerwerb des Schuldners verwiesen. Da das Vermögen des Schuldners, mit nach hier vertretener Ausnahme der Betriebsgegenstände, ansonsten in der Insolvenzmasse verbleibt, besteht darüber hinaus häufig nur eine dürftige Haftungsmasse. Auf den nach §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 108 Abs. 1 S. 1 InsO bestehenden Anspruch gegen die Insolvenzmasse konnte der Arbeitnehmer jedoch zumindest für die Zeit der Kündigungsfrist nach § 113 S. 2 InsO vertrauen.
472 Ein Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers ist dementsprechend wünschenswert, um ihm die Möglichkeit zu geben, erneut auf die von ihm ursprünglich gewählte Haftungsmasse zuzugreifen.862) Dass § 35 Abs. 2 InsO ausdrücklich etwas anderes ___________ 857) MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47h; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 99. Grundsätzlich zur Trennung der Insolvenzmasse vom insolvenzfreien Vermögen Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 9.02. 858) So auch Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1243. 859) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 860) Wischemeyer/Schur, ZInsO 2007, 1240, 1242 f.; Gutsche, ZVI 2008, 41, 44 f.; Priebe, ZInsO 2010, 1673, 1677; Windel, RdA 2012, 366, 369 f. 861) Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 270. 862) So auch Windel, RdA 2012, 366, 370.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
regelt, ist nicht ersichtlich. Zwar wird in S. 3 nur dem Gläubigerausschuss die Möglichkeit gegeben, gegen die Negativerklärung vorzugehen, doch kann hieraus nicht geschlossen werden, dass daneben keine Rechte einzelner Gläubiger aus anderen Vorschriften bestehen.863) § 35 Abs. 2 S. 3 InsO regelt ausschließlich den kollektiven Widerspruch der Gläubigermehrheit gegen alle Rechtsfolgen der Freigabeerklärung. Eine (Negativ-)Aussage zu sonstigen Individualgläubigerrechten trifft die Norm nicht. Sie bleiben vielmehr neben dem allgemeinen Widerspruchsrecht des Gläubigerausschusses beziehungsweise der Gläubigerversammlung bestehen. Das Widerspruchsrecht des § 613a Abs. 6 BGB gibt dem Arbeitnehmer somit eine 473 Wahlmöglichkeit. Er kann sich zum einen dafür entscheiden, das Risiko des wirtschaftlichen Neuanfangs des Schuldners in Kauf zu nehmen und fortan seine Ansprüche gegen die neu zu erwirtschaftenden Haftungsmasse in Form des Neuerwerbs geltend zu machen. Zum anderen kann er nach § 613a Abs. 6 BGB dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprechen und weiter auf die ursprünglich bestehende Haftungsmasse in Form der Insolvenzmasse zugreifen.864) Er kann auf diese Weise seinen von der Insolvenzordnung vorgesehen Anspruch im Rang einer Masseverbindlichkeit zumindest für den Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist wahrnehmen.
bb) Insolvenzrechtliches Einschränkungsbedürfnis Das rückwirkende Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB muss aufgrund der 474 besonderen Wertungen des Insolvenzrechts eingeschränkt werden.
(1) Problem der kompensationslosen Bezuschussung Der Widerspruch des Arbeitnehmers wirkt grundsätzlich ex tunc.865) Das Arbeits- 475 verhältnis gilt dementsprechend als nie auf den Schuldner übergegangen. Hierdurch besteht die Möglichkeit, dass die Insolvenzmasse zumindest für die Schwebezeit zwischen der Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters und dem Widerspruch des Arbeitnehmers rückwirkend mit Lohnforderungen belastet wird, für die sie keine Gegenleistung in Form der angebotenen Arbeitsleistung durch den Arbeitnehmer erlangt. Die Arbeitsleistung kommt vielmehr dem von der Insolvenzmasse getrennten Vermögen der selbständigen Tätigkeit des Schuldners zugute. ___________ 863) A. A. Ries, ZInsO 2009, 2030, 2036, der vertritt, dass § 35 Abs. 2 InsO bewusst keinen Arbeitnehmerwiderspruch beinhaltet. Ebenfalls kritisch Jaeger-Giesen, Vor. § 113 Rn. 15, der bei bloßer insolvenzrechtlicher Zuordnung von Vermögensmassen eine Verobjektivierung der Arbeitnehmer verneint. 864) Windel, RdA 2012, 366, 370. 865) Gallner/Mestwerdt/Nägele-Mestwerdt/Wemheuer, BGB § 613a Rn. 188; Boecken, et al.Breinlinger, BGB § 613a Rn. 177; Ascheid/Preis/Schmidt-Steffan, BGB § 613a Rn. 224; TschöpeFuhlrott, 2 G Rn. 400; a. A. Rieble, NZA 2004, 1, 1 ff.; Schaub-M. Ahrendt, § 118 Rn. 55.
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E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
Auch wenn der Arbeitnehmer in der Schwebezeit in der Regel seine Arbeitsleistung für den Schuldner erbringt, besteht die Möglichkeit, dass der Insolvenzverwalter zu Lasten der Masse gegenüber dem Arbeitnehmer in Annahmeverzug gerät.866) Dass sich der Schuldner nach § 615 S. 2 BGB seinen Verdienst, den er beim Schuldner erwirbt, anrechnen lassen muss, schützt die Insolvenzmasse aufgrund des erheblichen Zweitinsolvenzrisikos des Schuldners nicht hinreichend.
476 Demnach ist eine einmonatige Bezuschussung der neuen selbständigen Tätigkeit des Schuldners durch die Insolvenzmasse theoretisch möglich. Der Schuldner erlangt die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers und die sich daraus ergebenden Vorteile bei erfüllter Informationspflicht längstens einen Monat lang „zum Nulltarif“ auf Kosten der Insolvenzmasse. Die Insolvenzmasse erhält trotz ihrer Finanzierung keinen Vorteil, noch nicht einmal das Angebot der Arbeitsleistung. Eine solche Belastung der Insolvenzmasse ohne Gegenleistung ist abzulehnen.867)
477 Hinzu kommt ferner, dass dadurch die Kündigungsfrist nach § 113 S. 2 InsO und damit die vom Gesetzgeber vorgesehen Höchstbelastung der Insolvenzmasse mit Lohnansprüchen faktisch verlängert wird. Übt der Arbeitnehmer sein Widerspruchsrecht am Ende seiner einmonatigen Widerspruchsfrist aus, sind die von ihm begründeten Lohnforderungen rückwirkend Masseverbindlichkeiten nach §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 108 Abs. 1 S. 1 InsO. Masseverbindlichkeiten durch Arbeitsverhältnisse sollen gegen den Willen des Insolvenzverwalters jedoch nach § 113 S. 2 InsO nur für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten begründet werden. § 113 S. 2 InsO ermöglicht es dem Insolvenzverwalter, massebelastende Arbeitsverhältnisse zu beenden. Die in § 113 S. 2 InsO niedergelegte Kündigungsfrist ist dabei bereits ein Ausgleich zwischen dem Bestandsinteresse des Arbeitnehmers und dem Gläubigerinteresse am Schutz der Insolvenzmasse.868) Durch die ex tunc Wirkung begründet der Arbeitnehmer bereits für die Zeit vor seinem Widerspruch Masseverbindlichkeiten. Der Insolvenzverwalter kann erst mit Ausübung des Widerspruchs die Kündigung erklären und damit die Frist von § 113 S. 2 InsO in Gang setzen. Zu der dreimonatigen Höchstfrist käme durch die ex tunc Wirkung für die bis zu einmonatige Tätigkeit beim Insolvenzschuldner der Anspruch gegen die Insolvenzmasse hinzu, sodass maximal eine viermonatige Begründung von Masseverbindlichkeiten möglich ist. Der Gesetzgeber hat mit den verkürzten Kündigungsfristen jedoch höchstens die Begründung von Masseverbindlichkeiten für einen Zeitraum von drei Monaten für angemessen erachtet. Die Arbeitnehmer wären durch die Freigabe und die ex ___________ 866) BAG, Urt. v. 20.5.2010 – 8 AZR 734/08, NZA 2004, 1295, 1298; Urt. v. 19.8.2015 – 5 AZR 975/13, NZA 2015, 1460, 1461 f.; BeckOKArbR-Gussen, BGB § 613a Rn. 171. 867) Heinze, ZVI 2007, 349, 354; Ries, ZInsO 2009, 2030, 2031; Stiller, ZInsO 2010, 1374, 1375; Dahl/Schindler, VIA 2011, 1, 3; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rn. 14.04 u. Rn. 23.08; MüKoInsOHefermehl, § 55 Rn. 147; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 273. 868) Statt aller Ascheid/Preis/Schmidt-Künzl, InsO § 113 Rn. 3.
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IV. Anwendung von § 613a BGB im Rahmen der Freigabe
tunc Wirkung des Widerspruchs bessergestellt, als ohne Freigabe. Das ist nicht durch § 35 Abs. 2 InsO gewollt, der schließlich auch einen Schutz der Masse anstrebt.869) Das Problem verschärft sich weiter durch die Gefahr einer fehlerhaften Arbeitnehmer- 478 information nach § 613a Abs. 5, Abs. 6 S. 1 BGB und einem sich daraus ergebenden unbefristeten Widerspruchsrecht.870) Ein unbefristetes Widerspruchsrecht würde es den Arbeitnehmern erlauben, vorübergehend für längere Zeit im Rahmen der freigegebenen selbständigen Tätigkeit für den Schuldner tätig zu sein. Käme der Schuldner seinen Zahlungsverpflichtungen nicht nach, könnten die Arbeitnehmer jederzeit – auch noch nach Jahren – ihr Widerspruchsrecht ausüben und so nachträglich für den gesamten Zeitraum ungerechtfertigte Masseverbindlichkeiten begründen. Um eine Haftung zu vermeiden, wäre der Insolvenzverwalter zum Schutz der Masse 479 gezwungen, vor Erklärung der Freigabe sämtlichen Arbeitnehmern zu kündigen. Die Arbeitsverhältnisse würden dann nur in gekündigtem Zustand übergehen und mit Ablauf der von § 113 S. 2 InsO festgelegten Kündigungsfrist beendet. Ein Arbeitnehmerwiderspruch hätte dann die Wirkung, dass das gekündigte Arbeitsverhältnis zurückfiele, die Insolvenzmasse aber nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist mit Masseverbindlichkeiten belastet würde. Nur wenn das Arbeitsverhältnis in bereits gekündigtem Zustand auf den Schuldner überginge, wäre die Zeit, in der das Arbeitsverhältnis dem Schuldner zugeordnet ist, bereits auf die Kündigungsfrist anzurechnen. Der von § 35 Abs. 2 InsO verfolgte gesetzgeberische Wille, die Insolvenzmasse 480 möglichst frühzeitig zu enthaften, wäre gewahrt.871) Der daneben verfolgte Zweck, dem Schuldner die Fortführung seiner selbständigen Tätigkeit zu ermöglichen, liefe jedoch leer.872) Der Schuldner würde die für seine selbständige Tätigkeit notwendigen Arbeitsverhältnisse verlieren.873)
(2) Insolvenzrechtliche Auslegung des § 613a Abs. 6 BGB im Fall der Freigabe Zur Lösung des Problems ließe sich für den Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO 481 eine insolvenzrechtliche Auslegung von § 613a Abs. 6 BGB erwägen, wonach dem Widerspruch des Arbeitnehmers ausnahmsweise bloß eine ex nunc Wirkung zukommt. Hinter dem Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB und seiner ex tunc Wirkung 482 steht der Gedanke, dass kein Arbeitnehmer – auch nicht nur vorübergehend – für ___________ 869) Siehe dazu bereits Rn. 203 ff. 870) Zur Entfristung bei unrichtiger Arbeitnehmerinformation BAG, Urt. v. 14.12.2006 – 8 AZR 763/05, NZA 2007, 682, 683 f. 871) Siehe zum legislativen Zweck des Masseschutzes Rn. 23 f. 872) Siehe zum legislativen Zweck der Ermöglichungsabsicht bereits Rn. 25 ff. 873) Siehe dazu bereits Rn. 196 ff.
159
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
einen Arbeitgeber arbeiten müssen soll, den er sich nicht selbst ausgesucht hat.874) Wie gezeigt, besteht dieses Bedürfnis bei § 35 Abs. 2 InsO vornehmlich in Bezug auf die andernfalls entzogene Haftungsmasse und das Vertrauen, privilegiert aus der Insolvenzmasse befriedigt zu werden.875) Diese Erwägungen begründen für den Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis von der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst wird, ein Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB. Sie gebieten aber nicht, dass der Widerspruch ex tunc wirkt. Die Schwere des Eingriffs in die Grundrechte der Arbeitnehmer ist erheblich geringer als bei Arbeitnehmern, deren Arbeitsverhältnis aufgrund eines Betriebsübergangs auf einen völlig neuen Arbeitgeber übergeht. Die von der Freigabe betroffenen Arbeitnehmer bekommen keinen völlig neuen Vertragspartner aufgezwungen. Sie sind vornehmlich in ihrem wirtschaftlichen Interesse am Erhalt der Haftungsmasse berührt. Es ist den Arbeitnehmern demnach zuzumuten, vorübergehend einer anderen Haftungsmasse zugeordnet zu sein, zumal auch durch einen ex nunc wirkenden Widerspruch ihr Interesse am Erhalt der ursprünglichen Haftungsmasse geschützt wird. Es wird nur später realisiert. Der Zweck des § 613a Abs. 6 BGB steht demnach einer Einschränkung nicht im Wege.
483 Insofern bietet sich ebenfalls eine Übertragung der ähnlichen Diskussion zur Rückwirkung des Gläubigerwiderspruchs nach § 35 Abs. 2 S. 3 InsO an. Hier wird aus möglichen Problemen bei der Rückabwicklung geschlossen, dass die Unwirksamkeitserklärung entgegen des Wortlauts von § 35 Abs. 2 S. 3 InsO nicht zurückwirkt, sondern einzig zukünftiger Neuerwerb zur Insolvenzmasse gezogen wird und zukünftige Verbindlichkeiten zulasten der Insolvenzmasse gehen.876) Zwischen Freigabe und Widerspruch begründete Neuverbindlichkeiten und begründeter Neuerwerb bleiben von der Erklärung unberührt und betreffen nur den Schuldner. Statt einer umfassenden ex tunc Wirkung des Widerspruchs wird auch hier eine ex nunc Wirkung vorgezogen.877) ___________ 874) Statt aller ErfK-Preis, BGB § 613a Rn. 96; BeckOKArbR-Gussen, BGB § 613a Rn. 171a. 875) Siehe dazu bereits oben unter Rn. 242 ff. 876) Siehe dazu ausführlich unten unter Rn. 498 ff. und bei AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905, 908; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 200 ff.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 103; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47m; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 64; Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 119; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 58; a. A. HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 85, der eine Rückabwicklung in Form einer Art Gesamtschuldbeziehung zwischen dem Schuldner und der Insolvenzmasse annimmt. 877) So die h. M. AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905, 908; BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 622; Heinze, ZVI 2007, 349, 357; Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 698; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1105; Smid, DZWIR 2008, 133, 142; Ahrens, KSzW 2012, 303, 309; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 701; Ahrens, NZI 2015, 624, 624 f.; Kayser, ZIP 2015, 1083, 1084 f.; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 830; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47m; GrafSchlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 31; Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Ahrens, § 35 Rn. 183; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 103; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 64; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 58; Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 119; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 200 ff.; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 103 f. Dazu später ausführlich unter Rn. 498 ff.
160
V. Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung der grundrechtlichen Wertungen
Dieses Ergebnis muss auch für die in der Zwischenzeit begründeten Arbeitslohnforderungen gelten. Um eine kompensationslose Belastung der Masse durch einen ex tunc wirkenden 484 Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB zu vermeiden, ist damit im Gleichschritt mit § 35 Abs. 2 S. 3 InsO ein Widerspruch nur mit Wirkung für die Zukunft anzunehmen. § 613a Abs. 6 BGB ist dahingehend insolvenzspezifisch auszulegen.
V. Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung der grundrechtlichen Wertungen und Zwischenergebnis Es wurde gezeigt, dass sich einzig § 613a BGB als Ausgleichsregelung anbietet.
485
Entgegen der Ansicht des BAG bedarf es jedoch keiner analogen Anwendung. 486 Vielmehr sind durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit des Schuldners die Voraussetzungen des Übergangs eines Betriebs oder Betriebsteils nach § 613a BGB bereits unmittelbar erfüllt. Auch die Rechtsfolgen des § 613a BGB bieten einen weitgehenden Ausgleich zwi- 487 schen den widerstreitenden Interessen der übrigen Gläubiger, des Insolvenzschuldners und der Arbeitnehmer. Die Freigabe schützt die Insolvenzmasse durch ihre unmittelbare Wirkung auf die 488 Arbeitgeberfunktion des Insolvenzverwalters vor weiteren, die Insolvenzmasse schmälernden Ansprüchen der Arbeitnehmer. Die Insolvenzmasse wird von den im Rang der Masseverbindlichkeit entstehenden Arbeitnehmeransprüchen ohne Abwarten einer Frist mit sofortiger Wirkung entlastet. Hierdurch wird das durch den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung geschützte Interesse der Gläubiger an einer gleichmäßigen Befriedigung und einer möglichst wenig belasteten Insolvenzmasse gewahrt. Auch die Rechte und Interessen des Schuldners sind in diesem Zusammenhang zu 489 berücksichtigen. Er erhält durch die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO beziehungsweise nach anderer Ansicht nach § 613a Abs. 1 S. 1 BGB die für seine selbständige Tätigkeit erforderlichen Arbeitsverhältnisse zurück. Sein nach Art. 12 Abs. 1 GG und dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb geschütztes Interesse daran, seine selbständige Tätigkeit weiter fortzuführen, wird auf diese Weise gewahrt. Dem Bedenken einer erdrückenden Haftung, die den Schuldner ebenfalls in Art. 12 Abs. 1 GG verletzt, kann durch eine Kündigung der Arbeitsverhältnisse durch den Insolvenzverwalter begegnet werden. Die mit den Vorzügen des § 113 InsO durch den Insolvenzverwalter gekündigten Arbeitsverhältnisse gehen dann in gekündigtem Zustand auf den Schuldner über, sodass dieser nur vorübergehend belastet ist. § 613a Abs. 4 BGB steht den Kündigungen unter Anwendung des Grundsatzes der Kündigung nach Erwerberkonzept nicht entgegen. Dass sich Insolvenzverwalter und Schuldner abstimmen, ist wünschenswert und wird häufig
161
E. Die Freigabe des Arbeitsverhältnisses im Zusammenspiel mit anderen Normen
Voraussetzung für eine erfolgreiche selbständige Tätigkeit des Schuldners außerhalb der Insolvenzmasse sein.
490 Der Schuldner wird auch nicht durch die Haftung nach § 613a Abs. 1 und Abs. 2 BGB zu stark belastet. Es ist damit zu rechnen, dass der Insolvenzverwalter zügig nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens von seinem Freigaberecht Gebrauch machen wird. Da der Schuldner nach der restriktiven Auslegung des § 613a BGB durch das BAG nur für Ansprüche haftet, die nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, ist die Belastung somit überschaubar. Das von Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 GG in Verbindung mit dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb erfasste Interesse des Schuldners, seine selbständige Tätigkeit mit den dazugehörigen Arbeitsverhältnissen ohne eine gleichzeitig erdrückende Haftung fortzuführen, wird damit gewahrt. Zugleich wird es aber in einen Ausgleich mit den Interessen der übrigen Gläubiger gebracht.
491 Schließlich werden auch die Arbeitnehmerinteressen ausreichend berücksichtigt. Insbesondere schafft § 613a Abs. 5 BGB eine eigenständige Informationspflicht. So werden die Arbeitnehmer über die Gründe und Auswirkungen des freigabebedingten Betriebsübergangs informiert und sie können die zur Wahrung ihrer Rechte erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Entgegen der Formulierung in § 613a Abs. 5 BGB trifft die Informationspflicht nur den Insolvenzverwalter, nicht aber den Insolvenzschuldner. Letzterer ist nicht an der Entscheidung zur Freigabe der selbständigen Tätigkeit und damit an der Herbeiführung eines Betriebsübergangs beteiligt und verfügt nicht über den nötigen Kenntnisstand, um der Informationspflicht hinreichend nachzukommen.
492 Zudem kommt dem Arbeitnehmer ein Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB zu. Widerspricht der Arbeitnehmer dem Übergang, fällt das Arbeitsverhältnis zurück an den Insolvenzverwalter. Der Arbeitnehmer hat es somit selbst in der Hand, wer seine Arbeitgeberfunktion innehaben soll und gegenüber welcher Haftungsmasse er Ansprüche begründet. Er kann sich dementsprechend entscheiden, ob er das Risiko eines Neuanfangs beim Schuldner eingeht oder ob er bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bevorzugt zu befriedigende Masseverbindlichkeiten nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO in Verbindung mit § 108 Abs. 1 S. 1 InsO begründen möchte.
493 Hierdurch wird zunächst einer gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoßenden Verobjektivierung des Arbeitnehmers als bloße masseschmälernde Belastung, die freizugeben ist, entgegengewirkt. Der Arbeitnehmer kann selbst über den Inhaber der Arbeitgeberfunktion entscheiden. Zugleich werden auch Bedenken bezüglich des von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Bestandsinteresses des Arbeitnehmers ausgeräumt. § 613a BGB wahrt eine hinreichende Kontinuität des Arbeitsverhältnisses, indem der Arbeitnehmer sich durch sein Widerspruchsrecht bewusst für die (eingeschränkten) Bestandsschutzregeln der Insolvenzordnung entscheiden kann.
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V. Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung der grundrechtlichen Wertungen
Dass die Insolvenzmasse durch einen eventuellen Widerspruch des Arbeitnehmers 494 zeitweise wieder mit Forderungen aus dem Arbeitsverhältnis belastet wird, ist vertretbar. Dem Insolvenzverwalter ist es nach wie vor möglich, die Kündigung mit nach § 113 S. 2 InsO verkürzter Kündigungsfrist zu erklären. § 113 S. 2 InsO schafft einen Ausgleich zwischen dem Gläubigerinteresse an einem bestmöglichen Erhalt der Masse und dem Bestandsinteresse des Arbeitnehmers. An einem betriebsbedingten Kündigungsgrund wird es nach Freigabe der selbständigen Tätigkeit auf den Schuldner aufgrund des Wegfalls des Arbeitsplatzes in der Regel nicht fehlen. § 613a BGB muss einzig in Bezug auf Absatz 6 und die Rückwirkung des Wider- 495 spruchs eingeschränkt werden. Um die Masse nicht entschädigungslos zu belasten und gleichzeitig eine faktische Verlängerung der Kündigungsfrist zu vermeiden, muss § 613a Abs. 6 BGB freigabespezifisch ausgelegt werden. Der Widerspruch darf gleichlaufend mit der Rechtsfolge des § 35 Abs. 2 S. 3 InsO nur Wirkung für die Zukunft entfalten. § 613a BGB bietet dementsprechend eine Lösung, die die verfassungsrechtlich ge- 496 schützten Interessen der Beteiligten in einen homogenen Ausgleich bringt.
163
F. Gläubigerwiderspruch und die Wirkung auf das Arbeitsverhältnis Nach § 35 Abs. 2 S. 3 InsO haben die Gläubiger in Form des Gläubigerausschusses 497 oder, sofern ein solcher nicht bestellt ist, in Form der Gläubigerversammlung das Recht, beim Insolvenzgericht die Unwirksamkeit der Freigabeerklärung zu beantragen.
I.
Ausübung des Widerspruchs durch die Gläubiger
Wie gezeigt, hat die Freigabe der selbständigen Tätigkeit weitreichende Konse- 498 quenzen für die Insolvenzmasse. Sie verliert nach hier vertretener Ansicht nicht nur den vom Schuldner zu erwirtschaftenden Neuerwerb, sondern auch die betriebliche Einheit einschließlich der damit einhergehenden Betriebsmittel und Arbeitsverhältnisse. Zur Wahrung der Gläubigerinteressen sichert § 35 Abs. 2 S. 3 InsO den Gläubigern ein Widerspruchsrecht zu, welches die durch das Insolvenzgericht zu erklärende Unwirksamkeit der Freigabeerklärung zur Folge hat.878) Die Widerspruchsmöglichkeit der Gläubiger gegen eine Freigabe der selbständigen 499 Tätigkeit ist nicht befristet.879) Unabhängig davon, ob man in Anlehnung an § 296 Abs. 1 S. 2 InsO eine Jahresfrist für wünschenswert hält880), stellt sich schließlich die Frage nach Art und Umfang der Rückabwicklung. Es ist zu entscheiden, wie die zwischen der Erklärung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO und der Anordnung der Unwirksamkeit durch das Insolvenzgericht entstandenen Ansprüche und Verbindlichkeiten einzuordnen sind. § 35 Abs. 2 S. 3 InsO trifft keine eindeutige Aussage zur Rechtsfolge des Widerspruchs. In der Literatur wird dementsprechend vorwiegend die Frage diskutiert, ob dem Widerspruch eine ex tunc oder eine ex nunc Wirkung zukommt.
1.
Allgemeine Bedenken gegen eine ex tunc Wirkung
Denkbar ist zunächst eine ex tunc Wirkung, wonach das in der Zwischenzeit er- 500 wirtschaftete Vermögen zugunsten und die zwischenzeitlich begründeten Verbindlichkeiten rückwirkend zulasten der Insolvenzmasse gingen.881) ___________ 878) Im Gesetzgebungsverfahren wurde durch den Bundesrat ein weitergehendes Zustimmungserfordernis angestrebt, was jedoch später verworfen wurde. Siehe dazu BR-Drucks. 549/06, S. 3 f.; BT-Drucks. 16/3227, S. 23 f. und Andres, NZI 2006, 198, 199 f. 879) Sternal, NJW 2007, 1909, 1912; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1105; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 701; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 278; a. A. Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 120 (Widerspruch nur bis zur ersten Gläubigerversammlung nach der Freigabeerklärung); Ahrens, KSzW 2012, 303, 309; Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Ahrens, § 35 Rn. 180 (Widerspruch maximal ein Jahr nach Kenntniserlangung). 880) So Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Ahrens, § 35 Rn. 180. 881) Undritz, FS Runkel, 449, 469; HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 78; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 279; im Ergebnis ebenso Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 94 ff.; Pape, WM 2013, 1145, 1149 geht bezüglich der Wirksamkeit der Verträge von einer ex nunc Wirkung aus, will aber rückwirkend den Neuerwerb und die noch nicht erfüllten Verbindlichkeiten zugunsten und zulasten der Masse gelten lassen.
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F. Gläubigerwiderspruch und die Wirkung auf das Arbeitsverhältnis
501 Zum anderen ließe sich auch eine ex nunc Wirkung annehmen. Das in der Zwischenzeit erwirtschaftete Vermögen und die begründeten Ansprüche würden nur zugunsten und zulasten des Schuldners gehen.882) Eine Rückabwicklung fände nicht statt. Die einzige Rechtsfolge des Widerspruchs bestünde darin, dass ab dem Zeitpunkt des Widerspruchs das Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit wieder zur Insolvenzmasse gehören würde und Ansprüche aus dieser Tätigkeit wieder gegen die Insolvenzmasse geltend gemacht werden könnten.883)
502 Die Antwort auf diese Frage hat daneben erhebliche Auswirkungen auf die ursprünglich durch die Freigabe auf den Schuldner zurückgefallenen Arbeitsverhältnisse. Bei einer ex nunc Wirkung bestünden die zwischen der erklärten Freigabe und dem Widerspruch begründeten Ansprüche gegen den Schuldner fort. In diesem Zusammenhang vom Schuldner erklärte Gestaltungserklärungen blieben wirksam. Bei Annahme einer ex tunc Wirkung müssten die ausgetauschten Leistungen rückabgewickelt werden, Gestaltungserklärungen des Schuldners wären rückwirkend unwirksam.
503 Der Wortlaut von § 35 Abs. 2 S. 3 InsO lässt insoweit keine ausdrückliche Regelung erkennen. Der gewählte Begriff der „Unwirksamkeit“ in Bezug auf die Erklärung spricht für eine Unwirksamkeit der Erklärung von Anfang an.884) Lüdtke und Pape halten es für ungerechtfertigt, dass der Schuldner bei einer nur auf die Zukunft gerichteten Erklärung den zwischenzeitlich erwirtschafteten Neuerwerb behalten darf.885) Die Einwände überzeugen jedoch nicht. § 35 Abs. 2 InsO geht unter anderem mit einer klaren Abgrenzung der Insolvenzmasse von der selbständigen Tätigkeit des Schuldners einher.886) Den Gläubigern ist daran gelegen, Rechtssicherheit bezüglich der ihnen zur Verfügung stehenden Haftungsmasse zu haben. Würde ___________ 882) AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905, 908; BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 622; Heinze, ZVI 2007, 349, 357; Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 698; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1105; Smid, DZWIR 2008, 133, 142; Ahrens, KSzW 2012, 303, 309; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 701; Ahrens, NZI 2015, 624, 624 f.; Kayser, ZIP 2015, 1083, 1084 f.; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 830; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47m; Graf-Schlicker-Graf-Schlicker/Kexel, § 35 Rn. 31; Ahrens/Gehrlein/RingstmeierAhrens, § 35 Rn. 182 f.; Uhlenbruck-Hirte, § 35 Rn. 103; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 64; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 58; Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 119; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 200 ff.; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 103 f. 883) AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905, 908; BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 622; Heinze, ZVI 2007, 349, 357; Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 698; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1105; Smid, DZWIR 2008, 133, 142; Ahrens, KSzW 2012, 303, 309; Lindemann, ZInsO 2014, 695, 701; Ahrens, NZI 2015, 624, 624 f.; Kayser, ZIP 2015, 1083, 1084 f.; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 830. 884) HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 279. 885) Pape, WM 2013, 1145, 1149; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 279. 886) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 412; Urt. v. 22.5.2014 – IX ZR 136/13, NZI 2014, 614, 616; BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 622.
166
I. Ausübung des Widerspruchs durch die Gläubiger
die Erklärung jedoch zurückwirken, wäre der Neuerwerb wieder mit der Insolvenzmasse vermengt und dadurch das geschützte Vertrauen auf den Neuerwerb als Haftungsmasse entwertet.887) Zudem würden mit einer Rückwirkung auch die zwischenzeitlich vom Schuldner 504 begründeten Verbindlichkeiten gegen die Masse wirken, ohne dass die Tätigkeit vom Insolvenzverwalter überwacht worden wäre.888) Systematisch fehlt es hierfür aber an einem Verwalterhandeln, dass eine Begründung von Masseverbindlichkeiten rechtfertigt.889) Der Verwalter hat die Verbindlichkeiten weder selbst herbeigeführt, noch hat er pflichtwidrig eine Freigabeerklärung unterlassen.890) Zwar ließe sich der Befürchtung, dass die Insolvenzmasse einer unkontrollierten Belastung ausgesetzt wird, entgegenhalten, dass ein Widerspruch wohl nur bei zu erwartenden Vorteilen für die Masse ausgeübt würde.891) Ausgeräumt werden damit aber nicht die Bedenken bezüglich der erheblichen Rückabwicklungsschwierigkeiten, die daraus entstehen, dass der Schuldner Erfüllungshandlungen vornimmt, gegebenenfalls alte Verträge beendet und neue Verträge abschließt.892)
2.
Durchgreifende arbeitsrechtliche Bedenken gegen eine ex tunc Wirkung
Rückabwicklungsprobleme ergeben sich in erhöhtem Maße für Dauerschuldver- 505 hältnisse und insbesondere für Arbeitsverhältnisse. Die Arbeitnehmer haben ihre Arbeitsleistung für den Schuldner und nicht für die Insolvenzmasse erbracht. Im Gegenzug wurden eventuell ihre Lohnforderungen aus dem Neuerwerb befriedigt. Bei einer ex tunc Unwirksamkeit der Freigabeerklärung hätten sie weder einen Anspruch auf Befriedigung aus dem Neuerwerb gehabt, noch wäre der Schuldner Dienstberechtigter gewesen. Dass eine Rückwirkung für in Vollzug gesetzte Arbeitsverhältnisse nicht gewollt ist, zeigt bereits das Institut des faktischen Arbeitsverhältnisses, dass bei einer anfänglichen Unwirksamkeit des Arbeitsvertrags eine ___________ 887) BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 622; Ahrens, NZI 2015, 624, 624; Kayser, ZIP 2015, 1083, 1085; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 830. 888) So Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Ahrens, § 35 Rn. 183. 889) Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 119. 890) A. A. Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 94 ff., der nach einem Gläubigerwiderspruch gegen die Negativerklärung eine Verpflichtung des Insolvenzverwalters zur Abgabe einer rückwirkenden Positiverklärung annimmt. Die Ansicht widerspricht jedoch der h. M., die bereits dem Beschluss des Insolvenzgerichts gestaltende Wirkung beimisst, ohne dass es einer Erklärung des Insolvenzverwalters bedarf, da diese ohnehin rein deklaratorisch wäre. Siehe dazu MüKoInsOPeters, § 35 Rn. 47m; Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier-Ahrens, § 35 Rn. 182. 891) So HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 279. 892) BSG, Urt. v. 10.12.2014 – B 6 KA 45/13 R, NZI 2015, 620, 622; Heinze, ZVI 2007, 349, 357; Kayser, ZIP 2015, 1083, 1085; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 830; K. Schmidt-Büteröwe, § 35 Rn. 58; Nerlich/Römermann-Andres, § 35 Rn. 119; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 103.
167
F. Gläubigerwiderspruch und die Wirkung auf das Arbeitsverhältnis
unbillige Rückabwicklung der ausgetauschten Leistungen, etwa nach Bereicherungsrecht, verhindern soll.893)
506 Gleiches gilt für zwischenzeitlich erfolgte Gestaltungserklärungen. Kündigt der Schuldner unter der Prämisse einer Freigabe seiner selbständigen Tätigkeit ein Arbeitsverhältnis und wird die Freigabeerklärung später für unwirksam befunden, wäre der Schuldner mangels Inhaberschaft der Arbeitgeberfunktion rückwirkend nicht zur Kündigung berechtigt. Dabei besteht insbesondere bei Gestaltungserklärungen ein hohes Bedürfnis an Rechtsicherheit, damit der Erklärungsempfänger Gewissheit über seine Rechtsstellung hat.894) Könnte die Freigabe rückwirkend beseitigt werden, wären alle Rechtshandlungen des Schuldners in Bezug auf das Arbeitsverhältnis faktisch für den Fall auflösend bedingt, dass die Gläubiger den Widerspruch aus § 35 Abs. 2 S. 3 InsO erklären. Die damit einhergehende Rechtsunsicherheit ist aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes nicht hinnehmbar.
507 Smid argumentiert zwar, dass mit § 613a Abs. 6 BGB auch dem Arbeitsrecht ein Unsicherheitsfaktor bezüglich der Zugehörigkeit des Arbeitsverhältnisses nicht fremd ist.895) Daneben versucht auch Ries, § 613a Abs. 6 BGB als Beispiel für einen rückwirkenden Übergang von Vertragsverhältnissen systematisch fruchtbar zu machen.896) Auf den ersten Blick liegt hier ein Vergleich nahe, da § 613a BGB auch im Rahmen der Negativerklärung gilt.897) Bei genauerer Betrachtung überzeugt der Vergleich aber nicht. Zwar ist in beiden Fällen unsicher, welchem Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis zuzuordnen ist. Dennoch lässt sich § 613a Abs. 6 BGB hier nicht argumentativ fruchtbar machen, da die Unsicherheit nur zulasten des Betriebserwerbers und des Betriebsveräußerers geht. Der Arbeitnehmer ist nicht in gleichem Maße betroffen. Nur er kann den Widerspruch ausüben und damit einen Arbeitgeberwechsel herbeiführen. Bei einem Widerspruch nach § 35 Abs. 2 S. 3 InsO würden aber Dritte, nämlich die Gläubiger, über die Zugehörigkeit des Arbeitsverhältnisses entscheiden. Eine dadurch zulasten der Arbeitnehmer entstehende Rechtsunsicherheit ist nicht hinnehmbar. Sie widerspricht auch einer vergleichenden Betrachtung mit § 613a Abs. 6 BGB.
508 Zudem würde, wie bereits im Rahmen von § 613a Abs. 6 BGB erläutert, eine ex tunc Wirkung des Widerspruchs zu einer unzulässigen Bezuschussung der selbständigen Tätigkeit führen. Bei einem rückwirkenden Widerspruch gilt das Arbeitsverhältnis ___________ 893) Heinze, ZVI 2007, 349, 357. Gleiches gilt für das Institut der fehlerhaften Gesellschaft, auf das Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 830 zutreffend eingeht. Zum fehlerhaften Arbeitsverhältnis im Allgemeinen siehe statt aller ErfK-Preis, BGB § 611a Rn. 145 ff. 894) BAG, Urt. v. 21.3.2013 – 6 AZR 618/11, NZA-RR 2013, 609, 610; Staudinger-Oetker, Vorbem. §§ 620 ff. Rn. 129; ErfK-Müller-Glöge, BGB § 620 Rn. 22. 895) Smid, DZWIR 2008, 133, 142. 896) HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 77. 897) Siehe dazu bereits Rn. 348 ff.
168
I. Ausübung des Widerspruchs durch die Gläubiger
als nie auf den Schuldner übergegangen. Im Zeitraum zwischen der Freigabeerklärung und dem Gläubigerwiderspruch kann der Schuldner die Arbeitsleistung in Anspruch nehmen, während sich die Arbeitnehmer nach erfolgtem Widerspruch in Bezug auf eine eventuell noch ausstehende Vergütung an die Insolvenzmasse halten können. Durch eine ex tunc Wirkung des Widerspruchs droht damit eine Belastung der Insolvenzmasse, ohne dass diese mit einer Gegenleistung in Form der angebotenen Arbeitsleistung einhergeht. Vielmehr bezuschusst die Insolvenzmasse dann die selbständige Tätigkeit des Schuldners. Hinzu kommt, dass die Insolvenzmasse mit Arbeitnehmerforderungen in Form von Masseverbindlichkeiten über den vom Gesetzgeber in § 113 S. 2 InsO für angemessen erachteten Höchstzeitraum von drei Monaten hinaus belastet wird. Aus diesem Grund ist § 613a Abs. 6 BGB für den Fall des § 35 Abs. 2 InsO, wie hier vorgeschlagen, freigabespezifisch auszulegen.898) Ein systematischer Vergleich zu § 613a Abs. 6 BGB zugunsten einer ex tunc Wirkung von § 35 Abs. 2 S. 3 InsO ist somit nicht angebracht. Näherliegend ist eine Betrachtung im System des § 34 Abs. 3 S. 3 InsO oder des 509 § 164 InsO.899) Beiden Vorschriften liegt der Gedanke zugrunde, dass die Handlungen des Insolvenzverwalters zum Schutz des Rechtsverkehrs nicht durch eine Entscheidung Dritter rückwirkend beseitigt werden sollen.900) Insbesondere ein Vergleich zu den in § 160 Abs. 2 InsO als zustimmungspflichtig angesehenen, besonders bedeutsamen Rechtshandlungen, für die der Insolvenzverwalter grundsätzlich sogar die vorherige Zustimmung der Gläubiger einholen muss, zeigt, dass auch hier lediglich eine ex nunc Unwirksamkeit nach § 164 InsO im Raum steht.901) Im Ergebnis überzeugt sowohl aus arbeitsrechtlichen als auch aus insolvenzrechtlichen 510 Gesichtspunkten nur die Annahme einer ex nunc Wirkung des Widerspruchs.
3.
Fehlende Arbeitnehmerinformation
Die fehlende Information der Arbeitnehmer verursacht weitere Probleme. Ordnet 511 das Insolvenzgericht die Unwirksamkeit der Freigabeerklärung an, fällt die Arbeitgeberfunktion zurück an den Insolvenzverwalter. Er ist fortan unter anderem wieder zum Ausspruch von Kündigungen berechtigt und in einem Kündigungsschutz___________ 898) Siehe hierzu ausführlich Rn. 464 ff. 899) Zu § 34 Abs. 3 S. 3: AG Duisburg, Beschl. v. 22.4.2010 – 60 IN 26/09, NZI 2010, 905, 908; Haarmeyer, ZInsO 2007, 696, 698 (Fn. 21); Pape, WM 2013, 1145, 1149; Kayser, ZIP 2015, 1083, 1085; Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 830; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47m; Ahrens/Gehrlein/ Ringstmeier-Ahrens, § 35 Rn. 183; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 103 f.; a. A. HeidelbKInsO-Ries, § 35 Rn. 84, der § 34 Abs. 3 S. 3 InsO als Grund dafür ansieht, dass die vom Schuldner eingegangenen Verbindlichkeiten auch gegenüber der Insolvenzmasse gelten. Zu § 164 InsO: Smid, DZWIR 2008, 133, 142; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 201. 900) FK-InsO-Schmerbach, § 34 Rn. 3 u. Rn. 64; HeidelbKInsO-Ries, § 164 Rn. 1. 901) Smid, DZWIR 2008, 133, 142; Bai, Die Freigabe im Insolvenzverfahren, S. 201.
169
F. Gläubigerwiderspruch und die Wirkung auf das Arbeitsverhältnis
prozess passivlegitimiert. Eine Informationspflicht zum Schutz der Gläubiger ergibt sich einzig aus § 35 Abs. 3 S. 2 InsO, wonach das Insolvenzgericht den Beschluss über die Unwirksamkeit der Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters öffentlich bekannt zu machen hat. Die diesbezügliche öffentliche Bekanntmachung läuft im Gleichschritt mit der öffentlichen Bekanntmachung der Freigabeerklärung selbst.
512 Dass der Wechsel der Arbeitgeberfunktion ohne hinreichende Information mit zahlreichen Risiken für den Arbeitnehmer einhergeht, wurde bereits ausführlich hergeleitet.902) Erklärt das Insolvenzgericht die Freigabe für unwirksam, ergeben sich die gleichen Probleme, wie bei einem Übergang der Arbeitsverhältnisse durch die Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO. Im Unterschied zum ursprünglichen Übergang des Arbeitsverhältnisses durch die Freigabe ist § 613a BGB und mit ihm die „rettende“ Informationspflicht aus Abs. 5 hier jedoch nicht anwendbar, da die Unwirksamkeitserklärung des Insolvenzgerichts unzweifelhaft kein Rechtsgeschäft ist.
513 Letztlich kann bei einem Rückfall der Arbeitgeberfunktion nach einem Gläubigerwiderspruch aber nichts anderes gelten, als bei einem Wechsel der Arbeitgeberfunktion aufgrund der ursprünglichen Negativerklärung. Die Informationspflicht aus § 613a Abs. 5 BGB ist analog heranzuziehen. Die Unwirksamkeitserklärung ist der actus contrarius zur Freigabeerklärung des Insolvenzverwalters.903) Sie beseitigt mit Wirkung für die Zukunft die Rechtsfolgen der Erklärung und führt auch zu einem Rückfall der Arbeitgeberfunktion. Die Interessenlage auf Seiten der Arbeitnehmer ist dementsprechend die gleiche. Zur Wahrung ihrer Rechte sind sie auf eine lückenlose Aufklärung über den Inhaber der sie betreffenden Arbeitgeberfunktion angewiesen. Dieses erforderliche Maß an Information kann nicht hinreichend durch die allgemeine Pflicht zur öffentlichen Bekanntmachung erreicht werden. Es kann nicht erwartet werden, dass Arbeitnehmer regelmäßig Einsicht in die Insolvenzbekanntmachungen nehmen, um sich über die Zugehörigkeit ihres Arbeitsverhältnisses und damit über den Schuldner ihres Arbeitslohns zu informieren.904)
514 Mangels einer anderweitig ersichtlichen Arbeitnehmerinformationspflicht aus § 35 Abs. 3 InsO ist auch bei einem Rückfall der Arbeitgeberfunktion auf den Insolvenzverwalter nach der Anordnung der Unwirksamkeit der Freigabeerklärung durch das Insolvenzgericht eine Information des Arbeitnehmers entsprechend § 613a Abs. 5 BGB zu verlangen.
___________ 902) Siehe dazu bereits unter Rn. 448 ff. 903) So auch Gehrlein, ZInsO 2016, 825, 830. 904) Vgl. zur ursprünglichen Informationspflicht beim Übergang der Arbeitgeberfunktion durch die Freigabe Andres, NZI 2012, 413, 413 und bereits oben unter Rn. 449 ff.
170
II. Zwischenergebnis für die Wirkung des Gläubigerwiderspruchs auf Arbeitsverhältnisse
II.
Zwischenergebnis für die Wirkung des Gläubigerwiderspruchs auf Arbeitsverhältnisse
Aufgrund der erheblichen Rückabwicklungsprobleme muss die nach § 35 Abs. 2 515 S. 3 InsO mögliche Unwirksamkeitserklärung ex nunc wirken. Insbesondere aus arbeitsrechtlicher Perspektive überzeugt eine ex tunc Wirkung nicht. Die damit einhergehende Unsicherheit im Bezug auf Gestaltungserklärungen kann nicht hingenommen werden. Aber auch insolvenzrechtlich ergeben sich Bedenken an einer ex tunc Unwirksamkeit, da diese zu einer kompensationslosen und unbeschränkten Belastung der Masse mit Arbeitnehmerforderungen führt. Keine Aussage trifft § 35 Abs. 2 InsO dazu, ob und wie die Arbeitnehmer über die 516 Unwirksamkeitserklärung und deren Rechtsfolge zu informieren sind. Diese erhebliche Schutzlücke ist durch eine entsprechende Anwendung von § 613a Abs. 5 BGB zu schließen.
171
G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld Mit dem Zweitinsolvenzverfahren über das Vermögen aus der freigegebenen selb- 517 ständigen Tätigkeit gehen zahlreiche Probleme einher. Von arbeitsrechtlicher Relevanz und damit von Interesse für das Thema dieser Arbeit ist zum einen, ob ein Zweitinsolvenzverfahren über das freigegebene Unternehmen überhaupt möglich ist und zum anderen, ob im Rahmen dieses Zweitinsolvenzverfahrens erneut ein Anspruch der Arbeitnehmer auf Insolvenzgeld besteht. Nur auf diese beiden Aspekte soll im Folgenden eingegangen werden.905)
I.
Möglichkeit eines Zweitinsolvenzverfahrens
Aufgrund einer negativen Prognose des Insolvenzverwalters ist es wahrscheinlich, 518 dass der Schuldner mit seiner nach der Freigabe fortgeführten selbständigen Tätigkeit erneut in wirtschaftliche Probleme gerät.906) Ehlers zeigt, dass diese These durch die Gerichtspraxis bestätigt wird.907) Zahlreichen Urteilen, die sich mit § 35 Abs. 2 InsO befassen, liegt ein Zweitinsolvenzverfahren über das nach § 35 Abs. 2 InsO freigegebene Unternehmen des Schuldners zugrunde.908) Nach anfänglichen Zweifeln, die dadurch begründet waren, dass der BGH einen 519 Insolvenzantrag über den Neuerwerb des Schuldners vor Einführung des § 35 Abs. 2 InsO für unzulässig hielt909), geht die mittlerweile herrschenden Meinung davon aus, dass auch das freigegebene Vermögen insolvenzfähig ist.910) An der Möglichkeit eines Zweitinsolvenzverfahren ließe sich zweifeln, wenn man 520 den allgemeinen Grundsatz „eine Person, ein Vermögen, eine Insolvenz“ streng an___________ 905) Eine ausführliche Darstellung der darüber hinausgehenden, mit dem Zweitverfahren verbundenen Rechtsfragen findet man bei Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 143 ff. 906) Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 269; Schmerbach, VIA 2015, 81, 81; Ahrens, NZI 2017, 862, 865; Rein, NZI 2018, 308, 309. 907) Ehlers, ZInsO 2014, 53, 55. 908) Siehe etwa BGH, Beschl. v. 18.12.2014 – IX ZB 22/13, NZI 2015, 289, 289 f.; LG Hamburg, Beschl. v. 29.6.2016 – 326 T 76/16, NZI 2016, 772, 772 f.; BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2183 ff.; Urt. v. 23.5.2017 – B 12 AL 1/15 R, ZInsO 2017, 1890, 1890 ff.; AG Göttingen, Beschl. v. 27.5.2016 – 74 IN 93/16, NZI 2016, 849, 849. 909) Pape, NZI 2007, 481, 482 unter Verweis auf BGH, Beschl. v. 18.5.2004 – IX ZB 189/03, NZI 2004, 444, 444; ebenso LG Dresden, Beschl. v. 14.3.2011 – 5 T 74/11, NZI 2011, 291, 291 f. 910) BGH, Beschl. v. 9.6.2011 – IX ZB 175/10, NZI 2011, 633, 633 f.; Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 412; Beschl. v. 18.12.2014 – IX ZB 22/13, NZI 2015, 289, 289 ff.; Holzer, ZVI 2007, 289, 292 f.; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1106; Undritz, FS Runkel, 449, 470; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 269 f.; MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 47h; UhlenbruckHirte, § 35 Rn. 107; FK-InsO-Bornemann, § 35 Rn. 60; Kübler/Prütting/Bork-Holzer, § 35 Rn. 116b; HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 270; K. Schmidt-K. Schmidt, § 11 Rn. 27; K. SchmidtBüteröwe, § 35 Rn. 45; Kühne, Die Insolvenz des selbständig tätigen Schuldners, S. 136 ff. Kritisch Zipperer, ZVI 2007, 541, 542 f.
173
G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld
wendet.911) Der Grundsatz beinhaltet, dass über das gesamte Vermögen einer Person das Insolvenzverfahren eröffnet wird, sodass bei einer selbständig tätigen Person sowohl dessen Handelsvermögen als auch dessen Privatvermögen umfasst ist.912) Seitdem nach § 35 Abs. 1 InsO auch der Neuerwerb von der Insolvenzmasse vereinnahmt wird, besteht in der Regel kein weiteres pfändbares Vermögen neben der Insolvenzmasse.913) Solange ein Insolvenzverfahren läuft, haben Neugläubiger mangels pfändbarem Vermögen kein rechtlich geschütztes Interesse an der Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens.914) Dementsprechend kann grundsätzlich in Bezug auf eine Person nur ein Insolvenzverfahren eröffnet sein.
521 Ließe man die Eröffnung eines Zweitinsolvenzverfahren über die freigegebene selbständige Tätigkeit zu, käme es zu zwei Insolvenzen in Bezug auf zwei Vermögensmassen einer einzelnen Person. Das würde den Grundsatz „eine Person, ein Vermögen, ein Insolvenzverfahren“ unterlaufen. Das LG Dresden hielt dementsprechend auch im Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ein Zweitinsolvenzverfahren für unzulässig.915)
522 Dem kann jedoch nicht gefolgt werden. Durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit wird zumindest der Neuerwerb von seiner antizipierten Bindung an die Insolvenzmasse befreit.916) Es entsteht eine neue, unabhängige Vermögensmasse, die nicht mehr an das laufende Insolvenzverfahren gebunden ist. Es besteht insoweit auch pfändbares Vermögen, sodass ein Interesse an der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch die Neugläubiger durchaus gegeben ist.917) Andernfalls müssten die Neugläubiger sich auf das Prioritätsprinzip der ZPO verweisen lassen, wie Berger überzeugend einwendet.918) Das ist nicht gewollt.
523 In engen Grenzen kennt auch die Insolvenzordnung Ausnahmen von dem Grundsatz „eine Person, ein Vermögen, ein Insolvenzverfahren“. So kann nach § 11 Abs. 2 Nr. 2 InsO über ein Sondervermögen die Insolvenz eröffnet werden, bei dem ausschließlich das Sondervermögen den Schuldnern als Haftungsmasse zur Verfügung steht.919) Einige Autoren sprechen sich dafür aus, § 11 Abs. 2 Nr. 2 InsO ent___________ 911) 912) 913) 914) 915) 916) 917) 918)
Siehe dazu MüKoInsO-Peters, § 35 Rn. 72; Jaeger-Henckel, § 35 Rn. 131. Jaeger-Henckel, § 35 Rn. 131. Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 143. BGH, Beschl. v. 18.5.2004 – IX ZB 189/03, NZI 2004, 444, 444. LG Dresden, Beschl. v. 14.3.2011 – 5 T 74/11, NZI 2011, 291, 291. Statt aller HmbKInsO-M. Lüdtke, § 35 Rn. 268. Holzer, ZVI 2007, 289, 292 f. Berger, ZInsO 2008, 1101, 1106. Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 270 geht davon aus, dass die Ansprüche dann erneut im Rahmen des ersten Insolvenzverfahrens geltend gemacht werden könnten. Diese Schlussfolgerung überzeugt nicht, da mangels Zutun des Insolvenzverwalters keine Forderungen zulasten der Erstinsolvenzmasse gebildet werden. 919) BGH, Beschl. v. 9.6.2011 – IX ZB 175/10, NZI 2011, 633, 634; K. Schmidt-K. Schmidt, § 11 Rn. 25 ff.; Nerlich/Römermann-Mönning, § 11 Rn. 95.
174
II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren
sprechend auf das freigegebene Vermögen der selbständigen Tätigkeit anzuwenden.920) Parallelen ergeben sich durchaus, da den Neugläubigern auch weitestgehend nur der Neuerwerb des Schuldners aus der freigegebenen selbständigen Tätigkeit und damit nur ein begrenztes Sondervermögen anstelle des gesamten Vermögens des Schuldners als Haftungsmasse zur Verfügung steht. Der Vergleich überzeugt jedoch nicht. Bei der Insolvenz eines Sondervermögens 524 nach § 11 Abs. 2 Nr. 2 InsO ist Bezugspunkt des Insolvenzverfahrens nur das abgrenzbare Vermögen.921) Eines konkreten Schuldnerbezugs bedarf es nicht. Bei der Zweitinsolvenz über die selbständige Tätigkeit ist zwar die Haftungsmasse auf das der selbständigen Tätigkeit gewidmete Vermögen und den Neuerwerb beschränkt, Bezugsobjekt des Insolvenzverfahrens bleibt aber nach wie vor der Schuldner.922) Unabhängig davon ist der Erkenntnisgewinn durch die Annahme eines Sondervermögens nach § 11 Abs. 2 Nr. 2 InsO nur gering. So werden die eigentlichen Rechtsfolgen erst durch die §§ 315 ff. InsO statuiert, sodass § 11 Abs. 2 Nr. 2 InsO im Ergebnis nur eine Verweisungsfunktion zukommt.923) Die Vorschriften etwa zum Nachlassinsolvenzverfahren (§§ 315 ff. InsO) sind dabei allenfalls begrenzt übertragbar und helfen nicht, die offenen Fragen einer Zweitinsolvenz zu klären.924) Die Möglichkeit eines Zweitverfahrens ergibt sich demnach alleine daraus, dass 525 eine vom Erstverfahren unabhängige Vermögensmasse entsteht. Auf Seiten der Neugläubiger, die sich nach der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO nicht mehr an die ursprüngliche Erstinsolvenzmasse halten können, besteht ein rechtlich geschütztes Interesse an der geordneten Befriedigung ihrer Ansprüche im Rahmen eines Zweitinsolvenzverfahrens nach den allgemeinen Vorschriften.925)
II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren Nach § 165 SGB III haben Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen einen 526 Anspruch auf Zahlung von Insolvenzgeld gegen die Bundesagentur für Arbeit. Mit Blick auf die Zweitinsolvenz des freigegebenen Vermögens aus der selbständigen Tätigkeit drängt sich die Frage auf, ob im Rahmen des Zweitverfahrens erneut ein Anspruch des Arbeitnehmers auf Insolvenzgeld entstehen kann.
___________ 920) AG Hamburg, Beschl. v. 18.6.2008 – 67g IN 37/08, ZIP 2009, 384, 385; Undritz, FS Runkel, 449, 470; K. Schmidt-K. Schmidt, § 11 Rn. 27. 921) Jaeger-Ehricke, § 11 Rn. 4; Uhlenbruck-Hirte, § 11 Rn. 4; K. Schmidt-K. Schmidt, § 11 Rn. 5. 922) So Berger, ZInsO 2008, 1101, 1106. 923) Uhlenbruck-Hirte, § 11 Rn. 418. 924) Zu den offenen Fragen weitergehend bei Wischemeyer, ZInsO 2009, 2121, 2129 f.; Gotter, Selbstständige Tätigkeit, S. 143 ff. 925) Holzer, ZVI 2007, 289, 292 f.; Berger, ZInsO 2008, 1101, 1106.
175
G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld
1.
Grundlagen des Insolvenzgeldanspruchs
527 Erhält der Arbeitnehmer im Zeitraum von drei Monaten vor einem der in § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB III definierten Insolvenzereignisse nicht sein volles Arbeitsentgelt, kann er sich mit einem Insolvenzgeldanspruch an die Bundesagentur für Arbeit wenden. Als Insolvenzereignisse werden in § 165 Abs. 1 S. 2 SGB III die Eröffnung des Insolvenzverfahrens (Nr. 1), die Abweisung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse (Nr. 2) und die vollständige Einstellung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn nicht parallel Nr. 1 und Nr. 2 vorliegen (Nr. 3), genannt. Das BSG nimmt mit der Literatur an, dass bei mehreren Insolvenzereignissen immer nur das zeitlich erste der relevante Anknüpfungspunkt für § 165 Abs. 1 S. 2 InsO ist.926) Dieses Ereignis „sperrt“ das Hinzukommen anderer Insolvenzereignisse, die den Zeitpunkt des Anspruchs auf Insolvenzgeld weiter nach hinten verschieben oder sogar komplett neu aufleben lassen würden.927) Erst wenn der Schuldner seine Zahlungsfähigkeit wiedererlangt hat, entsteht erneut ein Anspruch auf Insolvenzgeld.928) Für die Annahme, dass der Schuldner wieder zahlungsfähig ist, reicht die bloße Fortführung des Betriebs und die Erfüllung von laufenden Kosten alleine nicht aus. Vielmehr muss der Schuldner in der Lage sein, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen.929) Dementsprechend kann erst nach zwischenzeitlich wiedererlangter Zahlungsfähigkeit des Schuldners ein erneuter Anspruch auf Insolvenzgeld begründet werden.
528 Nach § 165 Abs. 3 SGB III ist der Arbeitnehmer auch im Fall der Unkenntnis über das Vorliegen eines Insolvenzereignisses geschützt. Erlangt er erst später Kenntnis von dem Insolvenzereignis, bezieht sich der Anspruch auf die drei Monate, die dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme vorangegangen sind.930)
529 § 165 SGB III soll die Schutzlücke schließen, die dadurch entsteht, dass der Arbeitnehmer nach § 614 BGB grundsätzlich vorleistungspflichtig und daher mit dem Zahlungsausfallrisiko belastet ist.931) Er kann sich zudem in der Regel nicht gegen die Zahlungsunfähigkeit seines Arbeitgebers absichern, indem er etwa Sicherheiten ___________ 926) BSG, Urt. v. 21.11.2002 – B 11 AL 35/02 R, NZI 2003, 337, 337 ff.; Urt. v. 6.12.2012 – B 11 AL 11/11 R, NZI 2013, 454, 454 ff.; Urt. v. 17.3.2015 – B 11 AL 9/14 R, NZI 2015, 720, 720 ff.; LSG NRW, Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 748 ff.; Banafsche, et al.P.-B. Lüdtke, § 165 Rn. 34; Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann-Mutschler, SGB III § 165 Rn. 24; Mutschler/Schmidt-de Caluwe/Coseriu-Anette Schmidt, § 165 Rn. 30; Gagel-PetersLange, SGB III § 165 Rn. 52; Schaub-U. Koch, § 94 Rn. 5; Rein, NJW-Spezial 2017, 661, 661. 927) Beck/Depré-H.-D. Braun/Mühlbayer, § 29 Rn. 28. 928) Statt aller Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 52. 929) Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 52; Jahn-Kossens, SGB III § 165 Rn. 12. 930) Brand-Kühl, § 165 Rn. 74. 931) Zur Vorgängervorschrift des § 141b AFG BT-Drucks. 7/1750, S. 11; zur aktuellen Rechtslage BeckOKSozR-Plössner, SGB III § 165 Rn. 2.
176
II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren
bestellt.932) Ein Nebeneffekt des § 165 SGB III ist ferner, dass der Arbeitnehmer trotz fehlender Lohnzahlung länger zur Erbringung seiner Arbeitsleistung bereit sein wird und durch eine dadurch ermöglichte Betriebsfortführung der Eintritt der Insolvenz abgewendet oder herausgezögert werden kann.933)
2.
Anspruch auf Insolvenzgeld im Zweitinsolvenzverfahren
Ob der Anspruch auf Insolvenzgeld auch im Zeitinsolvenzverfahren über das freige- 530 gebene Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit besteht, ist zweifelhaft.934) Das BSG musste sich in zwei Entscheidungen mit der Frage auseinandersetzen, ob im Fall der Zweitinsolvenz der freigegebenen selbständigen Tätigkeit erneut ein Insolvenzgeldanspruch der mit der Freigabe übergegangenen Arbeitnehmer besteht.935) Als Vorinstanz zu den beiden Entscheidungen äußerte sich das LSG NRW zur Frage 531 des Anspruchs auf Insolvenzgeld im Zweitinsolvenzverfahren.936) Die Entscheidungen sind aufgrund der umfassenden Erwägungen in den Entscheidungsgründen trotz höchstrichterlicher Bestätigung durch das BSG weiterhin von Relevanz. Insbesondere sind die vom LSG NRW vorgenommenen Vergleiche zu anderen Formen der wirtschaftlichen Betätigung des Schuldners nach Abschluss des Insolvenzverfahrens beachtenswert.
a) LSG NRW: Kein Unterschied zu jeder anderen Fortführung nach erstmaligem Insolvenzereignis Das LSG NRW stellt die Betriebsfortführung nach erfolgter Freigabe nach § 35 532 Abs. 2 InsO mit jeder anderen Betriebsfortführung trotz erstmaligen Insolvenzereignisses gleich. Dabei zieht das Gericht die Betriebsfortführung durch den Insolvenzverwalter im Rahmen des Insolvenzverfahrens sowie durch den Schuldner, nachdem die Insolvenzeröffnung mangels Masse abgelehnt wurde, als Vergleichsmaßstab heran.937) In beiden Fällen nehme die höchstrichterliche Rechtsprechung ___________ 932) BSG, Urt. v. 28.6.1983 – 10 RAr 26/81, ZIP 1983, 1224, 1227; BeckOKSozR-Plössner, SGB III § 165 Rn. 2; Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 7. 933) BSG, Urt. v. 28.6.1983 – 10 RAr 26/81, ZIP 1983, 1224, 1227; Banafsche, et al.-Schön, § 165 Rn. 6; Mutschler/Schmidt-de Caluwe/Coseriu-Anette Schmidt, § 165 Rn. 3; BeckOKSozRPlössner, SGB III § 165 Rn. 3; Kremer/Fahlbusch, ZInsO 2015, 837, 837 ff. 934) BSG, Urt. v. 23.5.2017 – B 12 AL 1/15 R, ZInsO 2017, 1890, 1980 ff.; Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2183 ff.; Hergenröder, DZWIR 2013, 251, 271 f.; Müller, NZI 2015, 764, 764 f.; Cranshaw, jurisPR-InsR 25/2017, Anm. 1. 935) BSG, Urt. v. 23.5.2017 – B 12 AL 1/15 R, ZInsO 2017, 1890, 1980 ff.; Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2183 ff. 936) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 760 ff.; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 747 ff. 937) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 763; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 749 f.; beide Male unter Verweis auf BSG, Urt. v. 17.12.1975 – 7 RAr 17/75, BSGE 41, 121, 123 f.
177
G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld
an, dass kein neuer Anspruch auf Insolvenzgeld entstehe, wenn der Insolvenzverwalter später den Betrieb einstelle oder nach der Ablehnung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse ein weiteres Insolvenzereignis im Sinne des § 165 Abs. 1 S. 2 SGB III hinzukomme.938) Gleiches müsse auch für ein nach § 35 Abs. 2 InsO fortgeführtes Unternehmen gelten. Entscheidend für einen Anspruch auf Insolvenzgeld sei alleine das ursprüngliche Insolvenzereignis und ob dieses nach wie vor fortbestehe. Habe sich der Sachverhalt nach Eintritt des Insolvenzereignisses nicht grundlegend geändert, liege beim zweiten Insolvenzereignis der gleiche Leistungsfall vor, sodass kein neuer Anspruch auf Insolvenzgeld begründet werde.939) Dafür spreche, dass grundsätzlich der Arbeitnehmer das Insolvenzrisiko seines Vertragspartners zu tragen habe und der aus sozialpolitischen Gründen bestehende Anspruch auf Insolvenzgeld nicht zu weit verstanden werden dürfe, um die die Versicherung finanzierenden Unternehmer nicht über Gebühr zu belasten.940)
533 Auch bei einer Fortführung des Unternehmens nach erklärter Freigabe liege eine Fortführung der Tätigkeit trotz Vorliegen eines erstmaligen Insolvenzgrundes vor. Der Gesetzgeber und das BSG hätten erkannt, dass eine solche Fortführung obwohl ein Insolvenzereignis vorliegt, möglich sei und sich dazu entschieden, keinen weiteren Anspruch auf Insolvenzgeld bei Eintritt eines weiteren, sich aus der Fortführung ergebenden Insolvenzereignisses zu gewähren.941)
534 Die Arbeitnehmer seien zudem auch nicht schutzwürdig. Ein Schutz der Arbeitnehmer durch Insolvenzgeld sei nicht mehr erforderlich, wenn sie erkennen könnten, dass ein weiteres Abwarten die wirtschaftliche Situation nicht verbessere. Das sei bereits ab dem ersten Insolvenzereignis der Fall, wenn nicht zwischenzeitlich die Zahlungsfähigkeit wiedererlangt worden sei.942)
535 Dass durch die Aufspaltung des Schuldnervermögens und die Eröffnung einer Zweitinsolvenz eine andere Haftungsmasse betroffen sei, führe zu keiner anderen Bewertung. Es ähnele der Situation, dass nach erfolgreich abgeschlossenem Insolvenzverfahren der Schuldner seine selbständige Tätigkeit fortführe, diesbezüglich aber erneut ein Insolvenzereignis eintrete, ohne dass zwischenzeitlich die Zahlungsfähigkeit wieder vollständig zurückerlangt worden sei. Auch hier bestehe eine unterschiedliche Haftungsmasse und zum Teil andere Schuldner. Dennoch werde ___________ 938) BSG, Urt. v. 17.12.1975 – 7 RAr 17/75, BSGE 41, 121, 124; Urt. v. 17.5.1989 – 10 RAr 10/88, NZA 1989, 773, 773. 939) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 762; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 749. 940) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 762 f.; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 749 f. 941) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 762 f.; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 749 f. 942) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 763; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 749 f.
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II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren
Insolvenzgeld erst ein weiteres Mal gewährt, wenn vollständige Liquidität wieder erlangt sei.943)
b) BSG: Vergleich zum Insolvenzplan Das BSG kommt im Einklang mit der Vorinstanz, dem LSG NRW, zu dem Ergeb- 536 nis, dass ein Insolvenzgeldanspruch im Zweitverfahren nicht bestehe.944) Auf die vergleichenden Überlegungen des LSG NRW geht es dabei nicht ausdrücklich ein. Das BSG überträgt die bisherige Rechtsprechung und herrschende Lehre, dass ein 537 zweites Insolvenzereignis bei zwischenzeitlich noch nicht wiederhergestellter Zahlungsfähigkeit des Schuldners kein neues, den Insolvenzgeldanspruch erneut auslösendes Insolvenzereignis sei. Bestehe die Zahlungsunfähigkeit, die zur Eröffnung des Erstverfahrens geführt habe, ununterbrochen fort, trete bezogen auf das freigegebene Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit kein neues Insolvenzereignis im Sinne der § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB III auf.945) Zwar sei über das Vermögen der freigegebenen selbständigen Tätigkeit ein neues, 538 vom ursprünglichen Verfahren unabhängiges Insolvenzverfahren eröffnet worden. Hierin sei jedoch kein neues arbeitsförderungsrechtliches Insolvenzereignis im Sinne des § 165 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB III zu sehen. Das frühere Insolvenzereignis über das Vermögen des Arbeitgebers (in dessen Rahmen die ursprüngliche Freigabe der selbständigen Tätigkeit erklärt wurde) entfalte eine Sperrwirkung im arbeitsförderungsrechtliche Sinne.946) Das BSG verweist in diesem Zusammenhang auf seine Rechtsprechung zum Insolvenzplanverfahren. Auch bei einem bestätigten Insolvenzplan unter Aufhebung des Insolvenzverfahrens sei ein weiterer Anspruch auf Insolvenzgeld nicht gewährt worden.947) Den Arbeitnehmern käme ansonsten ein ungerechtfertigter Vorteil zu.948) Dass anders als im Fall des Insolvenzplanverfahrens bei der Freigabe ein anderes 539 Vermögen von der Insolvenz betroffen sei (das Vermögen aus der freigegebenen selbständigen Tätigkeit), ändere an dieser Sperrwirkung nichts. Bezugspunkt für die Frage, ob bereits ein sperrendes Insolvenzereignis vorliege, sei nicht das Vermögen, sondern die Person des Insolvenzschuldners. Erst wenn der Insolvenzschuld___________ 943) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 763; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 750. 944) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 760 ff.; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 747 ff.; BSG, Urt. v. 23.5.2017 – B 12 AL 1/15 R, ZInsO 2017, 1890, 1890 ff.; Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2183 ff. 945) BSG, Urt. v. 23.5.2017 – B 12 AL 1/15 R, ZInsO 2017, 1890, 1891; Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2185. 946) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2184. 947) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2186 f. 948) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2186.
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G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld
ner als Person erneut dazu in der Lage sei, seine fälligen Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen, könne davon ausgegangen werden, dass das ursprüngliche Insolvenzereignis beseitigt worden sei.949)
540 Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus den Besonderheiten der Freigabe der selbständigen Tätigkeit. Der Zweck des § 35 Abs. 2 InsO gebiete es zwar, dem Schuldner die Fortführung seiner selbständigen Tätigkeit außerhalb des Insolvenzverfahrens zu ermöglichen, wozu das Insolvenzgeld beitragen könne. §§ 165 ff. SGB III verfolge hingegen die begrenzte Sicherung bestimmter Lohnforderung bei Insolvenz des Arbeitgebers. Der Zeck des arbeitsrechtlichen Sicherungsmechanismus erfordere es, dass der Arbeitgeber für einen erneuten Insolvenzgeldanspruch des Arbeitnehmers zwischenzeitlich wieder Zahlungsfähigkeit erlangt habe. Der insolvenzrechtliche Zweck trete zurück.950)
541 Durch die Freigabe werde der Schuldner ebenso wenig wie durch einen Insolvenzplan wieder in die Lage versetzt, seine Geldschulden im Allgemeinen zu erfüllen. Es sei regelmäßig ergebnisoffen, ob die Zahlungsfähigkeit bei Fortführung der selbständigen Tätigkeit wiederhergestellt werde.951)
542 Ein gegebenenfalls schutzwürdiges Vertrauen des Arbeitnehmers, auch bei einem Neustart des Schuldners einen Anspruch auf Insolvenzgeld zu haben, bestehe nicht. Vertrauensschutz gewähre § 165 SGB III nur in Abs. 3, durch welchen der Arbeitnehmer vor einer verspäteten Kenntnis vom Insolvenzereignis geschützt werde. Das bloße Vertrauen auf ein etwaiges Potential des zahlungsunfähigen, aber weiterhin tätigen Arbeitgebers sei hingegen nicht geschützt – auch wenn der Schuldner für seine weitere selbständige Tätigkeit auf die bisherigen Arbeitnehmer regelmäßig angewiesen sei.952)
c)
Stellungnahme
543 Die Entscheidungen des LSG NRW und des BSG überzeugen im Ergebnis nicht. Die Überlegung, dass noch immer das gleiche Insolvenzereignis fortwirkt, ist zwar auf den ersten Blick naheliegend, gewichtet aber nicht hinreichend, dass durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit zwei voneinander unabhängige Haftungsmassen entstehen.
___________ 949) BSG, Urt. v. 23.5.2017 – B 12 AL 1/15 R, ZInsO 2017, 1890, 1892; Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2185. 950) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2187. 951) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2186. 952) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2187.
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II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren
aa) Unpassender Vergleich zur sonstigen Unternehmensfortführung Zuzustimmen ist den Entscheidungen in der Annahme, dass einzig das zuerst auf- 544 tretende Insolvenzereignis für den Anspruch aus § 165 Abs. 2 S. 2 SGB III relevant ist. Ein einmal eingetretenes Insolvenzereignis sperrt grundsätzlich jeden weiteren Anspruch auf Insolvenzgeld aufgrund eines zusätzlich eintretenden Insolvenzereignisses.953) Ein neuer Anspruch auf Insolvenzgeld kann erst dann wieder entstehen, wenn zwischenzeitlich die vollständige Zahlungsfähigkeit des Schuldners wieder eingetreten ist.954) Dieser Grundsatz kann jedoch nicht uneingeschränkt auf den Fall der Zweitinsolvenz der freigegebenen selbständigen Tätigkeit übertragen werden. Durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO entsteht eine 545 zweite, von der Insolvenzmasse getrennte Haftungsmasse.955) Für diese Haftungsmasse lag bisher noch kein Insolvenzereignis vor, sodass ein Anspruch auf Insolvenzgeld gerechtfertigt ist.956) Das LSG NRW hält dem entgegen, dass auch bei der Fortführung der selbständigen 546 Tätigkeit nach Abschluss des Insolvenzverfahrens oder nach Eröffnungsablehnung mangels Masse eine andere Masse als die Insolvenzmasse betroffen sei. Dennoch komme es auch hier darauf an, ob der Schuldner zwischenzeitlich wieder zahlungsfähig gewesen sei.957) Auch das BSG argumentiert in diese Richtung, indem es die Freigabe der selbstän- 547 digen Tätigkeit mit dem Insolvenzplan vergleicht. In diesem Fall wird durch die Bestätigung des Insolvenzplans das ursprüngliche Insolvenzverfahren beendet (§ 258 Abs. 1 InsO) und der Schuldner kann seiner selbständigen Tätigkeit erneut außerhalb des Insolvenzverfahrens nachgehen. Das BSG betont in seiner Rechtsprechung zum Insolvenzplan, dass das Insolvenzplanverfahren ein Mittel zur Gläubigerbefriedigung sei, dass an die Stelle des regulären Insolvenzverfahrens trete.958) Dabei würden die beiden Verfahren in Konkurrenz zueinander stehen. Das Insolvenzplanverfahren werde ungerechtfertigterweise privilegiert, wenn den Ar___________ 953) Küttner-Voelzke, Insolvenz des Arbeitgebers, Rn. 46; Brand-Kühl, § 165 Rn. 18; BeckOKSozR-Plössner, SGB III § 165 Rn. 25; HeidelbKInsO-Linck, SGB III § 165 Rn. 21; Rein, NJW-Spezial 2017, 661, 661. 954) BSG, Urt. v. 6.12.2012 – B 11 AL 11/11 R, NZI 2013, 454, 455; Urt. v. 17.3.2015 – B 11 AL 9/14 R, NZI 2015, 720, 721; Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 52; Beck/Depré-H.-D. Braun/Mühlbayer, § 29 Rn. 28; Küttner-Voelzke, Insolvenz des Arbeitgebers Rn. 46. 955) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 412. 956) So bereits die Vorinstanz SG Dortmund, Urt. v. 31.10.2012 – S 55 AL 686/10, juris, Rn. 17. Ebenso Krasney, KrV 2015, 79, 84; Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 53. 957) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 763; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 750. 958) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2186 f.; Urt. v. 21.11.2002 – B 11 AL 35/02 R, NZI 2003, 337, 339.
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G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld
beitnehmern durch die erneute Zahlung von Insolvenzgeld ein Sondervorteil verschafft würde.959)
548 Sowohl das LSG NRW als auch das BSG berücksichtigen nicht hinreichend, dass sich die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO ausschließlich auf das Vermögen der selbständigen Tätigkeit beschränkt und damit nur ein Vermögensteil des Schuldners zur neuen Haftungsmasse wird.960) Unter Abweichung vom Grundsatz „eine Person, ein Vermögen, ein Insolvenzverfahren“ entstehen zwei schuldnerische Vermögensmassen nebeneinander. Führt der Insolvenzverwalter das Unternehmen im Rahmen des Insolvenzverfahrens fort, besteht zu jeder Zeit nur eine Vermögensmasse. Gleiches gilt, wenn der Schuldner nach Beendigung des Insolvenzverfahrens seinen Betrieb fortführt. Ebenso verhält es sich mit dem vom BSG vorgenommenen Vergleich zur Fortführung des Betriebs im Insolvenzplanverfahren. Durch die Bestätigung des Insolvenzplans wird gemäß § 258 Abs. 1 InsO das reguläre Insolvenzverfahren beendet. Es besteht ausschließlich eine Insolvenzmasse, die Bestandteil des Insolvenzplans wird.
549 Anders als die vergleichsweise herangezogenen Verfahrenskonstellationen, steht die Freigabe der selbständigen Tätigkeit jedoch nicht in Konkurrenz zum ursprünglichen Insolvenzverfahren.961) Alleinstellungsmerkmal der wirtschaftlichen Betätigung nach Freigabe der selbständigen Tätigkeit ist, dass eine zweite, von der Insolvenzmasse getrennte Haftungsmasse entsteht.962) Dieser Unterschied erfordert auch eine andere Bewertung des Anspruchs auf Insolvenzgeld. Die Gerichte gehen nicht hinreichend darauf ein, dass eine Trennung der Haftungsmassen nach § 35 Abs. 2 InsO gewollt ist und zwei Vermögensmassen parallel nebeneinander bestehen.963)
bb) Überzeugender Vergleich zu § 613a BGB 550 Die Lösung der Frage nach dem Insolvenzgeldanspruch im Zweitinsolvenzverfahren ist in den zwei voneinander getrennten Haftungsmassen zu suchen. Zwei parallele Vermögensmassen bestehen auch bei einem Betriebsübergang in der Insolvenz nach § 613a BGB. Hierauf gehen weder das LSG NRW noch das BSG ein, obwohl auch hier ein Wechsel der Arbeitsverhältnisse auf eine andere Haftungsmasse bei Fortbestand des ursprünglichen Insolvenzvermögens stattfindet. Wie bereits gezeigt, erfüllt die Freigabe der selbständigen Tätigkeit zudem die Voraussetzungen
___________ 959) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2186 f.; Urt. v. 21.11.2002 – B 11 AL 35/02 R, NZI 2003, 337, 339. 960) Krasney, KrV 2015, 79, 84. 961) So aber BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2186 f. 962) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 412; Krasney, KrV 2015, 79, 84 f. 963) Zu LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13 ebenso Krasney, KrV 2015, 79, 84 f.
182
II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren
des § 613a BGB.964) Ein Vergleich zur sozialrechtlichen Behandlung des Betriebsübergangs im Hinblick auf das Insolvenzgeld ist demnach geboten.965) Für den Betriebsübergang gilt dabei grundsätzlich: Übernimmt ein Dritter den Be- 551 trieb vom insolventen Schuldner, kann aufgrund der unterschiedlichen Rechtsträger nicht von einem Fortwirken des ursprünglich zur Insolvenz des Veräußerers führenden und damit § 165 Abs. 1 S. 2 SGB III sperrenden Insolvenzereignisses ausgegangen werden.966) Ein auf Seiten des Erwerbers eintretendes Insolvenzereignis begründet somit erneut einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Insolvenzgeld.967) Dem Vergleich ließe sich der Einwand entgegenhalten, dass bei zwei unterschied- 552 lichen Rechtsträgern wohl nie ein Fortwirken der Insolvenzgründe gegeben ist. Der Fall des § 35 Abs. 2 InsO liegt anders, da auf beiden Seiten nicht nur der gleiche Betrieb steht, sondern auch die gleiche Person. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass die Rechtsprechung auch bei weitgehender wirtschaftlicher Identität zwischen Veräußerer und Erwerber eine Sperrwirkung des ersten Insolvenzereignisses für ein späteres Insolvenzereignis beim Erwerber ablehnt.968) In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Verfahren übernahm ein neuer Rechtsträger in Form einer neu gegründeten Gesellschaft den Betrieb, die dahinterstehenden Gesellschafter blieben aber die gleichen. Der Kläger trug vor, dass es sich aus wirtschaftlicher Betrachtungsweise um dasselbe Unternehmen handele und daher kein neues Insolvenzereignis vorliege, sondern das erste Insolvenzereignis weiter fortwirke.969) Dem widersprach das BSG. Auch wenn aus wirtschaftlicher Betrachtungsweise zwischenzeitlich keine Zahlungsfähigkeit wiedererlangt worden sei, scheide eine rein wirtschaftliche Betrachtungsweise zur Bestimmung des relevanten Insolvenzereignisses aus. Auf eine wirtschaftliche und persönliche Identität des Arbeitgebers könne nicht abgestellt werden, es komme alleine auf eine Änderung der Arbeitgeberposition im juristischen Sinne an.970) Begründet wird dieses Ergebnis mit dem sowohl von § 613a BGB als auch von 553 § 165 SGB III verfolgten Arbeitnehmerschutzgedanken. Zum Schutz der das Insolvenzgeld finanzierenden Unternehmen können zwar keine aufeinanderfolgenden Insolvenzereignisse berücksichtigt werden. Eine Absicherung der Arbeitnehmer über das Insolvenzgeld ist nur solange zulässig, bis für den Arbeitnehmer erkenn___________ 964) 965) 966) 967)
Siehe dazu bereits ausführlich unter Rn. 352 ff. Ebenso Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 53. Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 53. BSG, Urt. v. 28.6.1983 – 10 RAr 26/81, ZIP 1983, 1224, 1224 ff.; Mutschler/Schmidt-de Caluwe/ Coseriu-Anette Schmidt, § 165 Rn. 25; Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 53; HeidelbKInsOLinck, SGB III § 165 Rn. 20. 968) BSG, Urt. v. 28.6.1983 – 10 RAr 26/81, ZIP 1983, 1224, 1224 ff. 969) BSG, Urt. v. 28.6.1983 – 10 RAr 26/81, ZIP 1983, 1224, 1224 f. 970) BSG, Urt. v. 28.6.1983 – 10 RAr 26/81, ZIP 1983, 1224, 1225 ff.
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G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld
bar ist, dass eine Stundung seiner Lohnforderungen zwecklos ist, das heißt bis nicht mehr davon auszugehen ist, dass die Zahlungsfähigkeit wiedererlangt wird.971) Mit Blick auf § 613a BGB ist jedoch anerkannt, dass der Arbeitnehmer zum Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB gezwungen wäre, wenn Unsicherheiten über seine zukünftige Vergütung bestünden, die nicht durch das Insolvenzgeld abgesichert sind.972) Dieses Ergebnis widerspricht dem Zweck von § 613a BGB, der den Bestand des Arbeitsverhältnisses auch nach dem Betriebsübergang beim Erwerber sichern soll und erschwert eine Sanierung des insolventen Unternehmens durch Übertragung auf einen neuen Rechtsträger.973)
554 Die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erfüllt den Tatbestand des § 613a BGB, sodass die Bedenken bezüglich des Bestands des Arbeitsverhältnisses bei Wechsel der Betriebsinhaberschaft auch hier erheblich sind.974) Der Arbeitnehmer muss sich entscheiden: Wählt er mangels Anspruch auf Insolvenzgeld eine ungesicherte Tätigkeit für den Schuldner? Oder entscheidet er sich für die „sichere“ Alternative, indem er von seinem Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB Gebrauch macht und damit für den Zeitraum der Kündigungsfrist einen Masseanspruch gegen die Insolvenzmasse erhält? Im Kern geht es um die Frage, ob der Arbeitnehmer – durch das Insolvenzgeld geschützt – in Vorleistung gehen sollte oder ob ihm die Erbringung seiner Arbeitsleistung auf eigenes Risiko aufgebürdet werden kann. Verneint man eine Absicherung der Lohnforderungen durch das Insolvenzgeld, wäre der Arbeitnehmer mangels Sicherung der Lohnforderung beim Schuldner und bereits vorhergehender wirtschaftlicher Erfolglosigkeit nach dem Motto „Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach!“ zum Widerspruch gezwungen. § 165 SGB III möchte dem Arbeitnehmer diese wirtschaftliche Unsicherheit nehmen, indem er ihn vor dem Ausfall seiner Lohnforderungen schützt.975) Kann der Arbeitnehmer nicht im Vertrauen auf einen Ausfallschutz vorleisten, läuft der Kontinuitätsgedanke des § 613a BGB leer. Die wirtschaftliche Unsicherheit ist weder mit dem von § 613a BGB verfolgten Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers, noch mit dem Sicherungszweck des § 165 SGB III vereinbar.
555 Das LSG NRW und das BSG nehmen hingegen eine wirtschaftliche Betrachtungsweise vor. Indem sie die Aufspaltung der Haftungsmasse für die Frage nach einem erneuten Insolvenzereignis für unbeachtlich halten und nur auf die bloße Unternehmensfortführung abstellen, differenzieren sie nicht zwischen der unterschiedlichen Zuweisung der einzelnen Vermögensmassen. Auch wenn das Arbeitsverhältnis im Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO nicht auf einen neuen Arbeitgeber ___________ 971) 972) 973) 974) 975)
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BSG, Urt. v. 28.6.1983 – 10 RAr 26/81, ZIP 1983, 1224, 1227. BSG, Urt. v. 28.6.1983 – 10 RAr 26/81, ZIP 1983, 1224, 1227 f. BSG, Urt. v. 28.6.1983 – 10 RAr 26/81, ZIP 1983, 1224, 1228. Zur Anwendbarkeit des § 613a BGB siehe bereits unter Rn. 352 ff. Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 7.
II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren
übergeht, sondern an den ursprünglichen Arbeitgeber zurückfällt, der zwischenzeitlich die Arbeitgeberfunktion verloren hatte, ist die Rechtsprechung zu § 613a BGB dennoch übertragbar. Entscheidend ist, dass sich die Haftung auf zwei unterschiedliche Vermögensmassen bezieht. Die Vorinstanz, das SG Dortmund, nahm hier noch „zwei voneinander unabhängige Insolvenzverfahren über zwei voneinander unabhängigen [sic] Vermögensmassen“976) an, sodass für das freigegebene, eigenständige Vermögen noch kein vorheriges Insolvenzereignis vorgelegen hat.977) Nur diese Auffassung entspricht auch der vom BGH für § 35 Abs. 2 InsO angestrebten klaren Abgrenzung zwischen der Insolvenzmasse und dem freigegebenen Vermögen.978) Ferner ist der Arbeitnehmer auch nicht weniger schutzwürdig.979) Hinter dem Ent- 556 schluss, dem Arbeitnehmer einen Anspruch auf Insolvenzgeld bei wiederholtem Insolvenzereignis zu verwehren, steht der Gedanke, dass jeder, der im Bewusstsein der schlechten wirtschaftlichen Situation seines Vertragspartners weiter in Vorleistung tritt, nicht schützenswert ist.980) Das mag für eine einfache Unternehmensfortführung überzeugen, kann aber nicht für den Fall der Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO gelten. Dieses Ergebnis stünde in eklatantem Widerspruch zum Regelungsgehalt des § 35 Abs. 2 InsO, wonach das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung an den Insolvenzschuldner zurückfällt. Es wäre mit dem Arbeitnehmerschutz nicht vereinbar, das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung auf den Insolvenzschuldner übergehen zu lassen und es dem Arbeitnehmer zugleich entgegenzuhalten, dass er trotz Kenntnis der erstmaligen wirtschaftlichen Erfolglosigkeit weiter für den Schuldner tätig ist. Der Arbeitnehmer entscheidet sich nicht selbst dazu, trotz erstmaligen Insolvenzereignisses weiter für den Schuldner tätig zu sein – das Gesetz weist sein Arbeitsverhältnis der durch den Insolvenzschuldner fortgeführten Tätigkeit zu. Im Gegenteil: Der Arbeitnehmer ist schutzwürdiger, da ihm ohne sein Zutun der Anspruch gegen die Insolvenzmasse aus §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 108 Abs. 1 S. 1 InsO genommen wird. Zuletzt überzeugt der Einwand nicht, dass nach diesem Ergebnis dem bereits zuvor 557 gescheiterten Schuldner zulasten der die Insolvenzgeldversicherung finanzierenden Unternehmer eine Stundung der Arbeitslöhne gewährt würde.981) Natürlich kommt es dem Schuldner zugute, dass die Arbeitnehmer unter Vertrauen auf einen Ausfallschutz nach § 165 SGB III eher bereit sein werden, für ihn tätig zu sein. Darin ___________ 976) SG Dortmund, Urt. v. 31.10.2012 – S 55 AL 686/10, juris, Rn. 17 (Vorinstanz zu LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 760 ff.). 977) SG Dortmund, Urt. v. 31.10.2012 – S 55 AL 686/10, juris, Rn. 17; Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 53. 978) BGH, Urt. v. 9.2.2012 – IX ZR 75/11, NZI 2012, 409, 412. 979) So aber LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 763; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 749 f. 980) Mutschler/Schmidt-de Caluwe/Coseriu-Anette Schmidt, § 165 Rn. 28. 981) Müller, NZI 2015, 764, 764 f.
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G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld
liegt aber ein bloßer Reflex, der sich aus der Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer ergibt und der § 165 SGB III inhärent ist.982) Der Zweck des Arbeitnehmerschutzes darf deswegen nicht künstlich eingeschränkt werden. Dort, wo ein Schutz des vorleistenden Arbeitnehmers nötig ist, wie hier, muss er auch gewährt werden. Dass damit auch eine Förderung des Schuldners und eine Belastung der Versicherung einhergeht, ist ein hinzunehmender Nebeneffekt.
558 Dementsprechend überzeugt die derzeitige Rechtsprechung nicht. Sowohl der Schutzzweck des § 613a BGB als auch der des § 165 SGB III widersprechen ihr. Der Arbeitnehmer ist bei einem Übergang des Arbeitsverhältnisses nach § 35 Abs. 2 InsO nicht weniger schutzwürdig, sodass ein Insolvenzgeldanspruch auch im Zweitinsolvenzverfahren über das freigegebene Vermögen aus der selbständigen Tätigkeit zu gewähren ist.
d) Zusammenspiel des Insolvenzgeldanspruchs mit § 35 Abs. 2 InsO 559 Ein erneuter Insolvenzgeldanspruch auch im Zweitinsolvenzverfahren ist umso mehr mit Blick auf die durch § 35 Abs. 2 InsO hervorgerufene Interessenlage wünschenswert. Freilich verfolgt der Gesetzgeber mit § 165 SGB III nicht die Ziele der Insolvenzordnung, sodass der Zweck des § 35 Abs. 2 InsO nicht ausschlaggebendes Argument für einen Anspruch auf Insolvenzgeld im Zweitverfahren sein kann.983)
560 Dennoch entspricht das oben gefundene Ergebnis der Interessenlage der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO. Der Gesetzgeber verfolgt mit § 35 Abs. 2 InsO sowohl das Ziel, dem Schuldner die Fortführung seiner selbständigen Tätigkeit zu ermöglichen, als auch den Wunsch, die Insolvenzmasse des Erstverfahrens vor einer weiteren Belastung zu schützen.984) Sind die Arbeitnehmer nicht durch das Insolvenzgeld abgesichert, müssen sie schutzlos an den Insolvenzschuldner vorleisten. Die Arbeitnehmer stehen demnach vor der Wahl: Sie können sich zum einen ohne Sicherung ihrer Ansprüche nach § 165 SGB III für eine Vorleistung ihrer Arbeitskraft an den Insolvenzschuldner entscheiden. Zum anderen steht ihnen der Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB offen, wodurch sie zumindest für den Zeitraum der Kündigungsfrist Masseforderungen gegen die Insolvenzmasse des Erstverfahrens begründen können.985) Die Insolvenzmasse des Erstverfahrens konkurriert im Hinblick auf die Arbeitnehmeransprüche mit der weiterhin ausgeübten selbständigen ___________ 982) BeckOKSozR-Plössner, SGB III § 165 Rn. 3. 983) Siehe beispielhaft BSG, Urt. v. 21.11.2002 – B 11 AL 35/02 R, NZI 2003, 337, 338; Urt. v. 6.12.2012 – B 11 AL 11/11 R, NZI 2013, 454, 456; Urt. v. 17.3.2015 – B 11 AL 9/14 R, NZI 2015, 720, 722; Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2187. Zum entgegenstehenden Wunsch der Praxis, das Insolvenzgeld zur Betriebsfortführung heranzuziehen Kremer/ Fahlbusch, ZInsO 2015, 837, 837 ff. 984) BT-Drucks. 16/3227, S. 17. 985) Müller, NZI 2015, 764, 764 f. hält diese Rechtsfolge für wünschenswert.
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II. Erneuter Insolvenzgeldanspruch der Arbeitnehmer im Zweitverfahren
Tätigkeit des Schuldners. Es kann nicht im Sinne des § 35 Abs. 2 InsO gewollt sein, dass es für den Arbeitnehmer attraktiver ist, den Widerspruch auszuüben und wieder zu Lasten der Insolvenzmasse tätig zu sein. Der Widerspruch ist jedoch die sichere Alternative, sofern die Arbeitnehmer nicht durch einen Anspruch auf Insolvenzgeld abgesichert sind. Mit dem von § 35 Abs. 2 InsO verfolgten gesetzgeberischen Willen ist dieses Ergebnis nicht in Einklang zu bringen. Zunächst verliert der Insolvenzschuldner auf diese Weise die für die Fortführung 561 seiner selbständigen Tätigkeit benötigten Arbeitskräfte. Die Arbeitgeberfunktion fiele zurück an den Insolvenzverwalter. Die Fortführung des schuldnerischen Unternehmens ohne die erforderlichen Arbeitsverhältnisse würde erheblich erschwert und der mit § 35 Abs. 2 InsO verfolgte Zweck, die Fortführung der selbständigen Tätigkeit zu ermöglichen, unterlaufen.986) Auch § 165 SGB III kann nicht abgesprochen werden, dass er zumindest durch den Erhalt der Belegschaft auch die Interessen des Arbeitgebers verfolgt.987) Das BSG erkennt die widerstreitenden Interessen, nimmt sie jedoch unter Verweis 562 auf eine fehlende Regelung durch den Gesetzgeber hin. Es verortet das Problem im Rahmen des Vertrauensschutzes nach § 165 Abs. 3 SGB III.988) Auch wenn der Arbeitnehmer nach § 35 Abs. 2 InsO auf eine Fortbeschäftigung beim Schuldner vertrauen dürfe, fehle es in § 165 SGB III an einer entsprechenden Regelung. Die Norm berücksichtige Vertrauensschutz alleine in Abs. 3, der nicht anwendbar sei. Eine sozialrechtliche Vertrauensschutzregelung, die die Interessen des Insolvenzverfahrens aufgreife, habe der Gesetzgeber bisher nicht geschaffen.989) Dass jedoch, wie aufgezeigt, eine sachgerechte Lösung über § 613a BGB möglich ist, berücksichtigt das BSG nicht. Schließlich würde dadurch die Insolvenzmasse des Erstverfahrens wieder mit den 563 Arbeitnehmerforderungen belastet. Übt der Arbeitnehmer sein Widerspruchsrecht nach § 613a Abs. 6 BGB aus, begründet er nach §§ 55 Abs. 1 Nr. 2, 108 Abs. 1 S. 1 InsO wieder bevorzugt zu befriedigende Masseansprüche gegen die Insolvenzmasse des Erstverfahrens. § 35 Abs. 2 InsO strebt hingegen ausdrücklich eine Entlastung der Masse von diesen Ansprüchen an. Macht ein Großteil der Arbeitnehmer von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch, ist 564 die mit § 35 Abs. 2 InsO verfolgte gesetzgeberische Intention nicht erreichbar. Dementsprechend erfordert es der Zweck von § 35 Abs. 2 InsO, einen Anspruch ___________ 986) So im Ergebnis auch SG Dortmund, Urt. v. 31.10.2012 – S 55 AL 686/10, juris, Rn. 18 ff.; Vorinstanz zu LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 760 ff.; Krasney, KrV 2015, 79, 84. 987) Gagel-Peters-Lange, SGB III § 165 Rn. 9. 988) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2187. 989) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2187.
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G. Das Zweitinsolvenzverfahren und der Anspruch auf Insolvenzgeld
auf Insolvenzgeld auch im Zweitverfahren zu gewähren. Nach derzeitiger restriktiver Auslegung des Insolvenzgeldanspruchs wird § 35 Abs. 2 InsO seiner beabsichtigten Wirkung weitgehend beraubt.
III. Zwischenergebnis für den Anspruch auf Insolvenzgeld nach Freigabe 565 Auch über das an den Schuldner freigegebene Vermögen kann ein gesondertes Insolvenzverfahren eröffnet werden. Unter Lockerung des Prinzips „eine Person, ein Vermögen, ein Insolvenzverfahren“ entstehen durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit zwei voneinander getrennte Vermögensmassen. Auf Seiten der Neugläubiger besteht ein schutzwürdiges Vertrauen auf eine Befriedigung aus den Mitteln des Neuerwerbs außerhalb des ersten Insolvenzverfahrens. Mit der Freigabe der selbständigen Tätigkeit, einschließlich der Betriebsmittel und des Neuerwerbs, besteht auch pfändbares Vermögen, sodass auch ein rechtliches Interesse der Neugläubiger an der Eröffnung eines Zweitverfahrens besteht.
566 Obwohl ein erstes Insolvenzereignis grundsätzlich jeden weiteren Insolvenzgeldanspruch sperrt, muss im Rahmen eines Zweitverfahrens über die freigegebene selbständige Tätigkeit ein Anspruch auf Insolvenzgeld gewährt werden. Der Lohnanspruch der Arbeitnehmer muss für den Fall, dass die selbständige Tätigkeit des Schuldners freigegeben wird, durch das Insolvenzgeld abgesichert sein. Dem Anspruch kann nicht entgegengehalten werden, dass die Arbeitnehmer bei Kenntnis der wirtschaftlichen Lage des Schuldners nicht schutzwürdig sind. Zum einen entscheidet nicht der Arbeitnehmer, dass er fortan für den freigegebenen Betrieb des Schuldners tätig sein will. Vielmehr wird sein Arbeitsverhältnis der freigegebenen Tätigkeit des Schuldners nach § 35 Abs. 2 InsO zugeordnet. Zum anderen liegt § 35 Abs. 2 InsO ähnlich wie § 613a BGB ein Kontinuitätsgedanke zugrunde. Er erfordert es, dem Arbeitnehmer eine abgesicherte Fortsetzung der Tätigkeit für den Schuldner zu ermöglichen. Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit dem Zweck von § 35 Abs. 2 InsO. Die Ermöglichungsabsicht liefe leer, wenn die Arbeitnehmer mangels Absicherung ihrer Lohnforderungen faktisch zum Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB gezwungen würden. Auch das Ziel des Masseschutzes wird andernfalls nicht bestmöglich verwirklicht, da die Arbeitsverhältnisse durch den Widerspruch erneut Masseverbindlichkeiten zulasten der Insolvenzmasse begründen würden.
567 Der Anspruch auf Insolvenzgeld im Zweitinsolvenzverfahren ist damit für die Kontinuität des Arbeitsverhältnisses notwendig und darüber hinaus zur Verwirklichung der Ziele des § 35 Abs. 2 InsO geeignet.
188
H. Reformvorschlag Neben den in dieser Arbeit geschilderten arbeitsrechtlichen Schwierigkeiten wirft 568 die Freigabe der selbständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO noch zahlreiche weitere Probleme auf, die in der Literatur diskutiert werden.990) In diesem Zusammenhang wird vermehrt der Ruf nach dem Gesetzgeber laut.991) Aus arbeitsrechtlicher Perspektive ist eine Ergänzung des § 35 InsO wünschens- 569 wert. Die in dieser Arbeit aufgeführten Probleme entstehen vornehmlich dadurch, dass § 35 Abs. 2 InsO durch seine knappe Formulierung erhebliche Auslegungsspielräume bietet. Daneben erfordert das Zusammenspiel der Freigabe der selbständigen Tätigkeit 570 mit dem Anspruch auf Insolvenzgeld ebenfalls eine Ergänzung des § 165 SGB III. Die bestehenden Probleme können zwar – wie in dieser Arbeit gezeigt – im Rahmen 571 der freigabespezifischen Auslegung und analogen Anwendung de lege lata bereits angemessen gelöst werden. Für den Rechtsanwender und den von der Normwirkung Betroffenen liegt hierin aber eine erhebliche Rechtsunsicherheit.992) Für Arbeitnehmer, deren Interessen durch die Freigabe der selbständigen Tätigkeit ganz erheblich berührt werden, gilt es, Rechtsunsicherheiten über Rechte und Pflichten im Zusammenhang mit § 35 Abs. 2 InsO durch eine klare legislative Vorgabe zu vermeiden.
I.
Reform der Freigabeerklärung – Ergänzender Abs. 2a
Der die Freigabe der selbständigen Tätigkeit regelnde § 35 Abs. 2 InsO sollte nicht 572 arbeitsrechtlich ergänzt werden. Der Absatz ist durch seine drei Sätze und seinen grundlegenden Regelungscharakter für eine ergänzende spezifisch arbeitsrechtliche Regelung ungeeignet. Vielmehr ist ein Absatz 2a einzufügen, der sich ausschließlich mit der Wirkung der Freigabeerklärung auf Arbeitsverhältnisse befasst. In diesem Zusammenhang ist zunächst die generelle Wirkung der Freigabeerklä- 573 rung auf Arbeitsverhältnisse anzuordnen. Hier bietet sich eine § 108 Abs. 1 S. 2 InsO entsprechende Formulierung an. Durch die Freigabeerklärung wird gleich eines actus contrarius zu § 108 Abs. 1 S. 2 InsO die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis und damit die Arbeitgeberstellung des Insolvenzverwalters auf den Schuldner (zurück)übertragen (Satz 1). Im Übrigen sind entsprechend § 613a BGB die Wirkungen des Betriebsübergangs 574 – zum Teil eingeschränkt – auf die Freigabe zu übertragen. Priebe schlägt folgende ___________ 990) Ausführlich Gotter, Selbstständige Tätigkeit; B. Wegener, VIA 2017, 25, 25 ff. 991) B. Wegener, VIA 2017, 25, 25 ff.; Grote, FS Wimmer, 219, 242. Ein konkreter Reformvorschlag findet sich bei Priebe, ZInsO 2010, 1673, 1678. 992) B. Wegener, VIA 2017, 25, 27.
189
H. Reformvorschlag
Formulierung vor: „Sind Arbeitsverhältnisse betroffen, findet § 613a BGB Anwendung.“993) Dieser pauschale Verweis auf § 613a BGB schafft jedoch keine Abhilfe für alle in dieser Arbeit aufgeworfenen Probleme. Insbesondere wären Rechtsunsicherheiten, die mit der aktuellen Formulierung des § 35 Abs. 2 InsO einhergehen, nur bedingt beseitigt. Wie bereits gezeigt, wirft § 613a BGB im Zusammenspiel mit § 35 Abs. 2 InsO weitere Probleme auf.994) Eine differenzierte Regelung, die über einen pauschalen Verweis auf § 613a BGB hinausgeht, ist daher notwendig.
575 Weiter ist anzuordnen, dass der Schuldner nur für die Ansprüche, die im Zeitraum zwischen Insolvenzeröffnung und Freigabe begründet wurden, zeitlich begrenzt forthaftet (Satz 2).995) Daneben ist eine Informationspflicht des Insolvenzverwalters zu statuieren, die sich an § 613a Abs. 5 BGB orientieren sollte.996) Einzig ein Hinweis auf den Grund für den Übergang ist entbehrlich, da dieser ausschließlich in der Freigabe der selbständigen Tätigkeit liegen kann, die Kern der Informationspflicht ist (Satz 3). Im Anschluss an die Informationspflicht ist das Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers aufzunehmen, das ebenfalls dem des § 613a Abs. 6 S. 1 BGB entsprechen sollte. Das Widerspruchsrecht ist jedoch dahingehend einzuschränken, dass es nur für die Zukunft wirkt (Satz 4).997)
576 Ein neuer § 35 Abs. 2a InsO könnte somit wie folgt aussehen: (2a) 1Mit Abgabe der Freigabeerklärung geht das Recht, die Arbeitsverhältnisse zu verwalten und über sie zu verfügen, auf den Schuldner über. 2Der Schuldner tritt in die ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnissen ein. 3Der Insolvenzverwalter hat die betroffenen Arbeitnehmer vor der Freigabeerklärung in Textform über den Zeitpunkt der Freigabe, deren rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen sowie die in Aussicht genommenen Maßnahmen zu informieren. 4Der Arbeitnehmer kann dem Übergang des Arbeitsverhältnisses innerhalb eines Monats nach Zugang der Unterrichtung schriftlich mit Wirkung für die Zukunft widersprechen. 5Der Widerspruch ist gegenüber dem Schuldner oder dem Insolvenzverwalter zu erklären.
II. Reform des Insolvenzgelds – Entsprechende Erweiterung des Insolvenzgeldanspruchs 577 Für den Fall der Zweitinsolvenz nach der Freigabe der selbständigen Tätigkeit ist ein Anspruch auf Insolvenzgeld nach § 165 SGB III wünschenswert. Soweit § 35 Abs. 2 InsO bezweckt, dem Schuldner die Fortführung seiner selbständigen Tätig___________ 993) 994) 995) 996) 997)
190
Priebe, ZInsO 2010, 1673, 1678. Siehe dazu bereits oben unter Rn. 417 ff. Siehe dazu bereits oben unter Rn. 422 ff. Siehe dazu bereits oben unter Rn. 448 ff. Siehe dazu bereits oben unter Rn. 464 ff.
II. Reform des Insolvenzgelds – Entsprechende Erweiterung des Insolvenzgeldanspruchs
keit zu ermöglichen, muss dieser Zweck durch eine Absicherung der Arbeitnehmer vor einer Zweitinsolvenz flankiert werden.998) Sofern man, wie in dieser Arbeit, § 613a BGB auch für den Fall der Freigabe der selbständigen Tätigkeit als erfüllt ansieht, droht der Schuldner die für die seine selbständige Tätigkeit notwendigen Arbeitsverhältnisse durch den Arbeitnehmerwiderspruch nach § 613a Abs. 6 BGB zu verlieren. Er steht für den Zeitraum der Widerspruchsfrist im Wettbewerb mit dem befristeten Masseanspruch gegen die Insolvenzmasse. Im Fall neuerlicher wirtschaftlicher Schwierigkeiten des Schuldners ist die Gefahr groß, dass die Arbeitnehmer von ihrem Widerspruchsrecht Gebrauch machen und der wirtschaftliche Neuanfang des Schuldners von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist.999) Das Insolvenzgeld kann hier Abhilfe schaffen, indem es die Arbeitnehmer für einen Zeitraum von drei Monaten absichert und so einen Widerspruch nach § 613a Abs. 6 BGB unnötig macht. Der Schuldner könnte so die notwendigen Arbeitnehmer halten. Auch aus Sicht der Arbeitnehmer ist eine Absicherung über das Insolvenzgeld 578 wünschenswert. Ihr Arbeitsverhältnis fällt durch die Erklärung des Insolvenzverwalters erneut dem Schuldner zu, um es ihm zu ermöglichen, seine selbständige Tätigkeit auszuüben. Der Grund, warum den Arbeitnehmern nach Eintritt eines ersten Insolvenzereignisses ein weiterer Insolvenzgeldanspruch versagt wird, liegt vornehmlich darin, dass der, der nach erstmaliger Insolvenz des Vertragspartners weiter für diesen tätig ist, nicht mehr schutzbedürftig ist.1000) Dieses Argument kann im Fall des § 35 Abs. 2 InsO nicht durchgreifen, da es gerade der gesetzgeberische Wille ist, dass die Arbeitnehmer weiter für den Schuldner tätig sind, um ihm die Fortführung seiner selbständigen Tätigkeit zu ermöglichen. Um die Arbeitnehmer nicht schutzlos zu stellen, ist vielmehr ihr gerechtfertigtes schutzwürdiges Vertrauen an einer Fortführung der selbständigen Tätigkeit durch den Schuldner zu honorieren.1001) Einen Vertrauensschutztatbestand normiert § 165 Abs. 3 SGB III bereits, wonach 579 die positive Kenntnis des Arbeitnehmers vom Insolvenzereignis den Insolvenzgeldzeitraum bestimmt.1002) Hierdurch wird das Vertrauen des Arbeitnehmers darauf geschützt, dass es an einem Insolvenzereignis fehlt. Mit Rücksicht auf das geschützte Vertrauen wird der Insolvenzgeldzeitraum verschoben.1003) Das BSG spricht einen möglichen Vertrauensschutz auch im Hinblick auf den Insolvenzgeldanspruch ___________ 998) Zur Ermöglichungsabsicht des § 35 Abs. 2 InsO siehe bereits oben unter Rn. 25 ff. 999) Siehe zu den hier vorgetragenen Bedenken bereits oben unter Rn. 559 ff. 1000) LSG NRW, Urt. v. 29.1.2015 – L 9 AL 278/13, NZI 2015, 760, 763; Urt. v. 9.6.2016 – L 9 AL 23/14, NZS 2016, 747, 749 f. 1001) Siehe zum wünschenswerten Zusammenspiel vom Insolvenzgeldanspruch mit § 35 Abs. 2 InsO bereits oben unter Rn. 559 ff. 1002) Brand-Kühl, § 165 Rn. 75; Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann-Mutschler, SGB III § 165 Rn. 46. 1003) Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann-Mutschler, SGB III § 165 Rn. 46.
191
H. Reformvorschlag
im Fall der Zweitinsolvenz der selbständigen Tätigkeit an.1004) De lege ferenda sollte an § 165 Abs. 3 SGB III angeknüpft werden. Zwar regelt der Absatz die Fälle, in denen die Arbeitnehmer in Unkenntnis des Insolvenzereignisses weiterarbeiten. Im Fall der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO arbeiten die Arbeitnehmer beim Schuldner weiter, obwohl sie das vorangehende Insolvenzereignis kennen. Hierin liegt der Kern der Kritik, woraus abgeleitet wird, dass ihnen der Insolvenzgeldanspruch zu verwehren ist. Jedoch führen die Arbeitnehmer ihre Arbeit im Vertrauen auf einen wirtschaftlichen Neustart, wie von § 35 Abs. 2 InsO beabsichtigt, fort. Damit liegt beiden Szenarien zugrunde, dass die Arbeitnehmer auf das Fehlen von Insolvenzereignissen vertrauen. § 165 Abs. 3 SGB III sollte dementsprechend um einen Satz 2 ergänzt werden, der den Fall der Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst. In diesem sollte eine unwiderlegliche Vermutung statuiert werden, wonach für eine nach § 35 Abs. 2 InsO freigegebene selbständige Tätigkeit vermutet wird, dass mit der Freigabe das ursprüngliche Insolvenzereignis beendet ist.
580 Die Vorschrift könnte dementsprechend wie folgt lauten: (3) 1Hat eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer in Unkenntnis eines Insolvenzereignisses weitergearbeitet oder die Arbeit aufgenommen, besteht der Anspruch auf Insolvenzgeld für die dem Tag der Kenntnisnahme vorausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses. 2Erklärt der Insolvenzverwalter die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO, gilt das ursprüngliche Insolvenzereignis als beendet.
___________ 1004) BSG, Urt. v. 9.6.2017 – B 11 AL 14/16 R, ZInsO 2017, 2183, 2187.
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I. Thesen und Schlussbetrachtung I.
Zusammenfassung der Ergebnisse in Thesen
1. Obwohl die Freigabe der selbständigen Tätigkeit seit nunmehr zehn Jahren an- 581 erkannt ist, bestehen nach wie vor viele Unsicherheiten in der Anwendung. Dass es sich um einen hoch praxisrelevanten Themenkreis handelt, zeigt zum einen die Insolvenzstatistik für Unternehmen. Es gibt zahlreiche natürliche Personen, die eine selbständige Tätigkeit ausüben. Sie machen in absoluten Zahlen die meisten Insolvenzverfahren von Unternehmen in Deutschland aus. Zum anderen wird die Praxisrelevanz durch die umfangreiche, zum Teil höchstrichterliche Rechtsprechung und die vielen Stimmen in der Literatur unterstrichen. 2. Auch wenn die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO nicht die klassischen Merkmale einer Freigabe aufweist, ist sie dennoch als eine Modifikation der herkömmlichen Freigabe zu verstehen. 3. Die Einführung der Unternehmensfreigabe nach § 35 Abs. 2 und Abs. 3 InsO war eine notwendige Reform, um das verfassungsrechtlich geschützte Interesse des Schuldners an der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit mit der Notwendigkeit des Masseschutzes in Einklang zu bringen. 4. § 35 Abs. 2 InsO verfolgt zwei Ziele. Zum einen soll die Aufnahme oder Fortführung einer selbständigen Tätigkeit im Rahmen des Insolvenzverfahrens durch den Schuldner nicht nur ermöglicht, sondern aktiv gefördert werden. Zum anderen soll die Insolvenzmasse vor einer Belastung durch die selbständige Tätigkeit des Schuldners geschützt werden. Auch wenn § 1 S. 1 InsO etwas anderes vermuten lässt, stehen die von § 35 Abs. 2 InsO verfolgten Ziele in keinem Rangverhältnis. 5. Der Insolvenzverwalter hat nach § 35 Abs. 2 InsO entweder eine Positiv- oder eine Negativerklärung abzugeben. Erstere ist nur deklaratorischer Natur. Letztere trennt die selbständige Tätigkeit von der Insolvenzmasse. Erklärt der Insolvenzverwalter sich nicht, kommt dem pflichtwidrigen Unterlassen nur dann die Wirkung einer Positiverklärung zu, wenn dem Insolvenzverwalter Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis in Bezug auf die selbständige Tätigkeit des Schuldners zur Last fällt. Andernfalls werden durch das Schuldnerhandeln keine neuen Masseverbindlichkeiten begründet. 6. Für die Erklärung der Freigabe bedarf es keiner Zustimmung des Schuldners, wohl aber muss der Schuldner die Absicht verfolgen, selbständig tätig zu sein. 7. Die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO erfasst auch das der selbständigen Tätigkeit zugeordnete Bestandsvermögen.
193
I. Thesen und Schlussbetrachtung
8. Trotz systematischer Zweifel erfasst die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO aufgrund des klaren gesetzgeberischen Willens auch die der selbständigen Tätigkeit zugeordneten Arbeitsverhältnisse. Die Arbeitgeberfunktion fällt durch die Erklärung mit sofortiger Wirkung wieder dem Schuldner zu. 9. Die uneingeschränkte Anwendung der Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO auf Arbeitsverhältnisse ist verfassungsrechtlich bedenklich. Insbesondere die Menschenwürde und die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer sowie die Berufsfreiheit des Schuldners lassen an einer Zulässigkeit der uneingeschränkten Freigabe von Arbeitsverhältnissen zweifeln. Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb des Schuldners und der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung fordern hingegen einen grundsätzlichen Übergang der Arbeitsverhältnisse. 10. Für einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen hält das einfache Recht in Form von § 613a BGB eine geeignete Lösung bereit. § 613a BGB ist im Fall der Freigabe von Arbeitsverhältnissen direkt anwendbar. Das Merkmal des identitätswahrenden Übergangs wird aufgrund der unveränderten Fortführung der selbständigen Tätigkeit des Schuldners bei gleichzeitigem Übergang der Arbeitsverhältnisse gewahrt. Eine Unpfändbarkeit der Betriebsmittel ist für die Annahme eines Übergangs unschädlich. 11. Die von § 613a BGB zur Verfügung gestellten Rechtsfolgen führen zu einem angemessenen Ausgleich der berührten Gläubiger-, Schuldner- und Arbeitnehmerinteressen. Einzig ist eine freigabespezifische Auslegung von § 613a Abs. 6 BGB dahingehend nötig, dass der Arbeitnehmerwiderspruch nicht ex tunc, sondern ex nunc wirkt, da andernfalls eine Bezuschussung der selbständigen Tätigkeit des Schuldners droht. Darüber hinaus würde der Wunsch des Gesetzgebers nach einer zeitlich auf maximal drei Monate beschränkten Begründung von Masseverbindlichkeiten durch Arbeitnehmer umgangen. 12. Der Gläubigerwiderspruch wirkt insbesondere mit Blick auf die Arbeitsverhältnisse ex nunc. Die Arbeitnehmer sind über die Unwirksamkeitserklärung und deren Rechtsfolgen analog § 613a Abs. 5 BGB zu informieren. 13. Im Rahmen eines zweiten Insolvenzverfahrens über das freigegebene Vermögen des Schuldners besteht erneut ein arbeitnehmerseitiger Anspruch auf Insolvenzgeld, um der notwendigen Kontinuität des Arbeitsverhältnisses gerecht zu werden und § 35 Abs. 2 InsO zu bestmöglicher Wirkung zu verhelfen. 14. § 35 InsO sollte durch den Gesetzgeber reformiert werden. In diesem Zusammenhang sollte ein Abs. 2a eingefügt werden, der sich ausschließlich damit befasst, welche Auswirkungen die Freigabe der selbständigen Tätigkeit auf die Arbeitsverhältnisse hat. In diesem Zusammenhang sollte auch der Anspruch auf Insolvenzgeld erweitert werden, indem in § 165 SGB III die Fiktion eingeführt wird, dass die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO ein bestehendes Insolvenzereignis beendet. 194
II. Schlussbetrachtung
II. Schlussbetrachtung Die Arbeit hat gezeigt, dass die Freigabeerklärung nach § 35 Abs. 2 InsO weitrei- 582 chende Auswirkungen auf Arbeitsverhältnisse hat. Es entsteht der Eindruck, dass der Gesetzgeber diese Rechtsfolgen bei der Schaffung der Norm nicht voll erfasst hat. Daraus folgt für die Lehre und die Gerichte ein weitläufiges Feld an Interpretationsmöglichkeiten und für die Praxis eine erhebliche Unsicherheit. § 35 Abs. 2 InsO verlässt mit seinen Rechtsfolgen zum Teil bekannte Pfade, was 583 die Einordnung sowohl in das insolvenzrechtliche als auch in das arbeitsrechtliche System erschwert. Es handelt sich vielmehr um eine eigenständige Norm außerhalb des bekannten Fahrwassers. Der Gesetzgeber hat auf diese Weise ein erhebliches Konfliktpotential geschaffen, das sich aus der Notwendigkeit ergibt, sowohl die insolvenz- als auch die arbeitsrechtlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Mangels einer deutlichen Vorgabe des Gesetzgebers, in welche Richtung er die Norm verstanden wissen will, bleibt viel Interpretationsspielraum. Die vorliegende Arbeit füllt diesen Spielraum durch rechtsdogmatische Auslegung und Einbeziehung der objektiven Werteordnung des Grundgesetzes aus. Dabei wurden Ergebnisse gefunden, die das Arbeitsrecht und das Insolvenzrecht mit ihren jeweils eigenen Grundsätzen weitest möglich wahren. Es bleibt abzuwarten, ob sich der Gesetzgeber in Zukunft erneut dieser Norm an- 584 nehmen wird. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass durch die Rechtsprechung eine praxistaugliche Lösung entwickelt wird. Zum Teil ist sie dieser Aufgabe bereits nachgekommen.
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211
Stichwortverzeichnis
Arbeitgeberfunktion
4, 127, 138, 141 ff., 179 ff., 187, 197, 202, 205 f., 208, 223, 228, 244, 251, 282, 303 f., 305, 323, 345, 353, 365 f., 397, 405, 420, 446, 454, 456 ff., 464, 466, 488, 492 f., 506, 511 ff., 555, 561, 581 Arbeitgeberstellung 124 ff., 244, 453, 456 f., 466, 573 Arbeitnehmerwiderspruch 464 ff., 577, 581
Berufsfreiheit
31, 241, 250, 306 ff., 309 ff., 317 ff., 581 Bestandsschutz 242 ff., 251, 280, 282, 328 f., 339, 351, 493, 554, 217 Bestandsvermögen 6, 48, 85, 87, 92 f., 114, 117, 192, 202, 581 Betriebsinhaber 388 ff., 414, 455, 457, 554 Betriebsteil 145, 213, 246, 268, 280, 348 ff., 357 ff., 379, 381 f., 393 f., 398, 405, 486 Betriebsübergang 251, 348 ff., 491, 550 ff., 574
Direktionsrecht
127
Eigentumsschutz
252 ff., 288 ff., 313 Ermöglichungsabsicht 121, 199, 202 ff., 319, 322, 566 Erwerbschance 254 f., 283, 313 Erwerbsobliegenheit 110
Förderungszweck 115, 300, 445 Fortführungsabsicht 68 ff. Fortführungsprognose 259, 307 Forthaftung 337 ff., 421 ff: 432 ff. Freistellung 142, 200, 341
Insolvenzereignis 135, 527 f., 532 ff., 578 ff., 581 Insolvenzgeld 10, 135, 238 f., 517 ff, 560, 566, 570, 577 ff., 581 Insolvenzplan 538 f., 541, 547 f.
Kündigungsfrist
52, 137, 162, 199 f., 206, 210, 212, 216 f., 243, 247 f., 253, 258, 276, 294, 328, 332 ff., 432 f., 441 ff., 470 ff., 477 ff., 492 ff., 554, 560 Kündigungsschutz 210, 212, 235, 243 f., 258, 329 f. Kündigungsschutzklage/Kündigungsschutzprozess 127 ff., 156, 179, 334, 339, 454 ff., 511
Lohnnebenkosten
200
Masseschutz
23, 29, 69, 87, 112, 121, 140, 203, 206, 208, 221, 243, 270, 298, 339 ff., 426 f., 566, 581 Masseverbindlichkeit 14, 20, 24, 37, 40, 42, 52, 55, 79, 82 f., 104, 136 f., 152, 176, 197, 203 ff., 211, 213, 220 ff., 234, 270, 276, 285, 292, 297 ff., 303, 322, 326, 333, 342, 345, 421, 425, 527, 431, 433, 461, 468, 470 ff., 477 ff., 488, 492, 504, 508, 566, 581 Menschenwürde 110, 232 ff., 239, 465, 581 Miete 147
Negativerklärung
Gestaltungserklärung 446, 502, 506, 515 Gläubigerwiderspruch 9, 119, 483, 497 ff., 581
37, 83 ff., 289 ff., 299, 363, 370, 382, 385, 409, 413 f., 428, 446 f., 463, 472, 507, 513, 581 Neuerwerb 18 ff., 36 ff., 48, 59, 76, 82 ff., 86 f., 90, 92, 95 ff., 117, 139 ff., 148 f., 153, 163, 175, 192, 202, 216, 259, 287, 294 ff., 299, 314, 337 ff., 342, 378, 427, 431, 461, 469, 470 ff., 483, 498, 503, 505, 519 ff., 565
Haftungserklärung
Objektformel
59, 102, 119, 378,
381, 413
Informationspflicht
233 f.
Passivlegitimation 448 ff., 476, 491,
511 ff., 575 Insolvenzbeschlag 15, 50 ff., 75 ff., 85 ff., 171 ff., 367 ff., 408, 413, 469
127 ff., 156 ff., 453 ff., 511 pfändungsfrei 19, 106, 187, 342, 367, 370, 382, 413 Pfändungsschutz 107, 109, 367 ff., 373 ff.
213
Stichwortverzeichnis Positiverklärung 36, 42 ff., 82, 290 f., 307, 581 Prioritätsprinzip 292, 468, 522 Prozesspartei 126
Rangverhältnis 29, 342, 581 Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb 311 ff., 320, 340, 489 f., 581 Restschuldbefreiung 17, 26, 31 f., 95, 110 Rückabwicklung 483, 499, 501, 504 f., 515 Schutzpflicht
225, 236, 242 Sozialauswahl 213, 246, 280 Sozialstaatsprinzip 236 ff., 241 ff., 281 Sperrwirkung 538 f., 552
214
Teilfreigabe
213
Verfahrenshandlung
61, 73 Vermieter 147, 337 ff., 458 Vertragsfreiheit 247, 250 f., 273 ff., 466 Vorläufiger Insolvenzverwalter 67, 125 ff., 131, 136, 181
Zahlungsfähigkeit
527, 534 f., 537, 540 f., 544, 546, 552 f. Zahlungsunfähigkeit 3, 31, 529, 537, 542 Zustimmung 71 ff., 118, 128, 145, 467, 509, 581 Zweitverfahren 525, 526 ff.