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German Pages [429] Year 2020
Michael Gehler Alexander Merkl Kai Schinke
Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft Anspruch und Wirklichkeit
Institut für Geschichte der Universität Hildesheim
Arbeitskreis Europäische Integration Historische Forschungen Veröffentlichungen 12
Michael Gehler · Alexander Merkl · Kai Schinke (Hrsg.)
DI E EU ROPÄ ISC H E U N ION A LS V ER A N T WORT U NGSGEM EI NSC H A F T Anspruch und Wirklichkeit
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gefördert durch Mittel aus dem Niedersächsischen Vorab der VolkswagenStiftung und das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur im Rahmen des Programms „Zukunftsdiskurse“
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Lektorat Becker und Schütz, Kassel Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21001-6
Inhalt Einführung zum Projektband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Teilbereich I: Grundlagen und Anspruch der EU als Verantwortungsgemeinschaft Jürgen Nielsen-Sikora Europa als Verantwortungsgemeinschaft?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Werner Müller-Pelzer Verantwortung. Zur Regeneration des europäischen Zusammenlebens. . . . . . . . . 43 Peter Pichler Verantwortung im Rahmen der Europäischen Union als Kulturgemeinschaft. Struktur, Risiko, Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Silvio Vietta Europas Werte und Werte-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Teilbereich II: Wirklichkeit – konkrete Verantwortungsfelder der Verantwortungsgemeinschaft EU A) Geschichts- und Friedensverantwortung Peter Nitschke Die EU als Friedens- und Versöhnungsprojekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Michael Gehler Mehr Nachkriegs- als Friedensordnungen. Zur Frage europäischer Friedens- als Verantwortungspolitik 1919–2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Thomas Spielbüchler Die EU als postkoloniale Verantwortungsgesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
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Inhalt
B) Sicherheits- und Verteidigungsverantwortung Marco Schrage Theologisch-ethische Orientierungen – verbunden mit einem Blick auf Mali.. . . . . 197 Philipp von Wussow Die EU und ihre Technologieverantwortung: Cybersicherheit.. . . . . . . . . . . . . 219
C) Zuwanderungsverantwortung Danielle Gluns · Hannes Schammann Die EU und die globale Migration als gegenwärtige Herausforderung und bleibende Zukunftsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Alexander Merkl Der „reife Mensch“ (Max Weber). Über die Tragfähigkeit der Distinktion zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Anwendungskontext von Migration und Flucht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
D) Wirtschafts- und Handelsverantwortung Godelieve Quisthoudt-Rowohl Handelsbeziehungen im Wandel. Globale Verantwortung für die Europäische Union. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Joachim Wiemeyer Jugendarbeitslosigkeit – eine gesamteuropäische Verantwortung. . . . . . . . . . . . 289 Wolf J. Schünemann Neue Regeln für den Datenschutz. Europäische Verantwortungsübernahme im transnationalen Datenhandel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311
E) Perspektiven Bernhard Koch Traditio und translatio. Europäische Verantwortung im Kontext von Mehrsprachigkeit und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
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Inhalt
Sebastian Harnisch · Martina Vetrovcova Globale Verantwortung. Die neue Rolle der Europäischen Union. . . . . . . . . . . . 357 Beatrix Niemeyer Europäische Gemeinschaft vermitteln. Wegweisungen durch ein weites Feld.. . . . . 381 Konstantin Gerbrich · Pia-Marie Holstein · Anna-Lena Lorenz Pulse of Europe Hildesheim. Ein persönlicher Erfahrungsbericht und eine Zwischenbilanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
Epilog: Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft. Verbleibende Aufgaben für die Gegenwart und die Zukunft.. . . . . . . . . . . . . . 411
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
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Einführung zum Projektband I. ‚Zukunftsdiskurs‘ – Hintergründe und Voraussetzungen des Projektbandes Der vorliegende Sammelband ist als Endergebnis des Projekts „Die EU als Verantwortungsgemeinschaft – gestern, heute und morgen“ zu verstehen. Dieses war im Oktober 2018 im Rahmen der Ausschreibung ‚Zukunftsdiskurse‘ des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur durch die beiden Mitherausgeber Michael Gehler und Alexander Merkl beantragt und im Januar 2019 vollumfänglich bewilligt worden. Die aus dem Niedersächsischen Vorab1 der VolkswagenStiftung zur Verfügung gestellten Mittel wurden vornehmlich für die Einrichtung einer wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle (Kai Schinke), die Durchführung einer öffentlichen und dreiteiligen Veranstaltungsreihe sowie für die Anfertigung des vorliegenden Sammelbandes eingesetzt. Das Ziel der ursprünglichen Ausschreibung lautete wie folgt: Der demokratische Staat lebt von der freien politischen Meinungsbildung seiner Bürgerinnen und Bürger. Demokratische Entscheidungen sind ohne gesellschaftliche Diskurse nicht denkbar. Umso wichtiger ist es, dass diese Diskurse in aller Offenheit und auf der Grundlage eines fundierten Wissens geführt werden. […] Vor diesem Hintergrund stehen die Hochschulen und Forschungseinrichtungen als öffentliche Einrichtungen in einer besonderen Verantwortung, einen Beitrag für das demokratische Gemeinwesen zu leisten. Hochschulen und Forschungseinrichtungen bündeln das aktuelle Wissen. Sie sind Orte der methodischen Kritik und des zivilisierten Diskurses – eines wissenschaftlichen fundierten Dialoges, in dem das bessere Argument den Ausschlag gibt. Hochschulen und Forschungseinrichtungen können somit wichtige Beiträge für die politischen und gesellschaftlichen Debatten leisten. Solche Beiträge sollen mit der Ausschreibung ‚Zukunftsdiskurse‘ stimuliert werden. Sie richtet sich vor allem an die Geistes- und Sozialwissenschaften in Niedersachsen. Um deren Funktion als herausragende Impulsgeber für die geistige, politische, soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklung unserer Gesellschaft zu stärken, fördert das MWK mit den Zukunftsdiskursen Projekte, die insbesondere im Rahmen von wissenschaftlichen Veranstaltungen aktu-
1 „Einen Teil der jährlich verfügbaren Fördermittel der VolkswagenStiftung erhält das Land Niedersachsen ‚vorab‘. Hierzu werden dem Kuratorium der Stiftung zumeist im Sommer und im Herbst Verwendungsvorschläge vorgelegt, die zuvor von der Niedersächsischen Landesregierung beschlossen wurden.“ Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur, in: https://www.mwk.niedersachsen.de/startseite/forschung/ forschungsforderung/niedersachsisches_vorab/volkswagenstiftung-118900.html (abgerufen am 18.12.2019).
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Einführung zum Projektband
elle, zukunftsgerichtete Fragestellungen in origineller Weise aufgreifen. Die Projekte sollen als qualifizierter Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte verstanden werden, sowohl im Sinne des Impulses als auch als Beitrag zu deren Versachlichung. Die Wahl des Projektthemas sollte sich an den großen gesellschaftlichen Themen der Zeit orientieren. Dazu gehören unter anderem die Fragen nach einer europäischen Identität angesichts der Krise der Europäischen Union, die Zukunft der bisherigen Wirtschafts- und Sozialordnung vor dem Hintergrund der Globalisierung und Digitalisierung, die Folgen der Migration für die politische Kultur und das demokratische Gemeinwesen und das Spannungsverhältnis von Regionalisierungstendenzen in einer globalisierten Welt.2
Das durchgeführte Projekt setzte an genau dieser Stelle der Ausschreibung an. Es wollte und will die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft aus geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektive beleuchten und so auf ihren Aktualitätsbezug sowie ihre Relevanz für die Zukunft hin befragen. Zugleich beabsichtigte es, bürgergesellschaftliche Dialoge durch wissenschaftliche Expertise und fernab eines einfachen Schwarz-Weiß-Denkens zu stimulieren sowie die Teilnehmenden zu sensibilisieren und zu informieren. Dabei ging es nicht nur um die gegenwärtige Krise der EU und bewusst nicht um andernorts bereits vielfach behandelte Themen (Brexit, Währungskrise etc.), sondern gerade um die geschichtlichen Fundamente der EU, um dezidiert ethische Fragestellungen und um zukünftige Herausforderungen. Zentraler Fixpunkt des Projekts sollten die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 23. bis 26. Mai 2019 sein. Der Ort des Zukunftsdiskurses war die Stadt Hildesheim als Weltkulturerbe- und als universitärer Bildungsstandort. Damit stand der Zukunftsdiskurs auch im Kontext der angestrebten Bewerbung Hildesheims als ‚Kulturhauptstadt Europas 2025‘. Die öffentliche Veranstaltungsreihe wurde dreigeteilt und zwischen April und Juni 2019 durchgeführt. Den Auftakt bildete eine durch den Oberbürgermeister der Stadt Hildesheim, Dr. Ingo Meyer, eröffnete Podiumsdiskussion am 5. April (RednerInnen: Heinz-Gerhard Justenhoven, Jürgen Nielsen-Sikora, Godelieve Quisthoudt-Rowohl, Konstantin Gerbrich, Monika Oberle) gefolgt von einem zweitägigen Bürgerforum am 26. und 27. April (Redner: Thomas Spielbüchler, Peter Nitschke, Michael Staack, Philipp von Wussow, Andreas Maurer, Hannes Schammann). Die Abschlussveranstaltung wurde am 27. Juni und damit bewusst im Nachgang zu den Wahlen zum Europäischen Parlament ausgerichtet (Redner: Christoph Pohlmann). In deren Rahmen wurde ebenfalls ein Thesenpapier diskutiert, das Ergebnisse der vorangegangenen Veranstaltungen für eine kritische Diskussion bündeln sollte. Informationsmaterial hierzu sowie die Videoaufzeichnungen der einzelnen Vorträge sind unter www.uni-hildesheim.de/zukunftsdiskurs-eu einzusehen. 2 Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur, Zukunftsdiskurs, in: https://www.mwk.nieder sachsen.de/startseite/forschung/forschungsforderung/forschungsforderung_durch_das_mwk/neue_ausschrei bungen_und_laufende_programme/zukunftsdiskurse-155315.html (abgerufen am 08.12.2019).
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Einführung zum Projektband
II. Ethik, Geschichte, Politik – die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft Die Grundannahme des Projekts wie des Sammelbandes ist, dass die EU in gegenseitigem Austausch als Geschichtssubjekt und Zukunftsprojekt geistes- und sozialwissenschaftlich erschlossen werden kann. Der konzeptionelle Ausgangspunkt, der sich durch die disziplinäre Verortung der beiden Antragsteller erklärt, war die Zusammenführung von aus historischer und ethischer Sicht relevanten Fragestellungen, die durch die Perspektiven weiterer Diszi plinen wie der Politikwissenschaft und aus der politischen Praxis noch zusätzlich bereichert werden sollten. Dieser Zugang war im Einzelnen wie folgt motiviert. 1. Ethik und Europäische Union Ethik, primär verstanden als praxisorientierte Reflexionstheorie der Moral, und Politik gehören eigentlich zusammen. Dies zeigt sich in Deutschland immer wieder beispielhaft, insbesondere in den letzten Jahren, in Diskussionen um medizin- (bspw. Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung, Suizidbeihilfe) oder militärethische (bspw. beim Einsatz von Drohnen und autonomen Waffensystemen) Themen. Als Beratungsgremium der Deutschen Bundesregierung fungiert in diesen Fragen der interdisziplinär zusammengesetzte Deutsche Ethikrat, zu dem auch mehrere Ethiker zählen. Auf der Ebene der EU ist ein zumindest in Ansätzen vergleichbares Gremium mit der European Group on Ethics in Science and New Technologies (kurz: EGE) gegeben, das jedoch aufgrund struktureller Vorgaben in seiner inhaltlichen Arbeit limitiert ist. Ethische Überlegungen werden dadurch oft wenig tragfähig artikuliert und entsprechend selten wahrgenommen, obgleich sich die EU selbst mit ihrem klar formulierten Wertefundament3 (EU-Vertrag von Lissabon, Art. 2) und als Friedensnobelpreisträgerin (2012) einem hohen ethischen Anspruch verschreibt: Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.
Diesem gerecht zu werden, wird gegenwärtig und auf absehbare Zukunft allen voran durch Themen wie Sicherheit, Klimawandel, Sanktionsmaßnahmen, Migration und Flucht sowie die Bedrohung durch atomare Waffen herausgefordert. Die Frage nach der Verantwortung 3 Alexander Merkl, Die Europäische Union und ihre Werte – normative Leitvorstellungen oder moralisches „Feigenblatt“?, in: Ethik und Militär (2018), Heft 2, 4–9.
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Einführung zum Projektband
der EU wird laut. Inmitten der (inter-)nationalen und realpolitischen Interessenabwägungen sowie des europapolitischen Alltagsgeschäfts werden ethische Überlegungen jedoch zunehmend an den Rand gedrängt. Auch von Seiten der VertreterInnen einer wissenschaftlichen Ethik zeigen sich bislang kaum bis keine Bemühungen, dieser Entwicklung – ihrer eigenen Marginalisierung in Europafragen – entgegenzuwirken. Der Sozialethiker Johannes J. Frühbauer bestätigt diese Wahrnehmung und bemängelt eine „auffällige Abstinenz“ christlicher gleichwie philosophischer Ethik: „Überschaubar und nicht selten konzeptionell dünn sind dazu vorliegende Beiträge.“4 So widmet das im Jahr 2017 publizierte ‚Handbuch Friedensethik‘5, das Beiträge aus verschiedensten Disziplinen (u. a. Rechtswissenschaft, Friedensforschung, Politikwissenschaft, Geschichte, Ethik) enthält, einer expliziten politisch-ethischen Betrachtung der EU auf knapp 1.000 Seiten keinen eigenständigen Beitrag, um nur ein Beispiel jüngeren Datums zu nennen. Bedauerlich ist dies deswegen, da die EU gewiss von Beginn an ein Eliten- und Wirtschaftsprojekt, aber eben doch auch ein genuin ethisches Projekt mit einem besonderen moralischen Anspruch – sowohl als Friedens- und Versöhnungsgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg als auch als Wertegemeinschaft – war und ist, jedoch unter veränderten Voraussetzungen. Nicht zu Unrecht wurde daher aus dem angloamerikanischen Sprachraum die in vielen Teilen immer noch nicht eingelöste Forderung formuliert: „[A] better intellectual foundation of the EU’s wide-ranging ethical ambitions is of paramount importance.“6 Dem will sich der Sammelband annehmen. Er will die Stimme der Ethik im wissenschaftlichen Diskurs zur EU hörbar machen, damit ein ethisches Forschungsdesiderat aufarbeiten und die Bedeutsamkeit ethischer Reflexion im Kontext der EU an konkreten Themenfeldern herausstellen und so die gesellschaftlichen Debatten um eine wesentliche, eben die ethische Dimension nachhaltig erweitern. Dies sollte jedoch nicht isoliert, sondern im Gespräch mit weiteren Geisteswissenschaften, allen voran der europäischen Integrationsgeschichte erfolgen. 2. Europäische (Integrations-)Geschichte Das Europa der Einigung wäre nicht Europa, hätte es nicht gleich zwei offizielle Gedenktage. Der 5. Mai 1949 steht für die Gründung des Europarats und der 9. Mai 1950 für die An4 Johannes J. Frühbauer, Europa – (k)ein Gerechtigkeitsprojekt? Die soziale Erosion einer politischen Vision, in: Amosinternational 10 (2016), 21–26, 23/26. Als ein erster Versuch, dieses Desiderat allen voran für die Europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu bearbeiten, ist der Band von Alexander Merkl/Bernhard Koch (Hrsg.), Die EU als ethisches Projekt im Spiegel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik (Studien zur Friedens ethik 63), Baden-Baden/Münster 2018 zu verstehen. 5 Ines Jacqueline Werkner/Klaus Ebeling (Hrsg.), Handbuch Friedensethik, Wiesbaden 2017. 6 Hartmut Mayer, „Is it still called ‚Chinese Whispers‘? The EU’s rhetoric and action as a responsible global institution“, in: International Affairs 84 (2008), 61–79, 77.
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Einführung zum Projektband
kündigung einer Kohle- und Stahlgemeinschaft. Europas Jugendliche forderten schon in den 1950er Jahren mehr, stürmten die deutsch-französischen Grenzanlagen, rissen Zolltafeln ab und verbrannten Schlagbäume. Sie beklagten das Versagen der Politik, weil es für sie keine zukunftsorientierte Union gab. Doch die Politik legte die geforderte europäische Verfassung auf Eis. Der erst Jahrzehnte später ausgearbeitete EU-„Verfassungsvertrag“ scheiterte 2005 am französischen und niederländischen Widerstand. Trotz erreichter „Vier Freiheiten“ des Binnenmarkts (Dienstleistungs-, Güter-, Kapital-, Personenverkehr), Einheitswährung, Erweiterung um das Baltikum, die Mitte, den Osten und Südosten des Kontinents ist der Zustand der EU mit Blick auf die Eurozone, die Bewältigungsversuche der Flüchtlingsströme, das Brexit-Szenario und das brüchig gewordene transatlantische Verhältnis sehr kritisch. Mit der Verschmelzung der Kohle- und Stahlindustrie wurde geschichts- und friedensverantwortlich Krieg im gemeinschaftlichen Europa unmöglich. Das war Grundlage für die deutsch-französische Verständigung und Versöhnung. Daraus erwuchs aber noch keine wirkungsvolle gesamteuropäische Idee. Die Kohle- und Stahlfusion als Friedensprojekt war zwar ein Anfang, blieb aber räumlich begrenzt: Europäische Integration war Integration Westeuropas, Teil des Kalten Krieges und in Abwehrstellung zur Sowjetunion, die ihrerseits die europäische Einigung bekämpfte und sich heute in Form der Russischen Föderation wieder in Konfrontation zum gemeinschaftlichen Europa befindet und somit die Frage der Sicherheits- und Verteidigungsverantwortung berührt. Die alten Konfliktmuster und Spannungen sind mit Putins imperial ambitioniertem Russland zurückgekehrt. Weil es Teil Europas ist, kann es aber vom EU-Raum nicht einfach abgekoppelt und ausgegrenzt werden. Mehr denn je stellen sich heute Aufgaben resultierend aus Geschichts- und Friedens-, Sicherheits- und Verteidigungs- sowie Erweiterungs- und Zuwanderungsverantwortung. Erst seit 1979 existiert ein allgemein, direkt und frei gewähltes Europäisches Parlament. Kontinuierlich sinkende Beteiligungen an Europawahlen sind kein Zufall. Aus der Methode Monnet „Der Weg ist das Ziel“ erwuchs die bis heute ungelöste Problematik der „Finalität“, d. h. die Frage nach dem Endzweck der EU: Was soll sie sein, wo enden ihre Grenzen? Daraus erwächst auch die Notwendigkeit der Beantwortung der Frage nach der Erweiterungs- und somit auch der Zuwanderungsverantwortung. Im Falle internationaler Krisen wird noch mit Einstimmigkeit entschieden. Die „Politische Union“ steht bis heute auf dem Papier. Eine „Sozialunion“ fehlt und wäre dringlicher als die schon beschlossene „Energieunion“. Das von den Mitgliedern getragene verspätet direkt demokratisierte, nicht-konstitutionelle und multipräsidentielle Konstrukt stellt eine europäische Vertragsgemeinschaft dar, ein höchst komplexes, kaum mehr zu überblickendes und schwer durchschaubares, geschweige denn leicht zu erklärendes Gebilde, welches die Fragen der benannten Verantwortlichkeiten, d. h. letztlich ihrer Endzweckbestimmung (Finalität) und damit ihre Weiterbildung beantworten wird müssen, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts erfolgreich begegnen zu können.
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Einführung zum Projektband
3. Die EU als Verantwortungsgemeinschaft Die Bezeichnung der EU als ‚Verantwortungsgemeinschaft‘ sowie der entsprechende thematische Zuschnitt von aus historischer und ethischer Sicht relevanten Fragestellungen mögen zunächst überraschen. Dies hatte sich auch im Rahmen der durchgeführten Veranstaltungen gezeigt. Deutlich verbreiteter sind hier Begriffe wie Friedens- und Versöhnungsprojekt, Solidar-, Wirtschafts- oder Wertegemeinschaft. Sie aber beschreiben zumeist nur einen und zudem nicht selten kritisch wahrgenommenen Teilaspekt der EU. Hiergegen wurde durch die Entscheidung für den Verantwortungsbegriff als (nochmals übergeordneter) Alternative zu ebendiesen bekannten Narrativen zum einen ein Begriff des Alltagslebens, der Politik, der Geschichte, des Rechts und der Moral verwendet und dadurch zum anderen die Idee eines erneuerten und dadurch innovativen Zugangs erprobt. Dabei ist es evident, dass ‚Verantwortung‘ ein sehr umfassender, weitläufiger und deutungsoffener Begriff ist, welcher sowohl der Akzentsetzungen als auch Schwerpunktsetzungen bedarf. Angesichts des hochkomplexen Gebildes ‚Europäische Union‘ ist dies jedoch nicht nur als Nachteil, sondern auch als Chance zu sehen. Nur einige Motive, die diese Wahl begründen, seien genannt. Die einzelnen Beiträge werden im Folgenden näher auf die vielfältigen und unterschiedlichen Dimensionen des Verantwortungsbegriffs eingehen. Verantwortung zu übernehmen weist, als prospektive Verantwortung, nach vorne, deutet auf die Zukunft hin. Als retrospektive Verantwortung verlangt sie aber zugleich auch, auf die geschichtlichen Erfahrungen zu rekurrieren. Die EU ist heute und auf Zukunft hin nicht ohne diese historischen Wurzeln und Ereignisse zu verstehen. Zugleich fordert Verantwortung im Hier und Jetzt dazu auf, die vielfältigen Herausforderungen, mit denen sich die EU konfrontiert sieht, wahrzunehmen und nach tragfähigen Antworten zu suchen, Handeln eben zu verantworten. Bedeutsam ist dabei nicht nur, wo und dass die EU handeln muss, sondern auch das Wie ihres Handelns, was ethische Überlegungen erforderlich macht. Verantwortung ist damit keineswegs nur ein politischer, sondern auch ein ethischer7 Grundbegriff und versteht sich in vielem erst gänzlich von der (jeweils eigenen) Vergangenheit her. Er ist somit interdisziplinär anschlussfähig, ist geistesgeschichtlich in vielfacher Weise bedacht und spannt einen weiten Bogen zwischen individueller und kollektiver, prospektiver und retrospektiver, positiver und negativer sowie eben moralischer und politischer Verantwortung, die durchaus Grenzen und Stufungen kennt. Als einem mehrstelligen Relationsbegriff – wer verantwortet was, wofür, weswegen, wovor, wann und wie? – ist ihm ein spezifischer Kerngehalt zuzuschreiben, der jedoch immer auch der anwendungsorientierten Konkretion bedarf.
7 Ulrich H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik, Göttingen 32012, 92: „Er [der Verantwortungsbegriff] gilt heute als Leitbegriff einer zukunftsorientierten […] Ethik.“
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Einführung zum Projektband
III. Anlage und Inhalte des Sammelbandes Der Sammelband wurde aus den zur Verfügung gestellten Projektmitteln finanziert und stellt die verschriftlichten und ausgearbeiteten Beiträge eines Großteils der ReferentInnen sowie damit wesentliche Ergebnisse des Zukunftsdiskurses zusammen. Um die Breite des Diskurses während und abseits der Veranstaltungen möglichst vollständig wiederzugeben, sammelt dieser Band die Beiträge aller AutorInnen ungefiltert. Die Grundstruktur ergibt sich aus den thematischen Schwerpunktsetzungen der dreiteiligen Veranstaltungsreihe. Unabhängig von der durch die gesetzten Vorgaben engen Zeitplanung wurde durch substantielle Ergänzungen versucht, weiterführende Impulse aus den einzelnen Beiträgen und aus den jeweiligen Diskussionen in den Band mitaufzunehmen. Damit soll eine gewisse thematische, wenn auch begrenzte Breite europäischer Verantwortung zukunftsorientiert, jedoch auch im Wissen um die eigene Vergangenheit und angesichts der Gegenwart interdisziplinär profiliert werden. In einem ersten von zwei großen Teilkapiteln ‚Grundlagen und Anspruch der EU als Verantwortungsgemeinschaft‘ geht es zunächst um grundlegende Zugänge zur EU als Verantwortungsgemeinschaft. Als erster Autor präsentiert Jürgen Nielsen-Sikora Gedanken zu einer philosophisch-ethischen Beschreibung von Verantwortung (Europa als Verantwortungsgemeinschaft?, Seite 25). Um dies zu erläutern, rekonstruiert er ein sozialwissenschaftliches, ethisches und politisches Verständnis von Verantwortung ausgehend von der Verwendung bei Immanuel Kant. Über die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bei Max Weber hinausgehend8 stellt Nielsen-Sikora die Gedanken von Hans Jonas sowie von Vittorio Hösle im Kontext einer ökologischen Verantwortung dar. Mit Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel führt er die Diskursethik als ursprüngliches Moment des Menschseins innerhalb von Gemeinschaften ein. Verantwortlichkeiten, die bei Jonas noch stark an die Umwelt geknüpft sind, seien nun im argumentativen Austausch mit Anderen zu verorten. Nicht nur für den politischen Betrieb folge daraus, dass Handlungen immer vor Anderen verantwortet werden und Akteure für jede Handlung Rechenschaft ablegen müssten. Nielsen-Sikora behandelt einige Felder, in denen die EU selbst von Verantwortung spricht oder eine höhere Verantwortlichkeit erforderlich wäre, und zieht zum Ausblick noch einmal Jürgen Habermas heran. Mit dessen verantwortungsethischem Handlungsprinzip verlangt er, vier Bedingungen an den argumentativen Dialog anzulegen, an denen sich auch die EU als Verantwortungsgemeinschaft messen lassen muss. Einen anderen Typus von Verantwortung im Kontext von Gemeinschaft erläutert Werner Müller-Pelzer. Er beschreibt in seinem Aufsatz (Verantwortung. Zur Regeneration des europäischen Zusammenlebens, Seite 43) die Perspektive der EU-BürgerInnen auf die EU, wenn von Werten9, politischer Bildung und kulturellen Anliegen die Rede ist. In ihrem ak8 Zur weiteren und tiefergehenden Untersuchung der Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik siehe den Beitrag von Alexander Merkl. 9 Eine detaillierte Beschreibung der europäischen Werte und ihrer Krisen liefert Silvio Vietta.
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Einführung zum Projektband
tuellen Zustand als konstruiertes Institutionsgefüge fehle der EU die Eignung zur Verantwortungsgemeinschaft. Sie schaffe es nicht, ihre BürgerInnen auf einer affektiven Ebene zu erreichen und ein ‚Wir-Gefühl‘ zu erzeugen, das verbindend wirkt, wie es auch Peter Pichler in seinem Beitrag aufzeigt. Müller-Pelzer differenziert den Terminus ‚Gesellschaft‘ von ‚Gemeinschaft‘ und identifiziert konstitutive Elemente und Rahmenbedingungen. Unterschiedliche Situationen – im weiteren Sinne gefasst als breit gefächertes Spektrum menschlichen In-der-Welt-Seins – verschiedener Qualitäten können für individuelle Persönlichkeiten essentiell bzw. „implantierend“ sein, um aus den Betroffenen eine Gemeinschaft zu bilden. Diese Begriffe verwendet Müller-Pelzer, um die EU von Europa zu unterscheiden. Er stellt dar, wie sich gesellschaftliche, kosmopolitische, ökonomische und politische Strukturen auf die Wahrnehmung der vermeintlichen Gemeinschaft durch die EU-BürgerInnen auswirken. Peter Pichler ergänzt diese Beschreibung der EU als Verantwortungsgemeinschaft um einen neuen Zugang. Er untersucht die Europäische Gemeinschaft in seinem Beitrag (Verantwortung im Rahmen der Europäischen Union als Kulturgemeinschaft: Struktur, Risiko, Zukunft, Seite 87) aus einer kulturhistorischen Perspektive. Einen Anlass zur Neubetrachtung der Theorieforschung zur europäischen Integrationsgeschichte sieht Pichler in der akuten empirischen Erklärungsnot der bisherigen Großtheorien im Angesicht der momentanen Krise. In der Kernthese seines Aufsatzes bezeichnet er die EU aus kulturhistorischer Perspektive als kulturelle Risikogemeinschaft. In ihrem Mittelpunkt stehe ein historisches Grundrisiko, welches konstitutiv für ihren Zusammenhalt sei. Es gelte, das oszillierende Verhältnis zwischen Nationalismus und Supranationalismus gewissermaßen einzufrieren und die mühsam gewonnene paradoxe Kohärenz zwischen den Polen aufrechtzuerhalten. Aus diesem Verhältnis gewinne die EU laut Pichler ihre Identität und Bedeutung. Besagtes systemisches Grundrisiko sei nicht nur dem System immanent, sondern darüber hinaus auch für selbiges konstitutiv. Dieses habe sich in der über sechzigjährigen Geschichte der EU an verschiedenen Nahtstellen gezeigt und tauche im Kontext der Migrations- und Demokratiekrise10 seit 2015 wieder auf. Für die EU als Verantwortungsgemeinschaft im Rahmen eines Zukunftsdiskurses muss es Peter Pichler nach darum gehen, die Handlungsspielräume im oszillierenden Verhältnis der paradoxen Kohärenz zu nutzen. So könnten die Differenzen erneut überwunden und das potentielle Scheitern der Risikogemeinschaft verhindert werden. Silvio Vietta wirft einen pointierten Blick auf die europäische Gemeinschaft, indem er das bekannte Narrativ der Wertegemeinschaft auf dessen Herkunft und Aktualität hin prüft (Europas Werte und Werte-Krise, Seite 101). Auf der Basis seines kulturhistorischen Ansatzes untersucht Vietta die Bildung eines gemeinsamen Fundus europäischer Werte, die globalen Charakter erreicht hätten und weltweit zur Leitkultur zählten. Als Werte bezeichnet er Leitvorstellungen für das Denken und Handeln von Menschen in ihren jeweiligen Kulturen. Vietta stellt im Folgenden drei zentrale abendländische Wertefamilien vor: Die Rationalitätskultur, religiöse und patriotische Werte. Im zweiten Teil seines Aufsatzes beschreibt er an10 Auf eine Untersuchung der Migrationsfrage verlegen sich Danielle Gluns und Hannes Schammann.
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Einführung zum Projektband
hand von sieben Beispielen die aktuelle Krise der europäischen Werte(-gemeinschaft). Über die Krise der Nachhaltigkeit11 hinaus analysiert er weitere Werte und gibt einen Überblick über die wichtigsten ‚Baustellen‘ der europäischen Wertekrise. Während der erste Teilbereich die Europäische Verantwortungsgemeinschaft aus einer philosophisch-ethischen, soziologischen und kulturhistorischen Perspektive beleuchtet, wird der hieran anschließende zweite Teilbereich ‚Wirklichkeit – konkrete Verantwortungsfelder der Verantwortungsgemeinschaft EU‘ die skizzierten Ansprüche auf konkrete Situationen hin prüfen. Historisch gewachsene Verantwortung, aktuelle Konfliktbereiche und die zukünftigen Herausforderungen der EU werden vor dem Horizont dieser Grundlagen untersucht. Den ersten Themenblock bildet die ‚Geschichts- und Friedensverantwortung‘, um die historisch gewachsene Verantwortung der EU in den Mittelpunkt zu rücken. Peter Nitschke leitet in diesen Abschnitt ein, indem er über das Narrativ der EU als Friedens- und Versöhnungsprojekt nachdenkt (Die EU als Friedens- und Versöhnungsprojekt, Seite 127). Es stelle sich die Frage, inwieweit diese traditionelle Sichtweise auf die EU noch berechtigt sei und wie diese in Zukunft aufrechterhalten werden könne. Nitschke untersucht die treibenden Motive der europäischen Integration und skizziert drei potentielle Szenarien für die zukünftige Entwicklung der EU. Neben den zivilisatorischen Werten und der Frage, ob die EU als eine Zivilisation bezeichnet werden könne, interessiert sich Nitschke für die Rolle der EU als Schutzmacht und ihre militärischen Strukturen. Kann die EU angesichts der prekären Lagen an ihren Außengrenzen ihre Aufgabe als Friedensgemeinschaft noch wahrnehmen oder ist sie daran bereits gescheitert? Nitschke fordert, dass die Friedensmacht EU als Verteidigungsmacht konzipiert werden muss, um ihren Anforderungen gerecht zu werden. Michael Gehler untersucht die europäische Friedenspolitik als Frage der Verantwortung (Mehr Nachkriegs- als Friedensordnungen. Zur Frage europäischer Friedens- als Verantwortungspolitik 1919–2019, Seite 139). Zentral für seine Untersuchung sind die Nachkriegsordnungen der Jahre 1919/1920, 1945–1949–1955 und 1990–2019 die jeweils das Ende der großen Kriege des letzten Jahrhunderts (zwei Weltkriege und der Kalte Krieg) markieren. Gehler spricht diesen den Titel einer Friedensordnung ab und lässt lediglich die Ordnungen nach dem Ende des Kalten Krieges als Friedenssysteme gelten. Über den Wandel durch Annäherung, der die deutsche Ostpolitik in den Jahren vor der deutschen ‚Wiedereinigung‘ prägte, und eine kritische Untersuchung der EU- und NATO-Osterweiterungen leitet er zum Friedensprojekt EU im Jahr 2019 über. Die Positionierung des Westens gegenüber Russland und der Sowjetunion spielt für Gehler bei der Untersuchung der Nachkriegsordnungen eine wichtige Rolle, da dieses Verhältnis auch für die aktuelle Situation der EU wieder von großer Bedeutung sei. Der Westen und die NATO müssen sich dort, wo die Frage der europäischen Friedens- und Verantwortungspolitik zur Sprache kommt, vorwerfen lassen, eine gesamteuropäische Friedensordnung versäumt zu haben. 11 Die Rolle der EU im internationalen Klimaschutz thematisieren Martina Vetrovcova und Martin Harnisch.
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Einführung zum Projektband
An die Anfänge des europäischen Integrationsprozesses zurück, jedoch fort vom kontinentalen Schauplatz Europa, bewegt sich Thomas Spielbüchler (Die EU als postkoloniale Verantwortungsgesellschaft, Seite 171). Bei seinem Vortrag auf dem Bürgerforum im Sommer 2019 klammerte er das Adjektiv ‚postkolonial‘ im Titel bewusst ein. In seinem Beitrag begründet er dies ausführlich. Die ungleiche Partnerschaft zwischen Europa und Afrika beschreibt er, indem er den Beginn des europäischen Integrationsprozesses ab 1946 untersucht. Den Kontext dazu bildet ein Afrika, das zu diesem Zeitpunkt immer noch zu großen Teilen unter kolonialer Herrschaft stand. Bis zu den Römischen Verträgen 1957 habe ein verantwortlicher Umgang mit den afrikanischen Staaten keine Rolle gespielt. Erst ab diesem Zeitpunkt, so Spielbüchler, könne man von einer postkolonialen Verantwortungsgemeinschaft sprechen. Über eine Reihe von Assoziierungsabkommen hinweg, die Fragen von wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Unterstützung bei der Entwicklung des Kontinents thematisieren, veränderte sich die Beziehung zwischen der wachsenden europäischen Staatengemeinschaft und den afrikanischen Staaten. Während das Abkommen von Yaoundé I (1963) und Yaoundé II (1971) noch rein europäische Verträge gewesen seien, die den afrikanischen Partnern nur zum Unterzeichnen vorgelegt wurden, entwickelten sich die Beziehungen erst über weitere Verträge fort. Den ersten Beitrag des zweiten Themenblocks ‚Sicherheits- und Verteidigungsverantwortung‘ formuliert Marco Schrage aus der Perspektive der katholischen Friedensethik mit Blick auf das sicherheitspolitische Engagement der EU in Mali (Theologisch-ethische Orientierungen – verbunden mit einem Blick auf Mali, Seite 197). Er folgt dem theologischethischen Argumentationsmuster: Sehen – Urteilen – Handeln. Mit einer Darstellung der aktuellen Situation und der europäischen Initiativen in Mali bereitet er den Grund für die nachfolgende Untersuchung. Seine Gedanken entfaltet er entlang friedensethischer Kriterien, bevor er in zwei exemplarische Konkretionen überleitet. Ob für ein Gemeinwesen unweigerlich die freiheitlich-demokratische Verfassung und ob für jede selbstbestimmungsfähige Gruppe die Eigenständigkeit anzustreben sei, stellt Schrage dabei in Frage. In seinen Schlussfolgerungen skizziert er konkrete Handlungsoptionen angesichts der aktuellen Situation in Mali. Nach der Technologieverantwortung im Bereich der Cybersicherheit fragt Philipp von Wussow (Die EU und ihre Technologieverantwortung: Cybersicherheit, Seite 219). Die Strategie der EU, die von Wussow in ihrem bisherigen Zustand als keinen ernstzunehmenden Player identifiziert, beinhalte zwei zentrale Elemente: die Resilienz und die Cyberdiplomatie. Von Wussow schafft Klarheit hinsichtlich der vieldeutigen Verwendung des Begriffes ‚Cyber‘ und der verschiedenen Formen von ‚Cyberangriffen‘. Eine Untersuchung der weltweiten Sicherheitslage unter Berücksichtigung exemplarischer Cybervorfälle leitet über zur Cyberpolitik der EU. Den Stärken und Möglichkeiten der EU entsprechend legt von Wussow die Möglichkeiten zur Verantwortungsübernahme im Bereich der Cybersicherheit dar. Ein dritter Themenblock ‚Zuwanderungsverantwortung‘ beleuchtet die aktuellen Fragen im Kontext von Flucht und Migration aus ethischer und migrationspolitischer Perspektive.
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Im Spannungsfeld von Migration und Sicherheit bewegt sich der Beitrag von Danielle Gluns und Hannes Schammann, in dem sie Fragen der europäischen Migrationspolitik als gegenwärtige Herausforderung und bleibende Zukunftsfrage stellen (Die EU und die globale Migration als gegenwärtige Herausforderung und bleibende Zukunftsfrage, Seite 235). Entgegen häufiger medialer Darstellung sei die globale Migration für die EU seit ihren Anfängen ein wichtiges Thema gewesen und habe nicht erst in den letzten Jahren an Relevanz gewonnen. Der Beitrag widmet sich zunächst dem Wechselspiel zwischen neofunktionalistischen und intergouvernementalen Betrachtungsweisen in Fragen des europäischen Umgangs mit Migration. Anschließend analysieren die AutorInnen die geltenden EU-Richtlinien und Abkommen, die den Umgang mit Asylsuchenden regeln (sollen). Es bestehe ein diametrales Verhältnis von nationaler Sicherheit bzw. vorhandenem Unsicherheitsgefühl innerhalb der Nationen auf der einen Seite und der menschlichen Sicherheit bzw. dem Schutzbedürfnis der Asylsuchenden auf der anderen Seite. Neue Perspektiven könnten sich laut den AutorInnen dort eröffnen, wo über Grenzen als soziales Phänomen und die Sicherheitsrelevanz von Migration als Konstrukt diskutiert wird. Dann könnten der demographische Wandel und der Bedarf an (qualifizierten) Arbeitskräften ein neues Licht auf das Potential globaler Migration werfen. Das Thema Zuwanderung aber stellt nicht nur eine politische, sondern auch eine ethische Herausforderung dar. Alexander Merkl nimmt sich daher der kontroversen Debatte um die Gesinnungs- und Verantwortungsethik an (Der „reife Mensch“ (Max Weber) – über die Tragfähigkeit der Distinktion zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Anwendungskontext von Migration und Flucht, Seite 257). Hierzu rekonstruiert er in einem ersten Schritt die vielzitierte Unterscheidung des Soziologen Max Weber. Neben einer grundlegenden Bestimmung weist Merkl auf (zeithistorische) Bedingtheiten und Grenzen des Modells hin, das keinesfalls einer ausgearbeiteten ethischen Theorie gleichkäme. Vielmehr bedürfe es weiterer Differenzierungen, so zum Beispiel mit Blick auf zentrale Leitbegriffe wie ‚Verantwortung‘ und ‚Folgenorientierung‘. Aktuelle Rezeptionen im Kontext von Flucht und Migration, so zeigt Merkl am Beispiel von Konrad Otts ‚Zuwanderung und Moral‘ auf, seien bisweilen stark verkürzend und propagierten fälschlicherweise ein kontradiktorisches Verhältnis von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, das den öffentlichen Diskurs weiter polarisieren und radikalisieren würde. Hiergegen plädiert er zum einen für eine ganzheitliche Rezeption und zum anderen für eine weitere Ausarbeitung des Weberʼschen Ansatzes. Während diese drei ersten Themenblöcke die thematische Struktur der öffentlichen Veranstaltungsreihe des Projekts bildeten, legten die vielschichtigen Diskussionen im Rahmen des Zukunftsdiskurses die Aufnahme mindestens eines weiteren großen Themenblocks ‚Wirtschafts- und Handelsverantwortung‘ ebenso wie weiterer einzelner Perspektivierungen nahe. Als langjährige Sprecherin der Europäischen Volkspartei im Ausschuss für internationalen Handel des Europäischen Parlaments brachte Godelieve Quisthoudt-Rowohl mit ihrem Statement bei der eröffnenden Podiumsdiskussion eine Perspektive aus der politischen Pra-
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xis mit ein. Ihr Beitrag in diesem Sammelband (Handelsbeziehungen im Wandel: globale Verantwortung für die Europäische Union, Seite 279) schließt unmittelbar daran an und ist gestützt auf ihre Kenntnis der EU-Außenhandelsbeziehungen und der weltweiten Freihandelsabkommen, deren Entstehung sie begleitet hat. Verantwortung in der Handelspolitik zu übernehmen, bedeutet für Quisthoudt-Rowohl, als EU Vorbild zu sein. Neben den elementaren Fragen der Menschenrechte und anderen europäischen Werten seien ökologische Aspekte wichtige Bestandteile neuer Handelsabkommen. Quisthoudt-Rowohl erläutert die Ergebnisse der Europäischen Außenhandelspolitik der Jahre 2018 und 2019, die trotz ihres Erfolges weitgehend unbemerkt geblieben seien. Ein besonderes Augenmerk legt sie im Folgenden auf die transatlantischen Beziehungen, die seit der Präsidentschaft von Donald Trump einen anderen Tenor bekommen hätten, der auch die Welthandelsorganisation (WTO) bedrohen würde. Angesichts dieser Herausforderungen und der sich nach Osten verschiebenden Tendenzen des weltweiten Handels fordert Quisthoudt-Rowohl eine geschlossene und faire (Außen-)Handelspolitik der EU gegenüber allen internationalen Partnern. Die inneren Strukturen der EU analysierend setzt sich Joachim Wiemeyer (Jugendarbeitslosigkeit – eine gesamteuropäische Verantwortung, Seite 289) mit dem Problem der Jugendarbeitslosigkeit auseinander. Als Reaktion hierauf hatte die EU bereits 2013 das Programm „Jugendgarantie“ zur Förderung von Jugendlichen (15–24 Jahre) aufgelegt. Wie sich die Arbeitssituation von Jugendlichen, die Ursachen und Folgen der Arbeitslosigkeit und konkrete Maßnahmen des Pakets gestalten, stellt er im ersten Teil seines Beitrages vor. Wiemeyer reflektiert das Recht auf Arbeit aus der Perspektive christlicher Gesellschaftslehre und zeigt auf, dass sich im Problem der Jugendarbeitslosigkeit ein Gerechtigkeits- und ein Generationenkonflikt widerspiegeln. Das Problem der Jugendarbeitslosigkeit gehe dabei über das Ausbleiben von Einkommen hinaus. Als Lösungsansätze werden die Möglichkeiten der Nationalstaaten und die Handlungsoptionen der EU diskutiert. Neben einer europäischen Arbeitslosenversicherung stellt Wiemeyer die Option eines Euro-Investitionsfonds vor. Muss das Internet europäischer werden? Diese Frage bildet die Reflexionsgrundlage für den Beitrag von Wolf J. Schünemann (Neue Regeln für den Datenschutz – europäische Verantwortungsübernahme im transnationalen Datenhandel, Seite 311). Schünemann will sie in seinem Aufsatz zwar unbeantwortet lassen, da sie eine politische sei, will jedoch den wissenschaftlichen Hintergrund skizzieren, um nachvollziehbar zu machen, was eine Europäisierung des Internets bedeuten könnte. Hierzu stellt er die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in den Fokus seines Beitrages und hebt diese als regulatorischen Meilenstein und Orientierungspunkt hervor. Er untersucht die Vorgeschichte der DSGVO sowie den politischen Prozess bis hin zur Verabschiedung derselben und stellt heraus, welche regulatorischen Innovationen diese auszeichnen. Es wird deutlich, dass die EU zum Schutz ihrer BürgerInnen und derer Daten ihre Marktmacht in einem drastisch veränderten Rahmen der digitalen Ökonomie geltend gemacht hat. Schünemann untersucht, ob sie damit ihrer Verantwortung im transnationalen Datenhandel gerecht geworden sei und betrachtet zusätzlich die extraterritorialen Effekte der europäischen Initiative. Gleichermaßen thematisiert er den
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grundlegenden Konflikt zwischen Datenschutz und Cybersicherheit oder allgemeiner zwischen Freiheit und Sicherheit. Neben einer kraftvollen Verantwortungsübernahme durch die EU seien die fortbestehenden Einschränkungen und Hindernisse zu bedenken. Den fünften Themenblock und damit die abschließenden und ergänzenden Perspektivierungen eröffnet Bernhard Koch (Traditio und translatio. Europäische Verantwortung im Kontext von Mehrsprachigkeit und Übersetzung, Seite 333). Er fragt nach dem Verhältnis von Übersetzung und Sprache. Sprache, so Koch, sei in ihrer Vielfalt ein Ausdruck des historischen Geworden-Seins Europas, die man auf der einen Seite bewahren, auf der anderen Seite im Sinne eines vereinenden Zusammenlebens überwinden müsse. Eine universale Verstehbarkeit der Sprache sorge neben ökonomischen Vorteilen für einen friedlicheren Umgang der Völker und sei somit ein wünschenswertes Ziel. Als Ansätze gäbe es „Vereinheitlichen, Sprachenlernen, Übersetzen“, so zitiert er Jürgen Trabant. Das Verhältnis zwischen dieser ‚translatio‘ und den vielfältigen Traditionen der Völker untersucht Koch in seinem Aufsatz. Er stellt zunächst die Frage, was Sprache sei, und beantwortet sie in Kontexten von Sprachenvielfalt als Plage und als Überfülle der Arten. Über George Orwell stellt er eine Verbindung zwischen der zunehmenden Technizität von Sprache, ihrer Vereinheitlichung und der daraus resultierenden Gewaltförmigkeit derselben her. Sprache sei eben nicht nur eine rein rationale Angelegenheit der Syntax, sondern erreiche über die Semantik eine ‚geistige‘ Seite, die die Menschen vor dem Hintergrund ihrer Traditionen anspreche. Diverses Sprechen und Denken ermögliche die Vorstellung einer möglichen alternativen Welt. DolmetscherInnen hätten also die Pflicht zur kreativen Treue in der Übersetzung und nähmen so ihre Aufgabe zur Verständigung der Völker wahr, indem sie vor dem Hintergrund der ‚traditio‘ mehr als die bloßen Wörter transferierten. Martina Vetrovcova und Sebastian Harnisch beschreiben in ihrem Beitrag die Verantwortung der EU im Kampf gegen den globalen Klimawandel (Globale Verantwortung: Die neue Rolle der Europäischen Union, Seite 357). Darin legen sie fest, was Verantwortung und Verantwortungsübernahme aus Sicht der politischen Theorien meinen und diskutieren die internationale Verantwortung aus rollentheoretischer Perspektive. Sie benennen die wichtigsten Entwicklungen und Akteure des globalen Einsatzes gegen den Klimawandel und untersuchen die veränderten Führungsrollen des Klimaregimes seit Beginn der UN-Klimakonferenzen Anfang der 90er Jahre. Die Rolle der EU habe sich seit dem Kyoto-Protokoll aus dem Jahr 1997 mehrmals verändert. Deren Führungsrolle und Vorbildfunktion sei durch innere Unstimmigkeiten und ein nur teilweises Erreichen der Kyoto-Ziele verlorengegangen. Stattdessen hätten andere Akteure wie die USA, China und Indien die Leitung übernommen, bis die EU mit ihrem engagierten Eintreten für strengere Zielvorgaben im Pariser Klimaabkommen erneut die Vorreiterrolle eingenommen habe. In Anbetracht dieses Einsatzes der EU und der relativ geringen CO²-Gesamtbilanz schlagen Vetrovcova und Harnisch vor, die Rolle der EU in Zukunft als „Leading Facilitator“ zu beschreiben. Beatrix Niemeyer wendet sich dem Prozess der praktischen Vermittlung von Kenntnissen über die EU zu. In ihrem Beitrag (Europäische Gemeinschaft vermitteln. Wegweisungen
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durch ein weites Feld, Seite 381) behandelt sie Fragen der Europabildung und der europäischen Bildung. Die Vorstellung, Europa habe ein Vermittlungsproblem und benötige lediglich ein Mehr an politischer Bildung, wird ihrer Meinung nach der Komplexität der EU nicht gerecht und überschätze die Wirkmächtigkeit von Pädagogik. Niemeyer beschreibt die Einflüsse von Bildung und unterscheidet die zwischen den Mitgliedstaaten abgestimmte, gemeinsame Bildungspolitik von informellem lebenslangen Lernen als Erfahrungslernen im Alltag. Diese Erfahrungswelt unterscheide sich nur allzu häufig von der Regelwelt der EU. Es brauche eine politische Bildung, die auf nationenübergreifende Lernprozesse abzielt, wobei Europa als Lernanlass, Lernaufgabe und Lerninhalt gleichermaßen über Erfahrungen greifbar gemacht werden muss. Den Abschluss des perspektivischen Themenblocks bildet bewusst ein persönlicher Erfahrungsbericht und kein wissenschaftlicher Fachbeitrag (Seite 391). Das Organisationsteam von Pulse of Europe Hildesheim, das den Zukunftsdiskurs in vielfältiger Weise gewinnbringend unterstützte, ergreift das Wort stellvertretend für die europäische Jugend und damit für die Zukunft der EU und Europas. Der Bericht stellt die Entstehung, Entwicklung, Aktivitäten, Grundsätze und Ziele der Hildesheimer Ortsgruppe von Pulse of Europe dar und will verdeutlichen: Europa geht uns alle an!
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Teilbereich I: Grundlagen und Anspruch der EU als Verantwortungsgemeinschaft
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Europa als Verantwortungsgemeinschaft? Am 4. März 2019 veröffentlichte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einen Text in großen Zeitungen aller 28 EU-Mitgliedstaaten. Der Titel: „Pour une Renaissance européenne“1, für einen Neubeginn in Europa. Europa, so der etwas überdramatische Einstieg Macrons, sei noch nie in so großer Gefahr wie heute gewesen: Lügen, Populismus und Verantwortungslosigkeit könnten die Europäische Union zerstören, zumal viele Bürger die EU nur noch als „seelenlosen Markt“ betrachteten. Macron hingegen wollte die Zivilisation neu erfinden. Dazu unterbreitete er, wenige Wochen vor der Europawahl 2019 leidenschaftlich vorgetragen, verschiedene Vorschläge. Zum Beispiel schlug er eine europäische Agentur für den Schutz der Demokratie vor. Ein bemerkenswerter Vorschlag, der offensichtlich damit rechnet, dass die Demokratien in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union derart stark gefährdet sind, dass sie nicht aus sich selbst heraus ihre rechtsstaatlichen Institutionen zu schützen vermögen. Dies ist insofern bedenklich, als dass die Agenturen der EU Einrichtungen mit eigener Rechtsfähigkeit ohne Gesamtkonzept sind. In der Regel wurden sie bei besonderem Bedarf ins Leben gerufen. Macrons Manifest sah zudem einen Pakt mit Afrika sowie eine soziale Grundsicherung, einen europäischen Mindestlohn vor. Eine Europäische Klimabank sollte die Finanzierung des ökologischen Wandels verantworten, eine europäische Kontrolleinrichtung den wirksameren Schutz unserer Lebensmittel. Auch den Schengenraum wollte er neu überdenken: Alle, die ihm angehören wollen, müssen Bedingungen für Verantwortung (strenge Grenzkontrollen) und Solidarität (gemeinsame Asylpolitik mit einheitlichen Regeln für Anerkennung und Ablehnung) erfüllen. Eine gemeinsame Grenzpolizei und eine europäische Asylbehörde, strenge Kontrollbedingungen, eine europäische Solidarität, zu der jedes Land seinen Teil beiträgt, unter der Aufsicht eines Europäischen Rats für innere Sicherheit.2
Strenge Grenzkontrollen als Bedingung für Verantwortung? Solidarität nur innerhalb der Mitgliedstaaten? Es scheint zumindest auf den ersten Blick nicht gerade so, als korrespondiere mit der Leidenschaft des Vortrags ein begrifflich reflektiertes Konzept moderner europäischer Politik. 1 Der Text ist online abrufbar unter: Homepage des Élysée-Palastes, Rede des Staatspräsidenten Emmanuel Macron vom 04. März 2019, Für einen Neubeginn in Europa, https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2019/03/04/ fur-einen-neubeginn-in-europa.de (abgerufen am 08.12.2019). 2 Ebd.
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Was er zudem unerwähnt ließ, aber aktuell nicht minder wichtig scheint, war eine Wahlrechtsreform des Europäischen Parlaments, die es erlaubt, auch in Deutschland etwa seine En Marche-Bewegung zu wählen. Und statt einer weiteren bürokratischen Instanz, die die Natur verwaltet, wäre ein Verbot von Inlandsflügen, wären autofreie Sonntage einmal im Monat, und ein Tempolimit auf allen europäischen Autobahnen möglicherweise sinnvoller. Macrons Resümee aber ist zuzustimmen: „Wir dürfen nicht Schlafwandler in einem erschlafften Europa sein“.3 Als „Schlafwandler“ hat der australische Historiker Christopher Clark bekanntlich die politischen Akteure bezeichnet, die durch ihr unverantwortliches Handeln in den Wochen und Monaten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges dazu beigetragen haben, dass die Katastrophe in Europa nicht mehr aufzuhalten war.4 In der Tat gilt es, wieder Verantwortung für Europa zu übernehmen. Doch was bedeutet Verantwortung übernehmen konkret? Und inwiefern kann Europa als Verantwortungsgemeinschaft verstanden werden? Um diese Fragen grundlegend beantworten zu können, ist ein Wechsel vom politischen in den philosophischen Diskurs vonnöten. Dazu möchte ich im Folgenden I. kurz darauf eingehen, was der Begriff ‚Verantwortung‘ eigentlich bedeutet, II. Verantwortung als zentrales Prinzip moralisch getränkter Diskurse begreifen, deren Strahlkraft bis hinein in die Sphäre der Politik reichen, und schließlich III. fragen, inwiefern Europa vor der Folie der vorangegangenen Reflexionen eine ‚Verantwortungsgemeinschaft‘ bilden kann.5
I. Was heißt Verantwortung? Schauen wir uns zunächst den Begriff ‚Verantwortung‘ an. Er bezeichnet die Pflicht, für eine Handlung und ihre Folgen einzustehen. Ursprünglich dem juristischen Diskurs entnommen, wird Verantwortung im allgemeinen Sprachgebrauch auch als Rechenschaftspflicht verstanden. Dieses Verständnis ist bereits in der Etymologie des Begriffs grundgelegt. Verantwortung ist eine Lehnübersetzung des lateinischen Ausdrucks responsibilitas. Das lateinische Verb respondere bedeutet antworten und meint vor allem die Verpflichtung, Antworten auf die von einem Gericht gestellten Fragen zu geben. Für das Antwortgeben nutzten die alten Griechen den Ausdruck ἀποκρίνομαι (apokrínomai). Darin ist das Wort κρίνομαι (krínōmai) enthalten, das so viel wie unterscheiden, beurteilen heißt. Sich verantworten verlangt insofern, eine Entscheidung zu treffen, ein Urteil zu 3 Siehe Fußnote 1. 4 Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013. 5 Im Folgenden greife ich auf einen Text zurück, den Holger Burckhart und ich für ein Handbuch zur Bildungsund Erziehungsphilosophie verfasst haben: Holger Burckhart/Jürgen Nielsen-Sikora, Verantwortung, in: Gabriele Weiß/Jörg Zirfas (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Wiesbaden 2019, 177–188.
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fällen, Rechenschaft abzulegen. Es bedeutet ferner, Gründe für das eigene Urteil anzugeben und Argumente anzuführen, warum eine Handlung vollzogen wurde resp. warum sie überhaupt vollzogen werden soll.6 Diese Gründe müssen öffentlich dargelegt werden, damit sie nachvollziehbar sind. Nur so wird garantiert, dass andere als die jeweils handelnden Personen prinzipiell auch verstehen können, welche Motive und Absichten den Entscheidungen zugrunde liegen. Insbesondere dann, wenn ein Chor an Stimmen (wie dies in der EU zweifellos der Fall ist) an Entscheidungsfindungen beteiligt ist, scheint der transparente Austausch von Argumenten die einzige Möglichkeit, die Legitimität von Handlungsentscheidungen zu prüfen. Der Akt des Begründens war den alten Griechen, Wiege der europäischen Demokratie, als λόγον διδόναι (logon didonai) bekannt. Wichtige Aspekte des Begründens sind die Unvoreingenommenheit der beteiligten Personen, sprich die Bereitschaft, vorausgesetzte Orientierungen zurückzustellen, die Zwanglosigkeit der argumentativen Auseinandersetzung und der Wille, mit Argumenten zu überzeugen statt den Anderen bloß überreden zu wollen. Denn im λόγον διδόναι steht der λόγος (logos) im Zentrum: Es geht um eine vernunftgeleitete Auseinandersetzung. Der Dialog, das argumentative Gespräch, soll den Akt des Begründens begleiten. Begründet werden muss die Präferenz einer bestimmten Handlungsoption. Denn: „Von Verantwortung kann nur gesprochen werden, wo es einen Spielraum verschiedener möglicher Handlungen gibt, und dieser Spielraum ist dem Handeln dadurch gegeben, daß alles Handeln auf die Zukunft bezogen ist.“7 Verantwortung als Antwort auf eine konkrete Entscheidungssituation bezeichnet dementsprechend eine an der Vernunft orientierte Handlung, deren Folgen in der Entscheidung für eine bestimmte Option mitberücksichtigt werden sollen. Es handelt sich insofern um einen normativen Begriff, der aus der Rechtsprechung in den philosophischen Diskurs übernommen worden ist und auch im alltäglichen Sprachgebrauch eine normative Kraft ausübt. Denn mache ich jemanden für eine bereits vergangene oder aber erst noch zu treffende Entscheidung verantwortlich, geht damit die Erwartung einer möglichen Schuldübernahme einher. Insofern beinhaltet der Begriff Verantwortung eine stark ethische Komponente. Tatsächlich ist ‚Verantwortung‘ ein zentraler Begriff der Ethik, dessen Bedeutung in die Politik zumindest dann hineinspielt, wenn politisches Handeln nicht bloß als reine Machtausübung oder die verzweifelte Suche nach (schlechten) Kompromissen missverstanden wird. Auch der Begriff ‚Ethik‘ entspringt einem altgriechischen Wort: ἔθος bzw. ἦθος (ethos). Je nach Schreibweise können mit ethos der gewohnte Ort des Lebens, die Lebensform bzw. der persönliche Charakter, oder aber die Gewohnheiten, Sitten, Bräuche und Institutionen des sozialen Zusammenlebens gemeint sein. Die Ethik setzt sich vorrangig mit der zuletzt genannten Bedeutung auseinander, indem sie sich normativen Fragen dieses Zusammen6 Ludger Heidbrink, Definitionen und Voraussetzungen der Verantwortung, in: Ludger Heidbrink/Claus Langbehn/Janina Loh (Hrsg.), Handbuch Verantwortung, Wiesbaden 2017, 3–33. 7 Georg Picht, Wahrheit–Vernunft–Verantwortung, Stuttgart 1969, 323.
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lebens widmet, menschliches Handeln reflektiert und die Grundsätze von Handlungsentscheidungen sowohl in systematischer als auch in methodischer Hinsicht befragt. Dies wird insbesondere dann notwendig, wenn verschiedene Grundsätze miteinander in Konflikt geraten: Die Grenzen für Flüchtlinge öffnen? Banken retten? Ein neues Mitglied aufnehmen? Politisches Handeln in demokratischen Rechtsstaaten und transnationalen Verbünden ist nicht frei von ‚ethischen‘ Entscheidungen und Grundsätzen, wenn die Legitimität bestimmter Verfahren, aber auch die Überzeugungskraft einzelner politischer Entscheidungen auf dem Prüfstand stehen. Selbstverständlich sind handelnde Personen (Staaten, Mächte, Institutionen) von unterschiedlichen Interessen, Wünschen und Zielen geleitet. Sie entstammen verschiedenen Kulturen, deren Regeln, Rituale und Wertvorstellungen mitunter divergieren. Aber auch dort, wo diese Unterschiede nur gering, und Handlungen und Verhaltensweisen begründet sind, kann es im Einzelfall zu konfliktreichen Widersprüchen kommen. Deshalb betrachtet die Ethik neben Handlungen und Handlungsfolgen mitunter auch die Gründe des Handelns sowie dessen Motive und Absichten: Sind Entscheidungen aus freiem Willen ohne äußeren Zwang getroffen worden? In welche sozialen Kontexte ist die Handlungssituation eingebettet? So werden auch das Wissen um die besondere Situation sowie die Fähigkeit, mit diesem Wissen zu einer Entscheidung zu kommen, in der ethischen Reflexion mitberücksichtigt. Damit sollen die entsprechenden Ziele und Zwecke menschlichen Handelns ermittelt und bewertet sowie Divergenzen in der Zielsetzung festgestellt und ggf. aufgelöst werden. Verschiedene Handlungsmöglichkeiten werden gegeneinander abgewogen und Entscheidungen unter Rücksichtnahme auf die die Entscheidungssituation bestimmenden Faktoren beurteilt. Die Ethik bildet insofern einen Teilbereich der Philosophie. Sie rückt die Frage ‚Was soll ich tun?‘ in den Vordergrund ihrer Reflexionen. Das Ziel: Eine vernunftbasierte Antwort auf eine besondere Problem- oder Krisensituation geben, und somit Handlungskriterien nachweisen zu können. Der Anspruch ist, solche Kriterien auch für den Handlungsbereich der Politik zur Verfügung zu stellen und damit einen Orientierungsrahmen zu bieten, der politische Entscheidungen auf ihre Legitimität hin prüft. Wer einen solchen Rahmen bestreitet, der redet Willkür und Anarchie das Wort. Zu den wirkmächtigsten Ethiken der Moderne zählt bis heute unzweifelhaft Immanuel Kants kritische Prinzipienethik. Kants Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass menschliches Handeln stets Bezug auf empirisch feststellbare Dinge nimmt, die unseren Willen mitbestimmen. Es sind allerdings nicht nur die Dinge der realen Welt, sondern auch persönliche Grundsätze, die unser Handeln beeinflussen und regeln. Kant nennt sie Maximen und fragt, ob es neben solchen subjektiv getränkten Handlungsregeln, die aus Eigeninteressen und Neigungen resultieren, auch objektive Handlungsnormen, sogenannte Gesetze, gibt: Lassen sich Handlungsentscheidungen treffen, die nicht bloß aus Klugheitsgründen erfolgen und allein dem Wohl der handelnden Person zugutekommen? Zur Beantwortung dieser Frage sucht Kant nach Grundsätzen, die der Natur des menschlichen Willens unabhängig von aller Erfahrung und jenseits persönlicher Vorlieben folgen. Insofern ist sein Untersuchungsge-
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genstand ein sich selbst Gesetze gebender, gleichwohl freier Wille. Als philosophische Forschungsfrage formuliert: Welchem Gesetz gilt es, sich zu unterwerfen, deren Ursprung im Willen selbst liegt? Kant entwickelt auf der Suche nach einem solchen Gesetz eine vernunftbasierte, empirisch gesäuberte Moraltheorie, in welcher der freie Wille Gegenstand moralischer Urteile ist. Seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eröffnet er dementsprechend mit dem Satz: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“8 Den Willen definiert Kant hierbei als ein Vermögen, „nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d.i. als gut erkennt.“9 Nur die Selbstgesetzgebung eines solchen freien Willens verbürgt Autonomie als Grundlage der Menschenwürde. Das dahinterstehende Gesetz bezeichnet Kant als kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“10. In diesem Gesetz kündige sich das „Faktum der reinen Vernunft“11 als gesetzgebend an. Denn der Grund der Verbindlichkeit sei in Begriffen der reinen Vernunft zu suchen. Und allein eine Handlung aus Pflicht (nicht aus Neigung oder Eigeninteresse) vor diesem Sittengesetz bezeugt Moralität: „Eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird“12. Es kommt insofern zuerst auf das Prinzip des Wollens an, „nach welchem die Handlung [...] geschehen ist“13.
II. Verantwortung als Prinzip (politischen) Handelns Mehr als einhundert Jahre nach Kant – im Jahre 1919 – schied Max Weber zwei grundlegende, ethische Maximen: Wir müssen uns klarmachen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann »gesinnungsethisch« oder »verantwortungsethisch« orientiert sein. Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: »Der Christ tut recht und stellt den Erfolg
8 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (W. Weischedel, Hrsg.), Frankfurt a. M. 1997, BA1. 9 Ebd., BA37. 10 Ebd., BA52. 11 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (W. Weischedel, Hrsg.), Frankfurt a. M. 1997, A81. 12 Kant, Grundlegung zur Metaphysik, BA13. 13 Ebd.
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Gott anheim« – oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.14
Vor der Folie sowohl der Weberʼschen Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik als auch angesichts der technologischen Errungenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts hat sich der Philosoph Hans Jonas gefragt, ob sich mit Kants Sittengesetz die Folgen kollektiven Handelns überhaupt noch einschätzen lassen. Ist seine Ethik noch in der Lage, auf die Größenordnung der Handlungen, die mit der Globalisierung einhergehen, angemessen zu reagieren? Kollektive Handlungsentscheidungen sind heute an der Tagesordnung, Verantwortlichkeiten werden geteilt, die Tragweite politischer Entscheidungen ist kaum noch zu überschauen, zahlreiche Akteure mit unterschiedlichen Interessen in unterschiedlichen Machtpositionen bestimmen den Alltag nicht nur im weltpolitischen Maßstab, sondern bereits innerhalb der Europäischen Union. Hans Jonas, mit dessen Namen das Thema Verantwortung in philosophischer Grundlegung im 20. Jahrhundert untrennbar verbunden ist, verneint die Frage, ob Kants Sittengesetz angesichts der neuen Dimension unserer Handlungen ausreiche. Es bedürfe einer neuen Ethik, die den Anforderungen erweiterter Handlungszusammenhänge in einer hochtechnologisch geprägten Welt gewachsen ist. Kants Pflichtenethik könne das Problem kollektiver Handlungen gar nicht lösen. Aus diesem Grunde buchstabiert Jonas Ende der 1970er Jahre den Begriff Verantwortung neu durch. Verantwortung wird zum ethischen Handlungsprinzip im Antlitz der Drohungen der Moderne und ihrer kausalen Reichweite in die Zukunft. Jonas macht zunächst auf die Unumkehrbarkeit zahlreicher Handlungen aufmerksam: Zerstörte Umwelt ist nicht ohne weiteres wiederherzustellen. Maßnahmen in einer Umwelt, die bereits stark angegriffen ist, leben von anderen Voraussetzungen als Maßnahmen in einer nahezu intakten Umwelt. Es kann von nun an keinen Nullpunkt mehr geben, an dem uns alle Alternativen offenstehen. Jede Handlungssituation mit weitreichenden Folgen wird zum Präzedenzfall. Aus diesem Grunde werde das Wissen zur ersten Menschenpflicht; ein Wissen, das dem Ausmaß kollektiv begangener menschlicher Handlungen ebenbürtig ist. Das Wissen sollte die Grenzen menschlicher Interessen überschreiten und den moralischen Anspruch der Natur an den Menschen berücksichtigen, da Natur in der Obhut des Menschen ein eigenes Recht zugesprochen werden müsse. Dies heißt, dass anders als bei Kant nicht nur das menschliche Gut zu suchen sei, sondern auch das Gut natürlicher Dinge. Darüber hinaus lasse sich das Gebot einer Fortexistenz der Menschheit aus Kants Maxime der Selbsteinstimmigkeit, in der die eigene Maxime allgemeines Gesetz werde, nicht ableiten. Kants kategorischem Imperativ stellt Jonas deshalb den folgenden Imperativ beiseite: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens
14 Max Weber, Politik als Beruf, Tübingen 1988, 551 f.
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auf Erden“15. Das Wollen des Selbsteinstimmigkeitsprinzips spielt in diesem Imperativ keine Rolle. Denn bei Jonas wird die Suche nach dem Übel zur ersten Pflicht des Menschen. Wir müssten so tun, als ob wir dieses Übel am eigenen Leibe erfahren. Nur über die Furcht vor dem möglichen Übel ließen sich künftige Katastrophen vermeiden. Doch sich vor etwas fürchten zu lernen, was man nicht selbst erfahren hat, ist schwierig. Die Furcht kommt nicht von allein; sie muss eingeübt werden. Es handelt sich um „eine Furcht geistiger Art“16. Die Einnahme dieser, durch wissenschaftliche Untersuchungen gestützten, wohlinformierten Geisteshaltung in Form von Gedankenexperimenten wird in Jonasʼ Verantwortungsethik ebenfalls zur Pflicht des Menschen. Mit Hilfe der „imaginativen Kasuistik“17 sollen mögliche Szenarien veranschaulicht werden, um bislang unbekannte Möglichkeiten von Risiken und Nebenfolgen kollektiven Handelns aufzuspüren. Hierbei kann es vonnöten sein, ein Übel in Kauf zu nehmen, um ein noch größeres Übel abzuwenden. Man kann, so Jonas, zwar ohne ein höchstes Gut, aber niemals mit dem größten Übel leben. Da manch ein Wagnis im technologischen Fortschritt aber bloß der vermeintlichen Verbesserung des Gegenwärtigen diene, in Wahrheit aber nicht selten eine Katastrophe nach sich ziehe, also das Ganze der Interessen der betroffenen Anderen wiederum aufs Spiel setze, verbiete es sich, jedes technologische Projekt um seiner selbst willen auch durchführen zu wollen. Das bedeutet: Die unbedingte Pflicht der Menschheit zum Dasein darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Es gibt kein „Recht der Menschheit auf Selbstmord“18. Die imaginative Kasuistik verbietet bestimmte technologische Experimente. Man kann sie wie Jonas als eine Umkehrung von Descartesʼ Dubio-Prinzip verstehen. Descartes behandelte in seiner Philosophie alles irgendwie Bezweifelbare als etwas Falsches. Alles könnte ein Traum sein. Doch dann müsse es jemanden geben, der träumt (und denkt): das Ich. Jonas hingegen sagt, alles, was zwar zweifelhaft, doch möglich ist, „für Zwecke der Entscheidung wie Gewißheit zu behandeln“19. Der Zusatz ist entscheidend, denn er lautet: „[…] wenn es von einer bestimmten Art ist.“20 Diese „bestimmte Art“ bezieht sich auf die Unheilsprognose. Wo mögliches Unheil drohe, ist die Möglichkeit wie eine Tatsache zu betrachten. Handlungsentscheidungen sollten sich daran orientieren, welche potenziellen Wirkungen, die die Menschheit als Ganze bedrohten, aus ihr resultieren könnten. Das neue ethische Prinzip, geboren aus einem philosophischen Gedankenexperiment, verbietet somit in erster Linie, in einem Va-banque-Spiel das Nichts zu riskieren. Das Sein ist dem Nichtsein
15 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984, 36. 16 Ebd., 65. 17 Ebd., 67. 18 Ebd., 80. 19 Ebd., 81. 20 Ebd.
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vorzuziehen. Dieses unbedingte Gebot verpflichte den Menschen zu Behutsamkeit als dem eigentlichen Kern moralischen Tuns. Der Kern moralischen Tuns desavouiert in Jonasʼ Augen zugleich die herkömmliche Idee der Reziprozität, das heißt, die gegenseitige Inanspruchnahme von Rechten und Pflichten verschiedener Handlungsparteien. Da zukünftige Generationen in der Gegenwart keine Ansprüche stellen können, haben sie strenggenommen auch keine Rechte. Dennoch gibt es eine Pflicht gegenüber den Nachkommen, so Jonas. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang auf den „Fall elementarer nicht-reziproker Verantwortung und Pflicht“21 gegenüber den eigenen Kindern. Es handele sich um eine Art bedingungslose Verantwortung, wenngleich man im Alter erwarten mag, für die Erziehung eine Gegenleistung in Form der Pflege zu erfahren. Im archetypischen Verhältnis der Eltern zum Kind sei der Ursprung der Idee der Verantwortung zu suchen. Allerdings sei die Verantwortung der Eltern für das Kind nicht gleichzusetzen mit der Verantwortung des Einzelnen für künftige Generationen. Doch es gebe eine grundsätzliche Pflicht zum Dasein einer künftigen Menschheit, die der Elternverantwortung zumindest vergleichbar ist: „Da spätere Menschen auf jeden Fall da sein werden, gibt ihnen, wenn es so weit ist, ihr unerbetenes Dasein das Recht, uns Frühere als Urheber ihres Unglücks zu verklagen“22. Diese Idee greift auch Vittorio Hösle (1991) in seiner „Philosophie der ökologischen Krise“ auf. Auch für ihn geht es in der Ethik um das Ganze des Seins und die Sonderstellung des Menschen, der als einziges Wesen die Stimme des Sittengesetzes zu vernehmen vermag.23 Die Würde des Menschen sieht er in der Tatsache gegeben, dass er „Träger von etwas ist, das ihn transzendiert.“ Deshalb sei ein kollektiver Selbstmord eine Angelegenheit, die nicht nur den Einzelnen, sondern alle Menschen beträfe. Es wäre „Frevel am Absoluten in einem Maße, das alles bisher Geschehene [...] in den Schatten stellte“24. Mit Blick auf den Lebensstandard des Westens stellt Hösle fest, dieser sei nicht universalisierbar – und deswegen nicht moralisch. Das Paradigma der Wirtschaft des Westens möchte er aus diesem Grunde durch das Paradigma der Ökologie abgelöst sehen.25 Die Politik des 21. Jahrhunderts werde sich daran messen lassen müssen, inwieweit sie eine Politik ist, die die natürlichen Lebensgrundlagen global sichert.26 Das 21. Jahrhundert werde das „Jahrhundert der Umwelt“27. Hierbei sieht Hösle den Menschen an einem Wendepunkt seiner selbst. Die Philosophie sei gefordert, neue Werte zu erarbeiten und sie „an die Gesellschaft und die Führungskräfte
21 Ebd., 85. 22 Ebd., 87. 23 Vittorio Hösle, Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, München 1991, 15. 24 Ebd. 25 Ebd., 33. 26 Ebd., 34. 27 Ebd., 42.
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der Wirtschaft weiterzugeben“28. Mit Hans Jonas ist er der Ansicht, dass das Sein Sollensanforderungen nicht indifferent gegenüber ist, und die Zerstörung einer Welt, in der alles einen Zweck hat bzw. nach Zwecken strebt, wäre ein moralisches Verbrechen. Für die Praxis bedeutet dies vor allem: Unterricht in den Fächern Biologie, Chemie und Ökologie, um aus einem fundierten naturwissenschaftlichen Wissen heraus moralisches, d. i. umweltverträgliches und nachhaltiges Handeln in die Wege zu leiten, an dessen Ende eine ökologisch-soziale Marktwirtschaft, ein „Marshall-Plan zur Rettung der Umwelt“29 steht. An dieser Stelle wird besonders virulent, wie wichtig frühe Bildung für die Stabilität einer demokratischen Gesellschaft ist: Je früher nachhaltiges Wissen gelehrt und somit Verantwortung eingeübt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine solche Geisteshaltung sich auch als moralische Richtschnur für spätere Entscheidungsträger etabliert. Verantwortungsvolle Politik wird nur derjenige leisten können, der Verantwortung als Prinzip der Erziehung am eigenen Leib erfahren hat. Wie auch Hans Jonas, so schreibt Vittorio Hösle (1992) der Erziehung also eine besondere Rolle zu. Wer als Kind nicht „die richtigen moralischen Gefühle vermittelt“ bekommen habe, könne „nicht vollkommen moralisch gut werden, auch wenn er später die richtigen Normen und Werte intellektuell begreift.“30 Von einem solch komplexen, intersubjektiv zu deutenden Phänomen mit Strahlkraft in den politischen Alltag hinein (der Politiker als verantwortlicher Entscheidungsträger des Gemeinwohls) geht auch die von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas inaugurierte Diskursethik aus. Sie begreift Verantwortung als primordial, als ursprüngliches Moment des Menschseins: „Die Diskursethik rechtfertigt den Gehalt einer Moral der gleichen Achtung und solidarischen Verantwortung für jedermann.“31 Mit Hans Jonas hebt die Diskursethik hervor, dass „die geforderte Grundorientierung nicht einfach auf der Grundlage der traditionellen religiös-ethischen Normensysteme der verschiedenen Kulturen gewonnen werden kann.“ Dies erhelle bereits „aus dem Umstand, daß diese Systeme [...] allenfalls durch gesinnungsethische Verallgemeinerungen [...] eine kosmopolitische Dimension gewannen.“32 Aus dieser kritischen Haltung gegenüber der philosophisch-theologischen Tradition heraus hat Apel (1973) in einer zweibändigen Aufsatzsammlung mit dem Titel „Transformation der Philosophie“ nachzuweisen versucht, dass die von ihm sogenannte „Argumentationsgemeinschaft“ sowohl den Kern als auch die Voraussetzung eines transzendentalhermeneutischen Selbstverständnisses der Philosophie darstellt. Damit sind die auf Kant rekurrierenden Bedingungen der Möglichkeit intersubjektiv gültiger Argumentationen angesprochen. Apel hebt hierbei auf das sprachvermittelte Denken 28 Ebd., 68. 29 Ebd., 102/141. 30 Vittorio Hösle, Praktische Philosophie in der veränderten Welt, München 1992, 36. 31 Jürgen Habermas, Diskursethik, in: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedemann (Hrsg.), Handbuch Philosophie und Ethik, Paderborn 2015, 74–79. 32 Karl-Otto Apel, Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1988, 23.
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insgesamt sowie die nicht hintergehbare, wohl aber rekonstruierbare Umgangssprache ab. So skizziert Apel in seinem Transformationsbuch das jeder Aussage und allem praktischen Engagement vorausliegende „Apriori der Argumentation“ als begründungstheoretische Basis einer intersubjektiv gültigen Ethik. Diese fokussiert ein nicht sinnvoll bestreitbares Wissen als ethisches Grundprinzip. Jeder Diskurs sei an bestimmte Diskurs-Präsuppositionen gebunden. Die wichtigste dieser Präsuppositionen ist die Anerkennung aller realen und potenziellen Diskurspartner als gleichberechtigt Argumentierende. Aus dieser unhintergehbaren Anerkennung der möglichen Sinnverständigung über Wahrheitsansprüche erwachsen gleichsam ethische Handlungsnormen. Apel gründet die Ethik auf Logik und Argumentation: „Nach Apel ergibt sich die ethische Grundnorm, wenn man Argumentation als intersubjektiven, in Sprechakten erfolgenden Prozeß begreife: Damit setze Argumentation sowohl eine reale als auch eine ideale Kommunikationsgemeinschaft voraus, und das erzeuge die beiden Grundpflichten, das Überleben der menschlichen Gattung sicherzustellen und in ihr die ideale Kommunikationsgemeinschaft herzustellen“33. Die praktische Relevanz dieser Normen hat Jürgen Habermas (1981) in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt: „Man muß die Regel kennen, wenn man feststellen will, ob jemand von der Regel abweicht.“34 Eine Regel könne allerdings nicht bloß auf empirisch messbaren Regelmäßigkeiten beruhen, sie hinge vielmehr von „intersubjektiver Geltung“ ab, nämlich von dem Umstand, „daß a) Subjekte, die ihr Verhalten an Regeln orientieren, von diesen abweichen und b) ihr abweichendes Verhalten als Regelverstoß kritisieren können“35. Regelverstöße diskutiert auch Apel (1988) in der Aufsatzsammlung „Diskurs und Verantwortung“. Dort rücken neben die erkenntnistheoretischen Überlegungen solche der praktischen Philosophie mit ganz konkreten, gegenwärtigen Problemen. Zu ihnen gehören die Zerstörung der Ökosphäre, die Umweltverschmutzung und der Verbrauch der Energievorräte.36 Die Diskursethik mit ihrer strengen Reflexion auf die eigenen Geltungsansprüche wird nun auch als Verantwortungsethik verstanden, wobei Apel eine „postkantische Prinzipienethik der Moralität gegen eine – etwa spekulativ-metaphysische – Ethik der substantiellen Sittlichkeit“37 verteidigen möchte: Selbst im einsamen Denken stellen wir als sprachbegabte Wesen intersubjektive Sinngeltungsansprüche, die eine prinzipielle Gleichberechtigung der Dialogpartner impliziert. Diese Gleichberechtigung bringt ferner eine „Verpflichtung zur Mitverantwortung für die argumentative [...] Auflösung der in der Lebenswelt auftretenden 33 Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie, München 2013, 292 f. 34 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 2), Frankfurt a. M. 1981, 33. 35 Ebd. 36 Apel, Diskurs und Verantwortung, 19. 37 Ebd., 109 f.
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moralisch relevanten Probleme“38 mit sich. Damit ist ein Verfahrensprinzip praktischer Diskurse benannt, „in denen inhaltliche Normen situationsbezogen zu begründen sind“39. Mit dieser Verpflichtung verfolgt die Verantwortungsethik Apels zwei Ziele: Einerseits das Überleben der Menschheit als reale Kommunikationsgemeinschaft sicherzustellen, und andererseits in realen Diskursen sich an idealen, d. i. vernunftgeleiteten, störungs- und herrschaftsfreien Diskursen zu orientieren, auch wenn dieses Ideal nie wirklich eingelöst werden können sollte. Die Differenz zu Jonas deutet Apel wie folgt an: „Während Jonas das Verantwortungsprinzip als Bewahrungsprinzip auffaßt und in seiner Auseinandersetzung mit Ernst Bloch gegen das Emanzipationsprinzip ausspielt, sind in meiner Formulierung beide Prinzipien von vornherein in ihrer wechselseitigen Bedingtheit erfaßt“40. Gleichwohl billigt Apel Jonasʼ Bewahrungsprinzip eine gewisse Notwendigkeit zu, wenn er feststellt, Jonas orientiere sich nicht nur „an der Erhaltung der menschlichen Spezies“, sondern ebenso „an der Erhaltung solcher Konventionen und Institutionen der menschlichen Kulturtradition, die, gemessen am idealen Maßstab der Diskursethik, als vorerst nicht ersetzbare Errungenschaften anzusehen sind“41. Eine ökologische Ethik ist für die diskursethische Transformation des ‚Prinzips Verantwortung‘ nur innerhalb der Grenzen argumentativer Vernunft möglich. Dietrich Böhler (1993) spricht in diesem Zusammenhang von Dialogizität als dem „geltungslogisch anthropozentrischen Bezugsrahmen“ des Diskurses. Beruft sich Jonas letztlich auf metaphysische Spekulationen als letzte Instanz, so tritt hier der Diskurs an diese Stelle. Dies wiederum hat für den Begriff der Verantwortung eine fundamentale Bedeutungsverschiebung. Dietrich Böhler schreibt hierzu: „Gegenüber einer Fixierung des Verantwortungsbegriffes auf den Gegenstand von Verantwortung, etwa Natur [,] ist es wichtig, das dialogisch auf mögliche Geltung bezogene Verhältnis des sich vor anderen Verantwortens zu berücksichtigen.“42 Man sei, so Böhler weiter, nicht nur allein für etwas verantwortlich, sondern man ist für etwas vor Anderen verantwortlich. Es geht darum, Rede und Antwort zu stehen und sich zu rechtfertigen. Aus Verantwortung wird zwangsläufig „Mitverantwortung“. Die Diskursethik liefert insofern eine grundsätzliche Besinnung darauf, „ob überhaupt philosophische Ethik [...] möglich ist“43. Es geht hierbei stärker um die Frage nach der Möglichkeit einer Normenbegründung im Allgemeinen. Dahingegen widmet sich die Verant-
38 Ebd., 116. 39 Ebd., 119. 40 Ebd., 142. 41 Ebd., 149. 42 Dietrich Böhler, In dubio contra projectum. Mensch im Spannungsfeld von Verstehen, Konstruieren und Verantworten, in: Ders. (Hrsg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München 1995, 244–276, 260. 43 Wolfang Kuhlmann, „Prinzip Verantwortung versus Diskursethik“, in: Dietrich Böhler (Hrsg.), Im Diskurs, München 1995, 277–302, 278; ders., Reflexive Letztbegründung, Freiburg 1985.
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wortungsethik von Hans Jonas viel eher einem konkreten praktischen Problem und seiner Bewältigung. Sie erarbeitet keine „Normen auf Vorrat“44. Die Diskursethik fokussiert hierbei autonomes menschliches Handeln. Es setzt voraus, dass jemand für sein Handeln sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber allen denkbaren Anderen Rechenschaft ablegen und Gründe seines Handelns angeben kann: Diese Erwartung wird gespeist aus der uns selbst zugeschriebenen Freiheit zum Handeln, welche wir uns – zumindest seit Kant – als Vernunftsubjekte gegenseitig unterstellen. Ohne eine solche Unterstellung wäre die Rede von Verantwortung (zumindest in moralischem Sinne) sinnlos und beschränkte sich allenthalben auf moralneutrale Kausalität.45 Verantwortung erwerben wir insofern nicht nur durch schlichtes Heranwachsen und Aufwachsen in einer Gemeinschaft; sie ist vielmehr ein Moment unserer moralischen Kompetenz. Diese Kompetenz verlangt, a) dass wir uns für unser Handeln und Denken rechtfertigen und b) dass wir (aktuell) nicht rechtfertigungsfähige Lebewesen und deren Interessen advokatorisch vertreten. Insbesondere in Bezug auf politische Entscheidungen mit langfristigen Folgen ist eine solche advokatorische Berücksichtigung aktuell nicht rechtfertigungsfähiger Lebewesen von besonderer Bedeutung. An diesem Punkt unterscheiden sich die hier diskutierten Prinzipien der Verantwortung gravierend von konsequentialistischen Theorien wie dem Utilitarismus, der sich vor allem in ökonomischen Fragen einer großen Beliebtheit erfreut. Zwar nimmt auch der Utilitarismus die Folgen des Handelns in den Blick, rückt jedoch einen möglichst hohen Nutzen für eine möglichst große Anzahl in den Blick. Eine Art Abwägungsverfahren, das die Quantität von Glück und Leid gegenüberstellt, soll zu einer Handlungsempfehlung führen. Der Präferenzutilitarismus à la Peter Singer“ (1979) unterscheidet ferner zwischen Personen, denen Ich-Bewusstsein und Rationalität zugesprochen werden kann, und Menschen allgemein. Die Präferenzen von Personen seien höher zu bewerten als die Interessen von all jenen, die diese nicht zum Ausdruck bringen können: Föten, Neugeborene, Behinderte etc. Nicht nur, dass das mögliche Ausmaß an Datenmengen, die es bei hochkomplexen Entscheidungsprozessen wie etwa der Neuregelung von landesweiten schulischen Bildungsmaßnahmen zu berücksichtigen gäbe, problematisch ist – der Präferenzutilitarismus rechtfertigt zudem Menschenrechtsverletzungen zwecks Glücksmaximierung einer bestimmten Interessengruppe und kennt insofern auch keine Verteilungsgerechtigkeit. Verantwortung wird beschnitten auf eine 44 Ebd. 45 Holger Burckhart, Verantwortungsethik. Ist Verantwortungsethik ohne Hans Jonasʼ Metaphysik, aber mit seinem universalen Anspruch heute verteidigbar? Ein Versuch mit Hans Jonas über ihn hinaus, in: Michael Quante (Hrsg.), Geschichte – Gesellschaft – Geltung. XXXIII. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, Hamburg 2016, 339–366; ders., Hans Jonas: Ethik am Ende – am Ende die Ethik?, in: Hans-Joachim Martin (Hrsg.), Am Ende (–) die Ethik? Begründungs- und Vermittlungsfragen zeitgemäßer Ethik, Münster 2002, 58–83; ders., Warum moralisch sein? Von der Unhintergehbarkeit und Unverzichtbarkeit der Moral in der Anthropologie des Menschen als Intersubjekt, in: Ders. (Hrsg.), Horizonte philosophischer Anthropologie, Markt Schwaben 1999, 207–234.
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Klientel, die ihre Präferenzen in das Abwägungsverfahren rational einbringen kann. Sowohl Hans Jonas als auch die Diskursethik haben sich vehement gegen ein solches Verfahren gewandt, weil es die Menschenwürde jedes Einzelnen diskreditiert. Die Europäische Union, die sich gleichwohl auf den Menschenwürdegrundsatz gründet, kann diese Lesart von Verantwortung nicht widerspruchsfrei gutheißen.
III. Europa als Verantwortungsgemeinschaft? Im Weißbuch zur Zukunft Europas (Die EU der 27 im Jahre 2025)46 taucht das Wort Verantwortung lediglich im Kontext mangelnder Eigenverantwortung auf. Die Mitgliedstaaten verbuchten Erfolge für sich und schöben Misserfolge auf Brüssel. Das schwäche das gemeinsame Projekt und lasse Unzufriedenheit und Skepsis wachsen.47 Aber ist da nicht auch Selbstverschulden im Spiel, wenn auf Verantwortung so wenig Bezug genommen wird, Streit zum Beispiel in der Asylpolitik an der Tagesordnung ist und Staaten wie Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU sein möchten? Die Brexit-Debatte in Großbritannien und dem Rest der EU hat dem Ansehen jedenfalls erheblich geschadet. Die Themensetzung der EU-Kommission ist ebenfalls fragwürdig: „Die EU-27 legt den Schwerpunkt weiterhin auf Beschäftigung, Wachstum und Investitionen, indem sie den Binnenmarkt stärkt und mehr in die digitale Infrastruktur sowie die Verkehrs- und die Energieinfrastruktur investiert.“48 Fragwürdig ist dies nicht etwa deshalb, weil es eine prinzipiell falsche Politik darstellt. Fragwürdig ist diese Politik, weil sie zumeist ohne Gründe und ohne Rechtfertigungspraxis vollzogen wird. Ohne rechtfertigende Erklärung aber bleiben die Agenden europäischer Gemeinschaftspolitik nur schwer vermittelbar. Die EU sei ohnehin nicht leicht zu verstehen, wird selbstkritisch angemerkt, weshalb eigensinnige Strategien nicht zur Stabilisierung des Projekts beitrügen. Angesichts der großen Herausforderungen wie Jugendarbeitslosigkeit und digitalem Wandel, der demokratische Prozesse ohnehin grundlegend verändern wird, ist es zudem nicht leicht, neue Begeisterung für Europa auszulösen. Und wenn der Präsident der EU-Kommission im Europäischen Parlament vor bloß rund 30 Abgeordneten sprechen muss (wie Jean-Claude Juncker 2017), dann wirft das kein gutes Licht auf jenes Parlament, das sich als Vertretung der Bürgerinnen und Bürger versteht. Lächerlich sei dieses Parlament, betonte Juncker damals. Der tiefe Riss zwischen Parlament und Kommission war nicht zuletzt bei der Wahl Ursula von der Leyens (2019) zur neuen Kommissionspräsidentin zu spüren; eine Wahl, die das Prinzip der Spitzenkandidaten ja vollkommen ausgehebelt hat und für die Zukunft als ob-
46 Europäische Kommission, Weißbuch zur Zukunft Europas, COM (2017) 2025, 1. März 2017. 47 Ebd., 12. 48 Ebd., 16.
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solet erscheinen lässt. Ein Verantwortungsgefühl für die Errungenschaften der EU ist so bei den Bürgerinnen und Bürgern jedenfalls nur schwer zu entwickeln. Im Weißbuch heißt es weiter: „Bei einem Szenario, bei dem die EU-27 weitermacht wie bisher, einige Mitgliedstaaten aber gemeinsam mehr unternehmen wollen, formieren sich eine oder mehrere „Koalitionen der Willigen“, die in bestimmten Politikbereichen zusammenarbeiten. Dies kann Bereiche wie Verteidigung, innere Sicherheit, Steuern oder Soziales betreffen.“49 Auch das klingt wenig überzeugend: Weiter machen wie bisher. Macrons Hoffnung auf einen Neuanfang spiegelt diese Art der Politik, die auf eine „Koalition der Willigen“ setzt, nicht wider. Am ehesten wird die EU ihrer Verantwortung im letzten Szenario gerecht. Dort heißt es, man wolle in allen Bereichen mehr Machtbefugnisse und Ressourcen teilen und Entscheidungen gemeinsam treffen. Gleichwohl wird sich einmal mehr über das Procedere der Entscheidungsfindungen ausgeschwiegen. Versteht man Verantwortung hingegen als prozedurales Diskursprinzip, wäre auch politisches Handeln ein steter Austausch von Argumenten und Begründungen, wie die Zukunft der Europäischen Union auszusehen hat und wie das Gemeinwohl in Europa zu stärken wäre. So gesehen spielt der Teilbereich sozialen Zusammenlebens zunächst einmal nur eine nachgeordnete Rolle: Verantwortung resp. Mitverantwortung ist das leitende Moment aller Handlungsentscheidungen, im Makro- wie auch im Mikrobereich gemeinschaftlichen Handelns. Es geht darum, Gründe anzugeben für das, was getan werden soll, Argumente anzuführen, Rechenschaft abzulegen, um Willkür zu verhindern. Im Alltag begegnen wir immer wieder moralischen Dilemmasituationen, die strittige Entscheidungen nach sich ziehen und in denen wir zu verantwortungsvollem Handeln aufgerufen sind. Gerade heute gibt es im Zuge der technologischen Entwicklung in Europa und anderen Teilen der Welt mehr denn je solche Situationen. Blicken wir einmal auf den medizinischen Bereich, wo der Fortschritt der Apparatemedizin rasant verläuft: Es gibt beispielsweise europaweit keine einheitliche Regelung in Bezug auf die Organspendepraxis. Das irreversible Koma (coma depassé) als Todeskriterium ist zudem weiterhin umstritten. Neue Beatmungstechnologien und Transplantationstechniken hatten in den 1960er Jahren bereits dazu geführt, den Todeszeitpunkt zwecks Organentnahme vorzuverlegen, was bereits Hans Jonas 1968 kritisierte. Er betonte, das Kriterium betreffe weder den Kreislauf noch die Atmung. Unter Umständen sind auch nicht alle Hirnregionen völlig funktionslos. Schließlich wird der Aufrechterhaltung der Homöostase, die die Körpertemperatur regelt, Infektionen bekämpft, das Wachstum steuert und Wunden heilt, beim Hirntodkriterium keine Bedeutung mehr beigemessen. Apalliker etwa, die jahrelang im Koma liegen, ohne von Maschinen abhängig zu sein, stehen paradigmatisch für die Grenzfälle, die das Hirntodkriterium mit sich bringt. In einigen europäischen Ländern gilt diesbezüglich die Widerspruchslösung, in Deutschland 49 Ebd., 20.
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gilt die Entscheidungslösung. Organe und Gewebe dürfen nur dann nach dem Tod entnommen werden, wenn die verstorbene Person dem zu Lebzeiten zugestimmt hat. Liegt keine Entscheidung vor, werden die Angehörigen nach einer Entscheidung gefragt. In anderen europäischen Ländern gilt wiederum die (erweiterte) Zustimmungslösung resp. die Entscheidungslösung: Bürgerinnen und Bürger sollen regelmäßig mit neutralen und ergebnisoffenen Informationen versorgt werden, damit sie eine sichere Entscheidung für oder gegen die Organ- und Gewebespende treffen können. Es gilt jedoch jeweils das Gesetz jenes Landes, in dem ich mich gerade aufhalte. Ein nicht minder moralgetränktes Streitthema ist die Stammzellforschung. Virulent ist die Diskussion in Deutschland insbesondere nach dem 2002 verabschiedeten Gesetz über die Einfuhr und Verwendung embryonaler Stammzellen, das die – etwas zugespitzte – Frage aufwarf, ob sich wohlhabende Menschen in naher Zukunft ein organisches Ersatzteillager einrichten werden. Das Gesetz war nicht zuletzt eine Reaktion auf die Entscheidung des britischen Parlaments, menschliche Embryonen in den ersten vierzehn Tagen für Zwecke des Klonens freizugeben. Die Human Embryo Cryopreservation, das Konservieren embryonaler Zellen auf Vorrat zur künstlichen Befruchtung, halten die ohnehin kontrovers geführten Diskussionen am Leben, insbesondere nachdem der Antrag der Genetikerin Kathy Niakan vom Francis Crick Institute in London, Genversuche an Embryonen durchzuführen, im Jahre 2016 von der britischen Kontrollbehörde Human Fertilisation and Embryology genehmigt worden ist. Neben den medizinethischen Problemen, die je nach Mitgliedstaat unterschiedlich gehandhabt werden, brechen sich jedoch weitere politische Themen Bahn, die die Verantwortung Europas auf den Plan rufen. Zu nennen ist hier in erster Linie die bittere Armut eines großen Teils der Weltbevölkerung. Valentin Beck (2016) und Stephan Lessenich (2016) haben in diesem Kontext auf die Verantwortung der reichen Industrieländer aufmerksam gemacht und gefragt, was die Bessergestellten jenen in Armut lebenden Menschen moralisch schulden und wer den Preis für unseren Wohlstand zahlt. Schließlich rückt das Thema Massentierhaltung immer stärker in den Fokus öffentlicher Auseinandersetzungen. Damit verbunden ist die Frage, ob man Tiere eigentlich essen darf. Auch hier stehen wir möglicherweise vor einer Zäsur traditioneller Moralvorstellungen, über die man europaweit diskutieren müsste, nicht nur innerhalb bestimmter Grenzen. Handlungs- und Begründungsfreiheit sind in allen genannten Themenbereichen die zentralen Momente der Verantwortung: Was ist mit Minderheitenpolitik, was mit den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Atompolitik und dem Betrieb von Atomkraftwerken etc.? Bereits eine einfache Behauptung, eine schlichte Aussage zu politischen Einzelthemen, verlangen im Zweifelsfall nach Begründung. Der Zweifelsfall ist dann gegeben, wenn nach möglichen Alternativen gefragt wird. Insofern versteht sich Verantwortung nicht ausschließlich als persönlich-individuell zurechenbare Entscheidungs- und daraus abgeleitete, zumindest bedingte Folgenverantwortung, sondern immer auch als ein Problem kollektiver Urteilsfindungen. Sich zu verantworten wird deshalb unverzichtbares und unhintergehbares
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Moment eines sinn- und geltungshaften Vollzugs des Menschseins. Die Fähigkeit, auf Andere und sich selbst Bezug zu nehmen und diese Bezugnahme auch zu reflektieren, zeichnet den Menschen als Vernunftwesen aus, welches dann auch fähig ist, sich individuell und sozial zu verantworten. Politische Entscheidungsträger sollten meines Erachtens an dieser Kompetenz wieder gemessen werden. Der Mensch trägt Verantwortung, weil er sich sonst der Sinnbasis seines Selbst beraubt. Dies bedeutet, die Interessen aller Beteiligten und Betroffenen zu berücksichtigen und für die gegenwärtige wie zukünftige sozial-ökologische, ökonomische Mitwelt Mitverantwortung zu tragen: Die Interessen jener, die ihre Interessen selbst nicht hervorbringen können, müssen zudem advokatorisch vertreten werden. Jene Folgen, die nicht absehbar kalkulierbar sind, stehen, wie alle empirische Erkenntnis unter Fallibilismusvorbehalt und alle Einschränkungen der Entscheidungsfreiheit sind selbst reziprok-universal zu begründen. Aus diesem Zugriff auf das Thema Verantwortung ergibt sich ein übergreifendes Handlungsprinzip: Bewahre und ermögliche den argumentativen Dialog, das heißt: Etabliere eine Beratungs- und Rechtfertigungspraxis (in Europa und der Welt), die die Ansprüche aller Betroffenen und Beteiligten mitberücksichtigt. Jürgen Habermas stellt an sein verantwortungsethisches Handlungsprinzip deshalb vier Bedingungen: (a) niemand, der einen relevanten Beitrag machen könnte, darf von der Teilnahme ausgeschlossen werden; (b) allen wird die gleiche Chance gegeben, Beiträge zu leisten; (c) die Teilnehmer müssen meinen, was sie sagen; (d) die Kommunikation muss derart von äußeren und inneren Zwängen frei sein, dass die Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen allein durch die Überzeugungskraft besserer Gründe motiviert sind.50
Ist Europa in diesem Verstande eine Verantwortungsgemeinschaft? Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. De facto ist unstrittig, dass sich europäische Staaten, europäische Institutionen als auch die Bürger Europas nicht selten als verantwortungslose Akteure zeigen, die lediglich Eigeninteressen verfolgen, nicht gesprächsbereit sind und die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft nur unzureichend angehen. Im Zeitalter sozialer Medien scheint der Verfall der Werte, wie Macron befürchtet, tatsächlich in eine neuartige, nicht minder große Gereiztheit zu münden. Zuletzt hat Bernhard Pörksen auf die Effekte digitaler, vernetzter Medien hingewiesen, die den Charakter dessen veränderten, was wir Öffentlichkeit nennen.51 Diese Effekte führten dazu, dass Schutzzonen der Unsichtbarkeit und Rückzugsräume der Unbefangenheit schwinden. Es geht heute also weniger darum, was genau passiert, sondern viel eher darum, wie und in welchem Maße medial auf ein bestimmtes Ereignis reagiert wird. 50 Habermas, Diskursethik, 77. 51 Bernhard Pörksen, Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München 2018.
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Nicht weniger als eine Neuorganisation der Informationswelt, in der wir uns permanent bedrohlich nahekommen, sei die Folge: Diskursfilter und Informationskontrollen sind weggebrochen, jeder Smartphonebesitzer wird zum neuen Sender. Dies hat gravierende Konsequenzen für das gesellschaftliche Zusammenleben. Fake-News werden als Nachrichten präsentiert und erregen virtuelle Fieberschübe. Irreale Nachrichten können durchaus unmittelbar reale Folgen haben, wenn falsche Behauptungen für wahr gehalten werden. Die Wahrheit wird durch Propaganda, Manipulation und Fälschung zweifellos umstrittener als je zuvor, und die Gewissheiten zerfallen vor aller Augen. Dies ist gerade deshalb beunruhigend, weil wir ein grundsätzliches Gewissheitsbedürfnis haben, das jedoch durch die Flut der Ad-hoc-Kommentare und der zahllosen Instant-Interpretationen, die das Netz bereithält, zusehends instabiler zu werden droht. Inzwischen haben sich unzählige, simultan präsente Parallelöffentlichkeiten herausgebildet, in denen jedes Thema eine völlig neue Bedeutung erlangen kann, ohne dass wir dies zu steuern vermögen. Das Zeitalter klassischer Leitmedien weicht dem Zeitalter der Wirkungsnetze, und die Grenze zwischen Diskurszentrum und Diskursperipherie ist porös geworden, so Pörksen. Eine Folge ist ein diffuses Geraune ohne seriöse Belege. Davon ist auch die Öffentlichkeitsarbeit der EU nicht frei. Dies führt zu Autoritätsverlusten, und die viel zu eilig verfassten Urteile der digitalen Welt verzerren das Gesamtbild, weil oftmals nur bruchstückhafte Informationen verarbeitet werden. Es geht in diesem Zusammenhang darum, an die Verantwortung eines jeden Einzelnen zu appellieren, der im 21. Jahrhundert zwangsweise selbst zum Sender geworden ist. Es geht um publizistische Selbstkontrolle, die durch die Orientierung an der Wahrheit geleitet ist. Es geht darum, wieder zu recherchieren, skeptisch zu sein, Informationen infrage zu stellen, Urteile mit Bedacht zu fällen. Es geht darum, Argumentationen einzuüben, andere Perspektiven einzunehmen, Kompromisse zu suchen. Wir brauchen ein Gespür für Relevanz und Nuancen. Wir müssen Informationen wieder gewichten, aufmerksam und konzentriert sein, nicht nur Klickvieh. Wir brauchen einen Sinn für Angemessenheit, so Pörksen, Reflexionsvermögen und Problembewusstsein. Vor allen Dingen aber sollten wir unsere Arbeitsweise offenlegen: Weder die politischen noch die privaten Akteure im europäischen Raum sind von einer grundsätzlichen Verantwortung befreit, die sie als Rechtssubjekte und Autoren ihrer Handlungen und Entscheidungen treffen. Eine Verantwortungsgemeinschaft kann nur dort entstehen, wo alle diese Aufgabe ernst nehmen: „Pour une Renaissance européenne“!
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Verantwortung Zur Regeneration des europäischen Zusammenlebens I. Vorbemerkung Die Europäische Union wartet jedes Jahr mit Rekordzahlen zum wachsenden Wohlstand, dem zunehmenden Außenhandel, der weltweiten Bedeutung des Euro oder zum technologischen Fortschritt auf. Doch zugleich werden die Europäerinnen und Europäer der an sie adressierten Nachrichten nicht recht froh: Aus unterschiedlichen Gründen kennzeichnen Unsicherheit, Unzufriedenheit, ‚innere Kündigung‘ und bisweilen offene Proteste die Einstellung der Menschen gegenüber der EU-Politik. Das Zusammenleben in den einzelnen Ländern ist durch tiefe soziokulturelle und ideologische Gräben zerschnitten. Darunter leidet auch die Völkerverständigung in Europa: Jeder ist des Anderen Konkurrent geworden. Eine gegenseitige Wertschätzung als Europäer bzw. Europäerin gibt es nicht. Aus diesen Gründen ist es an der Zeit, das europäische Zusammenleben zu regenerieren. Doch guter Wille allein reicht dazu nicht aus. Es muss ein diskursiver Raum geschaffen werden, in dem die für die Zukunft Europas grundlegenden Fragen debattiert werden können: […] the key questions for policymakers – and Europeans – are ‘what kind of Europe do we want to create?’ and ‘what kind of Europeans do we want to be?’1
Das heißt, dass das aktuelle Zusammenleben auf den Prüfstand gestellt werden muss und die Debatte nicht durch Einwände wie: „Das kann Arbeitsplätze gefährden!“ kurzgeschlossen werden sollte. Es geht um den europäischen Zivilisationstyp, der sich in vielfältige, die Menschen intellektuell und affektiv integrierende Kulturen differenziert hat. Insbesondere die intellektuellen europäischen Eliten haben die Verantwortung, den Anspruch des europäischen Zivilisationstyps gegen herrschende Machtinteressen zur Geltung zu bringen. Es ist deshalb zu begrüßen, in eine wissenschaftliche Erörterung einzusteigen, worin die Verantwortung der Europäer bestehen könnte. Die programmatische Thematik des Sammelbandes „Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft“ ist weit gespannt: Einerseits wird die EU als quasi-staatliche Entität 1 Paul Stock, What is Europe? Place, idea, action, in: Ash Amin/Philip Lewis (Hrsg.), European Union and disunion: reflections on European identity British Academy, London, UK, 2017, 23–28 http://eprints.lse. ac.uk/78396/1/Stock_What%20is%20Europe_2017.pdf (LSE Research online) (abgerufen am 08.12.2019).
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mit globaler Verantwortung betrachtet; davon untrennbar ist die gegenseitige Verantwortung der die EU konstituierenden Mitgliedstaaten. Andererseits wird die EU aus der Perspektive ihrer Bürger und Bürgerinnen thematisiert, wenn von Werten, politischer Bildung und kulturellen Anliegen die Rede ist. Darüber hinaus soll auch Europa als Verantwortungsgemeinschaft einbezogen werden, d. h. es sollen die Chancen für ein vertieftes Zusammengehörigkeitsgefühl (‚Wir-Gefühl‘) zwischen den Bürgerinnen und Bürgern ausgelotet werden. Der vorliegende Text konzentriert sich auf diese letzte Perspektive. Um angesichts der Vielzahl der erwähnten Aspekte mein Anliegen von Missverständnissen möglichst freizuhalten, werde ich mein besonderes Augenmerk auf die begriffliche Klärung richten.
II. Zur Verwendung des Begriffs ‚Verantwortungsgemeinschaft‘ in der Öffentlichkeit In der Öffentlichkeit hat der Begriff der Verantwortungsgemeinschaft Konjunktur. Organisationen bzw. Institutionen verwenden diesen Begriff in unterschiedlicher Weise. Es lassen sich fünf Typen bei der Verwendung des Begriffs herausheben. Typ 1: Sittliche Verantwortung, Typ 2: Neuformatierung durchschnittlicher Verpflichtungen, Typ 3: Gesellschaftliche Akzeptanz und Kompensation von Legitimationsdefiziten, Typ 4: Absicherung von Machtpositionen, 5. Politische Interessengemeinschaften. Typ 1: Sittliche Verantwortung Seit langem ist die Ehe als Verantwortungsgemeinschaft bezeichnet worden, kürzlich auch die eheähnlichen Lebensgemeinschaften. Aus dem Blickwinkel der Betroffenen zählt die zwischen den Partnern vereinbarte moralische Qualität der Beziehungen sowie ggf. die pädagogischen Absichten bei der Kindererziehung. In diesem Fall handelt es sich um sittliche Verantwortung, weil bei bestimmten Handlungen oder Unterlassungen von verdientem Lob und verdientem Tadel gesprochen werden kann.2 Typ 2: Neuformatierung durchschnittlicher Verpflichtungen Betrachtet man die Ehe aus juristischer Perspektive, meint der Begriff ‚Verantwortungsgemeinschaft‘ die reziproken Pflichten, die die Ehepartner haben, sowie die gemeinsamen Pflichten gegenüber den eventuell vorhandenen Kindern. Traditionelle, von Generation zu Generation weitergegebene ungeschriebene Regeln des Zusammenlebens sind in der jüngeren Vergangenheit durch ein ungeregeltes Verständnis individueller Selbstverwirklichung zunehmend verdrängt worden. Die Scheidungsrate ist angestiegen und etliche Paare leben ohne Eheschließung zusammen. In beiden Fällen hat sich bei einer Trennung insbesondere für die Kinder ein Regelungsbedarf ergeben, auf den die Rechtsprechung reagiert hat. Es 2 Hermann Schmitz, Das Reich der Normen, Freiburg/München 2012, 28.
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geht dabei um eine explizite rechtliche Definition gesellschaftlich als notwendig erachteter, durchschnittlicher Regeln. Dementsprechend handelt es sich hier nicht wie beim ersten Fall um sittliche Verantwortung.3 Ein anders gelagerter, aber vergleichbarer Fall liegt vor, wenn z. B. kirchliche Organisationseinheiten (Bistümer) einen vernetzten, die Verwaltungsstrukturen überschreitenden „pastoralen Raum“ als „Verantwortungsgemeinschaft“ bezeichnen.4 Hier handelt es sich darum, dass eine Großorganisation bei den Mitarbeitern das verengte bürokratische Ressort- und Zuständigkeitsdenken zurückdrängen und die Eigeninitiative für übergreifende Zusammenhänge anregen will. Es wird außerdem erwartet, dass eine die Eigenverantwortung stärkende Personalführung die knapper werdenden Humanressourcen effizienter zu nutzen erlaubt. Wieder anders, aber durchaus vergleichbar werden Kindertagesstätten und Schulen in ihrem Umfeld als Verantwortungsgemeinschaft ausgewiesen.5 Insbesondere in städtischen Ballungsgebieten mit hoher Fluktuation der Bevölkerung und differenzierten Bedürfnissen wird von der Vernetzung mehrerer gesellschaftlicher Akteure eine Verbesserung der Angebotsqualität und eine größere Zufriedenheit bei Nutzern und Angehörigen erwartet. Typ 3: Gesellschaftliche Akzeptanz und Kompensation von Legitimationsdefiziten Wenn kommunale Zusammenschlüsse wie der Kommunalverband Ruhr sich als Verantwortungsgemeinschaft darstellen,6 handelt es sich hauptsächlich um die Reaktion auf eine sich verändernde politische Lage. Die Städte des Ruhrgebiets befinden sich in einem verschärften Standortwettbewerb auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene; ein Beispiel ist der Plan, Dortmund als „Wissenschaftsstadt“ zu positionieren.7 Damit die Berücksichtigung der gemeinsamen Interessen der Region darüber nicht zu kurz kommt, soll der Rückgriff auf die Verantwortungsgemeinschaft die städtischen Eliten zusammenhalten. Demgegenüber wird die städtische Bürgergesellschaft angesprochen, wenn sich Städte, etwa angesichts der massiven und ungeregelten Zuwanderung seit 2015, als Verantwortungsgemeinschaft bezeichnen.8 Durch Entscheidungen auf EU-Ebene und nationaler Ebene 3 Homepage des Bundessozialgerichts 2018, https://www.bsg.bund.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/ 2018_02_14_B_14_AS_17_17_R.html (abgerufen am 08.12.2019); Freie Demokratische Partei, https://www. fdp.de/wp-modul/btw17-wp-a-120 (abgerufen am 08.12.2019). 4 Homepage des Bistums Dresden-Meißen, https://www.katholisch-dresden-ost.de/vg/ (abgerufen am 23.12. 2019). 5 Homepage der Bertelsmann-Stiftung, https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Laender monitoring_Fruehkindliche_Bildungssysteme/1_Bock-Famulla_Praesentation_Gute_KiTa.pdf (abgerufen am 08.12.2019); Homepage des Bundesverbands für Erziehungshilfe, https://afet-ev.de/aktuell/AFET_intern/ 2016/2016-05-2.Expertengespr_Schulbegleitung.php (abgerufen am 08.12.2019). 6 Homepage des Kommunalverbandes Ruhr http://www.ruhrgebiet-regionalkunde.de/html/vertiefungsseiten/ verantwortungsgemeinschaft.php.html (abgerufen am 08.12.2019). 7 Homepage der Stadt Dortmund, https://www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/bildungwissenschaft/studiumforschung/masterplan_wissenschaft/index.html (abgerufen am 08.12.2019). 8 Homepage der Vereinigung Nordstadtblogger, Zuwanderung aus Südosteuropa: Stadt Dortmund zieht Bilanz
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haben sich die Rahmenbedingungen städtischer Politik geändert. Vor dem Hintergrund der Auflösung solidarischer Beziehungen und des Vordringens einer egoistischen Mentalität stoßen kontroverse Entscheidungen wie im Fall der Zuwanderung aus außereuropäischen Ländern auf eher geringe Akzeptanz. Hier von Verantwortungsgemeinschaft zu sprechen, ist der Versuch, ein Legitimationsdefizit abzufangen. 4: Absicherung von Machtpositionen Wenn im Vergleich zu diesen Fällen eine Forschungsvereinigung wie die Max-Planck-Gesellschaft den Europäischen Forschungsraum als Verantwortungsgemeinschaft bezeichnet, handelt es sich um eine Mahnung an die Adresse der Bundesregierung, die öffentliche Finanzierung von Forschung und Entwicklung nicht anzutasten,9 damit die deutsche (und europäische) Wettbewerbsfähigkeit weltweit nicht gefährdet wird. Man kann dies als Ausdruck von Interessenpolitik oder als Lobbyarbeit bezeichnen. 5. Politische Interessengemeinschaften: Ein anders gelagerter Fall von Interessenpolitik ist es, wenn z. B. verbündete Staaten wie Deutschland und Frankreich und nicht zuletzt die sog. westliche Welt als Verantwortungsgemeinschaft apostrophiert werden.10 Damit wird unterstrichen, dass die nationalen Interessen nur dann effizient wahrgenommen werden können, wenn allgemeine EU-Interessen bzw. die der NATO-Staaten im globalen Kontext angemessen berücksichtigt werden. Ähnlich verhält es sich, wenn die Europäische Union in Zusammenhang mit der Migrations- und Flüchtlingspolitik beansprucht, eine Verantwortungsgemeinschaft zu sein.11 Bekanntlich lehnen mehrere EU-Regierungen die Politik einer ungeordneten und massiven Zuwanderung sowie die proportionale Verteilung der Menschen auf die einzelnen Mitgliedsländer ab. Das Ringen um Einfluss und Macht ist zurzeit in vollem Gang. Wenn nun in Hinblick auf die Unterstützung von Flüchtlingen von einer Verantwortungsgemeinschaft die Rede ist, klingt dies zunächst wie ein Bekenntnis zu Humanität und universeller Moral. Allerdings kann dieser Einzelfall nicht losgelöst von der generellen Vertrauens- und Legitimationskrise der aus zehn Jahren und fordert Verantwortungsgemeinschaft, https://www.nordstadtblogger.de/zuwanderungaus-suedosteuropa-stadt-dortmund-zieht-zehn-jahres-bilanz-und-fordert-verantwortungsgemeinschaft/ (abgerufen am 08.12.2019); Homepage des Instituts für Menschenrechte, Flucht und Menschenrechte, https:// www.institut-fuer-menschenrechte.de/aktuell/veranstaltungen/veranstaltungen-2013/flucht-und-menschenrechte-2013/ (abgerufen am 08.12.2019). 9 Ansprache von Prof. Dr. Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, veröffentlicht am 09.07. 2019, https://www.youtube.com/watch?v=9iLXDqo-r0s (abgerufen am 08.12.2019). 10 Homepage der Bundeszentrale für Politische Bildung, https://www.bpb.de/apuz/210551/ost-west-beziehungen-und-deutsche-aussenpolitik-seit-der-wiedervereinigung?p=all (abgerufen am 08.12.2019). 11 Homepage der Europäischen Union, EU-Programme helfen bei der Integration von Flüchtlingen, https:// ec.europa.eu/germany/news/eu-programme-helfen-bei-der-integration-von-fl%C3%BCchtlingen_de (abgerufen am 05.01.2020). „Richard Kühnel, der Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland, sagte: ‚Die EU ist eine Verantwortungsgemeinschaft.‘ […]“
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EU betrachtet werden. Wie im Fall des sog. UN-Migrationspaktes12 wird Politik auch unter Verwendung von Hochwertbegriffen wie ‚europäische Werte‘, ‚Menschenrechte‘ und eben auch ‚Verantwortungsgemeinschaft‘ betrieben. Nüchtern betrachtet ist dies ein rhetorisches Verfahren, mit dem die eigene politische Position aufgewertet und die der Kritiker moralisch abgewertet werden sollen. Insofern schillert der Diskurs der EU zwischen humanitärem Anspruch und Interessenpolitik. An diesem Beispiel wird deutlich: Eine intergouvernementale bzw. zwischenstaatliche Verantwortungsgemeinschaft ist ein politisch-praktischer Begriff, der kaum etwas mit dem sozialwissenschaftlich-analytischen Begriff der Gemeinschaft im Unterschied zur Gesellschaft zu tun hat.13 Im zweiten Fall wird gefragt, inwieweit die Bürgerinnen und Bürger eine starke affektive Bindung (strong ties) oder eine eher schwache affektive Bindung (loose / weak ties14) zueinander und zum Staat unterhalten bzw. ob ein affektiv neutrales Verhältnis vorliegt. Im Fall einer starken affektiven Bindung kann daraus eine sittliche Verantwortung resultieren. Bei politischen Interessengemeinschaften hingegen ist die Verschiebung des Begriffs auf den einer ‚Verantwortungsgemeinschaft‘ irreführend. Verantwortung bedeutet hier die Befolgung klar definierter Regeln. Zum Beispiel war die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) eine Organisation mit deutlich umrissenen Zwecken. Auch die 1956 geschaffene Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hatte einen klaren Zweck, nämlich die Macht von sechs Staaten zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes zu vereinigen. Es folgte die Erweiterung auf die Europäischen Gemeinschaften mit EURATOM, Montanunion und EWG. Der Vertrag von Maastricht von 1993 erweiterte seinerseits die Kompetenzen auf die Bereiche Justiz (JI), polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) sowie einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Schließlich: Obgleich der Lissabon-Vertrag durch die Zusammenführung der Macht von 27 Staaten zu einem Global Player einen politischen Paradigmenwechsel darstellt, ist die Verantwortung, von der hier allein gesprochen werden kann, die von Staaten, die sich auf die Einhaltung von Verträgen verpflichten, aber keine sittliche Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger. Die Gemeinschaft, um die es hier geht, ist eine Interessengemeinschaft von Staaten, die gemeinsame politische Ziele verfolgen. Der Begriff Verantwortungsgemeinschaft bezogen auf die EU spielt gezielt mit diesem Doppelsinn, wie sich an der Verwischung des Unterschiedes zwischen EU und Europa zeigen lässt.
12 Homepage der Vereinten Nationen, Globaler Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration http:// www.un.org/depts/german/migration/A.CONF.231.3.pdf (abgerufen am 08.12.2019). 13 Nach Ferdinand Tönnies, siehe unten Anm. 28. 14 Mark Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78 (1973), 1360–1380, https://www.cs.cmu.edu/~jure/pub/papers/granovetter73ties.pdf (abgerufen am 08.12.2019).
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III. Das ‚europäische Projekt‘ als Nebelwand Wenn etwa die deutsche Bundeskanzlerin 2015 von den EU-Partnerländern einfordert, Europa als Wertegemeinschaft, Rechts- und Verantwortungsgemeinschaft zu respektieren, ist dies kein philosophisches Räsonieren über die gemeinsamen Grundlagen des Zusammenlebens, sondern eine unmissverständliche Botschaft auf der Ebene der EU-Politik.15 Wer an dem damaligen, im Handstreichverfahren den anderen Mitgliedsländern aufgezwungenen bedingungslosen Offenhalten der Grenzen Kritik übte, stelle sich – so ist zu verstehen – außerhalb der gemeinsamen Werte, verließe die gemeinsame Rechtsbasis und verhielte sich verantwortungslos. Dies war kein idealistischer Appell an eine gemeinsame ethische Grundüberzeugung, sondern eine kaum verhohlene Drohung, bei Verhandlungen z. B. über eine eventuelle nationale Haushaltsschieflage sowie bei der Verteilung von EU-Haushaltsmitteln und einflussreichen Posten wenig Entgegenkommen seitens der mächtigen deutschen Regierung erwarten zu können. Eine Ausgrenzung des jeweiligen Landes könnte negative Auswirkungen auf die nationale Konjunktur und die Einstufung durch Ratingagenturen nach sich ziehen. Die bemühten, hochwertigen, Europa zugeschriebenen Attribute werden also als politisches Druckmittel verwendet. Eine argumentative Akrobatik führt seinerseits Jens Weidmann, Präsident der Deutschen Bundesbank, in einer Rede vor, in der er „Europa als Verantwortungsgemeinschaft“ geradezu mit immer mehr Wachstum identifiziert: In diesem Zusammenhang [die Erholung des Euroraumes, W.M.-P.] wird in einigen Mitgliedstaaten ja derzeit leidenschaftlich über Souveränität diskutiert. In der Tat steht die nationale Wirtschaftspolitik in der Verantwortung, die Voraussetzungen für Wachstum, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt zu verbessern, etwa durch ein gutes Bildungssystem, eine funktionierende öffentliche Verwaltung, eine wachstumsfreundliche und faire Besteuerung, angemessene Infrastruktur und vieles mehr. Das liegt im eigenen nationalen Interesse und ist zugleich der beste Beitrag jedes einzelnen Landes für die Stabilität Europas. Europa muss als Verantwortungsgemeinschaft funktionieren, nur dann können wir das europäische Projekt wirklich voranbringen und den Bürgern Europas zeigen, dass es Wohlstand schafft.16
15 Homepage der Bundesregierung: Rede von Bundeskanzlerin Merkel am 7. Oktober 2015 vor dem Europäischen Parlament, https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-am7-oktober-2015-vor-dem-europaeischen-parlament-475792 (abgerufen am 08.12.2019). 16 Homepage der Bundesbank, Rede des Präsidenten Jens Weidmann vom 5. Juni 2018, Reformen für eine stabile Währungsunion, https://www.bundesbank.de/de/presse/reden/reformen-fuer-eine-stabile-waehrungsunion-743788 (abgerufen am 08.12.2019).
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Damit tritt Weidmann Kritikern entgegen, die das nationale Interesse stärker berücksichtigt sehen wollen. Nationalstaatliche Alleingänge wären makroökonomisch riskant, denn für Weidmann besteht kein Zweifel, dass das „europäische Projekt“ nur durch mehr Wachstum Rückhalt in der Bevölkerung finden werde. Dass die Sozialpolitik von der Agenda der EU verschwunden ist, wird nicht erwähnt.17 Ein weiteres Beispiel der programmatischen Verschmelzung von EU und Europa ist der politische Vorstoß des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron unter dem Motto: „Refonder l’Europe“. In seiner gleichnamigen Sorbonne-Rede (nicht Refonder l’Union européenne!) von 2017 übt er wohl dosierte Selbstkritik18 und verspricht eine Erneuerung mit dem Argument, dass Europa früher zu großen Taten fähig war und folglich dies auch heute sein könne. Die daraus abgeleitete Überwindung der Angst und der neu geschöpfte Mut sollen die Grundlage für eine Straffung der EU-Verträge bilden.19 Macrons rhetorisch ausgefeilte Rede ist der teleologischen Konzeption verpflichtet, wonach die EU die legitime Erbin der geistigen sowie künstlerischen Errungenschaften des Abendlandes und deshalb nicht kritisch hinterfragbar sei. Macron scheut nicht das Risiko der Geschichtsklitterung und der Lächerlichkeit, vor der schon Nietzsche die Wiederholer großer Taten gewarnt hatte.20 In dieser Perspektive reduziert sich in der Tat das kulturelle Europa leicht auf einen Werkzeugkasten, aus dem man sich nach Bedarf bedient. Da die EU als Organisationskonstrukt keine emotionale Ausstrahlung haben kann, soll ihr die europäische Kultur eine Aura verleihen, um den Zeitgenossen die affektive Bindung an das weich formulierte „europäische Projekt“ zu suggerieren. Im Unterschied zu Macrons emphatischem Aufschwung hat in Deutschland die Politik stärker auf die diskursive und atmosphärische Strategie der kollektiven mauvaise foi, des kollektiven Selbstbetrugs, gesetzt mit dem Ziel, eine kollektive, selbstzufriedene Gestimmt-
17 Wolfgang Streeck, Progressive Regression. Metamorphoses of European Social Policy, in: New Left Review 118, july / aug. 2019, 136 f.: „Concepts like ‘social Europe’ and the ‘European social model’ have almost completely disappeared. ‘Europe’ and the ‘European project’ are today promoted as vehicles of universal peace, international human rights and civilized speech, rather than as an alternative to unbridled capitalism.“, https://wolfgangstreeck.files.wordpress.com/2019/09/wolfgang-streeck-progressive-regression-nlr-118-julyaugust-20191.pdf (abgerufen am 08.12.2019). 18 Homepage des Elysée-Palastes, Rede des Staatspräsidenten Emmanuel Macron vom 26. September 2017, Initiative pour lʼEurope – Discours dʼEmmanuel Macron pour une Europe souveraine, unie, démocratique http:// www.elysee.fr/declarations/article/initiative-pour-l-europe-discours-d-emmanuel-macron-pour-une-europesouveraine-unie-democratique/ (abgerufen am 08.12.2019): „Et je pense que nous n’avons pas eu raison de faire avancer l’Europe malgré les peuples.“ 19 Emmanuel Macron, Initiative pour lʼEurope, wo er ausruft: „N’ayez pas peur !” und später: „N’ayons pas peur !” 20 Werner Müller-Pelzer, Refonder l’Europe? A propos du projet politique d’Emmanuel Macron, in: impEct. Intercultural and Multidisciplinary Papers – European Contributions 9 (2017), https://www.fh-dortmund.de/ de/fb/9/publikationen/impect/i9_Art7_R_g_n_rer_l_Europe.pdf (abgerufen am 23.12.2019).
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heit zu erzeugen.21 Darin versiert, stets die besondere historische Verantwortung Deutschlands zu unterstreichen, üben sich deutsche Politiker in demonstrativer Demut und profilieren sich als Verfechter der jüdisch-christlichen Traditionslinien, um der deutschen (und europäischen) Politik eine humanitäre Aura zu verleihen. Zusammen mit der politisch motivierten „Selbstsakralisierung Europas“22 wird in der Öffentlichkeit das Eintreten für das „europäische Projekt“ gleichsam zum Credo und die Kritik an der EU zur Europaskepsis oder gar zum Krankheitsbild der Europaphobie erklärt.23 Politische Kommunikationsdesigner zielen vermutlich darauf, dass ein auratisches EU-Europa eine atmosphärische Qualität erhält, die sich diskursiver Kritik entzieht.24 Der EU, wie wir sie kennen, fehlt offenbar die Eignung zu einer Verantwortungsgemeinschaft, die den Bürgerinnen und Bürgern affektiv nahegeht, eine ggf. mythisch ausgestaltete Herkunftsgeschichte für die geschichtliche Verankerung des ‚Wir-Gefühls‘ anbietet und von einer affektiv besetzten kollektiven Leitidee angetrieben würde, die die Bürger in ihr Lebensgefühl integrieren können. Dieser Mangel an Eignung resultiert aus dem Umstand, dass die EU als konstruiertes Institutionengefüge lediglich ein abstraktes Verhältnis zu Europa hat. Europa ist aus dem abendländischen Zivilisationstyp25 hervorgegangen, welcher in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Kultursysteme hervorgebracht hat, in denen sich der europäische Zivilisationstyp zu einer jeweils spezifischen, die Menschen affektiv und sozial integrierenden Gestalt entfaltet hat. Die EU-Eliten weigern sich jedoch, zwischen der EU, einem Konstrukt, und Europa zu unterscheiden, weil für jene die affektive Bindung an das Thema der Macht zählt, sie aber die europäische Kultur als kommunikativ-mediales Instrument zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele in der Gesellschaft benötigen. Je nach Anlass wird die europäische Kultur emphatisch als „Europas Seele“ oder nüchtern als ein „strategischer Faktor, nach innen und nach außen“ bezeichnet.26 Für die propagierte Fusion 21 Werner Müller-Pelzer, Régénérer l’Europe. Narratifs – critique – situations communes d’implantation, in: Journal of the European Integration Studies. Special issue ed. by Nicolae Păun: The Future of the European Union, 2018, 2, 279–291. 22 Interview mit Hans Jonas in der WirtschaftsWoche vom 30. Dezember 2012, Die Lust an genereller Kapitalismuskritik ist zurück, https://www.wiwo.de/politik/konjunktur/sozialphilosoph-hans-joas-die-selbstsakralisierung-europas/7543054-3.html (abgerufen am 08.12.2019). 23 Häufig wird auch von Euroskepsis und Europhobie gesprochen, wodurch die Verwischung der Unterschiede noch gründlicher erfolgt. Eine seltene Ausnahme ist Lazaros Miliopoulos, Europäisierter Euroskeptizismus? Eine theoretische Annäherung, in: Jürgen Rüttgers/Frank Decker (Hrsg.), Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die Europäische Union, Bonn 2017, 59–76. 24 Siehe auch das Urteil von Peter Sloterdijk, Falls Europa erwacht. Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence, Frankfurt a. M., 1994=22004, 53–60. 25 Christian Meier, Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas?, München 2009; Hermann Schmitz, Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, 23 f. 26 Homepage der Initiative „A Soul for Europe“, Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel: www.asoulforeurope.eu/uploads/media/Berliner_Konferenz_Ablauf_03.pdf (nicht mehr verfügbar; die offizielle Liste der auf der Homepage der Bundeskanzlerin verfügbaren Reden endet am 23. November 2005. Siehe auch Werner
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von EU und Europa hat die deutsche Politik die ebenso griffige wie in ihrer Schlichtheit entwaffnende Formel: „Technologie, Talente und Toleranz“ gefunden.27 Die Suche nach geeigneten Voraussetzungen, um die EU als Fall einer sittlich qualifizierten Verantwortungsgemeinschaft einzustufen, ist somit unbefriedigend geblieben. In der politischen Praxis wird mit einem Begriff der Europäischen Union operiert, der analytisch strittig ist. Andererseits changiert die Verwendung des Terminus Verantwortungsgemeinschaft in der Öffentlichkeit, sodass sich ein Blick in die Politische Theorie empfiehlt, aus der der Begriff entlehnt worden ist.
IV. Der Begriff ‚Verantwortungsgemeinschaft‘ in der Politischen Theorie Dass die Gesellschaft eine Verantwortungsgemeinschaft im starken Sinne sein soll, ist eine einflussreiche Forderung, die sich im 18. Jahrhundert bei Rousseau findet. Im „Gesellschaftsvertrag“ postuliert er die Notwendigkeit gegenseitiger affektiver Zuwendung unter den Bürgern, welche er in der gemeinsamen Vaterlandsliebe kulminieren lässt. Allerdings zeigt sich bereits hier, dass die Privatinteressen nicht umstandslos in Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl gebracht werden können, sondern dass es dafür des Zwangs einer Zivilreligion bedarf. Im Nationalstaat des 19. Jahrhunderts werden Verantwortung und Solidarität der Bürger füreinander als gesellschaftliches Ideal ausgegeben: Aus diesem Wertbewusstsein wird gegen den aufklärerisch-liberalen Individualismus die bürgerliche Verantwortungsgemeinschaft betont. Doch dieses Programm erkauft den starken Zusammenhalt einer Müller-Pelzer, Europa ein Rückgrat geben. Wie ist heute in Europa Gemeinschaft möglich?, in: impEct 4, 2010; Homepage der Bundesregierung, Bundeskanzlerin Dr. A. Merkel, Rede vor dem Europaparlament vom 17. Januar 2019, Europas Seele ist die Toleranz, https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/-europas-seeleist-die-toleranz--608712; ebd. Bundeskanzlerin Dr. A. Merkel, Herzschlag der europäischen Demokratie, https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/-herzschlag-der-europaeischen-demokratie--1549438 (abgerufen am 08.12.2019), dort: Solidarität ist ein Teil der europäischen DNA; Interview mit Bundeskanzlerin Dr. A. Merkel im Tagesspiegel vom 5. Juli 2018, Die Seele von Europa ist Humanität, https://www. tagesspiegel.de/politik/streit-mit-viktor-orban-ueber-fluechtlingspolitik-merkel-die-seele-von-europa-isthumanitaet/22772764.html (abgerufen am 08.12.2019); Homepage der Bundesregierung, Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor dem Europäischen Parlament am 18. Januar 2007 in Straßburg, https://www. bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-797836 (abgerufen am 08.12.2019), Dort heißt es u. a., Europa sei Vielfalt, Freiheit und Toleranz (die „verlangt, das Andere zu wollen“!); Homepage des Europäischen Parlaments, veröffentlicht am 29. Oktober 2014, Europe - A new narrative, https://issuu.com/europanostra/docs/the-mind-and-body-of-europe (abgerufen am 08.12.2019); Homepage der Europäischen Union, The Mind and Body of Europe, https://ec.europa.eu/assets/eac/culture/policy/ new-narrative/documents/declaration_en.pdf (abgerufen am 08.12.2019, das Dokument muss unter dem Titel aufgerufen werden). Von der Erklärung: „Europe is a state of mind“ gelangt man dort schnell zur Aussage „Europe as political body“. 27 Bundeskanzlerin Merkel, 17. Januar 2007, s. Anm. 26.
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organischen Gemeinschaft mit einer Immobilisierung der Klassengesellschaft. In der modernen politischen Philosophie ist daran Kritik geübt worden. Mit der liberalen Wende zu Beginn des 20. Jahrhunderts tritt deshalb der Begriff der Verantwortungsgesellschaft in Erscheinung, nachdem der Soziologe F. Tönnies die Differenzierung eingeführt hatte zwischen der organisch vorgestellten Gemeinschaft, getragen vom ‚Wir-Gefühl‘ dank einer gemeinsamen Mentalität und Solidarität einerseits, und der Gesellschaft als Bereich der Zwecke, Interessen und Verträge andererseits.28 Nach Tönnies wären etwa die Familie, eine Dorfgemeinschaft oder eine Kirchengemeinde Gemeinschaften und demgegenüber z. B. eine Aktiengesellschaft oder der moderne Staat Gesellschaften. Gemeinschaft wird von Tönnies als ursprüngliche Verbundenheit, Gesellschaft als Bereich des eigennützigen Einzelwillens charakterisiert. Der politisch motivierte Versuch im frühen 20. Jahrhundert, gesellschaftliche Organisationen in gemeinschaftliche zu überführen, brachte den Leitbegriff der Gemeinschaft in Verruf. Die Abwendung von einer solidarischen, ethisch fundierten Gemeinschaft hin zur Gesellschaft wurde durch den Einfluss ökonomischer Theorien seit Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt, insbesondere durch die neuere Neoklassik (J. M. Buchanan): Unter Berufung auf das rationale Selbstinteresse erlebte Adam Smiths Theorie der „unsichtbaren Hand“ eine mathematisch gestützte Auferstehung in Form des methodologischen Individualismus.29 Im Ergebnis triumphiert ein radikaler Individualismus und sozialer Atomismus, der sich vom gemeinsamen, von Normen durchzogenen Leben emanzipiert hat und der von der proklamierten vernünftigen Verantwortungsgesellschaft weit entfernt ist. In der gegenwärtigen Diskussion versuchen grosso modo zwei Denkrichtungen diese prekäre Lage zu kurieren: der liberale Rationalismus, der auf die politische Partizipation des mündigen Bürgers setzt (z. B. J. Rawls/J. Habermas: Zivilgesellschaft), und republikanisch geprägte Auffassungen wie der Kommunitarismus, der die ethische Bürgertugend und einen gemeinsamen Werthorizont (Gemeinwohl) in den Mittelpunkt stellt (z. B. M. Sandel/A. Etzioni). Darüber hinaus findet ein moderner Republikanismus Anhänger, der die individuelle Freiheit und die politische Partizipation nicht ohne Weiteres dem Gemeinwohl opfern will (z. B. Q. Skinner und P. Pettit). Der liberale Rationalismus basiert auf dem Vertragsdenken (Hobbes, Locke, Rousseau, Kant); das kommunitaristische Denken hingegen auf der Konzeption der Gesellschaft als Organismus (Aristoteles, übernommen von der Romantik); der moderne Republikanismus schließlich versucht in unterschiedlicher Weise Vertragsdenken und Individualismus zu kombinieren,30 d. h. die horizontale Beziehung der 28 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 2010 (Erstaufl. 1887). 29 Peter Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, Bern/Stuttgart/Wien 3 2010, 195 ff. 30 Hermann Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie. Eine Gewissenserforschung, Bd. 1: Antike Philosophie, Freiburg/München 2007, 298–300; ders., Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, 221–230.
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Bürger untereinander sowie eine vertikale Beziehung zwischen Institution und Bürgern (Institutionenvertrauen).31 In kritischer Wendung gegen den Ökonomismus (Wirtschaftsgesellschaft) wie auch den liberalen Rationalismus (Zivilgesellschaft) haben kommunitaristische Autoren wie Amitai Etzioni32 versucht, den Begriff der Verantwortungsgesellschaft für ihre Absichten neu zu definieren. Während für den liberalen Konstruktivismus die Nationen zu Residuen der Rückständigkeit absinken und eine politische Identität mit dem Horizont einer zukünftigen demokratischen Weltgesellschaft angestrebt wird, vertreten kommunitaristische Autoren eine starke moralisch fundierte, vom Bürgersinn und Patriotismus getragene Gemeinschaft (Ch. Taylor). Damit verwischen sich allerdings die Konturen von Verantwortungsgemeinschaft und Verantwortungsgesellschaft.33 Die drohende begriffliche Verwirrung kann durch einen Vorschlag von Hermann Schmitz behoben werden,34 welchen er am Beispiel der Familie erläutert: Um den guten Kern der Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft zu retten, muß man davon abgehen, an Typen sozialer Gruppen zu denken und beide Begriffe auf Typen des Verhältnisses von Angehörigen zu sozialen Gruppen umwidmen […]. Das nächstliegende Beispiel ist eine Familie, in der die Eltern sich auseinandergelebt haben, aber die Familiensitte noch flüssig weiterführen, während die kleinen Kinder in der Solidarität der Familie wie in einer Gemeinschaft im Sinne von Tönnies gefühlsmäßig aufgehen, im Gegensatz zu dem heranwachsenden Knaben, der nur noch einzelne Regeln des Zusammenlebens in der Familie akzeptiert, gegen deren ‚Geist‘ aber aufbegehrt.35
Schmitz schlägt davon ausgehend folgende Definition vor:
31 Martin Hartmann/Claus Offe (Hrsg.), Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt a. M. 2001. 32 Amitai Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, Frankfurt a. M. 2001. 33 Angela Kallhoff, Politische Philosophie des Bürgers, Wien/Köln/Weimar 2013. – Man könnte den Eindruck haben, dass die Verantwortungsethik von Hans Jonas in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein könnte. Doch die Maxime: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ (Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, 36) steht quer zur uninspirierten Auseinandersetzung der vorherrschenden Denkrichtungen. Jonas zielt auf einen epochalen Lernfortschritt, der idealiter von Organisationen oder Institutionen, nicht aber vom Einzelnen zu leisten ist. Siehe dazu unten Anm. 102. 34 Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg/München 2005, 18 f.; siehe ferner Sandra Seubert, Gerechtigkeit und Wohlwollen. Bürgerliches Tugendverständnis nach Kant, Frankfurt a. M. 1999. 35 Hermann Schmitz, 2005, ebd.; siehe auch Hermann Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 21995, 421.
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Eine soziale Gruppe ist für eine ihr angehörige Person eine Gemeinschaft, wenn sie für den Betreffenden von einer gemeinsamen Situation erfüllt ist, die seine persönliche Situation implantiert, und eine Gesellschaft, wenn unter den die Gruppe erfüllenden gemeinsamen Situationen keine solche implantierende, wohl aber eine seine persönliche Person includierende vorkommt.36
Der von Schmitz verwandte Begriff der Situation ist ein grundlegender terminus technicus seiner Philosophie, der ein breit gefächertes Spektrum menschlichen In-der-Welt-Seins abdeckt.37 Der im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Aspekt ist die Unterscheidung zwischen includierenden und implantierenden Situationen: Die einbettenden gemeinsamen Situationen sind teils includierende oder bloß Rahmen gebende, aus denen die Persönlichkeit ohne wesentliche Verluste herausgezogen werden kann, z.B. Konventionen oder beherrschte Fremdsprachen; zum anderen Teil sind sie implantierende, einpflanzende Situationen, aus denen die persönliche Situation hervorwächst oder in die sie hineinwächst, indem sie darin solche Wurzeln schlägt, daß sie, wenn sie sich ihnen entreißt, versehrt wird.38
Der programmatische Anteil dieser Situationen beruht auf dem Nomos der jeweiligen Situation. „Ein Nomos ist der Gehalt einer Situation an Programmen (Normen und Wünsche).“39 Eine includierende Situation impliziert deshalb ein Programm, das vom Adressaten ein anderes Verhalten verlangt als das einer implantierenden Situation. Nutzt man diese Unterscheidung, um die EU und Europa definitorisch voneinander abzuheben, ist auf die von Schmitz betonte besondere Geltung von Normen40 zu achten, nämlich ihre doppelte Perspektivität: Eine Norm gilt für jemand, d.h. in seiner Perspektive, wenn er zum Gehorsam gegen sie oder einem Nomos, aus dem sie expliziert werden kann, entweder bereit ist oder sich solcher Bereitschaft wenigstens nicht nach Belieben entziehen kann. Außer der Geltung in der Perspektive von jemand gibt es noch eine andere Art der Geltung für jemand, nämlich für ihn als Adressaten 36 Schmitz, Situationen, 27 (Hervorhebungen im Original). 37 Ebd., 52–55. 38 Schmitz, Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, 189 f. (Hervorhebungen im Original). 39 Schmitz, Normen, 13. 40 Schmitz, Normen, 11: „Eine Norm ist ein Programm für möglichen Gehorsam. Ein Programm ist eine Richtlinie für die Eigenführung eines Bewussthabers. Eigenführung ist das Gegenteil von Fremdführung durch eine dem Geführten nicht zugehörige Macht. Macht ist Steuerungsfähigkeit, d.h. das Vermögen, d.h. einen Vorrat beweglicher Etwasse in Bewegung zu setzen, die Bewegung im Verlauf zu führen und anzuhalten, sowie der Träger solcher Macht, der sie ausübt.“
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der Norm. Beides braucht nicht zusammenzufallen. In der Perspektive anständiger Menschen gilt die Norm, dass alle Menschen anständig sein sollen, aber nicht alle Menschen haben diese Perspektive. […] Der Kreis der Adressaten kann also größer sein als derjenige der Menschen, in deren Perspektive die Norm gilt.41
Die perspektivische Geltung von Normen impliziert, dass Aussagen immer relativ auf einen Zeitraum und die jeweilige einbettende Situation der betroffenen Personen zu beziehen sind, dass das Verhältnis der Persönlichkeit zu den einbettenden Situationen und den aus ihnen hervorgehenden Normen sich also wandeln kann. Ein überzeugter Europäer der 1990er Jahre z. B. konnte die Überwindung des Kalten Krieges, die deutsche Wiedervereinigung und die Integration der östlichen und südöstlichen Länder Mitteleuropas als implantierende gemeinsame Situation – als Verheißung der Wiederbelebung des europäischen Zivilisationstyps – erfahren, d. h. so starke affektive Bindungen damit verknüpfen, dass sie seinem Leben eine neue Richtung gaben. Derselbe Europäer konnte aber seit dem Jahr 2000 die neue Ausrichtung der EU als Global Player für sich eventuell nur noch als includierende Situation erfahren – als korrekturbedürftige Behinderung der Entfaltung des europäischen Zivilisationstyps: Die Liberalisierung der Märkte und der Rückzug des Staates von seiner, das Wirtschaften rahmenden Rolle ließen die affektiven Bindungen lockerer werden. Schließlich ist denkbar, dass besagter Europäer mit dem Vorstoß der EU zu einem Vertrag für eine europäische Verfassung (2005) die demokratischen Grundlagen des Zusammenlebens als so gefährdet erfuhr, dass er sich von jeglicher affektiver Bindung an die EU emanzipierte: Ihm drängte sich der Eindruck auf, dass die nun vertraglich festgelegte Entmündigung der Bürger wie auch der Nationalstaaten im Interesse von Wirtschaft und internationalen Finanzkonsortien dem europäischen Zivilisationstyp nicht wieder gutzumachenden Schaden zufügen würde. Als überzeugter Europäer bleibt aber die Bildung neuer affektiver Bindungen an eine grundlegend revidierte EU durchaus im Bereich des Möglichen, sodass er dann sittliche Verantwortung für die Gemeinschaft der Europäerinnen und Europäer übernehmen könnte. Allerdings müsste strikt zwischen einer von staatlichen oder intergouvernementalen Interessen geleiteten Gemeinschaftlichkeit und einer sittlich begründeten Gemeinschaftlichkeit unterschieden werden, die sich aus dem Einwachsen des Einzelnen in implantierende bzw. includierende Situationen ergeben und eine starke affektive Bindung (strong ties) bedeuten würde.42 41 Ebd., 14 (Hervorhebung im Original). 42 Für den vorliegenden Zusammenhang – die Ermittlung eines europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls – heißt dies, dass nach Schmitz weder im Sinne des politischen Liberalismus von einem rational definierten Individuum ohne affektives Interesse für das Zusammenleben auszugehen ist, noch im Sinne des aristotelischkommunitaristischen Denkens von einem in einen sozialen Organismus eingebundenen Mitbürger. Gemeinsame Situationen bilden mit der Zeit, d. h. im Laufe des bald konsensualen, bald antagonistischen Umgangs miteinander, gemeinsame Muster, Überzeugungen (Sachverhalte), Einstellungen (Programme), und „wunde Punkte“ (Probleme) heraus. Auf die sich dabei bildende Gestalt nationaler oder regionaler Lebensstile – in-
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V. Die Äquivokation des Begriffs ‚Gemeinschaft‘ Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind verschiedentlich Initiativen ergriffen worden, um Entfremdung und Feindschaft zwischen den europäischen Völkern zu überwinden. Diese Bemühungen um Völkerverständigung sind für die Initiatoren, die häufig selbst Leidtragende des Krieges waren, implantierende gemeinsame Situationen gewesen. Die einander Begegnenden waren affektiv hochgradig (etwa von Scham, Demütigung und Trauer) betroffen und hätten den von ergreifenden Atmosphären besetzten Gefühlsraum nur unter größten Verletzungen aufgeben können. Bei zahlreichen Initiatoren der ersten Stunde lag das Verhältnis zu einer qualifiziert sittlichen Gemeinschaft der sich annähernden Länder vor. Dieser neuerliche Anlauf zu einer Völkerverständigung begleitete die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und macht verständlich, warum die Römischen Verträge lediglich eine blasse Präambel enthalten: Die im Hintergrund stehende, noch prekäre implantierende gemeinsame Situation war unausgesprochen gegenwärtig. Vergleichbares gilt für den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag von 1963. Dass die damalige BRD und die Französische Republik die Normalisierung ihrer immer noch sehr belasteten Beziehungen durch einen Vertrag, ein neutrales Medium, anstrebten, setzte die immer noch affektiv starke Betroffenheit der an zahlreichen binationalen Treffen Beteiligten voraus. Gleichwohl war der Vertrag aufgrund der entgegengesetzten politischen Interessen der unterzeichnenden Regierungen von Anfang an ambivalent. Das vertragliche Bekenntnis zu Aussöhnung und Freundschaft gehörte somit zur Interessenpolitik.43 Das Verhältnis der vertragschließenden Parteien zueinander changierte zwischen dem einer Gesellschaft (includierende Situationen) und dem eines Vereins (neutrale Beziehungen von Vertragspartnern). Feierliche Staatsakte wie Adenauers und De Gaulles Teilnahme an einer Messe in der Kathedrale von Reims waren für die Öffentlichkeit als Symbole des in Kreisen der Bevölkerung durchaus, auf politischer Ebene jedoch kaum sichtbaren Versöhnungswillens konzipiert,44 um die divergierenden Interessen zu überdecken. Der institutionalisierte Austausch mit seinen zahlreichen Begegnungen sah und sieht sich seitdem dem Zwiespalt ausgesetzt, implantierende gemeinsame Situationen („Schicksalsgemeinschaft“) zu evozieren, obgleich das Paradigma der EU das der wirtschaftlichen, technologischen und politischen Konkurrenz ist, also bestenfalls cludierende bzw. implantierende gemeinsame Situationen – kann man bei neuen Herausforderungen zurückgreifen. Andererseits haben individuelle, auf Argumenten beruhende Standpunkte die Fähigkeit, neue Bedeutsamkeit zu explizieren, latente Inkonsistenzen geteilter Überzeugungen aufzudecken und Krisen auszulösen. Die Bindekraft gemeinsamer zuständlicher implantierender Situationen verbunden mit einem Angebot von Kanälen sozialer Dynamik stellt nach Schmitz den zentralen Vorzug seiner Situationstheorie dar. Schmitz, Hitler, 28–31. 43 Schmitz, Gegenstand, 420–424. 44 In der Tat verwirrte dieser Sachverhalt ältere Herrschaften, für die der Deutsch-Französische Krieg sowie der Erste Weltkrieg noch eine lebendige Erinnerung darstellte. „Warum tanzen die Menschen nicht vor Freude in den Straßen?“, war 1963 einer der Kommentare.
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das eines Vereins. Werden auf intergouvernementaler Ebene Begriffe wie ‚Schicksalsgemeinschaft‘, ‚Solidargemeinschaft‘ oder auch ‚Verantwortungsgemeinschaft‘ verwendet, dürfte klar geworden sein, dass sie im Bereich der Interessenpolitik das Einklagen eingegangener – wenn auch im einzelnen strittiger – Verpflichtungen meinen, nicht hingegen die sittliche Verantwortung, die aus einer implantierten gemeinsamen Situation erwächst. Entsprechend hat die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zu immer komplexeren Organisationsstrukturen bis hin zur Europäischen Union auf der Basis von Verträgen stattgefunden, die das Regierungshandeln an bestimmte Prinzipien binden, aber nicht auf der Ebene starker affektiver Bindungen einer im normativen Sinn qualifizierten Gemeinschaft. Darin unterscheidet sich die EU von den sie konstituierenden Nationalstaaten, die durch die Pflege implantierender gemeinsamer Situationen versuchen konnten, die Waage zwischen affektiv integrierender Gemeinschaft (strong ties bzw. loose ties) und affektiv neutraler, zweckorientierter Gesellschaft immer wieder herzustellen. Doch die sprunghaft angestiegene Übertragung nationaler Kompetenzen auf die EU sowie die „Konstitutionalisierung“45 der Verträge hat zu einer deutlichen Schwächung der affektiv betonten Haltung der Bürger zum überkommenen Nationalstaat geführt. Insofern versiegt die Quelle affektiver Zuwendung zum staatlich verfassten Zusammenleben zunehmend.46 Verzweifelt anmutende Versuche, durch organisierte Begeisterung der EU so etwas wie affektive Nähe zu verschaffen,47 können daran nichts ändern. Auch institutionelle Refor45 Dieter Grimm, Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie, München 2016, 13. 46 In Zeiten der Aufrüstung ist für die heutigen Bürger die „europäische Friedensordnung“ kein affektiv bindender Bezugspunkt mehr. Stattdessen werden die Europäische Charta der Menschenrechte, die EU-Bürgerschaft oder die Währungsunion angeführt. Doch selbst die höchstrichterliche Umsetzung respektabler Prinzipien schafft keinen affektiven Zusammenhalt. Stattdessen haben sich Verhaltensweisen der EU addiert, die die Bildung affektiver Bindungen verhindern, z. B. die nicht endende Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei, die Unklarheit über die endgültigen Außengrenzen der EU, die unbedachte Ausdehnung der Eurozone auf Griechenland, der den Völkern 2005 von oben übergestülpte (und gescheiterte) Vertrag für eine europäische Verfassung, die Bankenkrise von 2008, die massive und ungeordnete Zuwanderung von Millionen Menschen aus europäischen und nicht-europäischen Ländern seit 2015 (und dies bei gleichzeitiger Abwanderung vieler junger, z. T. akademisch gebildeter Menschen), der Brexit, der politische Umschwung in Ungarn und Polen sowie die manifesten Demokratiedefizite der EU-Konstruktion. 47 Homepage von Eur’activ, Interview vom 15. Oktober 2018 mit Alexander Stubb, „Wir brauchen mehr Emotionen für Europa“, https://www.euractiv.de/section/europawahlen/interview/alexander-stubb-wir-brauchenmehr-emotion-fuer-europa/?utm_source=EURACTIV&utm_campaign=995f6ecfb2-RSS_EMAIL_DE_ PM_TaglicheNewsAusEuropa&utm_medium=email&utm_term=0_c59e2fd7a9-995f6ecfb2-114700667 (abgerufen am 08.12.2019); zudem werden Bürgerinitiativen organisiert wie Mouvement du 9 mai Jeunesse européenne (von Enrico Letta unterstützt, https://www.europanova.eu/actions/civico-europa (abgerufen am 08.12.2019)) zusammen mit Civico, Pulse of Europe (von George Soros unterstützt, https://www.wiwo.de/ politik/europa/george-soros-lassen-sie-uns-loslegen/19879394-6.html) oder March for Europe (von der Europa-Union und Elmar Brok unterstützt, https://www.europa-union-berlin.de/aktivitaeten/veranstaltungen/ march-for-europe-berlin/ (abgerufen am 08.12.2019)); Werner Weidenfeld, Europa – eine Strategie. München 2014; ders. Interview vom 15. Dezember 2015 in Der Tagesspiegel, Die Zukunft der Europäischen Union
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men, die eine Rückführung vergemeinschafteter Kompetenzen in die Mitgliedstaaten sowie die stärkere Berücksichtigung demokratischer Partizipation vorsehen, werden allein nicht helfen können.48 Die EU konnte und sollte nicht nach dem Modell eines Nationalstaates konzipiert werden, doch weder eine EU als Staatenbund und noch als Bundesstaat könnte mehr Affektivität der Bürgerinnen und Bürger an sich binden. Als transnationaler Institutionenverbund, als Mehrebenen-Konstrukt bzw. als institutionalisierter Herrschaftsverband wird die EU gerne als ein Fall sui generis bezeichnet, doch wie man es auch dreht: Als staatsähnliches Organisationskonstrukt ohne die in den einzelnen Völkern verwirklichten Ausformungen des europäischen Zivilisationstyps49 wird sie ohne affektive Ausstrahlung bleiben. Zwar weisen Soziologen nach, dass sich die Lebensstile und Konsumpräferenzen der EU-Bewohner angleichen, doch ergibt sich von hier aus keine Brücke zu einer Gemeinschaft mit starken affektiven Bindungen, im Gegenteil: Soziologen und Historiker sind sich einig, dass die als Schicksal hingenommene Globalisierung dauerhafte und belastbare zwischenmenschliche Bindungen zugunsten einer „Verflüssigung“ abbaut (Zygmunt Baumann; Wolfgang Schmale50). Das sog. „europäische Projekt“ ist deshalb als der Versuch zu bewerten, den in Unredlichkeit mündenden Spagat zwischen Gemeinschaft, Gesellschaft und Verein zu kaschieren.51 Was die EU, die anderen Global Player und die in Abhängigkeit von ihnen befangenen Staaten weltweit antreibt, ist der wirtschaftliche, technologische und politische Dynamismus, die grenzenlos erscheinende Beherrschung der Welt immer weiter – Kontinent der Fragezeichen, https://causa.tagesspiegel.de/kontinent-der-fragezeichen.html (abgerufen am 08.12.2019); für weitere Informationen zur Bürgerinitiative siehe auch den Erfahrungsbericht im Abschnitt E) Perspektiven dieses Bandes. 48 Klaus Weber/Henning Ottmann, Reshaping the European Union, Baden-Baden 2018; Frank Decker, Weniger Konsens, mehr Wettbewerb: Ansatzpunkte einer institutionellen Reform, in: Jürgen Rüttgers/Frank Decker, 2017, Europas Ende, Europas Anfang, 59–76; Antoine Vauchez, Démocratiser l’Europe, Paris 2014. – Die aktuelle Diskussion über die Behebung der demokratischen Defizite der EU stimmt allerdings nachdenklich, leiden doch die Nationalstaaten – z. B. Deutschland – selbst an wohl bekannten Demokratiedefiziten, die nicht behoben werden. Schließlich wird bis heute der Bundespräsident über ein Verfahren bestimmt, das nur als demokratische Farce bezeichnet werden kann. S. Hans Herbert von Arnim, Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München 2009; ders., Die Hebel der Macht und wer sie bedient, München 2017. 49 Homepage des Institut Notre Europe – Institut Jacques Delors, Études & Rapports décembre 2016, Gérard Bouchard, L’Europe à la recherche des Européens. La voie de lʼidentité et du mythe http://institutdelors.eu/ wp-content/uploads/2018/01/europeidentitemythes-bouchard-ijd-dec16.pdf (abgerufen am 08.12.2019). 50 Zygmunt Baumann, Liquid Modernity, Cambridge 2000 (dt. Übers. Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M., 2003); Wolfgang Schmale, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Bonn 2010, 39 ff. (Erstausgabe 2008). 51 Eine EU, die es nicht wagt, sich einzugestehen, dass ihre Finalität im grenzenlosen Machtgewinn und wirtschaftlichen Wachstum besteht, befindet sich in der Lage des Potentaten, dem aus Kindermund entgegenschallt: „Der Kaiser ist ja nackt!“ Aber das Ende des sehr realistischen Märchens von Christian Andersen sollte nicht vergessen werden: Dank der Resilienz des Kaisers gelingt es ihm, die Peinlichkeit zu überspielen, und der Potentat bleibt an der Macht – dank der Unterdrückung der Wahrheit. Die EU-Eliten dürften sich in einer ähnlichen Lage befinden.
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voranzutreiben.52 Hermann Schmitz, der Begründer der Neuen Phänomenologie, hat dies die affektive Bindung an das Thema der Macht genannt.53 Die erwähnte „Verflüssigung“, d. h. die Auflösung dauerhafter und belastbarer affektiver sozialer Bindungen zugunsten lockerer, leicht auflösbarer und leicht zu knüpfender, affektiv moderater Bindungen, wird zudem durch akademische Repräsentanten eines einseitigen Rationalismus (Kosmopolitismus) begrüßt und tatkräftig unterstützt. Von diesen wird ein gesellschaftlicher Zustand angestrebt, in dem die zukünftigen Weltbürger ein von der Herkunft motiviertes, affektives Zusammengehörigkeitsgefühl (‚Wir-Gefühl‘) nicht mehr benötigen, weil sie dies nicht als Verlust empfänden, sondern als Befreiung von rückständigen nationalistisch-völkischen Zwängen. Statt eines implantierenden Zusammengehörigkeitsgefühls ist von einer rationalistisch geläuterten politischen Identität und Zugehörigkeit die Rede, z. B. verkörpert durch einen Verfassungspatriotismus und das Prinzip der Solidarität.54 Als genüge die Begriffsverwirrung beim Terminus Gemeinschaft noch nicht, werden zentrale Begriffe wie z. B. Volk, Vielfalt, Migration, Patriotismus, Integration, vor allem aber Europa, von Vertretern eines übersteigerten Rationalismus umkodiert. Kritisch ist dazu anzumerken, dass die Massenmedien, öffentliche Einrichtungen und zahlreiche Vereine durch ein Diskurskartell beherrscht werden, das diese politisch motivierte Umkodierung besserwisserisch umsetzt. Damit wird aber das Fundament des europäischen Zivilisationstyps unterminiert, wonach jeder frei seine Argumente vortragen kann unter der Bedingung, sich der Kritik der Mitbürger und Mitbürgerinnen zu stellen.55 Genau diese letzte Bedingung wird durch selbstgerechtes Abkanzeln und Wegdrücken unliebsamer Kritik unterlaufen. Darin 52 Hermann Schmitz, Europäische Philosophie, Bd. 2, 816 u. ö. 53 Ebd., 541 ff. u. ö. – Homepage der Gesellschaft für Neue Phänomenologie, https://www.gnp-online.de/ (abgerufen am 08.12.2019). 54 Thomas Meyer, Europäische Identität, in: Thomas Meyer/Johanna Eisenberg (Hrsg.), Europäische Identität als Projekt. Innen- und Außensichten, Wiesbaden 2009, 15–30; Fulvio Cerutti, Warum sind in der Europäischen Union politische Identität und Legitimation wichtig?, in: Thomas Meyer/Johanna Eisenberg, Europäische Identität, 249–268. Allerdings bleibt die Idee, die Interessen aller Menschen auf einen Nenner zu bringen und den angemessenen gegenseitigen Beistand durch vernünftige Deliberation ermitteln zu können, illusionär. Siehe Hermann Schmitz, Normen, 46 f. Ferner Jürgen Habermas, in: Homepage des Europäischen Parlaments, veröffentlicht am 29. Oktober 2014, Europe, A new narrative, https://issuu.com/europanostra/ docs/the-mind-and-body-of-europe (abgerufen am 08.12.2019). 55 Bei der Umkodierung spielen auch akademisch angesehene Autorinnen und Autoren eine unrühmliche Rolle. Jürgen Habermas etwa (Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, Frankfurt a. M. 2008, 93 f.; siehe dazu Werner Müller-Pelzer, Europa regenerieren. Über das Entstehen kollektiver Atmosphären, im Erscheinen) hat nicht gezögert, anlässlich von Migration und Zuwanderung eine diskursive Strategie zu unterstützen, die mit simplen Gegensatzpaaren arbeitet: Horizonterweiterung durch Vielfalt vs. einfältige Beschränktheit, Öffnung vs. Abkapselung, Toleranz vs. Unbeweglichkeit und Konfrontation, vitale islamische Religiosität vs. christliche Verknöcherung – dies sind die plakativen Versatzstücke eines pseudowissenschaftlichen Diskurses, der von der Bundeskanzlerin über den BDI-Präsidenten Kempf bis hin zu sich progressiv verstehenden Parteien und den beiden christlichen Kirchen sowie bürgerrechtlichen Organisationen wie der Humanistischen Union Karriere gemacht haben. Unterschwellige Oppositionen wie Licht vs. Finsternis, gut vs. böse usw., d. h. Re-
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trifft sich der die Realität überfliegende Rationalismus mit dem Ökonomismus, der das kritische Urteil aus anderen Gründen aushebelt.56 Die bisherige Untersuchung der Voraussetzungen für die Herausbildung einer Verantwortungsgemeinschaft hat zwei nicht viable Antworten zutage gefördert: 1. Mit der äquivoken Verwendung des Terminus Gemeinschaft wird seitens der EU-Eliten die auf starken affektiven Bindungen beruhende sittliche Gemeinschaftlichkeit des Zusammenlebens durch das „europäische Projekt“ erschlichen. 2. Ein „grenzenlos übertriebener Vernunftoptimismus“57 bestreitet der auf starken affektiven Bindungen beruhenden Gemeinschaftlichkeit als Grundlage des Zusammenlebens ihre Existenzberechtigung. Im ersten Fall sind es politische Akteure (Regierung, EU), die den Bürgerinnen und Bürgern von oben herab das EU-Europa als Gemeinschaft gleichsam administrieren wollen. Es ist erläutert worden, warum es im Gegenteil darauf ankommt, ob die Angehörigen einer Gruppe (hier die EU-Bürger) ein affektives Verhältnis zur Gruppe (hier die EU) entwickeln. Hier kann lediglich ein Changieren zwischen einer schwachen affektiven Bindung (includierende Situation/loose ties) und einem neutralen Verhältnis nach Art eines Vereins behauptet werden. Im zweiten Fall wird die starke affektive Bindung unter den Generalverdacht gestellt, der Irrationalität Vorschub zu leisten. Diese in akademischen Zirkeln kursierende These vermag der Eroberung der Lebenswelt durch die Warenwelt nichts entgegenzusetzen, die den Autismus und Ironismus antreibt. Diesbezügliche soziologische und volkswirtschaftliche Analysen58 kommen zu dem Ergebnis, dass die Durchdringung aller Bereiche der Lebenslikte eines gnostisch-manichäischen Denkens in der Bevölkerung, werden so für politische, vorgeblich aufklärerische Zwecke eingesetzt. 56 Bertelsmann-Stiftung, Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten. Chancen und Herausforderungen kultureller Pluralität in Deutschland, Gütersloh 2018; sowie Werner Müller-Pelzer, Rez. in: Zeitschrift für Politik 4 (2018), https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0044-3360-2018-4-468/buchbesprechungen-jahrgang65-2018-heft-4?page=1 (abgerufen am 08.12.2019). 57 Schmitz, Normen, 47. 58 Clemens Albrecht (Hrsg.), Die Bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden, Kultur, Geschichte, Theorie. Studien zur Kultursoziologie, Würzburg 2004; Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007; Ralf Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt a. M. 2008; Fritz Böhle, Arbeit als Subjektivierendes Handeln. Handlungsfähigkeit bei Unwägbarkeiten und Ungewissheit, Wiesbaden 2017; Fritz Böhle/Werner Schneider (Hrsg.), Subjekt – Handeln – Institution. Vergesellschaftung und Subjekt in der reflexiven Moderne, Weilerswist 2016; Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005; Ludger Heidbrink/Alfred Hirsch (Hrsg.), Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie, Frankfurt a. M./New York 2008; Richard Münch, Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft. Zur Dialektik von transnationaler Integration und nationaler Desintegration, Frankfurt a. M. 2008; Eva Illouz, Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen, Frankfurt a. M. 2018; Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Bonn 2017; Stefan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft
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welt mit einem hedonistisch-utilitaristischen Kalkül zu einer sozialen Beschleunigung und zum Verlust des affektiven und intellektuellen Kompasses in der Welt geführt hat: Die soziale Beschleunigung produziert neue Zeit- und Raumerfahrung, neue soziale Interaktionsmuster und neue Formen der Subjektivität, und in der Folge transformiert sie die Art und Weise, in der Menschen in die Welt gestellt oder geworfen sind – und die Art und Weise, in der sie sich in dieser Welt bewegen und orientieren.59
Dank der zunehmenden technischen Verfügbarkeit über die Welt bedeutet diese Transformation zunächst eine unbegrenzt erscheinende Machtsteigerung, an die sich der Einzelne nur zu gerne fasziniert bindet (z. B. Smartphones und andere elektronische Geräte). Doch eine Hilfe bei der Lebensführung, die ein Prüfen, Akzeptieren oder Verwerfen von Angeboten nach einem über den Augenblick hinaus gültigen Maßstab beinhaltet, wird damit nicht zur Verfügung gestellt. Dadurch verstrickt sich das Individuum in eine Abhängigkeit von den Angeboten, statt sie souverän nutzen zu können.60 Die Verheißung eines selbstbestimmten Lebens durch die immer weiter vorangetriebene Weltbemächtigung erweist sich als Illusion. „Die Zeitnormen der Gegenwartsgesellschaften unterlaufen das moderne Versprechen von Reflexivität und Autonomie.“61 Diese knappe Zeitdiagnose dürfte ausreichen, um plausibel zu machen, dass die Suche nach einer Verantwortungsgemeinschaft, die ihre affektive Bindung aus einer einbettenden implantierenden Situation beziehen soll, nicht beim Status quo der Konsumgesellschaft stehenbleiben kann.
VI. Der Rückgang auf die unverstellte Lebenserfahrung Den Verlust an gemeinsamer Lebenswelt (Gemeinschaft, Handlungsmuster, Leitbilder) und Selbstbesinnung (prüfende Abstandnahme) bezeichnet der Philosoph Hermann Schmitz als die aktuellen Ergebnisse der dynamistischen und der autistischen Verfehlung der abendländischen Intellektualkultur,62 die nicht energisch genug revidiert zu haben in die Verantwortung der bisherigen Philosophie fällt.63 Deshalb sei es heute nicht damit getan, einige und ihr Preis, Bonn 2017; Paul Collier, Sozialer Kapitalismus. Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft, München 2018. 59 Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, Berlin 2013, 66. 60 Schmitz, Europäische Philosophie, Bd. 2, 821 f. 61 Rosa, Beschleunigung und Entfremdung, 112. 62 Schmitz, Europäische Philosophie, Bd. 2, 814–823. 63 Schmitz, Hitler, 32–37/377. Was die demokritisch-platonische Wende der Nachwelt hinterlassen hat, beschreibt Schmitz (378) folgendermaßen: „[…] was übrig bleibt, ist das Gaukelbild einer Autonomie der Vernunft, d.h. der die Selbst- und Weltbemächtigung über den unwillkürlichen Regungen steuernden Person, die
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Korrekturen am überlieferten Wissen vorzunehmen: Das Welt- und Selbstverständnis müsse vielmehr auf eine begriffliche Basis gestellt werden, die – vom historischen Ballast befreit – näher an die unwillkürliche Lebenserfahrung heranführt. Nach Schmitz war es den bisherigen philosophischen Revisionen der Tradition gemeinsam, dass sie – abgesehen von wenigen punktuellen Revolten (Nietzsche, Heidegger) – die post-demokritisch und post-platonische „Weltspaltung“ und „Menschspaltung“64 unbesehen übernommen haben und konstruierend versuchten, im Nachhinein Subjekt und Welt wieder zusammenzubringen. Schmitz ist demgegenüber historisch vor dieses gewaltsame Auseinanderreißen zurückgegangen und hat der den Griechen attestierten „Entdeckung des Geistes“ (Bruno Snell) die gleichzeitige Verdeckung des Leibes, der leiblichen Kommunikation, der Atmosphären, der Situationen und der Subjektivität entgegengestellt.65 Durch die schematische Verteilung der Gehalte der normalen Lebenserfahrung auf die Innenwelt oder die Außenwelt ist etwa der spürbaren Leib (Durst, Angst, Schmerz, Wollust, Ekel etc.) künstlich in körperliche und seelische Bestandteile zerlegt worden. Die Gefühlsatmosphären, die eine leiblich ergreifende, flächenlose Räumlichkeit beanspruchen, sind willkürlich den Seelenzuständen von Lust und Unlust zugeschlagen worden. Was sich der Reduktion auf das Festkörpermodell, d. h. feste Körper im zentralen Gesichtsfeld,66 widersetzt, wird auf handhabbare Eigenschaftsbündel reduziert und in der Innenwelt untergebracht. Gegen die Verdrängung prädimensionaler Raumtypen durch den konstruierten dreidimensionalen Ortsraum ist Schmitz auf den leiblichen Raum und den Gefühlsraum zurückgegangen und hat dazu eine phänomenologische Strukturanalyse vorgelegt. Ausgehend von dem zwischen Engepol und Weitepol eingespannten leiblichen Spüren lässt sich ein umfangreiches und nuanciertes Spektrum von Erfahrungen zwischen räumlicher Engung (z. B. Schreck oder Schmerz) und räumlicher Weitung (z. B. tiefes Einatmen oder entspanntes Dösen) beschreiben, dazu die Dimension von Spannung und Schwellung sowie die des Spitzen bzw. Grellen und des Dumpfen bzw. Weichen. Der leibliche Raum ist verbunden mit dem leiblichen Richtungsraum (z. B. unwillkürliche geschickte Ausweichmanöver, Gebärden und Blicke) und anderen eigentümlich leiblichen Räume, insbesondere dem Gefühlsraum.67 zwar durch personale Emanzipation in entfalteter Gegenwart zur Kritik und zur planmäßigen Organisation befähigt ist, hinsichtlich der Ziele aber ohne jene Führung und Inspiration ratlos bleibt und stattdessen nur Launen oder rein formale, inhaltlich hohle Ansprüche anzubieten hat.“ 64 Hermann Schmitz, Atmosphären, Freiburg/München 2014, 8. 65 Schmitz, Atmosphären, 7: „Im Interesse der Selbstermächtigung des Menschen im Verhältnis zu seinen unwillkürlichen Regungen wurde jedem Bewussthaber eine private Innenwelt (Psyché) zugeteilt, in die sein gesamtes Erleben eingeschlossen wurde, damit er in dieser Domäne als Vernunft Regie führen könne. Die zwischen den Innenwelten verbleibende empirische Außenwelt wurde von allen Einflüssen, die diesem Regiment gefährlich werden konnten, durch eine Abschleifung freigemacht, die nur wenige Merkmalsorten und deren erdachte Träger übrig ließ.“ 66 Schmitz, Gegenstand, 36/87/222. 67 Der Raum des Schalls, des Wetters, der Stille, des Wassers, des entgegenschlagenden Windes, s. Hermann Schmitz, Jenseits des Naturalismus, Freiburg/München 2010, 139.
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Damit greift Schmitz Erfahrungen des unwillkürlichen Sich-in-der-Welt-Findens auf, insbesondere die vielsagenden Eindrücke, die für das vor-demokritische griechische Dichten und Denken charakteristisch waren sowie die fernöstlichen Weltanschauungen und untergründige abendländische Strömungen wie die Humoralpathologie, Astrologie und paracelsische Medizin. Hier liegt eine ganzheitliche, die subjektive Wahrnehmung wie die Erfahrung der Welt umfassende Anschauung vor, die der intellektualistischen Aufspaltung vorausgeht. Natürlich ist es nicht die Absicht von Schmitz, zu diesem archaischen Paradigma zurückzukehren. Ebenso wenig leugnet er die modernen, früher unvorstellbaren und das Leben erleichternden Errungenschaften des naturwissenschaftlich-technischen Konstruierens. Es geht ihm vielmehr darum, die gegenwärtige naturalistische Reduktion des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses abzuwehren, d. h. die Besinnung auf die umgebende Welt von der engen Beschränkung auf wenige quantifizierbare Merkmale zu befreien, und der autistischen sowie ironistischen Zersetzung der sozialen Bindungen Einhalt zu gebieten. Zu diesem Zweck führt Schmitz den neuen ontologischen Begriff der Situation ein (ein terminus technicus seiner Philosophie), welche charakterisiert ist durch Ganzheit, Bedeutsamkeit und Binnendiffusion.68 Was einem – z. B. bei einem drohenden Unfall – zustößt, ist eine impressive Situation oder ein ganzheitlicher Eindruck: Eindrücke sind die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung […].69 In Wirklichkeit ist Wahrnehmen nicht so sehr ein Registrieren von Objekten oder Sinnesdaten wie vielmehr eine Subjekt und Objekt im Sicheinspielen und Eingespieltsein auf einander umgreifende Kooperation, die ich […] als leibliche Kommunikation [bezeichne].70
Der Autofahrer z. B. wird in eine aktuelle gemeinsame Situation hineingezogen, die von ihm schlagartig die praktische Bewältigung einer Sachlage und lebensbedrohlicher Probleme verlangt. Anders, aber in dieser Hinsicht vergleichbar ist ein Gespräch ebenfalls eine aktuelle gemeinsame Situation: Mit der Beendigung erhält das Gespräch seine Ganzheit (worauf der Gesprächspartner hinaus will), eine für den Sprecher spürbare Bedeutsamkeit (von ‚be68 Schmitz, Höhlengänge, 55: „Um meinen Situationsbegriff aus der Lebenserfahrung zu motivieren, greife ich auf das […] Beispiel der unfallträchtigen Gefahrensituation zurück, die ein Autolenker schlagartig sowohl erfasst als auch durch geschicktes Ausweichen, Bremsen oder Beschleunigen bewältigt. Er muss die Situation in ihrer Ganzheit, ohne durch Analyse und Überlegung Zeit zu verlieren, in Hinsicht auf die relevanten Sachverhalte, die Probleme der Unfallgefahr und die Programme möglicher Rettung erfassen und auch schon demgemäß beantworten. Vielleicht kommt ihm nichts davon einzeln zu Bewußtsein, sondern alles in chaotischmannigfaltiger Ganzheit. In diesem Sinn ist eine Situation in meinem Sinne eine chaotisch-mannigfaltige Ganzheit, zu der mindestens Sachverhalte gehören, die, meist zusammen mit Programmen und Problemen, den die Ganzheit integrierenden Hof der Bedeutsamkeit der Situation bilden; […]“ (Hervorhebungen im Original). 69 Ebd. 70 Schmitz, Gegenstand, 67.
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trifft mich‘ bis hin zu ‚betrifft mich nicht‘), verbunden mit der Binnendiffusion hintergründiger Atmosphären, nicht vereinzelter Sachverhalte und Probleme (etwas, das man spürt, aber nicht in Worte fassen kann). Was sich hier mehr oder weniger aufdringlich bemerkbar macht, ist das den Lebensvollzug latent begleitende und beim Hereinbrechen des Unerwarteten oder des Unverständlichen manifest werdende leiblich-affektive Betroffensein. Dieses Moment des mea res agitur ist gleichsam der Anker für die Labilität der Persönlichkeit, die im Spannungsverhältnis von Engung und Weitung, Spannung und Schwellung, Impuls und Resonanz bzw. Repulsion, leiblicher Disposition und Entwurf steht.71 Das Schwingen zwischen Zuständen personaler Regression (Schreck, Angst, Schmerz usw.) und personaler Emanzipation (spielerische Identifizierung, Haltungen der Überlegenheit) ist die Bedingung, um auf Herausforderungen einzugehen, Erschütterungen der Fassung zu bewältigen, die anderen Menschen gezeigte Außenseite mit frischer Vitalität vor dem Erstarren zu einer Fassade zu bewahren und die Einstellungen zum Leben sich ändernden Umständen anzupassen und ggf. zu verändern. Davon weiß das konventionelle sensualistisch-neurologische Erklärungsmodell nichts, aber auch die Erklärung, wie sich die Wahrnehmung der Umgebung abspielt, bleibt unbefriedigend: Zwar werden mit jenem Modell physiologische Bedingungen, aber nicht die Qualität des Wahrgenommenen erklärt. Diese reduktive Erklärung korrigiert Schmitz mit der Beobachtung, dass Wahrnehmung kein Registrieren von Sinnesdaten oder Objekten sei, sondern in erster Linie Einleibung: Wahrnehmung ist leibliche Kommunikation mit vielsagenden Eindrücken.72 Einleibung als wichtigste Spielart leiblicher Kommunikation und Interaktion verweist auf den dialogischen Charakter des leiblichen Spürens, das durch Impulse angeregt oder durch Gefühle berührt, ergriffen oder auch überwältigt wird, dann aber auch zum Einpendeln der Fassung führt.73 Auch bei intellektuellen Tätigkeiten kann sich der personal emanzipierte Menschen davon nie vollständig befreien, denn: „Affektivität ist der Hintergrund jeglicher Thematisierung – sie ist also immer schon ‚da‘, wenn Seiendes überhaupt manifest wird.“74 Leibliche, d. h. präreflexive Kommunikation setzt voraus, dass jeder durchschnittliche Mensch die Sensibilität und die Disposition zum Spüren dessen besitzt, was ihm unwillkürlich widerfährt. Doch was spürt er genau? Zur Beantwortung dieser Frage greife ich auf Michael Großheim zurück, der anhand von Sätzen aus dem Alltag das leibliche Spüren erläutert:
71 Hermann Schmitz, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg/München 2009, 29–45. 72 Schmitz, Normen, 38; ders., Gegenstand, 138 (Hervorhebung im Original). 73 Schmitz, Gegenstand, 127 ff., wo zwischen Antrieb, Reizempfänglichkeit und Zuwendbarkeit des Antriebs unterschieden wird. 74 Jan Slaby, Gekommen, um zu bleiben: Emotionen in der Philosophie, in: Berliner Debatte Initial 24(3), 2013, 15–30, 27: Homepage von Jan Slaby http://janslaby.com/downloads/2013-3_slaby-berlinerdebatte_emo.pdf (abgerufen am 08.12.2019).
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‚Ich merke, daß er mich nicht ernst nimmt.‘ ‚Ich habe den Eindruck, daß mein Anruf ungelegen kommt.‘ Was bemerkt wird, sind Sachverhalte. Die so harmlos wirkende Kennzeichnung der Sensibilität als Disposition, etwas zu bemerken, führt zu einer Provokation der traditionellen Erkenntnistheorie, weil diese Bestimmung so etwas wie unmittelbare Sachverhaltswahrnehmung vorsieht. Eine Provokation ist diese Annahme deswegen, weil nach herkömmlicher Auffassung die Kapazität physiologischer Sinnesorgane darüber entscheidet, was der Mensch wahrnimmt. Für Sachverhalte gibt es aber keine Sinnesorgane, also – so die herrschende Meinung – kann man sie auch nicht einfach wahrnehmen, also müssen die von den Sinnesorganen gelieferten spezifischen Sinnesdaten vom Verstand erst bearbeitet werden, damit am Ende der Sachverhalt als Produkt einer Kooperation von Sinnlichkeit und Verstand dastehen kann.75
Das Spüren von Sachverhalten widersetzt sich dieser Konstruktion, weil es ein unmittelbares Mitgehen, Mitschwingen, eine leibliche Resonanz für vielsagende Eindrücke ist. Dabei lassen sich vermischte, verschwommene Eindrücke unterscheiden von anderen, die zu einem überraschend treffsicheren Spüren führen, wie es die beiden zitierten Sätze vorführen. Diese spontane positive leibliche Resonanz sucht in anderen Situationen nach dem richtigen Ausdruck und findet ihn in umgangssprachlichen (naturwissenschaftlich kontaminierten) Sprüchen wie: „Zwischen den Beiden stimmt die Chemie.“ Oder: „Sie sind auf derselben Wellenlänge.“ Aber auch: „Ich kann ihn nicht riechen.“ Oder: „In ihrer ganzen Art ist sie mir zuwider.“ Andererseits kann der erste Eindruck täuschen, sodass man sich revidieren muss. Vielsagende Eindrücke (impressive Situationen) dieser Art sind es auch, mit denen Erfahrungen mit Europa bzw. einem europäischen Land in der Regel einsetzen. Manches wird treffsicher gespürt, anderes wiederum bleibt unklar oder erweist sich als Irrtum. Das Eindringen in gemeinsame europäische Situationen spielt sich also nicht im Raum des politischen Handelns ab. Damit ist der Grund gefunden, warum man in der öffentlichen Diskussion häufig aneinander vorbeiredet: Wenn die EU „Europa“ sagt, meint sie die Macht, meint sie sich selbst als Global Player. Wenn hingegen im vorliegenden Text von Europa die Rede ist, dann ist Europa als affektiver Raum gemeint, nicht als politische Macht. Im folgenden Kapitel wird erläutert, was unter einem affektiven Raum zu verstehen ist und schließlich inwiefern die phänomenologische Rede von Verantwortung sich auf kollektive Gefühlsmächte, insbesondere die Rechtsgefühle, bezieht.
75 Michael Großheim, Phänomenologie der Sensibilität, Rostocker Phänomenologische Manuskripte 2 (2008), 26 f.
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VII. Europa als affektiver Raum Europa ist aus dem abendländischen Zivilisationstyp76 hervorgegangen, welcher in den verschiedenen Ländern ähnliche Kultursysteme hervorgebracht hat, in denen sich der europäische Zivilisationstyp zu einer jeweils spezifischen, die Menschen affektiv und sozial integrierenden Gestalt entfaltet hat. In dieser Perspektive wird auf die spezifisch abendländisch-europäische, kulturbildende, ursprünglich griechische Überzeugung zurückgegangen, Freiheit und kritische Selbstdisziplin zur verbindlichen Grundlage des Zusammenlebens zu wählen. Diese Überzeugung charakterisiert die implantierende gemeinsame Situation, die in den unterschiedlichen nationalen Ausformungen den affektiven Hintergrund eines unauffälligen solidarischen wie antagonistischen Zusammengehörigkeitsgefühls bildet.77 Dieses wandlungsfähige Lebensgefühl ist schwer zu fassen, weil es zum präreflexiven Bereich des leiblichen Spürens, der Stimmungen und Gefühlsatmosphären gehört. Es wäre aber unangebracht, aus diesem Grund das Zusammengehörigkeitsgefühl für unerheblich zu halten. Dass für den Menschen etwas von Belang ist, dass er sich affektiv betroffen fühlt, verweist auf seine leibliche, von Gefühlen durchzogene conditio humana. Affiziert zu werden, erschließt die Welt. Gefühle sind der Motor des Personalen. Sie treiben uns an, sie motivieren – und zugleich eröffnen sie unseren ganz individuellen Zugang zur Welt als einer Arena des Bedeutsamen, als Spielfeld unserer Handlungen und Tätigkeiten. Keine Untersuchung dessen, was es heißt, eine Person zu sein, kommt ohne eine ausführliche Betrachtung der Gefühle aus.78
Der Mensch kommt nicht wie ein Ding in einem dreidimensionalen, vom unwillkürlichen Spüren abstrahierenden Raum vor,79 in dem er auf die Suche nach anderen Personen gehen und der nachträglich gleichsam ‚möbliert‘ werden müsste, sondern er findet sich in einem originär affektiven sozialen Raum, – von prädimensionalen Gefühlsatmosphären besetzt und durch implantierende gemeinsame Situationen strukturiert. Wie für den Schwimmer, so Schmitz, das Wasser ein prädimensionales Volumen, ist die menschliche Lebenswelt ein 76 Siehe oben Anm. 24 und 25. 77 Siehe Christian Meier, Kultur, um der Freiheit Willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas?, München 2 2012, 352: „Ja, was war denn dem Menschen möglich? Was war sein Los? Konnte ihm das völlig Ungewohnte, Unverhoffte wirklich gebühren? Ja, was war überhaupt der Mensch, großartig und allzu schwach (und bald auch schäbig), wie er sich, je mehr auf ihn ankam, umso deutlicher erfuhr? Was konnte er von sich wissen?“; siehe ferner die delphischen Inschriften: „Erkenne dich selbst!“ und: „Sei besonnen!“. Dazu Hermann Schmitz, Höhlengänge, 14. 78 Jan Slaby, Gefühl und Weltbezug. Eine Strukturskizze der menschlichen Affektivität, Rostocker Phänomenologische Manuskripte 8 (2010), 3. 79 Schmitz, Höhlengänge, 133: „Der Leib ist nie isoliert, sondern immer schon in leiblicher Kommunikation begriffen.“
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prädimensionaler affektiver Raum, in dem auch Gefühle als zuständliche oder impressive kollektive Atmosphären präsent sind, den Einzelnen tragen, aber auch überwältigen können und ihn zu personaler Auseinandersetzung herausfordern. Hier kann nicht die Systematik des Gefühlsraumes dargestellt werden;80 es muss genügen, darauf hinzuweisen, dass Gefühlsatmosphären die Selbst- und Weltwahrnehmung von Gruppen, Gesellschaften und Kulturen beeinflussen und sie hintergründig prägen können.81 Ein markanter Unterschied besteht etwa zwischen der abendländischen und der fernöstlichen Rechtskultur. Die westlich-europäischen Zornkulturen weisen im Vergleich zu den fernöstlichen Schamkulturen eine deutlich unterschiedliche leibliche Resonanz gegenüber Unrechtserfahrungen auf.82 Das Gespür für das jeweils Angemessene ist kein vollständig aussagbares Wissen, sondern beruht auf leiblicher Intelligenz. Von der kognitivistischen Philosophie ist der Versuch unternommen worden, Gefühle als Werturteile bzw. Überzeugungen auszugeben,83 doch büßen sie bei der Explikation des propositionalen, von jedermann aussagbaren Inhalts das für den Betreffenden entscheidende Moment ein, ihm unvertretbar affektiv nahe zu gehen, d. h. bedeutsam für sein Leben zu sein. Es wird verkannt, dass der leibliche Raum, der Richtungsraum wie auch der Gefühlsraum prädimensionale Räume sind. Der dreidimensionale Ortsraum ist demgegenüber ein Konstrukt, das den Menschen zwar von den herandrängenden, vielsagenden, d. h. uneindeutig schillernden und auch bedrängenden Eindrücken des täglichen Lebens entlastet,84 aber deshalb auch für die Bedeutsamkeit der jeweiligen binnendiffusen Situation blind ist. So hat Paris im französischen Lebensgefühl (z. B. von Hochschullehrern wie auch von anderen Gruppen) eine gänzlich andere Bedeutsamkeit als etwa Berlin in Deutschland, und zwar nicht allein in beruflicher und finanzieller Hinsicht oder aus Gründen der Reputation, sondern weil die jeweilige fokussierende gemeinsame Situation mit ihren präreflexiven Anteilen eine unterschiedliche Art von Sensibilität und Aufmerksamkeit hervorbringt.85 Europa als affektiver Raum, als Lebensgefühl ist demnach zumeist eine latente, durch national-kulturelle oder transnationale Bedingungen deklinierte Grundstimmung, die dann zum Teil manifest wird, wenn ein bestimmter Handlungsdruck (Streit, Krise) eine kollektive 80 Schmitz, Gegenstand, 275–320. 81 Werner Müller-Pelzer, Savoir être aus neuphänomenologischer Perspektive, in: Ders. (Hrsg.), Interkulturelle Situationen – Verstrickung und Entfaltung. Die Perspektive der Neuen Phänomenologie, Göttingen 2012, 15–44, hier besonders die Passage über Philippe d’Iribarne und die Rolle der Ehre im französischen Wirtschaftsleben (30–36). 82 Schmitz, Gegenstand, 395–397, wo er die Thesen von Ruth Benedict und E.R. Dodds korrigiert. 83 Robert C. Solomon, The Passions: Emotions and the Meaning of Life, Garden City, New York 1976; Martha Nussbaum, Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001. 84 Schmitz, Situationen, 203. 85 S. Michael Großheim/Steffen Kluck/Henning Nörenberg, Das Gefühl im Land. Annäherungen an das Leben in Mecklenburg-Vorpommern, Rostock 2014, 51 ff., zum Verhältnis von Aktivitätsfokussierung und atmosphärisch-leiblicher Grundstimmung.
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Atmosphäre zusammenschließt mit einer gemeinsamen, sonst diffus-hintergründigen Situation. Dies soll am Beispiel der Verantwortung gezeigt werden.
VIII. Verantwortungsgefühl Umgang mit kollektiven Atmosphären: Von Verantwortung soll hier nicht im Sinne des Befolgens konventioneller Regeln im Rahmen einer klar bestimmten Zuständigkeit die Rede sein, sondern im Sinne eines mit exigenter Autorität ergreifenden Gefühls.86 Daran geht die Fixierung der Diskussion auf das Thema „europäische Identität“ als ein Gesamt von Faktoren und Konstellationen vorbei. Seitens der Historiker ist verneint worden, dass es eine die Jahrhunderte überdauernde und heute als Referenz dienende europäische Identität gebe; die geschichtlich belegten Berufungen auf Europa gehorchten in der Tat sämtlich praktischpolitischen Nützlichkeitserwägungen entsprechend der jeweiligen Interessenlage.87 Nach Wolfgang Schmale bleibt nur dies: „Europäische Identität als globaler Hypertext“, „durch Differenz, weniger durch Einheit geprägt.“88 Verstanden als Konstellation von klar benennbaren Faktoren oder Liste von Attributen musste die Frage nach Europa ein negatives Ergebnis zeitigen. Was dabei nicht in Betracht gezogen worden ist, ist die weitgehend vorsprachliche und präreflexive affektive Aufladung kollektiver Atmosphären, wie es z. B. bei der Schaffung des neuzeitlichen Nationalismus geschehen ist. Bei der Entstehung bzw. Herstellung des Nationalgefühls ist das Verantwortungsgefühl für das eigene Volk als dynamische Kraft eingesetzt worden, um eine kollektive Atmosphäre zu zünden. Mit Napoleon brach das Zeitalter an, in dem die Nation zu einer „in sich selbst schwingenden Stressgemeinschaft“89 wurde. Ihre Apostel waren nach Peter Sloterdijk Investoren und Intellektuelle. Das vom Dritten Stand zum Volk mutierte Gros der Bevölkerung war – in diesem Bild – die Gemeinde, die das neue Evangelium empfing oder aber dem es aufgezwungen wurde. In dieser Tradition der Top-down-Identitäten stehen auch die aktuellen Versuche der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union, den Bewohnern der Mitgliedsländer zu sagen, wo es lang gehen sollte. Diese Versuche waren nach Gérard Bouchards Urteil ausnahmslos Misserfolge.90 Aus dieser Vorgeschichte ist für die Entwicklung eines europäischen Zusammenge86 Schmitz, Normen, 15: „Verbindlich gilt eine Norm für jemand, dem sie die Bereitschaft zum Gehorsam exigent abnötigt. Die Nötigung ist exigent, wenn der Genötigte dem Gehorsam zwar ausweichen kann, aber nur zwiespältig, halbherzig, befangen, unsicher, nicht in voller Übereinstimmung mit sich.“ 87 Schmale, Europäische Identität, 147. 88 Ebd., 162. 89 Peter Sloterdijk, Der starke Grund zusammen zu sein. Erinnerungen an die Erfindung des Volkes, Frankfurt a. M. 1998. Siehe auch Homepage der ZEIT, Die Zeit, 02. 01. 1998: www.zeit.de/1998/02/ (abgerufen am 08.12.2019), 15. 90 Bouchard, L’Europe à la recherche des Européens.
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hörigkeitsgefühls zu lernen, dass dafür zwar die intellektuelle Elite der erste Ansprechpartner sein dürfte, dass aber der steinige Weg unvermeidlich sein dürfte, die in den einzelnen Ländern gesammelten Erfahrungen mit Europa ernst zu nehmen, sich hermeneutisch taktvoll an sie heranzutasten und sie auf ihre Eignung für eine gemeinsame affektive Grundlage zu prüfen. Sloterdijk hat anlässlich Fichtes Reden an die deutsche Nation die nationale Identitätsbildung als „kulturelle Hypnose“91 bezeichnet, weil der Adressat imaginär war. Um 1806/07 gab es weder eine deutsche Nation noch einen deutschen Nationalstaat mit einem Nationalgefühl; die Nation musste unter pathetischer Beschwörung erst evoziert werden, wobei imaginierte Sachverhalte zu moralischen Programmen – ein klassischer Fall von Top-downIdentität – umgedeutet wurden. Die deutsche Wiedervereinigung ist für Sloterdijk der Anlass gewesen, um zu verdeutlichen, dass der historische Abstand es verbietet, ein gesamtdeutsches Wir-Gefühl im Stil des 19. Jahrhunderts wiederzubeleben. Heute sei von „Geld-undMedien-geborenen Völkern“ auszugehen.92 Deshalb verfällt selbst Willy Brandts Ausspruch seiner Kritik, welcher nach der Wende 1989 vom Zusammenwachsen dessen gesprochen hatte, was zusammengehöre. Sloterdijk bezweifelt, dass die Suggestion des organischen Wachstums den über 80 Millionen Menschen ein orientierendes Zusammengehörigkeitsgefühl vermitteln könne. Die in die Zukunft weisenden Renditegemeinschaften seien nicht mehr die Familien und nationalen Sprechergemeinschaften, sondern die börsengetriebenen Kapitalinvestoren.93 Sloterdijk hätte hinzufügen können, dass die Metapher des organischen Wachstums die Menschen aus der Verantwortung entließ, das Ihrige zum nationalen Zusammenhalt zu tun. In der Tat wurde dem bei zahlreichen Deutschen durchaus vorhandenen ethischen Impuls kein zukunftsweisender Grund für das nationale Zusammenleben aufgezeigt. Zweitens hätte Sloterdijk darauf hinweisen können, dass die gleichsam durch die Hintertür des Art. 23 GG vollzogene deutsche Wiedervereinigung das Nachdenken über die deutsche Nation im Keim erstickt hat, – ganz im Sinne des heraufziehenden globalen Ökonomismus, für den Nationen mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl eher hinderlich sind. Die in der Folge sich durchsetzende Renditegemeinschaft der EU hat versucht, mit dem kraftlosen teleologischen Brussels narrative diese affektive Leerstelle zu kaschieren. Gegebenes und Gemachtes: Sloterdijks anregende Pointierung des politischen Konstruktivismus (Fichte) und des politischen Organizismus (Brandt) sowie der hybriden Geld-undMedien-Fata Morgana ist nicht sein letztes Wort: Ein starker Grund, zusammen zu sein, bleibt für ihn die Sprache, die Hermann Schmitz als die paradigmatische implantierende gemeinsame Situation bezeichnet.94 Nach Schmitz entsteht die menschliche Rede aus Si91 Sloterdijk, Der starke Grund, 9/15. 92 Ebd., 9. 93 Ebd., 18. 94 Schmitz, Normen, 213: „Eine Sprache ist demnach kein System einzelner Regeln, sondern ein Ganzes mit
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tuationen, die stets große präreflexive Anteile mit vorschwebenden, eingelebten Normen haben und auf die die Sprecher zurückgreifen.95 Die präreflexive leibliche Kommunikation und Interaktion, das Spüren und ggf. die Resonanz, was einen in welcher Weise angeht, ergibt, in welcher Perspektive die gemeinsame Situation aufgefasst und in der Rede be- und verarbeitet wird. Beispiele der Einleibung in gemeinsame Situationen96 sind Arbeits-, Marsch- und Kampflieder, z. B. wie im Fall der Marseillaise mit historisch-mythischer Bedeutsamkeit vollgesogene Nationalhymnen, bei denen der Wortlaut inzwischen nur eine sekundäre Rolle spielt. Die ritualisierte Weise der Inszenierung bedarf der atmosphärischen Evokation gemeinsam erlittener Trauer und gemeinsam erlebter Freude, um sich mit frisch gespürter Vitalität vollzusaugen und um nicht zu einer leerlaufenden Pflichtübung zu werden. Die Tatsache präreflexiver Erfahrungen und insbesondere bestimmter Gefühle erledigt auch den Einwand, Nationen seien vollständig etwas Gemachtes. Dies ist die Auffassung mancher Soziologen, die dem philosophischen Irrtum des Singularismus anhängen, wonach der Weltstoff ohne Weiteres aus einzelnen Dingen bestehe.97 Der daran anschließende Konstellationismus (die totale Vernetzung von Einzelnem mit anderen Einzelnen) ist die Voraussetzung für den radikalen Sozialkonstruktivismus, der die gezielte Machbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse postuliert.98 Diese voluntaristische Verschiebung des Verhältnisses vom Gegebenem zum Gemachtem99 übergeht, dass das Gegebene zwar reflektiert und von Fall zu Fall neu bestimmt, aber als Ganzes nicht reflexiv überholt und in Gemachtes verwandelt werden kann. Es ist dabei zu prüfen, was als schwache (variable) und was als starke (konstante) Differenz zu betrachten ist. Eine starke Differenz ist z. B., als Frau oder Mann, als Deutsche oder als Rumäne geboren sowie mit einer bestimmten Erstsprache und Kultur (oder zwei) aufgewachsen zu sein. Man entwickelt in individueller Weise ein mehr oder weniger stabiles, mehr oder weniger antagonistisch geprägtes Verhältnis zu der jeweiligen Gegebenheit und eignet sich das binnendiffuser Bedeutsamkeit aus Programmen mit unverbindlicher Geltung, die Regeln für mögliches Sprechen sind […].“ „Die Sprache ist kein System, sondern ein Nomos.“ (214; Hervorhebung im Original). Der Begriff Nomos bezeichnet „die Bindekraft einer gemeinsamen zuständlichen implantierenden Situation, die aber nicht starr bindet, sondern den so gebundenen Menschen Spielraum für eventuell korrigierende oder modifizierende Auseinandersetzung mit ihr läßt […].“, Schmitz, Hitler, 31. 95 Schmitz, Normen, 213: „Ganz ohne Rede kommt bei Mensch und Tier die intelligente Verarbeitung impressiver Situationen (vielsagende Eindrücke) mit und ohne direkten Eingriff aus, das sprachlose Denken, das ich als leibliche Intelligenz beschrieben habe.“ 96 Im Unterschied zur Ausleibung (Dösen, Einschlafen) ist die Einleibung der bei weitem häufigere Typ der leiblichen Kommunikation. 97 Schmitz, europäische Philosophie, Bd. 2, 21 u. ö. 98 Ebd., 812 ff. 99 Gernot Böhme, Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Zug 2003, 314 ff.; Werner Müller-Pelzer, Interkulturelle Existenz, in: Ders. (Hrsg.), Selbstevaluation interkultureller Erfahrungen, Göttingen 2014, 242–250.
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Gegebene so oder anders an. Dementsprechend interagieren auch im Laufe der (europäischen) Geschichte von gesellschaftlichen Akteuren beeinflusste Konstellationen (z. B. politische und militärische Entscheidungen) mit dem Lebensgefühl oder der Mentalität der Zeit: sedimentierte Geschichte, regionale Prägungen, ökonomische Verhältnisse, Klima, Architektur- und Kommunikationsstile usw., d. h. Wirkfaktoren gemeinsamer Situationen, welche aber nicht immer explizierbar und insofern nicht reflexiv verfügbar sind. Kollektive Atmosphären sowie die unwillkürlichen Prägungen durch die Erstsprache/n und Kultur/en können lediglich punktuell expliziert werden. Diese Struktur bedingt, dass das reflexiv-thematische Selbst- und Weltverhältnis einer Person oder Gruppe und die präreflexiv, unthematisch, affektiv bedeutsame Weltorientierung (Lebensgefühl) z. T. deutlich auseinanderklaffen können.100 Damit tritt das Motiv klarer zutage, das vor allem radikal konstruktivistische Soziologen veranlasst, Europa auf die EU zu reduzieren. Mit der EU hat man ein Konstrukt vor sich, das zum konstellationistischen Weltbild dieser Soziologen passt: Alles wäre hier ohne Weiteres einzeln und könnte idealiter mit chirurgischer Präzision verändert werden. Europa ist jedoch nicht das Ergebnis planvoller Konstruktion, sondern ein charakteristisches, aber stets binnendiffus bleibendes, also nie vollständig explizierbares Gesamt ineinander verschachtelter Situationen. Jene Differenz zu ignorieren führt z. B. dazu, dass auf expliziten Auskünften beruhende Meinungsumfragen in die Irre führen und dass Politiker vom Entstehen kollektiver Atmosphären überrascht werden können. Fridays for Future: Zwanzig Jahre nach der Lissabon-Agenda fällt es den Eliten in ihrem „Glaspalast“101 schwer, sich der Antwort auf die Frage zu entziehen, warum sie sich dem Ökonomismus, dem Streben nach grenzenloser wirtschaftlicher Macht verschrieben haben: So hoch türmen sich die aufgelaufenen Hypotheken, dass der EU-Motor ins Stottern geraten ist. Bezeichnend für die Macht der herrschenden Wirtschaftsinteressen ist dabei der Umstand, dass nicht die von weltweit vernetzten Umweltwissenschaftlern festgestellten ökologischen Grenzen des Wachstums, nicht die Ermittlungen selbstständiger Journalisten, Bürger und von Fachleuten über die EU-Demokratiedefizite und auch nicht die Expertisen über die pull-Effekte der EU-Außenhandelspolitik bei der massenhaften Migration nach Europa die EU ins Stolpern bringen, sondern die von den Massenmedien zunächst unkontrol-
100 Michael Großheim/Steffen Kluck/Henning Nörenberg, Kollektive Lebensgefühle. Zur Phänomenologie von Gemeinschaften, Rostocker Phänomenologische Manuskripte, 20, Rostock 2014a, 33, mit dem Hinweis auf Hans Bernhard Schmidt. – Häufig wird die staatsoffizielle französische Interpretation bemüht, die Nation entstehe aus dem manifesten Willen, ein Volk zu sein – nach Renans Ausspruch gleichsam aus dem täglichen Plebiszit. Dieser illusionäre Glaube an das explizite, reflexiv-thematische Selbst- und Weltverhältnis ist das Paradigma einer Haltung, die entschlossen am präreflexiv, athematischen, affektiv bedeutsamen Lebensgefühl vorbeisieht. Siehe Marcel Detienne, Lʼidentité nationale, une énigme, Paris 2010. 101 Peter Sloterdijk, Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a. M. 2006.
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lierbaren Demonstrationen von Schülern und Studierenden, die mit den Fridays for Future102 den drohenden globalen Biosphäreninfarkt anklagen: Nun sehen sich Politiker aller Couleur bis hin zur neuen EU-Kommission veranlasst, zu bekunden, die Umweltthematik werde jetzt ganz oben auf die Agenda gesetzt.103 Dieses Phänomen der Fridays for Future soll genauer betrachtet werden, um gestützt auf die von Hermann Schmitz formulierte Rechtstheorie das Entstehen einer Verantwortungsgemeinschaft aus der Erfahrung erlittenen Unrechts zu skizzieren. Für diese Jugendlichen lässt sich die dem Protest zugrundeliegende Unrechtserfahrung in etwa so formulieren: Es ist beschämend, dass die EU die Zerstörung des Planeten maßgeblich zu verantworten hat, obwohl die Politik Europa als Ursprung von Menschenrechten, sozialer Gerechtigkeit und kritischem Geist für sich reklamiert. Diese keineswegs neue, allenfalls radikalisierte Sachlage hatte dem Bericht des Club of Rome104 über die Grenzen des Wachstums eine große Beachtung, aber eine noch entschiedenere Zurückweisung durch Politik und Wirtschaft eingebracht.105 In den 1980er Jahren kam es deshalb zur Gründung regierungskritischer ökologischer Parteien. Schließlich wurde 1987 mit dem von Gro Brundtland koordinierten UN-Kommissionsbericht zur Nachhaltigkeit106 das Risiko des grenzenlosen Wirtschaftswachstums allen Regierungen und der interessierten Öffentlichkeit bewusst gemacht. Mit dieser gemeinsamen Situation sind die Jugendlichen der Fridays for Future aufgewachsen. Zugleich lässt sich an dieser Generation illustrieren, dass das erdumspannende und die Lebensverhältnisse vor allem in den entwickelten Ländern einander angleichende Wirtschaftsregime zugleich zum Inkubator des Protests geworden ist. So wie Jugendliche 102 Homepage der Fridays for Future, https://fridaysforfuture.de/ (abgerufen am 08.12.2019); Greta Thunberg hatte sich am 20. August 2018, dem ersten Schultag nach den Ferien, vor dem Schwedischen Reichstag in Stockholm mit einem Schild „Skolstrejk för klimatet“ („Schulstreik für das Klima“) platziert und eine inzwischen weltweite Protestwelle ausgelöst. 103 Homepage von Eur’activ, Merkel spricht sich für deutlich schärferes EU-Klimaziel aus, https://www.euractiv. de/section/energie-und-umwelt/news/merkel-spricht-sich-fuer-deutlich-schaerferes-eu-klimaziel-aus/?utm _source=EURACTIV&utm_campaign=3a3b3853a5-RSS_EMAIL_DE_AM_TaglicheNewsAusEuropa&utm_ medium=email&utm_term=0_c59e2fd7a9-3a3b3853a5-114700667 (abgerufen am 08.12.2019); Ursula von der Leyen, Die Klimaschutz-Scharade, https://www.euractiv.de/section/energie-und-umwelt/opinion/dieklimaschutz-scharade/?utm_source=EURACTIV&utm_campaign=3b76966978-RSS_EMAIL_DE_AM_ TaglicheNewsAusEuropa&utm_medium=email&utm_term=0_c59e2fd7a9-3b76966978-114700667 (abgerufen am 08.12.2019). 104 Lexikon der Nachhaltigkeit, Meadows u. a.: Grenzen des Wachstums, 1972, https://www.nachhaltigkeit. info/artikel/ziele_und_wege_3/Probleme_95/meadows_u_a_die_grenzen_des_wachstums_1972_1373.htm (abgerufen am 08.12.2019); Donella Meadows/Denis Meadows, Limits to Growth, 1972. A. a. O., Das 30Jahre-Update 2006, https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/meadows_u_a_die_grenzen_des_wachs tums_1972_1394.htm (abgerufen am 08.12.2019). 105 Herbert Gruhl, Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt a. M. 1975. 106 Lexikon der Nachhaltigkeit, Brundtland-Bericht, Our Common Future (Unsere gemeinsame Zukunft) http:// www.nachhaltigkeit.info/artikel/brundtland_report_1987_728.htm (abgerufen am 08.12.2019).
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aller Länder in gemeinsamen Internet-Communities ungehindert Musiktipps, Termine von Veranstaltungen, Informationen und Meinungen austauschen, können diese Jugendlichen die tiefen Eingriffe in ihre Umwelt in immer mehr Ländern beobachten. Das erste ergreifende Gefühl von Menschen mit hinreichender moralischer Sensibilität dürfte der Jammer über das angerichtete Leid sein sowie die Fassungslosigkeit, dass diese Zerstörung nicht nur geduldet, sondern durch einen weitgehend unregulierten Finanzsektor immer mehr gesteigert wird. In den vergangenen Jahren ist versucht worden, die Schuld daran der Gier einiger Weniger zuzuschreiben. Doch verstärkt durch immer neue wissenschaftliche Expertisen über die Ursachen der Umweltzerstörung hat sich für einige Jugendliche die Kluft zwischen offiziellen Worten und Taten zunehmend vergrößert und eine Atmosphäre akuter Unrechtserfahrung entstehen lassen. Anders als in den 1980er Jahren bleibt heute dieses Unrechtsgefühl nicht auf kleine Expertenkreise und eine umweltpolitisch besonders aufgeschlossene Avantgarde beschränkt. Inzwischen ist die Sensibilität für Umweltgefährdungen gleichsam in die Lebenswelt eingesickert, sodass sich für ökologische Themen ein kollektiver affektiver Resonanzraum gebildet hat. Doch statt diesen Rückhalt zu nutzen, haben die Politik und die interessierten gesellschaftlichen Gruppen über Jahre alles daran gesetzt, den drohenden Biosphärenkollaps mit dem Argument zu überholen, alles werde unternommen, um Abhilfe zu schaffen: Vom Kindergarten über den Seniorenurlaub und die TV-Unterhaltungssendung bis zur Sonntagspredigt und zum Lkw auf der Autobahn wird plakativ der Schutz der Umwelt und der Einsatz für ein besseres Leben beschworen. Doch dieser Diskurs stellte sich für viele Jugendliche zunehmend als hohle Phrase heraus: Angesichts der sich über Jahrzehnte immer weiter verschlechternden Ökobilanz bei der Ressourcennutzung (ökologischer Fußabdruck) und bei der Nachhaltigkeit107 sowie angesichts der fortschreitenden Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben 108 hat sich für die Jugendlichen der Eindruck von Unaufrichtigkeit und Heuchelei der Regierenden verfestigt. Die für die Jugendlichen sich aufdrängende Dringlichkeit umzusteuern ließ für einige ein nicht hinnehmbares Ungerechtigkeitsgefühl zünden;109 andere folgten. Unrechtsgefühle: Zur präziseren Bestimmung greife ich auf die Rechtstheorie von Hermann Schmitz zurück, die auf ergreifenden Gefühlen mit verbindlicher Autorität für die Betroffenen gründet: Die ursprünglichen Rechtsgefühle sind Unrechtsgefühle. Das Recht springt nicht zuerst als Offenbarung hervor, die dann erkennen lässt, wann und wie von ihm abgewichen wird, sondern es
107 Homepage der SPIonweb, Der Sustainable Process Index http://spionweb.tugraz.at/de/spi (abgerufen am 08.12.2019). 108 Homepage von Oxfam 2019, Public Good or Private Wealth, https://www.oxfam.de/presse/pressemittei lungen/2019-01-21-superreiche-gewinnen-25-milliarden-dollar-pro-tag-haelfte (abgerufen am 08.12.2019). 109 Großheim/Kluck/Nörenberg, Gefühl im Land, 57–63.
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bildet sich im Zuge des Bemühens, das zuerst bedrängend gespürte Unrecht zu beseitigen und zu vermeiden. […] Die grundlegenden Unrechtsgefühle sind Zorn und Scham. […] Zorn und Scham prangern nicht nur das Unrecht an, sondern weisen auch den Weg aus ihm heraus. Freilich kann man sich nicht auf sie allein verlassen, weder, um diesen Weg erfolgreich zu gehen, noch auch nur, um in einer vor der Besinnung standhaltenden Weise zu bestimmen, was als Unrecht zu gelten hat. So sehr aber auch diese Affekte der Prüfung und Schulung bedürfen, um für das Recht praktisch brauchbar zu sein, so unentbehrlich sind sie, um für die Idee vom Recht die zugehörige unwillkürliche Grundlage, die impression im Sinne von Hume, zu finden, ohne die es sich nur um ein beliebig irgend welchen Erfindungen aufgedrücktes Etikett handeln würde.110
Zur phänomenologischen Präzisierung unterscheidet Schmitz (nach dem Gestaltpsychologen Metzger) den Verankerungsbereich vom Verdichtungsbereich: Zorn und Scham sind zentrierte Gefühle, Atmosphären, die sich um ein Thema zusammenziehen. […] Beim Zorn ist der Verankerungspunkt das, worüber gezürnt wird, Verdichtungsbereich der (Mensch oder Tier), auf den man zornig ist. Im Fall der Scham ist Verdichtungsbereich das, worüber oder weswegen man sich schämt, Verankerungspunkt der Beschämte (stets eine Person), der sich aber nicht selbst zu schämen braucht; es genügt, wenn der Verankerungspunkt um ihn eine Scham (als Atmosphäre) verbreitet, in deren Licht ihn andere, die peinlich berührt sind, als den Verdichtungsbereich verstehen.111
Um für ethische Belange relevant zu sein, darf die Scham nicht nach gewisser Zeit versickern; die Gewissensqualität muss hinzutreten. […] zur Gewissenssache wird Scham erst für den, der nicht ‚darüber stehen‘ kann. Daraus schöpft das Gewissen seinen unbedingten Ernst. Das Darüberstehen, wie ich mit einer sprachüblichen Redensart sage, ist, ohne Metapher gesprochen, die personale Emanzipation, mit der sich das Subjekt im Zuge der Entfaltung der primitiven Gegenwart über sein Hier und Jetzt erhebt sowie vom Dasein und vom Dieses unterscheidet. Ein Gefühl von der Art der am richtenden Gewissen beteiligten Gefühle wird also zum richtenden Gewissen oder zu dessen Moment, wenn seine ergreifende Macht keine Aussicht auf und Gelegenheit zur Distanzierung durch personale Emanzipation mehr übrig läßt.112
110 Schmitz, Normen, 60. 111 Schmitz, Normen, 61 f. 112 Hermann Schmitz, System der Philosophie, Dritter Band: Der Raum, Dritter Teil: Der Rechtsraum. Praktische Philosophie, 2010, 644 f. (Studienausgabe des Originals von 1973).
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Häufig wird diese heftige Scham durch ein warnendes Vorgefühl vermieden: Man spürt, dass in einem Scham „aufsteigt“.113 Dies lässt sich bei Greta Thunberg, der Initiatorin der Fridays for Future, beobachten, deren erster Appell von 2018 Ausdruck ihres warnenden Gewissens114 gewesen sein dürfte. Die Politik der EU z. B. weiter durch Stillschweigen zu unterstützen, hätte bei ihr Gewissensscham auslösen und die persönliche Fassung vernichten müssen. Ein Ausweichen, d. h. die Möglichkeit personaler Emanzipation, dürfte es für sie nur um den Preis der Unredlichkeit gegeben haben. Gretas implizite Botschaft: „Ich will nicht schuldig werden. Wir müssen Verantwortung übernehmen. Wir müssen handeln.“115 dürfte auf den oben angedeuteten affektiven Resonanzraum ihrer Altersgenossen wie eine Initialzündung gewirkt haben. Eine gewisse Anzahl Jugendlicher dürfte selbst eine vergleichbare Erfahrung gemacht haben, oder sie ließen sich von der Atmosphäre anstecken.116 Welche Jugendlichen die Erfahrung einer implantierenden gemeinsamen Situation mit Gewissensqualität machen und welche durch Gefühlsansteckung sich in einer includierenden gemeinsamen Situation bewegen, lässt sich nicht ein für alle Mal ausmachen: Die beeinflussenden Faktoren dieser Situationen sind dank ihrer Binnendiffusion nicht einzeln explizierbar; zwischen includierenden und implantierenden Situationen kann es je nach der atmosphärischen Modulation hin- und hergehen, sodass erst nach einer gewissen Dauer festzustellen ist, was jeweils vorliegt.117 Im Ergebnis sprang aus einer zunächst individuell gespürten drohenden Scham durch die Ko-präsenz der Mitstreiter – ob nun im unmittelbaren Kontakt oder durch Beratung per Video – in der Vorbereitung und Durchführung der Demonstrationen eine kollektive Atmosphäre hervor.118 Die Struktur des Verantwortungsgefühls als intentionales, auf etwas gerichtetes Gefühl stellt sich also folgendermaßen dar: Das auch im Namen der jungen Europäer begangene 113 Ebd., 67/78. Wie die Abstandnahme bei Achtung einflößenden Dingen oder Personen greift beim Taktgefühl oder beim Geschmack das délicatesse genannte Gespür, das eine Meidung nahelegt. 114 Ebd., 647: „Wenn solche rechtlichen Vorgefühle mit Gewissensqualität […] ein noch nicht wirklich eigenes Verhalten des Ergriffenen als bedroht von dieser [zerstörerischen] Macht ausweisen, ergibt sich warnendes Gewissen.“ 115 Inzwischen hat G. Thunbergs Rede vor der Klimakonferenz der Vereinten Nationen vom 24. September 2019 dies explizit gemacht, https://www.youtube.com/watch?v=SfCUcDAlSKk (abgerufen am 08.12.2019). 116 Hilge Landweer, Gemeinsame Gefühle und leibliche Resonanz, in: Undine Eberlein (Hrsg.), Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen. Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge, Bielefeld 2016. 117 Landweer, Gefühle und Resonanz, 53–57. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Ansprüche an sittliche Verantwortung unterschiedlich hoch gespannt sein können. Siehe Hermann Schmitz, Freiheit, 24. – Beide Formen der Kopräsenz können dank der Brückenqualitäten von Mimik, Gestik, Stimme etc. zu wechselseitiger solidarischer Einleibung führen, und diese bereitet die Empfänglichkeit für ergreifende kollektive Gefühle vor. 118 Böhme, Leibsein als Aufgabe, 135 ff., unterstreicht die leibliche Anwesenheit als Bedingung für einen gelingenden Zugang zur unverstellten Lebenserfahrung und kritisiert die Gegentendenz, „dass gerade ein Grundzug des Lebens in der technischen Zivilisation darin besteht, das Leben von leiblicher Anwesenheit unabhängig zu machen.“ Siehe auch Hilge Landweer, Anm. 71.
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Unrecht stellt den Verankerungspunkt der drohenden Scham dar; das warnende Gewissen weist auf den Verstoß gegen das europäische Selbstverständnis, d. h. auf die Beschädigung des europäischen Zivilisationstyps hin. Der Verdichtungsbereich der Scham sind die politisch Verantwortlichen weltweit. Die in Demonstrationen sich niederschlagende Weigerung, sich durch ein unkritisches Dahinleben schuldig zu machen, war und ist ein Akt sittlicher Verantwortung. Den Delegierten der UN-Klimakonferenz deutet G. Thunberg im September 2019 noch ein wenig verklausuliert folgende moralische Alternative an: Wenn ihr nicht schnell effiziente Maßnahmen gegen den Anstieg der CO2-Emissionen ergreift, wärt ihr böse und unempfindlich gegenüber der Atmosphäre der Scham, die sich um euch zusammenzieht. Dann aber könnte ich meinen Zorn nicht mehr bändigen. Ihr sagt, Ihr würdet uns ‚hören‘ und hättet die Dringlichkeit verstanden. Doch ganz egal wie traurig und wütend ich bin, will ich das nicht glauben. Denn würdet Ihr die Situation wirklich vollauf begreifen und trotzdem nicht handeln, dann wärt Ihr böse. Und ich weigere mich, das zu glauben.119
Der EU-Diskurs: Diese Unrechtserfahrungen weisen Parallelen zum Entstehen des Ungerechtigkeitsgefühls bei Europäerinnen und Europäern auf, das sich an dem unredlichen Diskurs von EU und Regierungen bildet, man sei Sachwalter der europäischen Werte und tue alles für Europa und seinen Zusammenhalt.120 Dass die Gründung der Europäischen Union nicht die Einlösung säkularer europäischer Hoffnungen bedeutete, war kritischen Beobachtern bereits in den 1990er Jahren bewusst.121 Ein Autor stellte etwa 1992 die drängende Frage: „Sommes-nous bien sûrs que ce qui se construit est vraiment l’Europe?“122 Was als Krönung der Gemeinschaftspolitik seit 1958 ausgegeben wurde, war de facto ein Paradigmenwechsel hin zum Global Player, wozu die europäischen Bürger nicht befragt worden sind. Wie bei der verunglückten deutschen Wiedervereinigung hieß es post festum seitens der Herolde der EU-Demokratie, es habe keine Alternative gegeben. Diese Einschätzung der politisch Verantwortlichen stand auch hinter dem Versuch, mit massivem Aufwand den Europäern eine Verfassung überzustülpen. Für ein Top-down-Verfahren konsequent, wurden die Bürgerinnen und Bürger in den meisten Mitliedstaaten nicht hinreichend aufgeklärt und – wie z. B. in Deutschland – nicht einmal zu einem Volksentscheid aufgerufen: Es ist unvergessen, dass zahlreiche Abgeordnete des Deutschen Bundestages über den Inhalt des 119 Greta Thunberg, Rede zum Auftakt des UN-Klimagipfels (dt. Übersetzung), 24. September 2019, in: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/greta-thunberg-rede-klimakrise-klimawandel (abgerufen am 08.12.2019). 120 Mehr noch: Es wird sich erweisen, dass das Programm der Regeneration Europas die Kritik am übermäßigen CO2-Ausstoß seitens der Fridays for Future einschließt. 121 Werner Müller-Pelzer, Europa regenerieren. Über das Entstehen kollektiver Atmosphären (im Erscheinen). 122 Rémi Brague, Europe, la voie romaine, Paris 1992, 238. Weitere Literatur zu Europa bei Werner MüllerPelzer, Régénérer l’Europe. Siehe ferner Arno Baruzzi, Europas Autonomie, Würzburg 1999.
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Vertrages nicht zuverlässig Bescheid wussten, dann aber mit großer Mehrheit dem Verfassungsvertrag zustimmten. Dass alle EU-Verträge wie der kompensatorische Lissabon-Vertrag von 2007 vom Europäischen Gerichtshof in den Rang von nicht mehr politisch korrigierbaren Verfassungsbestimmungen erhoben worden sind, musste erst ein renommierter Verfassungsjurist der perplexen Öffentlichkeit mitteilen.123 Angesichts der fortgeschrittenen Übertragung nationaler Kompetenzen auf die EU trat damit das Demokratiedefizit dieser Konstruktion verstärkt ins öffentliche Bewusstsein. Während auf nationaler Ebene Kandidaten für Wahlen und Abgeordnete nach z. T. pervertierten, aber reformierbaren demokratischen Prozeduren bestimmt werden,124 sind die demokratischen Defizite der EU nicht heilbar.125 Bedingt durch die Konstitutionsregeln für den oder die EU-Kommissionsvorsitzende/n, den Europäischen Rat sowie die Ministerräte kann das EU-Parlament keine legislative, im Vollsinn die Exekutive kontrollierende Kammer werden. Schließlich konnten die Wahlen zum EU-Parlament 2019 sowie das Postengeschacher danach die Öffentlichkeit nicht davon überzeugen, dass es dabei um Europa geht. Schließlich zeigt auch die – kaum bemerkte – Erschleichung des Titels „Europa-Parlament“ die Unredlichkeit der politischen Akteure, die kühn die Identität von EU und Europa behaupten. Mit dem Auftreten dezidiert EU-kritischer Parteien schließlich konnte die Entfremdung des machtpolitischen Kartells von einer zunehmenden Zahl von Wählern nicht mehr geleugnet werden.126 Analog zu Fridays for Future, die die unredliche Umweltrhetorik der Politiker anprangern, stoßen sich aufmerksame Europäer und Europäerinnen an der Unredlichkeit, mit der sich die EU als Vorkämpferin der Menschenrechte und Garantin einer Friedensordnung stilisiert. Die Kosten der von der EU vertretenen Ideologie des grenzenlosen Wirtschaftswachstums sind nicht zu verkennen: Zunehmende Waffenexporte, die Verteilung des privaten Reichtums von unten nach oben, die den europäischen Zivilisationstyp pervertierende Bildungsökonomie, die Entwurzelung weltweit verschiebbarer Manager, die geduldete Anarchie des Finanzsektors einschließlich der Vermögensvernichtung bei breiten Bevölkerungsschichten, die Externalisierung wirtschaftlich unattraktiver Tätigkeiten und ökolo123 124 125 126
Grimm, Europa ja – aber welches? von Arnim, Volksparteien; ders., Hebel der Macht. Grimm, Europa ja – aber welches?, 29–47. Um nicht das angemaßte Monopol auf Europa aufgeben zu müssen, wurde eine törichte Verteufelungskampagne gegen den Populismus entfacht, was den ebenfalls erstarkenden rechtsradikalen und antidemokratischen Parteien in die Hände spielt. Inzwischen gibt es in den Sozialwissenschaften auch kritische Stimmen zu der verordneten Sprachregelung. Kolja Möller, Invocatio Populi. Autoritärer und demokratischer Populismus, in: Dirk Jörke/Oliver Nachtwey (Hrsg.), Das Volk gegen die (liberale) Demokratie, Leviathan Sonderbd. 32, Baden-Baden 2017, 257–278; Oliver Jaun, ‘Heartland’ oder: Die Kritik des infamen Bürgers, in: Ebd., 303–321; Claire Moulin-Doos, Populismen in Europa: Nicht per-se antidemokratisch, in: Ebd., 303–321; ferner die Homepage von Europe 1, Interview mit Enrico Letta, 2019, „Les populismes sont, en grande partie, issus des fautes des élites“, https://www.dailymotion.com/video/x6x2q8n (abgerufen am 08.12.2019).
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gischer Lasten, die Abschleifung regional- und nationalkultureller Lebensstile, die Verseuchung von Erde, Wasser und Luft durch die Intensivlandwirtschaft, die Entvölkerung weiter Teile Europas, insbesondere die dramatische Abwanderung des akademischen Nachwuchses aus den kleineren Ländern, die geplante Verelendung der gering qualifizierten Arbeiter, die Abwerbung von Facharbeitern der Dritten Welt usw.127 Die Zerstörung autochthoner Wirtschaftskreisläufe auf anderen Kontinenten durch die EU-Subventions-Exportpolitik und die Plünderung natürlicher Ressourcen sowie die Zerstörung von Lebensräumen in anderen Ländern (Edelmetalle, Soja, Rindfleisch, Edelhölzer, Palmöl etc.) stellen schließlich die argumentative Verbindung zur Kritik des übermäßigen CO2-Ausstoßes her, die Fridays for Future antreibt. Europa regenerieren: Realistischerweise ist die erste Adressatengruppe für das Programm der Regeneration Europas nicht die Gesamtbevölkerung, sondern eine durch eine gemeinsame Interessenlage gebildete Gruppe wie z. B. die der Studierenden. Allerdings sind diese durch die Festlegung auf ein Studienfach und eine berufliche Perspektive bereits der Prägung durch das krude Wettbewerbsdenken ausgesetzt, weil die inzwischen unternehmerisch geführten Hochschulen sich als Konkurrenten auf dem globalen Bildungs- und Arbeitsmarkt profilieren: Internationales Hochschulmanagement entscheidet über den Erfolg des jeweiligen ‚Players‘. Dass die Universitäten als europäische Institutionen auch verpflichtet sind, die Studierenden zu befähigen, sich von der politisch verschuldeten Unmündigkeit der mauvaise foi zu emanzipieren und Persönlichkeitsbildung zu ermöglichen, fällt in der Regel unter den Tisch. Zudem hat die EU das Thema „Hochschulen in Europa“ mit Hilfe des ERASMUS-Programms für sich usurpiert. Auch nationale Förderprogramme wie der DAAD oder binationale Programme wie die Deutsch-Französische Hochschule stecken im Korsett des kaum kaschierten Wettbewerbsdenkens. Schließlich laufen die sonstigen universitären Programme der Internationalisierung der Hochschulen auf eine Ent-Europäisierung hinaus: Die Übernahme des globalen Englisch als Referenzsprache in Wissenschaft und Wirtschaft lässt die in Jahrhunderten gewachsenen europäischen Kultursprachen auf das Niveau von Vernakularsprachen (Verwendung nur noch im privaten Verkehr) absinken.128 Immer mehr Curricula an europäischen Hochschulen werden zudem in englischer Sprache angeboten.129 Diese (offiziell beschönigte) Sachlage beschwört eine drohende Atmosphäre der Scham herauf, an jenem Unrecht mitverantwortlich zu sein. Abgewendet werden könnte das Ergriffenwerden von Gewissensscham durch den Rückstoß auf die Verursacher, d. h. die politisch 127 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2 2015. 128 Jürgen Trabant, Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen, München 2014; Louis-Jean Calvet, Le marché aux langues. Les effets linguistiques de la mondialistation, Paris 2002. 129 Einige niederländische Universitäten sind in Begriff, ihre radikale Umstellung auf Englisch zu revidieren: Homepage der Vereinigung Beter onderweis nederlands, https://www.beteronderwijsnederland.nl/ (abgerufen am 08.12.2019).
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Verantwortlichen. Doch das Finassieren mit dem Begriff des „europäischen Projekts“ verdeutlicht, dass die EU-Eliten nicht beschämbar sind: Die EU beharrt darauf, den Mensch in den Mittelpunkt des politischen Handelns gestellt zu haben,130 setzt aber zugleich das Wirtschaften fort, das die Rechte gegenwärtiger und zukünftiger Generationen in irreversibler Weise verletzt. Zorn wäre die spontane Reaktion auf diese erlittene Kränkung bzw. das erlittene Unrecht, doch dieser würde keinen sinnvollen Adressaten, keinen Verdichtungsbereich finden: Die Anonymität der auf unübersehbar viele Ebenen verteilten Macht verhindert dies. Es stellt sich deshalb die Frage, welche Gestalt eine Weigerung annehmen könnte, sich nicht weiterhin von materiellen Vorteilen korrumpieren und sich nicht schuldhaft in den kollektiven Selbstbetrug hineinziehen zu lassen. Diese Weigerung sollte zudem das Risiko unzähliger Initiativen wie jetzt Fridays for Future vermeiden, eine Zeit lang mit flüchtigen, rein symbolischen Aktionen Aufsehen zu erregen, dann aber von den Mühlsteinen der institutionalisierten Politik zermahlen zu werden.131 Ein Ausweg besteht darin, praktische Völkerverständigung gegen die Marktlogik und im Sinne des europäischen Zivilisationstyps zu betreiben, und zwar in Form eines „EuropaSemesters“, das ausschließlich dem Sich-Einleben in Sprache und Kultur des Gastlandes als gemeinsame Situation gewidmet ist. Diese von mir entworfene Alternative segelt unter der Flagge des MONTAIGNE-Programms. Um der Schuld von Mitläufern zu entgehen, lassen sich die Eckpunkte dieses Programms in drei Thesen verdichten: 1. Die EU ist nicht Europa. 2. Europa meint den europäischen Zivilisationstyp in einem affektiven, von kollektiven Atmosphären besetzten Raum. 3. Das europäische Land X ist ein konkreter affektiver Resonanzraum, der den Sprachenlernern das Einwachsen in implantierende gemeinsame Situationen und damit die Aussicht auf eine Regeneration Europas bietet. Damit kann das MONTAIGNE-Programm den heraufziehenden Zorn durch eine nachhaltige Praxis abwenden. Oder ausführlicher: Die Selbstbesinnung, die zwischen drohender Scham und ziellosem Zorn gleichsam eingeklemmt war, geht durch das Erlernen einer affektiv nahegehenden „Bruder- bzw. Schwestersprache“132 in eine das eigene und das ge130 Homepage der Europäischen Union, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel, https://fra. europa.eu/de/charterpedia/article/0-praambel (abgerufen am 08.12.2019). 131 Es handelt sich darum, die ursprünglichen Intentionen von Jacques Delors, dem Anreger des ERASMUS-Programms, aufzunehmen und weiterzuentwickeln: Jacques Delors, Mémoires, Paris 2004, 441 ff./455 ff./468; Nadège Chambon/Stéphanie Baz-Hatem, Jacques Delors, hier et aujourd’hui, Paris 2014, 74 f. 132 Trabant, Globalesisch oder was?, 34–36, spricht lediglich von der „Brudersprache“. – Für Studierende liegt bereits das Konzept des MONTAIGNE-Programms mit Mustercurriculum vor, das vorsieht, während eines „Europa-Semesters“ eine unbekannte europäische Sprache in einem speziellen didaktischen und methodischen Lernumfeld zu erwerben. Siehe Werner Müller-Pelzer, Europa regenerieren. Über das Entstehen kollektiver Atmosphären (im Erscheinen).
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meinsame Leben verändernde Praxis über. Die Struktur des Verantwortungsgefühls ist also folgende: Das im Namen der Europäer verübte Unrecht, das im Widerspruch zum europäischen Zivilisationstyp steht, ruft das warnende Gewissen auf den Plan und löst als Verankerungspunkt die drohende Scham aus. Die EU als Verantwortliche des Unrechts wäre der Verdichtungsbereich der Scham, die jedoch durch das Mehrebenen-Konstrukt keine eindeutigen Adressaten findet. So entzieht sich die EU der Verantwortung. Dies wird von den um Fassung Ringenden mit der Abkehr von der heutigen EU beantwortet. Sich für das MONTAIGNE-Programm zu entscheiden, böte die Möglichkeit, sich von diesem Schuldzusammenhang loszusagen und das Leben durch einen spontanen Akt sittlicher Verantwortung zu verändern.133 Damit stößt die Erörterung zum Kern der Freiheitsauffassung vor, die Hermann Schmitz als Selbstwirksamkeit bezeichnet: Nicht, was der Mensch sich vornimmt, sondern das, was er frisch im Augenblick als Gesinnung in sein affektives Betroffensein einsetzt, und damit die Art, wie er als affektiv Betroffener jeweils bei der Sache ist, gibt ihm die kausale Macht aus eigener unabhängiger Initiative.134
Die Freiheit, sich aus eigener Initiative auf die Impulse einer gemeinsamen Situation im Gastland einzulassen, ist eine Gestalt sittlicher Verantwortung, aus welcher eine Haltung europäischer Selbstbesinnung entstehen kann.135 Umgekehrt bedeutet für das gastgebende Land diese Zuwendung zu ihrer Landessprache eine unvergleichliche Würdigung des Stellenwertes, den es für die Regenerationen des europäischen Zivilisationstyps besitzt. Der aus Einleibung erwachsende Spracherwerb dürfte deshalb der Schlüssel für eine vertiefte europäische Völkerverständigung sein.
IX. Ausblick Abschließend stellt sich die Frage, warum nicht von „Europa als Verantwortungsgemeinschaft“ die Rede ist. Die Antwort ist dreigeteilt: Erstens wäre es unvermeidlich, dass dieses Motto durch den Monopolanspruch der EU auf Europa in ein schiefes Licht gerückt würde. Zweitens würde damit an das voluntaristische Modell von Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ angeknüpft und postuliert: Das regenerierte, auf eine neue Basis gestellte Europa gibt es (noch) nicht, soll aber sein. Dies wäre 133 Bislang sind von phänomenologischer Seite Musik, Tanz und andere Bewegungsweisen als leib-basierte Praxisfelder behandelt worden, nicht aber das Sprachenlernen. Siehe Undine Eberlein (Hrsg.), Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen. Intercorporeity, Movement and Tacit Knowledge, Bielefeld 2016. 134 Schmitz, Freiheit, 71 (Hervorhebung im Original). 135 Jan Slaby, Kritik der Resilienz, in: Frauke A. Kurbacher/Philipp Wüschner (Hrsg.), Was ist Haltung? Begriffsbestimmung, Positionen, Anschlüsse, Würzburg 2016, 273–298.
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ein erneuter Fall einer konstruierten Top-down-Identität. Drittens könnten gesellschaftlich mächtige Interessengruppen nur schwerlich daran gehindert werden, den Begriff des ‚regenerierten Europas‘ umzukodieren, mit genehmen Inhalten zu besetzen und die ursprüngliche Intention mit rhetorischen Mitteln, arrangierten kollektiven Atmosphären136 und Medienunterstützung zu konterkarieren. Für die Gewinnung eines reifen europäischen Verantwortungsbewusstseins ist es entscheidend, sich z. B. nicht in eine parteipolitische Auseinandersetzung über die Opportunität und Machbarkeit von Reformen der EU-Konstruktion hineinziehen zu lassen. Verantwortung für Europa beginnt mit der Gewissheit, dass Europa unabhängig von der EU seine Zukunft in die Hand nehmen muss: Nicht die EU ist der Bezugspunkt des Verantwortungsgefühls, sondern der europäische Zivilisationstyp, dessen Bedrohung zu erkennen das warnende Gewissen anzeigt. Verantwortung besteht gegenüber den Sprachen und Kulturen, die dem europäischen Zivilisationstyp verpflichtet sind. Solange sich Bewegungen wie Fridays for Future in der Blockade öffentlicher Räume erschöpfen und es mächtigen gesellschaftlichen Akteuren gelingt, solche Bewegungen einzuhegen, werden diese keinen nachhaltigen Erfolg haben. Die gespürte Verantwortung braucht deshalb eigene Strukturen (nicht allein aktuelle, sondern zuständliche gemeinsame Situationen137), in denen sie sich verwirklichen und die Schaffung neuer implantierender gemeinsamer Situationen anregen kann. Eine Möglichkeit, die Verantwortung für den europäischen Zivilisationstyp für die europäischen Eliten zu konkretisieren, eröffnet sich im MONTAIGNE-Programm. Der Widerstand vonseiten der EU und der nationalen Regierungen sowie der zahlreichen, von ihnen abhängigen Organisationen darf sicher nicht unterschätzt werden. Doch ist zu vermuten, dass in allen Ländern mit weniger gesprochenen bzw. weniger gelernten Sprachen ein natürliches Interesse bestehen dürfte, den Erwerb der eigenen Kultursprache tatkräftig zu unterstützen. Den Menschen in ihrer eigenen Sprache als Europäerin oder Europäer zu begegnen, ist ein Akt europäischer Nostrifizierung; damit drücken die Teilnehmer eine Wertschätzung aus, deren fortwährende affektive Wirkung kaum überschätzt werden kann. Das Erlernen einer europäischen „Bruder- bzw. Schwestersprache“ meint, dass nicht möglichst schnell eine möglichst anspruchsvolle sprachliche Kompetenz erworben werden soll, sondern dass die Völkerverständigung (d. h. das Einwachsen in implantierende gemeinsame Situationen) das oberste Ziel ist.138 Die Zielsprachenwahl gehorcht insbesondere nicht dem Ziel, Sprachen mit hohem Marktwert zu erlernen, im Gegenteil: Ausgehend von einer Liste von Spra136 Schmitz, Atmosphären, Freiburg/München 2014, 75 f.: „Auf gleiche Weise, wie durch spontan ergreifende Gefühle, können durch künstliches Arrangieren Situationen bereitgestellt werden, die so mächtige Köder einseitiger Einleibung, darunter Gefühle, enthalten, dass eine Atmosphäre entsteht, die das ganze affektive Betroffensein des Angesprochenen so in Anspruch nimmt, dass er in ihr untertaucht wie in den zuvor besprochenen Beispielen ekstatischer leiblicher Kommunikation [mystische Ekstase, gemeinschaftlicher flow; W.M.-P.].“ 137 Schmitz, Situationen, 22 ff./134 ff. Hier findet sich die Typologie der Situationen. 138 Dies ist bisweilen sogar ohne sprachliche Kommunikation möglich: Werner Müller-Pelzer, Intercultural
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chengruppen139 soll eine unbekannte europäische Sprache zur Wahl gestellt werden; die fünf meistgelernten Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch scheiden als Zielsprachen aus. Diese positive Diskriminierung ist geboten, um nicht von den vorherrschenden, von Machtinteressen angetriebenen ‚großen‘ Sprachen in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt zu werden. Mit der Vervielfältigung von länderübergreifend neuen kollektiven Atmosphären der Zusammengehörigkeit übernehmen die Teilnehmer des MONTAIGNEProgramms exemplarisch Verantwortung für die europäischen Sprachen als Motoren des europäischen Fühlens und Denkens. Es handelt sich hierbei um die symbolischen Investitionen in Europas Zukunft, die Sloterdijk zu den starken Gründen zählt, zusammenzubleiben.140
Literaturverzeichnis Adloff, Frank/Leggewie, Frank (Hrsg.), Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens, Bielefeld 2015. Adloff, Frank/Heins, Volker M. (Hrsg.), Konvivialismus. Eine Debatte, Bielefeld 2015. Albrecht, Clemens (Hrsg.), Die Bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden, Kultur, Geschichte, Theorie. Studien zur Kultursoziologie, Würzburg 2004. Baruzzi, Arno, Europas Autonomie, Würzburg 1999. Baumann, Zygmunt, Liquid Modernity, Cambridge 2000 (dt. Übers. Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003). Bertelsmann-Stiftung, Vielfalt leben – Gesellschaft gestalten. Chancen und Herausforderungen kultureller Pluralität in Deutschland, Gütersloh 2018. Böhme, Gernot, Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Zug 2003.
Competence: A Phenomenological Approach, in: Arnd Witt/Theo Harden (Hrsg.), Intercultural Competence. Concepts, Challenges, Evaluation, Oxford 2011, 55–74, 62, Anm. 14. 139 Gruppe 1: Russisch, Ukrainisch, Bulgarisch, Griechisch, Armenisch, Georgisch; Gruppe 2: Nord-Mazedonisch, Serbisch, Tschechisch, Slowakisch, Kroatisch, Slowenisch, Polnisch; Albanisch, Montenegrinisch und Bosnisch-Herzegowinisch dürften aus praktischen Gründen vorerst ausscheiden; Gruppe 3: Finnisch, Estnisch, Lettisch, Litauisch, Ungarisch; Gruppe 4: Isländisch, Irisch/Schottisch, Gälisch-Walisisch, Bretonisch, Norwegisch, Schwedisch, Dänisch, Niederländisch; Gruppe 5: Portugiesisch, Galizisch, Baskisch, Katalanisch, Rumänisch. 140 Sloterdijk, Der starke Grund, Anm. 87; Schmitz, Hitler, 386: „Wenn den Menschen von vornherein beigebracht wird, daß sie mit jedem Recht als dessen unabtrennbare Kehrseite eine Pflicht übernehmen, die in erster Linie nicht eine Pflicht gegen andere einzelne Menschen ist, sondern eine Pflicht gegen eine Gesamtheit von Menschen (und anderen Wesen: Tiere, Pflanzen, Erde, Wasser, Luft), dann kann das Selbstgefühl und Selbstbewußtsein in ein Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsbewußtsein hineinwachsen, von dem es fortan getragen und durchblutet wird. Ein wichtiges Medium ist dafür die gemeinsame Sprache. Sie sollte ein sanctum des Volkes sein, wie es die Stadtmauern und -tore für die Römer waren. Schon das Kind soll lernen, daß die Verantwortung, die es mit jedem Recht, das ihm erteilt wird, übernimmt, nicht bloß die Menschen, die Tiere und die Erde betrifft, sondern auch die Sprache.“
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Verantwortung im Rahmen der Europäischen Union als Kulturgemeinschaft Struktur, Risiko, Zukunft I. Einleitung Es ist eine Alltagswahrheit, dass die positive Gestaltung der Zukunft der Europäischen Union gerade in ihrer aktuellen Fundamentalkrise auf die selbstreflexive und proaktive Verantwortungsübernahme ihrer BürgerInnen angewiesen ist.1 Man verlässt den Bereich der Alltagsklugheit jedoch rasch, wenn man den Themenkomplex im Kontext der Geschichte der europäischen Integration betrachtet. Wie Michael Gehler2 sowie Kiran Klaus Patel3 in ihren jüngsten Reflexionen zur Entwicklung der Geschichte der Historiographie der EU eindrucksvoll zeigten, wissen wir heute schon sehr viel über sie in faktischer, ideengeschichtlicher, rechtshistorischer sowie sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht. Nach einer Phase seit der Jahrtausendwende, in welcher „Großtheorien“ zur Erklärung der europäischen Einigung eher rar gesät waren, nahm auch die interdisziplinäre integrationstheoretische Forschung in den letzten Jahren wieder Fahrt auf und entwickelt neue Ansätze.4 Der begleitende Hintergrund, wahrscheinlich sogar der kausale Auslöser dieser relance der Theorieforschung ist vor allem für die Historiographie darin zu sehen, dass ältere Paradigmen in akute empirische Erklärungsnot kamen. Ihre teleologische Erzählhaltung des „immer mehr Europa“ (im Sinne einer „ever closer union“) konnte die jüngere Krisen- und Desintegrationsgeschichte der EU seit etwa 2008 schlicht nicht erklären.5 Es ist augenscheinlich, 1 Wie sich die Kulturgeschichte Europas in dieser Phase neu besinnen und innovativen empirischen Forschungsfragen zuwenden kann, zeigte jüngst Wolfgang Schmale: Ders., For a “Democratic United States of Europe“ (1918–1951). Freemasons – Human Rights Leagues – Winston S. Churchill – Individual Citizens (Studien zur Geschichte der europäischen Integration 33), Stuttgart 2019. 2 Michael Gehler, The European Union: A Post-Democratic, Post-Modern, and Post-National Empire?, in: Zeitschrift für Geschichte der europäischen Integration 23 (2018), Heft 2, 235–267. 3 Kiran Klaus Patel, Widening and deepening? Recent advances in European Integration History, in: Neue Politische Literatur 64 (2019), Heft 2, 327–357. 4 Im Überblick: Antje Wiener/Tanja A. Börzel/Thomas Risse (Hrsg.), European Integration Theory, Oxford 2019; sowie deutschsprachig: Hans-Jürgen Bieling/Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der Europäischen Integration, Wiesbaden 2012; mit historiographischem Teilfokus auch: Wilfiried Loth/Wolfgang Wesselns (Hrsg.), Theorien europäische Integration, Opladen 2001. 5 Siehe hierzu die Referenzen in Anm. 1 bis 4; sowie auch für die kulturgeschichtliche Theorie der europäischen Integration: Peter Pichler, Towards a Cultural-Historical Theory of European Integration, in: Ders./Florian
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dass die jüngste Krisenzeit der Union, die durch den „Brexit“ sowie die Erosion ideeller Grundlagen des Einigungsprozesses gekennzeichnet ist, durch solche Deutungsmuster nicht erfasst werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch (wieder) die Kulturgeschichte als Theoriewissenschaft gefragt. Die „Neue Kulturgeschichte“ versteht sich als dekonstruktivistisch arbeitende historische Disziplin,6 die einem breiten Kulturbegriff folgend Europa als Ergebnis der Konstruktion in Diskursen untersucht. Hier sind vor allem Wolfgang Schmales Arbeiten zu einer so arbeitenden „Europäistik“ prägend.7 Europa wird in der EU auf eigene Weise mit Sinn ausgestattet, sodass man von „EUropa“ als kultureller Manifestation sprechen kann.8 Als solche Theoriewissenschaft ist die Kulturgeschichte aufgefordert, auf Höhe der Zeit – jenseits von Teleologie und normativem EU-Zentrismus! – die Frage zu beantworten, was die Union als eigenständiges Phänomen ausmacht. Dies betrifft auch wieder ihren seit Jahrzehnten diskutierten „sui-generis“-Charakter.9 Abzielend auf einen Erklärungsmodus, der einerseits der berechtigten Kritik der Teleologie und des EU-Zentrismus, andererseits aber auch dem erkennbaren, historisch eigenem ‚Wesen‘ des Phänomens Rechnung trägt, ist eine solche, gründliche Beantwortung der Frage „Was ist die EU?“ die wichtigste Aufgabe aktueller kulturgeschichtlicher Theorieforschung.10 Die Beantwortung dieser Kernfrage ist ebenso fundamental für den Zukunftsdiskurs. Warum und wie? Nur wenn die Wissenschaft den BürgerInnen ein gut begründetes Bild dessen vermitteln kann, was die EU eigentlich ist, kann sie auch orientierend wirken. So kann sie Wissen zur positiven Zukunftsgestaltung beisteuern. Nur wenn wir fundiert beantworten können, ob, und wenn ja, welche Form der kulturellen Gemeinschaft die EU historisch darstellt, können wir der Frage nach der Verantwortung dieser Gemeinschaft nachgehen. Genau in diesem Sinne spielt die Frage nach dem kulturhistorischen ‚Wesen‘ der EU in die Debatte um die Zukunft hinein.
Greiner/Richard Deswarte/Jan Vermeiren/Fernanda Gallo (Hrsg.), Online Encyclopedia of Ideas of Europe http://www.ideasofeurope.org/encyclopaedia/perspectives/towards-a-cultural-historical-theory-of-europeanintegration/ (abgerufen am 08.12.2019). 6 Grundlegend hierzu: Lynn Hunt (Hrsg.), The New Cultural History, Berkeley, CA 1989; sowie breiter: Peter Burke, Was ist Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2006. 7 Für die „neue“ europäische Kulturgeschichte siehe einführend: Wolfgang Schmale, Geschichte Europas, Wien/Köln/Weimar 2001; Michael Gehler/Silvio Vietta (Hrsg.), Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Methoden, Ansätze und Inhalte (Arbeitskreis Europäische Integration 7), Wien/Köln/Weimar 2010; sowie Achim Landwehr/Stefanie Stockhorst, Einführung in die Europäische Kulturgeschichte, Paderborn 2004. 8 Peter Pichler, EUropa. Was die Europäische Union ist, was sie nicht ist und was sie einmal werden könnte, Graz 2016. 9 Siehe hierzu wiederum die Referenzen in Anm. 4. 10 Pichler, Cultural-Historical Theory.
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Wenn ich hier von ‚Verantwortung‘ spreche, tue ich dies weder aus rein rechtlicher,11 noch philosophischer12 oder gesellschaftspolitischer,13 sondern aus der strukturell-geschichtlichen Perspektive des dekonstruktivistisch arbeitenden Kulturhistorikers.14 Seit den frühen 1950er Jahren bestimmte das, was die EU als Gemeinschaft kulturhistorisch auszeichnete, ursächlich vorher, wofür und wie Verantwortung übernommen werden konnte. Dies gilt bis heute. Es geht mir daher darum, Verantwortungsübernahme als geschichtlich gewachsenen, kulturellen Raum von proaktiven Handlungsmöglichkeiten zu begreifen, dessen Grenzen jedoch kontingent sind. Verantwortungsübernahme ist so betrachtet nicht das strikte, dogmatische Abarbeiten einer Punkteagenda, sondern ein gemeinsames Abstecken der Möglichkeiten, die uns im Rahmen des Zukunftsdiskurses (noch) zur Verfügung stehen. Wenn wir nämlich wissen, was genau uns als EU-BürgerInnen strukturell zur Gemeinschaft macht, können wir hierfür auch besser Verantwortung übernehmen. Meine Kernhypothese ist, dass sich im Zentrum der EU als Gemeinschaft ein geteiltes, strukturelles Grundrisiko befindet, welches von uns allen als europäischen ZukunftsbürgerInnen gemeinsam getragen wird.15 Dieses historisch gewachsene Kulturrisiko besteht im möglichen Verlust der in über sechzig Jahren Integrationsgeschichte immer wieder mühsam errungenen „paradoxen Kohärenz“ von Nationalismus und Supranationalismus. Die eigentliche Leistung der EU und ihrer Vorgängerorganisationen ist es, den fundamentalen Grundkonflikt zwischen nationaler und europäischer Sinnstiftung in Krisenzeiten immer wieder 11 Zum Recht siehe etwa: Jan-Henrik Klement, Verantwortung. Funktion und Legitimation eines Begriffs im Öffentlichen Recht, Tübingen 2006. 12 In der breiten philosophischen Diskussion siehe einführend: Günter Banzhaf, Philosophie der Verantwortung. Entwürfe − Entwicklungen – Perspektiven, Heidelberg 2002; sowie Julian Nida-Rümelin, Verantwortung, Stuttgart 2011. 13 Ethisch und gesellschaftsorientiert vgl. Ludger Heidbrink/Alfred Hirsch (Hrsg.), Verantwortung in der Zivilgesellschaft: Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips, Frankfurt a. M. 2006; sowie dies. (Hrsg.), Staat ohne Verantwortung? Zum Wandel der Aufgaben von Staat und Politik, Frankfurt a. M. 2007. 14 In europäisch-geschichtlicher Hinsicht anschlussfähig sind hierzu jüngere Überlegungen zum Begriff der europäischen Solidaritäts- und Identitätsdebatte. Vgl. hierzu: Wolfgang Schmale, European solidarity: A semantic history, in: European Review of History 24 (2017), Heft 6, 854–874; sowie Christian Calliess (Hrsg.), Europäische Solidarität und nationale Identität. Überlegungen im Kontext der Krise im Euroraum, Tübingen 2013; in breiterer theoretischer Perspektive auch: Peter Pichler, Zeitgeschichte als Lebensgeschichte. Überlegungen zu einer emanzipativen und aktuellen Zeithistoriographie (Gesellschaften und Staaten im Epochenwandel 23), Brüssel u. a. 2017. 15 Vgl. hierzu zum neuen Forschungsfeld der Kulturgeschichte der Europäischen Union: Peter Pichler, European Union cultural history: introducing the theory of ‘paradoxical coherence’ to start mapping a field of research, in: Journal of European Integration 40 (2018), Heft 1, 1–16; sowie ders., What Is the European Union? A Cultural Shared Risk Community! An Answer from European Union Cultural History and the Theory of ‘Paradoxical Coherence’ (unveröffentlichtes Manuskript des Verfassers, momentan im peer-review im Journal of Contemporary European Research); sowie ders., Das produktive Paradox Europa, Die Presse (Spectrum), 6. 7. 2019, III; meine theoretischen Ausführungen basieren auf dem dort entwickelten Theoriebegriff der „paradoxen Kohärenz“ der EU sowie der „kulturellen Risikogemeinschaft“.
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ausbalanciert und „eingerenkt“ zu haben – mal durch „mehr Europa“, mal durch „weniger“. Als pulsierendes Herz stand der Grundkonflikt zwischen Nationalem und Supranationalem seit jeher als Antriebskraft im Zentrum dieser ergebnisoffenen Geschichte und schreibt sie bis heute fort. Dieses produktive Paradoxon machte die EGKS/EWG/EG/EU seit ihrer Frühzeit in den 1950er Jahren zu einer kulturellen Risikogemeinschaft, deren einigendes Strukturband im grundsätzlich ambivalenten Ausbalancieren des Widersprüchlichen besteht. Diese kulturgeschichtliche Struktur der EU als „paradox-kohärentes“ System bestimmte immer den Verantwortungs- und Zukunftsraum der BürgerInnen. Unsere Verantwortung als EU-Risikogemeinschaft besteht daher darin, innerhalb dieser Struktur angesichts und eingedenk dieses Risikos die Zukunft der EU gut zu gestalten. Um diese These zu entwickeln, werde ich daher im Folgenden genau in dieser Reihenfolge zuerst die Struktur der EU als Kultursystem beleuchten (II), dann ihr Grundrisiko erklären (III), um schließlich so die Folgen für die Zukunft und ihrem Verantwortungsraum (IV) eingrenzen zu können.
II. Struktur Die aktuelle Forschung zu Geschichte der Einigung vollzog also in den letzten Jahren eine Wende, die darauf abzielt, die europäische Integration als nicht-teleologische, weniger EUzentrische und ergebnisoffene Geschichte zu schreiben.16 Diese Wende führt zunehmend auch zu neuen empirischen Fragestellungen, da durch den geänderten Blick noch stärker als bisher Phasen der Stagnation, Desintegration und des „weniger Europa“ als für den Einigungsprozess prägend erscheinen. Für diese Neubestimmung der Rolle der EU in der Geschichte ist somit die Frage um ihre ‚Natur‘ wieder virulent geworden, da zwischen Empirie und Theorie eine Erklärungslücke klafft.17 Folgerichtig dekonstruieren jüngere Forschungen das ältere Narrativ empirisch und konzeptionell. Wiederum Patel ging am weitesten, indem er die Union radikal demystifizierte und lediglich davon ausging, dass sie weniger tatsächlich neuartig gewesen sei, sondern sich nur besonders gut selbst diskursiv vermarktet hätte.18 16 Siehe hierzu wiederum: Gehler, European Union; und: Patel, Recent advances; allgemeiner einführend zur Geschichte der europäischen Integration sei hier aus dem deutschen Diskurs auf folgende Werke verwiesen: Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt, Reinbek 2018; sowie Wolfgang Schmale, Was wird aus der Europäischen Union? Geschichte und Zukunft, Ditzingen 2018; und: Peter Pichler, EUropa; schließlich: Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt a. M. 2014. Meine folgenden Ausführungen zum Forschungsstand beziehen sich auf diese Referenzen. 17 Siehe hierzu wieder theoretisch die Referenzen in Anm. 4. 18 Siehe jüngst: Kiran Klaus Patel, Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, München 2018; älter auch: Ders., Provincialising European union: Co-operation and Integration in Europe in a Historical Perspective, in: Contemporary European History 22 (2013), Heft 4, 649–673; perspektivisch gehaltvoll auch: Guido Thiemeyer/ Isabel Tölle, Supranationalität im 19. Jahrhundert? Die Beispiele der Zentralkommission für die Rheinschiff-
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Solche Forschungen sind insofern wichtig, als dass sie neue Fragen anstoßen und neue Querbezüge zu begleitenden europäischen und globalen Kontexten herstellen.19 Man kann jedoch den entscheidenden Nachteil des radikalen Erklärungsversuchs darin sehen, dass man zwar endlich die EU kritischer betrachtet, aber zugleich deren strukturelle Eigenheit als Phänomen in der Geschichte kaum erklären kann. Welche Struktur, welches diskursive System, welche kulturelle Eigenheit steht hinter der von Patel diagnostizierten Fähigkeit der EU, sich besonders erfolg- und historisch folgenreich präsentieren zu können?20 Was genau macht die EU als solches Phänomen eigenen Zuschnitts nach 1945 aus, das offensichtlich kulturell befähigt war, in hohem Maße Sinn und Bedeutung zu stiften? Was genau war der strukturelle Funktionsmodus der EU in der kulturellen Bedeutungsgenese? Man kann den theoretisch-historiographischen Forschungsstand daher so resümieren, dass man richtig erfasst hat, dass die EU durchaus nüchtern zu betrachten ist, diese Nüchternheit aber noch nicht den Blick auf ihre Eigenheit als kulturelle Gemeinschaft freigelegt hat. Es ist daher hoch an der Zeit, eine neue Antwort auf die Frage nach der Struktur der Europäischen Union als kulturellem System zu geben. An diesem Punkt will die Agenda einer eigenen Kulturgeschichte der Europäischen Union („European Union cultural history“)21 als Vorschlag eines neuen Forschungsfeldes intervenieren. Hierin ist es die Ambition, einen Blick auf die EU zu entwickeln, der einerseits der Dekonstruktion Rechnung trägt, dann aber den entscheidenden Schritt weitergeht, die EU angemessen als eigene Kulturstruktur der Zeitgeschichte nach 1945 zu erfassen. Der entscheidende Schritt besteht also vorerst darin, Begriffsinstrumentarien und Erklärungsmodi zu generieren, die dem Eigenen der EU-Kulturhistorie als offener, nicht-teleologischer Geschichte gerecht werden. Blickt man so auf die Zeitgeschichte der Vereinigung Europas, dann zeigt sich, dass das Eigene dieses Prozesses in der Hervorbringung eines strukturell neuartigen Kultursystems bestand.22 Mit der ersten Etablierung einer permanenten, supranational entscheidungsfähigen Organisationsstruktur in der EGKS 195223 wurde der kulturelle Grundkonflikt in die Welt gesetzt, der bis heute die EU als bedeutungsgenerierendes System ausmacht. Man schuf eine Systemkonstellation, in welcher der nationale Sinn der Mitgliedstaaten permanent und paradox-produktiv mit dem supranationalen Sinn in Einklang gebracht und danach in
fahrt und des Octroivertrages 1804–1851, in: Zeitschrift für Geschichte der europäischen Integration 17 (2011), Heft 2, 177–196. 19 Ebd. 20 Patel, Projekt. 21 Pichler, European Union cultural history; ders., Cultural shared risk community; ders., Produktives Paradox. 22 Siehe hierzu auch: Schmale, EU; sowie ders., Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Stuttgart 2008. 23 Vgl. hierzu einführend: Gehler, Europa, 207–250; Loth, Einigung, 34–41; zum Rechtsprozess siehe grundlegend: Ulrich Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext, 3 Bde., Tübingen 2017.
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Balance gehalten werden muss. Der Konflikt zwischen Nationalismus und Supranationalismus wird in der EU lediglich zeitweilig, jedoch sinnstiftend in der Geschichte ‚eingefroren‘. Nicht das Supranationale für sich allein, sondern der Modus wie, wann und wo Nationalsinn und europäischer Gemeinschaftssinn seither austariert wurden, ist das Neue dieser Geschichte. Dieser Modus der „paradoxen Kohärenz“, oszillierend zwischen „mehr“ und „weniger“ Europa, beschreibt den strukturellen Weg auf dem die EGKS/EWG/EG/EU seit über sechs Jahrzehnten Sinn und Identität freisetzt. Der Modus hielt die Geschichte offen, verlieh ihr dennoch über längere Zeitstrecken einen stabilen Charakter. Ich habe diese Theorie der paradoxen Kohärenz folgendermaßen einführend beschrieben: […] we can introduce the notion of ‘paradoxical coherence’ as a description of the form of coherence which is produced by the EU cultural system, emerging from the oscillation between nationalism and supra-nationalism in history; as a spatially and temporally transformative, contingent ‘freezing’ of conflicts in historical time between both discursive forces.24
Wenn man so auf die Struktur der EU blickt, dann kann man sie als eigenes Kultursystem in der Geschichte seit 1952 begreifen, dessen Struktur drauf beruht, dass es folgend dem paradox-kohärentem Sinnstiftungsmuster Identität und Bedeutung in allen in ihr vereinten Diskursen Europas (in Politik, Wirtschaft, Recht, Gesellschaft etc.) freisetzte. An allen bisherigen Nahstellen der europäischen Einigung seit 1952 (etwa im Falle des Scheiterns der EVG;25 in der „Krise des leeren Stuhls“;26 in der „Eurosklerose“ von den 1970ern bis Mitte der 1980er Jahre;27 in der Etablierung und Konstitutionalisierung der EU zwischen Maastricht und Verfassungsvertragsversuch von 200428) ging es kulturgeschichtlich darum, die fragile, jedoch folgewirksame Balance zwischen Nation und Europa zu bewahren oder wieder ‚einzurenken‘. Diese paradoxe Kohärenz macht die EU seither strukturell aus. Sie umklammert die EU und macht sie auf ihren grundsätzlich ambivalenten Wegen zur Gemeinschaft. Es handelte sich jedoch um eine Gemeinschaft, deren paradox-produktive Kohärenz um den ‚Eintrittspreis‘ des Grundrisikos erkauft wurde, welches sich in ihrem Herzen befindet. Diesem Risiko wende ich mich nun zu.
24 Pichler, EU cultural history, 8 (Hervorhebung im Original). 25 Einführend: Gehler, Europa, 242–250; Loth, Einigung, 41–56. 26 Einführend: Gehler, Europa, 280–284; Loth, Einigung, 134–142. 27 Einführend: Gehler, Europa, 292–324; Loth, Einigung, 211–258. 28 Einführend: Gehler, Europa, 382–414; Loth, Einigung, 310–400.
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III. Risiko Der Begriff des Risikos wird heute – verkürzender Weise – oft nur mit finanziellen und wirtschaftlichen Gefahren in Verbindung gebracht.29 Aber nicht nur die Gefahr, Kapital zu verlieren, ist ein Risiko. Spätestens seit Ulrich Becks wegweisenden Forschungen zur „Risikogesellschaft“ wissen wir, dass Risiken wie jene der Atomenergie, der zunehmenden Umweltverschmutzung, des Drohens von Arbeitslosigkeit oder heute vor allem des menschlich generierten Klimawandels gesellschaftsstrukturierende Dimensionen haben. Gefahren und Risiken, auf die uns medial vor allem Bändigungsversuche durch Technik und Wissenschaft aufmerksam machen,30 bringen uns dazu, die Zukunft zu imaginieren – in der Regel als bedrohliche Dystopien. Im durch das Sprechen über Risiken angestoßenen Zukunftsdiskursen wird dann das Wir, welches sich in der Gefahr vereinen soll, um das Risiko zu beherrschen, zur treibenden Kraft.31 In der Tat wird das Wir erst durch Risikodiskurse geboren.32 Es ist die Gefahr, die wir in die Zukunft projizieren, welche uns veranlasst, unsere Gemeinschaft tatsächlich zu leben. Die einigende Kraft des Risikos setzt im Zukunftsdiskurs das Wir als Wir-angesichtsdes-Risikos frei. Wohlweislich ist auch diese Gemeinschaft eine „imagined community“, die keine essentialistische Letztbegründbarkeit kennt.33 Diese Gemeinschaft ist in ihrem Gruppengefühl nicht unbedingt das metaphorische Kaninchen vor der Schlange. Aber das Risiko muss schon als so real und in Diskursen wirkmächtig konstruiert worden sein, dass es einen gehörigen Schatten auf unsere Zukunft zu werfen droht. Historisch gesehen beruhten die Gemeinschaften der Friedensbewegung der 1980er Jahre auf dem Risiko eines zukünftig möglichen Atomkriegs.34 Jene der Frauenbewegung seit dem 18. Jahrhundert benötigten die Imagination einer dystopischen Zukunft, in welcher noch immer patriarchale Strukturen herrschen würden.35 Die Communities der Umweltbewegung seit den 1970er Jahren benötigten das Risikobild einer Zukunft, in welcher der Mensch durch sein toxisches Verhalten Pflanzen und Tieren den Garaus gemacht hätte.36
29 Siehe zur Diskussion: Ortwin Renn/Pia-Johanna Schweizer/Marion Dreyer/Andreas Klinke, Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit, München 2007. 30 Ebd. 31 Diese Argumentation, auch im Folgenden, bezieht sich insbesondere auf: Pichler, Cultural Shared Risk Community. 32 Ebd. 33 Vgl. zu diesem prägenden Konzept der konstruktivistischen Nationalismusforschung: Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. 34 Christoph Butterwegge (Hrsg.), Friedensbewegung – Was nun? Probleme und Perspektiven nach der Raketenstationierung, Hamburg 1986. 35 Ute Gerhard, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009. 36 Joachim Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011.
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Über solche Zukunftsmechanismen nachzudenken ist auch Trumpf, wenn man xenophobischen und populistischen Mythen den Nährboden entziehen will. Der entscheidende Punkt liegt darin, dass auch die Europäische Union eine solche Gemeinschaft ist – und zwar von Anfang an und strukturgeschichtlich begründet. Seit der Begründung der europäischen Supranationalität in der Hohen Behörde der EGKS37 wurde in dieser Struktur systemisch eine kulturelle Gemeinschaft grundgelegt, die nach diesem Muster eines „Wir-angesichts-des-Risikos“ funktioniert. Wie ich ausgeführt habe, ist mit der Hohen Behörde ein kulturelles System installiert worden, in dem der nationale Sinn im Dauerkonflikt mit dem supranationalen Sinn steht. Bis heute sind die Organe der EU, gewachsen in über sechzig Jahren aus dem „Rhizom“38 der EGKS, so Orte der kulturellen Bedeutungsstiftung. Höchst ritualisiert wurde in ihnen seit 1952 jenes zeitweilige, paradox-kohärente ‚Einfrieren‘ des Grundkonflikts geübt und immer weiter verfeinert. Die ‚Familienfotos‘, die wir von europäischen Gipfeln kennen, sind das tatsächliche visuelle Festhalten dieses Prozesses. Es war oft ein Oszillieren, ein Balancieren und auch Austüfteln, aber die EU hat es in Krisenfällen bisher geschafft, den Grundkonflikt Nation vs. Supranationalismus einigend zu bändigen. Dies ist ihre große Leistung.39 Wenn wir so historisch auf diese Geschichte seit den 1950er Jahren blicken, meisterhaft dargestellt von van Middelaar,40 können wir die EU als ein System erkennen, welches ein solches europäisches „Wir-angesichts-des-Risikos“ freisetzte. Die strukturgeschichtlich begründet größte Gefahr, welche ihm seit dem Schuman-Plan droht, ist das Risiko, die Balance zwischen Nationalismus und Supranationalismus wieder zu verlieren. Das ist das systemische Grundrisiko der EU. Die derzeit immer wieder ausgemalte Dystopie des Zerbrechens der Union, samt an Hieronymus Bosch erinnernden Horrorgemälden eines Rücksturzes in den extremen Nationalismus der Zwischenkriegszeit,41 ist die Begleitmusik der Wiedererweckung der kulturellen Risikogemeinschaft, die in der EU seit Anbeginn tatsächlich vorhanden ist.
37 Ausführlicher zur EGKS siehe: Nikolaus Bayer, Wurzeln der Europäischen Union. Visionäre Realpolitik bei Gründung der Montanunion, Sankt Ingbert 2002; Manfred Rasch/Kurt Düwell (Hrsg.), Anfänge und Auswirkungen der Montanunion auf Europa. Die Stahlindustrie in Politik und Wirtschaft, Essen 2007; rechtlich wiederum Ulrich Haltern, Europarecht; sowie Anita Prettenthaler-Ziegerhofer, Europäische Integrationsrechtsgeschichte, Innsbruck/Wien/Bozen 2012, 89–97. 38 Dies nimmt insbesondere Schmales Theoretisierung der EU und europäischer Identität auf. Vgl. Schmale, Identität. 39 Pichler, Produktives Paradox. 40 Luuk van Middelaar, Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa, Berlin 2016. 41 Historisch denkend in diesem Zusammenhang siehe: Schmale, Was wird; sowie scharfzüngig kommentierend: Ivan Krastev, After Europe, Philadelphia 2017.
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In allen Fällen von Krisen, die sich in der Rückschau der Historiographie als Nahtstellen der europäischen Einigung herausgestellt haben – der EVG-Krise;42 dem „leeren Stuhl“;43 der „Eurosklerose“;44 der Verfassungskrise,45 wahrscheinlich zukünftig auch der Migrationsund Demokratiekrise seit 2015 – ging es im Kern darum, den Konflikt zwischen Nationalismus und Supranationalismus zumindest für eine gewisse Zeit wieder in den ‚Eisschrank der Geschichte‘ zu verbannen. Genau dies leistete der Luxemburger Kompromiss von 1966,46 die Einheitliche Europäische Akte47 sowie der Vertrag von Lissabon als kosmetisch revidierte Version der Verfassung vom 2004, welcher substanziell lediglich der nationalistisch so wichtige Begriff der Verfassung entnommen wurde.48 Immer ging es darum, das potentiell mögliche Scheitern der Risikogemeinschaft zu managen – bis heute. Somit ist die EU, heute und seit über sechs Jahrzehnten, eine solche kulturelle Risikogemeinschaft; immer vulnerabel, aber immer ausreichend stabil, Sinn zu stiften – zumindest bis in die jüngste Geschichte. Die Erklärung dieses Charakters der Europäischen Union als Kulturgemeinschaft eigener Art, mit all ihren Folgen für Identitätsdebatten und europäische Sinnfragen, ist das Kernanliegen der „European Union cultural history“.49 Für die Diskussion der Verantwortungsgemeinschaft EU ist das Grundrisiko der entscheidende Aspekt. Wie sich die Gemeinschaft gegenüber ihrem Grundrisiko aufstellt, entscheidet über die Zukunft. Diese Zukunft hat innerhalb der Risikogemeinschaft die doppelte Qualität von fiktiv imaginierten Utopien und Dystopien einerseits sowie der realen Pfadabhängigkeiten und kontingenten Handlungsmöglichkeiten der BürgerInnen andererseits. Die EU-Zukunftsdebatte ist somit ein komplexes Wechselspiel von Fiktion und kommenden Fakten, dem ich mich im letzten Schritt der Reflexion zuwende.
IV. Zukunft Wenn man von der Zukunft der Europäischen Union spricht, oder auch von der Zukunft der Risikogemeinschaft, so spricht man nicht von einer abstrakten Einheit, sondern von der Zukunft von derzeit 513,5 Millionen EU-EuropäerInnen;50 oder noch weiter heruntergebrochen von ergo 513,5 Millionen individuellen, europäischen Wegen in die Zukunft. Ver42 Gehler, Europa, 242–250; Loth, Einigung, 41–56. 43 Gehler, Europa, 280–284; Loth, Einigung, 134–142. 44 Gehler, Europa, 292–324; Loth, Einigung, 211–258. 45 Gehler, Europa, 382–414; Loth, Einigung, 310–400. 46 Gehler, Europa, 280–284; Loth, Einigung, 134–142. 47 Gehler, Europa, 292–324; Loth, Einigung, 211–258. 48 Gehler, Europa, 382–414; Loth, Einigung, 310–400. 49 Vgl. die Angaben in Anm. 16. 50 Gerundete Bevölkerung der EU am 1. Januar 2019. Quelle: Homepage der Eurostat, https://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=1&language=de&pcode=tps00001 (abgerufen am 08.12.2019).
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antwortungsvoll sprechen heißt im Zukunftsdiskurs daher idealiter so über die Zukunft zu sprechen, dass alle diese Menschen darin den für sie bestmöglichen Lebensplatz in der EU finden. Erstens wird dieses Ideal realistischerweise Ideal bleiben müssen. Zweitens ist der Verfasser als Historiker nicht Schreiber der Zukunft, sondern ein wissenschaftlicher Schreiber der Geschichte. Das Ideal kann jedoch als moralischer Kompass dienen.51 Spätestens seit Kosellecks Diktum von der Geschichte als „vergangener Zukunft“ wissen wir dann auch, dass die Geschichte, wie wir sie gegenwärtig schreiben, stark mit unseren Zukunftsoptionen zusammenhängt.52 Orientierend kann die Kulturgeschichte der Risikogemeinschaft daher wirken, wenn sie schlüssig darlegt, wie die derzeitige Union zu jener wurde, die sie heute ist. Dann nämlich kann sie helfen, den geschichtlich gewachsenen Raum von Handlungsmöglichkeiten abzustecken, den wir noch haben. Damit wird die Risikogemeinschaft zum Verantwortungs- und Handlungsraum. Das von uns allen als BürgerInnen geformte „Wir-angesichts-des-Risikos“ ist aufgefordert, sich seine Zukunft im Rahmen des Möglichen proaktiv selbst zu gestalten. Es geht also um die Bewusstmachung von verantwortungsvollen Varianten, die wir als Pfeile noch im Köcher haben. Mein Beitrag zur Verantwortungsdebatte ist somit jener des Kulturhistorikers, der versucht, solche verbleibenden Handlungsoptionen zu eruieren. Ich bin hier durchaus noch optimistisch. Die Kulturgeschichte der EU, wie ich sie skizziert habe, steht noch am Anfang, daher kann sie noch nicht vollständig zeigen, wie die EU kulturell wurde, was sie ist.53 Wenn wir aber zurückgehen zur Struktur der Risikogemeinschaft, dann können wir bereits gut das markante Janusgesicht des Zukunftsdiskurses in ihr erkennen. Die Risikogemeinschaft EU basiert darauf, den Schatten, den das Grundrisiko auf ihre Zukunft wirft, möglichst kleinhalten oder im Idealfall ganz ausschalten zu wollen. Das Grundrisiko ist der mögliche Verlust der paradoxen Kohärenz von Nationalstaat und Supranationalen. Im aktuellen Krisenfall lässt das nicht weniger als ein Zerbrechen der Union als Schatten auftauchen. Die Zukunft hat hier ein Janusgesicht, welches von der in der Struktur der paradoxen Kohärenz systemisch vorhandenen Ambivalenz herrührt. Einerseits muss die Zukunft notwendigerweise als die Dystopie des Zerbrechens gedacht werden, um die Risikogemeinschaft überhaupt zu ermöglichen. Andererseits ist das alltägliche, und schlussendlich verantwortliche Handeln der Risikogemeinschaft aller BürgerInnen auf ein rational so gut wie möglich abgesichertes Zukunftsbild angewiesen, das tatsächliches Entscheiden erlaubt. An dieser Stelle meiner Argumentation kommt der finale Wert der Hypothese der Risikogemeinschaft für den Verantwortungsdiskurs zum Vorschein. Wenn wir das Janusgesicht des derzeit zwischen ‚schlimmer geht immer‘ und Realismus oszillierenden europäischen Zukunftsdiskurses als systemisch und strukturgeschichtlich begründeten Ausdruck der Ri51 Zum Diskurs um die Verantwortung siehe wiederum die Angaben in Anm. 11 bis 14. 52 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979. 53 Vgl. wiederum die Angaben in Anm. 16.
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sikogemeinschaft deuten, ergibt sich, dass wir derzeit schlicht beide brauchen. Die Dystopie, um die Risikogemeinschaft bei Laune zu halten und die realistische Nüchternheit, um tatsächlich in die Zukunft zu gehen. Der ‚Kniff‘, den diese Hypothese ermöglicht, ist dann doch, recht nüchtern den Verantwortungsraum als Handlungsraum zu vermessen, der uns noch zur Verfügung steht. Tatsächlich ist das dann weniger ein Taschenspielertrick als eine sachliche Inventur des derzeitigen Schwingungsraums zwischen borniertem Nationalismus und föderalem Europäismus. Tun wir dies, zeigt die Inventur, dass zwar derzeit schon einiges zum Pol des Nationalismus hinschwingt – so etwa in den Fällen von „Brexit“ sowie von Rechtspopulismen in Österreich, Deutschland, Italien, Polen, Ungarn und anderswo. Zugleich jedoch wird sehr deutlich, dass auch der Pol des supranationalen Europäismus sein gesamtes diskursives Arsenal auffährt: Die Kommission und andere EU-Organe zeigen in den „Brexit“-Verhandlungen bewusst Einheit und Stärke. Die Zivilgesellschaft ist mit Bewegungen wie „Pulse of Europe“54 und eher intellektuellen Konzepten wie „The European Republic“55 so präsent wie lange nicht. Auch in rechtspopulistisch regierten Ländern ist diese Stimme noch lange nicht erloschen. Kurz, so neuartig im Schwingungsraum der Risikogemeinschaft ist die derzeitige Situation dann zumindest strukturell gar nicht. Eher erscheint sie wiederum wie die schon vorher genannten Krisenfälle und Nahstellen des Integrationsprozesses als eine neue solche. An ihr geht es abermals darum, die paradoxe Kohärenz wischen Nationalismus und Supranationalismus eher nüchtern und pragmatisch für die kommenden Jahre ‚einzurenken‘. Dass die Situation dann doch wieder strukturell gar nicht so neu ist, nährt den Optimismus, da wir mit der Struktur schon einiges an Erfahrung haben. Um den Grundkonflikt zumindest für einige Jahre wieder in den ‚Eisschrank der Geschichte‘ zu verbannen, lässt der noch vorhandene, so geschichtlich gewachsene Handlungsraum drei orientierende Schlussfolgerungen zu.56 Sie bewegen sich im Verantwortungsdiskurs notwendigerweise auf der Metaebene, können aber als orientierende Richtschnur dienen. Erstens sollten alle EntscheidungsträgerInnen in Politik, Wirtschaft, Medien etc. ihre Entscheidungen so treffen und den Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit sowie die Institutionenreform so vorantreiben, dass ihr Entscheidungshandeln verantwortungsbewusst dieses gemeinsame Risiko reflektiert, d. h. es verkleinert und nicht vergrößert. Auch sie alle haben das Risiko mit uns gemein, sind in der Regel wie wir RisikobürgerInnen. 54 Homepage der „Pulse of Europe“, https://pulseofeurope.eu/ (abgerufen am 08.12.2019); vgl. dazu auch: Der Beitrag der Pulse of Europe Ortsgruppe Hildesheim in Teil II Abschnitt E) dieses Sammelbandes. 55 Homepage der „The European Republic“, https://european-republic.eu/de/ (abgerufen am 08.12.2019). 56 Dies reflektiert die Erkenntnisse, die ich erstmals bei meinem Vortrag bei den Carinthischen Dialog St. Urban am 06. Juli 2019 präsentiert habe. Peter Pichler, Wann Solidarität, wenn nicht jetzt? Europa als kulturelle Risikogemeinschaft (Unveröffentlichtes Manuskript). Kopie im Besitz des Verfassers.
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Zweitens sollten alle, die mit Bildung, Forschung und Wissenschaft betraut sind, sich ebenso mit der Existenz dieser Risikogemeinschaft denkend und fühlend auseinandersetzen. In der Bildung könnten wir im Bewusstsein von uns als solcher Risikogemeinschaft den so oft zitierten „methodischen Nationalismus“ der Forschung und Schulpläne überwinden. Das Interesse an mehr EU, aber auch mehr Europa jenseits der EU, ist hier der Kernpunkt. Drittens sollten alle BürgerInnen sich ebenso dieser Risikogemeinschaft und ihrer proaktiven Verantwortungsrolle in ihr bewusst werden. Für den Verfasser bedeutet dies, so über die EU - uns alle in ihr – zu sprechen und im Alltag zu handeln, dass wir diesem Grundkonflikt Rechnung tragen. Empathie und Respekt vor den ‚Anderen‘ sind hier der Trumpf. Zusammenfassend besteht also Verantwortungsübernahme für die Zukunft der Europäischen Union aus Sicht ihrer wissenschaftlichen Erforschung als kulturhistorische Gemeinschaft darin, sorgsam und selbstreflexiv jene Handlungsoptionen zu wählen, welche der paradoxen Kohärenz wieder zum Durchbruch verhelfen. Gerade uns BürgerInnen ist es im demokratischen und zivilgesellschaftlichen Prozess selbst überlassen, diese Zukunftswege zu gehen und nicht andere. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“, dichtete bekanntlich Bertolt Brecht 1928.57 Neunzig Jahre später könnte man einwenden, dass europäische ‚Delikatessen‘ wie der grenzfreie Schengenraum, wirtschaftliche Prosperität, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie das historische Ergebnis einer (wenn auch unbewussten) Moral sind, die die Risikogemeinschaft verantwortungsvoll schützte – und sie nicht der gierigen Meute der PopulistInnen und VereinfacherInnen zum Fraß vorwarf.
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Europas Werte und Werte-Krise I. Europäistischer Ansatz Die Frage nach „Europas Werten“ formuliert kein Anliegen im Rahmen einer nationalen Kulturgeschichte oder politischen Nationalgeschichte. Es ist eine Fragestellung im europäischen Rahmen. Sie gehört daher auch nicht in eine nationale, sondern europäische Kulturgeschichte: In den Rahmen der Europäistik. Hermann Haarmann hat den Begriff erfunden, eine von Michael Gehler und mir organisierte Hildesheimer Tagung den Begriff vertieft und ausgeweitet.1 Der Unterschied zwischen national und europäisch ausgerichteten Kulturgeschichten liegt auf der Hand: Erstere sind auf die Nation, letztere auf die internationale Gemeinschaft der europäischen Staaten ausgerichtet. Der zentrale Fokus ist im einen Falle die Nation, im anderen Europa, also nicht das, was die Nation von anderen unterscheidet, sondern das, was die europäischen Nationen eint und Europa von anderen Kontinenten unterscheidet, aber auch mit ihnen teilen kann. Der Skopus der Europäistik hat also eine für Europa integrierende Funktion und in diesem Sinne wird auch im Folgenden die Werte-Problematik behandelt.
II. Europas Werte – ein kursorischer Überblick Europa ist eine Wertegemeinschaft. Nur als solche hat sie sich – bei allen Streitereien der europäischen Nationen und Kriegen gegeneinander – auch politisch zusammenfinden können. Der Prozess der Vereinigung der Länder Europas zur Europäischen Union vollzog sich – auch wenn das in den Verträgen nicht immer explizit wurde – auf der Grundlage eines Identitätsbewusstseins, das sich im Laufe der europäischen Kulturgeschichte entwickelt hat. Schon die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS oder Montanunion, 1952), der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und Europäischen Atomgemeinschaft (EWG und EURATOM) durch die Römischen Verträge von 1957, später zusammengefasst als Europäische Gemeinschaften im Fusionsvertrag von 1965, waren keineswegs nur rein ökonomisch-politische Gemeinschaftsbildungen. Erst recht die Gründung der Europäischen Union am 1. November 1993 ging explizit und entschieden über die Wirt1 Michael Gehler/Silvio Vietta (Hrsg.), Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Wien 2010.
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schaftsgemeinschaft hinaus hin zu einer kulturell verbundenen politischen Gemeinschaft. Diese setzte noch expliziter als die Europäische Gemeinschaft, die Wertegemeinschaft der europäischen Kulturgeschichte als Grundlage voraus. Wertegemeinschaft bedeutet nicht, dass alle Mitgliedstaaten der heutigen EU die Werte in gleicher Weise geteilt haben und vertreten. Es gibt erhebliche Unterschiede in der Partizipation an den Werten und ihrer Akzentuierung zwischen den Nationen. Gleichwohl gibt es einen gemeinsamen Fundus europäischer Werte, wie er sich im Laufe der Geschichte konstituiert, Europa durch die Geschichte geführt hat und heute auch von Europa aus teilweise die Welt beherrscht. Viele der genuin europäischen Werte haben heute globalen Charakter und sind zur globalen Leitkultur geworden. Darauf kommen wir zurück. Welche Werte aber bilden die zentralen europäischen Wertefamilien? Und was überhaupt sind Werte und welche Funktionen haben sie? Ich stütze mich im Folgenden auf meine Monographie zu Europas Werten.2 Alle Kulturen der Welt folgen Werten. Werte bestimmen die Zielrichtungen dieser Kulturen, das Denken, Wollen und Handeln der Menschen in diesen Kulturen. Werte sind in diesem Sinne: Leitvorstellungen für das Denken und Handeln von Menschen in ihren jeweiligen Kulturen. Als solche haben Werte eine intersubjektive Gültigkeit und meist auch eine über Generationen hinausreichende Dauer.3 Werte haben somit eine Funktion nach außen wie nach innen: Sie integrieren Menschen in den Wertekanon einer Gesellschaft, die allererst durch ihre gemeinsamen Werte zu einer Gesellschaft zusammengeschweißt wird. Mit Werten und durch Werte konstituieren sich Gesellschaften. Werte integrieren somit auch den Einzelnen in einen Wertezusammenhang – den der jeweiligen Gesellschaft, in welcher der Einzelne lebt und durch den Werteverbund aufgehoben ist. Werte sind somit auch Machtmittel der Inklusion wie Exklusion, eben derjenigen, die zu einer Wertegemeinschaft gehören und derjenigen, die nicht. Die europäische Kulturgeschichte stützt sich vor allem auf drei Wertefamilien, die die Geschichte Europas und heute auch der Welt geprägt und radikal verändert haben. Dabei will ich vorweg kurz erklären, was ich mit der Metapher ‚Familie‘ meine: Werte entstehen und wirken zumeist nicht isoliert, sondern in einem inneren Zusammenhang mit anderen, ‚verwandten‘ Werten. Solche innere Verwandtschaft von Werten nenne ich: Wertefamilien. Ich vermeide damit den Begriff ‚System‘, weil Werte nicht eigentlich Systeme bilden, wohl aber in einem inneren Zusammenhang stehen. Wir erläutern das jetzt am besten an den drei zentralen abendländischen Wertefamilien:
2 Silvio Vietta, Europas Werte. Geschichte-Konflikte-Perspektiven, Freiburg 2019. 3 Eine ähnliche Definition von Werten als „normative Leitvorstellungen“ gibt Alexander Merkl in seinem Beitrag „Ethik und Militär“ http://www.ethikundmilitaer.de/de/themenueberblick/20182-europaeische-armee/ merkl-die-europaeische-union-und-ihre-werte-normative-leitvorstellungen-oder-moralisches-feigenblatt/ (abgerufen am 09.12.2019).
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1. Die Wertefamilie der Rationalitätskultur. Sie entsteht in der griechischen Antike – unter dem Leitbegriff ‚logos‘ – und dies auch unter Einfluss anderer Hochkulturen wie der babylonischen, ägyptischen, phönizischen. Die Griechen waren, und wussten dies auch, kulturelle Erben, wie Herodot in seinen „Historien“ auf den Spuren der großen Nachbarkulturen nachweist. Die griechischen Kulturwerte sind aber in der Form, wie sie dann in Griechenland aufgenommen und transformiert wurden, eigenständige Kulturleistungen der Griechen.4 Die Wertefamilie der Rationalitätskultur umfasst: a) den Leitwert des eigenständigen Denkens. Das, was die europäische Kultur am nachhaltigsten von allen anderen Weltkulturen unterscheidet, ist der hohe Wert, den sie von ihren frühen Anfängen an auf das eigenständig-kausallogische Denken legte. Das eigene Denken ist einer der höchsten Werte der abendländischen Kulturgeschichte und zugleich Ursprung und Grund einer ganzen Kultur des Abendlandes: der Kultur der Rationalität, wie sie sich in Philosophie und Wissenschaft ausgeprägt hat und in der Form ihrer technischen Umsetzung die heutige Weltgesellschaft prägt. Ziel des kausallogischen Denkens ist die Erkenntnis der Welt (griechisch: kosmos) aus erkennbaren Prinzipien wie Wasser (Thales von Milet), Luft (Anaximenes), Feuer (Heraklit) Atomen (Demokrit), Zahlen (Pythagoreer), also materiellen Grundelementen. Für die Griechen waren das auch die Zahlen. Die Dinge entstehen nach dieser Weltsicht durch Zusammenballung und Zerfall der Elemente. Das bedeutete zugleich das Ende des Mythos und seiner Erklärung des Kosmos aus göttlichen Kräften. Mit der quantitativen Erkenntnisform der Zahlen haben die Pythagoreer den Leitgedanken der ganzen abendländischen Naturwissenschaften und ihrer Umsetzung in Technologie entdeckt. Hier knüpfen die neuzeitlichen Naturwissenschaften mit Kopernikus, Galilei, Leibniz und Descartes an. Der Wert des „rechnenden Denkens“, wie Martin Heidegger das genannt hat, hat heute zur Digitalisierung und Computerisierung beinahe aller Erkenntnisformen geführt. Zu den Leitwerten der Rationalitätskultur gehören weiterhin: b) der Leitwert der Wahrheit und Wahrhaftigkeit als methodisches Ideal des eigenen Denkens wie auch des politischen und des privaten Lebens, c) der Leitwert der Kritik und Kritikfähigkeit als Bedingung der Möglichkeit, zwischen ‚wahr‘ und ‚falsch‘ sowie anderen Alternativen zu unterscheiden, im Zeitalter der ‚Fake News‘ von besonderer Wichtigkeit. Weiterhin gehören zu den abendländischen Leitwerten: d) Demokratie und Toleranz der vor dem Gesetz gleichen Bürger und ihres in ihrer Unterschiedenheit respektvollen Zusammenlebens, e) Freiheit als Bedingung der Möglichkeit eines selbstbestimmten politischen Lebens, f) Individualität, Personalität, Subjektivität als Werte, die die Entwicklungs- und Bildungsspielräume des eigenen Ich ermöglichen, 4 So wurde das phonetische Alphabet von den Phöniziern erfunden, aber von den Griechen um Vokalzeichen ergänzt. Geometrisches Wissen wurde vor allem aus Ägypten, algebraisches aus Babylonien übernommen.
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g) Bildung als Möglichkeit der Entwicklung einer solchen Individualität, Personalität, Subjektivität, also auch die Geschichte der Pädagogik, h) Rechtssicherheit als Bedingung des sicheren und zivilen Zusammenlebens der Bürger, also die Geschichte der Jurisprudenz, i) Wehrhaftigkeit in der Verteidigung der Werte, insbesondere der Werte der Freiheit und Demokratie, j) schließlich der Wert der Technizität als praktische Umsetzung von Rationalität in Technik auf den verschiedensten Anwendungsgebieten. Alle diese Werte haben eine eigene komplexe Begriffs- und Institutionsgeschichte, die ich im erwähnten Buch über „Europas Werte“ entfalte, hier aber nur benennen kann. Insgesamt stellt sich die Rationalitätskultur als eine Wissenskultur dar im Gegensatz zur religiösen Glaubenskultur und ihren Werten. Was verbindet diese Werte zu einer Familie? Es sind alles Werte, die im Umfeld der Rationalitätskultur im Verlauf der europäischen Kulturgeschichte schon zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind, wie ich das bereits in einer früheren Studie gezeigt habe.5 In allen diesen Werten spielt das eigene rationale Denken eine zentrale Rolle für die daraus entstehenden Organisationsformen und auch Instanzen: Ich erwähne die Wissenschaft und Philosophie mit ihren Institutionen der Schulen, Akademien, Gymnasien, im Mittelalter: Klosterschulen und Universitäten. Dazu gehören in der Neuzeit das gedruckte Medium Buch und die öffentlichen Medien als Organe einer wahrheitsgebundenen Berichterstattung und Kritik. Die politischen Organisationen demokratischer Regierungen haben ihre eigenen Organisationsformen geschaffen wie die Agora als rhetorischer Kampfplatz der direkten Demokratie im antiken Griechenland, die Parlamente und Ministerien in den repräsentativen Demokratien, die Institutionen der Verteidigung mit ihren Kasernen und Waffenarsenalen. Die Umsetzung wissenschaftlichen Denkens in technische Anwendung prägte von Anfang an die Kriegstechnik: in der Antike die Torsionsmaschinen und der Phalanxformationen der Krieger, in der Neuzeit die Feuerwaffen. Die europäische Kriegstechnik einschließlich ihrer finanz- und organisationstechnischen Anwendungsformen im europäischen Frühkapitalismus hat die jahrhundertlange machtpolitische Überlegenheit des kleinen Kontinents Europa über alle anderen Weltkulturen bedingt, also die ganze zum Teil auch schreckliche Geschichte des Kolonialismus mit auf den Weg gebracht.6 Seit der frühen Industrialisierung prägt die Technisierung auf Grundlage der rationalen Naturwissenschaften auch die Produktion wie Distribution der Waren, in der postindustriel-
5 Silvio Vietta, Rationalität. Eine Weltgeschichte, München 2012. 6 Siehe dazu Andreas Eckert, Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2006; Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. 6. Aufl., München 2009; Wolfgang Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, 4 Bde., Stuttgart 1983–1990; ders., Kleine Geschichte des Kolonialismus, 2. Aufl., Stuttgart 2008.
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len Ökonomie die Digitalisierung und rationale Organisation den gesamten Produktionsablauf der Industrialisierung 4.0. Vor allem seit der römischen Antike hat darüber hinaus die juristische Rationalität auch das zivile Zusammenleben der Bürger organisiert und so in der neuzeitlichen Aufklärung den zivilen Staat mit der Rechtssicherheit seiner Bürger durch die Abgabe des Gewaltmonopols an diesen erkauft.7 Insgesamt hat die Wertefamilie der Rationalität mit ihrer Entmythisierung der Welterklärung eine stark säkularisierende Wirkung gezeitigt. Das unterscheidet die europäische Kultur fundamental von primär religiös fundierten Kulturen und deren Leitwerten wie dem Islam. 2. Damit komme ich zur europäischen Wertefamilie (2): den religiösen Werten. Diese sind nicht in erster Linie wissensbasierte Werte, sondern Glaubens-Werte. Dazu gehört zunächst: a) die Bedeutung von Religiosität selbst als anthropologischer Grundwert. Religiosität meint jene von dem Theologen Friedrich Schleiermacher so erkannte Anlage des Menschen, in seinem Bewusstsein die Dimension der Unendlichkeit zu haben, die allerdings unbestimmt bleibt und durch keine bestimmte Gottesvorstellung gefüllt ist. Sie ist aber die Bedingung der Möglichkeit von Gottesvorstellungen und Religionen.8 b) Für Europa war dann die Bedeutung der christlichen Religion mit ihren karitativen Werten der Armenfürsorge, Nächstenliebe, Empathie, Gleichheit der Geschöpfe prägend. Aus diesen genuin christlichen Werten entstanden schon im Mittelalter Institutionen wie das Hôtel Dieu, Hospiz als Aufnahme und Pflegeeinrichtungen für Pilger, Arme, Kranke, resultieren die Bettel-, Almosen-, Armenordnungen und Pflegeeinrichtungen, die schon in der Aufklärung von Städten und Staat übernommen wurden und haben im 20. Jahrhundert den modernen Sozialstaat begründet.9 c) Ein Wert, der die christliche Religion nachdrücklich von anderen unterscheidet, ist die Bedeutung der Friedfertigkeit. Im Neuen Testament herrscht eine komplett andere Werteakzentuierung als beispielsweise im Koran, der von Mohammed als ein Leitfaden für die kriegerischen arabischen Völker formuliert wurde mit dem Ziel der Einung dieser Völker und gemeinsamen kämpferischen Ausrichtung gegen die ‚Heiden‘, die ‚Feinde‘ des Islam.10 7 So wird es dargestellt in Thomas Hobbes „Leviathan“ von 1651. 8 „Religion“, sagt Schleiermacher, „ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hrsg. von Hans-Joachim Rothert, Hamburg 1970, 30). Unser religiöser Sinn eröffnet somit ursprünglich einen Bezug zum Universum in seiner Unendlichkeit, ist also selbst so etwas wie eine Unendlichkeitsstelle in unserem menschlichen Bewusstsein. 9 Siehe dazu: Christoph Sachße/Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. I–IV, Stuttgart 1980 ff. 10 In diesem Sinne nimmt Mohammed im Koran auch eine scharfe Abgrenzung des Islam von allen Vorgängerreligionen vor und warnt vor dem Umgang mit den Juden und den Christen: „Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht die Juden und die Christen zu Freunden! Sie sind untereinander Freunde (aber nicht mit euch). Wenn einer von euch sich ihnen anschließt, gehört er zu ihnen und nicht mehr zu der Gemeinschaft der Gläubigen).“ (Der
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d) Von großer Bedeutung in der Gegenwart ist auch der Begriff der Nachhaltigkeit im Sinne des Schutzes und der Bewahrung der Schöpfung. Die Rationalitätskultur ist von ihrer Begründung und Ausrichtung her zunächst nicht nachhaltig, sondern auf Verbrauch der Naturressourcen hin ausgerichtet. Erst durch die „Krise des Wachstums“, die sie mit zu verantworten hat, wird die abendländische Rationalität in Wissenschaft und Technik auch auf das Thema und den Wert der Nachhaltigkeit hin neu justiert. Von ihrer Herkunft her gehören die religiösen Werte in die Familie der Glaubens-Werte, sind daher nicht primär rational begründet, sondern im Glauben und durch ihn. Wenn die Wertefamilie (1) in erster Linie auf Effizienz zielt, begründet die Wertefamilie (2) in erster Linie soziale und mitmenschliche Werte sowie einen für ihn wesentlichen TranszendenzBezug des Menschen. Es sind andere Institutionen, die die Wertefamilie (2) begründet hat: in der Antike Tempel, im christlichen Mittelalter Kirchen, Klöster, Kathedralen, aber eben auch kirchliche Institutionen der Armen- und Krankenfürsorge, im neuzeitlichen Sozialstaat das umfängliche System der Kranken- und Altersversorgung mit entsprechenden Heimen, Krankenanstalten, Versicherungen und einem riesigen Apparat der gesetzlichen Regelungen und Verordnungen. In der Neuzeit und ihrer Verankerung von sozial-karitativen Funktionen in Gesellschaft und Staat sind die sozial-karitativen Werte ein wichtiges Binde- und Integrationsmittel der Gesellschaft des ‚Sozialstaates‘ geworden, dies allerdings in der EU nach wie vor primär nationalstaatlich, nicht gesamteuropäisch organisiert. Das hängt mit den unterschiedlichen Produktionsstandards in den europäischen Nationen zusammen, die ja für die Finanzierung von Sozialleistungen aufkommen müssen. 3. Schließlich die Wertefamilie (3): die patriotischen Werte. Sie ist entstehungsgeschichtlich die letzte der drei Wertefamilien und ist heute auch besonders in Deutschland umstritten: a) Der Patriotismus meint den zentralen Wert einer positiven Beziehung des Bürgers zum eigenen Vaterland und Nation als primärem Lebensraum und, wie wir gerade sahen, Organisationszentrum von Sozialleistungen, auch Bildung, Infrastruktur und damit auch LebensKoran. Übersetzung von Rudi Paret. 12. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, Sure 5,51). Solche Abgrenzung geht über in Androhungen von Gewalt und Höllenfeuer gegen die Ungläubigen: „Euch ist vorgeschrieben (gegen die Ungläubigen) zu kämpfen“ (2,216), die Ungläubigen sind „Brennstoff des Höllenfeuers“ (3,10). Im Gegensatz zu Jesus baut sich der Prophet selbst als ein kriegerischer Vorkämpfer des Islam auf: „Prophet! Führe Krieg gegen die Ungläubigen und Heuchler und sei hart gegen sie! Die Hölle wird sie dereinst aufnehmen, – ein schlimmes Ende.“ (9,73). In der sehr kriegerischen Sure 9 wie anderswo finden sich solche und andere Sätze, die auch als Rechtfertigung für den und Aufforderung zum Heiligen Krieg (Dschihad) gelesen werden können: „Er [Mohammed] ist es, der seinen Gesandten mit der Rechtleitung und wahren Religion geschickt hat, um ihr zum Sieg zu verhelfen […]. Das ist die richtige Religion. […] Und kämpft […] gegen die Heiden, so wie sie […] gegen euch kämpfen. Ihr müßt wissen, daß Gott mit denen ist, die ihn fürchten.“ (9, 33 und 36). Wer im Kampf für den Glauben des Islam fällt, rückt nach der Lehre des Koran gleich im Himmel an privilegierte Plätze.
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qualität eines Landes oder einer Nation. Patriotismus in diesem Sinne meint die positive Beziehung des Menschen zu jenem Staat, in dem er heimisch ist oder heimisch geworden ist und ist nicht zu verwechseln mit Nationalismus als übersteigertem überheblichem Nationenbewusstsein, das man auch Chauvinismus nennt.11 In Deutschland hat Jürgen Habermas mit dem Begriff des „Verfassungspatriotismus“ die existentielle Bildung eines Menschen an sein Land, seine Nation, seine Heimat, seine Muttersprache aufgrund des deutschen Holocaust auszuhebeln versucht, um jene Bindungen durch diesen abstrakten Begriff zu ersetzen.12 Aber zum einen kann ein derart theoretisches Konstrukt nicht die lebendige Bindung von Menschen an ihren Lebensraum ersetzen, zum anderen sind ausnahmslos alle anderen Völker Europas auch bei eigener Geschichtsschuld durchaus stolz auf ‚ihre Nation‘ und würden sich mit einer solchen abstrakten Substitution nicht abfinden. Es ist ja auch bemerkenswert, mit welchem hohen Einsatz von Blut und Leben sich auch die Nationen Europas gebildet haben und behaupten mussten und daher diese eigene Geschichte nicht abstreifen wollen. Zur dritten Wertefamilie gehören weiterhin: b) Heimat als Beziehung zum unmittelbaren Lebensraum der frühen Lebenserfahrungen, c) Familie als die primäre Bezugsgruppe des Menschseins, d) Muttersprache als erste Sprache und Mutter aller weiteren Sprachen. Aber ist es nicht diese dritte Wertegruppe, die Europa mehr spaltet als eint? Historisch gesehen war der Prozess der Nationenbildung ein gesamteuropäischer Prozess. Der vollzog sich in England, Frankreich, Spanien, Portugal und den Niederlanden schon in der frühen Neuzeit, in Deutschland, Italien, Polen im 19. Jahrhundert – und dies als Gegenbewegung zur napoleonischen Eroberungspolitik. Bei einigen slawischen Völkern, so den Teilstaaten der ehemaligen Republik Jugoslawien, auch der ehemaligen Tschechoslowakei, vollzog sich der nationale Einungsprozess auch erst im 20. Jahrhundert.13 Soweit der kursorische Überblick über Europas Leitwerte. Was aber sind nun die kritischen Symptome dieser europäischen Werte in unserer Gegenwart im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts?
III. Krise der Werte Ich nenne und behandele im Folgenden sieben Krisensymptome der europäischen Leitwerte in unserer Gegenwart: 11 Der Begriff geht auf den übersteigerten Nationalismus des französischen Soldaten unter Napoleon, Nicolas Chauvin, zurück. Das kann auch erinnern, dass der übersteigerte Nationalismus mit der Eroberungspolitik Napoleons in Europa sich verbreitete, bei den eroberten Völkern als Gegenbewegung gegen den Eroberer. 12 Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: Rudolf Augstein, Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der national-sozialistischen Judenvernichtung, München 1987, 75. 13 Siehe Vietta, Europas Werte, 348 ff. („Nationenbildung in anderen Ländern Europas“).
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1. die Krise der Produktivität und Technizität – das Armutsproblem, 2. die Krise der Nachhaltigkeit, 3. die Krise der Bildung und Freiheit der Subjektivität, 4. die Krise der Demokratie, 5. die Krise der Friedfertigkeit, 6. die Krise der Religiosität – das Nihilismusproblem, 7. die Krise des Patriotismus – das Einheitsproblem in Europa. Es versteht sich, dass auch diese Krisensymptomatik im Rahmen dieses Aufsatzes nur kursorisch behandelt werden kann. Zunächst: 1. Krise der Produktivität und Technizität – das Armutsproblem Die Hauptquelle des Reichtums in den modernen Industrienationen ist, wie schon Adam Smith erkannte, die industrielle Arbeit.14 Die großen Nationalökonomen des 19. Jahrhunderts, David Ricardo, Karl Marx u. a., folgen ihm darin. Aber wie entsteht Arbeitsteilung? Sie entsteht nicht, wie Émile Durkheim meinte, durch Größe und Dichte einer Bevölkerung:15 Sonst wäre die Arbeitsteilung in Bangladesch oder Burkina Faso in Afrika am weitesten fortgeschritten. Tatsächlich gehören diese dichtest besiedelten Länder zu den ärmsten und unterentwickeltsten Regionen auf Erden. Wer oder was aber gibt überhaupt einen Rahmenplan für die Arbeitsteilung vor und erzeugt so die moderne Arbeitsteilung? Es ist nichts anderes als die rationale Organisation der Arbeit. Sie – die Rationalität in der Organisation der Arbeit – erzeugt das Programm einer arbeitsteiligen Produktion und ist die eigentliche Quelle der Arbeitsteilung. Sie ist damit auch die Quelle der modernen industriellen Erzeugung von Reichtum durch Arbeit. Dort, wo diese rationale Organisation der Arbeit am weitesten vorangeschritten ist, wird auch der größte materielle Reichtum produziert, in den rational unterentwickelten Regionen der Erde aber ist die materielle Armut am schlimmsten. Moderne Industriearbeit folgt dementsprechend einem rationalen Masterplan der industriellen Fertigung, welcher den Prozessverlauf einer Produktionserzeugung in Einzelschritte zerlegt – die „Arbeitsteilung“ –, dies auch im Rahmen einer rationalen Zeitmessung nach Sekunden- oder Minutentakten und im Rahmen einer rationalen Zerlegung von Objektteilen und Arbeitsschritten entlang einer Produktionsstraße. Marx hatte das auch als „Entfremdung“ des Arbeiters von seiner Arbeit beschrieben. Industrielle Arbeit setzt ein Primat der 14 Smith führt die „bedeutendste Steigerung der Produktivität der Arbeit“ auf die „Arbeitsteilung“ („division of labour“) zurück (Adam Smith, Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker. Übersetzt von Monika Streissler, Tübingen 1999, 89). 15 „Die Arbeitsteilung ändert sich in direktem Verhältnis zum Volumen und zur Dichte der Gesellschaft.“ (Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a. M. 1983, 321).
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rationalen Planung vor den einzelnen Arbeitern und vor den einzelnen Arbeitsschritten jedes einzelnen Arbeiters. Der wird damit auch austauschbar bzw. wird bei fortschreitender Industrialisierung – heute auf der Industrialisierungsstufe 4.0 – durch Roboter ersetzbar, eben weil menschliche Arbeit hier im Rahmen eines rational vorgeplanten Arbeitsablaufes de-individualisiert funktioniert und somit auch die menschliche Arbeit in den rationalen Masterplan integriert ist und dessen Vorgaben wie Rhythmus folgen muss. Der Hauptproduktivitätsfaktor moderner industrieller Arbeit ist somit nicht die menschliche Arbeit an sich, sondern die rationale Organisation der Arbeit. Man kann beinahe die Formel aufstellen: Je fortschrittlicher organisiert, desto effizienter bzw. je weniger rational organisiert, desto weniger produktiv – und wir fügen sogleich hinzu: im Rahmen der heutigen globalen Rationalitätskultur. Das ist der Grund, warum ein Land wie Griechenland, in dem viele Menschen in einer einfachen Form der Landwirtschaft, der Fischerei und des Hirtenwesens ohne großen materiellen Reichtum, aber nicht unglücklich lebten, sich in der heutigen EU so schwer tut.16 Aber nicht nur Europa, die gesamte Weltökonomie ist heute in einen Prozess der Vereinheitlichung durch die abendländisch-ökonomische Rationalität hineingezogen, der alle anderen Wirtschaftsformen marginalisiert und auch vernichtet hat. Die okzidentale Rationalität setzt heute weltweit den Standard, wie und welche Waren produziert werden, wie finanziert und der Verkauf organisiert wird und damit eben auch: Was konsumiert wird, und nur wer diesen Standards entspricht und sich sogar zum Vorreiter dieser Entwicklung macht, hat Chancen, sich am Weltmarkt durchzusetzen und materiellen Wohlstand in der globalisierten ökonomischen Rationalitätskultur zu erzeugen. Reichtum und Armut in der heutigen globalisierten Welt verteilen sich somit entscheidend nach dem Rationalitätsstandard dieser Länder und Regionen, und das umfasst sowohl den ökonomischen Produktionssektor wie auch die rationale Organisation des Staates. Dazu gehören Dienstleistungen wie beispielsweise die ärztliche Versorgung auf hohem Niveau medizinischen Wissens, der Diagnostik mit Hilfe von Labortests und medizinischem Gerät u. a. Der Standard der medizinischen Versorgung definiert ja auch den Wohlstand eines Landes.17 16 Das Land weist eben immer noch einen geringen Grad der rationalen Organisation von Arbeit und auch Verwaltung auf, den die EU als Norm voraussetzt, hatte dann durch seinen Beitritt in die Euro-Zone – auch aufgrund gefälschter Daten – Zugang zu billigen Krediten, die das Land konsumptiv verbrauchte und sich dadurch in eine Überschuldung hineinmanövriert hat, die es beim Stand seiner gegenwärtigen Organisation von Arbeit in absehbarer Zeit gar nicht zurückzahlen kann. Die EU-Expansions-Euphorie hat diese unterschiedlichen Rationalitätsstandards der Länder völlig unterschätzt und damit – im Verein mit der rauschhaften Kreditnahme der unterentwickelten Nehmerländer – auch die Krise des heutigen Europa mit heraufbeschworen. 17 Programme wie das United Nations Development Programm (UNDP) zeigen an, dass 90 % des Reichtums der Erde in den Händen von Ländern der nördlichen Erdhemisphäre erzeugt wird mit den Schwerpunkten USA, Kanada, Europa, China, Japan, Südkorea, während große Teile Afrikas südlich der Sahara, Indiens und auch Südasiens von „mehrdimensionaler Armut“ betroffen sind, gemessen an den Indices Bildung, Gesundheit, Lebensstandard, die natürlich vom Stand der rationalen Entwicklung eines Landes und damit seiner Finanzkraft abhängen. „Dagegen reichen die regionalen Raten der mehrdimensionalen Armut (...) von etwa 3 Prozent in
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Armut kann unter dem Gesichtspunkt der Rationalitätsentwicklung eines Landes untersucht werden, weil Wohlstand und Armut mit dem Stand der rationalen Entwicklung eines Landes oder einer Region direkt korrelieren. Dabei zeigt sich, dass Wohlstand nicht notwendig mit Demokratie verbunden ist. Der Lebensstandard im totalitären China ist erheblich höher als im demokratischen Indien. China bevölkern 1,3 Milliarden Menschen, Indien 1,1 Milliarden, beide Länder beinhalten ca. 40 % der Weltbevölkerung, China liegt nach Berechnung des IWF an zweiter Stelle der Weltwirtschaft und produzierte 2018 12.951.512 Mio. US Dollars, Indien liegt an vierter Stelle mit 2.611.012 US-Dollars.18 Es ist klar, dass in beiden Ländern der Reichtum und die Armut höchst ungleich verteilt sind, China aber hat bei seinem gegenüber Indien höheren Produktionsstand eine größere Mittelschicht von ca. 30 Millionen Chinesen gegenüber 6 Millionen Indern und einen weit geringeren Prozentsatz an Menschen, die unter der internationalen Armutsgrenze leben, 17 % in China gegenüber 35 % in Indien. China gibt auch mehr Geld für Gesundheit, Freizeit, Bildung aus als Indien, eben weil es ein höheres BIP produziert. Bekanntlich aber gibt es auch große Unterschiede in der Verteilung von Armut und Reichtum innerhalb Europas und ihrer Nationen. Rationalität korreliert mit Reichtum nicht nur durch Rationalisierung ihrer Produktionslinien, sondern auch in der Verlagerung von Produktion auf solche Produkte und Techniken, die im Entwicklungstrend der Rationalitätskultur liegen. Materieller Wohlstand in Deutschland wird zumeist noch über Industrien erwirtschaftet, deren Gründungen ins 19. Jahrhundert fallen wie der Maschinenbau, Chemie, Elektrotechnik, Pharmazie, wobei diese Industrieformen natürlich dauernd modernisiert wurden. Unter den wichtigsten Exportgütern Deutschlands mit insgesamt 1,3 Billionen Euro im Jahre 2018 rangieren in folgender Reihenfolge: Kraftwagen, Maschinen, chemische Erzeugnisse, Datenverarbeitungsgeräte, Elektrische Ausrüstungen, Pharmazeutische Produkte, Nahrungsmittel, Bekleidung.19 Es ist aber absehbar, dass die vor allem in den USA und auch China entwickelte digitale Technologie eine Führungsrolle in der gesamten rationalen Wirtschaftsproduktion übernehEuropa und Zentralasien bis 65 Prozent in Afrika südlich der Sahara. Zwar sank „der Anteil der Unterernährten [...] weltweit von 15 Prozent zwischen 2000 und 2002 auf etwa 11 Prozent zwischen 2014 und 2016. Weltweit waren zwischen 2014 und 2016 793 Millionen Menschen unterernährt, während es zwischen 2000 und 2002 noch 930 Millionen waren. In Südasien und Afrika südlich der Sahara lebten im Zeitraum 2014-2016 63 Prozent aller Unterernährten weltweit.“, https://www.un.org/Depts/german/millennium/SDG%20Bericht%20 2017.pdf (abgerufen am 09.12.2019). 18 Liste der Länder nach Bruttoinlandsprodukt, https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Länder_nach_Bruttoinlandsprodukt (abgerufen am 09.12.2019). 19 Im Jahr 2018 wurden Kraftwagen und Kraftwagenteile im Wert von rund 230,23 Milliarden Euro aus Deutschland exportiert. Insgesamt wurden in Deutschland im Jahr 2018 Waren und Güter im Wert von rund 1,32 Billionen Euro exportiert. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/151019/umfrage/exportgueter-ausdeutschland/ (abgerufen am 09.12.2019).
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men wird und dies auch schon tut. Europa hat, nachdem es in der frühen Entwicklungsphase dieser Technologien eine Führungsposition innehatte, die weitere Entwicklung regelrecht ‚verschlafen‘. Die weitere ökonomische Entwicklung Europas wird auch davon abhängen, ob Europa auch technologisch aufholen und den Anschluss an die Spitzentechnologie der Digitalisierung und auch Künstlichen Intelligenz (KI) wiederherstellen kann. 2. Krise der Nachhaltigkeit Rationale Produktivität ist von ihrer Genese her nicht nachhaltig. Die antike wie neuzeitliche Rationalitätskultur hat ohne Rücksicht Minen ausgebeutet, Wälder abgeholzt für den Schiffwie Städtebau und zur Wärmeerzeugung und damit schon in der Antike ganze Landstriche wie die östliche Adriaküste verkarstet. Zur eigentlichen Großoffensive des Menschen gegenüber der Natur kam es aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Abholzung riesiger Territorien in den Regenwäldern Südamerikas und Asiens, der Überfischung der Meere und der Ausplünderung der Bodenschätze Afrikas, letzteres insbesondere im neokolonialen Stil auch durch asiatische Großmächte wie Indien und China. In den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts entstand eine massive ökologische Bewegung, die nachdrücklich auf die „Grenzen des Wachstums“ hinwies – so der Titel einer Studie des sog. „Club of Rome“ aus dem Jahre 1972, die auch konkrete Berechnungen vornahm, wie lange die Vorräte der Erde bei dem gegenwärtigen Rohstoffverbrauch halten würden. Einer der großen ökologischen Kritiker von einst und Mitautor von „The Limits to Growth“, Jorgen Randers, gibt heute eine abgemilderte Zukunftsprognose ab für die Weltgesellschaft in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Nach Randers wächst die Weltbevölkerung bis ungefähr 2040, erreicht dann einen Höhepunkt von über 8 Milliarden, um dann kontinuierlich abzunehmen. Randers prognostiziert einen Höchststand der Erwerbstätigen, darunter nun auch viele Frauen, zwischen 2020 und 2030, geht davon aus, dass das weltweite BIP langsamer wachsen, weniger ökologische Schäden anrichten wird, viele Mittel aber dann auch in die Reparation ökologischer Schäden fließen werden.20 Einen direkten Kollaps der Weltgesellschaft und Zusammenbruch ihres Wirtschaftssystems sieht Randers nicht heraufziehen. Gleichwohl sind insbesondere die Daten der Klimaerwärmung dramatisch und deren Folgelasten werden die Menschheit wohl in eine bis dahin nicht gekannte Situation des Krisenmanagements stürzen. Was kann man dagegen tun? Die fundierteste Studie zum Thema im deutschen Sprachraum ist das Buch von Felix Ekardt: „Theorie der Nachhaltigkeit“. Ekardt diskutiert über viele Seiten sowohl die philosophischen wie auch juristischen Aspekte einer Nachhaltigkeitstheorie und kommt dann zu einem einfachen Befund: „Die vordergründige Hauptursache für fehlende Nachhaltigkeit in 20 Jorgen Randers, 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre, München 2012, 87 ff.
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puncto Klima und Ressourcen, etwa in Gestalt des übermäßigen Gebrauchs fossiler Brennstoffe, ist also nicht mangelndes Wissen. Sie ist im Grunde erschreckend einfach, und zwar weltweit: Jene Hauptursache ist der im Okzident hohe und auch in den Schwellenländern steigende, ressourcenintensive Wohlstand.“21 Der Verfasser führt denn auch eine Vielzahl von psychologischen Motiven auf, die das Abweichen vom Wachstums- und Verbrauchspfad eher verhindern als erleichtern, darunter die „Neigung zu Gewohnheit, Bequemlichkeit, Verdrängung, Geltungsdrang, Selbsterhaltung“.22 Ekardt macht auch klar, dass eine einfache „Kapitalismuskritik“ alten Schlages hier nicht weiterführt. Und schon gar nicht ist der Sozialismus-Kommunismus eine Alternative. Jüngst hat Hubertus Knabe in einem Beitrag in der WELT noch einmal aufgezeigt, wie katastrophal zerstörerisch in der DDR mit den Naturressourcen umgegangen wurde.23 Ein Beitrag in der ZEIT macht sich sogar stark dafür, die „wirtschaftliche Fortschrittsmaschine“ des „Kapitalismus“ anzuschmeißen, um die klimaneutralen Technologien zu entwickeln, mit denen wir weiterhin Wohlstand generieren und mobil sein können, ohne die Erde zu belasten.24 Bei dem Wert ‚Nachhaltigkeit‘ handelt sich also um ein „Kollektivproblem“, an dem wir alle mehr oder weniger durch jeden Auto-, Bahn- oder Flugzeugtransport und auch Warenkonsum teilhaben. Wir alle bewegen uns im gängigen Zivilisationsmuster einer technisch industriellen Gesellschaft, die gegenwärtig noch viel zu verbrauchsintensiv ist, auch bei reduziertem Stromverbrauch oder sonstiger Ressourceneinsparung. Bei diesem Werte-Problem ist es also nötig und nützlich, im Sinne der Nachhaltigkeitstheorie für einen anderen, sparsameren Lebensstil zu werben und die Ökonomie möglichst auf eine innovativ-nachhaltige Technologie umzustellen. Große Teile der Mobilitätstechnologie müssen elektrifiziert werden, um Treibhausgase einzusparen, insbesondere den Hauptklimaschädling CO2. Ein Weltökonom wie Jeffrey Sachs sieht um 2050 eine Deadline für eine klimaneutrale Erde.25 Ohne eine hoch entwickelte und intelligente, aber nachhaltig programmierte Technik werden allerdings die Probleme einer fortgeschrittenen technischen Industriegesellschaft nicht zu lösen sein. Auf einem solchen Wege befinden sich ja auch die europäischen Gesellschaften und auch – trotz ihres Präsidenten – einige Staaten in den USA. Es ist für das Überleben dieser Zivilisation lebenswichtig, Ressourcen sparsam zu nutzen, Dinge nicht auf Verschleiß, sondern auf Haltbarkeit hin zu produzieren und bei Schaden reparieren zu können, recyclebares Material in der Produktion wiederzuverwenden und den 21 Felix Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit. Ethische, rechtliche, politische und transformative Zugänge – am Beispiel Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel, 2. vollständig überarbeitete und aktualisierte Aufl., Baden-Baden 2016, 131. 22 Ebd., 135. 23 „Sozialismus ist keine Lösung auch beim Klima“ DIE WELT, 29. 8. 2019. Knabe zeigt, dass gerade durch den Mauerfall der ökologische Standard im Osten Deutschlands erheblich angehoben wurde. 24 Uwe Jean Heuser, „Alles auf einmal. Die Menschheit kann das Klima retten und den Wohlstand steigern – unter einer Bedingung: Sie muss radikal werden.“ DIE ZEIT, 29. 8. 2019. 25 DIE ZEIT, wie Anm. 24.
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Plastikkonsum durch abbaubare Materialien zu ersetzen, zum Beispiel Plastikteller durch Teller aus gepressten Palmblättern, die jede Kuh verdauen und die Natur kompostieren kann. Dazu gibt es auch bereits eine Fülle von Literatur, u. a. von der Bundesregierung selbst. 3. Krise der Bildung und Freiheit der Subjektivität Mit den Griechen beginnt in Europa auch eine abendländische Kultur der Freiheit und der Selbstentfaltung des Ich – allerdings dort nur erst für die griechisch-männlichen Vollbürger, nicht für die Sklaven, nicht für die Frauen. Erst spät, erst im 19. Jahrhundert wurde in den meisten Ländern die Sklaverei aufgehoben, erst nach 1945 in Europa die Rechte der Frauen denen der Männer formell gleichgestellt, im Grunde geht aber dieser Kampf noch immer weiter und steckt im Islam vielfach noch in den Anfängen. Bereits mit der frühen Industrialisierung entsteht eine Krisensymptomatik der Subjektivität, die die Soziologie unter dem Begriff der ‚Masse‘ registrierte. Mit der Urbanisierung, auch Proletarisierung der Bevölkerung, entwickelt sich nämlich eine neue großstädtische Masse, wie sie Gustave le Bon in seinem Buch „Psychologie der Massen“ von 1895 beschrieben hat: Der Typus einer denkunfähigen und auch denkunwilligen Masse, unfähig zu eigenem Urteil, daher anfällig für suggestive Wörter, Bilder und emotionale Reden und somit Wachs in den Händen von Diktatoren. Dagegen beschwor Émile Durkheim schon 1902 in seiner Vorlesung über „Erziehung, Moral und Gesellschaft“ die Leitwerte der abendländischen Individualitätskultur: Stärkung der Vernunftnatur, Würde, Autonomie des Menschen als dessen geradezu sakralen Kerns.26 Das 20. Jahrhundert hat einen schrecklichen Totalitarismus hervorgebracht, der das Individuum, das sich dagegen auflehnte, vernichtete, auch physisch und dies im Nationalsozialismus wie Kommunismus. Das frühe 21. Jahrhundert zeigt gegenwärtig durchaus ähnliche Krisensymptome und diese wahrscheinlich auch verstärkt durch die neuen Kommunikationstechnologien. Die ältere Schriftkultur förderte reflexives und analytisches Denken, die neuere Video- und Twitterkommunikation der Social Media neigt eher zum Typus des ausbruchhaft emotionalen Reagierens. Der amerikanische Soziologe Robert D. Kaplan bringt den neuen Typus des in emotionalen Kurzbotschaften agierenden Politikers wie Donald Trump in diesen Zusammenhang einer radikal veränderten Kommunikationswelt, die eben nicht mehr primär analytisches Denken fördert, sondern rabiate und auch enthemmte (Re-)Aktionen.27 Zur Krise der Subjektivität gehört sicher auch jener Rationalisierungsprozess von Arbeit, den ich oben beschrieben habe, der dazu tendiert, sich mit KI zu verselbstständigen, den Menschen selbst aus dem Produktionsprozess zu desintegrieren, eine Tendenz, die bei vielen 26 Émile Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/03, Frankfurt a. M. 1984, 153 ff. 27 DIE WELT, 12. 8. 2019.
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Menschen Angst und Unsicherheit auslöst. Die werden die zukünftige Umstellung von Arbeit auf weitgehend automatisierte Prozesse nach Industrie 4.0 begleiten. Das moderne Subjekt in der europäischen Gesellschaft lebt somit in einer Ambivalenzstruktur: Einerseits mehr Freiräume für sich zu haben und, sozial und auch medizinisch besser versorgt zu sein als jemals in einer Gesellschaft zuvor. Andererseits leben auch in Deutschland viele Menschen trotz harter Arbeit an der Armutsgrenze, fühlen sich einsam, desintegriert, hilflos. Die unheimliche Zunahme von Drogen in den gesamten westlichen Gesellschaften ist ein Indiz dieser Verunsicherung und Krise der Subjektivität in der westlichen Welt. Zustände der Verwahrlosung und der Prekariatsbildung begleiten diesen Desintegrationsprozess der Subjektivität.28 Mit Sicherheit ist Bildung ein zentraler Wert, mit dem diesem Prozess gegengesteuert werden kann. 4. Krise der Demokratie Zu den Hochwerten der europäischen Kulturgeschichte gehört die Erfindung der Demokratie. Sie wird heute in allen großen Reden auf die EU als eine Haupterrungenschaft der europäischen Kultur gepriesen im Verbund mit weiteren Begriffen wie Toleranz, Menschenrechte, Freiheit u. a. Dabei blühte die Demokratie in der Geschichte Europas nur für kurze Zeiten. In der griechischen Antike ging sie nach wenigen Jahrzehnten wieder unter, um in der neuzeitlichen Aufklärung wieder entdeckt und als Theorie der parlamentarischen Demokratie weiterentwickelt zu werden: Hobbes, Locke, Rousseau, Montesquieu sind die Leuchtfeuer dieser europäischen, dann auch amerikanischen Theorieentwicklung und dann auch praktischen Umsetzung in den USA.29 In den meisten Ländern Europas blühte die Demokratie aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Reimport aus den USA wieder auf. Der Wert der Demokratie war in Europa immer auch umstritten: Ist sie nicht auch eine Form der Pöbel-Herrschaft? Gibt sie nicht Macht in Hände, die damit nicht vernünftig und rational umgehen können? Und: Leben wir eigentlich noch in einer gut funktionierenden Demokratie, wenn bei vielen Wahlen ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung gar nicht mehr von seinem Wahlrecht Gebrauch macht und viele Politiker überhaupt nicht mehr das unserer Zeit angemessene Problembewusstsein zu haben scheinen? Die Demokratie steht in einem engen Verbund mit den anderen abendländischen Grundwerten: dem eigenen Denken, der Suche nach Wahrheit, der Kritik, der Behauptung von Freiheit, Individualität, der Rechtssicherheit, aber auch der Wehrfähigkeit einer Kultur. Sie ist somit eng verbunden mit der Geburt der Rationalität im antiken Griechenland als einer Neubegründung aller Sektoren der Kultur. 28 Siehe dazu u. a. Guy Standing, Prekariat. Die neue explosive Klasse, München 2015. 29 Siehe dazu: Frank R. Pfetsch, Theoretiker der Politik. Von Platon bis Habermas. Unter Mitarbeit von T. Kreihe und M. Stachura, München 2003.
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Die gegenwärtigen Probleme der Demokratien nicht nur in Europa, sondern weltweit hängen offenbar mit der Krise all dieser Werte selbst zusammen. Wenn die Demokratie, wie schon Perikles in seiner berühmten Preisrede auf diese erkannte, auf der Denk- und Bildungsfähigkeit seiner Bürger beruht, dann bedingt deren Krise auch eine der Demokratie.30 Und wenn bereits die Massenpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts vor dem Typus einer denkunfähigen und auch denkunwilligen Masse warnte, so ist die moderne Demokratie des frühen 21. Jahrhunderts mit genau diesen Problemen behaftet. Wir haben im vorigen Kapitel ergänzt: Auch die neuen Kommunikationsmedien, die schnelle suggestive und emotionale Reaktionen fördern und reflexive Strukturen eher behindern, sind für differenzierte politische Urteile bei bildungsschwachen Menschen nicht förderlich. Zu einer funktionsfähigen Demokratie gehört auch eine offene Medienpolitik: Eine Politik des Verschweigens von Problemen, wie sie viele öffentliche Medien in der BRD nach dem Sommer 2015 praktizierten bis hin zum (anfänglichen) Verschweigen und Vertuschen von Kriminalität von Immigranten, hat eine offene demokratische Diskussion dieser Probleme eher behindert als befördert und sicher auch zur Skepsis gegenüber den Massen-Medien beigetragen. Eine große Gefahr für die demokratische Meinungsbildung ist auch die Konzentration von Massenmedien in wenigen Unternehmerhänden, die ihrerseits die Freiheit der Meinungsbildung behindern können. Schließlich ist die Kritikfähigkeit der Bürger ein hoher Wert und eine der wichtigen Voraussetzungen der Demokratie und dies im Zeitalter der ‚Fake News‘ umso mehr. Gleichwohl und trotz dieser Werte-Krisen ist die Demokratie in Europa nicht in Gefahr, aber muss selbst noch viel mehr in Bildung und Integration investieren, wenn sie eben jenen mündigen Bürger haben will, der eine tragfähige Säule und Stütze der Demokratie sein kann.31 5. Krise der Friedfertigkeit An der politischen Einung Europas wird immer wieder gelobt, dass sie Europa, das sich jahrhundertlang bekriegt hat und am Ende sogar zwei verheerenden Weltkriegen ausge30 Perikles forderte von den Athener Bürgern in seiner Preisrede auf die Demokratie 331 v. Chr. Mut, Toleranz, Engagement und Wehrfähigkeit der Bürger für diese. In diesem Sinne sei die Demokratie in Athen eine „Bildungs- und Erziehungsstätte“ für ganz Griechenland, heute kann man sagen: der Welt. Über diese Rede berichtet Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Buch 2, Kap. 37 ff. 31 Es versteht sich, dass wir hier nicht die breite Problematik der Integration von Migranten und deren oft mangelnden Sprachkenntnissen und Bildungsvoraussetzungen diskutieren können. Aber es ist offensichtlich, dass diese Integrationsproblematik nicht in erster Linie eine der Rasse ist, sondern der Bildungsvoraussetzungen. Ein gut ausgebildeter Arzt aus Asien oder Afrika oder woher auch immer hat kein Problem, sich in die europäische Gesellschaft einzufügen, aber es ist sehr schwer, einen weitgehend ungeschulten Migranten ebendort zu integrieren.
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setzt war, friedlich gemacht habe. Man muss dazu allerdings auch sagen, dass die europäischen Großmächte genau diesen Status nach dem Zweiten Weltkrieg auch verloren hatten und nicht mehr zum Kreis der Global Player um die Weltmacht gehörten. Die neuen Großmächte waren und sind die USA, Russland und heute sicher China. Und diese machen heute alle eine nationale Machtpolitik. Die schöne Vorstellung, dass das Ende des Kalten Krieges in eine Welt der Harmonie und des Friedens führen würde, war eine Illusion. Und es ist wahrscheinlich auch eine Illusion, dass die Weltgesellschaft in Zukunft harmonisch und friedlich zusammenleben wird. Zwar ist die Friedensbotschaft Jesu Christi eine Hauptsäule der abendländischen Werte-Welt: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“32 Den Gegenentwurf zur christlichen Friedensphilosophie aber hat der große englische Aufklärer Thomas Hobbes formuliert. Nach Hobbes ist der Naturzustand des Menschen eher durch ein wölfisches Gegeneinander der Menschen charakterisiert. Hobbes sieht die Naturanlage des Menschen also keineswegs friedlich, sondern eher aggressiv und auf den eigenen Vorteil bedacht: „Erstens, die Menschen liegen der Ehre und Würde wegen in einem beständigen Wettstreit; [...] Unter den Menschen entsteht hieraus sowie aus weiteren Ursachen häufig Neid, Haß und Krieg“.33 Dementsprechend ist die „Eintracht“ unter Menschen nach Hobbes nicht „ein Werk der Natur“, sondern „ein Werk der Kunst und eine Folge der Verträge“.34 Auf diese Weise erfolgt bei Hobbes überhaupt die Gründung des Staates als eine vertragliche Abtretung der Gewalt der Bürger an diesen mit dem Ziel des Schutzes des eigenen Lebens und Eigentums gegenüber den Mitmenschen durch jenen. Der Staat als die nun einzige Quelle von Macht und Gewalt erhält damit eine fast mythische Autorität, wie dies der biblische Name des „Leviathan“ auch ausdrückt. Das Problem Europas und der Welt aber besteht heute darin, dass solche regulierenden politischen Superstrukturen, wie es der Nationalstaat für dessen Bürger war, weder auf europäischer und erst recht nicht auf globaler Ebene gibt. Ich will damit nicht ausschließen, dass
32 Im selben Evangelium lehrt Jesus bei einer Ohrfeige auch noch die andere Wange hinzuhalten. „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ Von Jesus überliefert Matthäus allerdings auch den irritierenden Satz: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“, den er im Kontext seiner Gefolgschaftsbegründung ausspricht. Er mahnt allerdings im selben Evangelium auch einen seiner Gefolgsmänner ab, sein Schwert nicht gegen Judas und die Verfolger zu gebrauchen: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen.“ Dass die ‚christlichen‘ Kreuzritter und neuzeitlichen Kolonialkrieger das Christentum geradezu in ihr Gegenteil verkehrt haben und schrecklich gegen die ‚Heiden‘ und Indigenen wüteten, steht auf einem anderen Blatt, gehört aber heute auch zum problematischen Erbe der europäischen Kulturgeschichte. Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers. Mit Apokryphen, Stuttgart 1999, hier Mt. 5,9. Die beiden nächsten Zitate Mt. 5,39, Mt. 10,34 und Mt. 26,52. 33 Thomas Hobbes, Leviathan. Erster und Zweiter Teil. Übersetzt und herausgegeben von J. P. Mayer, Stuttgart 1974, 174. 34 Ebd., 154.
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es das noch geben wird, aber im Augenblick existieren solche Strukturen wie in der UN erst ansatzweise. Nun gibt es eine soziologische Theorie, die den Mensch eher im christlichen Fahrwasser als „empathisches“ Wesen sieht. Die Grundform des Menschseins sei die des „homo empathicus“.35 Die ganze Evolutionsgeschichte laufe über Empathieprozesse, die neue globale Gesellschaft werde eine der Empathie sein.36 Aber das ist wohl bestenfalls eine schöne Utopie. Denn zum einen bedeutet Empathie nicht nur Lernen des harmonischen Zusammenseins, sondern auch aggressives Verteidigen von Eigenem und Eigenrechten – auch das lernt bereits jedes Baby. Zum anderen unterschätzt Rifkin die Größendimension der globalen Gesellschaft: Ein empathisch-harmonisches Miteinander ist bei der demographischen Größenordnung schon der heutigen Weltbevölkerung von 7,6 Milliarden und wohl auch der noch größeren zukünftigen Weltgesellschaft von geschätzten über 8 Milliarden Menschen bei schrumpfenden Ressourcen der Erde und großen Armutsregionen eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich. Rifkin meint: Die „Kosmopolitisierung“ führe zu einem harmonischen Miteinander, „Niemand ist mehr fremd.“ 37 Aber weder stimmt das in der Theorie noch in der Praxis: Die Differenzen in den Kulturen und Religionen sind keine quantité négligeable, sondern führen zu erheblichen Spannungen allerorten. Die gegenwärtige Weltzivilisation lässt einerseits die Menschen kommunikationstechnisch zusammenrücken, befördert anderseits aber gerade deshalb auch Abgrenzungsstrategien: so gegenwärtig in den USA, China, Japan, Australien, in den islamischen Ländern und auch Europa. Man braucht nicht die Hobbes’sche These vertreten, dass jeder Mensch jedes Menschen Wolf sei („homo hominis lupus“), um einzusehen, dass der Zusammenprall der Menschenmassen und auch Kulturen einschließlich der religiösen Gegensätze auch Prozesse der Abgrenzung fördern wird, die ihrerseits auch der Wehrhaftigkeit eine neue Bedeutung zuordnet, wenn man nicht von jenen überrollt werden will.38 Die Weltgesellschaft, in der wir uns bereits befinden, ist über die europäische, heute globale Rationalitätskultur einschließlich deren Kommunikationsformen und -techniken hergestellt worden, dazu gehört auch das moderne großtechnische Waffenarsenal der Großmächte. Dieses zu entfesseln, könnte für die ganze Erde lebensgefährlich sein. Die Menschheit wird gezwungen sein, die Konflikte auf Erden möglichst friedlich und diplomatisch zu regeln. Aber Europa sollte auch nicht zu sehr darauf vertrauen, dass es keine kriegsähnlichen Kon35 Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Aus dem Englischen von U. Bischoff u. a., Frankfurt a. M./New York 2010. 36 Ebd., 69 ff. und 313 ff. 37 Ebd., 335. 38 Das gilt insbesondere für den kriegerischen Islam, wie er sich im IS und auch in der Hisbollah explizit kämpferisch gegenüber der westlichen Welt zeigt. Letztere Bewegung rühmt sich auch, über ein Arsenal von „Präzisionsraketen“ zu verfügen, die gegenwärtig auf Israel gerichtet sind, aber sicher auch auf europäische Hauptstätte gerichtet werden können.
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flikte mehr geben wird, und dieser Kontinent nicht auch da hineingezogen werden kann. Die völlige Vernachlässigung einer Rüstungspolitik wäre wahrscheinlich weltpolitisch gesehen ein großer und gefährlicher Fehler. 6. Krise der Religiosität – Das Nihilismusproblem Die europäische Rationalitätskultur hat eine säkularisierende Wirkung. Sie hat den Mythos ausgehebelt und die Religionen kritisch hinterfragt. Es gibt seit dem griechischen Vorsokratiker Xenophanes ein zentrales rationales religions-kritisches Argument, das über die neuzeitliche Aufklärung, von Friedrich Nietzsche bis hin zu Richard Dawkins, im Kern identisch geblieben ist: Der Mensch betet, wenn er die Götter oder den Gott anbetet, eigentlich seine eigenen Vorstellungen an, die er in den Himmel hinaufprojiziert. Die Vorstellungen von Göttern oder eines väterlichen Gottes sind eigentlich nur menschliche Projektionen. Xenophanes meinte bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. : „Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art selbst gerade das Aussehen hätte.“39 Mit anderen Worten: Jede Art und Rasse malt sich ihre eigenen Götter, diese sind also letztlich Abbilder ihrer Schöpfer selbst. Die neuzeitliche Aufklärung führte die Göttervorstellungen in diesem Sinne auf menschliche Gefühle wie Angst und Hoffnung zurück (David Hume), Hegel die Gottesvorstellung insgesamt auf das menschliche Subjekt und darin folgten ihm auch Feuerbach und Nietzsche, wenn sie das Geheimnis der Religion in der Anthropologie erkannten. Nietzsche resümiert lapidar: „Gott ist todt“.40 Die Literatur und das Denken des ausgehenden 19. sowie 20. und 21. Jahrhunderts ist dann bestimmt durch ein Krisenbewusstsein des Werteverlustes – „Nihilismus“ – wie es Nietzsche nennt, der ‚Entwertung‘ der „obersten Werte“: „was bedeutet Nihilism? – daß die obersten Werthe sich entwerthen und er fügt hinzu: „es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ‚Warum?‘“.41 Das führt nach Nietzsche zu einem Zustand der Orientierungslosigkeit: (ebd.). Solcher „Nihilismus“ entsteht als Folge der rationalen Religions- und Metaphysikkritik und ist selbst ein Ergebnis der abendländischen Aufklärung und ihrer zunehmenden rationalen Einsicht in den Menschen selbst und die Produktionslogik seiner eigenen Werte- und Vorstellungswelt. Die Rationalität hat so im Verlauf der neuzeitlichen Aufklärung durch reflexive Selbstkritik eine entgötterte, entmythisierte Welt geschaffen, damit aber auch das Gefahrenpotential geschaffen für den Umschlag von Rationalität in die ganz und gar irratio39 Zitiert in: Hermann Diels, Fragmente der Vorsokratiker, Hamburg 1957, 19. 40 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari, 15 Bde., München 1980, Bd. 3, 481. 41 Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 12, 350.
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nalen Auswüchse der „politischen Religionen“, wie das Eric Voegelin 1938 im Anblick des Nationalsozialismus wie internationalen Kommunismus genannt hat.42 Die Rationalitätskultur ist geeignet, das Leben rational zu gestalten, schafft Annehmlichkeiten, Wohlstand, verbessert die medizinische Versorgung, aber ist nicht geeignet, Sinnund Lebensziele zu formulieren. Das bedingt eine der Krisen der westlichen Welt und wird von Seiten des religionsfundierten Islam auch als Mangel gesehen. Ich bin aber nicht der Meinung von Samuel Huntington, dass der gegenwärtige „clash“ der Kulturen durch die Religionen verursacht wird.43 Die Religionen, insbesondere der Islam, reagieren vielmehr mit Fundamentalisierung auf die machtpolitische Überlegenheit der ‚westlichen‘ Rationalitätskultur. Mit dieser können viele Länder der arabischen Welt – und dies allerdings auch aus Gründen der Religionsentwicklung – nicht mithalten, weil sie jene Trennung von Religion und Rationalität nicht durchgeführt haben, welche die abendländische Rationalitätskultur schon in der antiken und dann vor allem in der neuzeitlichen Aufklärung durchgesetzt hat. Die moderne Radikalisierung des Islam hat sich ja erst in der durch die Rationalitätskultur globalisierten Welt und dort im Gegenzug zu jener entwickelt und wird in dem Maße, wie ganze Länder den Anschluss an diese nicht finden, aber Zugang zu westlichem Kriegsgerät haben, die Existenzform der Rationalitätskultur noch auf lange Zeit zu torpedieren und sogar zu zerstören versuchen. Aber auch Europa und die westliche Welt haben intern mit dem Problem des Nihilismus zu ringen. Viele Menschen erfahren die westliche Zivilisation als ein Sinn-Vakuum, in dem sie keine Orientierung mehr finden und in Drogenkonsum und andere Surrogaterfahrungen ausweichen. Dabei ist der Lebensstandard in den führenden Industrieländern höher denn je. Auch hier ist Bildungsvermittlung ein zentraler Schlüssel: Er führt ja zur Einsicht, dass der Mensch der Neuzeit für sein eigenes Schicksal auf Erden selbst verantwortlich ist, dass er es in seinem Sinne gestalten kann und dass die Erde selbst, nicht der Himmel, der eigentliche Platz dafür ist. 7. Krise des Patriotismus – das Einheitsproblem in Europa Der Lebensraum des Menschen auf Erden: Das ist erst einmal die Heimat, in der er aufgewachsen ist, die Muttersprache als erste und Mutter aller weiteren Sprachen, die Familie, also enge Bindungen und Kontexte, in denen er aufwächst und sich orientiert. Die Nation als die Instanz, die für die Lebensgestaltung mitverantwortlich ist – denken wir an Schule, Krankenversorgung, Alterssicherung, zivile Infrastrukturen, Rechtssicherheit u. a. – gehört
42 Eric Voegelin, Die politischen Religionen, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von P. J. Opitz, München 2007. 43 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, Die Neugestaltung der Welt im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996.
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wesentlich dazu. Die Gesamtheit der patriotischen Bindungen kann nicht, wie Habermas meinte, durch einen abstrakten ‚Verfassungspatriotismus‘ ersetzt werden. Dass heute große Migrationsströme unterwegs sind und nach Europa wollen und hier vor allem nach Deutschland wie auch nach Nordamerika, ist kein Gegenargument, sondern bestätigt den Befund. Es sind ja meistens Menschen, die eine sichere Lebensperspektive für sich und ihre Kinder in den Zielländern suchen. Die vielen Probleme, die damit verbunden sind, können hier natürlich nicht diskutiert werden. Es geht dabei auch um gewaltige Summen der Versorgungsleistungen wie auch das Problem der Differenzen der Kulturen, die sich da auf engem Raum begegnen. Wenn nun vor allem in Deutschland eine Kritik am Nationalstaat vorgetragen wird, zumal von Menschen, die darin nicht schlecht leben, so wird dabei meist übersehen, dass diese selbstkritische Haltung zur eigenen Nation – in einzelnen Fällen sogar Selbsthass – nicht die Haltung ist, die die meisten anderen europäischen Staaten teilen. Die meisten Bürger in den anderen europäischen Staaten wie Italiener, Spanier, Portugiesen, Franzosen, Engländer, Skandinavier, Slaven sind ihrer eigenen Nation gegenüber durchaus positiv eingestellt, sind stolz auf deren Leistungen. Und das ist ja auch der Reichtum Europas: Die großen kulturellen Leistungen der einzelnen Nationen auf diesem kleinen Kontinent und auf der Grundlage der europäischen Werte. Europa ist ein Kontinent der kulturellen Differenzen auf dem Boden der gemeinsamen europäischen Werte und dazu gehört auch der Wert des Patriotismus. Die EU ist nicht die USA. Europa ist eine Einheit der „Vaterländer“, wie es Charles de Gaulle nachgesagt wird. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um überspannten Nationalismus, Hegemonialismus oder Chauvinismus, sondern um ein normales positives Verhältnis zum eigenen Land als Voraussetzung auch für ein integriertes Europa. Politische Parteien in Deutschland, die diesen positiven Kontakt zum eigenen Land verloren haben, sind zunehmend in der Defensive, andere, die in dieses Vakuum vordringen, gewinnen an Stimmen. Wünschenswert ist eine europäische Politik, die beides vereint, das positive Verhältnis zum eigenen Land mit der Liebe zu Europa als der übergeordneten und integrierenden politischen Instanz, also eine Balance der Werte des Nationalen in der Einheit Europas.
Literaturverzeichnis Dawkins, Richard, Der Gotteswahn. Aus dem Englischen von S. Vogel, 9. Aufl., Berlin 2010. Diels, Hermann, Fragmente der Vorsokratiker, Hamburg 1957. Durkheim, Émile, Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a. M. 1983. Durkheim, Émile, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/03, Frankfurt a. M. 1984. Eckert, Andreas, Kolonialismus, Frankfurt a. M. 2006. Ekardt, Felix, Theorie der Nachhaltigkeit. Ethische, rechtliche, politische und transformative Zugänge
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– am Beispiel Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel, 2. vollständig überarbeitete und aktualisierte Aufl., Baden-Baden 2016. Gehler, Michael/Vietta, Silvio (Hrsg.), Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, Wien 2010. Habermas, Jürgen, Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: Rudolf Augtein, Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der national-sozialistischen Judenvernichtung. München 1987. Hobbes, Thomas, Leviathan. Erster und Zweiter Teil. Übersetzt und herausgegeben von J. P. Mayer, Stuttgart 1974. Huntington, Samuel P., Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Welt im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996. Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, herausgegeben von G. Colli und M. Montinari, 15 Bde., München 1980. Osterhammel, Jürgen, Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, 6. Aufl., München 2009. Pfetsch, Frank R., Theoretiker der Politik. Von Platon bis Habermas. Unter Mitarbeit von T. Kreihe und M. Stachura. München 2003. Randers, Jorgen, 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre, München 1912. Reinhard, Wolfgang, Geschichte der europäischen Expansion, 4 Bde., Stuttgart 1983–1990. Reinhard, Wolfgang, Kleine Geschichte des Kolonialismus, 2. Aufl., Stuttgart 2008. Rifkin, Jeremy, Die empathische Zivilisation. Aus dem Englischen von U. Bischoff u. a., Frankfurt a. M./New York 2010. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. I–IV, Stuttgart 1988. Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, herausgegeben von Hans-Joachim Rothert, Hamburg 1970. Smith, Adam, Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker. Übersetzt von Monika Streissler, Tübingen 1999. Standing, Guy, Prekariat. Die neue explosive Klasse, München 2015. Vietta, Silvio, Europas Werte. Geschichte-Konflikte-Perspektiven, Freiburg 2019. Vietta, Silvio, Rationalität. Eine Weltgeschichte, München 2012. Voegelin, Eric, Die Politischen Religionen, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von P. J. Opitz, München 2007.
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Teilbereich II: Wirklichkeit – konkrete Verantwortungsfelder der Verantwortungsgemeinschaft EU
A) Geschichts- und Friedensverantwortung
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Die EU als Friedens- und Versöhnungsprojekt Die Europäische Union (EU) wird gemeinhin als eine supranationale Organisation angesehen, die den Frieden in Europa bewahren hilft. Vor dem Hintergrund der Kriege des 20. Jahrhunderts, insbesondere des Ersten und Zweiten Weltkrieges, gilt diese Friedensdividende als der entscheidende Beweis, warum und wofür die EU als Institution gut ist. Die Frage stellt sich jedoch, ob diese traditionelle Sicht auf die EU tatsächlich berechtigt ist – oder umgekehrt, was die leitenden Faktoren sind, damit diese Selbstinterpretation auch in Zukunft mit Berechtigung eingehalten werden kann?
I. Die Friedensdividende der EU Wenn von der Friedensdividende der EU (oder noch besser: des europäischen Integrationsprozesses) die Rede ist, dann kommt paradigmatischer Weise immer der Verweis auf das Zeitalter der europäischen Bürgerkriege, also den Zweiten wie den Ersten Weltkrieg. Tatsächlich findet das Grauen der Massenschlachten, die reine Abnutzungsgemetzel an Menschen und Material waren, insbesondere im Ersten Weltkrieg seinen blutigen Höhepunkt vor Verdun oder etwa an der Somme. Wer die Friedhöfe mit den Gefallenen dort heute besucht, bekommt eindrucksvoll eine Anschauung davon, was es heißt, wenn zwei Nachbarstaaten wie Deutschland und Frankreich erbittert gegeneinander Krieg führten. Diese sogenannte Blutsfeindschaft existiert nicht mehr. Es war schon die Grundintention der Paneuropa-Idee in den 1920er Jahren mit der geradezu existenziellen Aufladung im Sinne einer ewigen Feindschaft zwischen den Nationen Schluss zu machen und stattdessen vielmehr die Gemeinsamkeiten der Europäer unter- und miteinander zu betonen.1 Die Idee des europäischen Hauses reicht sogar noch weiter zurück, geht bis in das 17. Jahrhundert. Die Vorstellung, die europäischen Staaten könnten sich in einer Art systema foederatorum zusammenführen lassen, findet sich beispielsweise schon bei Leibniz.2
1 Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas – Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien u. a. 2004. 2 Peter Nitschke, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), in: W. Böttcher (Hrsg.), Klassiker des europäischen Denkens. Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte, Baden-Baden 2014, 174–179; sowie ebenso dazu Peter Nitschke, Die Leibnizsche Vision von Europa, in: Ders. (Hrsg.), Gottfried W. Leibniz. Die richtige Ordnung des Staates (Staatsverständnisse, Bd. 72), Baden-Baden 2015, 91–111.
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Doch bis zum Supergau des Zweiten Weltkrieges wurde daraus nichts. Erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem totalen Zusammenbruch der zentralen Macht in der Mitte Europas war der Weg frei für eine Neuordnung des Kontinents, die nun nicht mehr unbedingt im rein Nationalen erfolgen müsste. Der zunächst funktional gesuchte Weg einer Annäherung durch Kooperation und Integration bestimmter Schlüsselbereiche der Wirtschaft in Form von Kohle und Stahl mithilfe der Montanunion hat eine beispiellose Wirkung erzielt.3 Am Ende dieses Jahrzehnte dauernden Prozesses steht heute die EU als ein Gebilde, das sowohl in Reichweite, Tiefenschärfe seiner Institutionen und der Gestaltungskraft als supranationale Organisation nicht nur für die europäische Geschichte, sondern auch im Weltmaßstab (bis dato) ein Unikat ist. Den an diesem Prozess Beteiligten, insbesondere den Politikern der ersten Stunde (wie Adenauer, de Gaulle, Schuman, Monet, de Gasperi etc.), war klar, dass die europäische Integration ein Format erreichen müsse, aus dem heraus Kriege unter den beteiligten europäischen Staaten schlichtweg nicht mehr möglich sein sollten. Nie wieder Krieg ist nicht nur der pazifistische Appell der Friedensbewegung, sondern lässt sich auch als Staatsräson der europäischen Integration beschreiben. Innerhalb der Mitgliedstaaten der EWG, der EG und schließlich der EU hat es keinen kriegerischen Zustand mehr gegeben. De facto ist die EU in ihrer derzeitigen Verfasstheit tatsächlich so etwas wie der Garant eines europäischen Friedens. Ob zu Recht oder zu Unrecht, sei dahin gestellt. Jedenfalls versteht sie sich so. Aufgrund dieser Selbstzuschreibung als Pazifizierungsmacht deklariert die Union sogar einen Anspruch nach außen hin – im Weltmaßstab. In der Erklärung des Europäischen Rats von 2007 heißt es: Wir leben in einer Welt mit neuen Gefahren, aber auch mit neuen Chancen. Die Europäische Union besitzt das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Bedrohungen wie auch zur Nutzung der Chancen zu leisten. Eine aktive und handlungsfähige Europäische Union könnte Einfluss im Weltmaßstab ausüben. Damit würde sie zu einem wirksamen multilateralen System beitragen, das zu einer Welt führt, die gerechter, sicherer und stärker geeint ist.4
3 Vgl. dazu im Überblick Jürgen Elvert, Die europäische Integration, Darmstadt 22013; sowie Wilfried Loth, Building Europe. A History of European Unification, Berlin/Boston 2015; als auch Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung. Von 1945 bis heute, Ditzingen 42017; und Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt, München 32018. 4 Diese Erklärung geht in der Formulierung auf das sicherheitsstrategische Konzept der EU aus dem Jahre 2003 zurück. Vgl. hier auch Rat der Europäischen Union vom 8. Dezember 2003: „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“, Drucks. 158595/03; speziell auch Jan W. Meine, Die europäische Sicherheitsstrategie 2003 – Europas Versuch einer Positionierung als sicherheitspolitischer Akteur, in: Themenportal Europäische Geschichte 2011, https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1541, abgerufen am 09.12.2019.
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Das war vor der Weltfinanzkrise und vor Beginn des sogenannten Arabischen Frühlings 2011,5 vor Beginn des Syrischen Bürgerkriegs, vor dem Euromaidan (2013/14),6 vor der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland (2014) und vor dem Beginn der Kampfhandlungen in der Ostukraine, die bis heute hin anhalten. Nicht zuletzt die Flüchtlings- und Migrationskrise des Jahres 2015 hat der EU dann deutlich gemacht, wie begrenzt ihr Einfluss als Pazifizierungs- und Sicherheitsmacht tatsächlich selbst auf europäischem Boden ist.
II. Das System und seine europäische Identität Die Defizite der EU im Umgang mit ihrem eigenen Selbstverständnis, im Bereich der Friedensfähigkeit tatsächlich eine Schutzmacht sein zu können, lassen sich nur dann angemessen aufzeigen, wenn man zugrunde legt, was überhaupt die treibenden Antriebskräfte für die erfolgreiche Initialzündung der europäischen Integration gewesen sind? Vor dem Hintergrund der historischen Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren dies vor allem vier Faktoren: a) der Weltmarkt, b) der Protektionismus, c) der Antisozialismus, d) die Deutschlandfrage. Auf dem Weltmarkt gab es nach 1945 eine grundlegend andere Ausgangslage als vor Beginn des Krieges. Der Siegeszug der amerikanischen Wirtschaft, die sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg angekündigt hatte, war nun unübersehbar deutlich geworden. Die Marktmacht der USA war derart dominierend, dass ihre Güter und Dienstleistungen am Weltmarkt ca. 50 Prozent des Welthandels betrafen! Dagegen waren selbst die Gewinner des Krieges im westlichen Teil Europas, Großbritannien und Frankreich, auf der Verliererseite. Das schien zumindest der Regierung in Paris auch mehr und mehr bewusst zu werden, deshalb war das Eintreten für eine Wirtschaftsallianz mit Westdeutschland aus französischer Sicht auch ein Gebot der Stunde, um so den eigenen Markt besser gegen die US-amerikanische Übermacht schützen zu können. Von vornherein ist daher der europäische Integrationsprozess aus dem Aspekt des Protektionismus heraus erfolgt. Es galt die Strategie, die eigenen nationalen Produkte besser gegen die USA am Weltmarkt platzieren und absichern zu können. Das Verbundsystem der 5 Volker Perthes, Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, München 2011; sowie Annette Jünemann/Anja Zorob (Hrsg.), Arabellions, Zur Vielfalt von Protest und Revolte im Nahen Osten und Nordafrika, Wiesbaden 2013. 6 Hierzu Juri Andruchowytsch (Hrsg.), Euromaidan – was in der Ukraine auf dem Spiel steht, Berlin 22014.
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sechs Mitglieder der Montanunion war in dieser Hinsicht nicht ein Friedensprojekt, sondern ein auf ökonomische Funktionen hin angelegtes Projekt, um die eigenen nationalen Produktionsstandorte besser absichern zu können. Vergemeinschaftung als Mittel zum Zweck der Schutzfunktion für den nationalen Produktionsbedarf. Eigentlich eine paradoxe Strategie, die jedoch gerade deshalb erfolgreich war, weil sie mit einem ausgesprochen ideologischen Format zusammengelegt wurde. Denn der Antisozialismus war bei aller nationaler Differenz in den Strukturen von Kohle und Stahl das gleichsam alle teilnehmenden Staaten überwölbende Bindemittel. Aus Furcht vor weiteren Aggressionen seitens der Sowjetunion ließ sich hier eine scheinbar nur funktionale Agenda normativ-ideologisch aufladen und unterfüttern durch den Verweis auf die schiere Notwendigkeit einer solchen Allianz gegenüber dem Feind im Osten Europas, der bereits bis zur Mitte des Kontinents vorgedrungen war. Streng genommen war es nur eine Allianz an der westlichen Peripherie Europas, die hier mit der Montanunion stattgefunden hat. Das entscheidende Linkage, sozusagen der Baustein, der alles zusammenbrachte, war hierbei jedoch die Aussöhnung Frankreichs mit Deutschland (in Form der Bundesrepublik West). Wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, so war auch nach 1945 die Deutschlandfrage die zentrale Frage für die politische Gestaltung Europas. Wer Deutschland, auf welche Weise auch immer, integriert, bestimmt damit die Axiome für die Fortentwicklung Europas. Deshalb ist die Deutschlandfrage zugleich immer schon die Europafrage gewesen. Das große Land in der Mitte Europas mit der größten Bevölkerungszahl an Einwohnern und der stärksten Wirtschaftskraft ist der entscheidende Machtfaktor, an dem keine Integrationspolitik Europas vorbeigehen kann. Auf dem Zusammenwirken aller vier Faktoren (a–d) basiert die Startphase des europäischen Integrationsprozesses ab den 1950er Jahren. Auch wenn der Aspekt des Antisozialismus im Laufe der Jahre nachgelassen hat und seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 keine Rolle mehr spielt, bleiben die Faktoren (a, b und d) nach wie vor relevant – was bedeutet, sie sind wirkungsmächtig. Verbunden damit stellt sich die Frage, inwieweit die zukünftige Integrationspolitik der EU gestaltet werden soll? Hierzu gibt es derzeit drei Optionen, die jede für sich etwas ganz anderes darstellen als die jeweils anderen. 1. Soll das System der EU,7 wie es sich bis zum Lissaboner Vertrag nunmehr als ein zwar mächtiges, dennoch in vielen Punkten nach wie vor unausgewogenes Ensemble von Institutionen, Gesetzen, Regularien in verschiedenen Gestaltungs- und Kompetenzebenen darstellt, weiterhin ausgebaut werden oder nicht? Ausbau heißt hier a) sowohl institutionell mit mehr Kompetenzen wie auch b) in der territorialen Erweiterungsperspektive zugunsten neuer Mitgliedschaften in der EU. 2. Stünde demgegenüber die Option für eine Stabilisierung des Ganzen, was bedeuten würde, dass eine Ausweitung zugunsten weiterer Mitgliedschaften in territorialer Hin7 Vgl. zum System im Überblick u. a. Arthur Benz, Politik in Mehrebenensystemen, Wiesbaden 2014; sowie Christine Landfried, Das politische System der Europäischen Union, Opladen/Wiesbaden 2012; als auch Ingeborg Tömmel, Das politische System der EU, München 42014.
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sicht auf absehbare Zeit nicht mehr stattfindet. Was den Vorteil hätte, die bestehenden Institutionen und Verfahren zu modifizieren, indem man sie reformiert. Dies beträfe vor allem die Dezisionskompetenz der EU, was in Hinblick auf die Perspektive als Friedensund Schutzmacht durchaus ertragreich sein könnte. 3. Jedoch wäre auch eine Reduzierung möglich, indem man bestimmte Institutionen schleift, Kompetenzen zurückverlagert auf die nationale Ebene, um somit Funktionsmechanismen zu stärken. Der Brexit legt eine solche Strategie nahe, wie auch die Welle der neonationalistischen Parteiungen, die überall in den Mitgliedstaaten in den letzten Jahren, wenn auch nicht die Oberhand, so doch deutlich Zulauf bekommen hat. Wie auch immer man sich strategisch entscheiden mag, wahrscheinlich wird es hierbei keine klare Lösung geben. D. h., es wird eher ein muddling through sein, mit dem sich die EU in ihrem institutionellen Prozess (wie so oft auch schon in der Vergangenheit) in der Kombination bzw. Vermischung aller drei Optionen tagespolitisch fortbewegt. Der Grad bzw. das Ausmaß der jeweiligen Akzentuierung hängt ganz wesentlich davon ab, welche konzeptionelle Richtung in der EU (und hier vor allem in den Brüsseler Institutionen) ausschlaggebend ist. Denn im Grunde wird der Integrationsprozess seit den Anfängen von drei verschiedenen Richtungen (und den daran orientierten Lagern) bestimmt. A) Sind dies die Universalisten, welche in der EU (und ihren historischen Vorläufern EWG und EG) eine Art von universaler Proklamation des Integrationsprozesses sehen. D. h., die Institutionen der EU werden hier verstanden als beispielhaft für die Entwicklung der Welt zugunsten eines integralen Ansatzes der Welt-Staatengemeinschaft, an deren Ende eine supranationale, globale Institution stehen könnte.8 Das ist sehr emphatisch gedacht – und zweifellos ein Ideal, für das es bis dato keine wirklich strukturierte Entsprechung in der Tagespolitik der EU gibt. B) Vertreten die Konstitutionalisten demgegenüber eine programmatische Vision von Europa, bei der es nicht um die weltweite Perspektive geht, sondern um eine nach innen hin orientierte Struktur des Systems, welches im Wesentlichen durch neue Institutionen zur Anwendung kommt. Die Konstitutionalisten legen sehr viel Wert auf die Regelung der Institutionen in ihrem komplexen Gefüge untereinander und die Gestaltungskraft, welche von hierher den Fortgang der europäischen Integration befeuert. C) Die Funktionalisten sind gegenüber den Vertretern von (A) und (B) die zweifellos am stärksten auf reine Sachpolitik ausgerichtete Gruppierung, die mit ihrer Agenda einer mehr8 Ein Beispiel lieferte hierfür Joschka Fischer in seiner Funktion als Außenminister bei seiner paradigmatischen Rede an der Humboldt Universität im Mai 2000, wo er die EU als zivilisatorisches Regime angepriesen hat, das mittels der Menschenrechte und des Rechtsstaats von Wladiwostock bis Washington reichen könne – mit der EU als Kern des gesamten Gebildes. Vgl. hier Joschka Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede am 12. Mai 2000 in der Humboldt-Universität in Berlin, https://www.cvce.eu/content/publication/2005/1/14/4cd02fa7-d9d0-4cd2-91c9-2746a3297773/publishable_de.pdf (abgerufen am 09.12.2019).
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heitlich pragmatischen Politikgestaltung nicht die großen Grundsatzfragen debattiert, sondern die Alltagsgeschäfte des Integrationsweges operationalisiert. Zahlenmäßig und ihrer historischen Bedeutung nach ist diese Gruppierung die wohl dominierende Kraft im ganzen Integrationsprozess.9 Das vielfach in Brüssel artikulierte Motto Der Weg ist das Ziel (oder: das Fahrrad muss einfach fahren) gehört zum Selbstverständnis der Funktionalisten. In der Quintessenz haben sich bisher die Repräsentanten aus dem institutionellem und dem funktionalem Lager in einer hybriden Mischung meist mit bemerkenswerten Ergebnissen durchgesetzt. Das bedeutet aber auch, dass der zivilisatorische Anspruch, der in den letzten Jahren gern von Seiten der Universalisten akzentuiert worden ist, bis dato seiner wirklichen Grundfaktoren entbehrt bzw. diese noch nicht nachhaltig zum Erfolg geführt worden sind.
III. Die zivilisatorischen Werte der Union Die EU als Zivilisation begreifen zu wollen, setzt voraus, dass es sich hierbei um eine gemeinsame Kultur für alle Mitgliedstaaten handelt. Das führt notwendigerweise zur Frage nach den gemeinsamen Werten bzw. Wertvorstellungen? Formal könnte man sich darauf zurückziehen, indem man auf die Kopenhagener Kriterien von 1993 verweist. Demzufolge sind mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft die Fundamente für den gemeinsamen Wertehorizont gesetzt, der für alle Mitgliedstaaten verbindlich sein soll. Für alle Beitrittskandidaten seit der Osterweiterung war (und ist) dies der Maßstab.10 Aber was heißt das schon genau und konkret in der aktuellen Konstellation sich häufender systemischer Krisen in der EU, die geradezu kumulativ mit Brexit, der Eurofrage und der Migrationskrise ineinander verschränkt auftreten und dem nationalen Populismus Tür und Tor öffnen?11 Klassischerweise wird in der EU mit einer Reihe von Phänomenen und Faktoren argumentiert, die sich in der Summe auf folgenden Katalog von Paradigmen hin verdichten lassen. Das sind:12 9 Die maßgebliche Theorie hierzu hat David Mitrany erarbeitet, vgl. David Mitrany, The Functional Theory of Politics, New York 1976. 10 Peter Nitschke, Europäische Union und die Integration Ost-Mitteleuropas, in: Jahrbuch Politisches Denken (1997), 61–73. 11 Peter Nitschke, Einführung – Werte und Identität in der Europäischen Union, in: Ders., Gemeinsame Werte in Europa? Stärken und Schwächen im normativen Selbstverständnis der Europäischen Integration, BadenBaden 2019, 9–14; zu den populistischen Bewegungen, die im stetigen Aufwind nicht erst seit 2015 begriffen sind, vgl. Günther Pallaver/Michael Gehler/Maurizio Cau (Hrsg.), Populism, Populists, and the Crisis of Political Parties. A Comparision of Italy, Austria, and Germany 1990–2015, Bologna/Berlin 2018; sowie die Beiträge bei Ulrich Brinkmann/Isabelle-Christine Panreck (Hrsg.), Rechtspopulismus in Einwanderungsgesellschaften. Die politische Auseinandersetzung um Migration und Integration, Wiesbaden 2019. 12 Peter Nitschke, Die Nachhaltigkeit der europäischen Idee, in: Ders. (Hrsg.), Gemeinsame Werte in Europa?
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A) Demokratie & Rechtsstaat B) Menschenrechte C) Christentum D) Marktwirtschaft E) Solidarität F) Freiheit Dieses Werte-System hat seinen Leit- und Identifikationskern in der Anerkennung des Individuums. Deshalb sind (individuelle) Freiheit, die Menschenrechte und die Garantien des Rechtsstaates hier auch so wichtig. Diese Prinzipien sind allerdings auch in der globalisierten Kultur des Westens zentral. Gleiches gilt für das Verständnis von Ökonomie, welches den Axiomata des kapitalistischen Marktsystems folgt. Fragt man nach der normativen Genese in der Begründung für diese Werte, dann landet man mit logischer Notwendigkeit bei der christlichen Lehre, die in der Verbindung von griechisch-römischem Denken hier hochgradig originell im Abendland die Maßstäbe für die moderne Existenz überhaupt erst ermöglicht hat. Das bedeutet, ohne den historisch etablierten normativen Hintergrund der christlichen Lehre wäre die europäische Integrationsidee gar nicht zustande gekommen. Dem entspricht auch, jenseits aller materiellen Gesichtspunkte, die Version vom (ewigen) Frieden. Nicht zufällig hat hier ein am Pietismus geschulter Aufklärer wie Kant sein großes Konzept entwickelt, welches viele seiner Anhänger bis heute sogar als einen universalen Verfassungsauftrag ansehen.13
IV. Die EU als Schutzmacht? Man könnte also meinen, dass die Vision von einem geeinigten Europa das Postulat von einer EU als Schutzmacht für den europäischen Frieden automatisch herstellt und gesichert hat. So scheint es auch im Selbstverständnis der EU-Institutionen und der Politiker im Europäischen Parlament zu sein. Doch die Wirklichkeit jenseits der europafreundlichen Sonntagsreden sieht seit Jahrzehnten anders aus. Fragt man nämlich konkret, mit welchen Institutionen die EU den Friedensgedanken allein in Europa herstellt und dauerhaft absichert, dann gibt es diesbezüglich nur Leerstellen. Denn die EU ist zwar eine ökonomische (und damit auch zivilisatorische) Macht, aber sie verfügt über keinerlei militärische Power. Den Frieden in Europa seit 1945 hat eine andere Ordnungsmacht gesichert – nämlich die NATO. Stärken und Schwächen im normativen Selbstverständnis der Europäischen Integration, Baden-Baden 2019, 161–175, 164 ff. 13 Vgl. hier als Beispiel einer solchen Rezeption Otfried Höffe, Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne, München 2015.
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Schon Helmut Kohl wusste um die systemische Abhängigkeit der Bundesrepublik Deutschland von der Schutzmacht USA. Auf die Frage nach der Staatsräson Deutschlands lautete seine Antwort in den 1980er Jahren: Die Staatsräson der Bundesrepublik, das ist die NATO.14 Daran hat sich bis heute für Deutschland nichts geändert und auch nicht für die EU. Denn die EU ist aufgrund ihrer historischen Genese und institutionellen Binnendifferenzierung kein Militärbündnis. Als an der Marktwirtschaft des gemeinsamen Binnenmarktes ausgerichtete Zivilmacht verfügt sie außerhalb ihrer jeweils nationalen Streitkräfte aus den einzelnen Mitgliedstaaten über keine zentrale militärische Kapazität. „Die EU kann Europa nicht verteidigen“, hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg deshalb auch unlängst unmissverständlich konstatiert.15 Die EU wird über dem Umweg der NATO-Mitgliedschaft verteidigt, wobei hier entscheidend ist, dass die USA dabei sind. Ohne die USA hat die EU in der Frage der Friedens- und Schutzmachtfähigkeit für die Interessen seiner halben Milliarde Bürgerinnen und Bürger gar keine schlagfähige militärische Gestaltungsfunktion. Die ca. 1,5 Millionen Soldaten, die es in den EU-Mitgliedstaaten derzeit gibt, sind in mehr als 95 Prozent aller Fälle zugleich NATO-Soldaten.16 Ohne die Existenz der US-Armee mit ihren 1,3 Millionen Soldaten wären die Armeen der EU-Staaten substanzlos, denn sie zergliedern sich in ihre nationalen Bereiche, von denen Deutschland mit 183.000 Soldaten neben Frankreich noch mit die größte Armee stellt.17 Aber eine wirkliche EU-Armee wären die nationalen Kontingente in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit, die einer Fragmentierung gleichkommt, noch lange nicht. Die Fähigkeit zur Interoperabilität, also dem Agieren zwischen den einzelnen nationalen Armeen im gemeinsamen Verbund, ist trotz niederländisch-deutscher oder deutsch-französischer Brigade weiterhin unterentwickelt.18 Immerhin zeigen diese Formationen die Richtung an, in der man sich zugunsten einer gemeinsamen europäischen Armee weiter entwickeln müsste.19
14 Anlässlich eines Vortrags in Oxford konstatierte Kohl im Mai 1984: „Das Bündnis (gemeint ist die Atlantische Allianz) ist der Kernpunkt deutscher Staatsräson.“ Damit wiederholte er im Wortlaut eine Formulierung aus seiner Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982. – Kohl 1984. Vgl. hierzu auch Matthias Zimmer, Nationales Interesse und Staatsräson. Zur Deutschlandpolitik der Regierung Kohl 1982–1989, Paderborn u. a. 1992. 15 Hier zit. nach Tobias Kaiser/Sascha Lehnartz/Clemens Wergin, Macron: Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der Nato, in: Die Welt, 8. 11. 2019, 1. Anlass für diese Aussage war das provokante Statement des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, welcher der NATO den Status eines Hirntoten bescheinigt hatte. 16 Hans-Peter Bartels, Ein Europa, eine Armee, in: Die Welt, 13. 11. 2019, 2. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Wie immer sich die weitere Entwicklung hier zwischen NATO und EU darstellt, für den einzelnen Nationalstaat (also auch und gerade für Deutschland) würde die Option zugunsten einer gemeinsamen EU-Armee teurer werden als es die NATO-Mitgliedschaft bisher war. Vgl. hierzu Reinhard Meier-Walser, Die NATO im Funktions- und Bedeutungswandel. Veränderungen und Perspektiven transatlantischer Sicherheitspolitik, Wiesbaden 2018; sowie Ulf von Krause, Das Zwei-Prozent-Ziel der NATO und die Bundeswehr. Zur aktuellen Debatte um die deutschen Verteidigungsausgaben, Wiesbaden 2019.
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V. Die Uneinigkeit in der weiteren Zielsetzung Doch in der Summe überwiegt bis dato im aktuellen Lagebild der EU die Uneinigkeit. Die EU war und ist auch nicht in der machtvollen Position, den Krieg in der Ostukraine beenden zu können. Dieser Krieg dauert nunmehr schon seit sechs Jahren – also so lange, wie der Zweite Weltkrieg insgesamt! Auch wenn dieser asymmetrische Kleinkrieg nicht das EU-Territorium betrifft, so findet er doch in Europa statt! Weder konnte die EU diesen Krieg verhindern, noch ihn wirklich pazifizieren. Gleiches gilt für die Konstellation beim Bürgerkrieg im auseinanderfallenden Jugoslawien. Die furchtbaren Gemetzel zwischen Serben, Kroaten und Bosniaken kamen letztendlich erst zum Erliegen, als sich die USA mit massiven Luftangriffen gegen serbische Stellungen einmischten.20 Und auch der Konflikt um den Kosovo Ende der 1990er Jahre ließ sich nur bereinigen dank der militärischen Intervention der NATO – im Übrigen ohne ein UN-Mandat! Die von der Friedensbewegung gern formulierte Parole Nie wieder Krieg ist also eine naive Illusion, wenn man auf Staaten und politische Bewegungen trifft, die militärische Gewalt als Mittel ihrer Politik einsetzen und sich hierbei auch keiner Durchbrechung sämtlicher Regeln des Völkerrechts scheuen. In den hier genannten militärischen Szenarien ist und war die EU nur Zaungast, quasi an der Rampe der Barbarei im Beobachterposten anwesend, aber ohne faktische Gestaltungskompetenz. Insbesondere der Krieg in Bosnien hat symptomatisch aufgezeigt, mit welch unterschiedlichen Vorstellungen die Mitgliedstaaten der EU sich hier wechselseitig behindert haben. Eine gemeinsame Sicherheitsstrategie der EU fand damals ebenso wenig statt wie heute im Falle der russischen Aggression in der Ostukraine und auf der Krim. Die Gründe dafür liegen tiefer als nur im Fehlen einer gemeinsamen europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Letztlich ist ausschlaggebend die je unterschiedlich kodierte nationale Sicht auf das Integrationsprojekt. Nicht alle Völker in den Mitgliedstaaten denken so europafreundlich wie die Deutschen. Dem Brexit-Votum der Briten von 2016 stimmen erkennbar auch viele Anhänger neonationalistischer Parteiungen in Ländern auf dem Kontinent zu. Die Wahlen zum Europäischen Parlament vom Mai 2019 haben diesen Trend bestätigt. Exemplarisch für diese Version auf die europäische Integration ist eine Kommentierung von Marine Le Pen: In Wahrheit besteht der Reichtum Europas aus seinen Nationen und der Diversität der Völker, aus denen es sich zusammensetzt. Die Ursprungsidee, ein einstimmiges Gebilde aus Europa machen zu wollen, hat sich verwandelt in eine Machtaneignung durch die Europäische Kommission, einem Zirkel aus Technokraten, die nicht gewählt wurden. Das ist ein Versagen auf ganzer Linie. Wir müssen aus der EU eine Allianz von Nationen machen und dem föderalisti-
20 Misha Gleenny, The Fall of Jugoslavia. The Third Balkan War, London/New York 31996.
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schen Europa den Rücken kehren, weil es gegen die Völker Europas gebaut wurde und kläglich versagt hat.21
Das Europa der Vaterländer war auch schon die Vision, unter der de Gaulle die europäische Integration gestaltet sehen wollte. Eine solche Perspektive steht im deutlichen Kontrast zu dem, was sich deutsche Politiker hierzu in all den Jahrzehnten vorgestellt haben. Im Prinzip leidet die Idee eines vereinigten Europas bis heute an dem unausgegorenen Zustand, den diese Ambivalenz zwischen der französischen und der deutschen Interpretation mit sich bringt. Und dies ist mehr als nur eine deutsch-französische Frage, denn diese Ambivalenz ist struktureller Art, wie nicht zuletzt der Brexit zeigt. Die Dimension einer Friedensmacht EU, die als eine gemeinsame Verteidigungsmacht strukturiert sein müsste, ist von dieser Ambivalenz in der Zielsetzung bzw. des Dissenses, was denn genau die gemeinsamen Ziele für die nahe wie die weitere Zukunft in der EU sein sollen, ganz grundsätzlich betroffen. Denn als europäische Friedensmacht wird die EU nur dann erscheinen können, wenn sie sich in ihrer Verteidigungsfähigkeit strukturell über die nationalstaatliche Perspektive hinweg erhebt. Das setzt jedoch ein konsequenteres supranationales Politikverständnis voraus, wie es aber derzeit eben nicht gerade der common sense in der Europapolitik ist.
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21 Im Interview mit Martina Meister, „Gegen die Völker gebaut“, in: Die Welt, 20. 04. 2019, 8; Marine Le Pen gewann mit ihrer neu ausgerichteten Partei Rassemblement National bezeichnenderweise die Europawahl in Frankreich, noch vor Macrons liberal-konservativer Formation!
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Mehr Nachkriegs- als Friedensordnungen Zur Frage europäischer Friedens- als Verantwortungspolitik 1919–2019 I. Vorbemerkung Drei Beispiele von qualifizierten und zitierfähigen Friedensreden sollen am Beginn dieser Ausführungen stehen. Beginnen wir mit dem 9. Mai 1950, dem Europatag, der in allen Kalendern steht, aber vergleichbar dem 27. Januar,1 dem 8. Mai2 oder dem 9. November3 verwunderlicher Weise in Europa nicht öffentlich begangen wird. Am 9. Mai 1950 gab Frankreichs Außenminister Robert Schuman im Uhrensaal des Quai dʼOrsay die für alle eilig informierten Presseleute so überraschende Erklärung ab, die als berühmt gewordener „Schuman-Plan“4 in die Geschichtsbücher eingehen sollte – tatsächlich gingen Idee, Konzeption und Organisation für die Kohle- und Stahlfusion zwischen
1 Der 27. Januar (1945) steht für die Befreiung der letzten überlebenden Inhaftierten des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Der Jahrestag der Befreiung wurde 1996 auf Initiative des deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog offizieller deutscher Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Vereinten Nationen erklärten den 27. Januar im Jahr 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. 2 Der 8. Mai (1945) steht für die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht und damit die Befreiung Europas von der nationalsozialistischen Diktatur. Generaloberst Jodl unterzeichnete am 7. Mai 1945 in Reims im Hauptquartier von General Dwight D. Eisenhower, Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Europa, die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs. Sie trat am 8. Mai 1945 um 23 Uhr in Kraft. Josef Stalin drängte auf eine Wiederholung der Zeremonie im sowjetischen Machtbereich. In der Nacht zum 9. Mai unterschrieb Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht, die Kapitulationsurkunde im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst. Damit trat Waffenruhe in Europa ein. 3 Der 9. November gilt als Schicksalstag der Deutschen. Er ist in mehrfacher Weise historisch bedeutsam. Die Ausrufung einer deutschen Republik erfolgte am 9. November 1918 in Berlin gleich zweimal: einmal durch den SPD-Politiker Philipp Scheidemann im bürgerlich-demokratischen und ein anderes Mal durch den Führer des Spartakusbundes Karl Liebknecht im sozialistischen Sinne einer Räterepublik. Am 9. November 1923 scheiterte der Putsch Hitlers in München, der im Zeichen einer „nationalen Revolution“ die Absetzung der bayerischen Regierung und der des Deutschen Reiches beabsichtigte. Der 9. November 1938 steht für die Pogromnacht gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland. Der 9. November 1989 wird mit dem „Fall der Mauer“ in Berlin assoziiert, worauf die deutsche Einigung folgte. 4 Klaus Schwabe, Der Schuman-Plan – Wendepunkt in der Weltpolitik?, in: Horst Kranz/Ludwig Falkenstein (Hrsg.), Inquirens subtilia diversa. Dietrich Lohrmann zum 65. Geburtstag, Aachen 2002, 37–550.
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Frankreich und Deutschland auf Überlegungen von Jean Monnet5 zurück. Schuman war es sodann, der diese Vorstellungen politisch artikulierte und in Frankreich öffentlich durchsetzungsfähig machte. In seiner für die französische Politik und Öffentlichkeit überfallsartigen Erklärung taucht das Wort ‚Frieden‘ dreimal auf. Zuerst führte Schuman aus: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“6 Dann hieß es weiter: Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind, [und auch] zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beitragen.7
Dann folgte ein Nebensatz, der an Bedeutung bis heute nichts verloren hat: „Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils.“8 Die letzte Nennung des Wortes Frieden in der Ansprache Schumans lautete: Durch Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich ist.9
Diese Worte sprach Schuman am 9. Mai 1950 mitten im tiefsten Kalten Krieg aus. Die Berlin-Blockade Stalins war gerade vor einem Jahr durch die westalliierte Luftbrücke10 überwunden worden, doch stand schon im kalten Ost-West-Konflikt der Korea-Konflikt ab Juni 1950 als heißer Krieg11 bevor. Klar wurde aus den Worten des in Luxemburg geborenen 5 Klaus Schwabe, Jean Monnet. Frankreich, die Deutschen und die Einigung Europas (Veröffentlichungen der Historiker-Verbindungsgruppe bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften 17), Baden-Baden 2016, 443–460. 6 Alle Zitate von der Homepage der Schuman Foundation, https://www.robert-schuman.eu/de/doc/questions-deurope/qe-204-de.pdf (abgerufen am 11.12.2019). 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Daniel A. Harrington, Berlin on the Brink. The Blockade, the Airlift and the Early Cold War, Lexington/Kentucky 2012; Matthias Bath, Die Berlin-Blockade 1948/49. Stalins Griff nach der deutschen Hauptstadt und der Freiheitskampf Berlins, Berlin 2018; Corine Defrance/Bettina Greiner/Ulrich Pfeil (Hrsg.), Die Berliner Luftbrücke. Erinnerungsort des Kalten Krieges, Berlin 2018. 11 Olaf Groehler, Der Koreakrieg 1950 bis 1953, Berlin (Ost) 1980; Rolf Steininger, Der vergessene Krieg. Korea 1950–1953, München 2006; Bernd Bonwetsch/Matthias Uhl (Hrsg.), Korea – ein vergessener Krieg? Der
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und von einem Lothringer Abstammenden, der bis 1918 noch reichsdeutscher Staatsbürger war und zuvor den Deutschen Katholikentag in Metz organisiert hatte, dass die Friedensidee für den Kontinent mit dem Gedanken an eine europäische Föderation verknüpft war. Dabei wurde für die noch bestehende Kolonialmacht Frankreich die globale Verantwortung Europas nicht unerwähnt gelassen. Von einer Abschaffung der Kriegsmaterialienproduktion und der Rüstungsindustrie war zwar keine Rede, aber von ihrer Zusammenlegung und Vergemeinschaftung zwischen den beiden Erbfeinden und Erzrivalen im Westen Europas. Schuman hatte als französischer christlicher Demokrat europäische Verantwortung für ein friedliches Westeuropa übernommen. Als zweites Beispiel möge Javier Solana dienen, der im Februar 2008 als Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU den Peace Prize of the Childrenʼs United Parliament of the World (CUPW), also den Preis des Parlaments der vereinten Kinder der Welt für seine Arbeit zur Unterstützung des Friedens und des wechselseitigen Verständnisses („in promoting peace and mutual understanding“) erhalten sollte.12 Tatsächlich steht der Spanier Solana wie kein anderer für die NATO-„Osterweiterung“, die in den Jahren 1999–2004 auf relativ geräuschlose wie konfliktarme Weise vonstattengegangen war und die scheinbar friedliche Vereinigung des Kontinents zu vollenden schien.13 Die genannte Anerkennung erhielt Solana wenige Monate vor der eskalierenden Georgienkrise,14 die im August 2008 zum Kaukasuskrieg führen sollte. Ein Jahr zuvor war Solana am 17. Mai 2007 mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen ausgezeichnet worden. Damit wurde er für seine Verdienste um Europa geehrt. Allerdings war die Verleihung von Kritik und Protesten begleitet, hatte doch Solana als vormaliger NATO-Generalsekretär 1999 im sogenannten „Kosovo-Krieg“ den Befehl zur Bombardierung Belgrads und Jugoslawiens mitzuverantworten, ohne dass hierfür ein UNMandat und damit ein Völkerrechtsbruch gegeben war.15 militärische Konflikt auf der koreanischen Halbinsel 1950–1953 im internationalen Kontext, München 2012; Bernd Stöver, Geschichte des Koreakriegs. Schlachtfeld der Supermächte und ungelöster Konflikt, München 2013. 12 Homepage der Europäischen Union, The history oft the European Union – 2008, https://europa.eu/europeanunion/about-eu/history/2000-2009/2008_en (abgerufen am 12.12.2019). 13 Michael Gehler, Revolutionäre Ereignisse und geoökonomisch-strategische Ergebnisse: Die EU- und NATO„Osterweiterungen“ 1989–2015 im Vergleich (Zentrum für Europäische Integrationsforschung Discussion Paper C 239), Bonn 2017. 14 Ronald D. Asmus, A Little War that Shook the World. Georgia, Russia, and the Future of the West, New York 2010; Svante E. Cornell/S. Frederick Starr (Hrsg.), The Guns of August 2008 – Russiaʼs War in Georgia, London 2009; Erich Reiter (Hrsg.), Die Sezessionskonflikte in Georgien (Schriftenreihe zur internationalen Politik 1), Wien/Köln/Weimar 2009. 15 Jens Reuter/Konrad Clewing (Hrsg.), Der Kosovo-Konflikt, Klagenfurt 2000; Cathrin Schütz, Die NATO-Intervention in Jugoslawien. Hintergründe, Nebenwirkungen und Folgen, Wien 2003; Erich Rathfelder, Kosovo. Geschichte eines Konflikts, Berlin 2011; Kurt Gritsch, Krieg um Kosovo. Geschichte, Hintergründe, Folgen, Innsbruck 2016; die kritische und scharfsinnige Analyse von dems., Inszenierung eines gerechten Krieges?
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Jean-Claude Juncker sah sich in seiner teils flapsigen, teils launigen Laudatio veranlasst, dazu Stellung zu nehmen, in der auch dreimal das Wort Frieden aufschien: Javier Solana ist ein Gewissensmensch. Er ist kein leichtfüßiger Kerl, der durch die europäischen Wiesen und Täler läuft und einfach bombardiert, ohne Grund und ohne Ursache. Er hat sich um den Frieden, auch auf dem Balkan, in höchstem Maße verdient gemacht, und er hat es sich nicht leicht gemacht während der Zeit.16
Juncker wurde dann weiter sehr persönlich, indem er über Solanas Person ausführte: Er ist jemand, der die Menschen mag, der sie auch umarmt, der küsst. Er wird in Brüssel der große Umarmer genannt. Wer die Welt, meine Damen und Herren, verbessern möchte, muss sie umarmen, herzen und drücken können. Er kann das, er muss das, und wir brauchen das. Er ist ein Architekt für Frieden, für Stabilität, und für Demokratie geworden, und weltweit in diesem Auftrag unterwegs. So normal ist das nicht für einen Europäer.17
Nochmals wurde Juncker sehr deutlich, als er die historische Dimension der europäischen Gewalt- und Kriegsgeschichte in Erinnerung zu rufen versuchte: Es stand nicht in den europäischen Geschichtsbüchern geschrieben, dass wir, die wir uns so lange bekämpft haben, und uns so lange untereinander Leid zugefügt haben, eines Tages diejenigen werden würden, die für Stabilität in Europa und in der Welt sorgen würden. Dass wir Europäer, die wir so manches böse Spiel mit Demokratie und Menschenrechten getrieben haben, plötzlich [sic!] die Botschafter von Demokratie und Menschenrechten werden würden. Und es stand nicht in europäischen Geschichtsbüchern für die Zukunft aufgeschrieben, dass wir die eigentlichen Friedensmacher [sic!] dieser Welt eines Tages werden würden. Und das sind wir geworden [sic!]. Und an diesen europäischen Erfolgen hat Javier Solana selbstverständlich einen Riesenanteil.18
Den Worten Junckers zufolge hatte Solana nach seiner transatlantischen Funktion auch gesamteuropäische Verantwortung übernommen, um den nordosteuropäischen, mittel- und
Intellektuelle, Medien und der »Kosovo-Krieg« 1999 (Historische Europastudien 3), Hildesheim/Zürich/New York 2010, 255–269/478–490. 16 Homepage des Internationalen Karlspreises zu Aachen, Laudatio des Premierministers des Großherzogtums Luxemburg, Dr. Jean-Claude Juncker, https://www.karlspreis.de/de/preistraeger/javier-solana-madariaga-2007/laudatio-des-premierministers-des-grossherzogtums-luxemburg-dr-jean-claude-juncker (abgerufen am 12.12.2019). 17 Ebd. 18 Ebd.
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osteuropäischen sowie südosteuropäischen Staaten einen störungsfreien und von Russland unbeeinflussten, d. h. unbeeinträchtigten Frieden zu ermöglichen. Am 10. Dezember 2012 hat die EU auch den Friedensnobelpreis erhalten. Als Begründung für seine Entscheidung nannte das norwegische Nobelkomitee unter anderem „den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte“. Die EU und ihre Vorgänger „haben über mehr als sechs Jahrzehnte zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen“, hieß es in der Begründung. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz erwiderte: „Der Friedensnobelpreis geht an alle EU-Bürger. Die Europäische Union hat den Kontinent mit friedlichen Mitteln vereint und Erzfeinde zusammengeführt. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage bleibt die Europäische Union ein Magnet für Stabilität, Wohlstand und Demokratie.“ Das Europäische Parlament nahm den Preis stellvertretend für die 500 Millionen europäischen Bürger entgegen.19 Die Begründung des Nobelkomitees, welches die Bedeutung der EU als europäische Friedensverantwortungsgemeinschaft anerkannt hatte, ist im Lichte der Geschichte Europas nur zu unterstreichen. Durch die Krimkrise (2014) und den Krieg in der Ostukraine seit 2015 ist nämlich der Kampf der EU für den Frieden in Frage gestellt. Die drei genannten als Einstieg gedachten Beispiele, untermauert mit jeweils drei Zitaten, zeigen die Notwendigkeit und gleichzeitig die Zwiespältigkeit von Friedenssicherung in Europa. Dieser Beitrag ist in fünf Kapitel aufgebaut. Zunächst gilt es, den Begriff Frieden, seine Bedeutung und seinen historischen Wandel aufzuzeigen (1). Sodann werden die zwei Nachkriegsordnungen in Europa (1919/20) und (1945–1955) zur Diskussion gestellt, die den Namen Friedensordnungen nicht verdienen, jedenfalls keine gesamteuropäische Friedensordnungen waren (2). Dabei geht es um die imperialistische Nachkriegsordnung und den gescheiterten Frieden (1919/20–1939) (a) sowie – wie ich sie nenne – die Divide-et-ImperaNachkriegsordnung Europas oder den „Integrationsfrieden“ (Hanns Jürgen Küsters) für Westdeutschland und Westeuropa (1945/55–1990) – die bisher am längsten währende Ordnung (b). In einem weiteren Kapitel steht die Formel „Wandel durch Annäherung“ im Mittelpunkt (3), wenn es um die Entwicklung von der deutschen Ostpolitik über die Schlussakte von Helsinki bis zur Wiener KSZE-Nachfolgekonferenz (1963–1989) gehen soll. In Folge gibt es ein weiteres Kapitel über die unvollkommene gesamteuropäische Friedensordnung (1990–2019) (4) sowie ein abschließendes über das Friedensprojekt EU mit seinem bisher hergestellten inneren, aber dem prekären äußeren Frieden sowie der gefährdeten europäischen Friedensordnung von 2019 (5.). Ein Fazit und Thesen als Ausblick beschließen den Beitrag (6).
19 Zitate entnommen aus: Homepage des Europäischen Parlaments, Friedensnobelpreis 2012 für Europäische Union, https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/eu-affairs/20121012STO53551/friedensnobelpreis-2012-fur-europaische-union (abgerufen am 12.12.2019).
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II. Der Begriff Friede – seine Bedeutung und sein historischer Wandel Sprachliche Verwandtschaft des althochdeutschen Wortes ‚fridu‘ und des mittelhochdeutschen ‚fride‘ besteht mit den Worten ‚frei‘, ‚freien‘ und ‚Freund‘. Darunter werden ‚Sicherheit‘ und ‚Schutz‘ verstanden, vornehmlich Schutz vor äußerer willkürlicher Gewalteinwirkung. Die indogermanische Wurzel ‚pri‘ geht auf die Bedeutung von ‚lieben‘ und ‚schonen‘ zurück, d. h. einen Zustand der Liebe und Schonung, wobei mehr die aktive gegenseitige Hilfe und Stütze als die emotionale Bindung und Zuneigung gemeint sind. ‚Friede‘ wird hier als etwas Soziales begriffen. Es ist kennzeichnend für das menschliche Zusammenleben. Ausschlaggebend war dabei, ob man ‚Friede‘ vom ‚Lieben‘ oder vom ‚Schonen‘ her ableitete. Im ersten Fall berührte die Bedeutung ein Verhältnis gegenseitiger Verbundenheit in Gesinnung und Tat wie unter Blutsverwandten oder im zweiten Fall die bloße Gewaltlosigkeit. Die im Kern innewohnende Semantik von althochdeutsch ‚fridu‘ deutete vor allem in die zweite Richtung. Dafür sprach im Mittelalter die begriffliche Gegenüberstellung von Sühne und Friede, wobei dieser Friede lediglich das zumeist zeitlich befristete Aussetzen von Gewalttätigkeiten zum Ausdruck brachte. Die heute noch gebräuchliche Redewendung ‚Lasse mich in Frieden‘ steht im eigentlichen Wortsinne für die Aufforderung ‚Störe mich nicht!‘20 Das führt uns noch weiter zurück in die Geschichte. Weite Bereiche der Entwicklung des Friedensbegriffs lassen sich nämlich nicht nur am althochdeutschen ‚fridu‘, sondern viel mehr mit dem lateinisch-römischen Begriff ‚pax‘ fassen und entsprechend kombinieren, ein Terminus, der mit der christlichen Theologie eng verbunden ist, wobei sich entwicklungsgeschichtlich seit dem Mittelalter eine Durchdringung christlich-theologischer Ideenbestandteile mit germanischen Vorstellungen, d. h. zum Teil auch eine Synonymik zwischen ‚fride‘ und ‚pax‘ einstellte und verstärkt seit der frühen Neuzeit moraltheologische sowie sozialund staatsphilosophische Elemente einflossen. Der Begriff wurde zunehmend politisch und fand auch fremdsprachliche Verbreitung durch ‚pace‘, ‚paix‘ und ‚peace‘. Im Unterschied zum germanischen Friedensbegriff des sozialen Lebens begriff die christliche Theologie ‚pax‘ als kosmisches Ordnungsprinzip im vollen Sinne als Endzustand mit Versöhnung und Vereinigung alles Lebendigen quasi in Gott. Im christlichen Friedensterminus dominierten ‚moralische‘ und ‚eschatologische‘ Wesenszüge. Der „paix perpetuelle“ von 1713 des Abbé de Saint Pierre (*18. Februar 1658 in Saint-Pierre-Église; †29. April 1743 in Paris)21 steht für die Denkfigur des dauerhaften Friedens.
20 Wilhelm Janssen, Friede, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhard Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, E–G, Stuttgart 1975, 543–591. 21 Michael Gehler, Europa. Ideen – Institutionen – Vereinigung – Zusammenhalt, Reinbek/Hamburg 2018, komplett überarbeitete und erheblich erweiterte Neufassung der Version von 2010, 115–118.
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Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren verschiedene Ausprägungen des Friedensbegriffs vorhanden. Der weit weniger transzendierende sozial-utopisch, sondern vielmehr juristisch anmutende Begriff der ‚pax civilis‘ bzw. des ‚pactum pacis‘ als Zustand staatlich garantierter ‚öffentlicher Ruhe und Sicherheit‘ aus der Frühen Neuzeit ging allmählich auf den zwischenstaatlichen Bereich über, d. h. auf die Realität und den Zustand der aufgehobenen oder ruhenden Gewalttätigkeit. Dabei galt der internationale Friede als labiler Vertragszustand. Die ‚zwischenstaatliche Waffenruhe‘ wurde als Begriff gebräuchlich, der vertraglichen Rechtsverhältnissen und damit dem Willen souveräner Vertragspartner unterworfen war. Aufklärung und Liberalismus begriffen Frieden als Forderung der moralisch-praktischen Vernunft, sodass nur ein ‚ewiger Friede‘ wie jener im „Traktat zum Ewigen Frieden“ (1795) von Immanuel Kant (*22. April 1724 in Königsberg, Preußen; †12. Februar 1804 ebendort) zielvorgebend als ‚pax aeterna‘ vorschweben konnte.22 Die Geschichte der Hegemonialreiche und Imperien zeigt, wie stark fokussiert auf den Friedensbegriff sie argumentiert und sich selbst dargestellt haben. Die ‚Pax Augusta‘ wurde noch vor der weitesten Ausdehnung des Imperium Romanum propagiert, die ‚Pax Britannica‘ noch vor der größten Erweiterung des British Empire. „Lʼempire cʼest la paix“, ließ Napoléon III. verlauten und das deutsche Kaiserreich sah sich einzig und „wahrhaft“ als „der Friede“ an.23 Die machtpolitisch legitimatorisch intendierte Fokussierung des Friedensbegriffs auf innergesellschaftliche wie außen- und nachbarschaftspolitische Ordnungsvorstellungen war gerade auch von Anfang an bei Hegemonialmächten und Imperien vorhanden, die Heilserwartung und Friedensverheißung versprachen, was sich in wiederkehrenden sendungsbewussten Begrifflichkeiten wie der der ‚Pax Romana‘ oder gar der ‚Pax Sovietica‘ oder der ‚Pax Americana‘ widerspiegelte. Dieser imperiale Friede forderte die Unterwerfung unter die Herrschaft des Imperators, des Kaisers oder des Präsidenten, gab aber auch vor, Schutz vor Angreifern von außen und Sicherung von Wohlstand im Inneren zu garantieren. Schon Tacitus hat dies jedoch als ein Täuschungsmanöver über den wahren Charakter der Herrschaft kritisiert. Thomas von Aquin hat zwischen dem „wahren“ und dem „scheinbaren“ Frieden unterschieden, „vera pax“ und „vera apparens“24. Durch die eigentlich egoistischen, herrschaftlich interessen- und machtpolitisch geleiteten Motive, die sich hinter diesem imperialen Messianismus verbargen, setzte eine Beliebigkeit bis hin zur Inhalts- und Sinnentleerung des Begriffs ‚Frieden‘ ein, der zu einem euphemistischen Mehrzweckinstrument verkommen konnte und nur scheinbar für Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit stand. Dem empirisch nachweisbaren, real nur zeitlich befristeten Frieden zwischen Staaten kam nur ein vorläufiger Wert zu. Er galt im Gegensatz zum ewigen Frieden lediglich als Atempause 22 Ebd., 118–120; Ludger Kühnhardt, Von der ewigen Suche nach Frieden. Immanuel Kants Vision und Europas Wirklichkeit, Bonn 1996. 23 Janssen, Friede, 588–590. 24 Siehe auch Frieden, in: Brockhaus. Die Enzyklopädie in 24 Bänden, 7. Band, EW-FRIS, 20. Auflage, Leipzig/ Mannheim 1997, 700–704, 701.
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für neue Kriege und bloßer Waffenstillstand,25 zumal im Zeitalter vor dem Ersten Weltkrieg der Krieg als solcher noch als Antriebsfaktor für kulturellen Fortschritt und Ausdruck von sittlicher Reinigung angesehen wurde, was im Sommer 1914 im Zeichen der „Stahlgewitter“ (Ernst Jünger26) so empfunden wurde. Zuvor verschmolz moralisches Friedensdenken mit utilitaristischem Friedensdenken in der Doktrin des ‚bellum iustum‘, wobei es in der Französischen Revolution in der Begrifflichkeit des Friedens zu einer Trennung von Staat und Frieden kam.27 Jene Vorstellung, die Sinn und Zweck von Krieg nicht nur als naturgemäßes und notwendiges, ja sogar legitimes und zulässiges Mittel zur Absicherung, Behauptung und Steigerung staatlicher Macht begriff, erfuhr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt in der Geschichte Europas. Es wurde integraler Bestandteil faschistischen und nationalsozialistischen Gedankengutes. Mit dem Jahr 1945 ist – versinnbildlicht mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht als Pars pro Toto für andere geschlagene Armeen in Europa – ein definitiver Bruch mit dieser Denkweise verbunden. Der Bellizismus mit der Denunzierung des ‚faulen Friedens‘ und der Lobpreisung des ‚frisch-fröhlichen Krieges‘, wie es Marschmusik zu vermitteln versuchte, fand ein Ende.
III. Drei Nachkriegsordnungen in Europa (1919/20, 1945–55, 1990–2019) Wenn wir die Geschichte Europas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachten, so gab es zwei Versuche von Nachkriegsordnungen, und zwar nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Zunächst geht es um die imperialistische Nachkriegsordnung mit dem gescheiterten Frieden 1919/20–1939 und sodann um die Divide-et-Impera-Nachkriegsordnung Europas mit dem „Integrationsfrieden“ für Westdeutschland und Westeuropa 1945/55–1990, begleitet von Entspannungsprozessen (siehe 3). 1. Die imperialistische Nachkriegsordnung und der gescheiterte Friede 1919/20–1939 Der Zusammenbruch von vier europäischen Großreichen im Zeitraum von 1918 bis 1922 (das russische Zarenreich, das deutsche Kaiserreich, die Habsburgermonarchie und das osmanische Reich) traf die politischen Kulturen und die entsprechenden Räume Europas tiefgehend. Er erzeugte eine zersplitterte Staatenwelt, sodass aufgrund vieler neuer nationalstaatlicher Einzelinteressen eine ausgewogene Friedensregelung nur schwerlich realisiert werden konnte.
25 Jansen, Friede, 545. 26 Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Ein Kriegstagebuch, 14. Aufl., Berlin 1934. 27 Für dies und das Folgende: Janssen, Friede, 551 ff., 553 ff., 556 ff., 563 ff., 567 ff., 570 ff., 572 ff. und 585 ff.
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Wie schwer diese Aufgabe nach 1918 zu lösen sein musste, zeigen uns allein schon der Zerfall nur eines Imperiums wie das der Sowjetunion und die Schwierigkeiten bei der Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung ab 1989/91 in einem weit gefestigteren System der internationalen Beziehungen und Organisationen im Vergleich zum Zusammenbruch und Verlust der Imperien zwischen 1918 und 1922. Bei der Friedens- und Nachkriegsordnung von 1919 ging es den Siegermächten um fortgesetztes Handeln in hegemonialen sowie imperialistischen Denkkategorien der Vorkriegszeit. Von europäischer Verantwortungspolitik konnte keine Rede sein, wie auch die jüngsten Beiträge und die Monografie von Arnold Suppan zeigen.28 Die Verliererstaaten mussten die ihnen im Wesentlichen auferlegten Bedingungen nahezu bedingungslos akzeptieren. Sie wurden ihnen diktiert. Das traf für die Unterzeichnung der Pariser Vororte-Verträge in Versailles für das Deutsche Reich am 28. Juni 1919,29 in Saint Germain-en-Laye am 10. September 1919 für Österreich,30 in Neuilly-sur-Seine am 27. November 1919 für Bulgarien und in Trianon für Ungarn am 4. Juni 192031 zu. Der Frie28 Arnold Suppan, Die imperialistische Friedensordnung Mitteleuropas in den Verträgen von St. Germain und Trianon, in: Helmut Rumpler/Harald Heppner/Erwin A. Schmidl (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848– 1918, Bd. XI: Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, Teilbd. 2: Vom Vielvölkerstaat ÖsterreichUngarn zum neuen Europa der Nationalstaaten, Wien 2017, 1257–1342; ders., The Imperialistic Peace Order in Central Europe: Saint-Germain and Trianon 1919/20, Wien 2019. 29 Karl Bosl (Hrsg.), Versailles – St. Germain – Trianon. Umbruch in Europa vor fünfzig Jahren, München/Wien 1971; Peter Krüger, Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung, München 1986; Sebastian Haffner/Gregory Bateson, Der Vertrag von Versailles, Berlin 1988 mit dem kompletten Text des Versailler Vertrages; Manfred F. Boemeke/Gerald D. Feldman/Elisabeth Glaser (Hrsg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, New York/Cambridge 1998; Gerd Krumeich (Hrsg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001; Eberhard Kolb, Der Frieden von Versailles, München 2005; Hans-Christof Kraus, Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933, Berlin 2013; Margaret MacMillan, Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, Berlin 2015; Gerd Krumeich, Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik, Freiburg i. Br. 2018; Eckart Conze, Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, München 2018. 30 Lajos Kerekes, Von St. Germain bis Genf. Österreich und seine Nachbarn 1918–1922, Budapest 1979; Fritz Fellner, Die Friedensordnung von Paris 1919/20 – Machtdiktat oder Rechtsfriede? Versuch einer Interpretation, in: Isabella Ackerl u. a. (Hrsg.), Politik und Gesellschaft im alten und neuen Österreich. Festschrift für Rudolf Neck, Bd. II, Wien 1981, 39–54; Fritz Fellner, Der Vertrag von Saint Germain, in: Erika Weinzierl/Kurt Skalnik (Hrsg.), Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Republik I, Graz/Wien/Köln 1983, 85–106; Isabella Ackerl/Rudolf Neck (Hrsg.), Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979 in Wien, Wien 1989; Klaus Koch/Walter Rauscher/Arnold Suppan/Elisabeth Vyslonzil (Hrsg.), Von Saint Germain zum Belvedere Österreich und Europa 1919–1955 (Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918–1938, Sonderband), Wien 2007; Carlo Moos, Die deutschösterreichische Friedensdelegation und der Staatsvertrag von St. Germain, in: Ders., Habsburg post mortem, Wien 2016, 23–44; Robert Kriechbaumer/Michaela Maier/Maria Mesner/Helmut Wohnout (Hrsg.), Die junge Republik Österreich 1918/19, Wien/Köln/Weimar 2018. 31 Anikó Kovács-Bertrand, Der ungarische Revisionismus nach dem Ersten Weltkrieg. Der publizistische Kampf
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densvertrag von Sèvres mit der Türkei vom 10. August 1920 trat nicht in Kraft und wurde durch den für Ankara weit günstigeren Frieden von Lausanne vom 24. Juli 1923 ersetzt. Die Pariser Vororte-Verträge repräsentierten keinen Kompromiss- und Verständigungsfrieden, sondern einen Unterwerfungsfrieden. Sieger und Verlierer konnten nicht unter der Voraussetzung der Gleichberechtigung agieren. Verhandlungen fanden praktisch nicht statt. So kam kein Interessenausgleich im Wege der Kompromissfindung zustande. Die Pariser Verträge waren in der Absicht, im Verfahren, im Umgang und der Zielsetzung als Bestrafungsaktionen angelegte und so unter Druck durchgesetzte Friedensverordnungen. Sie stellten einen weitgehenden Bruch mit einer jahrhundertelang erprobten europäischen Verantwortungspolitik nach erfolgten Kriegen dar, so wie sie mit den Friedensverträgen von Osnabrück und Münster (1648), Rastatt (1714), dem Wiener Kongress (1814/15) und dem Pariser Frieden (1856) praktiziert worden war.32 Sowohl Woodrow Wilson als auch David Lloyd George waren für Verhandlungen mit dem ehemaligen Kriegsverbündeten Russland, was Georges Clemenceau und der italienische Außenminister Sidney Sonnino jedoch verhinderten. Es sollte 1919/20 keine gesamteuropäische Friedenskonzeption geben. Eine inhaltliche Neubestimmung von ‚Europa‘ unterblieb. Der Völkerbund basierte auf Ideen Wilsons ‚Im Namen der Menschheit‘ während des Ersten Weltkriegs, artikuliert im Rahmen seiner ‚14 Punkte‘ vom 8. Januar 1918. Er wurde zum integralen und konstitutiven Element der Friedensverträge und mit dem Pariser Vororte-System aufs engste verknüpft.33 Dieser Umstand wirkte jedoch nicht fördernd für sein Gelingen, sondern vielmehr belastend. Erschwerend hinzu kam das Ausbleiben einer vertragsrechtlichen Zusicherung seitens der USA, deren Kongress die Pariser Friedensverträge nicht ratifizierte. Das Fernbleiben der Vereinigten Staaten vom Völkerbund führte zu einem vorentscheidenden Mangel an Integrität und Universalität dieser internationalen Organisation. Die USA hatten 1917/18 den Krieg entschieden, aber den Frieden 1919/20 verloren. Damit blieb der noch jungen europäischen Nachkriegsordnung die Zustimmung der wesentlichsten westlichen Siegermacht politisch versagt34 – das ist der große Unterschied zur Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als die USA gegen den Friedensvertrag von Trianon (1918–1931), München 1997; Ignác Romsics, Der Friedensvertrag von Trianon (Studien zur Geschichte Ungarns 6), Herne 2005. 32 Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2003; Hans-Christof Kraus, Versailles und die Folgen. Außenpolitik zwischen Revisionismus und Verständigung 1919–1933, Berlin 2013. 33 Wilsons Traum vom ewigen Frieden sollte daher auch ein Traum bleiben, siehe hierzu: Knipp, Im Taumel, 154–180. 34 Georg E. Schmid, Selbstbestimmung 1919. Anmerkungen zur historischen Dimension und Relevanz eines politischen Schlagwortes, in: Karl Bosl (Hrsg.), Versailles – St. Germain – Trianon, 137–140; Klaus Schwabe, Woodrow Wilson. Revolutionary Germany and Peacemaking 1918–1919. Missionary Diplomacy and the Realities of Power (Supplementary volumes to The Papers of Woodrow Wilson), Chapel Hill, NC 1985; Alexander Sedlmaier, Deutschlandbilder und Deutschlandpolitik. Studien zur Wilson-Administration (1913–1921) (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft, Beihefte 51), Stuttgart 2003.
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die Gründung der Vereinten Nationen ganz maßgeblich förderten, ihr Mitglied wurden und so substantiell wie wesentlich hinter dem (halben) Friedenskonzept der westeuropäischen Integration standen. Es waren die Vereinigten Staaten von Amerika, die Verantwortung zumindest für einen Teil des Kontinents nach 1945 übernahmen.35 Abgesehen von den USamerikanischen Banken war das staatlicherseits ganz anders in den Jahren nach 1919/20. Der französische Marshall Ferdinand Foch, Oberbefehlshaber der Armeen der Alliierten an der Westfront, der den Waffenstillstand mit Deutschland unterzeichnet hatte, sah den Versailler Vertrag nicht als Friedensschluss, sondern als Waffenstillstand auf 20 Jahre.36 Der Historiker Gerd Krumeich sprach von einem „Krieg in den Köpfen“, der nicht aufhörte, sondern dort weitergeführt wurde.37 2. Die Divide-et-Impera-Nachkriegsordnung Europas oder der „Integrationsfriede“ für Westdeutschland und Westeuropa 1945/55–1990 – die am längsten währende Ordnung Die europäische Nachkriegsordnung wurde 1945 maßgeblich durch die alliierten Konferenzen der Anti-Hitler-Koalition bestimmt. Die Kooperation zwischen Franklin D. Roosevelt und Josef W. Stalin, die auf den Konferenzen in Teheran (28. November bis 1. Dezember 1943) und Jalta (4. bis 11. Februar 1945) basierte und zu der vom US-Präsidenten angestrebten ‚one world‘ der ‚Vereinten Nationen‘ führen sollte, ließ sich mit dem Sowjetdiktator schon in kurzfristiger Hinsicht nicht verwirklichen, zumal es völlig unterschiedliche Vorstellungen über den politischen und ökonomischen Rekonstruktionsprozess Europas und der Welt gab.38 Allein östliche und westliche ideologische und gesellschaftspolitische Vorstellungen differierten so erheblich und kollidierten in so gegensätzlicher Weise, dass ein Ausgleichs- und Verständigungsfriede zwischen Ost und West nach Niederringung der Hitler-Diktatur weitgehend ausschied. Ein Friedensvertrag mit Deutschland kam gar nicht erst zustande. Lediglich mit Hitlers Verbündeten (Bulgarien, Finnland, Italien, Rumänien und Ungarn) erfolgten 1947 in Kraft getretene Friedensschlüsse. Sie waren mit harten Auflagen und schwerwiegenden Bedingungen für diese Verliererstaaten des Zweiten Weltkrieges verbunden. Die Europäer waren selbst nicht nur viel zu schwach gewesen, um sich selbst zu befreien, sie waren auch nicht in der Lage, geschweige denn allzu einig, um nach 1945 als 35 Gehler, Europa, 207–251; ders., Europa, die internationale Architektur und die Weltpolitik 1917–1920, in: Ders./Thomas Olechowski/Stefan Wedrac/Anita Ziegerhofer (Hrsg.), Der Vertrag von Saint Germain im Kontext der europäischen Nachkriegsordnung (Sonderbd. der Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 2019/2), Wien 2019, 267–292. 36 „Das ist kein Frieden. Es ist ein Waffenstillstand auf 20 Jahre.“, zit. nach Paul Reynaud, Memoires, Bd. 2, Paris 1963, 457. 37 Gerd Krumeich, Versailles 1919. Der Krieg in den Köpfen, in: IDEM (Hrsg.), Versailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, Essen 2001, 53–64. 38 Jost Dülffer, Jalta, 4. Februar 1945, der Zweite Weltkrieg und die Entstehung der bipolaren Welt (20 Tage im 20. Jahrhundert), München 1998.
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‚dritte Kraft‘ zwischen den ‚Blöcken‘ in der sich abzeichnenden Ost-West-Konfrontation eigenständig agieren und selbstbewusst sich positionieren zu können. Winston S. Churchill, der Anhänger einer Donaukonföderation im Sinne einer ‚cordon sanitaire‘-Politik zur Schaffung einer Sicherungszone bzw. eines Schutzwalls gegenüber der Sowjetunion war, einer Idee, die übrigens schon nach 1919 von Frankreichs Außenminister Stéphen Pichon (1917–1920) entwickelt worden war, hatte einen alliierten Vorstoß von Südosteuropa über den Balkanraum favorisiert, sich aber als immer schwächer werdender Juniorpartner der USA gegen Roosevelt nicht durchsetzen können, der bereits mit Stalin über eine neue Weltordnung der neuen „anti-imperialistischen“ Mächte räsoniert hatte. Die neuen „anti-imperialistischen“ Mächte USA und UdSSR schickten sich an, die alt-kolonialen Mächte Großbritannien und Frankreich abzulösen, um selbst die Rolle als neo-hegemoniale und neo-imperialistische Weltmächte zu übernehmen. Während in Versailles, St. Germain-en-Laye, Trianon, Neuilly-sur-Seine und Sèvres 1919/20 die europäischen Mächte die Inhalte der Friedensverträge im Wesentlichen selbst bestimmten, dominierten in Jalta und Potsdam im Februar und August 1945 – vorentscheidend zur Pariser Friedenskonferenz 1946, auf der ebenfalls Amerikaner und Briten das Geschehen beherrschten – bereits zwei außereuropäische Mächte, die USA und die UdSSR, die durch ihre Truppenpräsenz und ihre ideologisch-politischen Vorstellungen in Europa entscheidend zur Souveränitätsentsagung der unter ihrer Kontrolle stehenden europäischen Staaten beitrugen – sei dies durch erzwungenen Souveränitätsentzug in Mittel- und Osteuropa oder freiwilligen Souveränitätsverzicht in Westeuropa. Hatten in den Vororten von Paris 1919/20 die Westmächte allein die Nachkriegsordnung festgelegt, so entschied 1945 in Jalta und sodann auch in Potsdam wie in Paris 1946 die UdSSR bereits maßgeblich mit. Großbritannien und Frankreich waren bestenfalls nur mehr Juniorpartner. Die „Erklärung über das befreite Europa“ von Jalta, eine Folge der britisch-amerikanischen Atlantik-Charta vom 14. August 1941, um das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu implementieren, galt nur für einen Teil Europas, denn sie blieb unvollendet angesichts der vollendeten Tatsachen, die Stalin in Mittel- und Osteuropa hinter dem bald von ihm errichteten Satellitenstaaten-System realexistierender sozialistischer Diktaturen und EinparteienStaaten schaffen sollte. Die europäische Nachkriegsordnung von 1945 war von der bald einsetzenden Ost-West-Teilung des Kontinents bestimmt.39 Die 1949 gegründete NATO im Westen mit dem Einschluss der Bundesrepublik und die Bildung des Warschauer Pakts im Osten besiegelten 1955 die Spaltung Europas. Die Europäer im Osten waren nahezu völlig entmachtet und jene im Westen weitgehend entmachtet, fern davon, eigenmächtig Verantwortung zu übernehmen. Dazu wurden sie von den USA im Zeichen des Marshall-Plans (1948–1952/53) durch Liberalisierung des Handels und des Zahlungsverkehrs sowie auch durch Embargo-Politik gegenüber der Sowjetunion und ihren Verbündeten mehr oder weniger gezwungen. 39 Gehler, Europa, 207–211.
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Nach Auffassung des Historikers Hanns Jürgen Küsters hatten die drei westlichen Siegermächte für diesen Teil Europas eine neue Form des Friedensschlusses gesucht, den „Integrationsfrieden“. Küsters schreibt: „Der Integrationsfriede bezeichnet einen vorausschauenden Frieden, der den Gegner nicht zerschmettert, sondern ihm die Möglichkeit zugesteht, unter Kontrolle eines Allianzsystems, das ein gewisses Mächtegleichgewicht herzustellen vermag, seine Verteidigungsfähigkeit wiederzuerlangen.“40 Küsters vermag den Vorgang relativ einsichtig und überzeugend zu charakterisieren: Die neuen Elemente waren die Form und der Inhalt des Friedensschlusses im Sinne eines Integrationsfriedens. Er hatte die Vorzüge, negative Effekte eines Diktatfriedens zu vermeiden, aber dennoch Kontrolle durch kollektiven Zusammenschluss zu ermöglichen. Der Besiegte erhielt die Chance zur Rehabilitation und wurde zu einem gleichberechtigten Mitglied der Staatengemeinschaft im Sinne der eigenen Ordnung und Wertegemeinschaft erzogen. Es war kein Diktatfriede, obwohl der Besiegte kaum eine andere Chance hatte, als den Weg in die westliche Gemeinschaft zu gehen und damit indirekt einem gewissen Zwang ausgesetzt war, wenn er künftig in friedlichen Beziehungen mit den westlichen Nachbarstaaten leben wollte.41
Hinzufügen ließe sich: Mit dem Besiegten bzw. Gegner war Deutschland bzw. nur der westliche Teil davon gemeint. Er blieb als „besetzter Verbündeter“42 kontrolliert. Daher war er schwerlich gleichberechtigt, jedenfalls nicht souverän und schlimmer noch: Deutschland blieb geteilt. Weiter fragt sich: Welche Folgen hatte dieser „Integrationsfriede“ der Bundesrepublik für Europa? Gesamteuropäisch gesehen war es ein geteilter Friede, ein westlicher Teilfriede und ein östlicher Teilfriede – mit der Pax Americana für den westlichen und einer Pax Sovietica für den östlichen Teil Europas. Darüber schwebte eine Pax Atomica, das atomare Gleichgewicht des Schreckens. Dieser „Integrationsfriede“ war ein kalter und ein „negativer“ und letztlich ein „geteilter“ Friede basierend auf der deutschen Teilung (Bundesrepublik, DDR). Um tatsächlich zu einem ganzheitlichen, gemeinsamen und einigenden gesamteuropäischen positiven Integrationsfrieden zu gelangen, war die Entspannungspolitik der 1970er Jahre des KSZE-Prozesses mit den ostmitteleuropäischen Staaten und der UdSSR notwendig. Damit deutete sich so etwas wie eine eigenständige Pax Europa an.43 40 Weitere Ausführungen hierzu siehe Hanns Jürgen Küsters, Der Integrationsfriede. Viermächte-Verhandlungen über die Friedensregelung mit Deutschland 1945 – 1990 (Dokumente zur Deutschlandpolitik Studien 9), München 2000, 894–900, 897. 41 Ebd., 894. 42 Hermann-Josef Rupieper, Der besetzte Verbündete. Die amerikanische Deutschlandpolitik 1949 – 1955 (Studien zur Sozialwissenschaft 95), Opladen 1991. 43 Wilfried Loth, Der KSZE-Prozess 1975–1990: eine Bilanz, in: Matthias Peter/Hermann Wentker (Hrsg.), Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975 – 1990 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2012, 323–331; ders., Die Rettung der Welt. Entspannungspolitik im Kalten Krieg 1950–1991, Frankfurt a. M. 2016.
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Mit dem Jahr 1990 habe, laut Küsters, der Integrationsfriede seine gesamtdeutsche Vollendung gefunden, aber hat er auch eine gesamteuropäische Dimension angenommen? Für die Zeit vor 1989 hatte er jedenfalls keine gesamteuropäische Gestalt. Einen ersten Versuch dazu stellte die Formel „Wandel durch Annäherung“ dar. 3. „Wandel durch Annäherung“: Von der deutschen Ostpolitik über die Schlussakte von Helsinki zur europäischen Verantwortungspolitik 1963–1989 Am 15. Juli 1963 hielt Egon Bahr eine denkwürdige Rede in der Evangelischen Akademie Tutzing am Starnberger See, die unter dem Schlagwort „Wandel durch Annäherung“ in die Geschichte eingegangen ist.44 Bahr führte dabei u. a. aus: „Wir haben bitter gelernt, Realitäten anzuerkennen, auch wenn sie einem gar nicht gefielen. Das war der Beginn des Umdenkens.“ Was hatte er damit gemeint? Ausgangspunkt seiner Überlegungen war der Mauerbau in Berlin seit dem 13. August 1961. Laut Bahr konnte man sich unentwegt darüber entrüsten, dagegen demonstrieren und protestieren oder aber aktiv werden, sich rühren, Gesprächen zuwenden und sich dem Gegner zu öffnen, um ihn zu öffnen und die Voraussetzungen für eine Änderung der Lage zu schaffen. Bahr erwähnte in seiner Rede das Wort ‚Frieden‘ dreimal: Die amerikanische Strategie des Friedens läßt sich auch durch die Formel definieren, daß die kommunistische Herrschaft nicht beseitigt, sondern verändert werden soll. Die Änderung des Ost/West-Verhältnisses, die die USA versuchen wollen, dient der Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll. Das klingt paradox, aber es eröffnet Aussichten, nachdem die bisherige Politik des Drucks und Gegendrucks nur zu einer Erstarrung des Status quo geführt hat. Das Vertrauen darauf, daß unsere Welt die bessere ist, die im friedlichen Sinn stärkere, die sich durchsetzen wird, macht den Versuch denkbar, sich selbst und die andere Seite zu öffnen und die bisherigen Befreiungsvorstellungen zurückzustellen.45
Die Rede war eine Abrechnung mit der „Politik der Stärke“ und der Westintegration von Konrad Adenauer der 1950er Jahre. Bahr rekurrierte auf die im Vergleich zu US-Präsident Dwight D. Eisenhower und US-Außenminister John Foster Dulles veränderte Zugangsweise der Kennedy-Administration zur Sowjetunion unter Nikita S. Chruschtschow. Im Kern ging es Bahr um das Schicksal der Menschen hinter der Mauer und darum, die Menschen durch
44 Homepage der 100(0) Schlüsseldokumente zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, Egon Bahr, „Wandel durch Annäherung“. Rede in der Evangelischen Akademie Tutzingen [Tuzinger Rede], 15. Juli 1963, https:// www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_de&dokument=0091_bah&object=translation&l=de (abgerufen am 12.12.2019). 45 Deutschlandarchiv 8 (1973), 862–863.
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die Mauer zu bringen, d. h. um humanitäre Erleichterungen für die Ost-Berliner und Ostdeutschen. Die Zielrichtung des Gedankens „Wandel durch Annäherung“ bestand in der Ablehnung der Verweigerung der politischen Realitäten, also in der Anerkennung des militärisch-politischen Status quo. Auf den Punkt gebracht besagte die Zielrichtung: Kontakte und Kooperation statt Konflikt und Konfrontation. Zentrale Motivation war die Annäherung an einen Versuch zur Lösung der deutschen Frage: Die erste Folgerung, die sich aus einer Übertragung der Strategie des Friedens auf Deutschland ergibt, ist, daß die Politik des Alles oder Nichts ausscheidet. Entweder freie Wahlen oder gar nicht, entweder gesamtdeutsche Entscheidungsfreiheit oder ein hartes Nein, entweder Wahlen als erster Schritt oder Ablehnung, das alles ist nicht nur hoffnungslos antiquiert und unwirklich, sondern in einer Strategie des Friedens auch sinnlos. Heute ist klar, daß die Wiedervereinigung nicht ein einmaliger Akt ist, der durch einen historischen Beschluß an einem historischen Tag auf einer historischen Konferenz ins Werk gesetzt wird, sondern ein Prozeß mit vielen Schritten und vielen Stationen. Wenn es richtig ist, was Kennedy sagte, daß man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsse, so ist es sicher für die Sowjet-Union unmöglich, sich die Zone zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen zu lassen. Die Zone [sic! recte: DDR] muß mit Zustimmung der Sowjets transformiert werden. Wenn wir soweit wären, hätten wir einen großen Schritt zur Wiedervereinigung getan.46
Eine „Strategie des Friedens“ konnte mit der Aufrechterhaltung eines geteilten Deutschlands nicht vereinbart werden. Sie bestand laut Bahr im Versuch der Lösung der deutschen Frage. Ohne eine Befriedung und Einigung Deutschlands sollte auch Europa nicht zum Frieden und zu seiner Vereinigung kommen. Das war im Grunde eine Diplomatie und Politik der europäischen Verantwortung. Bahr sah umso mehr einen großen Fehler darin, aus Angst und Sorge angesichts der Größe des Kontrahenten vor Ehrfurcht zu erstarren und in eine reine Abwehrhaltung zu verfallen. Vielmehr sollten dessen Defizite und Schwachpunkte erkannt und analysiert werden, um zu wissen, wie damit selbstbewusst umzugehen sei: Wir haben gesagt, daß die Mauer ein Zeichen der Schwäche ist. Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit zu nehmen, daß auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Selbstbewußtsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in
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das westliche Konzept der Strategie des Friedens einpaßt, denn sonst müßten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik.47
Der aufsehenerregende Effekt dieser Rede war durch einen Regiefehler entstanden. Brandt sollte in Tutzing vor Bahr sprechen. Dieser referierte entgegen dem Ablaufplan vor Brandt, der erst verspätet eintraf. Brandt war von der Bahrʼschen Formulierung nicht überzeugt gewesen. Er hatte Sorge vor Missverständnissen und innenparteilicher Überforderung.48 Es sollte dann in der innenpolitischen Auseinandersetzung auch nicht lange der Vorwurf der ideologischen Selbstaufgabe und der politischen Unterwerfung vor dem weltanschaulichen Gegner auf sich warten lassen. Was Bahr in Tutzing vor der Rede Brandts ausführte, war nicht mehr als eine Formel. Aus dieser musste erst im Planungsstab des Auswärtigen Amtes ein Konzept entwickelt werden. Es wurde ein langer und mühsam zu beschreitender Weg bis zum Moskauer Vertrag (1970) und zum Grundlagenvertrag (1972), gepflastert vom wiederkehrenden Abbau von Misstrauen und Spannungen, wiederholtem Streit um Begriffe und deren Neuformulierungen, dem Aufbau eines speziellen Kommunikationsdrahtes (Stichwort Back Channel) zur Vermeidung von Missverständnissen, der Verhinderung von Gesichts- und Prestigeverlust, aber auch von der Beibehaltung eines Parallelkanals ins Weiße Haus. Voraussetzungen der neuen Ostpolitik waren ein Mindestmaß an Risikobereitschaft, die Ignorierung von parallel laufenden konterkarierenden Geheimdienstaktivitäten sowie der Umstand, dass Walter Scheel ganz auf der Linie Brandts blieb, also das Verhältnis Außenminister und Vizekanzler zu Bundeskanzler trotz bestehender Irritationen, Rivalitäten und Spannungen zwischen Bundeskanzleramt und Auswärtigem Amt klar geregelt war. Aus der Formel wurde schließlich ein Konzept mit einer Abfolge von Verträgen, welches letztlich zur KSZE führte. KSZE stand für „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“. Am 1. August 1975, 12 Jahre nach Tutzing, wurde die Schlussakte in Helsinki unterzeichnet. Nachfolgekonferenzen in Belgrad (1977–1979), Madrid (1981–1983) und Wien (1986–1989) folgten. Diese Thematik hat in der zeitgeschichtlichen Forschung zum Kalten Krieg lange Zeit ein Schattendasein gefristet und noch keinen eigenen Stellenwert im kollektiven Gedächtnis des „Neuen Europa“ gefunden. Es kann nicht behauptet werden, dass der 1. August 1975 mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki in gemeinsamer Erinnerung der Europäer in Ost wie West fest verankert wäre. Gleichwohl sie eine Politik der Verantwortungsübernahme für den gesamten Kontinent darstellte, war sie höchst umstritten. Das hat viele Gründe: Ursprünglich von der Sowjetunion inspiriert, in dem scheinbar als ‚finnlandisiert‘ geltenden Helsinki als bloße Absichtserklärung verabschiedet, deshalb völkerrecht47 Ebd. 48 Homepage der Willy Brandt Stiftung, Willy Brandt über die Formel „Wandel durch Annäherung“ aus dem Jahr 1963, https://www.willy-brandt-biografie.de/quellen/videos/wandel-durch-annaeherung-1963/ (abgerufen am 12.12.2019).
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lich unverbindlich, waren die Menschenrechtsforderungen des Westens nur eingeschränkt im Osten realisiert worden. Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und Andrej Sacharow lehnten die KSZE ab, in der sie eine Rechtfertigung der Vormachtstellung der UdSSR in Ostmitteleuropa erblickten. Der dreijährige Verhandlungsvorlauf von hunderten von Diplomaten aus 35 Ländern unter Einschluss Kanadas und der USA wurde in der westlichen Öffentlichkeit kritisch gesehen. Jimmy Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński war ein entschiedener Gegner der KSZE. Die Opposition im Osten reagierte die ersten Jahre nach der Schlussakte reserviert und sah die Gefahr eines Ausverkaufs ihrer Ziele durch den Westen. Für Timothy Garton Ash war der Beitrag der KSZE nichts anderes als ein ex-post konstruierter „Helsinki-Mythos“49 – welchʼ merkwürdige Einschätzung eines der später prominentesten Zeitzeugen-Protagonisten, der das Jahr 1989 hinter dem Eisernen Vorhang aktiv miterleben und mit seinen epochemachenden Ereignissen und Umbrüchen ebenso eindrücklich darstellen konnte.50 Ein mehrjähriges umfassendes Kooperationsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin mit der Sorbonne und der Universität Erlangen-Nürnberg hat zum „KSZEProzess. Multilaterale Konferenzdiplomatie und ihre Folgen“ zahlreiche aufschlussreiche Ergebnisse zutage gefördert, die eher nicht für den Helsinki-Mythos sprechen, sondern mehr für einen Helsinki-Effekt, wenngleich die Wiener Folgekonferenz 1986–1989 noch gar nicht einer systematischen Dokumentation und Erforschung unterzogen worden ist. Das wird jetzt durch ein von der DFG, dem FWF und dem Schweizer Nationalfonds gefördertes Projekt zwischen Genf, Innsbruck, Hildesheim und Wien für die nächsten drei Jahre (2020–2023) möglich sein. Ziel des Unternehmens München-Paris-Erlangen-Nürnberg war es, den diplomatiegeschichtlichen Rahmen der KSZE und dessen Aufnahme in den ostmitteleuropäischen Gesellschaften zu erfassen. Dabei sollten Politik- und Gesellschaftsgeschichte miteinander verbunden werden, um den Beitrag der KSZE zur Beendigung des Kalten Krieges zu bestimmen. Dies ist durch eine Reihe von Monografien belegt.51 Für den Helsinki-Mythos sprachen die (scheinbare) Besiegelung des hegemonialen Anspruchs der UdSSR auf Ostmitteleuropa, die Festschreibung der Teilung des Kontinents, der angebliche „Verrat“ am Freiheitsstreben jenseits des „Eisernen Vorhangs“, die Gegensätze bei den Folgetreffen, die sowjetische Aufrüstung, der NATO-Doppelbeschluss, der neue Rüstungswettlauf, die Modernisierung der Atomwaffen, die Entwicklung neuer Raketenabwehrsysteme und die Ausrufung des Kriegsrechts in Polen.52 49 Gehler, Europa, 304–309. 50 Timothy Garton Ash, The Polish Revolution: Solidarity, 1980–82, London 1983; ders., We are the People: The Revolution of ’89 Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin and Prague, Cambridge 1990; ders., Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980–1990, München 1992. 51 Siehe die in den folgenden Anmerkungen zitierten Werke. 52 Matthias Peter/Hermann Wentker, „Helsinki-Mythos“ oder „Helsinki-Effekt“? Der KSZE-Prozess zwischen
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Für den „Helsinki-Effekt“ sprachen dagegen die Dynamik des Konferenzsystems, der gewonnene Handlungsspielraum der mittleren und kleineren Staaten in Ostmittel- wie Westeuropa, die KSZE als Katalysator für die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) der Europäischen Gemeinschaften,53 die Einbeziehung der humanitären Dimension in den Nachfolgekonferenzen, die Förderung der politischen Integration der EG-Staaten und ihr forscheres Auftreten gegenüber den USA, die Lockerung der Fesseln der sogenannten „Breschnew Doktrin“ seitens der ostmitteleuropäischen Staaten, die Aufwertung der Neutralen und ihre Vermittlerrolle zwischen Ost und West im Sinne der Transformation Europas in den 1980er Jahren, der Abschluss der deutschen Ostpolitik, die Absicherung des VierMächte-Status von Berlin sowie die neue und wachsende Rolle nicht-staatlicher Akteure, wie z. B. der Menschenrechtsgruppen, für den gesellschaftlichen Wandel. Diese erhielten durch die KSZE eine Berufungs- und Legitimationsgrundlage.54 Als Erfolgskriterium kann auch gelten, dass der KSZE-Prozess trotz Krisen und Spannungen beibehalten wurde. An seiner Fortsetzung blieben v. a. die neutralen Staaten interessiert. Die USA waren in Menschenrechtsfragen zunächst nicht eindeutig positioniert. Für den knallharten Diplomaten und Realpolitiker Henry Kissinger hatten diese keine Priorität. Mit der Amtszeit Jimmy Carters (1977–1981) nahmen sie jedoch einen bedeutenderen Stellenwert ein – auch unter Inkaufnahme des Zusammenbruchs des KSZE-Nachfolgeprozesses. Die französische KSZE-Politik unter Valéry Giscard d’Estaing machte sich für Abrüstung, Rüstungskontrolle und insbesondere Kulturaustausch stark. Für den deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt waren Fortschritte in Menschenrechtsfragen wegen der Deutschen in der DDR elementar. Den Briten gelang der Spagat zwischen der erwünschten Förderung der Veränderung der sozialen Verhältnisse in Osteuropa bei gleichzeitiger Wahrung des transatlantischen Zusammenwirkens.55 Einen flexibel-pragmatischen Kurs in Menschenrechtsfragen praktizierte Bundeskanzler Bruno Kreisky, womit Österreich vom Osten als Vermittler ernst genommen werden wollte.56 Die Schweiz ging noch weiter, verließ die Linie der neutralen und nicht-gebundenen sogenannten „N+N-Staaten“ und forderte die Menschenrechte so massiv wie die USA unter Carter ein.57 Schweden engagierte sich mehr für vertrauensbildende Maßnahmen. Die DDR und Polen spürten die Auswirkungen der KSZE-Nachfolinternationaler Politik und gesellschaftlicher Transformation. Zur Einleitung, in: Matthias Peter/ Hermann Wentker (Hrsg.), Die KSZE im Ost-West-Konflikt, München 2012, 3 f. 53 Gabriele Clemens, Europäisierung von Außenpolitik? Die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) in den 1970er Jahren (Publications of the European Union Liaison Committee of Historians 19), Baden-Baden 2019. 54 Peter/Wentker, „Helsinki-Mythos“, 4–6. 55 Ebd., 9. 56 Benjamin Gilde, Österreich im KSZE-Prozess 1969–1983. Neutraler Vermittler in humanitärer Mission (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 98), München 2013. 57 Philip Rosin, Die Schweiz im KSZE-Prozess 1972–1983. Einfluss durch Neutralität (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 99), München 2014.
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getreffen auf ihre Gesellschaften.58 Amnesty International verschaffte sich mehr und mehr Geltung. Unterschiedliche Helsinki-Gruppen entstanden. In Madrid waren die sowjetischen Vertreter in der Frage der Familienzusammenführung konzessionsbereit, um westliche Zustimmung zu einer Abrüstungskonferenz zu erlangen. Damit desavouierte Moskau die Interessen der DDR-Führung, die in der Folge durch eine Welle von Ausreiseanträgen stärkstens unter Druck kam. Die Ostdeutschen waren auf der Wiener Nachfolgekonferenz in einer Zwangslage, da die Öffnungsbereitschaft der UdSSR unter Michail S. Gorbatschow zu einer Einschränkung der Handlungsspielräume des SED-Regimes und letztlich auch zur friedlichen Revolution in der DDR beitrug. Das Wiener Folgetreffen hatte auf den Reformprozess in der UdSSR unter Gorbatschow keinen unwesentlichen Einfluss.59 Eine Bedeutung hatte die KSZE auch für das Freiheitsstreben der baltischen Helsinki-Gruppen. Fehlte noch eine Studie zur Rolle der Bundesrepublik im KSZE-Prozess, so ist diese mit der Monographie von Matthias Peter gegeben.60 Für den deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der die Bedeutung des Nachfolgeprozesses spätestens nach Belgrad voll erkannt hatte, war demzufolge die Schlussakte von Helsinki 1975 „ein internationaler Vertrag neuen Typs“. Gleichwohl von Moskau ursprünglich als gesamteuropäisches Sicherheitssystem initiiert und vom Westen auch noch zurückgewiesen, waren die damit verbundenen sowjetischen Ziele (Verdrängung der USA aus Europa, Akzeptanz des eigenen Gebietsstandes sowie Mitsprache bei der Entwicklung in Staaten Westeuropas) nicht erreicht, ja im Wege der „Umkehrung der Diplomatie“ das Gegenteil bewirkt worden: die Einbeziehung der USA in das Konferenzgeschehen und Stärkung ihrer Verantwortung in und für Europa durch die NATO, Nicht-Bestätigung der russischen Hegemonialstellung in Ostmitteleuropa und die Hervorhebung der humanitären Dimension von Politik als zentrales Thema. Es handelte sich nach Genschers Einschätzung um einen „Schulfall einer Umkehrung einer sowjetischen Idee“.61 Frühere Forschungen zeigten bereits: Die Bonner Ostpolitik versuchte schon Ende der 1960er Jahre/Anfang der 1970er Jahre die Entspannungspolitik so multilateralisiert zu nutzen, um die Ostverträge mit Moskau, Warschau, Berlin-Ost und Prag abzuschließen, die deutsche Frage damit offen zu halten und einen Wandel der kommunistischen Gesellschaftssysteme einzuleiten. Das war das Bahr-Brandt’sche Konzept „Wandel durch Annäherung“, das die kompromisslose Westintegrationspolitik der 1950er Jahre abgelöst (welche in eine deutschlandpolitische Sackgasse führte) sowie neue Perspektiven für die ungelöste deutsche Frage eröffnet hatte. Die sozial-liberale Koalition nahm praktisch Europa in die Verantwor58 Anja Hanisch, Die DDR im KSZE-Prozess 1972–1985. Zwischen Ostabhängigkeit und Ausreisebewegung (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 91), München 2012. 59 Yuliya von Saal, KSZE-Prozess und Perestroika in der Sowjetunion. Demokratisierung, Werteumbruch und Auflösung 1985–1991 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 100), München 2014. 60 Für das Folgende siehe Matthias Peter, Die Bundesrepublik im KSZE-Prozess 1975–1983. Die Umkehrung der Diplomatie (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 105), Berlin/München/Boston 2015. 61 Ebd.
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tung zur Lösung der deutschen Frage. Das war europäische Verantwortungspolitik, die Helmut Kohl als Bundeskanzler seit 1982 tel quel übernehmen sollte.62 1990 sollte die deutsche Einheit im europäischen Sinne durch doppelte Integration der DDR in die BRD und beider in die EG/EU gefunden werden.63 In den Verhandlungen über die Schlussakte wollte Bonn die deutsche Frage nicht auf der Tagesordnung haben, sollte die KSZE doch nicht zu einer „Ersatzfriedenskonferenz“ werden, hatte die Bundesrepublik mit Montanunion und Römischen Verträgen ja schon ein westliches Separatfriedensarrangement, den Integrationsfrieden (Küsters), gefunden. Als Mittelmacht und gespaltene Nation im geteilten Europa vor 1989/90 war die Bundesrepublik ein Schlüsselland und zeigte daher auch größtes Interesse an der Aufrechterhaltung des KSZE-Prozesses, der Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre nach der AfghanistanIntervention der UdSSR, der Kriegsrechtsverhängung in Polen und dem NATO-Doppelbeschluss vor dem Zusammenbruch stand, was die USA in der ersten Phase unter Präsident Ronald Reagan wohl auch in Kauf genommen hätten. Mehr als andere Staaten steuerte und erhielt die Bundesrepublik unter Mithilfe der Neutralen den diplomatischen Umkehrprozess. Das war auch möglich, weil die Sowjetunion nach einer Phase der Hochrüstung nun an deren Drosselung Interesse bekundete. Der KSZE-Nachfolgeprozess unterstützte das bundesdeutsche Bestreben, die Ostpolitik fortgesetzt zu multilateralisieren und Informationsflüsse und Kontaktmöglichkeiten im geteilten Deutschland zu verbessern. Wie inzwischen nachgewiesen, war das Auswärtige Amt nicht nur formal federführend, sondern auch inhaltlich gestaltend. Dagegen trat das Bundeskanzleramt merklich zurück. Schmidt dachte weit mehr in traditioneller Machtpolitik auf der Grundlage des Gleichgewichts der wechselseitigen Abschreckung. Militär und Wirtschaft waren für ihn relevanter, gleichwohl die KSZE auch für Abrüstung und Rüstungskontrolle Chancen eröffnet hatte, was Manövrierraum für das Auswärtige Amt schuf. Im Vorfeld der Madrider Folgekonferenz verfolgte es eine Doppelstrategie: militärische Vertrauensbildung und humanitäre Initiativen. Das half auch, die immense Ausmaße annehmende innenpolitische Opposition in Form der Friedensbewegung gegen die NATO-Nachrüstung in der Bundesrepublik etwas zu dämpfen. Genscher nahm trotz der Krise in Polen, die mit dem Verbot der Solidarność im Oktober 1982 gipfelte, eine Schlüsselrolle bei der Fortsetzung des KSZE-Prozesses ein. Madrid bedeutete für den Bundesaußenminister einen Wendepunkt von der Stabilisierungs- zur Transformationsstrategie. Der KSZE-Prozess wurde laut Matthias Peter 1982/83 zum zentralen Instrument deutscher Außen- und Sicherheitspolitik und blieb über den Koalitionswechsel hinweg als ein integ62 Egon Bahr, „Die größte Enttäuschung, die mir Helmut Kohl beigebracht hat, war eine positive“, in: Michael Gehler/Hinnerk Meyer (Hrsg.), Deutschland, der Westen und der europäische Parlamentarismus. Hildesheimer Europagespräche I (Historische Europa-Studien 5), Hildesheim/Zürich/New York 2012, 185–205 und 202 f. 63 Michael Gehler, Die Unvermeidbarkeit einer politischen Entscheidung. Europa und die deutsche Einheit: Bilanz und zukünftige Forschungsaufgaben, in: Ders./Maximilian Graf (Hrsg.), Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017, 791–830.
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rales Kontinuitätselement bestehen. Genscher meinte schon im März 1982 zu US-Vizepräsident George H. W. Bush, Madrid habe ein Fenster geöffnet, durch das „frische Luft nach Osteuropa geweht“ habe. Gegenüber US-Präsident Ronald Reagan ging er noch weiter, als er argumentierte, Helsinki habe den Willen zur Selbstbestimmung der Völker und gegen die kommunistische Vorherrschaft angeregt. Damit setzte sich Genscher auch von der SPD ab, die in Opposition die KSZE-Ergebnisse als Grund für die Unruhen im Ostblock, v. a. in Polen, kritisierte. Er blieb auf Kurs und sah im Nachfolge-Prozess die Chance für ein Klima der Öffnung und sollte damit Recht behalten: Im Rahmen der KSZE sollte sich die deutsche Einheit 1989/90 vollziehen. Genscher sah den KSZE-Prozess nicht – wie Zeitgenossen – als Appeasement, sondern als „Teil eines umfassenden politisch-militärischen Strategiewechsels des Westens“ im Kalten Krieg.64 Unwillkürlich fragt sich, was geschehen wäre, hätte dieser Strategiewechsel schon früher eingesetzt. War nicht das Österreich-Modell (1955) im Kleinen mit Staatsvertrag und Neutralität das von Genscher zitierte erste diplomatiegeschichtliche Beispiel für die Umkehrung sowjetischer Interessen (Einheit und Freiheit Österreichs für Neutralität und sowjetischem Truppenabzug mit demokratisch-westlichem Muster und Destabilisierungsfunktion im Osten)? Ein Jahr später brach der Ungarnaufstand aus – 33 Jahre vor dem „Fall der Mauer“. Erwähnenswert und erklärungsnotwendig bleibt folgender Aspekt: Der erfolgreichen Entspannungs- und Friedenspolitik ging eine Reihe wichtiger symbolischer Begegnungen auf bilateraler Ebene voraus: a) Am 22. Januar 1963 unterzeichneten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer den deutsch-französischen Vertrag. Regelmäßig sollten sich neben den Staats- und Regierungschefs auch Außen-, Familien-, Jugend-, Kultur- und Verteidigungsminister treffen und zusammenarbeiten. Außenpolitisch bestand Konsultationspflicht, um gleiche Positionen einzunehmen. Im Verteidigungsbereich ging es um Personalaustausch, Strategie und Rüstungskooperation sowie in Kultusfragen um Sprachförderung sowie Gleichwertigkeit der Diplome und Forschungskooperation. Das deutsch-französische Jugendwerk wurde durch ein eigenes Abkommen am 5. Juli 1963 Realität. Aus Annäherung entwickelten sich Verständigung und Versöhnung.65 b) Beim Besuch der Volksrepublik Polen legte Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 unmittelbar vor der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags am Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettoaufstands nicht nur einen Kranz nieder, sondern sank auch auf die Knie und verharrte in dieser Haltung schweigend. Dieses Schuldeinbekenntnis und 64 Dieses und das letzte Zitat stammen aus der Besprechung des Buches von Matthias Peter, Frische Luft und Diplomatenduft. Bonns Rolle in der KSZE, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 9. 2015, Politik, 6. 65 Michael Gehler, Die Rede von der EU als Friedens- und Versöhnungsprojekt und ihre verschlungenen Wege zum noch unerreichten Ziel. Eine kritische integrationshistorische Sicht, in: Alexander Merkl/Bernhard Koch (Hrsg.), Die EU als ethisches Projekt im Spiegel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik, Baden-Baden/Münster 2018, 47–56, 51 f.
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die Bitte um Vergebung für Deutschland war auch Teil von Verantwortungsübernahme durch die Bundesrepublik Deutschland.66 c) Im Jahre 1984 begegneten sich Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterrand auf einem der zentralen Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges in Verdun vor den Gebeinhäusern, gedachten der Opfer dieses Infernos und bezeugten dabei gleichzeitig die deutsch-französische Friedfertigkeit, Freundschaft und Zusammenarbeit.67 4. Die im Wesentlichen vom Westen bestimmte Nachkriegsordnung oder die unvollkommene gesamteuropäische Friedensordnung 1990–2019 Nach der Durchschneidung des Eisernen Vorhangs, der Öffnung des Ostens und der Überwindung der Mauer in Berlin sowie dem Ende der seit 1989 bereits in Auflösung befindlichen Sowjetunion eröffneten sich neue friedens- und integrationspolitische Möglichkeiten. Die „Charta von Paris für ein neues Europa“ stand für die Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa nach der Einigung Deutschlands und der Einstellung der Ost-West-Konfrontation. Sie wurde am 21. November 1990 in Paris als Schlussdokument der KSZE-Sondergipfelkonferenz von 32 europäischen Ländern sowie den USA und Kanada unterschrieben. Die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten erklärten die Spaltung Europas für beendet, verpflichteten sich zur Demokratie als einziger Regierungsform und sicherten ihren Völkern die Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu. Das Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas waren damit offiziell dokumentiert. Das Jahr 1989 bedeutete zwar die Wiederentdeckung Mitteleuropas, seine Rückkehr nach Europa und den Beginn einer gesamteuropäischen Neufindung, Brüssel setzte aber unter Kommissionspräsident Jacques Delors mit dem Europäischen Unionsvertrag von Maastricht, d. h. mit dem Binnenmarkt (1993) sowie der Wirtschafts- und Währungsunion (1999/2002) auf Vertiefung des Integrationsprozesses vor der Erweiterung (2004/07). Das bedeutete die Fortsetzung der Westintegration Westeuropas und gleichzeitig eine fundamentale Vorentscheidung für die offen gebliebene Frage einer gesamteuropäischen Friedensordnung. EU- und NATO-„Osterweiterung“ wurden erst durch die Umbrüche in Mittel- und Osteuropa (1989), verursacht durch die Reformpolitik von Gorbatschow (1985–1989), und den Zusammenbruch der Sowjetunion (1991) möglich. Dem Ende der Sowjetunion folgte die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Binnenmarkt und Wirtschafts- und Währungsunion im Westen Europas gingen der EU-„Osterweiterung“ voraus. Damit entstanden in der Mitte und im Osten Europas ein Vakuum und ein Zeitfenster, welches von der NATO und ihrer „Osterweiterung“ zunächst in der Mitte Europas gefüllt bzw. genutzt werden konnte. Polen, Ungarn und Tschechien drängten als erste Beitrittskandidaten auf eine Mitgliedschaft.
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Das Baltikum sowie die mittelost- und südosteuropäischen Staaten wünschten sowohl die EU- als auch die NATO-„Osterweiterung“. Die EU-„Osterweiterung“ wurde von Russland nolens volens hingenommen, dagegen die NATO-„Osterweiterung“ misstrauisch verfolgt und in ihren Weiterungen abgelehnt. Nicht von ungefähr gab es diesbezüglich von US-amerikanischer und bundesdeutscher Seite bereits 1990 mündliche Vertrauenszusagen und Zusicherungen – allerdings keine rechtlich verbindlichen Garantien –, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen. Die Rede war vom Osten Deutschlands! Die NATO-Erweiterung schritt jedoch voran und war der EU-Osterweiterung voraus. 1999 sind Ungarn, Polen und Tschechien der NATO beigetreten. Am 1. Mai 2004 folgte der formelle Beitritt zehn neuer Länder zur EU. Estland, Litauen und Lettland sowie Rumänien, Bulgarien, Slowenien und die Slowakei wurden zudem gleichzeitig noch Mitglieder der NATO. Aus dem ursprünglichen westeuropäisch geprägten Zusammenschluss war damit fast 15 Jahre nach dem „Mauerfall“ eine gesamteuropäische Union geworden. Mit der NATO- und der EU„Osterweiterung“ schien in den Jahren 2004 bis 2007 damit auch eine gesamteuropäische Friedensordnung gegeben, bevor die Georgienkrise und der Kaukasuskrieg 2008 die ersten Vorboten der später folgenden Krim- und Ukrainekrise (2014/15) darstellten. Während US-Präsident George W. Bush auf den NATO-Beitritt Georgiens drängte, lehnten dies Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy ab und praktizierten damit gesamteuropäische Verantwortungspolitik auf ihre Weise. Die EU-„Osterweiterung“ bot für Brüssel und die bisher westeuropäische Europäische Union die Möglichkeit der Ausdehnung des „acquis communautaire“ (gemeinsamen Rechtsbestandes), des Binnenmarkts und seines Handelsraums bis ins Baltikum im Norden und zum Schwarzen Meer im Süden mit der mittel- und langfristigen Perspektive der Integration des „Westbalkans“. Die Entscheidung all dieser Staaten und Regionen für die EU und die NATO und – aus russischer Sicht – ihre Vereinnahmung durch den „Westen“ wurde von Moskau als Eroberungskonzept, d. h. als geopolitischer und geoökonomischer Nachteil für die eigene Position gewertet – gefühlt-subjektiv bzw. vorgespielt oder faktisch-objektiv sei dahingestellt. Um die „Prinzipien des freien Europas“ (Demokratie, Gewaltfreiheit, Menschen- und Minderheitenrechte, Pluralismus sowie Rechtsstaatlichkeit) gemäß der Charta von Paris zu verfolgen, hätte über die EU, WEU und NATO hinaus vor allem die OSZE gesamteuropäische Funktionen ausüben müssen. Im Falle der EU und der NATO ist das geschehen, im Falle der OSZE jedoch nicht. Die OSZE stellte zwar sowohl institutionell als auch organisatorisch die gesamteuropäische Friedensordnung dar, hatte aber von Anfang an budgetäre und personelle Defizite, kapazitäre Probleme und damit politische Schwächen – nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Unterstützung der Mitgliedstaaten. Die WEU ist in der GESVP aufgegangen und als solche nicht mehr existent. Die NATO hat sich gegen den russischen Wunsch erheblich osterweitert. Schon mit dem Fall Georgien und der Ukraine als mögliche EU- und NATO-Mitglieder sind für Russland „rote Linie“ überschritten worden. Mit einer solchen Zielsetzung war auf Dauer eine Friedensordnung für Europa nicht zu realisieren.
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Das war auch eine Politik, die nur schwerlich als europäische Verantwortungspolitik bezeichnet werden konnte. 5. Das Friedensprojekt EU – bewahrter innerer, aber prekärer äußerer Friede und die gefährdete europäische Friedensordnung von 2019 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges gibt es in Europa im Verhältnis zwischen Brüssel und Moskau, aber auch zwischen Washington und Moskau kein Vertrauen, wie es mit Gorbatschow und Reagan im wachsenden Maße seit 1986/87 der Fall war und entsprechend zum INF-Vertrag geführt hatte. Europa befindet sich wieder inmitten von Aufrüstungs- und Sanktionszeiten, womöglich einem anbrechenden neuen Zeitalter. Eine Vision „Europa mit Russland vereint“, von der man noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausgehen mochte oder manche Autoren gar träumen wollten, ist in weite Ferne gerückt, einmal abgesehen davon, dass eine solche Vorstellung kaum im US-amerikanischen Interesse war und auch nicht sein kann. Im Lichte der Demonstration militärischer Stärke und des Wiedererwachens klassischer Machtpolitik seitens Russlands im Zeichen der Okkupation und Annexion der Krim sowie der Maßnahmen zur Destabilisierung und der militärischen Eingriffe in der Ostukraine kann die NATO-„Osterweiterung“ als militärisch notwendige und rückblickend als sicherheitspolitisch wirksame Vorkehrung für die neuen Mitglieder der transatlantischen Allianz gesehen werden. Bei aller Dringlichkeit angesichts der sicherheitspolitischen Vorbeugungsmaßnahmen seitens der baltischen, ostmittel- und südosteuropäischen Länder und der von russischer Seite gesetzten militärischen (Gegen-)Maßnahmen sind jedoch andererseits anhaltendes Konfliktpotential und drohende Kriegsgefahren in diesem Teil Europas nicht auszuschließen, ja womöglich sogar vorprogrammiert. Es fragt sich daher im Sinne einer gesamteuropäischen Verantwortungspolitik umso mehr, ob es nicht alternative Szenarien zumindest zu der forcierten NATO-„Osterweiterung“ gegeben hätte oder ob diese wirklich „alternativlos“ war. Mag das Wort für die Politik gelten, für Historiker jedenfalls nicht. Europa wird keinen Frieden haben, wenn es nicht gelingt, Russland vernünftig an die EU heranzuführen und anzubinden. Das ist in der Zeit der einseitigen Westintegration der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten im Wege von NATO und EU nicht in ausreichendem Maße gleichzeitig geschehen. Die Lage wird durch die Fortsetzung einer solchen europapolitisch verantwortungslosen Politik nicht besser. Dem gefährlichen russischen Revisionismus hätte mit einer alternativen Politik großzügiger Handelsabkommen und entsprechender Wirtschaftsarrangements eventuell die Spitze genommen werden können, was aber nicht im US-amerikanischen Interesse war. Mit den Folgen dieser faktisch und objektiv greifbaren Unterlassung müssen die Europäer nun fertig werden. Neben der Sicherung des äußeren Friedens, v. a. an den Außengrenzen mit sensiblen Nachbarschaftsregionen, stellt sich angesichts der noch nicht bewältigten Langzeitfolgen der „Flüchtlingskrise“ von 2015 und der weiter zu erwartenden Migrationsströme mit nicht
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abzuschätzenden Konsequenzen im Zeichen des sich verschärfenden Klimawandels und der wachsenden Verteilungsunterschiede und Ungleichheitsverhältnisse, sowohl in der EU als auch in der übrigen Welt, umso mehr die Frage der Verantwortung für den „inneren Frieden“ und damit auch jene des Zusammenhalts der EU. Die Sicherung des sozialen Friedens ist angesichts einer dramatisch gestiegenen süd(ost-)europäischen Jugendarbeitslosigkeit und in deren Gefolge einer in Zunahme befindlichen europäischen Binnenwanderung eine der gegenwärtigen und zukünftigen Hauptaufgaben zur Wahrung des „inneren Friedens“. Es bleibt parallel und zeitgleich dazu eine zentrale Frage europapolitischer Verantwortung, auch den „äußeren Frieden“ herzustellen. Für EU-Europa ist daher heute wie morgen mehr denn je die Notwendigkeit gegeben, ein doppeltes, sowohl äußeres wie inneres Friedensprojekt zu werden. Es kann dabei schon zuversichtlich sein, weil es auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken kann: Alle Mitglieder von den Gemeinschaften bis zur Union haben keine militärischen Kriege mehr untereinander geführt. Grenzkonflikte wie um den Brenner, die Oder und die Neisse oder den Rhein spielen jedenfalls unter den alten Mitgliedern keine und unter den neuen Mitgliedern kaum eine Rolle mehr. Religiöse Konflikte konnten weitgehend befriedet und damit stillgelegt werden, wenn man von Randzonen wie Nordirland absieht. Politisch sowie handels- und währungspolitisch geteilte Inseln wie Zypern oder Irland bergen noch Konfliktpotential mit Blick auf ein Regime wie in der Türkei oder ein Brexit-orientiertes England, vom „Westbalkan“ mit gemischtsprachigen, -konfessionellen und -religiösen Ethnien (z. B. Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo oder Mazedonien) gar nicht zu reden. Eine nach außen wie nach innen zu entwickelnde Pax Europa mit in Zukunft ca. 35 Staaten und 600 Millionen Einwohnern ist und bleibt die größte Aufgabe und Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Dafür ist zunächst die Herstellung eines „Finanzfriedens“, d. h. die Sicherung des EU-Budgets im Zeichen des sich vollziehenden Brexit für die kommenden Jahre Grundvoraussetzung.
IV. Fazit und Abschlussthesen Hat der Westen (Europas) nach 1989/90 versagt? Diese Frage stellt sich noch viel mehr für die Zeit nach Ende des Ersten Weltkriegs, als der Westen allein dafür verantwortlich und der Osten Europas von der Friedensregelung praktisch ausgeschlossen war. Nach 1918 gestaltete es sich aber wohl auch weit schwieriger als nach 1989/90, eine gesamteuropäische Friedensordnung zu schaffen. Die Historikerin Margaret Macmillan ging noch weiter zurück und sucht noch einen ganz anderen Vergleich: Laut ihrer Auffassung war es 1814/15 im Zeichen des Wiener Kongresses leichter als 1919/20, Sicherheit und Stabilität zu schaffen, worin ihr zuzustimmen wäre. Tatsache jedenfalls ist, dass sich der Westen, d. h. die EG und ihre Nachfolgerin EU sowie die USA, mit ihren Wertvorstellungen 1990/91 in einer ideologischpolitisch siegreichen sowie gesellschaftlich-ökonomisch weit überlegeneren Position gegenüber der Sowjetunion befanden und sich entsprechend behaupten und durchsetzen konnten.
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Die drei Nachkriegsordnungen der Jahre ab 1919/20, ab 1945–1955 und ab 1990 sind hinsichtlich Absichten, Folgen und Wirkungen zu unterscheiden. a) Als Friedenssysteme verdienen sie eigentlich nur im letzten Fall diesen Namen. Beim ersten Beispiel handelte es sich um eine erzwungene und gescheiterte Ordnung, im zweiten Fall nur um einen Teilversuch. Beide waren räumlich begrenzt. b) Bei zwei der drei genannten Ordnungen hatte der Westen die Initiative als Impulsgeber übernommen – 1918 US-Präsident Woodrow Wilson mit den „14 Punkten“ sowie Roosevelt und Churchill mit der Atlantik Charta 1941 – und entsprechend eine dominante Rolle inne. Dagegen hatte der Faktor Russland (1919/20) zunächst keine, dann zwar eine mitentscheidende (1945), aber im letzten Fall (1990) nur eine untergeordnete bzw. zweitrangige Rolle inne. c) Die am längsten anhaltende „Friedens“- und Nachkriegsordnung war jene von 1945 bis 1989/90, bedingt durch das Eingreifen und Einwirken in Europa durch die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika. Ohne die Einbeziehung äußerer Machtfaktoren – Russland und die USA – wird eine neue Friedens- und Nachkriegsordnung wohl auch kaum gelingen. d) Eine gemeinsame und gesamteuropäische Friedensordnung hatte ab 1990 Aussicht auf Verwirklichung, was aber nur in Ansätzen und ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre bis 2004/07 ohne eingehendere Berücksichtigung oder gar entgegengesetzt zu den Interessen Russlands geschah. (e) Es standen und stehen der Westen und die NATO in der Kritik – zu Recht oder Unrecht sei dahingestellt – es versäumt zu haben, eine nachhaltige gesamteuropäische Friedensordnung zu schaffen. Mehr denn je ist Europas Souveränität gefragt, von der Macron in seiner Rede an der Sorbonne im September 2017 gesprochen hatte, doch unklar bleibt, was mit der von der EU verkündeten „strategischen Autonomie“ wirklich gemeint ist. Ein Macron ist jedenfalls nicht genug. Deutschland ist innenpolitisch geschwächt und Merkel scheint nur mehr bedingt europapolitisch handlungsfähig zu sein. (f) Zur Friedensfähigkeit der EU gehört auch Verteidigungsfähigkeit. Voraussetzung hierfür ist die Entstehung und Kreierung einer europäischen Verteidigungsidentität. Was kann im Sinne eines Ausblicks in Form von Thesen festgehalten werden? a) Eine europäische Friedensordnung ist ohne die nukleare Dimension in Zeiten der Aufkündigung des INF-Vertrages sowohl durch die Russische Föderation als auch durch die Vereinigten Staaten kaum vorstellbar. Deutschland ist Nicht-Atommacht, kann aber wohl wie alle anderen europäischen Staaten nicht ohne atomaren Schutz auskommen, den Frankreich und Großbritannien allein nicht leisten können. Die Frage ‚Deutschland als eigenständige Atommacht‘ ist und bleibt aber wohl noch auf lange Zeit ein absolutes politisches Tabu, innen- wie außenpolitisch. b) Die These „Ein dauerhafter Frieden in Europa ist ohne die USA nicht zu haben“, galt für die Zeiten des Kalten Krieges. Sie hat damit historische Evidenz, ist aber gegenwärtig
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fraglich geworden und für die Zukunft zweifelhaft. Die EU befindet sich nicht erst seit USPräsident Donald Trump in einer postamerikanischen Zeit, die wohl schon in Ansätzen für die Jahre nach 1989/90 festzumachen ist. In Zeiten völlig veränderter internationaler Konstellationen im Zeichen einer multipolaren Weltordnung wird man sich mit andersartigen oder gar gegenteiligen Überlegungen zur europäischen Sicherheitspolitik zu befassen haben. (c) Eine solche Vorgehensweise kann auch neben oder notfalls sogar ohne die Vereinigten Staaten, z. B. mit einer rüstungstechnisch und verteidigungspolitisch gestärkten EU in Zukunft denkbarer werden, zumal davon auszugehen sein wird, dass Washington – egal welche Administration regiert – (mit Hilfe Polens oder mittels der Ukraine) an einer fortdauernden Konfrontation der Europäer mit Russland ein nicht unerhebliches Eigeninteresse hat. Das wiederum kann aber nicht im Interesse einer europäischen Verantwortungspolitik sein. d) Die wichtigste Herausforderung für die Sicherheitspolitik Europas bleibt Russland, wobei historisch noch genauer zu erforschen ist, ob die jüngeren Konfrontationspotentiale wirklich unvermeidlich gewesen sind und wer tatsächlich oder nur vermeintlich Chancen verpasst hat. (e) Die Empörung über die russische Annexion der Krim war berechtigt, zumal sie völkerrechtlich begründet ist, hilft aber nicht weiter. Der Status quo wird zunehmend politisch akzeptiert werden. Sympathien für die Ukraine liegen nahe. Gehört aber dieser Staat noch in den Sicherheits- und Verantwortungsbereich der NATO? Und Georgien? Der naheliegende Revisionismus der russischen Außenpolitik erhielt durch solche amerikanischen Ambitionen und transatlantischen Aspirationen neue Argumente, zumal wenn man Russland vor aller Welt als „Regionalmacht“ zu bezeichnen oder gar zu verspotten versucht, wie es US-Präsident Barack Obama 2014 getan hat.68 Das ist das Gegenteil von europäischer Verantwortungspolitik, nämlich amerikanische Interessenpolitik. (f) Es fragt sich daher, ob sich die bestehende Konfrontationspolitik à la longue nicht abmildern und abbauen lassen muss. Eine Konzeption wie „Wandel durch Annäherung“ könnte dabei mehr helfen als Sanktionen. Gelingt ein solches Vorhaben nicht, droht der bereits bestehende neue Kalte Krieg sich weiter fortzusetzen, mit wachsenden Gefahren für den Frieden besonders in Europa. Gleichwohl eine gesamteuropäische Friedensordnung mit einer integralen Lösung noch aussteht, wird die EU selbst für dieses Projekt in erster Linie das wohl geeignetste Unternehmen sein – weder Russland noch die USA können und wollen sie (alleine) garantieren, wobei sich fragt, ob sie sich eine EU als starke politische Union überhaupt wünschen. Die EU als Friedensprojekt kennzeichnet sich bereits durch drei existierende Friedensformen, wobei die Aufgabe bleibt, sie vor Bedrohungen zu schützen und vor Gefahren zu bewahren:
68 Matthias Kolb, ‚Was hinter Obamas Seitenhiebe steckt‘, in: Süddeutsche Zeitung, 26.3.2014.
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a) Mit der erklärten Absage an Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie dem Bekenntnis zur religiösen Toleranz unter erklärter Vermeidung eines expliziten Gottesbezugs ist die EU ein säkulares Friedensprojekt im Inneren. Sie stellt durch Außerstreitstellung der drei großen Offenbarungstheologien (Judentum, Christentum und Islam) einen neuartigen Europäischen Religionsfrieden dar und dient damit als Verantwortungsgemeinschaft Europas. Die Renationalisierung mit Blick auf die Beschwörung des „christlichen Abendlandes“ wie auch der politisch radikalisierte Islam stellen daher auch gefahrvolle Herausforderungen für das säkulare Projekt EU dar. b) Der Integrationsfriede besteht ferner im Binnenmarkt und der Einheitswährung als Kernelemente der Union, wobei die verstärkte Wirtschaftsintegration in Ballungsräumen auch zu Desintegrationstendenzen in Randbereichen und Nachbarschaftsregionen führen kann. Der Währungsfriede ist in Nord- und Zentraleuropa zwar gegeben, aber brisant und bleibt prekär, da dem Euroraum in manchen südeuropäischen Mitgliedsländern wie Griechenland und Italien deutliche Anzeichen von Spaltungstendenzen innewohnen. c) Die EU wird mit Blick auf Konfliktlösung und Krisenprävention auch im Außenbereich ein Friedensprojekt bleiben müssen. Es trägt damit europäische Verantwortung in Nachbarschaftsregionen wie im internationalen Bereich, benötigt aber eine viel stärkere Abstimmung unter den EU-Mitgliedern und v. a. die Unterstützung ihrerseits. Drei Friedensprojekte bleiben wohl die vordringlichste Aufgabe für die Zukunft eines tragfähigen und verantwortungsgemeinschaftlichen Europas: a) Die Erhaltung des sozialen Friedens durch Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das kann durch Stärkung des Europäischen Sozialfonds und gezielte Beschäftigungspolitik auf europäischer Ebene geschehen. b) Durch die sich auf unabsehbare Zeit weiter stellende Frage der Zuwanderung wird ein Migrationsfrieden innerhalb der EU-Staaten durch eine gemeinsame Asylregelung herzustellen sein, gleichwohl es zum Asylrecht materiell und verfahrensrechtlich ausreichende Vorgaben für das nationale Recht gibt. Die Qualität des Asylverfahrens ist hierbei nicht das Problem, sondern das Dublin-Zuständigkeitsmodell, wobei ein automatischer Verteilungsmechanismus das grundsätzliche Problem als solches nicht löst und den primären Anlaufstaaten jeden Anreiz zur Grenzkontrolle nimmt. c) Für die Bewältigung dieser Herkulesaufgabe müsste die Herstellung des Finanzfriedens unter den Mitgliedstaaten gewährleistet sein, der bei einem fortbestehenden zeitlich stets befristeten Budgetrahmen nur bedingt herstellbar ist und angesichts der eingeschränkten Fähigkeit zur Mobilisierung eigener Ressourcen ein gravierendes Strukturdefizit der EU bleiben wird. Sie kann nur so stark sein, wie es ihre Mitglieder auch zulassen. Für sie stellt sich in erster Linie die Frage der politischen Verantwortung für den europäischen Frieden. An erster Stelle bleibt hier Deutschland gefordert, für das der kategorische Integrationsimperativ gilt.
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Abschließend lässt sich sagen, dass es ein enges und ein weites Konzept von und für Frieden gibt. Ersteres bedeutet lediglich die Abwesenheit von Krieg und von unkontrollierter Gewalt („negativer“ Friede). Das viel weitergehende Konzept von Frieden weist Dimensionen der individuellen Entwicklung, der Rechtssicherheit, der Grund- und Menschenrechte, der Herrschaftsteilung, der gemeinsamen Souveränitätsausübung und eine breite Palette von Möglichkeiten gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer und persönlicher Emanzipation und Partizipation auf. Dieser Friede leistet im klassischen Sinne auch Schonung und bietet Schutz. Die EU steht für diesen säkularen „positiven“ Frieden. Als einziges bisheriges Projekt in der Geschichte Europas könnte sie weiter dafür sorgen, dass die ewige Suche nach Frieden (Ludger Kühnhardt) zu einem guten Ende führen wird.
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Die EU als postkoloniale Verantwortungsgesellschaft I. Einleitung Europa und Afrika, auf diesen beiden Kontinenten soll hier der Fokus liegen, blicken auf eine lange Geschichte gemeinsamer Beziehungen zurück, wobei das in Europa bekannte Afrika zunächst auf die Küstengebiete des Mittelmeeres und den Unterlauf des Nils begrenzt war. In der Antike galt dieses Meer weniger als Barriere, sondern vielmehr als gemeinsamer Handelsraum. Über weite Teile dieser Beziehungsgeschichte war Afrika dabei Europa in den breiten Themenfeldern Wissenschaft, Kultur oder Politik überlegen. Das nachhaltige Ungleichgewicht zu Ungunsten Afrikas begann sich in der Neuzeit zu manifestieren. Vehikel für die europäische Vormachtstellung war der Kolonialismus mit allen direkten und indirekten Begleiterscheinungen, wobei der transatlantische Sklavenhandel ein besonders verabscheuungswürdiges Kapitel dieser Beziehungen darstellt. Mitte des 20. Jahrhunderts begannen sich die europäischen Kolonialmächte aus Afrika zurückzuziehen. Dieser Prozess gilt aus europäischer Sicht mittlerweile als abgeschlossen. Parallel zu diesem Rückzug begann in Europa auch ein Integrationsprozess, der spätestens 1951 einen institutionellen Niederschlag fand und ab 1992 in das Verständnis einer Europäischen Union (EU) mündete, die als solche erst mit dem Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 1. Dezember 2009) entstand. Die Entwicklung der Position des sich einigenden Europas gegenüber Afrika steht im Zentrum dieses Textes. Aktuell ist dazu von einer Allianz Afrika-Europa1 die Rede, zu der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 2018 erklärte: Wir müssen […] mehr in unsere Partnerschaft mit diesem großen und erhabenen Kontinent und seinen Ländern investieren. Und wir müssen endlich aufhören, ihn nur mit den Augen eines Gebers von Entwicklungshilfe zu betrachten. So zu denken, würde viel zu kurz greifen. Und es wäre demütigend. Afrika braucht keine Almosen. Afrika braucht eine ausgewogene Partnerschaft, eine echte Partnerschaft. Und wir Europäer brauchen diese Partnerschaft gleichermaßen.2
1 Europäische Kommission, Stärkung der Partnerschaft der EU mit Afrika. Eine neue Allianz Afrika-Europa für nachhaltige Investition und Arbeitsplätze, Lage der Union 2018, 12.9.2018, https://ec.europa.eu/commission/ sites/beta-political/files/soteu2018-factsheet-africa-europe_de.pdf (abgerufen am 12.12.2019). 2 Jean-Claude Juncker, Lage der Union 2018. Die Stunde der Europäischen Souveränität, Autorisierte Version der Rede zur Lage der Union 2018, Straßburg 12.9.2018, https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/ files/soteu2018-speech_de.pdf (abgerufen am 12.12.2019).
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Seit 1963 das erste einer ganzen Reihe von Partnerschaftsabkommen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und ausgewählten afrikanischen Staaten unterzeichnet worden ist,3 werden der gegenseitige Nutzen und die Kooperation auf Augenhöhe betont. Vor diesem Hintergrund die Europäische Union (EU), die 2012 immerhin mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist, als Solidargemeinschaft gegenüber afrikanischen oder anderen ehemaligen Kolonien zu bezeichnen, wäre allerdings eine Verzerrung. Hier soll primär auf Basis der Dokumente zu multilateralen Abkommen Europas mit Partnerländern aus dem globalen Süden der Frage nachgegangen werden, ob das sich ständig weiter integrierende Europa als postkoloniale Verantwortungsgesellschaft zu bezeichnen ist. Verantwortung wird dabei als Bereitschaft verstanden, für Geschehenes einzustehen.
II. Europa und Afrika – Beginn einer ungleichen Partnerschaft Der Integrationsprozess in Europa und die Entkolonialisierung Afrikas gehen gewissermaßen Hand in Hand – nicht nur zeitlich. Es gibt auch eine Reihe von Wechselwirkungen, die allerdings nicht Teil dieser Untersuchung sind. Hier liegt der Fokus auf Europas Rolle als Verantwortungsgemeinschaft. 1. Die ersten Schritte Der Beginn der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht leicht festzumachen und es gibt unterschiedliche Ereignisse, die alle für sich berechtigt sind, einen Startpunkt zu markieren. Hier soll die Rede von Winston Churchill an der Universität Zürich am 19. September 19464 als ein erster Schritt zum geeinten Europa herausgegriffen werden. Darin beschreibt der ehemalige britische Premier Europa als Paradies, das gerade aus den Fugen geraten sei. „Frieden, Sicherheit und Freiheit“ müssten nun wiederhergestellt werden – und zwar in einem geeinten Europa. Die Wirtschaft als Substanz dieser Einheit wird dabei von Churchill nicht explizit betont und auch die Verbindung zu den „vier Freiheiten“5, die US-Präsident Franklin D. Roosevelt 1941 gewissermaßen als globale Blaupause für die Welt 3 Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Vertragswerk über die Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den mit dieser Gemeinschaft assoziierten afrikanischen Staaten und Madagaskar, Yaoundé, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, 20. 7. 1963 (ABl.) 7 (1964), P93, 64/346/ EWG. 4 Winston Churchill, Rede in Zürich, Zürich 19.9.1946, https://www.churchill-in-zurich.ch/site/assets/ files/1807/rede_winston_churchill_englisch.pdf (abgerufen am 12.12.2019). 5 Franklin Delano Roosevelt, State of the Union-Rede, Washington 06.01.1941, The American Presidency Project, UCSB, Santa Barbara, https://millercenter.org/the-presidency/presidential-speeches/january6-1941-state-union-four-freedoms (abgerufen am 12.12.2019). Die vier Freiheiten: Redefreiheit; Religionsfreiheit; Freiheit von Not; Freiheit von Furcht [vor Krieg].
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nach dem Krieg propagiert hatte, kann nicht als Vorbote einer Wirtschaftsunion verstanden werden. Den Briten ging es in erster Linie um die Sicherheit in Westeuropa – Sicherheit vor einer gemäß der damaligen Auffassung expansionistischen Sowjetunion. Um Churchills primäre Sorge zu verstehen, ist ein Sprung über den Atlantik und zurück in der Zeit notwendig. Dort, in Fulton, Missouri, hat er ein halbes Jahr zuvor ebenfalls eine Rede gehalten. Auf Einladung seines Freundes, Präsident Harry S. Truman, sprach er am 5. März 1946 von einem „Eisernen Vorhang“, der Europa teile und warnte vor der Sowjetunion als neue kriegstreibende Macht nach der Niederwerfung des Nationalsozialismus. Vor diesem Hintergrund brauche eine sichere Welt ein geeintes Europa.6 Sechs Monate später, in Zürich, setzte Churchill diese Rede gewissermaßen fort. In Europa selbst glaubte er die Gefahr aus dem Osten nicht extra betonen zu müssen. Er konzentrierte sich daher auf die Einigung als Bollwerk dagegen. Dabei fiel ein Satz, der imperialistisches Denken verrät, indirekt aber eine Entwicklung unterstützte, die Churchill so nicht beabsichtigt hatte: das Drängen in den Kolonien auf Unabhängigkeit. Churchill dozierte in Zürich: Die Errettung der Menschen aller Rassen und aller Länder aus Krieg und Knechtschaft muss auf soliden Grundlagen beruhen und garantiert werden durch die Bereitschaft aller Männer und Frauen, lieber zu sterben, als sich der Tyrannei zu unterwerfen.7
Mit einer solchen Rhetorik schaffte der Kriegspremier es einst, das Vereinigte Königreich zum Kampf gegen den Nationalsozialismus zu mobilisieren. Churchill knüpfte mit seinen Worten in Zürich an einen der Grundsätze der Atlantik-Charta an, die er 1941 mit Präsident Roosevelt festlegte.8 In Bezug auf den Verantwortungsbegriff wäre dies tatsächlich fördernd zu verstehen: ein Aufruf, sich gegen Unterdrückung zu wehren. Aber damals hatten die beiden Staatsmänner keine Entkolonialisierung im Sinn, wie der Politikwissenschaftler Ali A. Mazuri in der UNESCO-Geschichte Afrikas festhielt: Mit der Unterzeichnung der Atlantic-Charta im August 1941 haben Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt nicht nur das Unrecht in Europa verurteilt, obwohl es Churchill vorrangig um Europa ging. Ohne es zu realisieren, haben sie damit auch das Todesurteil aller Vorstellungen eines ‚gerechtfertigten Kolonialismus‘ im 20. Jahrhundert unterzeichnet.9 6 Winston Churchill, Sinews of Peace-Rede, Fulton 05.03.1946, NATO Library, Fulton, MO, https://www.nationalchurchillmuseum.org/sinews-of-peace-iron-curtain-speech.html (abgerufen am 12.12.2019). 7 Churchill, Zürich. 8 Joint Statement by President Roosevelt and Prime Minister Churchill (Atlantic Charta), auf See 14.8.1941, in: Foreign Relations of the United States, 1941, vol. I, hrsg. von United States Department of State, Washington 1959, 368–369. 9 Ali A. Mazuri, Seek ye first the political kingdom, in: Ali Mazrui/C. Wondji (Hrsg.), Africa since 1935 (General History of Africa 8), Oxford 1993, 105–126, 112 f.
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Die Atlantik-Charta wurde auch innerhalb von Churchills Amtskollegen im Kreis der europäischen Kolonialmächte nicht antikolonial verstanden – nur antikommunistisch. Es galt nach dem Sieg vielmehr, die Imperien aufrecht zu erhalten. Darin sahen diese Politiker ihre Verantwortung. Konkret standen zum Zeitpunkt der Zürich-Rede von Churchill noch 99 Gebiete der Erde unter Fremdherrschaft, 86 davon unter europäischer Kontrolle. Diese Territorien lagen in Afrika, das bis auf wenige Ausnahmen noch flächendeckend kolonialisiert war, dem Nahen Osten, Asien, der Karibik und dem Pazifik.10 Churchill präsentierte in Zürich auch konkrete Vorstellungen zur Umsetzung jener Vision „Vereinigter Staaten von Europa“11, die er nach eigenen Angaben bei Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi entlehnte: Ein Europarat sei zu gründen, wobei der Brite das Vereinigte Königreich nicht als Mitglied dieser neuen Regionalorganisation betrachtete, sondern als Partner, der sich auf die weltumspannende Macht des Commonwealth of Nations stütze. Anfangs könnten vielleicht noch nicht alle Staaten diesem neuen Bund beitreten, aber das Vereinigte Königreich an der Spitze des Commonwealth wäre, gemeinsam mit den USA und vielleicht (und hier brachte Churchill die Allianz während des Zweiten Weltkrieges ins Spiel) auch der Sowjetunion, Schutzmacht dieses neuen Europas. Drei Jahre nach Churchills Rede in Zürich erhielt die paneuropäische Idee einen neuen Impuls. Entgegen dessen Ankündigungen in Zürich war das Vereinigte Königreich Gründungsmitglied des Europarates, der am 05. Mai 1949 mit dem Vertrag von London ins Leben gerufen wurde. In dem Gründungsdokument gab es keinen direkten Bezug auf europäischen Kolonialbesitz, indirekt ist in Artikel 1 der Satzung aber das Bekenntnis zur UN-Charta festgehalten. In Artikel 3 heißt es zudem, dass innerhalb der Jurisdiktion der Mitgliedstaaten alle Menschen „der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden sollten“.12 Die Grundidee des Kolonialismus verträgt sich weder mit der UN-Charta13 noch mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte14. Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Vertrages von London waren noch 66 Territorien unter kolonialer oder treuhänderischer Kontrolle der zehn Europarats-Gründungsmitglieder (das UN-Treuhandsystem ist die Fortsetzung des Mandats-Systems des Völkerbundes, durch das die Verwaltung der Kolonien und abhängigen Gebiete von Österreich-Ungarn, Deutschland und dem Osmanischen Reich nach
10 Homepage der Vereinten Nationen (VN), List of former Trust and Non-Self-Governing Territories, https:// www.un.org/dppa/decolonization/en/history/former-trust-and-nsgts (abgerufen am 12.12.2019). 11 Churchill, Zürich. 12 Europarat, Europarat-Satzung, London 05.05.1949, in: Albrecht Alexander Randelzhofer (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, München 1994, 51–63. 13 VN, Charta der Vereinten Nationen, San Francisco 26.06.1945, in: Albrecht Randelzhofer (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, 23–50, 41 f. 14 VN, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, New York 10.12.1948, in: Albrecht Randelzhofer (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, 179–185.
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dem Ersten Weltkrieg anderen Mächten übertragen wurde).15 Diese Institution war also keineswegs eine Verantwortungsgemeinschaft im Sinn des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die Atlantic-Charta von 1941, das Regelwerk der Vereinten Nationen aus 1945 sowie das Ende des Zweiten Weltkrieges generell hauchten dem Antikolonialismus und Nationalismus in den Kolonien aber neues Leben ein. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg, als das 14-Punkte-Programm von Woodrow Wilson16 den Kolonialvölkern schon einmal Hoffnung machte, war der Freiheitsdrang diesmal nicht mehr zu bremsen. Den Europarat, von dessen zehn Gründungsmitgliedern immerhin fünf Kolonialmächte waren, interessierte dies zunächst jedoch wenig. Er verstand sich als Wertegemeinschaft – und ignorierte dabei einige jener Werte, die bereits universellen Charakter hatten. 2. Integration und Entkolonialisierung Überspringt man die Organisation for European Economic Co-operation (OEEC) zur Abwicklung des Marshallplans als Vehikel der europäischen Integration, folgt mit der Gründung der Montanunion 1952 der nächste Schritt in einer zu diesem Zeitpunkt noch höchst asymmetrischen Beziehung. In Europa begann der Integrationsprozess jene Institutionen auszubilden, die letztendlich in die EU mündeten, während der Großteil Afrikas noch unter kolonialer Herrschaft stand. Im Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion) spielten die Kolonien aber keine Rolle. Robert Schuman, damals französischer Außenminister und einer der Gründerväter der Europäischen Integration, erklärte in seiner Rede am 9. Mai 1950, in der er die Montanunion vorschlug, aber noch: „Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils.“17 Tatsächlich fokussierte das Dokument auf Friedenssicherung und die Belebung der Ökonomie Nachkriegseuropas durch wirtschaftliche Integration. In keiner Zeile wurden darin die Kolonien genannt.18 Die europäisch kontrollierten Territorien in Übersee spielten aber eine wichtige Rolle bei der Verabschiedung der Römischen Verträge, unterzeichnet am 25. März 1957. Offiziell 15 VN, Non-Self-Governing Territories. 16 Woodrow Wilson, Address to a Joint Session of Congress on the Condition of Peace, Washington D.C. 08.01.1918, The American Presidency Project, UCSB, Santa Barbara, https://www.presidency.ucsb.edu/documents/address-joint-session-congress-the-conditions-peace-the-fourteen-points (12.12.2019). 17 Europäische Union (Homepage), Schuman-Erklärung, Paris 09.05.1950, https://europa.eu/european-union/ about-eu/symbols/europe-day/schuman-declaration_de (abgerufen am 12.12.2019). 18 EUR-Lex, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Paris 18.5.1951, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/ PDF/?uri=CELEX:11951K/TXT&from=EN (abgerufen am 12.12.2019).
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signierten die Staats- und Regierungschefs von Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und der Niederlande dabei den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Paris, Rom und Amsterdam konnten dabei auch schon auf ehemalige Kolonien verweisen. Postkoloniale Verantwortung sollte in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zunächst aber keine Rolle spielen. Vielmehr wurde im vierten Teil des Vertragswerkes eine Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete festgeschrieben – eines Großteils der noch bestehenden Kolonien. Diese Gebiete wurden in Anhang IV separat aufgelistet: Französisch Westafrika (Senegal, Sudan, Guinea, Elfenbeinküste, Dahomey [heute: Benin], Mauretanien, Niger und Obervolta [heute: Burkina Faso]); Französisch Äquatorialafrika (Mittelkongo [heute: Republik Kongo], Ubangi-Shari [heute: Zentralafrikanische Republik], Tschad, Gabon [heute: Gabun]); Saint Pierre und Miquelon, Komoren-Archipel, Madagaskar und zugehörige Gebiete, Französisch Somaliland [heute: Dschibuti], Neukaledonien und zugehörige Gebiete, die französischen Niederlassungen in Ozeanien, die australen und antarktischen Gebiete; die autonome Republik Togo [ein Gebiet aus dem UN-Treuhandsystem]; das unter französischer Verwaltung stehende Treuhandgebiet Kamerun; Belgisch-Kongo [heute: Demokratische Republik Kongo] und Ruanda-Urundi [letzteres im Vertrag nicht explizit als UN-Treuhandgebiet ausgewiesen; 1962 entstanden daraus die beiden Staaten Ruanda und Burundi]; Das unter italienischer Verwaltung stehende Treuhandgebiet Somaliland [ebenfalls ein UNTreuhandgebiet, heute Teil Somalias]; Niederländisch Neuguinea [heute Teil von Indonesien].19
Aus dem Vertragstext selbst ist ein Verantwortungsgefühl der entstehenden Gemeinschaft gegenüber diesen Kolonien abzulesen. In Artikel 131 heißt es: Ziel der Assoziierung ist die Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Länder und Hoheitsgebiete und die Herstellung enger Wirtschaftsbeziehungen zwischen ihnen und der gesamten Gemeinschaft.20
Artikel 132 enthielt aber eine brisante Forderung, welche die Solidarität in Europa auf eine harte Probe stellte: „Die Mitgliedsstaaten beteiligen sich an den Investitionen, welche die
19 EUR-Lex, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Rom 25.05.1957, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:11957E/ TXT&from=DE (abgerufen am 12.12.2019). 20 Ebd.
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fortschreitende Entwicklung dieser Länder und Hoheitsgebiete erfordert.“21 Die Mitglieder der neuen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) waren damit also gezwungen, sich an Investitionen zur Entwicklung der Kolonien zu beteiligen, konnten handelsmäßig aber davon auch profitieren. Vor diesem Hintergrund wäre ein näherer Blick auf die Wechselwirkung zwischen der europäischen Integration und der Dekolonialisierung, besonders in Afrika, interessant.22 Hier sei nur auf grobe Entwicklungslinien hingewiesen: Die Assoziierung war eine Idee aus Paris, wo man sorgenvoll Auflösungstendenzen der Union française registrierte (die Französischen Union entstand 1946 mit der Verfassung zur IV. Republik aus dem französischen Kolonialimperium und hatte das britische Commonwealth of Nations zum Vorbild). Die Folgen des Zweiten Weltkrieges machten die Administration der Kolonien schwierig und für notwendige Investitionen z. B. in Infrastruktur fehlte das Geld. Dazu kam, dass nach der militärischen Niederlage in Indochina 1954 (Dien Bien Phu) und mit dem Erwachen bzw. der Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins in den Kolonien (z. B. die Konferenz von Bandung 1955) dem Kolonialismus international nicht nur moralisch, sondern auch politisch ein Ende beschieden schien – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs, in dem Nikita Chruschtschow die neuen Staaten der sogenannten Dritten Welt und um Selbstbestimmung ringende Politiker bzw. Aktivisten als potentielle Verbündete erkannte. Paris musste sich gewissermaßen zwischen seinem Imperium (besonders in Afrika) und einer Partizipation an den nächsten Integrationsschritten in Europa entscheiden. In dieser Situation erschien die Idee einer Assoziation der Kolonien an die entstehende EWG der ideale Ausweg, den es den europäischen Partnern schmackhaft zu machen galt.23 Gerade in Deutschland, neben Frankreich die stärkste Macht in dieser neuen Gemeinschaft, fürchteten Kritiker, über die EWG in kolonialpolitische Probleme gezogen zu werden. Sorge machten der Nahe Osten einerseits und Afrika, wo seit 1954 der Algerienkrieg wütete, andererseits.24 Bei den Verhandlungen im Vorfeld der Römischen Verträge war Frankreich nicht bereit, von der Assoziierungs-Idee und damit verbundenen französischen Vorrechten abzuweichen, während die europäischen Partner wenig Lust auf eine Verwicklung in die französische Kolonialpolitik verspürten, in die sie zu investieren gezwungen würden. Dieses Patt konnte erst bei einem Gipfel in Paris am 20. Februar 1957 überwunden werden,25 wobei die französischen Delegierten auch die Karte einer moralischen Verantwortung spielten, die man 21 EUR-Lex, EWG. 22 Dazu z. B.: Peo Hansen/Stefan Jonsson, Eurafrica. The Untold History of European Integration and Colonialism, London 2015. 23 Homepage der CVCE.eu, The Association of the Overseas Countries and Territories, https://www.cvce. eu/en/education/unit-content/-/unit/02bb76df-d066-4c08-a58a-d4686a3e68ff/cdab7870-56cb-439a-b75042eda8ee4602 (abgerufen am 12.12.2019). 24 Der Spiegel, „Es ist verflucht teuer“. Ein SPIEGEL-Gespräch über den gemeinsamen Markt mit dem SPDBundestagsabgeordneten Dr. Schöne, 28 (1957), 26–32. 25 CVCE.eu, Association.
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gegenüber weniger „entwickelten“ Staaten übernehmen müsse.26 Das Assoziierungsübereinkommen im Rahmen der EWG war zunächst auf fünf Jahre beschränkt (Artikel 136). Die EWG und das darin definierte Verhältnis zu den Kolonialgebieten der Mitgliedsländer bilden den Nukleus der institutionalisierten Beziehungen zwischen einem sich integrierenden Europa und Kolonien in Afrika (als auch in anderen Weltregionen). Die Vorteile aus französischer Sicht wurden kurz dargelegt, während die restlichen europäischen Bündnispartner die Sonderstellung ausgewählter Kolonien zur Rettung des Gesamtprojekts hinnahmen. Aber wie wurde diese Entwicklung in den abhängigen Gebieten bewertet? Leopold Sedar Senghor, seit 1951 senegalesischer Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung, gründete eine Gruppe von Volksvertretern aus den Kolonien, die Indépendants dOutre-Mer (IOM). Bei einem IOM-Kongress in Burkina-Faso im Februar 1953 reagierten die Abgeordneten auf die europäischen Integrationspläne, konkret die Bemühungen um eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die seit 1952 diskutiert wurde. In Bezug auf die Auswirkungen auf Afrika hieß es, äußerste Wachsamkeit sei vonnöten, „um zu vermeiden, daß durch die europäische Gemeinschaft ein pacte colonial (d. h. eine koloniale Ausbeutung) wieder aufersteht, der tyrannischer und umfassender wäre als der alte.“27 Die EVG war bald vom Tisch, in Europa begann stattdessen die EWG Gestalt anzunehmen. Es war, neben anderen, auch wieder Senghor, der sich dazu prominent äußerte: Europa dürfe Afrika nicht vergessen; wenn man Afrika in der neuen Gemeinschaft nicht von Anfang an einen Platz einräume, werde dies in Zukunft die Beziehungen der beiden Wirtschaftsräume belasten.28 Nun wurden die meisten Kolonien der Bündnisstaaten zwar Mitglieder der EWG, allerdings nur als assoziierte überseeische Länder und Gebiete am Gängelband Europas – um einerseits Frankreich den Besitzstolz auf ein Imperium zu verlängern und andererseits als Rohstofflieferant bzw. Absatzmarkt zu dienen. Guy Arnold zitierte dazu in seiner umfassenden Geschichte Afrikas den Historiker Basil Davidson: „For Africa, an area of weak economic bargaining power, it appears difficult to see the European Common Market as other than a guarantee of continued under-development along existing lines.”29 Der deutsche Politologe Franz Nuscheler quittierte das Assoziierungsabkommen im Rahmen der Römischen Verträge kurz als Anbindung mit „kolonialem Beigeschmack“.30 26 Frank Roy Willis, France, Germany, and the New Europe 1945–1967, Stanford 1968, 250. 27 Franz Ansprenger, Politik im Schwarzen Afrika. Die modernen politischen Bewegungen im Afrika französischer Prägung, Wiesbaden 1961, 170. 28 Pierre Bertaux, Afrika. Von der Vorgeschichte bis zu den Staaten der Gegenwart (Fischer Weltgeschichte 32), Frankfurt a. M. 1966, 317. 29 Guy Arnold, Africa. A modern History: 1945–2015, London 2017, 158; zit. nach: Basil Davidson, Can Africa Survive? London 1975, 122. 30 Franz Nuscheler, Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik. Eine grundlegende Einführung in die zentralen entwicklungspolitischen Themenfelder Globalisierung, Staatsversagen, Armut und Hunger, Bevölkerung und Migration, Wirtschaft und Umwelt, Bonn 2012, 354.
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Tatsächlich wurden in Artikel 136 des Abkommens die sensiblen Punkte und unwillkommenen Verpflichtungen der europäischen Partner Frankreichs zunächst auf fünf Jahre beschränkt. Damit wollten die Vertragsparteien auch die politische Ungewissheit einiger der Kolonien berücksichtigen: So stand zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung ItalienischSomaliland als UN-Treuhandgebiet kurz vor der Unabhängigkeit (1. Juli 1960).31 Die Zukunft der anderen Treuhandgebiete war ebenfalls unsicher, letztendlich sollte die Realität in Afrika aber durch das Scheitern der Communauté française (Französischen Gemeinschaft, gegründet im Oktober 1958) geprägt werden. Präsident Charles de Gaulle trieb diese Umwandlung der Französischen Union voran, die den ehemaligen Kolonien weitgehende Autonomie zusicherte, ihm als Präsidenten jedoch die Kontrolle über Außen-, Verteidigungs-, Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die Kontrolle der strategischen Rohstoffe zusicherte. Das Experiment scheiterte aus französischer Sicht und führte zu einer beispiellosen Entkolonialisierungswelle 1960. 14 französische Kolonien erhielten in diesem Jahr ihre Unabhängigkeit (neben einer belgischen und drei britischen). 3. Der Europäische Entwicklungsfonds Eine direkte Folge der in den Römischen Verträgen festgehaltenen Investitionsverpflichtung der Bündnisstaaten war die Schaffung des Europäischen Entwicklungsfonds (EEF). Im Durchführungsabkommen über die Assoziierung der Überseeischen Länder und Hoheitsgebiete, den in Artikel 136 der Römischen Verträge angeführten Regelwerk zur Assoziierung, wird zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung erklärt: Zu diesem Zweck wird ein Entwicklungsfonds für die überseeischen Länder und Hoheitsgebiete geschaffen, an den die Mitgliedstaaten während eines Zeitabschnitts von fünf Jahren die in Anlage A zu diesem Abkommen vorgesehenen jährlichen Beiträge leisten.32
In der angesprochenen Anlage A dazu ist festgelegt, dass dieser erste EEF insgesamt 581,25 Rechnungseinheiten der Europäischen Zahlungsunion (EZU) umfasste, die damals mit dem US$ deckungsgleich waren.33 Deutschland und Frankreich zahlten je 200 Mio., Belgien und die Niederlande je 70 Mio., Italien 40 Mio. und Luxemburg 1,25 Mio. in diesen Fonds,34 der in heutige (2019) Währung umgerechnet rund 4,82 Mrd. EUR umfassen würde. Diese Entwicklungsfonds sind seither parallel zu den jeweiligen Assoziierungsabkommen (siehe Kapitel III) erneuert worden. Für die Jahre von 2014–2020 umfasst der 11. EEF 31 Lorand Bartels, The Trade and Development Policy of the European Union, in: The European Journal of International Law (EJIL) 18 (2007), Heft 4, 715–756, 720. 32 EWG, EWG-Vertrag 1957. 33 Bartels, Trade, 726. 34 EWG, EWG-Vertrag 1957.
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30,54 Mrd. EUR.35 In Summe wurden über diesen Fonds über 100 Mrd. EUR an Hilfsgeldern ausgeschüttet (der Wert erhöht sich dementsprechend, wenn man die Inflation berücksichtigt). Aber die Hilfsgelder, die über den EEF ausgeschüttet wurden, waren immer niedriger als die bilaterale Hilfe der EWG-Staaten.36 Hinsichtlich einer Verantwortungsfrage ist der EEF nicht einfach zu bewerten. Die Bereitschaft der Gemeinschaft, seit 1958 insgesamt über 100 Mrd. EUR für „Entwicklung“ (ehemaliger) Kolonialgebiete aufzubringen, spiegelt bis zu einem gewissen Grad auch die Verpflichtung wider, für Geschehenes einzutreten: Eine moralische Verantwortung, die als Argument für das Assoziierungsabkommen ja auch Verwendung fand. Diese Verantwortung in Form von Finanzmitteln des EEF brachte die EWG-Staaten zunächst allerdings gegenüber Kolonien und abhängigen Gebieten auf – genaugenommen also gegenüber europäischen Bündnispartnern, die zunehmend unter der finanziellen Last der Kolonien zu leiden hatten. In erster Linie ging es in der ersten Konzeption dieses Fonds also um eine Unterstützung Frankreichs und seiner Kolonialpolitik. Die europäischen Partner stimmten diesem Konstrukt zu, um die generell erwünschte Integration nicht zu gefährden – und wegen der erhofften wirtschaftlichen Vorteile durch den gemeinsamen Markt, zu dem auch die assoziierten Gebiete gehören sollten.37 Dazu kam in einer Phase des eskalierenden Kalten Krieges die Überzeugung, Investitionen in abhängige Gebiete seien die beste Strategie gegen Unabhängigkeitsbewegungen und pro-kommunistische Strömungen im Gefolge einer generellen Stärkung des antikolonialen Nationalismus.38 In Summe bleibt also der Beigeschmack einer Relativierung bei jedem Versuch, den EEF als Ergebnis von Verantwortung zu erklären – ganz sicher war er in seiner Konzeption kein Merkmal einer postkolonialen Verantwortungsgesellschaft in Europa.
III. Die Assoziierungsabkommen Die Assoziierung der fremden Länder und Hoheitsgebiete aus 1957 spielte tatsächlich nur kurz eine Rolle, ehe die Ereignisse das Vertragswerk überholten. Durch die Entkolonialisierung aller afrikanischen Gebiete, aufgelistet in Anhang VI des Vertrages zur Gründung der EWG mit Ausnahme der Komoren (1975) und der meisten anderen nicht selbstständigen Territorien, verlor dieses erste Assoziierungsabkommen de facto seine Gültigkeit, noch ehe es nach Fünfjahresfrist auslaufen konnte (31. Dezember 1962). Um die besonderen Wirt35 Homepage der EUR-Lex, Europäischer Entwicklungsfonds, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=LEGISSUM:r12102 (abgerufen am 12.12.2019). 36 Isebill V. Gruhn, The Lomé Convention: Inching Towards Interdependence, in: International Organization 30 (1976), Heft 2, 241–262, 247. 37 Daniel Speich Chassé, Umstrittene Souveränität. die Assoziationspolitik der EWG mit Afrika, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2012, 1–8, 4 f., http://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1560 (26.9.2019). 38 CVCE.eu, Association.
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schaftsbeziehungen aufrecht erhalten zu können, wurde ein neues Vertragswerk notwendig. Nun war die EWG erstmals in der Lage, als postkoloniale Verantwortungsgesellschaft aufzutreten. 1. Yaoundé Das Abkommen von Yaoundé, unterzeichnet am 20. Juli 1963, war tatsächlich etwas Neues. Die (immer noch sechs) europäischen Bündnisstaaten einigten sich in der ivorischen Hauptstadt mit 18 afrikanischen Partnerländern auf ein Abkommen über die Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den mit dieser Gemeinschaft assoziierten afrikanischen Staaten und Madagaskar.39 Die afrikanischen Partnerstaaten waren die französischen Kolonien: Dahomey (heute: Benin), Côte d’Ivoire, Gabun, Kamerun, Kongo Brazzaville (Republik Kongo), Madagaskar, Mali, Mauretanien, Niger, Obervolta (Burkina Faso), Senegal, Togo, Tschad und die Zentralafrikanische Republik. Belgien war ehemals Kolonialmacht von Kongo Leopoldville (Demokratische Republik Kongo) sowie Burundi und Ruanda, Großbritannien und Italien kontrollierten Teile des mittlerweile geeinten Somalias. Die symbolische Bedeutung des Abkommens darf dabei nicht unterschätzt werden: Erstmals konnten die ehemaligen Kolonien ihren einstigen Kolonialherren bei einem Vertragsabschluss auf Augenhöhe gegenübertreten. Das Vertragswerk wurde auch als eine Bestätigung der eben erst errungenen Souveränität betrachtet. Auf europäischer Seite war es, nach den schwierigen Verhandlungen über die Assoziierung der abhängigen Gebiete 1957, auch ein erster Ansatz zu einer gemeinsamen Außenpolitik.40 Hinzu kommt, dass die afrikanischen Staaten mit der Gründung der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU, 25. Mai 1963) gerade erst ihren eigenen Integrationsprozess auf Schiene haben bringen können. Walter Hallstein, Präsident der EWG-Kommission, knüpfte bei seiner Rede in Yaoundé gewissermaßen an die Worte von Schuman 1950 an, indem er die Bedeutung der „Entwicklung“ Afrikas betonte. Er hob dabei – mit den heutigen diplomatischen Gepflogenheiten nur mehr schwer vereinbar – die Unterschiede zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern hervor, betonte dabei explizit aber auch die Verantwortung der EWG-Staaten gegenüber den ehemaligen Kolonien.41 Inhaltlich beschränkt sich das Abkommen auf Warenverkehr, finanzielle und technische Zusammenarbeit, Niederlassungsrecht, Dienstleistungen sowie Zahlungs- und Kapitalverkehr. Hinter diesen technischen Kapitelüberschriften verbarg sich aber, wie der Historiker Daniel Speich Chassé den damaligen Optimismus zusammenfasste, die Integration eines 39 EWG, Yaoundé 1963, Präambel. 40 Speich Chassé, Souveränität, 1. 41 Walter Hallstein, Address by Professor Dr. Walter Hallstein on the occasion of the signature of the Convention of Association with the African States and Madagascar, Yaoundé 20.07.1963.
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transkontinentalen Wirtschaftsraumes, der Wohlstandsgewinne in Aussicht stellte, was wiederum die beiderseitig befürchteten Souveränitätsverluste durch dieses internationale Regime verkraftbar machte: Im Deutungshorizont der technischen Entwicklungsproblematik wurden die ungleichen Partner Afrika und Europa staatsrechtlich zu Nehmern und Gebern in einem übergreifenden Austauschprozess und rückten in einen gemeinsamen Handlungsraum ein. Damit war für das politische Projekt der europäischen Einigung die koloniale Vergangenheit gebannt und eine Zukunftsperspektive entworfen, welche für die afrikanischen Partner eine staatstragende Ressource dar stellte.42
Natürlich ging es bei dem Abkommen um die Aufrechterhaltung des europäischen, eigentlich französischen Einflusses in Afrika.43 Genau darüber gab es innerhalb der afrikanischen Partner auch heftige Auseinandersetzungen, die sich auch in der eigenen Integrationsdebatte widergespiegelt hatten.44 Während ein Lager rund um den ivorischen Präsidenten Félix Houphouët-Boigny für eine enge Beziehung zu Paris eintrat, nahm das Lager um seinen senegalesischen Amtskollegen Léopold Sédar Senghor eine optimistisch-vorsichtige Position ein.45 Kwame Nkrumah hingegen, Präsident der ehemals britischen Kolonie Goldküste, dem nunmehrigen Ghana, sprach sich hingegen klar gegen Wirtschaftsabkommen aus. Solche Beziehungen wären nichts anderes als Neokolonialismus und stellten die größte Gefahr für Afrika dar.46 Nkrumah blieb mit dieser Position aber weitgehend isoliert. Das Assoziierungsabkommen trat am 1. Juni 1964 in Kraft und hatte eine Laufzeit von fünf Jahren. Die Hoffnungen, die damit auf europäischer Seite verbunden waren, konnten teilweise erfüllt werden: der Élysée-Palast blieb trotz erlangter Unabhängigkeiten ein wichtiger Einflussfaktor im französischsprachigen Afrika. Die Assoziierung war nicht der alleinige Faktor für Françafrique, hat den Bemühungen in Paris aber sicher nicht geschadet. Gleichzeitig konnten sich die assoziierten Gebiete aber nicht zum erhofften neuen Absatzmarkt für europäische Produkte entwickeln – was wirtschaftlich jedoch kein echtes Problem für die EWG-Staaten darstellte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass seit dem Assoziierungsabkommen mit den Kolonien 1957 bis 1967 die EWG-Exporte in die assoziierten Gebiete fielen, während der Exportanteil in nicht-assoziierte Staaten stieg.47 In den afrikanischen Staaten selbst blieben die in der Präambel von Yaoundé I formulierten Ziele unerreicht. Fünf Jahre sind zwar ein kurzer Zeitraum, um „den wirtschaftlichen, 42 Speich Chassé, Souveränität, 7 f. 43 Bartels, Trade, 724. 44 Thomas Spielbüchler, Afrikanische Integration, in: Arno Sonderegger/Ingeborg Grau/Birgit Englert (Hrsg.), Afrika im 20. Jahrhundert: Geschichte und Gesellschaft (Edition Weltregionen 21), Wien 2011, 81–97. 45 Speich Chassé, Souveränität, 5. 46 Kwame Nkrumah, Africa must unite, London 1998, 173–176. 47 Bartels, Trade, 727.
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sozialen und kulturellen Fortschritt […] fortzusetzen,“ und „[…] die Diversifizierung der Wirtschaft und die Industrialisierung der assoziierten Staaten im Hinblick auf die Festigung ihres wirtschaftlichen Gleichgewichts und ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit zu erleichtern,“48 markante Fortschritte sollten aber auch die Folgeabkommen nicht bringen. Für dieses eigentliche Scheitern sind aber weniger die Assoziierungsabkommen verantwortlich zu machen, als interne und externe Faktoren in den afrikanischen Staaten: gescheitertes Nationbuilding, der Kalte Krieg oder die sich ändernden weltwirtschaftlichen Konstellationen, um die wichtigsten zu nennen. Trotzdem stellt das Abkommen Yaoundé I einen wichtigen Meilenstein für die jungen afrikanischen Staaten dar. Am 29. Juli 1969 wurde von allen Partnern das Folgeabkommen49 mit dem gleichen Titel unterzeichnet (Yaoundé II, in Kraft ab 1. Jänner 1971, gültig bis 31. Jänner 1975). Mauritius trat Yaoundé II 1973 bei.50 Kritik blieb dabei natürlich nicht aus. Zum einen kam diese aus ehemals britischen Kolonien, die nicht Teil des Assoziierungsabkommens waren. Dort erkannten die Regierungschefs aber bald, dass ein Abkommen mit der EWG nicht den erhofften wirtschaftlichen Aufschwung mit sich brachte (was auch durch einen generellen Rückgang des Handels mit sogenannten Entwicklungsländern erklärbar war). Parallel zu Yaoundé II kam es aber zu einer Vertragsunterzeichnung mit Kenia, Tansania und Uganda (Arusha-Abkommen, unterzeichnet am 24. September 1969), wodurch diesen ehemals britischen Kolonien Handelspräferenzen zugesichert wurden, ohne allerdings „Entwicklungshilfe“ mit einzuschließen. Unmut gab es aber auch aus der Gruppe der afrikanischen Partnerstaaten heraus. Die beiden Yaoundé-Abkommen, so die Politikwissenschaftlerin Isebill V. Gruhn, waren rein europäische Verträge, die den afrikanischen Partnern zur Unterschrift vorgelegt worden waren. Dort sei man sich der Notwendigkeit einer gewissen Partnerschaft mit den ehemaligen Kolonialmächten bzw. der neu entstandenen EWG bewusst gewesen und habe aus diesem Zwang heraus nur wenig Möglichkeiten gehabt, inhaltlich auf den Vertrag einzuwirken.51 2. Lomé Der überschaubare Kreis der Vertragspartner sollte sich während der Laufzeit von Yaoundé II stark ändern: in Europa kam es per 1. Jänner 1973 zur ersten Erweiterung EWG: Großbritannien, Irland und Dänemark traten der Gemeinschaft bei – und damit erhielten gemäß des Beitrittsabkommens mit Großbritannien auch 21 Commonwealth-Staaten das Recht, in 48 EWG, Yaoundé 1963, Präambel. 49 EWG, Abkommen über die Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den mit dieser Gemeinschaft assoziierten afrikanischen Staaten und Madagaskar, Yaoundé 29.07.1969, in: ABL. 13 (1969), 28. Dezember, L282. 50 EWG, Abkommen über eine Assoziation von Mauritius zum Abkommen von Jaunde (1969), Port Louis 12.05.1972, in: ABL. 16(1973), 15. Oktober, L288. 51 Gruhn, Lomé, 246 f.
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Handelsabkommen der EWG mit eingeschlossen zu werden.52 Überlegungen waren also notwendig, um diesen Änderungen nach dem Auslaufen von Yaoundé II Ende Jänner 1975 gerecht zu werden. Die Verhandlungen mit der erweiterten Gruppe der nun aus afrikanischen, karibischen und pazifischen Ländern bestehenden Gruppe begannen 1973 (zu den mittlerweile ja 19 Yaoundé-assoziierten Staaten und 21 Commonwealth-Ländern kamen auch noch sechs afrikanische Staaten, was die Gruppe der Partnerstaaten aus dem Globalen Süden auf insgesamt 46 anwachsen ließ). Dabei fanden sich die europäischen Verhandlungsführer mit einem neuen Selbstbewusstsein konfrontiert. Hoffnungen (oder die Macht der Gewohnheit) dem Gegenüber Verträge zu präsentieren, die mehr oder weniger nur abgenickt werden konnten, sollten bald vom Tisch sein. Die Gruppe der ehemaligen Kolonien zeigte – trotz immer wieder sichtbar werdender Risse – eine Einigkeit, mit der sie den Europäern gegenübertrat. Gruhn machte dies u. a. an der Bezeichnung „Partnerschaft“ fest, die bei den europäischen Verhandlern nach und nach die bisherige (und eher unterordnende) „Assoziierung“ ersetzte.53 Diese Verhandlungen können – nach Yaoundé I – als weiterer Meilenstein für Afrika (und darüber hinaus) gedeutet werden. Aus den Verhandlungen über ein Folgeabkommen für Yaoundé II entstand die zunächst inoffizielle Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten (AKP-Staaten), die sich 1975 mit der Unterzeichnung des GeorgetownAbkommens54 institutionalisierte. Das AKP-EWG-Abkommen von Lome55 (unterzeichnet am 28. Februar 1975 in der togolesischen Hauptstadt Lomé, in Kraft ab 1. April 1976), unterschied sich von seinen Vorgängern nicht nur durch den schlanken Titel. Die Präambel des Vertrages geht über jene der Vorgängerabkommen hinaus: Die Vertragspartner bekennen sich nach wie vor zur völligen Gleichheit und dem Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung der südlichen Vertragsstaaten, im Lomé I Abkommen ist aber auch der feste Wille verankert, „ein neues Modell für die Beziehungen zwischen entwickelten Staaten und Entwicklungsstaaten, das mit den Bestrebungen der internationalen Gemeinschaft nach einer gerechteren und ausgewogeneren Wirtschaftsordnung vereinbar ist, zu schaffen“. Dabei wird auch der Wunsch geäußert, „die Interessen der AKP-Staaten, deren Wirtschaft in erheblichem Ausmaß von der Ausfuhr von Grundstoffen abhängt, zu wahren“.56 Inhaltlich wurde zunächst das Prinzip der Reziprozität aufgehoben. Die EWG-Staaten versuchten zwar, diese Gegenseitigkeit in Fragen der Handelsliberalisierung, also des
52 Bartels, Trade, 733. 53 Gruhn, Lomé, 250–253. 54 Georgetown Agreement on the Organisation of the African, Caribbean and Pacific Group of States (ACP), Georgetown 06.6.1975, No. 20345, in: United Nations Treaty Series, vol. 1247, hrsg. v. United Nations, New York, 1996, 147–164. 55 EWG, AKP-EWG-Abkommen von Lome. Lomé 28.02.1975, in: ABL. 19 (1976), 30. Jänner, L25. 56 EWG, Lomé 1975, Präambel.
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Marktzuganges, in das Lomé-Abkommen zu retten, scheiterten aber am AKP-Widerstand.57 Damit waren die AKP-Staaten vertraglich in der Lage, eigene Märkte zu schützen, während ihnen freier Zugang zum Markt der EWG gewährt wurde (Ausnahmen gab es für Produkte, die durch die Gemeinsame Agrarpolitik der EWG besonders geschützt waren).58 Ein weiteres Novum des Lomé-Abkommens war ein Absicherungsmechanismus von Exporterlösen gegen fallende Preise.59 Drohende Einbußen von Exporterlösen durch fallende Rohstoffpreise sollten mit diesem Stabex genannten Instrument aufgefangen werden (der Schutz der Rohstoff-Exporte ist auch in der Präambel angesprochen, Stabex entwickelte sich aber zu einer problematischen Konstruktion, die – so ein Vorwurf – zu Abhängigkeit und verpasster Diversifikation bzw. Industrialisierung im Süden führte).60 Lomé I wurde am 31. Oktober 1979 durch Lomé II verlängert61 (in Kraft seit 1. Jänner 1981). Während die EWG keine Erweiterung zu verzeichnen hatte, wuchs die Gruppe der teilnehmenden AKP-Staaten um 12 Länder auf 58 an. Inhaltlich hat sich gegenüber Lomé I nur wenig geändert. Allerdings wurden neben den Agrarprodukten nun auch die Ausfuhrerlöse von Bergbauerzeugnisse abgesichert62 – das Instrument dazu hieß Sysmin. Auch Lomé II lief über fünf Jahre und sollte am 28. Februar 1985 auslaufen. Konsequenterweise folgte Lomé III, unterzeichnet am 8. Dezember 198463 (in Kraft seit 1. Mai 1986). Griechenland, seit 1. Jänner 1981 EWG-Mitglied, erweiterte den Kreis der europäischen Partnerstaaten auf zehn, während weitere sieben AKP-Staaten diese Gruppe auf insgesamt 65 Vertragspartner steigen ließ. Zumindest in der Präambel wurden in diesem Abkommen auch die Grundrechte erwähnt (dies geschieht aber lediglich durch einen Verweis auf die UN-Charta, im Abkommen selbst spielen Grund- oder Menschenrechte keine explizite Rolle). Hinsichtlich der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen ist ein Wechsel von der industriellen Entwicklung hin zu einer eigenständigen Entwicklung feststellbar.64 Dies ist auch in Kapitel 1 des Abkommens festgehalten, das die Ziele und Grundsätze der Zusammenarbeit darlegt (bisher wurde als Ziel schlichte die Förderung des Handels angeführt). Diesbezüglich stellen die Absichten in Lomé III eine neue Qualität der Verantwortung dar, die auch gewisse Paradigmenwechsel der Entwicklungspolitik dieser Phase widerspiegeln (hier wäre beispielsweise der Nord-Süd-Bericht von Willy Brandt zu erwähnen, den die Nord-Süd-Kommission für Entwicklungsfragen unter Vorsitz des deutschen Altkanzlers 1980 dem UN-Generalsekretär vorlegte ). Lomé III endete am 28. Februar 1990. 57 Gruhn, Lomé, 255. 58 Bartels, Trade, 734. 59 EWG, Lomé 1975, Titel II. 60 Bartels, Trade, 738. 61 EWG, Zweites AKP-EWG-Abkommen, Lomé 31.10.1979, in: ABL. 23 (1980), 22. Dezember, L347. 62 EWG, Lomé 1979, Titel III. 63 EWG, Drittes AKP-EWG-Abkommen, Lomé 08.12.1984, in: ABL. 29 (1986), 31. März, L86. 64 Homepage der African, Caribbean, and Pacific Group of States (ACP), The Lomé Convention, http://www. acp.int/content/lome-convention (abgerufen am 12.12.2019).
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Bereits vor Ablauf des letzten Abkommens wurde am 15. Dezember 1989 Lomé IV unterzeichnet65 (in Kraft seit 1. März 1990). Seit 1. Jänner 1986 waren auch Portugal und Spanien EWG-Mitglieder, während 68 AKP-Staaten das Dokument unterzeichneten. In Kapitel 1, Ziele und Grundsätze der Zusammenarbeit, werden explizit die Menschenrechte und -würde erwähnt, Diskriminierungsschutz eingefordert und die Apartheid (deren Tage bereits gezählt waren) kritisiert. Lomé IV wurde, erstmals seit dem Bestehen der Assoziierungs- bzw. Partnerschaftsabkommen, für eine Laufzeit von zehn Jahren abgeschlossen, wobei die Möglichkeit einer Revision nach fünf Jahren eingebaut wurde. Zu dieser Revision kam es, auch weil die Europäische Gemeinschaft (EG, mit dem Vertrag von Maastricht, in Kraft seit 1. November 1993, wurde die EWG in die EG umgewandelt) 1995 es zur generellen Praxis erhob, die Menschenrechte explizit in neue Handels- und Kooperationsabkommen zu verankern.66 Am 4. November 1995 unterzeichneten die Vertragspartner in Mauritius das Abkommen zur Änderung des vierten AKP-EG Abkommens von Lomé67, in Kraft seit 1. Juni 1998. In den Grundlagen zur Zusammenarbeit wird darin die verantwortungsvolle Regierungsführung betont, die ein besonderes Ziel der Zusammenarbeit darstelle. Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine Änderung der Schlussbestimmungen: Soll eine Vertragspartei gegen diese neuen Grundlagen der Zusammenarbeit verstoßen, kann sie im Extremfall auch aus dem Abkommen ausgeschlossen werden. Die Einhaltung der Menschenrechte, des Diskriminierungsverbotes und der politischen Rechte sowie die verantwortungsvolle Regierungsführung generell sind seither also fixer Bestandteil der Kooperation im Rahmen des Lomé-Abkommens (und der Folgeabkommen). Wie ist die Serie der Lomé-Abkommen der EWG/EG mit den Ländern der AKP-Gruppe hinsichtlich einer postkolonialen Verantwortung zu bewerten? Zunächst bleibt festzuhalten, dass der Organisationsgrad der AKP-Staaten sich gegenüber der rein afrikanischen Gruppe der Yaoundé-Assoziierungspartner deutlich gesteigert hat. Damit (und dem generell wachsenden Selbstvertrauen durch den zeitlichen Abstand zur eigenen Staatswerdung) konnten die Verhandlungsführer gegenüber ihren europäischen Partnern immer selbstbestimmter auftreten. Das Prinzip der Reziprozität, das die damaligen EWG-Staaten bevorzugte, fiel, dafür wurden in den Abkommen seitens der späteren EG die persönlichen und politischen Rechte in den AKP-Staaten betont und verantwortungsvolle Regierungsführung eingefordert. Diese hinsichtlich eines postkolonialen Verantwortungsbewusstseins positiv zu beurteilenden Maßnahmen führten aber keineswegs in Richtung einer Umsetzung des zentralen Ziels der Abkommen: einer Förderung der Entwicklung. In Lomé I (1975) beschränkte sich dies zunächst noch auf die Wirtschaft, Lomé II (1979) zielte auch auf die industrielle Ent65 EWG, Viertes AKP-EWG-Abkommen, Lomé 15.12.1989, in: ABL. 34 (1991), 17. August, L229. 66 Bartels, Trade, 738. 67 Europäische Gemeinschaft (EG), Abkommen zur Änderung des Vierten AKP-EG-Abkommens von Lomé, Mauritius 04.11.1995, in: ABL. 41 (1998), 29. Mai, L156.
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wicklung. Ab Lomé III (1984) wurde diese Entwicklung umfassender betrachtet und auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Faktoren ausgedehnt, Lomé IV (1989) schloss auch die Menschenrechte mit ein und betonte die Bedeutung von verantwortungsvoller Regierungsführung. Europa berücksichtigte gewissermaßen den jeweiligen Stand der internationalen Diskussion, was in zentralen Entwicklungsparametern aber keinen echten Niederschlag fand: Die Wirtschaftsleistung der AKP-Partner (besonders jener in Afrika) blieb weit hinter globalen oder europäischen Werten zurück68 und auch die politische Entwicklung (verantwortungsvolle Regierungsführung) zeigte als Gesamtbild nicht die erhoffte Performance.69 Das Nichterreichen der in den jeweiligen Abkommen festgelegten Ziele (das Ziel einer Förderung der Entwicklung ließe sich in einer minimalistischen Interpretation zwar als erfüllt ansehen, der Geist der Abkommen umfasst als Ziel aber auch positive Entwicklungen, die sich aus den Förderungen ergeben) ist aber – wie bereits zu den Yaoundé-Abkommen festgehalten – nicht ausschließlich auf das Vertragswerk zurückzuführen, sondern auch den globalen und regionalen Rahmenbedingungen geschuldet. Seitens der EU hieß es zu den Gründen dieses Scheiterns nicht ganz unrichtig: „Diese Fragen lassen sich nicht kurz und bündig beantworten, da sie gleichzeitig politische, wirtschaftliche und praktische Aspekte der Zusammenarbeit betreffen.“70 Hinsichtlich einer postkolonialen Verantwortung ist die Serie der Lomé-Verträge jedoch als eine Steigerung im Vergleich zu den Yaoundé-Papieren zu werten. Die Partnerschaft hat sich von den ursprünglichen Bestreben, den Einfluss auf die ehemaligen Kolonien (dies gilt in erster Linie für Frankreich) hin zu einem umfassenden Abkommen der EWG/EG mit den AKP-Staaten entwickelt, das zuletzt in 12 Kapiteln viele Themen der Zusammenarbeit in allen drei Wirtschaftssektoren regelt. Aus heutiger Sicht nicht uninteressant: Seit Lomé II ist auch der Umweltschutz in diesen Abkommen berücksichtigt; zunächst nur im Rahmen von technischen Bestimmungen, ab Lomé III aber im Kapitel Ziele und Leitlinien. Trotzdem sprach man innerhalb der Gemeinschaft das magere Ergebnis von vier Jahrzehnten Entwicklungszusammenarbeit direkt an. In einem 1996 vorgelegten Grünbuch zu den EU-AKP-Beziehungen knapp vor der Jahrtausendwende wurde pragmatisch festgehalten: Angesichts einer insgesamt etwas enttäuschenden Bilanz der Zusammenarbeit EU/AKP und einer recht skeptischen Einschätzung der Entwicklungschancen der AKP-Staaten in Zeiten anhaltender Haushaltsengpässe in den Geberländern und einer auf sozialpolitische Schwierigkeiten
68 Homepage The World Bank, 2018: GDP (current US$), World Bank Data, https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.MKTP.CD?locations=1W-ZG-EU (abgerufen am 12.12.2019). 69 Vgl. dazu z. B. die Langzeit-Daten von Fragile States Index, https://fragilestatesindex.org/ (abgerufen am 12.12.2019). 70 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Grünbuch über die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Brüssel 1996, 14.
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zurückzuführende „Tendenz“ der Europäer, sich aus der Entwicklungspolitik zurückzuziehen, müssen die Partner heute in ihrer Zusammenarbeit vor allem den Aspekt der Wirksamkeit in den Vordergrund stellen und ihre bisherigen Prioritäten überprüfen, um den Erwartungen der Europäer und der AKP-Staaten besser gerecht zu werden.71
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften sprach als Herausgeberin dabei immer von der Europäischen Union, die damals als Sammelbegriff für die drei Teilbereiche der Gemeinschaft diente, ehe durch den Vertrag von Lissabon 2009 daraus tatsächlich die Europäische Union entstand. Die hier besprochenen Verträge wurden vor 2009 mit der EWG bzw. EG abgeschlossen, nicht mit der EU, da diese als solche noch nicht existierte. 3. Cotonou Dieses Grünbuch ist eine sehr offene Reflexion über die vergangenen Jahrzehnte der Zusammenarbeit. Darin wird die Notwendigkeit eines neuen Ansatzes diskutiert: Lomé IV läuft aus, was Neuverhandlungen notwendig mache. Diese Verhandlungen fallen in eine generelle Umbruchphase; die Welt habe sich geändert und die Europäische Union müsse auf diese Änderungen reagieren: die völlig geänderte geostrategische Interessenslandschaft nach dem Ende des Kalten Kriegs; eine fortschreitende Globalisierung besonders der Wirtschaft, die einhergeht mit einer Liberalisierung der Wirtschaftspolitik und zunehmenden Interdependenzen in vielen Politikbereichen; dazu gefährde die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Industrienationen, Schwellen- und Entwicklungsländern die globale Stabilität und fördere extremistische Strömungen. In dieser neuen Dynamik müsse die (1995 auf 15 Mitglieder erweiterte) EU ihre Ziele und Interessen neu definieren, wobei das schwierige Thema einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sich gerade erst entwickle. Eine neue Partnerschaft mit den AKP-Staaten sei auch vor dem Hintergrund von Assoziierungsabkommen mit vielen osteuropäischen Staaten zu bewerten sowie einer Stärkung der Beziehungen zu den Mittelmeerstaaten (die ja keine AKP-Mitglieder sind). Darüber hinaus sei die EU dabei, die Beziehungen zu Lateinamerika und Asien auszubauen.72 Durch die neue internationale Konstellation verändern sich nicht nur die objektiven entwicklungspolitischen Interessen der Union und ihrer Partner – für einen Akteur vom Format der EU bedeutet sie auch ein Mehr an Verantwortung.73
Die stabilen, hinsichtlich der Wirkmächtigkeit in Bezug auf die Zielsetzung aber ineffizienten Lomé-Abkommen mussten ersetzt werden. Eine bloße Verlängerung nach leichter 71 Ebd., iv. 72 Ebd., i f. 73 Ebd., iii.
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Überarbeitung in Richtung Lomé V war auch durch die Kritik der Welthandelsorganisation (WTO) nicht mehr möglich, die sich an der Benachteiligung von Nicht-Vertragsländern stieß.74 Ergebnis der Neuverhandlungen war das AKP-EG-Partnerschaftsabkommen von Cotonou,75 auf das sich die Partnerstaaten in der Wirtschaftsmetropole von Benin am 23. Juni 2000 einigten. Unterzeichnet wurde das Dokument von den 15 EG-Mitgliedern und 76 AKP-Staaten, das Abkommen ist seit 1. April 2003 in Kraft (mittlerweile sind auch Osttimor und Somalia Mitglieder des Cotonou-Abkommens, Kuba – seit 2000 AKP-Mitglied – hat das Abkommen 2019 noch nicht unterschrieben) und endet am 29. Februar 2020. Liest man den Eintrag zum Cotonou-Abkommen auf der offiziellen Homepage der AKPGruppe, wird deutlich, dass die Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifischen Raumes etwas anderes gewünscht hätten. Sehr zurückhaltend heißt es dort: The Cotonou Agreement, by its very existence, represents a significant success for the ACP Group. It was forged from the Group’s determination to maintain its solidarity – a solidarity which certainly convinced the ACP States’ European partners. In addition, the Agreement, despite not meeting all the ACP demands, took on board their fundamental concerns.76
Als diesbezüglicher Erfolg wird aber lediglich die Geltungsdauer des Abkommens angeführt: Zwanzig Jahre, die den AKP-Staaten Zeit gewähren sollten, sich in den Globalen Markt einzugliedern. Tatsächlich sollten die Übergangsperioden mit Handelspräferenzen aber 2007 auslaufen. Ein Blick auf die im Abkommen fixierten Ziele der Partnerschaft macht deutlich, worum es den europäischen Verhandlungspartnern gegangen ist: […] um – im Sinne eines Beitrags zu Frieden und Sicherheit und zur Förderung eines stabilen und demokratischen politischen Umfelds – die wirtschaftliche, kulturelle und soziale Entwicklung der AKP-Staaten zu fördern und zu beschleunigen.77
Das zentrale Anliegen dabei war die Armutsbekämpfung. In dem Vertrag waren auch einige Grundprinzipien festgehalten, die in den Vorgängerabkommen nicht aufschienen: Partizipation (Öffnung der Partnerschaft für privatwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure); Dialog und Erfüllung der Verpflichtungen; Differenzierung und Regionalisierung
74 Bartels, Trade, 716. 75 EG, Partnerschaftsabkommen zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits, Cotonou 23.06.2000, in: ABL. 43 (2000), 15. Dezember, L317/3. 76 Homepage der ACP, Cotonou Agreement, http://www.acp.int/node/7 (abgerufen am 12.12.2019). 77 EG, Cotonou 2000, Artikel 1.
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(Orientierung am Entwicklungsstand einzelner Partner und Bevorzugung von Binnen- und Inselstaaten). Die allgemeinen Bestimmungen des Abkommens umfassten auch eine Politische Dimension. Darin schloss Cotonou direkt an Lomé IV an, wo bereits die Bedeutung der verantwortungsvollen Staats- bzw. Regierungsführung mit den Änderungen von 1995 aufgenommen wurden. Hier ist auch die Verpflichtung zum Dialog verankert, durch den Programme reflektiert, Probleme erörtert und Spannungen abgebaut werden sollten. Die eigentlichen Kooperationsstrategien beziehen sich auf Entwicklung und Wirtschaft, wobei gerade der wirtschaftliche Teil herausfordernd war, da es darum ging, die aus den Lomé-Abkommen bekannten Präferenzen abzuschaffen, damit das Abkommen den WTOBestimmungen entspricht. Es wurde für Brüssel also notwendig, eine Handels- und Entwicklungspolitik in ein neues Abkommen zu gießen, die drei Bedingungen erfüllte: Sie musste den wirtschaftlichen Erfordernissen entsprechen, kompatibel zu den WTO-Regeln sein und gleichzeitig die Bedürfnisse jener Länder berücksichtigen, die von den historisch gewachsenen Handelspräferenzen abhängig waren.78 Das Abkommen sieht alle fünf Jahre die Möglichkeit für Änderungen vor. 2005 wurden die Bestimmungen erstmals abgeändert,79 2010 kam es zu einer umfassenderen Revision.80 Drängende Probleme der letzten Jahre fanden Eingang in das Abkommen, wobei neben den globalen Themen wie Klimawandel, Sicherheit oder Millennium Development Goals auch die Problematik der ausgelaufenen Handelspräferenzen (2007) thematisiert wurde.81 Der Druck für die AKP-Staaten, Freihandelsabkommen mit der EU abzuschließen, ist natürlich mit der Frage verbunden, wer davon profitieren kann – eine Frage, die sich hier nicht beantworten lässt. Es soll an dieser Stelle aber die Frage nach der Verantwortung angesprochen werden: Zeigt das Cotonou-Abkommen postkoloniale Verantwortung der EG/EU gegenüber den Partnerstaaten? Ist dieses Abkommen überhaupt noch der geeignete Gradmesser zur Überprüfung dieser Frage? Die EG/EU bemüht sich, in dem laufenden Abkommen mit den AKP-Staaten Verantwortung einzufordern. Was 1963 als reines Handelsabkommen begann, entwickelte sich zu 78 Bartels, Trade, 716. 79 Europäische Union (EU), Abkommen zur Änderung des Partnerschaftsabkommens zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits, unterzeichnet in Cotonou am 23. Juni 2000, Luxemburg 25.06.2005, in: ABL. 48 (2005), 28. Oktober, L287. 80 EU, Abkommen zur zweiten Änderung des Partnerschaftsabkommens zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits, unterzeichnet in Cotonou am 23. Juni 2000 und erstmals geändert in Luxemburg am 25. Juni 2005, Ouagadougou 22.06.2010, in: ABL. 53 (2010), 4. November, L287. 81 Homepage der European Commission (EC), ACP – The Cotonou Agreement, https://ec.europa.eu/europeaid/ regions/african-caribbean-and-pacific-acp-region/cotonou-agreement_en (abgerufen am 12.12.2019).
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einem umfassenden Vertragswerk, in dem auch politische und soziale Dimensionen berücksichtigt wurden – in das sogar der Umweltschutz als globale Problematik Eingang fand. Erneut wurden ambitionierte Ziele formuliert, die bisher nicht erreicht werden konnten, erneut wurden Prinzipien festgeschrieben, die wichtig sind und als Basis für good governance gelten. Europa fordert also Verantwortung in den Partnerstaaten ein und ist bereit, dafür zu zahlen. Das Cotonou-Abkommen ist daher auch als Werte-Katalog zu verstehen, an dem sich das EU-Engagement in Afrika und den anderen AKP-Staaten orientiert (diese Werte finden sich auch in anderen Rahmenprogrammen wie z. B. der Gemeinsamen Strategie Afrika-EU.82 Gleichzeitig wurden die Handelsprivilegien beendet, da sie nicht den WTO-Regeln entsprachen. Die Europäische Union ist aber immer noch der bei weitem größte Handelspartner Afrikas. Eurostat weist für 2018 aus, dass 36 % der afrikanischen Exporte in die EU gehen, 33 % aller Importe nach Afrika kommen von der Europäischen Union. Die zweitgrößte Gruppe bezüglich der Exporte (aus gesamtafrikanischer Sicht) ist der afrikanische Binnenhandel (15 %), gefolgt von der Volksrepublik China (9 %). Auch hinsichtlich der Importe liegt der afrikanische Binnenhandel (16 %) vor eingeführten Waren aus der Volksrepublik China (13 %). Der EU-Handel mit Afrika war 2018 relativ ausgeglichen (1 Mrd. EUR Defizit auf afrikanischer Seite im Vergleich zu 28 Mrd. Defizit 2016 und 37 Mrd. Überschuss 2012).83 Die EU zehrt diesbezüglich aber von der Vergangenheit. Mittlerweile hat sich Peking zum wichtigsten Partner entwickelt. Von dort kommen die meisten Neuinvestitionen, die den maßgeblichen Faktor für Wachstum und Beschäftigung darstellen.84
IV. Schluss Ist die Europäische Union als eine postkoloniale Verantwortungsgesellschaft zu verstehen? Interpretiert man den Verantwortungsbegriff hier (neben anderen Möglichkeiten der Auslegung) als Verpflichtung, für Geschehenes in der Vergangenheit einzustehen, so lässt sich zur Beantwortung dieser Frage auf einen Prozess verweisen, der seit Beginn der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr Bereitschaft erkennen ließ, solche Verantwortung zu übernehmen. Die Jahre bis 1960 waren dabei noch von imperialem Denken geprägt, hinter dem bestenfalls die damals gängige Wachstums-Theorie zur Entwicklung als Verantwortung gegenüber
82 Homepage des Europäischen Rats, Beziehungen EU-Afrika, https://www.consilium.europa.eu/de/policies/euafrica/ (abgerufen am 12.12.2019). 83 Homepage EC, Africa-EU – international trade in goods statistics, https://ec.europa.eu/eurostat/statisticsexplained/index.php?title=Africa-EU_-_international_trade_in_goods_statistics (abgerufen am 26.09.2019). 84 Evita Schmieg, EU und Afrika: Investitionen, Handel, Entwicklung. Was ein Cotonou-Folgeabkommen mit den AKP-Staaten leisten kann, in: SWP-Aktuell, 70 (2018), 1–8, 2.
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den Kolonialgebieten angenommen werden kann. Vordergründig ging es um Kontrolle in einer sich ändernden Welt. Durch die Entkolonialisierung ab 1960 waren die europäischen Partner erstmals in der Lage, postkoloniale Verantwortung zu übernehmen – wozu sie zunächst nicht wirklich bereit waren; der Wunsch nach fortgesetzten Einflussmöglichkeiten überwog. Aus der Position der Stärke heraus wurden in Yaoundé Handelsverträge aufgesetzt, die im Wesentlichen europäischen (französischen) Interessen dienten. Diese europäische Dominanz erodierte zusehends durch die wachsende Zahl der Partnerländer, die sich als AKP-Gruppe organisierten und den ehemaligen Kolonialmächten mit steigendem Selbstbewusstsein gegenübertraten. Die Serie der Lomé-Verträge entwickelte sich zu einem vergleichsweise ausgewogenen Instrument, in das Europa aber immer mehr Verantwortung packte, die auch von den Partnerländern erbracht werden sollte: das Verständnis von Entwicklung wurde angepasst, die Beachtung der Menschenrechte und die Bedeutung von good governance fanden Eingang in das Vertragswerk. Kritik an den durch die Lomé-Verträge eingeräumten Handelspräferenzen, die nicht den WTO-Standards entsprachen, waren ein formaler Grund, die globalen Änderungen vor der Jahrtausendwende lieferten inhaltliche Argumente, die Beziehungen der Europäischen Gemeinschaft zu den AKP-Staaten neu zu gestalten. Diese Überlegungen führten 2000 zum Cotonou-Abkommen, das sich als umfassender und anpassbarer Normen- und Wertekatalog präsentierte. Die EG/EU forderte Standards ein, die grundsätzlich zu begrüßen waren. Europa übernahm damit einerseits Verantwortung, auch auf die Gefahr hin, als Partner Afrikas (und der AKP-Staaten) von Peking überholt zu werden, das auf solche, bei den Staatsführungen in den AKP-Ländern oft ungeliebten Standards verzichtet. Gleichzeitig wurde durch dieses europäische Vorgehen ein Paradigma umgekehrt: Aus der Vorstellung von Entwicklung als Ergebnis einer postkolonialen Verantwortungsübernahme wurde eine postkoloniale Verantwortungsübernahme, in der gewisse Entwicklungsschritte (verantwortungsvolle Regierungsführung im weitesten Sinn) als Vorbedingung festgehalten waren. Pikanterweise konnte trotz der bis dahin gewährten Handelspräferenzen und umfangreicher finanzieller HiIfspakete in den meisten AKP-Staaten (besonders in Afrika) diese Vorbedingung nicht umgesetzt werden. Die Frage nach den Gründen dafür, nach Erklärungen für das Scheitern des alten Paradigmas, hat die EU bereits Mitte der 1990er Jahre gestellt – und eine Antwort mit dem Hinweis auf die Komplexität vermieden, da politische, wirtschaftliche und praktische Aspekte adressiert werden müssten. Ohne eine echten Auseinandersetzung mit diesen Aspekten, denen sowohl in den AKPStaaten, als auch in den europäischen Bündnispartnern nachzugehen ist, muss sich die EU weiterhin den Vorwurf gefallen lassen, zu wenig echte Verantwortung zu übernehmen und gemeinsame multilaterale Bemühungen durch überlagernde Einzelinteressen konterkarieren zu lassen. Guy Arnold schreibt dazu:
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In all the statements about a new deal between Europe and Africa, much attention is paid to what Africa has to do, but, apart from aid, little about what it is that the EU wants out of Africa. In contrast, the Chinese make plain what they want out of Africa: resources and trade deals. But the EU still clings to a policy of good governance for aid. Despite the progress already made in Africa (in countries where this is the case), the road towards good governance remains long. EU aims for Africa always appear reasonable, but the motives that drive them are nebulous.85
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85 Arnold, Africa, 1002.
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Thomas Spielbüchler
Madagaskar, Yaoundé, 20. 7. 1963, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 7 (1964), P93, 64/346/EWG. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Abkommen über die Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den mit dieser Gemeinschaft assoziierten afrikanischen Staaten und Madagaskar, Yaoundé 29. 7. 1969, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 13 (1969), 28. Dezember, L282. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, AKP-EWG-Abkommen von Lome. Lomé 28.02.1975, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 19 (1976), 30. Jänner, L25. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Zweites AKP-EWG-Abkommen, Lomé 31.10.1979, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 23 (1980), 22. Dezember, L347. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Drittes AKP-EWG-Abkommen, Lomé 08.12.1984, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 29 (1986), 31. März, L86. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Viertes AKP-EWG-Abkommen, Lomé 15.12.1989, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 34 (1991), 17. August, L229. Georgetown Agreement on the Organisation of the African, Caribbean and Pacific Group of States (ACP), Georgetown 06.06.1975, No. 20345, in: United Nations Treaty Series, vol. 1247, hrsg. v. United Nations, New York 1996. Gruhn, Isebill V., The Lomé Convention: Inching Towards Interdependence, in: International Organization 30 (1976), Heft 2, 241–262. Hansen, Peo/Jonsson, Stefan, Eurafrica. The Untold History of European Integration and Colonialism, London 2015. Joint Statement by President Roosevelt and Prime Minister Churchill (Atlantic Charta), auf See 14.08.1941, in: Foreign Relations of the United States, 1941, vol. I, hrsg. von United States Department of State, Washington 1959, 368 f. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Grünbuch über die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Brüssel 1996. Nkrumah, Kwame, Africa must unite, London 1998. Nuscheler, Franz, Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik. Eine grundlegende Einführung in die zentralen entwicklungspolitischen Themenfelder Globalisierung, Staatsversagen, Armut und Hunger, Bevölkerung und Migration, Wirtschaft und Umwelt, Bonn 2012. Schmieg, Evita, EU und Afrika: Investitionen, Handel, Entwicklung. Was ein Cotonou-Folgeabkommen mit den AKP-Staaten leisten kann, in: SWP-Aktuell, 70 (2018), 1–8. Spielbüchler, Thomas, Afrikanische Integration, in: Arno Sonderegger/Ingeborg Grau/Birgit Englert, Afrika im 20. Jahrhundert: Geschichte und Gesellschaft (Edition Weltregionen 21), Wien 2011. Vereinte Nationen, Charta der Vereinten Nationen, San Francisco 26.06.1945, in: Albrecht Randelzhofer (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, 23–50. Vereinte Nationen, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, New York 10.12.1948, in: Albrecht Randelzhofer (Hrsg.), Völkerrechtliche Verträge, 179–185. Willis, Frank Roy, France, Germany, and the New Europe 1945–1967, Stanford 1968.
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B) Sicherheits- und Verteidigungsverantwortung
Marco Schrage
Theologisch-ethische Orientierungen – verbunden mit einem Blick auf Mali Der vorliegende Beitrag sieht aus der Perspektive katholischer Friedensethik auf das sicherheitspolitische Engagement der Europäischen Union (EU) in Mali. Methodisch folgt der Gang der Darstellung dem klassischen, dreischrittigen Ansatz der Moraltheologie:1 Sehen – Urteilen – Handeln. Da dieser Beitrag jedoch in das Gesamt des Sammelbandes vor allem den theologisch-ethischen Zugang einbringen soll, steht der zweite Schritt klar im Vordergrund, während der erste und dritte auf eine Skizze reduziert sind.
I. Das Geschehen in Mali2 Als erstes gilt es, sich hinsichtlich der aktuellen Konfliktsituation (I.1) und des sicherheitspolitischen Wirkens der EU vor Ort (I.2) zu orientieren. 1. Die Konfliktsituation3 Auf die komplexe Genese der 2012 ausgebrochenen Krise soll hier nicht eingegangen werden. Eine gegenwärtige Skizze genügt für unsere Zwecke:4 1 Die Ausdrücke Moraltheologie und theologische Ethik werden hier gleichbedeutend verwendet. 2 Über die angegebenen Quellen hinaus beruht dieser Abschnitt auf zahlreichen Gesprächen mit entsandten und einheimischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern internationaler Missionen sowie in der Katholischen Kirche, die der Autor durch seine insgesamt zehnwöchigen Aufenthalte bei der European Training Mission Mali (EUTM Mali) und bei der Université Catholique de lAfrique de lOuest Unité Universitaire à Bamako (UCAO-UUBa) geführt hat. 3 Für weitere detaillierte Informationen sei auf folgende Publikationen verwiesen: International Crisis Group, Speaking with the ‚Bad Guys‘: Toward Dialogue with Central Mali’s Jihadists, Africa Report 276, Brüssel 2019; Jean-Hervé Jezequel, Centre du Mali: Enrayer le nettoyage ethnique, https://www.crisisgroup.org/fr/ africa/sahel/mali/centre-du-mali-enrayer-le-nettoyage-ethnique (abgerufen am 13.12.2019); Denis M. Tull, VN-Peacekeeping in Mali, in: SWP-Aktuell 23/2019, Berlin 2019; Alisa Rieth, Robustes Peacekeeping in Mali, in: PRIF-Spotlight 2/19, Frankfurt a. M. 2019; International Crisis Group, Central Mali: An Uprising in the Making?, Africa Report 238, Brüssel 2016. 4 Es ist jedoch daran zu erinnern, dass Mali wie viele andere afrikanische Staaten ein Kunstgebilde ist, mit dem seitens seiner Einwohner nur eine nachrangige Identifikation besteht. Vorrangige Bezugsgrößen sind die kleineren Einheiten wie Ethnie, Clan und lokale Gemeinschaft. Eine auf das ganze malische Gemeinwesen orientierte Gemeinwohlausrichtung hat sich vor diesem Hintergrund kaum ausgeprägt. So beschränken sich
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Marco Schrage
Erstens ist hinsichtlich der malischen Sicherheitskräfte auch im Jahr 2020 zu konstatieren, dass sie hinsichtlich Personalstärke, Ausbildung und Ausrüstung noch schwach sind. Zweitens ist es wichtig, zwischen dem großen, kaum besiedelten Wüstengebiet im Norden und dem im Verhältnis dazu wesentlich kleineren und erheblich dichter besiedelten Zentrum zu unterscheiden. Während die aktuelle Krisensituation ihren Ausgang 2012 zwar im Norden genommen hat, steht dieser jetzt nicht mehr im Fokus der Sorge. Er ist heute ein in erster Linie ‚nur‘ wegen massiver organisierter Kriminalität unsicheres Gebiet.5 Gegenläufig dazu eskalieren im Zentrum Malis lang zurückreichende Rivalitäten seit 2015 immer mehr; zudem gibt es eine so geringe Präsenz malischer und internationaler Sicherheitskräfte, dass dort nur noch von einer isolierten Kontrolle der größeren Städte gesprochen werden kann. Drittens gab und gibt es konfliktuöse Bruchlinien zwar sowohl innerhalb von als auch zwischen einzelnen Ethnien, eine Konfliktkonstellation kann aber hervorgehoben werden. Der Konflikt zwischen Hirten (stark in der Ethnie der Fula) und Bauern (stark in der Ethnie der Dogon) um Lebensressourcen ist der Urgrund, der durch verschiedene Faktoren potenziert und eskaliert wurde. Beispielsweise dadurch, dass die Dogon den Fula als solchen seit den Anfängen des militanten Wirkens des zu dieser Ethnie gehörenden Islamisten Amadou Koufa mit der Katiba Macina im Jahr 2015 erfolgreich Sympathie für islamistische Terrorgruppen unterstellt haben. Durch das Herausarbeiten dieser zusätzlichen Opposition zwischen Dogon und Fula haben sie eine neue Schicht über den Grundkonflikt gelegt sowie das Wohlwollen von Politik und Sicherheitskräften für sich gewonnen. Im Gebiet nördlich des zentralmalischen Hochplateaus, in dem sich die islamistische Herrschaft Koufas konzentriert, sind schwere bewaffnete Konflikte wenig ausgeprägt. In angrenzenden Bereichen kommt es hingegen sogar zu Massakern an der Fula-Zivilbevölkerung mit dem Ziel, Gebiete ethnisch zu säubern. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu verdeutlichen, dass es gerade im Einflussbereich Koufas in der Bevölkerung keineswegs den einhelligen Wunsch gibt, dass die malische Regierung wieder die Gebietshoheit übernehmen solle. Vielmehr ist es nicht selten, dass Bewohner der Auffassung sind, dass das Zusammenleben unter der derzeitigen islamistischen Herrschaft sicherer und geordneter sei als wenn die Administration an die staatlichen Institutionen zurückfiele.6
Gemeinwohlüberlegungen zumeist auf die eigenen partikularen Gruppen; staatliche Mittel und Positionen werden als eine Art Beute zu deren Wohl betrachtet. 5 Zur Prekarität des Friedensprozesses im Norden Malis vgl. Sonja Nietz, Auf der Suche nach Frieden in Mali – Mehr als drei Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens 2015, in: Michael Staack/Sonja Nietz, Deutsche Politik in Westafrika/Der Friedensprozess in Mali. Zwei Studien, Opladen 2019, 33–56. 6 Da die extremen Auswirkungen Koufas Herrschaft spürbarer werden, weitverbreitet werden beispielsweise Schulen zerstört, Bildung untersagt und die Lebensführung reglementiert, könnte diese unterstützende Haltung in der solchen Entwicklungen gegenüber wenig verständnisvollen lokalen Bevölkerung mit der Zeit auch wieder abnehmen.
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Theologisch-ethische Orientierungen – verbunden mit einem Blick auf Mali
2. Das sicherheitspolitische Wirken der EU7 Das erste Mandat der EUTM Mali begann im Februar 2013, aktuell ist seit Mai 2018 das vierte Mandat gültig.8 In Bamako sind über 100 Soldaten stationiert, rund 500 verrichten ihren Dienst im 60 km ostnordöstlich gelegenen Koulikoro Training Camp (KTC). Das Ziel von EUTM Mali ist es erstens, die Forces Armées Maliennes (FAMa) zu befähigen, die Zivilbevölkerung zu schützen und die Landesverteidigung zu leisten, zweitens sie über ein nachhaltiges Ausbildungs- und Schulungssystem verfügen zu lassen sowie drittens die operativen Fähigkeiten der G5S JF zu erhöhen. Hinsichtlich der FAMa geht es dafür vor allem darum, Führungsverständnis und -qualitäten zu verbessern sowie darum, funktionale Personalwirtschafts-, Führungs- und Unterstützungsstrukturen aufzubauen. Bei einem für unsere Zwecke ausreichenden Blick auf deren Kerntätigkeit teilt sich diese in zwei Bereiche: Die fast 50köpfige Advisory Task Force (ATF) und die über 100köpfige Education and Training Task Force (ETTF). Die in Bamako verortete ATF hat die Aufgabe, vom Verteidigungsministerium bis hinunter zur Batail lonsebene Beratungsaufgaben wahrzunehmen. Die ETTF ist in Koulikoro stationiert, wo sie auch einen großen Teil ihrer Aktivitäten organsiert; sie erbringt aber auch regelmäßig Leistungen disloziert an anderen Stellen des Südens und des Zentrums. Komplementär zur ATF schult und trainiert sie vor allem Unteroffiziere und Offiziere bis hoch zur Kompanieebene. Die EUCAP Sahel Mali ist im Januar 2015 begründet worden. Sie ist die mit rund 140 entsandten Mitarbeitern wesentlich kleinere Mission,9 verfügt sie doch nur über einen ungleich kleineren Stab und kaum über eigene Schutz- und Sanitätseinheiten. Was ihre effektive Beratungs- und Ausbildungskomponente betrifft, so ist sie allerdings nicht erheblich kleiner als EUTM Mali. Ihr Hauptquartier ist ebenfalls in Bamako untergebracht, oft erfolgen die Ausbildungen für Polizei, Nationalgarde und Gendarmerie jedoch disloziert an verschiedenen Stellen des Landes, was mit entsprechendem Reiseaufwand verbunden ist. Ihre Ziele und ihr Vorgehen beziehen sich mutatis mutandis so auf die zivilen Sicherheitskräfte, wie dies bei EUTM Mali für die militärischen der Fall ist. 7 Im Gegensatz zur Mission multidimensionnelle intégrée des Nations unies pour la stabilisation au Mali (MINUSMA) und der Opération Barkhane haben die Malier von der European Union Training Mission Mali (EUTM Mali) und der European Union Capacity Building Mission Sahel Mali (EUCAP Sahel Mali), insofern sie sie kennen, eine positive Meinung. 50,2 % der Befragten wissen von der Arbeit der EUTM Mali, 93,7 % von diesen schätzen ihren Ertüchtigungsbeitrag. 28,4 % der Befragten wissen von der Arbeit der EUCAP Sahel Mali, 95,4 % von diesen schätzen ihren Ertüchtigungsbeitrag. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.), Mali-Mètre Nr. 10, https://library.fes.de/pdf-files/bueros/mali/10100/2018-10.pdf (abgerufen am 13.12.2019), 91 f. und 102 f. Ein Grund liegt sicher darin, dass EUTM Mali und EUCAP Sahel Mali nicht-exekutiven Mandaten nachkommen: Sie wirken nicht unmittelbar bei Befriedungsbemühungen mit, vielmehr unterstützen sie lediglich die zivilen und militärischen malischen Sicherheitskräfte sowie die G5S JF, indem sie sie beraten und ausbilden. 8 European Union Training Mission Mali (Hrsg.), Factsheet, http://eutmmali.eu/wp-content/uploads/2019/ 06/191306-EUTM_Mission_Factsheet_JUN19_EN-website.pdf (abgerufen am 13.12.2019), 1. 9 European Union Capacity Building Mission Sahel Mali (Hrsg.), Factsheet, https://eeas.europa.eu/sites/eeas/ files/2019_factsheet_eucap_sahel_mali.pdf (abgerufen am 13.12.2019), 1.
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Knapp sind an dieser Stelle auch einige zentrale Probleme zu benennen, denen sich die EU-Missionen gegenüber sehen. Erstens priorisieren die malischen Sicherheitskräfte angesichts der prekären Lage den Einsatz gegenüber der Ausbildung sowie innerhalb des Einsatzes kurzfristige Notwendigkeiten vor langfristigen Erwägungen. Deswegen werden beispielsweise die zur Verfügung stehende Ausbildungskapazität nur zu einem Teil ausgeschöpft und gemeinsam ausgebildete Einheiten anschließend wieder getrennt. Zweitens sieht die FAMa im Rückgewinn der Kontrolle über das Zentrum eine existentielle Selbstverständnisfrage. Diesem Movens gegenüber ist das Zusammenwirken von EUTM Mali und EUCAP Sahel Mali zu schwach und die Furcht der malischen Regierung vor der FAMa zu stark, sodass es nicht zu dem notwendigen Ansatz eines integrierten Wirkens ziviler und militärischer Sicherheitskräfte kommt. Drittens bestehen innerhalb der Sicherheitskräfte zahlreiche partikulare Interessen und Loyalitäten. Deshalb stößt insbesondere die Einführung transparenter Personalwirtschaftssysteme auf nachhaltigen Widerstand. Viertens ist die EU, nur ein Anbieter von Beratung und Ausbildung neben anderen Akteuren wie Russland oder der Türkei, die aus ganz eigenen Interessen in Mali präsent sind. Daher tritt die EU gegenüber malischen Verantwortlichen, die Änderungen ablehnen oder Ausbildung und Training ohne jegliche finanzielle oder materielle Eigenbeteiligung erwarten, nicht mit der nötigen Entschiedenheit auf.
II. Handlungsleitende Kriterien prinzipieller Art Auf diesen Zugang zum Geschehen folgt als zweiter Schritt das Beleuchten einiger friedensethisch handlungsleitender Kriterien prinzipieller Art. Im Rahmen eines theologischethischen Zugangs gilt es dabei, zwei Versuchungen entgegenzutreten: Sowohl der Verabsolutierung des Diesseits als auch der Reduktion von Frieden auf Sicherheit. So kommt es nun zu einem recht harten Schnitt, wenn auf die Beschäftigung mit nüchternen Ereignissen und Strukturen die Skizze von breitem Horizont und weiter Perspektive folgt (II.1). Daran knüpft das Aufzeigen von Kriterien prinzipieller Art für eine katholische Friedensethik an (II.2). Zwei hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands dieses Beitrags einschlägige Konkretisierungen schließen diesen Abschnitt ab (II.3). 1. Das unverzichtbare theologische ‚Mehr‘10 Zum Skizzieren eines theologischen Rahmens ist es angemessen, bei der Heiligen Schrift anzusetzen. Aus dieser jedoch konkrete Normen zur Bewertung oder gar eine genaue Anlei-
10 Dieser Unterabschnitt ist eine deutlich gekürzte Version der Ausführungen in Marco Schrage, Intervention in Libyen. Eine Bewertung der multilateralen militärischen Intervention zu humanitären Zwecken aus Perspektive katholischer Friedensethik, Münster 2016, 213–221.
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tung für sicherheitspolitisches Wirken herausarbeiten zu wollen, dürfte ähnlich sinnvoll sein, wie die Formulierung einer biblischen Ethik zur Kernfusion zu versuchen. Vielmehr geht es darum, die Ereignisweite der Bibel aufmerksam wahrzunehmen, die unsere moralischen Urteile inspiriert; denn die Geschichte des Heiligen Volkes mit Gott ist kein Lehrbuch, das an die Stelle von ‚natur-‘ bzw. ‚vernunftrechtlichen‘ Entscheidungen tritt, sondern sie „gibt ihnen Horizont und Perspektive.“11 Dabei sind Altes und Neues Testament als eine fortlaufende Einheit zu betrachten, um deren Entwicklungsrichtung es geht: Herauszuarbeiten ist also ihr Gesamtduktus.12 Damit einhergehend ist der grundlegende Lektüreschlüssel der Heiligen Schrift mitzudenken, die immer in einem eschatologischen Sinn vom Frieden spricht, ohne deshalb einen säkularen Frieden zu verurteilen: Eschatologisch ist keineswegs als Vertröstung zu verstehen, sondern so, dass säkulare Friedenstiftung immer nur ein begrenzter Zwischenschritt ist. Vernard Eller hat das Verhältnis von eschatologischem Frieden und säkularer Friedensstiftung in anschaulichen Bildern formuliert: „A chapter read as part of a longer novel will render a much different sense than if it be read as though it were meant for a short story, complete in itself.“13 Der Christ wirkt also nicht zwangsläufig anders am innerweltlichen Frieden mit als ein Nicht-Christ, aber er tut es im Bewusstsein, dass dieser nur ein Teil eines größeren Ganzen ist: „[…] whatever the Christian may do in supporting secular peace efforts, he dare never forget that he has seen (and can see) beyond the horizon to a much greater and truer vision.“14 Wie ist nun der Gesamtduktus des Alten und Neuen Testaments zu Krieg und Frieden? Kein Thema ist im Alten Testament so konstant präsent wie Gewalt und Krieg.15 Es beginnt bereits in der Urgeschichte mit den beiden Ausprägungen der Ursünde als „urtypische Sünde“16: Neben Adam und Evas „Misstrauen gegenüber Gott“ tritt „die Zerstörung der
11 Karl-Wilhelm Merks, Frieden zwischen Utopie und Realismus. Oder: Wie viel Gewalt darf der Frieden kosten?, in: Katholische Akademie Rabanus Maurus (Hrsg.), Gerechter Friede, Idstein 2002, 93–103, 96 f. 12 Die Heilige Schrift als Steinbruch zu verwenden und aufgrund einzelner kriegsle- oder -delegitimierender Verse und Episoden Beweise für diese oder jene Position anzuführen, ist wohl insofern als abwegig zu werten, als bei solchen Vorhaben stets eigene Vor-Überzeugungen bereits während der Lektüre auswahlleitend wirken und man folglich herausdestilliert, was man zu finden beabsichtigte: „Je größer der Schriftpositivismus, umso weniger schriftgemäß, das heißt umso ich-bezogener und subjektiver die Interpretation.“ Karl-Wilhelm Merks, Die Schrift als norma normans der Friedensethik, in: Gerhard Beestermöller/Norbert Glatzel (Hrsg.), Theologie im Ringen um Frieden: Einblicke in die Werkstatt theologischer Friedensethik, Stuttgart 1995, 31–53, 46; David Atkinson, Peace in our time? Some biblical groundwork, Grand Rapids/MI 1986, 14. 13 Vernard Eller, War and Peace from Genesis to Revelation, 2. Aufl., Ontario 1981, 198. 14 Ebd., 203. 15 Vgl. Merks, Die Schrift als norma normans, 40, der die über 300 Erwähnungen allein der Vokabel Krieg im Alten Testament zwar vorwiegend in einem Dutzend Bücher verortet, letztlich aber nur Ruth und das Hohelied als unkriegerisch gelten lässt. 16 Norbert Lohfink, Gerechter Friede und Gewalt in der Bibel, in: Katholische Akademie Rabanus Maurus (Hrsg.), Gerechter Friede, Idstein 2002, 53–65, 55.
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zwischenmenschlichen Harmonie“17 bei Kain und Abel – in dieser Lage wird die Blutrache als „erste gewaltbändigende Institution“18 eingeführt. Die nächste Etappe ist, aufgrund der Gewalttätigkeit, der Neuanfang im noachitischen Bund nach der Sintflut: Zum einen macht Gott darin ein Zugeständnis an die Gewalttätigkeit und schreibt zugleich mit der Bestrafung der Tötung ein Rechtswesen – eine legitime Gewalt – vor, zum anderen versichert er, seine grundsätzlich gute Schöpfung nicht mehr zu zerstören. Auf dieser allgemeingültigen und von Gott gewollten Grundlage erfolgen die nächsten Schritte, die zwar partikularer Natur sind, aber universale Zielrichtung haben. Es ist die mit Abraham beginnende Entwicklungsgeschichte des Volkes Israel: „Wenn die Schöpfung sich verrannt hat, versucht Gott nicht, alles auf einmal umzukrempeln. Er greift an einem einzigen Punkt zu, und von da aus startet er etwas Neues.“19 Diese Entwicklungsgeschichte lässt sich in drei Etappen zusammenfassen.20 Erstens das Sehen: Die Bibel verschleiert Gewalt, gerade in der Gründungsphase, nicht, sondern lässt das sich verwirklichende Gewaltpotenzial deutlich erkennbar werden. Zweitens die Abkehr von der Gewalt: Im Voranschreiten wird Israel aufgerufen, Gewaltursachen entgegenzutreten durch Recht und Gerechtigkeit, durch Erbarmen und Solidarität sowie durch Versöhnung. Drittens die Einsicht, dass es besser ist, Opfer zu sein als gewalttätiger Sieger: Sowohl individuell durch die Propheten als auch kollektiv im Exil wird deutlich, dass ein über den gewaltbewehrten Frieden hinausgehender Zustand „nur von den Opfern, nie von den Siegern her entstehen kann.“21 Im Zuge einer solchen Entwicklungsgeschichte Israels können wir von der Konzeption Israels als Gottesknecht sowie vom alttestamentlichen Friedensverständnis den Übergang zum Neuen Testament vollziehen. Israel sollte als Gebeugtes und keinen Widerstand Leistendes den Völkern den Frieden bringen. Dabei ist unter alôm keineswegs bloß eine verlässliche Abwesenheit von Krieg zu verstehen, sondern sowohl individuell wie kollektiv Friede als Wohlergehen und Vollendung, also als Befreiung von allem Übel; in diesem Sinne ist alôm im Endeffekt als die Rückkehr zum Ausgangspunkt des Versöhntseins des Menschen mit Gott zu verstehen.22 Die Erfüllung dieser Verheißung erfolgt im Neuen Testament in Jesus, dem Christus: In Fortsetzung der mit Abraham beginnenden Entwicklungsge-
17 Deutsche Bischofskonferenz, Gerechter Friede, 2. Aufl., Bonn 2000, Nr. 13. 18 Lohfink, Gerechter Friede, 56. 19 Ebd., 58. 20 Detailliert Deutsche Bischofskonferenz, Gerechter Friede, Nr. 13–39; Lohfink, Gerechter Friede, 59–63. Verständnisfördernd für diese Auffassung der Entwicklungsgeschichte ist die Präzisierung, dass sie in ihrer Gesamtheit keine schlicht lineare, sondern ein Ineinander zweier Stränge ist, von denen der eine im Laufe der Zeit schwächer, der andere stärker wird: Die Denkart der Kriegertradition nimmt ab und der prophetische Aufruf zum Friedenstiften nimmt zu. Merks, Die Schrift als norma normans, 43. 21 Deutsche Bischofskonferenz, Gerechter Friede, Nr. 35. 22 Elio Peretto, Il fattore Guerra-Pace nell’Antico Testamento, in: Salvatore A. Panimolle (Hrsg.), Guerra e Pace nella Bibbia, Rom 2002, 17–97, 59–67 und 93–96.
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schichte Israels setzt hier an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit etwas ein, das allen offen stehen und letztlich alle erfassen soll. Die Aussage des Neuen Testaments kann also nur als Extrapolation und Abschluss des Alten Testaments fruchtbar erschlossen werden. Wegen der ihr oft zugemessenen besonderen Bedeutung für die christliche (Friedens-)Ethik sei daraus exemplarisch die Bergpredigt des Matthäusevangeliums fokussiert.23 Ihre Seligpreisungen und Hyperthesen sind wörtlich gemeinte Extrapolationen der alttestamentlichen Ethik, die sich an alle Nachfolgeinteressierten richten. Dabei zielt „Jesus nicht auf eine neue Rechtsordnung, sondern auf ein neues Denken“,24 er möchte die alte Rechtsordnung also nicht aufheben, sondern von dort aus weitergehen. Für unsere Zwecke beschränken wir uns auf die dritte und siebte Seligpreisung (Mt. 5,5.9) sowie auf die fünfte und sechste Hyperthese (Mt. 5,38–48).25 Hier könnte eine Spannung zwischen den zwei genannten Seligpreisungen vermutet werden, doch haben beide ihren Referenzpunkt im Leben Jesu. So hat das in der dritten Seligpreisung verwendete πραΰς nicht die Bedeutung ‚sanft‘ oder ‚gewaltlos‘, sondern versteht sich von der „Demut, die sich in Freundlichkeit und Milde äußert“ her – jene, die Jesus als König verkörpert.26 Und in der siebten Seligpreisung bedeutet εἰρηνοποιός nicht eine bloße Einstellung oder Haltung, sondern das aktive, friedenschaffende Wirken und damit nichts weniger als Anteil zu haben „an der Art Gottes“27 – das, was Jesus in seinem ganz dem Willen des Vaters entsprechenden Leben versichtbart.28 Die fünfte Hyperthese formuliert mittels eines Grundsatzes und dessen dreifacher Exemplifikation keine „kluge[n] Ratschläge zur Praxis einer ‚Entfeindungsliebe‘“, sie zielt nicht auf praktische, erfolgversprechendere Strategien; vielmehr stellt sie sich gegen die Eigendynamik und die Eskalation der Gewalttätigkeit, ist sie das Protestieren „gegen jegliche Art der den Menschen entmenschlichenden Spirale der Gewalt.“29 Sie ist ihrerseits Grundlage und Voraussetzung für die sechste Hyperthese: In diese münden und in dieser gipfeln alle Hyperthesen.30 Die Liebe zu den Feinden31 ist insofern Mittel- und Validierungspunkt aller Gebote, wie sie als Parallelisierung zur Liebe Gottes für die Sünder verstanden wird.32 Als so verstandene Imitatio Dei ist das Streben nach Vollkommenheit 23 Johannes Beutler, Die Bergpredigt – Magna Charta christlicher Friedensethik, in: Katholische Akademie Rabanus Maurus (Hrsg.), Gerechter Friede, Idstein 2002, 67–83. 24 Beutler, Die Bergpredigt, 76. 25 Für die eingehende Auslegung der Bergpredigt vgl. statt aller Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 1. Teilband, 5. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2002, 251–553. 26 Luz, Das Evangelium, 282, dort auch Fn. 92. 27 Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium, Teil 1, 3. Aufl., Freiburg i. Br. 1993, 126 f. 28 Luz, Das Evangelium, 287 f. 29 Luz, Das Evangelium, 388. 30 Gnilka, Das Matthäusevangelium, 184 und 196. 31 Die Liebe zu den Feinden ist keine bloße Ausweitung der Nächstenliebe, durch die auch die Feinde geliebt werden sollen, sondern ihre Zuspitzung; Luz, Das Evangelium, 405. 32 Ebd., 405.
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nicht zuallererst ein jemals verwirklichter Zustand, sondern eine Aufgabe und ein Ziel: Das impliziert, dass die einzelnen Christen auf diesem Weg unterschiedlich weit gelangen.33 Die Liebe zu den Feinden ist daher nicht der „Gipfel der ‚natürlichen‘ Menschenliebe“, sondern sie ist im Wesen Gottes, im Leben Christi, im Unter-uns-Sein des Auferstandenen begründet: Ob der Einzelne sie leben kann, hängt von Intensität und Tragfähigkeit der Gnadenerfahrung dieses „bedingungslosen Ja Gottes zum Menschen um seiner selbst willen“ ab.34 Diese neue und nicht minder vernünftige Lebensweise des Ethos kann besonders dann friedenschaffend und -fördernd wirken, wenn „dabei Rechte Dritter nicht betroffen sind.“35 Doch sobald deren moralische Rechte beeinträchtigt werden, entsteht eine Situation, zu der man sich nur durch das Verständnis des Sinns der Seligpreisungen und Hyperthesen angemessen verhalten kann. Das vorstehend konturierte Gebot der Liebe ist die Richtschnur, anhand derer Gewalttätigkeit minimiert und überwunden werden soll; kein Verhalten, weder Tun noch Unterlassen, soll demnach Einladung oder Katalysator zur Gewaltanwendung sein:36 Dass es zwischen dem ‚wichtigsten‘ Gebot der Tora, dem Liebesgebot, und anderen Geboten zu Konflikten kommen kann, hat Matthäus nur ansatzweise durchschaut. Unsere geschichtlichen Erfahrungen haben gezeigt, dass […] ethische Gebote, […] wie der Eid, das Scheidungsrecht oder die begrenzte Blutrache, […] wie etwa die Eidverweigerung, das absolute Scheidungsverbot und vielleicht sogar der absolute und konsequente Verzicht auf jede Form der Gewalt dem Auftrag zur Liebe widersprechen könnten.37
Aggressions- und Unterdrückungssituationen zu Lasten Dritter fordern dazu heraus, Stellung zu beziehen. Dann können Spannung und Gewalt im Verhältnis zu Aggression und Unterdrückung das geringere Übel sein, kann es sein, dass das Durchbrechen von Eigendynamik und Eskalation der Gewalttätigkeit, dass das Überwinden der Gewalttätigkeit gerade nicht durch Gewaltlosigkeit, sondern durch die begrenzte Anwendung von Gewalt zu erreichen ist.38 33 Ebd., 410. 34 Ebd., 415 f. 35 Beutler, Die Bergpredigt, 81. 36 Ingo Broer, Friede durch Gewaltverzicht? Vier Abhandlungen zur Friedensproblematik und Bergpredigt, Stuttgart 1984, 74–79. 37 Ulrich Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2008, 66; vgl. zur Gegenüberstellung ,rigoristischer‘ und ,abschwächender‘ Auslegung Luz, Das Evangelium, 397–400. 38 Hierzu Broer, Friede durch Gewaltverzicht, 35 f.: Zunächst ist dem „Gewaltlosigkeits-Ethos Genüge zu tun. […] Die Grenze dieser Worte liegt m. E. da, wo man diesen Satz als Gesetz versteht. Ist die Intention richtig erkannt, dass es hier um die Unterbrechung des Feind-Denkens, um die Ausschaltung des ständig neue Gewalt zeugenden Zusammenhangs von Gewalt und Gegengewalt geht, dann muss man um dieser Intention willen auch einmal, wenn auch wirklich nur in Grenzfällen, Gewalt ausüben dürfen – und dies immer dann, wenn nicht die Unterlassung von Gewalt, sondern die Anwendung von Gewalt der Gewaltlosigkeit dient.“
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Jesus hat die partikulare Entwicklungsgeschichte Gottes mit seinem Volk vollendet aufscheinen lassen, indem er ein Pazifist39 in der Praxis war – er war aber kein Pazifist dem Prinzip nach, der Gewalt ausgeschlossen und die noachitische Ordnung damit aufgehoben hätte.40 Es gilt also, dass „[i]n der Zeit eines tatsächlich oder vermeintlich notwendigen gewaltbewehrten Friedens […] zugleich der Horizont aufgerissen [ist] auf einen messianischen Frieden hin“ und dass „[d]er gewaltbewehrte und darin zunächst vernunftgemäße Friede […] sich im Horizont des messianischen Friedens als vorläufig [zeigt]“.41 2. Gemeinwohlausrichtung und Solidarität Innerhalb dieses breiten Horizonts und dieser weiten Perspektive positioniert und entfaltet sich katholische Friedensethik. Wer sich vergegenwärtigt, wie im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung die verschiedenen Kriterien prinzipieller Art, die in konkreten Situationen Handlungsorientierung geben sollen, konturiert und herangezogen worden sind, kann jedenfalls seit Mitte des 19. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Kontinuität erkennen.42
39 Um wegen der mehrdeutigen Verwendung dieses Begriffs Missverständnisse zu vermeiden, sei präzisierend festgehalten, dass hier die Anwendung von Waffengewalt im Allgemeinen gemeint ist, nicht der spezifische Unterfall zwischenstaatlicher Gewalt. 40 Herman Hendrickx, A Time for Peace. Reflections on the meaning of Peace and Violence in the Bible, London 1988, 86–97. 41 Paul Wehrle, Gerechter Friede, in: Katholische Akademie Rabanus Maurus (Hrsg.), Gerechter Friede, Idstein 2002, 21–28, 26 f. 42 Was der Jesuit Luigi Taparelli d’Azeglio in seinem umfangreichen ‚natur-‘ bzw. ‚vernunftrechtlichen‘ Gesamtentwurf Saggio teoretico di diritto naturale appoggiato sul fatto, Rom 41855, skizziert hat, ist seit dem Pontifikat Leos XIII. im Laufe der Jahrzehnte für die unterschiedlichen Bereiche der Sozialethik entfaltet und vertieft worden. Es ist plausibel, Taparelli zwar nicht als ‚Begründer‘, aber durchaus als ‚Vater‘ der modernen katholischen Sozialethik anzuführen. Marco Schrage, Luigi Taparelli als Vordenker der Friedensethik Leos XIII. und Benedikts XV., in: Birgit Aschmann/Heinz-Gerhard Justenhoven (Hrsg.), Dès le début. Die Friedensnote Papst Benedikt XV. von 1917, Paderborn 2019, 49–68; sowie grundlegend Marco Schrage, Luigi Taparellis naturrechtlicher Entwurf einer weltweiten Friedensordnung, in: Theologie und Philosophie 94 (2019) Heft 3, 367–402. Die von Taparelli – keineswegs neu erfundenen, aber in einer systematischen Arbeit – dargelegten Kriterien prinzipieller Art sind auch in jüngsten, sehr speziellen Beiträgen als die den Erwägungen zugrunde liegenden Größen erkennbar (siehe beispielsweise Marianne Heimbach-Steins, „Dem Gemeinwohl der ganzen Menschheit dienen...“ (Gaudium et spes, 26): Konturen einer Ethik globaler Migration, in: Judith Könemann/ Marie-Theres Wacker (Hrsg.), Flucht und Religion: Hintergründe – Analysen – Perspektiven, Münster 2018, 185–210; dies., Grenzenlose Offenheit oder begrenzte Verantwortung? Ethische Wegmarken europäischer Flucht- und Migrationspolitik, in: Alexander Merkl/Bernhard Koch (Hrsg.), Die EU als ethisches Projekt im Spiegel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik, Baden-Baden 2018, 225–249; Heinz-Gerhard Justenhoven, Neue Verantwortung in der Außenpolitik. Überlegungen zu einer ethischen Orientierung, in: Karl-Rudolf Korte (Hrsg.), Politik in unsicheren Zeiten, Baden-Baden 2016, 208–218; ders., Mali vor dem nächsten Krieg? Mangelnde Gemeinwohlorientierung als politische Herausforderung der Befriedung Malis, in: Stefan Brüne/
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Der Umfang dieses Beitrags erfordert es, sich zu beschränken. Deshalb ist es sinnvoll, sich innerhalb der Kriterien prinzipieller Art auf das Gemeinwohl- und das Solidaritätsprinzip zu konzentrieren. Zwar haben beide ihre Bezugsgröße im alles fundierenden Personprinzip und bedürfen zur präzisierenden Ergänzung der politischen und sozialen Gerechtigkeit sowie des Subsidiaritätsprinzips, sodass diese hier zumindest angeführt werden. Aber gerade die Gemeinwohlausrichtung stellt jenes Unterscheidungskriterium dar, anhand dessen sich in unserem Zusammenhang die wesentlichen Grundausrichtungen bestimmen lassen. Auf den ersten Blick banal, tatsächlich aber von fundamentaler Bedeutung ist nämlich, nicht die Wege bzw. Mittel mit dem Ziel zu verwechseln: Dies bewahrt vor der Gefahr, erste selbstreferentiell werden zu lassen und sie dann womöglich um ihrer selbst zu verfolgen. Das hier nur anzudeutende Personprinzip besagt Zweierlei.43 Zum einen, dass jeder Mensch allein aufgrund seiner Spezieszugehörigkeit über die gleiche unantastbare Würde verfügt; in dieser gründen unterschiedlich ausdifferenzierte Menschenrechte, deren elementarer Kern jedenfalls abwägungsfest-unbedingt ist.44 Zum anderen, dass kein Gemeinwesen und keine Institution um seiner/ihrer selbst willen besteht, sondern vielmehr um des Menschen willen und dass dieser daher der Maßstab für das Handeln aller Gemeinwesen und Institutionen ist. Dies voraussetzend, ist die Letztbegründung für die Existenz sowie die Letztreferenz für das Wirken eines Gemeinwesens, dass eine handlungsfähige Autorität das Gemeinwohl erkennt, erstrebt und verwirklicht; ergänzt wird dies dadurch, dass sie die Haltung anderer Gemeinwesen dem eigenen gegenüber erfasst. Für ein Gemeinwesen ist das Sorgen für das Gemeinwohl durch eine handlungsfähige Autorität normativ also sowohl Ziel und Zweck seines Handelns als auch Bedingung seiner eigenen Legitimität. Unter Gemeinwohl ist nun im Sinne eines Dienstwertes die Gesamtheit jener Bedingungen zu verstehen, die dem Einzelnen seine bestmögliche Entfaltung eröffnen: Das Gemeinwesen hat seinen Einwohnern die Möglichkeitsbedingungen bereitzustellen, um ein gutes – d. h. erfülltes und tugendhaftes – Leben führen zu können.45 Zwei moderne Wege, das Gemeinwohl als Dienstwert etwas zu konkretisieren, sind, es in Innere Ordnung und Wohlfahrt sowie äußere Sicherheit oder aber es in Rechtsetzung, Rechtsdurchsetzung und Daseinsvorsorge aufzuschlüsseln.46 Taparelli sprach diesbezüglich von ‚sicherndem Schutz‘ und ‚kooperativer Aktivität‘ bzw. ein wenig abgewandelt davon, das individuelle Handeln ‚zu schütHans-Georg Ehrhart/Heinz-Gerhard Justenhoven (Hrsg.), Frankreich, Deutschland und die EU in Mali. Chancen, Risiken, Herausforderungen, Baden-Baden 2015, 185–207). Auch dieser Beitrag ist – ohne explizit auf die einschlägigen Stellen im Saggio zu verweisen – dem Denkansatz und den Unterscheidungen in Taparellis Entwurf verpflichtet. 43 Ergänzend siehe unten, 209 f. 44 Zu diesem Kern sind zumindest Sicherheit für Leib und Leben, minimale Freiheit sowie Zugang zu ausreichend Nahrung, Trinken und Basisgesundheitsversorgung zu zählen. 45 Ob der Einzelne dann tatsächlich ein erfülltes und tugendhaftes Leben führt, liegt hingegen in seiner eigenen Verantwortung. 46 Diese beiden Formulierungen werden im Folgenden gleichgestellt verwendet.
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zen‘ und ‚zu vervollkommnen‘. Gemeinwohlausgerichtetes Handeln besteht also zum einen im Schutz der Individuen wie der Gliedgemeinwesen vor Rechtsbrüchen, die ihren Ursprung sowohl im Inneren wie im Äußeren haben können, sowie zum anderen im Bereitstellen jener aufwändigen Vorhaben und großen Werke, auf die alle Einwohner zurückgreifen können müssen oder können sollen, zu deren Verwirklichung Individuen bzw. Gliedgemeinwesen aber nicht über die nötigen Mittel verfügen. An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass all dies in der Perspektive katholischer Friedensethik mittels einer ausgewogenen normativen Ethik zu erstreben und zu verwirklichen ist, die nicht in methodenmonistische oder einzelne Handlungsaspekte verabsolutierende Engführungen verfällt: Es geht dabei also vor allem darum, verschiedene ethische Zugänge in ihrer jeweiligen Berechtigung zu berücksichtigen.47 Das macht einen solchen normativen Ansatz zwar komplex und anspruchsvoll – weil das Richtige nur aus einer Gesamtschau hervorgeht –, ermöglicht jedoch unterschiedliche Handlungsaspekte einzubeziehen, was angesichts der oft durchwachsenen und uneindeutigen Wirklichkeit zu reflektiert-ausgewogenen Urteilen führt und nicht zu unzureichend-vereinfachenden Verhaltensweisen anhält. Schlagwortartig handelt es sich darum, dass eine handlungsleitende Reflexion weder ‚hysterisch gesinnungsethisch‘ noch ‚zwanghaft gesetzesethisch‘ noch ‚depressiv sklavenmoralisch‘ noch ‚schizoid erfolgsethisch‘ reduziert sein darf: Vielmehr sind Vorsatz, Normen, Haltungen und Folgen bei der Reflexion als Bewertungskriterien gemeinsam zu berücksichtigen. Es kommt also darauf an, worauf sich der konkrete handlungsleitende Vorsatz richtet, ob das, worauf er abzielt, auch mit dem als moralisch richtig Geltenden übereinstimmt. Genauso ist zu beachten, ob die Handlung den intersubjektiv anerkannten Normen entspricht. Ebenfalls ist zentral, ob Haltungen, die ein Akteur erworben hat und die jene Handlung prägen, ethisch erwünschte Verhaltensdispositionen sind sowie welche Rückwirkungen besagte Handlung ihrerseits auf Haltungen des Akteurs und seines Umfeldes entfaltet. Schließlich darf nicht vernachlässigt werden, welche Folgen – im Sinne vormoralischer Güter und Übel – die in Rede stehende Handlung zeitigt. Kurz: Die von Pflichtethik, Vertragstheorie, Tugendethik und Konsequentialismus je hervorgehobenen Aspekte sind in ihrer positiven Ausformung als auf gegenseitige Ergänzung angewiesene Bewertungskriterien in den Blick zu nehmen. Soweit, in ganz elementaren Zügen, ein in der Perspektive katholischer Friedensethik ausgewogener normativer Ansatz, dem gemeinwohlerstrebendes und -verwirklichendes Handeln Rechnung zu tragen hat. Es ist offensichtlich, dass die verschiedenen Gemeinwesen auf unserem Planeten durch gemeinwohlausgerichtetes Handeln sehr divergierende Niveaus zu verwirklichen in der 47 Wilhelm Korff, Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München 1985, 12–29: Eine nach wie vor luzide Skizze, die einprägsam potentielle Defizite und Ressourcen von Pflichtethik, Vertragstheorie, Tugendethik und Konsequentialismus umreißt.
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Lage sind: Das Mühen eines Gemeinwesens muss es in jedem Fall sein, für seine Einwohner die bestmöglichen Bedingungen anzustreben; das Ergebnis bleibt ein relatives und dynamisch-entwicklungsfähiges. Hieran anschließend ist auf eine weitere wichtige Überlegung einzugehen. Oben war gesagt worden, dass es Letztbegründung und Letztreferenz eines Gemeinwesens sei, das Gemeinwohl zu erkennen, zu erstreben und zu verwirklichen und dass dies durch das Erfassen der Haltung anderer Gemeinwesen dem eigenen gegenüber ergänzt werde. Ein wesentlicher Aspekt in Verkehr und Kooperation zwischen einander gleichgestellten Gemeinwesen ist nun, andere Gemeinwesen – so erforderlich – im Entfalten eben dieser beiden Fähigkeiten zu unterstützen:48 In diesem Umstand kommt zwar auch das Gemeinwohl-, vor allem aber das Solidaritätsprinzip zum Ausdruck. Solidarität hat ihre Begründung letztlich darin, dass kein Individuum/Gemeinwesen – unabhängig aller etwaiger Stärken – ohne das Zusammensein mit anderen Individuen/Gemeinwesen, ohne die Sozialität das sein könnte, was es ist: Solidarität ist daher gewissermaßen die Antwort auf das vom vorgenannten Zusammensein Erhaltene. Es kann in diesem Zusammenhang zugleich gar nicht stark genug betont werden, dass ein Gemeinwesen im Zuge solcher Unterstützungsleistungen gerade nicht die Aufgaben eines anderen, ihm gleichgestellten übernehmen darf.49 Vielmehr darf ein Gemeinwesen beim Wahrnehmen seiner originären Aufgaben durch ihm gleichgestellte Dritte nur unterstützt werden; idealerweise in Form der Hilfe zur Selbsthilfe, also durch Erwerben der erforderlichen Befähigungen. Der Grund dafür, dass dieses wichtige Element in Verkehr und Kooperation zwischen einander gleichgestellten Gemeinwesen nur in helfender, in die Letztentscheidungskompetenz des Unterstützten respektierender Form erfolgen darf, liegt darin, dass Gemeinwohlüberlegungen hinsichtlich eines Gemeinwesens nur durch eine legitime übergeordnete, umfassendere Größe unparteiisch nachvollzogen und erforderlichenfalls – in Abgrenzung zu sowie in Abwägung mit Belangen und Interessen anderer gleichrangiger Gemeinwesen – korrigiert werden können.50 Für unsere sich gewissermaßen als Staatenanarchie darstellende internationale Wirklichkeit ergibt sich daraus ein inhärentes Defizit: Kein Staat oder Staatenverbund ist als partikulare Größe, bei noch so guter Absicht, befähigt, Erwägungen auf das Weltgemeinwohl hin zu treffen, also unparteiische Entscheidungen hinsichtlich einer globalen Bezugsgröße; in Folge dessen kann auch kein Staat oder Staatenver48 Dies ist mit Blick auf das Wirken der EU in Mali ein wichtiger Aspekt. 49 Seltene und zeitlich eng begrenzte Ausnahmen kann es während des völligen Zusammenbruchs eines Gemeinwesens geben. 50 An dieser Stelle ist das Subsidiaritätsprinzip kurz zu erwähnen, da es seinen antizentralistischen Beitrag gerade hinsichtlich einer solchen ‚vertikalen‘ Dimension leistet. Es hat eine negative Seite (Nichteinmischungsprinzip) und eine positive Seite (Unterstützungsprinzip). Die erste besagt, dass an Kompetenzen der personnäheren Größe so viel wie möglich und der personferneren Größe so viel wie nötig zuzuweisen ist. Die zweite besagt, dass einer personnäheren Größe zu helfen ist, damit sie ein Problem lösen kann und sich, sobald diese dazu in der Lage ist, die personfernere Größe dann wieder zurückzuziehen hat.
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bund genuine Gemeinwohlüberlegungen für ein anderes ihm gleichrangiges Gemeinwesen treffen. 3. Zwei exemplarische Konkretisierungen Bezüglich gemeinwohlausgerichteten Erwägens seien abschließend zwei exemplarische Konkretisierungen vorgenommen, die dann beim Skizzieren von Handlungsorientierungen (III.) mitzubedenken sind. Erstens. Ist es richtig, für ein Gemeinwesen eine freiheitlich-demokratische Verfassung anzustreben? Um eine kurze, aber differenzierte Antwort zu geben, ist es sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, welches Verständnis von politischer Gerechtigkeit folgerbar ist aus einer bloß aufgrund der Spezieszugehörigkeit für alle gleichen unantastbaren Menschenwürde, in welcher elementare wie weitergehende Menschenrechte gründen. Anders formuliert: Welches Verständnis von politischer Gerechtigkeit ist folgerbar aus der anthropologischen Gleichheit bezüglich der unhintergehbaren Minimalvoraussetzungen des Menschseins? Das Fundament politischer Gerechtigkeit ist, dass auf der auf die unhintergehbaren Minimalvoraussetzungen des Menschseins bezogenen anthropologischen Gleichheit Freiheiten ruhen, die zur gegenseitigen und auch allseitigen Sicherung in gleicher Weise Einschränkung finden: Innerhalb eines Gemeinwesens verzichten die Einzelnen auf bestimmte, absolute Freiheiten und zwar auf Gegenseitigkeit. Alle behalten die gleichen Freiheiten: Aufgrund der anthropologischen Gleichheit im obigen Sinne kann niemand mehr Freiheiten für sich in Anspruch nehmen als die anderen. Darauf bauen dann in einem zweiten Schritt elementare wie entfaltetere Menschenrechte als sogenannte Gerechtigkeitsstrategien auf. Im Kontext dieser knappen Überlegungen zur politischen Gerechtigkeit, seien die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte nicht berücksichtigt, sondern lediglich die bürgerlich-politischen Menschenrechte genannt. Bezüglich dieser ist zwischen (bürgerlichen) Abwehrrechten und (politischen) Mitwirkungsrechten zu unterscheiden. Hinsichtlich der Frage, wie die unabdingbar notwendige Autorität eines Gemeinwesens konstituiert werden soll, ist ausgehend vom Vorstehenden erkennbar, dass sich daraus zwar ‚syllogistisch’ ergibt, dass dafür ein freiheitlich-demokratisch verfasstes Gemeinwesen anzustreben ist. Es ist aber zu beachten, dass eine solche freiheitliche Demokratie den Wesenszug hat, politische Konkurrenzsituationen auszulösen. Das ist freilich kein grundsätzliches Problem, es kann jedoch Situationen geben, in denen genau das für ein Gemeinwesen nicht förderlich, sondern abträglich ist. Voraussetzung für politische Konkurrenz ist nämlich ein geteilter, einender, stabiler Rahmen, innerhalb dessen erst die frei werdenden Kräfte ‚konkurrierender Selbststände’ fruchtbar werden können. In labilen Gemeinwesen, die über kein solches Substrat verfügen, können frei werdende Kräfte ‚konkurrierender Selbststände’ hingegen sehr negative Effekte haben; sogar so negative Effekte, dass dann selbst elementare Menschenrechte nicht mehr geschützt bzw. gewährleistet werden. Die elementaren Men-
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schenrechte innerhalb der bürgerlich-politischen Rechte sind Sicherheit für Leib und Leben sowie minimale Freiheit, mithin Abwehrrechte. Im Falle einer Kollision zwischen ihnen und den übrigen Abwehrrechten oder den Mitwirkungsrechten haben sie den Vorrang. Ausgehend vom Personprinzip, im Lichte der Letztbegründung für die Existenz und der Letztreferenz für das Wirken eines jeden Gemeinwesens, ist in einer freiheitlich-demokratischen Verfasstheit zwar ein kongeniales ‚Mittel‘ aber doch kein selbstreferentielles Ziel zu erkennen: Ist sie also innerhalb einer bestimmten Wirklichkeit hinsichtlich der Gesamtschau gemeinwohlausgerichteten Wirkens des Gemeinwesens, insbesondere mit Blick auf elementare Menschenrechte, im Vergleich zu einer anderen Verfasstheit deutlich weniger zuträglich, ist es richtig, eine erkennbar hilfreichere zu wählen. Es gibt durchaus anders verfasste Gemeinwesen, die – von politischen Mitwirkungsrechten im freiheitlich-demokratischen Sinn freilich abgesehen – den Menschenrechten gerecht werden, allemal dem elementaren Kern der Menschenrechte, und deren politische Autoritäten gemeinwohlausgerichtet agieren.51 Diese sind zwar nicht freiheitlich-demokratisch organisiert, sondern in anderer Weise hierarchisch verfasst, sodass politische Mitwirkungsrechte bloß in unterschiedlich defizitärer Weise verwirklicht sind. Sie können aber von solcher Art sein, dass die ihnen zugehörigen Individuen sich darin verlässlich aufgehoben fühlen.52 Anders ausgedrückt: Es kann auch achtbare, aber auf andere Weise hierarchisch organisierte Gemeinwesen geben, die das Gemeinwohl in einer konkreten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit auf höherem Niveau verwirklichen, als es eine freiheitliche Demokratie leisten könnte.53 Es ist daher festzustellen, dass eine Demokratie auf der Grundlage gleicher Freiheiten zwar die idealiter geeignetste Verfasstheit eines Gemeinwesens für das Zusammenleben von Individuen ist, dass es auf dem langen Weg dorthin aber Entwicklungsphasen gibt, in denen es mehr im Interesse der Einzelnen, begünstigender für gemeinwohlausgerichtetes Wirken sein kann, in einem achtbaren, aber anders hierarchisch organisierten Gemeinwesen zu leben als in einer freiheitlichen Demokratie. Es handelt sich dabei um einen langsamen Prozess und die Entscheidung über die darin jeweils angemessene Verfasstheit des eigenen Gemeinwesens kann – auch wenn von außen Rat und Hilfe gegeben werden sollen – nur eine selbstbestimmte sein. Zweitens. Ist es richtig, für eine selbstbestimmungsfähige Gruppe die Eigenständigkeit anzustreben? Hierzu ist vorab hinsichtlich einer solchen Bevölkerungsgruppe zwischen dem Pflegen- und Vertiefenkönnen einer – positiv verstandenen – eigenen kulturellen Identität 51 Rein exemplarisch kann auf das Fürstentum Monaco verwiesen werden, das dies auf hohem Niveau verwirklicht. 52 Ethnien und Clans in Mali sind beispielsweise ebenfalls nicht freiheitlich-demokratisch; dessen ungeachtet fühlen sich die Menschen darin zumeist besser aufgehoben, als in ihrem formal freiheitlich-demokratischen Staat. 53 Vgl. zu „achtbaren hierarchischen Völkern“ bzw. „achtbaren Konsultationshierarchien“ John Rawls, Das Recht der Völker, Berlin 2002, 77–91.
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einerseits sowie der Eigenständigkeit andererseits klar zu unterscheiden. Bei beidem handelt es sich zwar insofern um Dienstwerte als sie die bestmögliche Entfaltung der Einzelnen begünstigen sollen; doch während das einseitige Verfolgen des ersten als ein unersetzbares Sich-Ausdrücken – solange es nicht mit Diskriminierungen Fremden gegenüber einhergeht54 – stets legitim ist, kann es dasjenige der zweiten nur dann sein, wenn im größeren Gemeinwesen elementare Menschenrechte wegen der Zugehörigkeit zu besagter Gruppe verletzt werden und das Erlangen der Eigenständigkeit hinsichtlich Innerer Ordnung und Wohlfahrt sowie äußerer Sicherheit im Vergleich zum Verbleib im größeren Gemeinwesen eine Verbesserung darstellt.55 Das Verbleiben in einem größeren Gemeinwesen kann seinerseits legitim sein, wenn dieses gemeinwohlausgerichtet regiert wird und die Individuen einer selbstbestimmungsfähigen Teilgruppe darin zum einen bezüglich Rechtsetzung, Rechtsdurchsetzung und Daseinsvorsorge auf ein höheres Niveau zurückgreifen können als wenn sie eigenständig wären und zum anderen ihren kulturellen Eigenheiten angemessen nachgehen können. Die damit untrennbar verbundene Kehrseite ist, dass für aus einer solchen Teilgruppe stammende Personen, die politische Verantwortung auf Ebene des größeren Gemeinwesens übernehmen, die Letztreferenz ihres Handelns die Gemeinwohlausrichtung hinsichtlich des gesamten Gemeinwesens und nicht bloß hinsichtlich ihrer Partikulargruppe ist; falsch ist die Ausbeutung der Ressourcen des größeren Gemeinwesens zugunsten der eigenen Teilgruppe.
III. Auswärtige EU-Sicherheitspolitik in Mali: Handlungsorientierungen Nach der Skizze des Geschehens (I.) und dem Erörtern von Handlungskriterien prinzipieller Art (II.), gilt es in einem abschließenden Schritt, anhand der zweiten Handlungsorientierungen für das erste zu benennen.56 54 Damit ist nicht gemeint, dass es diesen gegenüber keine Ungleichbehandlung, sondern nur, dass es diesen gegenüber keine Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund geben darf. 55 In Luigi Taparellis einschlägiger Schrift Della Nazionalità, Florenz 21849, findet sich in diesem Zusammenhang das einprägsame Bild, dass Rechte wie eine Ellipse stets zwei Brennpunkte haben: abstrakte ethische Prinzipien und die konkrete geschichtliche Wirklichkeit. Daher habe auch das Konturieren eines Rechts auf staatliche Eigenständigkeit anhand beider Brennpunkte zu erfolgen. 56 Zu Beginn sei daran erinnert, dass es zum einen in der für das Transzendente offenen wie im vorläufig Diesseitigen verorteten Perspektive katholischer Friedensethik sowohl ein Verstoß gegen das Liebesgebot sein kann, Sicherheit mit gewaltbewährten Mitteln zu verwirklichen als auch absolut auf den Einsatz gewaltbewährter Mittel gegenüber Gefahren zu verzichten. Ebenso sei zum anderen daran erinnert, dass ihr Referenzpunkt ein Sicherheit zwingend umfassender Friede ist, dieser sich aber eben nicht in einer solchen erschöpft: Denn der prozesshafte Friede theologischer Ethik wird seinem Wesen nach gerade pluriperspektivisch-intersubjektiv konstituiert, während Sicherheit – selbst in Form höchst erstrebenswerter kollektiver globaler Sicherheit – stets in monoperspektivischer Subjekt-ObjektRelation durchgesetzt wird. Aufschlussreich hierzu Sabine Jaberg, Frieden und Sicherheit. Von der Begriffs-
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Hierzu sei erst das auf das Fördern ihres eigenen Gemeinwohls ausgerichtete Handeln der EU gestreift (III.1) und dann ihr das gemeinwohlausgerichtete Vorgehen malischer Akteure unterstützendes Handeln umrissen (III.2). 1. Auf das Fördern des eigenen Gemeinwohls zielendes Handeln der EU Das Eingehen auf jenes Handeln der EU, das darauf ausgerichtet ist, deren eigenes Gemeinwohl zu erkennen, zu wollen und zu verwirklichen, lässt mit Blick auf Mali das Vorgehen gegen von dort für die EU ausgehende oder katalysierte Gefahren hervortreten: Ihnen in der geeigneten, erforderlichen und angemessenen Weise zu begegnen, ist für ein auf ihr eigenes Gemeinwohl ausgerichtetes Handeln der EU legitim und geboten. Allerdings sind auch die Auswirkungen solchen Handelns auf das malische Gemeinwohl zu berücksichtigen: Menschen und Strukturen vor Ort werden durch es zudem intensiver und existentieller betroffen als jene in der EU. Um auszuschließen, dass das Vorgehen der EU zu einer Verbesserung ihres Gemeinwohls zu dem Preis führt, dass das Gemeinwohl Malis geschädigt wird, ist die Perspektive der am malischen Gemeinwohl ausgerichteten Akteure an erste Stelle zu setzen (siehe III.2). Als Begleiterscheinung und Konsequenz wird dies auch in der EU-Perspektive zu Verringerungen der Gefahren insbesondere durch islamistische Terrorgruppen, Waffen-, Drogen- und Menschenschmuggler führen. Auf diese Weise wird das berechtigte Vorgehen gegen die genannten Gefahren für die EU auch in und um Mali herum legitim umgesetzt. 2. Gemeinwohlausgerichtetes Vorgehen malischer Akteure unterstützendes Handeln der EU Die Blickrichtung dieser Untersuchung ist auf die Sicherheitspolitik gerichtet, sodass dieser Fokus auch im Folgenden, bezüglich des unterstützenden EU-Handelns für gemeinwohlausgerichtetes Vorgehen malischer Akteure, bestehen bleibt.57 Es ist zunächst sinnvoll, auf Schwierigkeiten und Probleme hinsichtlich der verschiedenen malischen Beteiligten einzu-
logik zur epistemischen Haltung, in: Ines-Jaqueline Werkner/Martina Fischer (Hrsg.), Europäische Friedensordnungen und Sicherheitsarchitekturen, Wiesbaden 2019, 13–42, insb. 29–32. 57 Es sei allerdings, um einem engführenden Fehlverständnis vorzubeugen, nochmals ausdrücklich herausgestellt, dass gemeinwohlausgerichtetes Vorgehen in ‚sicherndem Schutz‘ und ‚kooperativer Aktivität‘ bzw. Rechtsetzung, Rechtsdurchsetzung und Daseinsvorsorge besteht. Es muss ‚sichernden Schutz‘ bzw. Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung – die gewissermaßen ‚minimalistische‘ Ausrichtung – zwar zwingend umfassen, erschöpft sich aber keinesfalls darin: Um Mali zu einem seinen Einwohnern die Möglichkeitsbedingungen für ein gutes Leben gewährenden Staat zu gestalten, kommt es gerade auf ‚kooperative Aktivität‘ bzw. Daseinsvorsorge – als gewissermaßen ‚maximalistische‘ Orientierung – an. Auf diese ‚maximalistische‘ Perspektive soll, der ‚minimalistischen‘ Blickrichtung des vorliegenden Beitrags entsprechend, hier nicht weiter eingegangen werden – sie ist jedoch unabdingbar in eigenen Untersuchungen zu erörtern.
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gehen und anschließend die angemessene Weise der diesbezüglichen Unterstützung durch die EU zu erörtern. Gemeinwohlausgerichtetes Vorgehen malischer Akteure Die Justiz, der mit Sicherheitsfragen befasste Teil der Exekutive und die malischen Sicherheitskräfte selbst sollen wesensgemäß das Gelten der Rechtsordnung durchsetzen. Um ihrer Aufgabe aber in glaubwürdiger und legitimer Weise nachkommen zu können, müssen sie sich zunächst ihrerseits daran halten. Mit Blick auf die Justiz ist es ein schwerwiegendes Problem, dass sie von der großen Bevölkerungsmehrheit als korrupt angesehen wird, wodurch hinsichtlich des staatlichen Rechts die für das Geltenkönnen einer jeden Rechtsordnung konstitutive Größe für Konfliktlösungen durch rechtsförmige Entscheidungen stark ausgehöhlt ist. Hinsichtlich des mit Sicherheitsfragen befassten Teils der Exekutive ist vor allem das Begünstigen der Partikular interessen der eigenen Ethnie, des eigenen Clans als direkt gemeinwohlschädigendes Handeln anzuführen. Darüber hinaus sei das fundamentale Erfordernis benannt, hinsichtlich der inneren Sicherheit die Verantwortung für das konkrete Vorgehen ziviler und militärischer Sicherheitskräfte zu bündeln.58 Was schließlich die Sicherheitsdienste selbst angeht, sind gegenüber der Zivilbevölkerung sowohl Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen als auch die verbreiteteren willkürlichen Übergriffe auf das Eigentum zu nennen. Es ist sinnvoll, einen positiven Hinweis auf weitere Akteure außerhalb der staatlichen Institutionen zu geben. Denn gerade in Hinblick auf das Zusammenleben regelnde Abkommen sowie auf gütliche Konfliktlösung können von Ethnien, Clans und lokalen Gemeinschaften wichtige Beiträge geleistet werden. Sie verfügen über hierarchische Strukturen eigener Art, die für viele Aspekte des Alltagslebens große Bedeutung entfalten, wirken aber innerhalb des größeren Rahmens des Gesamtstaates. Einerseits ist es mit Blick auf die angeführten Gruppen nicht erstrebenswert, dass sich einzelne von ihnen aus dem Gesamtstaat herauslösen und Eigenständigkeit erlangen.59 Andererseits ist es ebenso wenig erstrebenswert, ihnen freiheitlich-demokratische Strukturen aufzudrängen. Vielmehr können sie für Konstitution und Amtsausübung ihrer jeweiligen Autoritäten überlieferte Formen wahren: Denn unter der Voraussetzung, dass diese Anerkennung genießen und gemeinwohlausgerichtet agieren, können sie meist einen deutlich besseren Beitrag für das Treffen von das Zusammenleben regelnden Vereinbarungen sowie für gütliche Konfliktlösung leisten, als es die staatlichen, freiheitlich-demokratisch konstituierten Körperschaften auf dieser Ebene können.
58 Die hierfür nicht ansatzweise zu unterschätzende Hürde besteht darin, dass in der Konsequenz der für den abgestimmten Einsatz des Sicherheitsapparats primäre Handlungsmaßstab nicht Selbstprofilierung und Kompetenzbeweis einzelner Kräfte, sondern die zum Wohle der Einwohner effektive Rechtsdurchsetzung wäre. 59 Das wäre allein schon wegen der territorial oft starken Bevölkerungsvermischung kaum möglich.
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Ausgewogenes Vorgehen in gestufter Intensität seitens der EU Nur ein anhand einer ausgewogenen normativen Ethik geformtes Vorgehen kann der vorstehend aufgezeigten, komplexen Situation in angemessener Weise Rechnung tragen. Ein Beispiel kann dies konkretisieren. In der konkreten Situation in Mali ist es auf der skizzierten Grundlage weder richtig, Völkerrechtsverbrechen malischer Sicherheitskräfte zu relativieren oder für sie das geringste Verständnis zu bekunden, noch ist es richtig, die Zusammenarbeit mit den genannten Organisationen deshalb ganz einzustellen. Vielmehr ist es richtig, jedes Vorkommen von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit kompromisslos zu stigmatisieren und die entscheidenden Verantwortlichen zu sanktionieren. Damit muss im Handeln des gesamten Personals von EUTM und EUCAP ebenso kontinuierlich wie eindeutig die eigene Haltung zum Ausdruck kommen, gegen solche in geeigneter Art vorzugehen und auf diese Weise diejenigen, mit denen die Missionsangehörigen zusammenarbeiten, zu ermutigen, diese Haltung ebenfalls einzuüben und zu übernehmen. Schließlich ist sowohl der Umstand zu berücksichtigen, dass es sich bei der Formung der malischen Sicherheitskräfte um eine prozessartige Entwicklung handelt, in der sich nur durch voranschreitende Prägung allmählich Verbesserungen einstellen, als auch einer derartigen Entwicklung das kontrafaktische Szenario des Sich-Selbst-Überlassens oder Drittmächten-Überlassens vergleichend gegenüberzustellen. Des Weiteren bedarf es eines Vorgehens mit unterschiedlichen Intensitäten, das dem Prinzip der Subsidiarität entspricht. Ein solches Vorgehen – das den Gesamtkontext sämtlicher internationaler Missionen in Mali, insbesondere der MINUSMA, einbezieht – sei hier exemplarisch auf die derzeit besonders instabile Situation im Zentrum Malis bezogen: Es ist sinnvoll, es in drei Stufen zu formulieren. Alle drei Stufen umfassen die allgemeine Beratungs-, Ausbildungs- und Trainingskomponente der EU für die malischen Sicherheitskräfte – da hinsichtlich Schulung und Training seitens der EU-Kräfte vor allem eine zeitliche Extensivierung besonders effizienzbegünstigendes Potential hat, sollten sie schwerpunktmäßig in der Erstausbildung in den einschlägigen Einrichtungen ansetzen; spiegelbildlich ist an die nachhaltende Begleitung in Einsätzen mit Ausbildungsbezug zu denken. Damit wird in der ersten Stufe kombiniert, dass die Verantwortung für Gefahrenabwehr und Verfolgung von Rechtsbrüchen bei internationalen Verbänden liegt und sie diese Aufgabe auch leisten, wobei malische Sicherheitskräfte, die einen konstruktiven Beitrag zu leisten in der Lage sind, in stets gemeinsamen Operationen zunehmend einbezogen werden. Keinesfalls sollte hingegen ein Modell gewählt werden, in dem Partikularmilizen als Sicherheitskräfte fungieren und Aufgaben komplementär wahrnehmen.60 In der zweiten Stufe 60 Während in Hinblick auf das Zusammenleben regelnde Abkommen sowie gütliche Konfliktlösung Ethnien, Clans und lokalen Gemeinschaften eine wichtige Rolle zukommen sollte, gilt dies gerade nicht für den eng umgrenzten Bereich der Durchsetzung staatlichen Rechts, also für Rechtsprechung und staatliches Gewaltmonopol. Kurzfristig-positive Beiträge zur Befriedung stehen hier ungleich schwerwiegenderen mittel- und
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geht die Verantwortung für Gefahrenabwehr und Verfolgung von Rechtsbrüchen auf die malischen Sicherheitskräfte über, wobei internationale Verbände in stets gemeinsamen Operationen das erforderliche Mitwirken in abnehmender Weise erbringen. Der Ausschluss von Partikularmilizen gilt hier in entsprechender Weise. Hinsichtlich der Spezifika der ersten und zweiten Stufe wäre erforderlich, dass die MISUSMA, deren Mandatsgebiet sich ja bereits auf das Zentrum Malis erstreckt, ihr exekutives Wirken durch zusätzliche Kräfte mutatis mutandis auch dort erbringt: Denn dass eine grundständige Befriedung dieser Region durch die malischen Sicherheitskräfte möglich wäre, ist in keiner Weise erkennbar. In der dritten Stufe tritt neben die weiterhin bestehen bleibende allgemeine Beratungs-, Ausbildungs- und Trainingskomponente, dass die Aufgaben der Gefahrenabwehr und Verfolgung von Rechtsbrüchen allein von Polizei, Nationalgarde, Gendarmerie und, soweit erforderlich, von der FAMa erbracht werden und internationale Kräfte nur noch innerhalb der Strukturen der malischen Sicherheitskräfte operative Beratung leisten. Das vorstehend skizzierte ausgewogene Vorgehen in gestufter Intensität sei abschließend knapp zusammengefasst. Es bedeutet zum einen, elementare Menschenrechte unverfügbar sein zu lassen. Dies erfolgt gemäß Subsidiaritätsprinzip in der Art, dass deren Schutz und Gewährung soweit erforderlich durch internationale Missionen direkt zu leisten sind, diese sich aber kontinuierlich in dem Maße immer weiter daraus zurückziehen und dementsprechend die malischen Sicherheitskräfte ihre originäre Zuständigkeit immer mehr wahrnehmen, wie dies möglich ist. Zum anderen bedeutet es, dass alles Darüberhinausgehende von den Bewohnern des Landes und ihren Autoritäten selbst erschlossen und in einer in ihrer Perspektive richtigen Ausprägung gestaltet werden muss; in diesem Prozess ist ihnen bloß Beratung und Hilfe anzubieten. Beides soll in der Weise erfolgen, dass sowohl der Straßengraben des Utopismus in Form eines anwegnegierenden Idealverwirklichens als auch jener des Zynismus in Form eines orientierungslosen Übelmanagements gemieden wird. Vielmehr ist ein anstrengender und langer, aber realistisch-zielführender Weg zu nehmen: der des Wachstumsnotwendigkeit annehmenden Umgangs mit dem Nicht-Idealen im orientierenden Licht des Idealen.
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langfristig-negativen Effekten staatlichen Kontrollverlusts gegenüber: Denn die klaren Primärbindungen von Partikularmilizen entziehen dem Staat gerade die für jede Rechtsdurchsetzung unabdingbare Durchgriffsfähigkeit.
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Die EU und ihre Technologieverantwortung: Cybersicherheit I. Einleitung Eine Verantwortung der EU bei der Cybersicherheit würde vor allem dem Schutz der kleinen Staaten dienen, die allein zu schwach sind, um sich gegen Cyberangriffe der Großen zu schützen. Aber auch Deutschland hat gegen russische und chinesische Angriffe noch wenig auszurichten. Ferner gilt natürlich, dass Cyberangriffe nicht an den alten Staatengrenzen haltmachen. Eine Vernetzung oder gar ein zukünftiges Zusammenwachsen nationaler Cybersicherheitsbehörden wäre also durchaus wünschenswert. Wenn sich Europa als Cybersicherheitsmacht konstituieren könnte, wenn man die Ressourcen bündeln und dadurch eine strategische Wirkung erzielen könnte, ließe sich damit idealerweise die Europäische Union als vierte Cybergroßmacht neben den USA, Russland, China aufbauen und könnte diesen Großmachtstatus dann auch friedenspolitisch nutzen. Die Frage ist, wie sich ein europäisches Verantwortungsbewusstsein für die Cybersicherheit in konkrete Politik und überhaupt in konkrete Schritte hin zu einer gemeinsamen Cyberabwehr umsetzen ließe. Ich bin da eher skeptisch und möchte vor zu großen Erwartungen an Europa warnen. Zugleich möchte ich aufzeigen, was Europa tatsächlich sinnvoll tun kann. Diese Frage hat viele politische, technologische und organisatorische Aspekte. Es handelt sich aber auch um eine Frage der Ethik, also des ethischen Ansatzes. Cyberethik steht dabei grundsätzlich in dem Konflikt, ob sie normative Fragestellungen eher von oben herab stellt oder aus der konkreten Praxis heraus. Der vorliegende Beitrag vertritt hier eine klare Position: Wenn es um Cybersicherheit geht, sollten wir lieber realistisch bleiben und zunächst von der EU ausgehen, die wir haben. Europa hat im Bereich Cybersicherheit noch keine klare Rolle. Die EU ist hier noch gar kein ernst zu nehmender Player und es gibt kaum etwas, das nicht bereits von anderen Playern (Staaten, NATO, Bündnisse wie Five Eyes) besetzt ist. Europa sollte sich auf das besinnen, was wirklich sinnvoll und zu leisten ist. Das, was Europa sinnvoll leisten kann, ist zwar relativ unspektakulär, aber es hat durchaus seine Berechtigung. Eine breit verstandene gesamteuropäische Verantwortung für die Cybersicherheit, etwa im Sinne einer einheitlichen europäischen Cyberabwehr, würde dagegen zu einer Cyberabwehrbürokratie sondergleichen führen. Eine solche Cyberbürokratie ist jedoch mit einer funktionierenden Cyberabwehr unvereinbar. Nun sind sich die Kommentatoren relativ einig, dass es noch keine kohärente europäische Cybersicherheitsstrategie gibt. Die überwiegende Mehrheit geht davon aus, dass eine starke Rolle grundsätzlich wünschenswert wäre. Es kommt dabei mitunter gerade bei ambitionier-
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ten Analysen zu gegenläufigen Empfehlungen, etwa: Die EU solle nicht so zurückhaltend sein, auch wenn ihre Strategie unklar sei.1 Anders formuliert, die Strategie sei zwar inkohärent, solle dafür aber umso konsequenter verfolgt werden. Erlauben Sie mir hier die Bemerkung: Keinen Plan zu haben, diesen aber unbedingt umsetzen zu wollen, ist keine gute Strategie. Was für andere Lebensbereiche unmittelbar einsichtig ist, gilt auch und gerade für die Cyberabwehr. Nun ist es nicht ganz unmöglich, eine Strategie auszumachen. Sie besteht grundsätzlich aus zwei Elementen: Resilienz und Cyberdiplomatie. Auf die prinzipielle Ausrichtung und die strategische Unbestimmtheit dieses Ansatzes soll weiter unten eingegangen werden. Zunächst sollen einige Worte zur Begriffsklärung und zur strategischen Cybersicherheitslage dargelegt werden, bevor es im zweiten Teil darum geht, was die EU eigentlich macht und was sie machen sollte.
II. ‚Cyber‘ Zunächst ein paar Worte dazu, wovon wir überhaupt sprechen, wenn wir dieses ominöse Wort ‚Cyber‘ benutzen. Der Gebrauch ist, um es milde zu sagen, sehr vielfältig. Das hängt auch mit dem Wort selbst zusammen. Bis vor kurzem wurde ‚Cyber‘ nur in Konjunktionen gebraucht, also Cyberkrieg, Cyberabwehr, Cyberspace etc. Seit neustem wird ‚Cyber‘ auch alleinstehend verwendet für alles, was irgendwie mit dem Internet zu tun hat. Demnach ist auch die Rede von der ‚Cyber-Verantwortung‘ höchst vieldeutig. In der kollektiven Imagination ist ‚Cyberspace‘ noch stark mit dem Weltraum verknüpft, und die Vorstellung vom Cyberkrieg hat dabei ganz seltsame Überschneidungen mit dem Krieg der Sterne. Diese Assoziationen sind immer noch am Werk, wenn wir uns so etwas wie einen zukünftigen großen, zerstörerischen Cyberweltkrieg vorstellen (den es so wohl nie geben wird). Gleichzeitig – und in völligem Missverhältnis dazu – wird das Wort ‚Cyber‘ heute oft synonym mit ‚dem Internet‘ und den damit verbundenen Gefahren verwendet. Diese sogenannten Gefahren aus dem Netz umfassen etwa auch das Online-Mobbing (‚Cybermobbing‘) unter Schülern und die Gefahren durch übermäßigen Konsum gewisser Webseiten. Im Zusammenhang mit der Europäischen Union denken die meisten Menschen zunächst an Themen wie die Regulierung der großen Tech-Unternehmen Facebook, Google, Apple, Amazon und Microsoft (die sogenannten big five), an Algorithmen und die Versuche, ihre unsichtbare Macht zu brechen oder zumindest ein wenig transparenter zu machen, an den Datenschutz, an das Urheberrecht (etwa im Zusammenhang mit Artikel 13), an das Ausspi1 Annegret Bendiek, Die EU als Friedensmacht in der internationalen Cyberdiplomatie, in: SWP-Aktuell 22 (März 2018), 1–8; Annegret Bendiek/Raphael Bossong/Matthias Schulze, Die erneuerte Strategie der EU zur Cybersicherheit, in: SWP-Aktuell 72 (Oktober 2017), 1–8.
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onieren unserer privaten Kommunikation durch westliche und andere Geheimdienste und schließlich an Fake News, etwa in Zusammenhang mit der befürchteten Beeinflussung von Wahlen durch sogenannte Facebook-Trolls. All dies mögen wichtige und teilweise ernst zu nehmende Dinge sein, aber wir müssen die Thematik hier enger fassen. Im engeren Sinn geht es bei Cyberangriffen um computerbasierte Angriffe auf Computer und Netzwerke, also Angriffe, die zum Ziel haben, in ein Netzwerk einzudringen (etwa um an Informationen zu gelangen) oder es lahmzulegen, zu beschädigen oder zu zerstören. Es gibt durchaus noch andere Methoden, bei denen Sie sich gar nicht erst in das Netzwerk einhacken müssen. Wenn Sie es schaffen, von vornherein die Hardware mit den entsprechenden Werkzeugen auszustatten, kommen Sie auch ohne zu hacken an alle nötigen Informationen. Wenn Sie an die Metadaten gelangen und sie tatsächlich lesen können, so können Sie sich vieles zusammensetzen. Aber das sind gewissermaßen Variationen und Erweiterungen des Spektrums von Möglichkeiten. Der Angriff auf Computer oder Netzwerke ist die Standarddefinition. Dabei gibt es wenige große Angriffe, bei denen wir vielleicht mit Recht von Cyberkrieg sprechen; aber es gibt auch die alltägliche Cyberkriminalität und Cyberspionage mit mehreren tausenden Angriffen jeden Tag. Die Übergänge sind dabei oft fließend. So können Sie auch einen scheinbar harmlosen kriminellen Angriff als Tarnung und als Träger für einen großen cyberkriegsähnlichen Angriff verwenden, wie dies im Fall von NotPetya (2017) geschah. Auf der niedrigsten Ebene wird etwa Ihr Notebook für ein Botnet gekapert, ohne dass Sie es merken. Sie klicken auf einen Link und haben auf einmal Schadsoftware auf Ihrem Rechner. Vielleicht handelt es sich um sogenannte Ransomware, also um eine Lösegelderpressung: Sie müssen 500 Dollar in Bitcoin zahlen, damit Ihr Rechner wieder freigegeben wird. Das findet auch auf staatlicher Ebene statt: Vor allem Nordkorea benutzt RansomwareAngriffe, um an Devisen zu kommen. Bei den mutmaßlichen russischen Angriffen auf das deutsche Regierungsnetzwerk, die im Frühjahr 2018 bekannt wurden, handelt es sich um Cyberspionage. Die Übergänge zwischen staatlichen Akteuren und Cyberkriminellen und anderen Hackergruppen sind dabei oft fließend. Dies gilt insbesondere für Russland, nicht so sehr für China oder Nordkorea, deren Cyberangriffe stark zentralistisch-militärisch organisiert sind. Prinzipiell jedoch sind zumindest größere Cyberangriffe immer mehr eine Sache von Staaten. Hackergruppen machen fast durchweg nur noch die Drecksarbeit oder übernehmen solche Angriffe, die für Staaten aufgrund der verbesserten Attributionsmöglichkeiten politisch zu brisant geworden sind. (Es ist ein Gemeinplatz in der Literatur zu Cyberangriffen, dass Sie nie ganz sicher sein können, wer Sie eigentlich angreift. Das sogenannte Attributionsproblem ist angesichts erheblicher Fortschritte bei der Cyberforensik kaum noch existent; man findet meist genügend Hinweise in den Codes und kann sie immer schneller und zuverlässiger auslesen.) Cyberterrorismus ist geradezu eine Lachnummer geworden, und ISIS oder al-Qaida haben nie ernsthaft Schaden anrichten können. Sinnbildlich dafür steht das Schicksal von Junaid Hussain, dem 18-jährigen britischen Hacker und wichtigsten
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ISIS-Cyberterroristen, der vom syrischen Raqqa aus Nachwuchs rekrutierte. Er ließ sich dazu verleiten, ein verseuchtes Update der Messaging-App Surespot zu installieren, sodass er in der Folge lückenlos lokalisiert werden konnte. Am 24. August 2015 wurde er bei einem gezielten Drohnenangriff mit einem einzelnen Schuss getötet.2 Cyberterroristen sind nicht in der Lage, ihr operationales Wissen in eine beständige Organisationsstruktur einzubringen: Mit jedem verhafteten oder getöteten Terroristen geht das mühsam aufgebaute Wissen wieder verloren. Das Szenario des Cyberterrorismus, in dem Terroristen von ihrem PC aus sogenannte kritische Infrastrukturen angreifen, ist Fiktion geblieben. Entscheidend ist dabei, dass solche großflächigen Angriffe auf kritische Infrastrukturen für staatliche Akteure keinerlei strategischen Nutzen besitzen, während nichtstaatliche Akteure, die sich auch ohne strategischen Grund dazu verleitet sehen könnten, dazu nicht in der Lage sind, weil die operationalen Anforderungen hierfür zu hoch geworden sind.3 Zwischen den großen Cybermächten – den USA, Russland und China – hat sich dagegen bereits ein derart hohes Maß an gegenseitiger strategischer Abschreckung entwickelt, dass große Cyberattacken schon aus Eigeninteresse extrem unwahrscheinlich geworden sind. Die Situation ist in gewisser Weise vergleichbar mit der atomaren Bedrohung während des Kalten Kriegs, als es trotz aller technologischen Möglichkeiten kaum ein realistisches Szenario der Eskalation gab. Die Kehrseite dieses Befunds ist, dass es unter solchen Bedingungen kaum ein realistisches Szenario gibt, in dem die großen geopolitischen Konflikte des 21. Jahrhunderts aufgelöst werden können.
III. Strategische Sicherheitslage Ein weltweiter, katastrophaler Cyberkrieg hat trotz aller technischen Möglichkeiten bislang nicht stattgefunden und wird vermutlich in absehbarer Zeit nicht stattfinden – doch zugleich befinden wir uns in gewisser Weise mitten im Cyberkrieg, denn Angriffe im Internet sind geradezu ein fester Bestandteil des Alltags geworden. Wir befinden uns also in einer fragilen strategischen Situation, in der es trotz der Allgegenwart von Cyberangriffen keine realistische Aussicht auf große Cyberkriege gibt. Zugleich gibt es keine realistische Aussicht auf einen umfassenden Cyberfrieden. Alle Forderungen nach Cyberabrüstung sind bloße Reflexe aus einer anderen Zeit (mit anderen Waffen). Das nahezu gänzliche Ausbleiben großer Cyberkriege bei gleichzeitiger Allgegenwart von Cyberkriminalität und Cyberspionage be2 John P. Carlin, Dawn of the Code War. America’s Battle against Russia, China, and the Rising Global Cyber Threat, New York 2018; James Cartledge, Isis terrorist Junaid Husain killed in drone attack after boffins ‘crack group’s code’, Birmingham Mail, 16.09.2015, https://www.birminghammail.co.uk/news/midlands-news/isisterrorist-junaid-hussain-killed-10069425 (abgerufen am 13.12. 2019). 3 James Andrew Lewis, Rethinking Cybersecurity. Strategy, Mass Effect, and States, CSIS Technology Policy Program, 9.1.2018, https://www.csis.org/analysis/rethinking-cybersecurity (abgerufen am 13.12. 2019).
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schreibt einen neuen Normalzustand im Grenzbereich zwischen Krieg und Frieden. Dieser Zwischenzustand lässt sich am besten beschreiben mit einem Wort von Raymond Aron aus der Zeit des Kalten Kriegs: Krieg unwahrscheinlich, Frieden unmöglich.4 In hohem Maß geht es also darum, den alltäglichen Cyberkrieg zu managen und dafür zu sorgen, dass es keinen großen Cyberkrieg gibt – dass also die wenigen wirklich großen Angriffe in ihrer Wirkung und ihrem Ausmaß begrenzt bleiben. Lassen Sie mich drei Beispiele für solche größeren Angriffe und ihre politischen Folgen geben. Erstens: Der mutmaßlich russische Angriff auf Estland (2007). Es handelte sich um eine sogenannte DDoS-Attacke (Distributed Denial of Service), bei der die Server und Netzwerke derart mit Anfragen überflutet werden, dass sie zum Ausfall der Systeme führen. Solche Angriffe dringen noch nicht einmal in das Netzwerk ein, aber sie legen das zivile Leben lahm – Estland, ein hoch digitalisiertes Land, musste sich vorübergehend vom Internet abkoppeln. Estland war der Auffassung, dass der Angriff einen NATO-Bündnisfall auslöst; doch die NATO vertrat den Standpunkt, dass es sich nicht um einen Krieg, sondern lediglich um ein paar Hacker und Kriminelle handelte. Die NATO-Argumentation ist durchaus fragwürdig, doch es ging vor allem darum, einen Krieg gegen Russland zu vermeiden. Der Fall hat im Nachgang viel zur Normierung dieser Art von Angriffen beigetragen: Es hat sich seitdem die Auffassung durchgesetzt, dass eine bloße DDoS-Attacke nicht als Akt des Krieges zu werten ist. Zweitens: Stuxnet bzw. Operation Olympic Games, der mutmaßlich amerikanisch-israelische Angriff auf die iranische Atomanlage in Natanz (2010). Hier wurde der Angriff so programmiert, dass er auf die genaue Abfolge von 984 miteinander verbundenen SiemensZentrifugen ausgerichtet war und nur dort Schaden anrichten konnte. Der Angriff war letztlich nur halbwegs erfolgreich und hat das illegale iranische Atomprogramm nicht so weit zurückwerfen können wie erhofft. Zugleich handelt es sich um das Musterbeispiel eines Cyberangriffs, der einen ‚richtigen‘ Krieg vermeidet, der keinerlei Opfer und keine Kollateralschäden produziert und der in hohem Maß die Kriterien eines gerechten Krieges erfüllt.5 Drittens: NotPetya, ein mutmaßlich russischer Angriff auf die Ukraine (getarnt als Ransomware-Angriff), bei dem 2017 über eine Steuersoftware unzählige Rechner infiziert wurden, woraufhin das Dateiensystem der Festplatte verschlüsselt und somit blockiert wurde. NotPetya gilt als der schlimmste Cyberangriff der Geschichte, auch weil er eskalierte und sich (vermutlich ungewollt) auf die Systeme internationaler Großkonzerne ausbreitete. So war die dänische Reederei Maersk 10 Tage lang lahmgelegt, mit großen Auswirkungen auf die weltweite Logistik; dabei hatte sie noch Glück, dass es so schnell ging.6 Der Fall ist auch deshalb so ungeheuer bedeutsam, weil die versicherungsrechtliche Abwicklung die ganze 4 Raymond Aron, Die letzten Jahre des Jahrhunderts, Stuttgart 1986, 184. 5 Zum letzteren Punkt vgl. George Lucas, Ethics and Cyber Warfare. The Quest for Responsible Security in the Age of Digital Warfare, New York 2017. 6 Andy Greenberg, The Untold Story of NotPetya, the Most Devastating Cyberattack in History, Wired,
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Diskussion verschiebt. Es gibt eine Klage des Mondelez-Konzerns gegen die Zurich-Versicherungsgruppe, bei der es zentral um die Frage geht, ob es sich bei NotPetya um einen staatlichen russischen Angriff und damit einen kriegsähnlichen Akt handelt. Denn Zurich hat aufgrund der Kriegsausschlussklausel die Zahlung verweigert. Die Frage wird demnächst von einem amerikanischen Gericht zu entscheiden sein. Der Fall ist für die Herausbildung von Normen für den Cyberkrieg von größter Tragweite und wird sich zweifellos auch auf die Normierung zwischenstaatlicher Cyberangriffe auswirken.
IV. Die Cyberpolitik der EU Es gibt noch keine klar definierte Rolle Europas im Bereich der Cybersicherheit. Bisweilen scheint es, als würde die EU ihre Ambition, hier zu einem bedeutenden Player zu werden, auf alle möglichen Bereiche und Initiativen gleichzeitig ausdehnen.7 Eine gemeinsame europäische Cyberabwehr ist bislang nicht in Sicht. Aber unter welchen Umständen wäre sie überhaupt möglich und wünschenswert? Die Ausgangslage ist: Die Hauptverantwortlichkeit für Cybersicherheit liegt bei den Mitgliedstaaten. Diese Staaten sind teilweise bereits in andere Bündnisse eingebunden, insbesondere in die NATO, sodass es weitgehend zu einer Verdoppelung von Strukturen käme. Zwei Gründe sprechen vor allem gegen die Annahme, dass die neue Struktur zu einer kohärenten Cyberabwehr führen würde. Sie haben beide mit dem allgemeinen Konflikt zwischen dem Wunsch nach Vertiefung der Union und dem Wunsch nach mehr Eigenständigkeit der Mitgliedstaaten gegenüber Brüssel zu tun. Erstens: Es mangelt an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Dadurch werden kritische Informationen zurückgehalten, da sie die wirtschaftlichen Interessen der betroffenen Unternehmen berühren könnten. Eine gemeinsame Cyberabwehr aufzubauen setzt voraus, kritische Informationen auszutauschen, etwa zu Industrieinfrastrukturen, aber auch zu bereits erfolgten Angriffen; diese Informationen können jedoch von anderen EU-Staaten missbraucht werden. Eine gemeinsame Cyberabwehr eröffnet also viele Möglichkeiten zur Cyberspionage, d. h. Industriespionage, möglicherweise auch zur Cyberkriminalität. Zweitens: Es gibt verschiedene Interessen und unterschiedliche Ansätze bei der Cybersicherheit. Einige würden eine gemeinsame Cyberabwehr vornehmlich zur Spionage gegen die eigenen Bürger einsetzen, andere vor allem zum Schutz gegen russische Cyberangriffe, andere, um sich von den USA unabhängiger zu machen. Manche Staaten haben noch nicht einmal eine Cybersicherheitsstrategie. 22.08.2018, https://www.wired.com/story/notpetya-cyberattack-ukraine-russia-code-crashed-the-world/ (abgerufen am 13.12.2019). 7 Thomas Gruber, Die EU im Cyberspace. Zwischen Aufrüstungszwang und Wirtschaftsförderung, IMI-Analyse 2017/22, https://www.imi-online.de/2017/05/08/die-eu-im-cyberspace/ (abgerufen am 13.12.2019).
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Die Lage könnte sich ändern infolge eines großen, verheerenden Cyberangriffs, der den Status eines game changer hat. Hier würde der Bedarf nach neuen Lösungen womöglich einen Innovationsschub auslösen. Das Szenario ist in gewisser Weise vergleichbar mit dem privaten Bereich: Die meisten von uns werden auch erst dann ihren Rechner angemessen sichern, wenn etwas passiert ist. Auf der europäischen Ebene würden dabei durch die gemeinsame Bedrohung zugleich die sachlichen Differenzen und die Befindlichkeiten außer Kraft gesetzt. Bislang muss Europa ohne ein solches einigendes Cyberereignis auskommen. Unter diesen Umständen ist es schwer festzulegen, ob eine europäische Cyberabwehr rein defensiv angelegt wäre, wie dies insbesondere Deutschland betreibt, oder ob die Strategie auch offensiv ausgerichtet sein muss. Hier ist gerade die deutsche Diskussion, wie sie in Zusammenhang mit dem Cyberkommando der Bundeswehr über sogenannte Hackbacks geführt wird – bei denen es darum geht, den Server eines Angreifers abzuschalten –, merkwürdig verengt. Wichtiger noch als das rein reaktives Zurück-Hacken ist, dass die Waffen schon in Friedenszeiten angelegt werden müssen: Man muss bereits jetzt in die Systeme der anderen eindringen, um Bescheid zu wissen, was sie vorhaben, und um überhaupt ein strategisches Drohpotential aufbauen zu können, das sie von Angriffen abhält. Der strategische Aufbau von Cyberangriffskapazitäten kann auch die defensive Glaubwürdigkeit erhöhen. Die klassische Unterscheidung zwischen Abwehr und Angriff funktioniert im Cyberkrieg nicht mehr; ein rein defensives Cybersicherheitsmandat ist unter diesen Umständen ein schwerwiegender Nachteil. Bei der Neubestimmung des Verhältnisses von Abwehr und Angriff geht es auch um die sicherheitspolitische Ausrichtung der EU. Sie sollte eng gebunden sein an die geopolitische Verortung zwischen transatlantischem (pro-westlichen) Selbstverständnis, Nähe zu Russland und europäischem Sonderweg.
V. Institutionenkonflikte Die wichtigste der bestehenden EU-Institutionen zur Cybersicherheit ist die ENISA (European Union Network and Information Security Agency; Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit) mit Sitz in Heraklion, die mit einem temporären Status begann und kürzlich verstetigt wurde. Nach ihrer Selbstdarstellung zu urteilen, verbindet die ENISA ein relativ enges Mandat mit einer weiten Auslegung.8 Ihr Mandat ist, zu beraten, Bewusstsein für Cybergefahren zu schaffen und – so die Kernaufgabe – eine alljährliche gesamteuropäische Übung abzuhalten. Idealerweise würde sich in dieser gemeinsamen Übung so etwas wie eine europäische Identität bei der Cyberabwehr konstituieren.
8 Homepage der European Union Agency for Cybersecurity, https://www.enisa.europa.eu/ (abgerufen am 13.12.2019).
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Ganz nebenbei findet sich in den Dokumenten auch die Forderung nach einer europäischen Cyberabwehr, mithin gar einer Cyberarmee. In Wirklichkeit ist die EU nicht nur weit davon entfernt, es ist auch nicht klar, ob das überhaupt eine gute Idee wäre. Denn eine gesamteuropäische Cyberverantwortung würde zu einer Cybersicherheitsbürokratie sondergleichen führen. Es müssten Beauftragte ernannt werden, um die verschiedenen beteiligten Stellen miteinander zu koordinieren; dann müssen Beauftragte ernannt werden, um die verschiedenen Beauftragten miteinander zu koordinieren usw. Die Herausforderung ist bereits auf der nationalen Ebene hinreichend bekannt. So spielen in Deutschland die Bundeswehr, das BSI, der BND, die Ministerien und die LKAs mit ihren Cyber Competence Centers fortwährend die Zuständigkeiten, Prozesse und Informationswege durch. Das Problem wird in der mitunter kafkaesken Brüsseler EU-Bürokratie noch einmal potenziert. Die ENISA befindet sich bereits in einem möglichen Konflikt mit einer anderen EU-Behörde, dem European Cybercrime Center (Europäisches Zentrum zur Bekämpfung von Cyberkriminalität; EC3), das zu Europol gehört. Das EC3 verfolgt seiner Selbstbeschreibung nach einen dreigliedrigen Ansatz aus Cyberforensik, Strategie (strategische Analyse, Schaffung von öffentlichem Bewusstsein, Training) und Operationen (Cyber Intelligence). Es soll keine politischen und Spionagefälle übernehmen und ist im Bereich der Cyberkriminalität vorwiegend im Kampf gegen Kinderpornographie und Drogenhandel im Netz aktiv – eine Rolle, die auf nationaler Ebene etwa durch die Oberstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vertreten ist. Spannend werden hier die Übergänge und Grenzfälle zwischen den Bereichen, Behörden und Abteilungen.9 Einige weitere Einrichtungen (wobei es sich teilweise um Unterabteilungen handelt) sind das EU INTCEN (EU Intelligence Analysis Centre), das sich der nachrichtendienstlichen Analyse widmet; EUMS INT (Aufklärungsabteilung des Militärstabs); das Hybrid CoE (The European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats); das CERT-EU (Computer Emergency Response Team for the EU Institutions, Bodies and Agencies); das ERCC (Emergency Response Coordination Centre); oder der EEAS (European External Action Service, Europäischer Auswärtiger Dienst), der unter anderem Cyberentwicklungshilfe leistet, z. B. in einem Projekt mit Mauritius, sowie im EU-US-Cyber-Dialog aktiv ist. Die Aufzählung ist nicht nur unsystematisch, sondern sicherlich auch nicht vollständig. Es findet sich keine Übersicht, geschweige denn ein Organigramm der verschiedenen Stellen. Das alles ist natürlich Teil des Problems: Es ist nicht leicht festzustellen, wer eigentlich was macht. Es wäre nicht ratsam, diese Behörden und Abteilungen wieder unter einer Gesamtbehörde zusammenzufassen, denn das würde den Prozess der Bürokratisierung nur beschleunigen und verfestigen. Man muss hier keine Gemeinplätze über die EU-Bürokratie bedienen, um zu dem Schluss zu gelangen, dass die Bürokratisierung für den Aufbau einer funktio9 Der Kampf gegen Kinderpornographie im Bereich der Bekämpfung von Internetkriminalität ist geradezu Avantgarde, gerade auch hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen Behörden verschiedener Staaten. Das EC3 fungiert jetzt auch als europäische Zentralstelle und muss wiederum mit Nicht-EU-Staaten koordinieren.
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nierenden Cyberabwehr nicht förderlich ist. Organisation und Bürokratie sind in gewisser Weise nötig, um Zuständigkeiten, Routinen und Befehlsketten zu etablieren. Aber die spezielle Aufgabe erfordert, wenn es ernst wird, genau das Gegenteil: kleine, schlagkräftige Einheiten, die unmittelbar reagieren können auf das, was der jeweilige Angreifer tut.10 Im Idealfall wäre eine Gesamtbehörde architektonisch gegliedert und würde jeder einzelnen Organisation einen klaren Platz in der Gesamtarchitektur zuweisen. Ob bei dem Mitund Nebeneinander der architektonische Ansatz tatsächlich zum Tragen kommen könnte – ob also die neue Struktur in irgendeiner Weise systematisch wäre und nicht nur die bestehenden Organisationen verdoppeln würde –, erscheint mithin fraglich. Darauf verweist auch der Umstand, mit welch kleinen Dimensionen wir es etwa bei der ENISA – dem naheliegenden Kandidaten für den hypothetischen Status einer Gesamtbehörde – zu tun haben. Die ENISA plante 2017 die schrittweise Erhöhung des Personals von 84 auf 125 Mitarbeiter und die ebenso schrittweise erfolgende Budgeterhöhung von 11 auf 23 Millionen Euro.11 Damit kann sie kaum mehr als koordinativ und/oder dekorativ tätig sein. Es erscheint fraglich, ob sich damit auch nur eine große gemeinsame Übung finanzieren lässt, außer wenn die Beteiligten alles selbst zahlen. Solche Cyberübungen werden indes erst durch die Vielzahl an beteiligten Institutionen notwendig; denn so entsteht erst der Bedarf nach der Festlegung von komplexen Abläufen, Zuständigkeiten und Meldewegen. Bei den Ablaufprotokollen geht es weitaus mehr darum, wer in welchem Fall zu informieren ist, als darum, wer tatsächlich was durchführt. Die Bürokratisierung von Cyberabwehr und die damit verbundene Aufblähung von Apparaten lässt sich ferner nicht ohne Zusammenhang mit dem Problem sehen, überhaupt qualifiziertes Personal zu finden. Angesichts der geradezu gigantischen Krise des IT-Jobmarkts lautet die Devise: Wenn man überhaupt gute Leute findet, muss man sie von anderen Institutionen abziehen und dabei mit der freien Wirtschaft konkurrieren. Dabei klagen schon jetzt die betroffenen Institutionen über das hohe Maß an Inkompetenz des Personals.
VI. Zertifizierung Ich hatte eingangs von der zweigliedrigen EU-Cybersicherheitsstrategie gesprochen, also von Resilienz und Cyberdiplomatie. Wie konkretisiert sich diese Strategie? Das wichtigste Vorhaben der EU zur Erhöhung der Resilienz ist die Zertifizierung von Geräten. Es geht hier 10 Der ‚Goldstandard‘ in dieser Hinsicht ist Israel mit dem legendären Unit 8200. – Ich habe diese organisatorischen Fragen ausführlicher in einem Artikel beschrieben: Philipp von Wussow, Arbeit im Cyberkrieg, in: Wolfgang Schröder/Ursula Bitzegeio (Hrsg.), Digitale Industrie. Algorithmische Arbeit. Kulturelle Transformation, im Erscheinen 2020. 11 State of the Union 2017. Cybersecurity EUAgency and Certification Framework, Straßburg 2017, https://ec.europa. eu/commission/presscorner/api/files/attachment/854580/Cybersecurity-EU%20agency%20and%20certifica tion%20framework.en.pdf.pdf (abgerufen am 15.10.2019).
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um den Aufbau von Industriestandards unter dem Sicherheitsaspekt, vor allem um die Vereinheitlichung von Zertifizierungsstandards für Informationstechnik – also um eine Art EUGütesiegel. Ein solches Zertifizierungsregime soll zwar nicht verpflichtend, aber dennoch EU-weit anerkannt sein, und es soll dabei ‚Anreize‘ geben. Zertifiziert werden sollen etwa Geräte, die dem Internet der Dinge zugehören. Dabei handelt es sich um Netzwerke, in denen wir von unseren Smartphones aus die Temperatur des Kühlschranks regulieren können. Solche Geräte sind – gerade wenn es sich um Massenware handelt – ganz besonders anfällig für Hacks und dies kann uns schnell in große rechtliche Schwierigkeiten einschließlich hoher Schadenersatzforderungen bringen. Verwandte Fälle, die bereits hohe öffentliche Aufmerksamkeit erlangt haben, sind private Drohnen oder selbstfahrende Autos. Was passiert, wenn Ihre Drohne gehackt und für einen Terrorangriff missbraucht wird. Haften Sie dafür? Können Sie sagen, Sie seien gehackt worden und hätten deshalb keine Schuld? Die Rechtsprechung ist hier noch im Entstehen begriffen, aber das Argument wird höchstwahrscheinlich nicht ausreichen. In jedem Fall ist es durchaus begrüßenswert, durch Zertifizierung die Sicherheitsstandards der Geräte zu erhöhen. Im Bereich großer Infrastrukturen ist dies noch viel schwerwiegender, weil es hier auch eine sicherheitspolitische und strategische Dimension gibt. Dies gilt bereits für manche Fertigungsanlagen, aber noch mehr für öffentliche Infrastrukturen. Denken Sie an die gegenwärtige Diskussion um den Aufbau eines 5G-Netzes und die Zweifel, ob Huawei dazu der richtige Partner ist. Huawei, so die Befürchtung, könnte nicht nur Informationen an die chinesische Regierung weitergeben, sondern gleich einen „kill switch“ einbauen, mit dem die Technologie einfach aus der Ferne abgeschaltet werden könnte. Wie auch immer man die Wahrscheinlichkeit dieser Szenarios einschätzen mag, es gibt hier offensichtlich eine reale sicherheitspolitische und strategische Gefahr. Denn unter solchen Umständen muss man sich nicht einmal in ein Netzwerk einhacken, sondern kann die gesamte Kommunikation routinemäßig mitverfolgen oder bei Bedarf abschalten – abgesehen von vielen möglichen Arten der Manipulation. Die deutsche Bundesregierung hat sich hier in der Polemik gegen Donald Trump verfangen und beklagt, er würde ihnen keine stichhaltigen Beweise für ein solches Vorgehen Huaweis vorlegen. Doch es ist fraglich, ob die strategische Gefahr – wie sie mit der Möglichkeit, die 5G-Infrastruktur lahmzulegen, prinzipiell gegeben ist – hier nicht zu groß ist und ob hier nicht eine Technologieverantwortung sondergleichen vorliegt: die Verantwortung, ein solches Szenario abzuwenden. Doch es gibt unter den EU-Staaten keinen Befürworter eines prinzipielleren Kurses gegenüber Huawei und China. Das Problem ist, dass es keine wirkliche Alternative zu Huawei gibt. Die einzigen beiden verbliebenen europäischen Player, nämlich Nokia und Ericsson, haben nicht die Kapazitäten und sind im Vergleich zu teuer. Darin zeigt sich auch der technologische Abstieg Europas (und Amerikas) gegenüber China. Huawei-Technologie ist bereits in viele Infrastrukturen eingebaut, darunter das 4G-Netz der Telekom. Es ist fraglich, ob man den Aufbau von 5G noch so lange verschieben kann, bis es Alternativen gibt, oder ob man nicht am Ende darauf angewiesen ist.
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Eine Schlussfolgerung ist: Europa müsste erst einmal ein technologischer Player werden und könnte dann auch sicherheitspolitisch stärker werden und zugleich ökonomisch profitieren. Eine enge Verknüpfung der Cybersicherheit mit Industriepolitik in dem EU-Papier Join(2017) 450 final prinzipiell gefordert. Demnach würde ein EU-weit anerkanntes Cybersicherheits-Zertifizierungssystem es ermöglichen, „Produkte für höhere Abwehrfähigkeits-Standards auszulegen und das Marktvertrauen in der EU zu stärken.“12 Mit anderen Worten: Die Zertifizierung würde helfen, nichteuropäische Anbieter vom Markt zu drängen. „Dadurch würde ein hoher Cybersicherheitsstandard zu einem Wettbewerbsvorteil.“13 Dieser Ansatz ist grundsätzlich zu begrüßen, und dies gilt sowohl ökonomisch als auch sicherheitspolitisch. Das ist genau die Weise, in der Huawei als Unternehmen und China als Weltmacht groß wurden: Huawei hat sein Quasi-Monopol nur aufgrund umfassender Regierungsunterstützung aufbauen können, während China umgekehrt seine globale Expansionsstrategie nur aufgrund des technologischen Vorsprungs verfolgen kann. Ebenso kämpfen die USA gegenwärtig auf die Weise gegen China. Hierbei sollen heimische Schlüsselindustrien, die vom Markt gedrängt wurden, in Verknüpfung mit einer umfassenden Sicherheitsstrategie (wieder-)aufgebaut werden. Dieses Unterfangen ist auch sicherheitspolitisch durchaus plausibel. In Zukunft ist eine umfassende Cybersicherheit nur dann zu gewährleisten, wenn sie bereits die Produktion der Hardware mit einschließt. Demnach sind nicht nur Geräte miteinander vernetzt, sondern auch Bereiche wie Cybersicherheit, Industriepolitik und Geopolitik. Dies führt China vor, im Guten wie im Schlechten, und die USA ziehen nach, im Guten wie im Schlechten. Die Frage ist, was Europa in Zukunft machen wird.
VII. Cyberdiplomatie Die zweite Säule der EU-Cybersicherheitsstrategie ist Cyberdiplomatie. Cyberdiplomatie ist ein neues Buzzword. Einige Staaten haben inzwischen Beauftragte für Cyber-Außenpolitik oder gar einen Botschafter für Cyberdiplomatie, und es gibt die Forderung nach einer „Digitalen Genfer Konvention“.14 Doch es ist nicht immer klar, was damit tatsächlich gemeint ist. In mancher Hinsicht handelt es sich um eine Weiterentwicklung des ursprünglichen Ansatzes, den Cyberkrieg durch Anwendung des internationalen Rechts einzuhegen – ein Ansatz, der gerade in Europa viele Befürworter fand und immer noch findet. Das große Dokument 12 Join(2017) 450 final, Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat. Abwehrfähigkeit, Abschreckung und Abwehr: die Cybersicherheit in der EU wirksam erhöhen, 13. September 2017, https://eurlex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52017JC0450&from=DE, 5 (abgerufen am 13.12. 2019). 13 Ebd., 6. 14 Tarah Wheeler, In Cyberwar, There Are No Rules. Why the World Desperately Needs Digital Geneva Conventions, in: Foreign Policy (Fall 2018), 34–41.
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dieses Unterfangens ist das innerhalb des NATO-Rahmens entstandene Tallinn Manual on the International Law Applicable to Cyber Warfare (2013, erweitert 2017). Der Zweck des Tallinn Manual ist, Cyberkriege im Rahmen des internationalen Rechts zu verorten und zu demonstrieren, dass es vollständig vom internationalen Recht abgedeckt ist. Die Regeln des (analogen) Krieges, so die Auskunft, gelten auch für den Cyberkrieg – und folgt man der zweiten Auflage, auch für alltägliche Cyber-Angriffe, die nicht unter den Begriff des Krieges fallen. Der Ansatz hat nie wirklich Anerkennung bekommen; dabei ist er nicht so sehr falsch als vielmehr verfrüht. Denn die Anwendung des internationalen Rechts auf den Cyberraum lässt sich nicht so einfach dekretieren, sondern muss viel stärker in einem komplexen, langwierigen Prozess der Normenbildung erst etabliert werden. Es ist also ein weicherer Ansatz nötig. Im weitesten Sinn geht es darum, Vereinbarungen zu treffen. Dabei können bestimmte Bereiche gegenseitig von Angriffen ausgenommen oder Nichtangriffspakte geschlossen werden; ferner lassen sich Kooperationen oder Mechanismen der Konfliktbeilegung etablieren; oder es soll ein Attributionsrat eingerichtet werden, der nach einem erfolgten Angriff die eindeutige Zuordnung erlauben soll (wobei unklar ist, wie ein solcher Rat die notwendige Akzeptanz als unpolitisches, neutrales Gremium erlangen könnte). Noch unterhalb der Schwelle der Vereinbarung geht es darum, vertrauensbildende Maßnahmen zu treffen oder zunächst einmal überhaupt einen Dialog zu etablieren und institutionell zu verankern. Cyberdiplomatie befindet sich damit auf halbem Weg zwischen der Etablierung von Normen des internationalen Rechts und dem Abschluss von weichen und letztlich unverbindlichen Vereinbarungen. So wiederholt sich dabei das Problem aller Diplomatie, wie man sie auch aus Friedens- und Abrüstungsverhandlungen etwa mit dem Iran oder Nordkorea kennt: Was machen Sie, wenn der andere gar nicht an einer diplomatischen Lösung interessiert ist, sondern die Verhandlungen bestenfalls nutzt, um Zeit zu gewinnen, oder einfach nein sagt? Anders gefragt: Wie lautet Plan B? Was haben Sie in der Hinterhand? Was kann Diplomatie also dazu beitragen, den Cyber-Zustand zwischen Krieg und Frieden einzuhegen? Die EU, so scheint es, könnte durchaus einen Beitrag zur Normenbildung leisten, wenn sie den diplomatischen Ansatz mit einer innovationsfreundlichen Industriepolitik und mit einer klareren strategischen Ausrichtung verbindet, die auch den Aufbau eines strategischen Drohpotentials enthält. Damit würde sie gerade auch die friedenspolitischen Ambitionen unterstreichen können. Wenn Europa also eine besondere Verantwortung im Bereich der Cybersicherheit übernehmen will, so muss sie zuerst einmal ein ernsthafter Player werden. Dies ist nach allem, was wir bislang gehört haben, durchaus unwahrscheinlich. Wenn wir von der EU ausgehen, die wir haben, so fehlt es an einer klaren geopolitischen Verortung – allen voran an einer klaren Position gegenüber dem Westen (insbesondere den USA), Russland und China. Ferner bedürfte es dafür so etwas wie einer gemeinsamen europäischen Sicherheitskultur. Eine solche Sicherheitskultur aufzubauen, die in die einzelnen Institutionen und Prozesse eingeht, ist nicht nur langwierig. Es wird vermutlich erst nach einem großen, ka-
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tastrophischen Ereignis – etwa einem großflächigen, verheerenden Cyberangriff, für den es derzeit kein plausibles Szenario gibt – überhaupt erst beginnen.
Literaturverzeichnis Aron, Raymond, Die letzten Jahre des Jahrhunderts, Stuttgart 1986, 184. Bendiek, Annegret, Die EU als Friedensmacht in der internationalen Cyberdiplomatie, in: SWP-Aktuell 22 (März 2018), 1–8. Annegret Bendiek/Raphael Bossong/Matthias Schulze, Die erneuerte Strategie der EU zur Cybersicherheit, in: SWP-Aktuell 72 (Oktober 2017), 1–8. Carlin, John P., Dawn of the Code War. America’s Battle against Russia, China, and the Rising Global Cyber Threat, New York 2018. Gruber, Thomas, Die EU im Cyberspace. Zwischen Aufrüstungszwang und Wirtschaftsförderung, IMI-Analyse 2017/22. Join (2017) 450 final, Gemeinsame Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat. Abwehrfähigkeit, Abschreckung und Abwehr: die Cybersicherheit in der EU wirksam erhöhen, Brüssel 2017. Lucas, George, Ethics and Cyber Warfare. The Quest for Responsible Security in the Age of Digital Warfare, New York 2017. Wheeler, Tarah, In Cyberwar, There Are No Rules. Why the World Desperately Needs Digital Geneva Conventions, Foreign Policy (Fall 2018), 34–41. von Wussow, Philipp, Arbeit im Cyberkrieg, in: Wolfgang Schröder/Ursula Bitzegeio (Hrsg.), Digitale Industrie. Algorithmische Arbeit. Kulturelle Transformation, im Erscheinen 2020.
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C) Zuwanderungsverantwortung
Danielle Gluns · Hannes Schammann
Die EU und die globale Migration als gegenwärtige Herausforderung und bleibende Zukunftsfrage I. Einleitung Wanderungsbewegungen unterlagen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur wenig rechtlichen Einschränkungen. Erst dann wurden allmählich Regelungen wie die Pass- und Visumspflicht eingeführt, die mit der zunehmenden internationalen Instabilität und der davon ausgehenden Bedrohung für staatliche Sicherheit sowie einer rassenbezogenen Ablehnung bestimmter Personengruppen begründet wurden.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden rechte Ideologien delegitimiert und die Hauptbedrohung für die staatliche Sicherheit wurde in der Gefahr eines Atomkrieges gesehen. Migration spielte eine untergeordnete Rolle in der internationalen Politik. Erst in den 1970er und -80er Jahren geriet die Migration stärker auf die politische Agenda, wobei sich zunehmend auch migrationskritische AkteurInnen am Diskurs beteiligten.2 Diese späte Hinwendung zur Steuerung von Migration gilt dem Grunde nach auch für die Europäische Union. Allerdings ist das Thema, anders als dies die aufgeregte öffentliche Debatte um Fluchtmigration seit 2015 suggeriert, für die Europäische Union keineswegs neu und wurde schon 1957 im Rahmen der der Verhandlung der „Römischen Verträge“ (in Kraft 1958) diskutiert: Artikel 3 des EWG-Vertrags sah bereits „die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten“ vor. Dementsprechend konzentrierte sich die gemeinsame Politik zunächst auf das Ziel der Personenfreizügigkeit zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft, während die Regelung der Zuwanderung von außen bis 1985 in ausschließlichen der Zuständigkeit der Nationalstaaten verblieb.3 Seit den 1990er Jahren jedoch hat die Migrationspolitik starke Schübe der Supranationalisierung erlebt, die aber immer auch mit Gegenreaktionen der Nationalstaaten einhergingen. Ein Bereich, der in besonderer Weise die Frage nach der Verantwortung der Europäischen Union für ihre BürgerInnen wie für MigrantInnen aufwirft, ist die Flüchtlingspolitik. Hier stehen sich zwei Sicherheitsbegriffe 1 Matthew Light, Regulation, recruitment, and control of immigration, in: Steven J. Gold/Stephanie J. Nawyn (Hrsg.), Routledge international handbook of migration studies (Routledge international handbooks), London 2013, 345–354, 345–347. 2 Stephen Castles/Hein de Haas/Mark J. Miller, The Age of Migration. International Polulation Movements in the Modern World, 5. Aufl., London 2014, 201. 3 Ian Bache/Stephen George/Simon Bulmer, Politics in the European Union, 3. Aufl., Oxford 2011, 467 f. und Doreen Müller, Flucht und Asyl in europäischen Migrationsregimen – Metamorphosen einer umkämpften Kategorie am Beispiel der EU, Deutschlands und Polens, Göttingen 2010, 84.
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Danielle Gluns · Hannes Schammann
– innere / nationale Sicherheit versus menschliche Sicherheit – diametral gegenüber und müssen permanent in einen Ausgleich gebracht werden. Dieser Beitrag wird dieses Spannungsfeld näher beleuchten. Die Grundlage bildet ein knapper Abriss der Geschichte europäischer Migrationspolitik als Wechselspiel zwischen Supranationalisierung und Intergouvernementalismus. Anschließend erfolgt der Fokus auf die europäische Flüchtlingspolitik. Dazu wird zunächst eine grobe Skizze des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems unternommen, bevor allgemeine Aspekte der Versicherheitlichung sowie der europäische Grenzschutz und Abkommen mit Drittstaaten diskutiert werden. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick auf aktuelle und künftige Herausforderungen europäischer Migrationspolitik.
II. Europäische Migrationspolitik im Wechselspiel von Supranationalisierung und Intergouvernementalismus Migration, die in der Regel als Teil der nationalen Innenpolitik begriffen wird, gehörte und gehört bis heute zu den als sensibel wahrgenommenen Politikfeldern. Demzufolge war der Prozess der Europäisierung immer wieder von Widerständen einzelner Staaten geprägt, die eine Übertragung von Zuständigkeiten auf eine den Nationalstaaten übergeordnete („supranationale“) Ebene ablehnten. Gleichzeitig hofften andere Staaten, dass der Zusammenschluss ihnen die Möglichkeit bieten würde, Migration besser zu steuern.4 Daher wurde wiederholt auf Instrumente der „flexiblen Integration“ zurückgegriffen, in denen (zunächst) nur ein Teil der Mitgliedstaaten außerhalb des Rahmens der EU zusammenarbeitete.5 Dieses Wechselspiel von zwischenstaatlichen (‚intergouvernementalen‘) und supranationalen Lösungen begleitet die Migrationspolitik der EU bis heute. Die schrittweise Ausweitung der europäischen Kompetenzen lässt sich einerseits mit der Theorie des Neofunktionalimus erklären: Die hohe Interdependenz der staatlichen Ökonomien sowie gesellschaftlicher Teilbereiche bedingt, dass eine Vergemeinschaftung zunächst technischer Bereiche eine Zusammenarbeit in weiteren Bereichen erfordert (‚spill-over‘). Politische AkteurInnen dehnen die Zusammenarbeit dann entweder freiwillig oder erzwungenermaßen auf andere Politikbereiche aus, weil sonst die ursprünglich verfolgten Zielsetzungen kaum zu erreichen sind.6 Der neofunktionalistische Ansatz scheint zunächst durch die Entwicklung der europäischen Migrationspolitik bestätigt: Um die angestrebten wirt4 Sabine Hess et al., Europäisches Grenzregime. Einleitung zur ersten Ausgabe, in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 1 (2015), Heft 1, 1–6. 5 Bache/George/Bulmer, Politics, 466–488 und vgl. Ursula Birsl, Migration und Migrationspolitik im Prozess der europäischen Integration?, unter Mitw. von Doreen Müller, Opladen 2005, 106–122. 6 Dieter Wolf, Neo-Funktionalismus, in: Hans-Jürgen Bieling/Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 3. Aufl., Wiesbaden 2013, 55–76, 60–62.
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schaftlichen Vorteile eines Binnenmarktes zu erzielen, müssen ArbeitnehmerInnen dorthin ziehen können, wo Arbeitsplätze entsprechend ihrer Qualifikation verfügbar sind. Wenn aber erst einmal die Grenzen im Inneren der Gemeinschaft geöffnet sind, stellt sich die Frage, wie mit Migration von außen umgegangen wird, da die Wanderung von Drittstaatsangehörigen zwischen Mitgliedstaaten ohne Grenzkontrollen kaum noch gesteuert werden kann. Somit wird erklärbar, warum der Binnenmarkt weitere gemeinsame Regelungen für die Zuwanderung aus Drittstaaten erforderlich machte. Allerdings gibt es durchaus Entwicklungen im europäischen Integrationsprozess sowie der Vergemeinschaftung der Migrationspolitik, die zentrale Annahmen des Neofunktionalismus in Frage stellen, widerlegen oder zumindest ergänzen.7 Beispielsweise wurde der Abbau der Grenzkontrollen zunächst nur von einigen Staaten auf völkerrechtlicher Basis außerhalb des institutionellen Rahmens der Europäischen Gemeinschaft beschlossen. Sie entschieden sich mit dem Übereinkommen von Schengen 19858 und dem dazugehörigen Schengener Durchführungsübereinkommen von 19909 dazu, Grenzkontrollen schrittweise abzuschaffen sowie ihre Visapolitik zu harmonisieren. Der Widerstand mancher Staaten gegen eine Zuständigkeit der supranationalen Organe für die Migrationspolitik liegt u. a. darin begründet, dass die Kontrolle der Zuwanderung einen Kernbereich nationaler Souveränität – die Frage nach Zugang zum Territorium – sowie die Außenpolitik als ebenfalls sehr sensibles Politikfeld berührt.10 Daher waren die Aushandlungsprozesse im Bereich der Migrationspolitik auch durch „political horse-trading and compromises“11 gekennzeichnet. Im Gegensatz zum Neofunktionalismus sehen daher manche WissenschaftlerInnen weiterhin die Mitgliedstaaten als die zentralen Akteure in der EU an. Sie erklären die Entwicklung der gemeinsamen europäischen Politik mithilfe der „realistisch inspirierte(n) Theorie“12 des Intergouvernementalismus. Dieser Sichtweise zufolge sind die Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten ein zentraler Faktor in der europäischen Integration. Der ‚Streit‘ zwischen neofunktionalistischen und intergouvernementalen Ansätzen ist ein zentrales Element der 7 A. a. O., 65. 8 „Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen“, Amtsblatt Nr. L 239 vom 22.09.2000, 0013–0018. 9 „Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen“, Amtsblatt Nr. L 239 vom 22.09.2000, 0019–0062. Das Abkommen trat 1993 in Kraft, entfaltete seine Wirkung jedoch erst nach Schaffung der technischen und rechtlichen Voraussetzungen mit der „Inkraftsetzung“ 1995. 10 Veronica Tomei, Europäisierung nationaler Migrationspolitik. Eine Studie zur Veränderung von Regieren in Europa, 2016. 1 Aufl., Berlin/Boston 2001, 37–44. 11 Laurie Buonanno/Neill Nugent, Policies and Policy Processes of the European Union, Basingstoke 2013 (The European Union series), 228. 12 Hans-Jürgen Bieling, Intergouvernementalismus, in: Hans-Jürgen Bieling/Marika Lerch (Hrsg.), Theorien der europäischen Integration, 3. Aufl., Wiesbaden 2013, 77–97, 77.
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Forschung zum europäischen Integrationsprozess. Allerdings kann keine Theorie alle Aspekte dieses Prozesses erklären, sodass es letztlich eher um die Frage geht, unter welchen Bedingungen Spill-over-Effekte eintreten und wann Staaten stärker auf intergouvernementale Kooperation rekurrieren. So führte die Vollendung des Binnenmarkts – die ein wichtiges Ziel der Mitgliedstaaten war – zu einem Verlust von Kontrollmöglichkeiten, wodurch sogenannte Sekundärmigration, also die Weiterwanderung innerhalb der Union, befördert wurde. Hierbei wurden die negativen Folgen nationalstaatlichen „unsolidarischen Verhaltens“13 offensichtlich: Der Versuch, durch möglichst unattraktive Aufnahmebedingungen Asylsuchende von einer Ansiedlung im eigenen Staat abzuhalten, kann bei offenen Grenzen zu einer Weiterwanderung in angrenzende Staaten führen. Dies belastet einerseits die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und kann andererseits zu einem ‚race to the bottom‘ der Aufnahmebedingungen führen. Daher zielten die Mitgliedstaaten darauf ab, durch eine Koordination ihrer Migrationspolitiken Sekundärmigration zu verringern. Hierfür schlossen sie – zunächst ebenfalls außerhalb des Rahmens der Europäischen Gemeinschaft – das sogenannte Dubliner Übereinkommen14 (unterzeichnet 1990, in Kraft getreten 1997), in dem Regeln zur Feststellung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Staates festgelegt werden. In Zusammenhang mit dem Schengener Abkommen wird häufig von einer ‚Abschaffung der Grenzen‘ gesprochen. Dies ist jedoch missverständlich, da keineswegs alle Grenzen der Europäischen Union aufgehoben wurden. Stattdessen wäre der Begriff einer ‚Differenzierung‘ des Grenzregimes zutreffender, da die Aufhebung der Grenzen im Innern der EU von vielfältigen Maßnahmen begleitet wurde, die bestehende Grenzen stärken und neue schaffen sollten: Dazu gehören der verstärkte Schutz der Außengrenzen, die Auslagerung des (Außen-)Grenzschutzes an private Akteure, die Verschiebung der Grenz- bzw. Zugangskontrollen in andere Politikbereiche wie z. B. den Zugang zu Sozialleistungen, ebenso wie ein abgestuftes System an Visa-Erfordernissen für unterschiedliche Personengruppen.15 Parallel zu Schengen und Dublin wurde mit dem Vertrag von Maastricht16 1992 die erste große vertragliche Reform der Europäischen Gemeinschaften beschlossen und die Europä13 Tomei, Europäisierung, 44. 14 „Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags – Dubliner Übereinkommen“, Amtsblatt Nr. C 254 vom 19.08.1997, 1–12. Mit Inkrafttreten des Dubliner Übereinkommens verloren die entsprechenden, sehr ähnlichen Regelungen des Schengener Durchführungsübereinkommens zur Bestimmung des für den Asylantrag zuständigen Mitgliedstaats ihre Gültigkeit. 15 John Crowley, Where Does the State Actually Start? The Contemporary Governance of Work and Migration, in: Didier Bigo/Elspeth Guild (Hrsg.), Controlling frontiers. Free movement into and within Europe, New York 2017, 140–160 und Rey Koslowski, The Mobility Money Can Buy: Human Smuggling and Border Control in the European Union, in: Anthony M. Messina/Gallya Lahav (Hrsg.), The migration reader. Exploring politics and policies, Boulder/Colo. 2006, 571–587. 16 Vertrag über die Europäische Union, 1993 in Kraft getreten.
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ische Union gegründet. Die Visapolitik wurde mit Maastricht bereits in Teilen vergemeinschaftet, das heißt durch die Organe der EG reguliert. Demgegenüber wurden die Asyl- und Einwanderungspolitik zwar als „Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse“ (Art. K.1) zur Verwirklichung der Ziele der EU betrachtet, jedoch als intergouvernementale Angelegenheiten behandelt. Das bedeutet, dass sich die Mitgliedstaaten zunächst nur „koordinierten“ (Art. K.3) sowie die Möglichkeit erhielten, gemeinsame Standpunkte, Empfehlungen und Entschließungen zu erarbeiten, während die Europäische Kommission „beteiligt“ (Art. K.4) und das Europäische Parlament „unterrichtet“ bzw. konsultiert (Art. K.6) wurden. Dadurch war die Entscheidungsfindung langwierig und Kompromisse orientierten sich in der Regel am kleinsten gemeinsamen Nenner.17 Mit dem Vertrag von Amsterdam18 wurde wenige Jahre später das Ziel formuliert, einen ‚Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts‘ zu schaffen. Im Rahmen dieser Zielsetzung wurde die Migrationspolitik in die Gemeinschaftszuständigkeit (also in die erste, supranationale Säule) verschoben.19 Das bedeutet, dass im Rat grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit – und nicht mehr einstimmig – entschieden wird und das Parlament in der Regel gleichberechtigt an der Entscheidungsfindung beteiligt ist. Außerdem wurden durch ein Protokoll die Regelungen des Schengener Übereinkommens und des Durchführungsübereinkommens in den Rahmen der EU übernommen. Dementsprechend stärkte der Amsterdamer Vertrag die Kompetenzen der Europäischen Union gegenüber den Nationalstaaten. Allerdings muss diese Aussage insofern relativiert werden, als sich die Mitgliedstaaten eine Reihe von Möglichkeiten zur eigenständigen Politikformulierung offenhielten: Erstens kann die EU nur in den Bereichen tätig werden, die im Vertrag explizit genannt werden, während beispielsweise die Arbeitsmigration weitgehend in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleibt. Zweitens wurde eine fünfjährige Übergangsfrist vereinbart, während der die Staaten im Rat noch mit Einstimmigkeit entschieden und das Parlament nur konsultiert wurde.20 Mit der größten Erweiterungsrunde um zehn neue Mitgliedstaaten 2004 waren Konflikte um die Ausgestaltung der Freizügigkeitsregelungen verbunden, die schließlich dazu führten, dass den Staaten die Möglichkeit eingeräumt wurde, die Freizügigkeit für einen Zeitraum von maximal sieben Jahren nach dem Beitritt der neuen Mitglieder zu begrenzen.21 Darüber hinaus müssen neu beitretende Staaten bestimmte Bedingungen erfüllen, bevor sie Mitglie-
17 Bache/George/Bulmer, Politics, 470 f. 18 „Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte“, 1999 in Kraft getreten. 19 Großbritannien, Irland und Dänemark nahmen an der Vergemeinschaftung der EU-Migrationspolitik grundsätzlich nicht teil, sondern behielten sich Sonderregelungen vor, vgl. Tomei, Europäisierung, 60–63. 20 Tomei, Europäisierung, 57 f. 21 Ulrich Brasche, Europäische Integration. Wirtschaft, Euro-Krise, Erweiterung und Perspektiven, 4. Aufl., Boston/Berlin 2017 (De Gruyter Studium), 296–298.
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der des sogenannten Schengenraums (siehe unten), also des Raums ohne Personenkontrollen an den Binnengrenzen, werden können.22 Die Erweiterung der EU erforderte auch institutionelle Reformen, die mit dem Vertrag von Lissabon23 2007 (in Kraft 2009) beschlossen wurden. Hierdurch wurde die Rolle des Europäischen Rates gestärkt, aber auch das Europäische Parlament und der Gerichtshof erhielten weitere Rechte.24 Für die Innenpolitik besonders bedeutsam waren zudem die Aufhebung der Säulenstruktur und die Stärkung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als zentralem Ziel der EU.25 Darüber hinaus erhielt die Grundrechtecharta26 durch Einbezug in Art. 6 des EU-Vertrags (EUV) rechtsverbindlichen Status. Außerdem trat die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950 bei. Dementsprechend müssen die Organe der EU sowie die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des EU-Rechts die in den beiden Dokumenten verbrieften Grundrechte wahren. Viele der gewährten Rechte gelten explizit für alle Menschen (im Wortlaut oft ‚jede Person‘) und damit auch für Drittstaatsangehörige. Ausgenommen hiervon sind vor allem „Bürgerrechte“ (Titel V) wie das Wahl- und Petitionsrecht, die nur für UnionsbürgerInnen gelten.
III. Migrationspolitik zwischen innerer und menschlicher Sicherheit: Das Beispiel der europäischen Flüchtlingspolitik Wie eingangs beschrieben, bezogen sich die ersten europäischen migrationspolitischen Regelungen auf die Wanderung von EU-BürgerInnen innerhalb der Union, die in der Regel nicht als ‚internationale Migration‘ verstanden wird. Darüber hinaus existieren aber auch europäische Richtlinien für die Zuwanderung von Hochqualifizierten, zu Studien- und Forschungszwecken, zur Familienzusammenführung und zum dauerhaften Verbleib. Ein weiteres zentrales Feld besteht aus den Regelungen für Asylsuchende und Geflüchtete. Schließlich befasst sich die EU mit Fragen der Grenzsicherung sowie im Rahmen der ‚externen‘ Dimension mit der Einbindung von Drittstaaten. Diese letzten beiden Punkte, die im Zuge der erhöhten Fluchtzuwanderung seit 2015 öffentlich viel diskutiert wurden und die Frage nach der Verantwortung der Europäischen Union für globale soziale Ungleichheit und ‚hu22 Aktuell sind Kroatien, Bulgarien und Zypern noch keine Mitglieder des Schengenraums. Darüber hinaus haben sich Großbritannien und Irland im Rahmen einer nur für sie geltenden Sonderregelung gegen eine Teilnahme an Schengen entschieden („opt-out“). 23 „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft“, OJ C 306, 17.12.2007, 1–271. 24 Desmond Dinan, Ever closer Union. An introduction to european integration, 4. Aufl., New York/London 2010 (The European Union series), 134–156. 25 Bache/George/Bulmer, Politics, 473 f. 26 Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union war im Jahr 2000 vom Europäischen Rat, Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission feierlich verkündet worden.
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man security‘ aufwerfen, stehen im Fokus der folgenden Ausführungen. Dazu werden in einem ersten Schritt die wichtigsten Elemente des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems skizziert. Anschließend wird das Spannungsfeld von menschlicher und innerer Sicherheit u. a. am Beispiel des Grenzschutzes und seiner Exterritorialisierung besprochen. 1. Hintergrund: Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) Mit der Zielsetzung eines ‚Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts‘ durch den Vertrag von Amsterdam war auch das Ziel verbunden, gemeinsame Regelungen für die Aufnahme von Menschen zu beschließen, die z. B. aufgrund einer Furcht vor Verfolgung oder eines Bürgerkrieges in ihrem Herkunftsland Schutz in einem Mitgliedstaat der EU suchen. Dieses Ziel wurde kurz darauf durch den Europäischen Rat in Tampere unterstrichen, der festlegte, dass die Union ein gemeinsames Asylsystem beschließen solle. Zur Umsetzung dieses Ziels erarbeitete die Kommission eine Reihe von Vorschlägen für Rechtsakte, mit denen die asylpolitischen Regelungen der Mitgliedstaaten einander angeglichen werden sollten. Die erste Fassung der Richtlinien und Verordnungen, die sich auf gemeinsame Mindeststandards verständigten, wurde im Zeitraum bis 2004 erlassen. Damit fiel die Beschlussfassung in den fünfjährigen Übergangszeitraum, in dem das Parlament nur angehört wurde und der Rat mit Einstimmigkeit entschied. Mit dem Erlass von Mindeststandards war jedoch das Ziel einer gemeinsamen Asylpolitik noch nicht erreicht, da die Regelungen der Mitgliedstaaten in der Praxis noch stark voneinander abwichen. Daher wurden die Rechtsakte in der Zeit von 2011 bis 2013 reformiert, um klarere gemeinsame Regelungen zu formulieren. Aktuell wird wieder über eine Reform der Richtlinien und Verordnungen verhandelt; dieser Prozess ist allerdings noch nicht abgeschlossen, da zu einigen Themen noch deutliche Uneinigkeit besteht (Stand: November 2019).27 Zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) gehört unter anderem die oben bereits angesprochene Dublin-Regelung, die zunächst als völkerrechtliches Abkommen geschlossen worden war. Mit der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 wurden diese Regelungen im Großen und Ganzen in das EU-Recht übernommen („Dublin-II“). Damit ist grundsätzlich der Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig, in dem die antragstellende Person zuerst europäischen Boden betreten hat. Diese Regelung wurde auch mit der reformierten Verordnung (EU) Nr. 604/2013 („Dublin-III“) beibehalten. Allerdings wurde ein Notfallmechanismus eingeführt, der die Aussetzung der Überstellungen nach den Zuständigkeitsregelungen ermöglicht, falls das Asylsystem des Ersteinreisestaates „systemische Mängel“ aufweist.28 Darüber hinaus wurden die Rechtsgarantien für betroffene AsylantragstellerInnen erhöht. 27 René Repasi, Asyl-, Einwanderungs- und Visapolitik, in: Jahrbuch der Europäischen Integration (2018), 173–182. 28 Petra Bendel, Nach Lampedusa. Das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem auf dem Prüfstand; Studie
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Tabelle 1: Kernelemente des GEAS. Name (Kurzfassung)
Nummer des Rechtsakts
Inhalte
Asylverfahrensrichtlinie
2013/32/EU (2005/85/EG)
Bestimmungen über die Durchführung von Asylverfahren durch die mitgliedstaatlichen Behörden, inkl. Rechtsgarantien
Aufnahmerichtlinie
2013/33/EU (2003/9/EG)
Bedingungen für die Aufnahme von Asylsuchenden während des Verfahrens (z. B. Unterbringung, Zugang zu Bildung und Beschäftigung, soziale Sicherheit, Gesundheit, Inhaftnahme)
Qualifikations-/Anerkennungsrichtlinie
2011/95/EU (2003/109/EG)
Kriterien für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (GFK) und Gewährung subsidiären Schutzes sowie Rechte derjenigen, denen dieser Schutz gewährt wird
Dublin-Verordnung
EU Nr. 604/2013 (EG Nr. 343/2003)
Kriterien für die Bestimmung des Staates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, sowie Regelungen für die Überstellung von Asylsuchenden in den entsprechenden Staat
EURODAC-Verordnung
EU Nr. 603/2013 (EG Nr. 2725/2000)
Einrichtung einer Fingerabdruckdatenbank zur Umsetzung der Dublin-Verordnung)
Zur Umsetzung der Dublin-Regelungen ist es notwendig, Daten der Asylantragstellenden zu erfassen und zwischen den Mitgliedstaaten auszutauschen. Hierfür wurde die EURODACVerordnung (EU Nr. 603/2013) erlassen. Sie sieht die Einrichtung einer Datenbank vor, in der die Fingerabdrücke der Menschen gespeichert werden, die in einem Mitgliedstaat der EU einen Asylantrag stellen. Hierdurch kann nachvollzogen werden, ob bereits in einem anderen Staat ein Antrag gestellt wurde, der dann für die Prüfung des Antrags zuständig wäre. In der Verordnung wird auch geregelt, welche Behörden unter welchen Bedingungen auf die Daten zugreifen dürfen. Darüber hinaus gehören zum GEAS Richtlinien über die Asylverfahren (2013/32/EU), über die Aufnahmebedingungen (2013/33/EU) sowie über die Anerkennung als international Schutzberechtigte*r (2011/95/EU). Während die Dublin-Verordnung unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gilt, müssen Richtlinien grundsätzlich in nationales Recht überführt werden. Das heißt, dass die Regelungen beispielsweise in das deutsche Asylgesetz oder Asylbewerberleistungsgesetz übernommen werden müssen.
im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2013 (WISODiskurs), 27 f. und Matthias Lehnert, Kämpfe ums Recht. Neue Entwicklungen im europäischen Flüchtlingsund Grenzschutzrecht, in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 1 (2015), Heft 1, 9–13.
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Die Aufnahmerichtlinie bestimmt, welche Rechte Asylsuchende während der Durchführung des Verfahrens haben bzw. wie die Bedingungen ihrer Aufnahme zu gestalten sind. Dazu gehören beispielsweise Regelungen über den Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Bildung, über die gesundheitliche Versorgung, Unterbringung, und finanzielle Unterstützung, aber auch zu den Bedingungen, unter denen Antragstellende inhaftiert werden können. Besondere Regelungen gelten für die Aufnahme schutzbedürftiger Personen, zu denen nach Art. 21 der Richtlinie (unbegleitete) Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende, Opfer des Menschenhandels, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, gehören. Die Asylverfahrensrichtlinie legt, wie der Name vermuten lässt, fest, welchen Anforderungen Asylverfahren in den Mitgliedstaaten genügen müssen. Es gibt dementsprechend keine europäische Instanz, die diese Verfahren zentralisiert durchführt. Stattdessen bleiben die Behörden der Mitgliedstaaten für die Durchführung der Asylverfahren zuständig, müssen sich dabei aber z. B. an Pflichten wie die Information der Antragstellenden, die Durchführung einer Anhörung und die Gewährung von Rechtsschutz (inkl. der Gewährung von Rechtsberatung und -vertretung) halten. Gleichzeitig definiert die Richtlinie das Konzept des sicheren Herkunftsstaats bzw. sicheren Drittstaats, auch wenn die Festlegung eines Staats als ‚sicher‘ weiterhin von den Mitgliedstaaten getroffen wird. Die Richtlinie sieht auch die Möglichkeit beschleunigter Verfahren, beispielsweise für AntragstellerInnen aus ‚sicheren‘ Herkunftsstaaten, vor.29 Während die Asylverfahrensrichtlinie verfahrensrechtliche Garantien festlegt, bestimmt die Anerkennungsrichtlinie (auch „Qualifikationsrichtlinie“) Kriterien für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Sie konkretisiert die darin angesprochenen möglichen Verfolgungshandlungen, verfolgender AkteurInnen etc. Diese Festlegungen sind zentral für die einheitliche Anwendung, da die Genfer Flüchtlingskonvention selbst eher vage Formulierungen enthält, die einen weiten Interpretationsspielraum belassen. Darüber hinaus führt die Qualifikationsrichtlinie den sogenannten subsidiären Schutz als zusätzliche europäische Schutzform ein. Sie gilt für Personen, die zwar nicht gemäß der Flüchtlingskonvention aufgrund ihrer Rasse, Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung individuell und staatlich verfolgt werden, aber dennoch einen ernsthaften Schaden zu befürchten haben. Hierzu gehören beispielsweise Bürgerkriegsflüchtlinge, denen bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland Gefahr für Leben oder körperliche Unversehrtheit droht (Art. 15). Neben den Kriterien für die Anerkennung als Flüchtling sowie die Zuerkennung subsidiären Schutzes legt die Richtlinie auch den Inhalt des zu gewährenden Schutzes dar. Das heißt, sie legt fest, welche Rechte Flüchtlinge und subsidiär Geschützte nach Abschluss ihres Verfahrens haben, beispielsweise bezogen auf den Zugang zu Beschäftigung, zu Bildung oder gesundheitlicher Versorgung. 29 Bendel, Lampedusa, 36–38.
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Dazu gehört auch die Regelung bezüglich der Bewegungsfreiheit im Aufnahmestaat, die grundsätzlich den Regelungen für andere Drittstaatsangehörige entsprechen muss. Allerdings sind die Asylverfahren, die Standards für die Aufnahme sowie für die Zuerkennung des internationalen Schutzes bislang nicht einheitlich. Dies zeigt sich beispielsweise in den sehr unterschiedlichen Anerkennungsquoten von Asylanträgen in den einzelnen Mitgliedstaaten.30 Zwar sind die Staaten verpflichtet, die Regelungen aus den Richtlinien in nationales Recht umzusetzen und anzuwenden, doch haben sie dabei einerseits weiterhin Gestaltungsspielräume. Andererseits entspricht die faktische Umsetzung durch die mitgliedstaatlichen Behörden nicht immer der Intention des Gesetzgebers. Neben diesen zentralen Rechtsakten gehört auch die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz im Falle eines ‚Massenzustroms‘ von Vertriebenen (2001/55/EG) zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem. Diese Richtlinie wurde jedoch bislang noch nie angewendet, auch wenn sie theoretisch im Fall der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 anwendbar gewesen wäre.31 Diese ‚Krise‘ führte die Schwachstellen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems deutlich vor Augen. Die Zunahme der Fluchtzuwanderung offenbarte die Überforderung der Staaten an den südlichen Außengrenzen der EU. Insbesondere Italien und Griechenland waren nicht in der Lage, die einreisenden MigrantInnen aufzunehmen, unterzubringen, zu registrieren und ggf. ihre Asylanträge zu bearbeiten. Daher entwickelte die Europäische Kommission 2015 den ‚Hotspot‘-Ansatz, bei dem die Agenturen der EU die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen bei der Registrierung und Antragsbearbeitung unterstützen sollten (siehe KOM/2015/240). Kurz darauf wurde das System um einen Relocation-Mechanismus ergänzt, mit dessen Hilfe 160.000 Asylsuchende aus den besonders betroffenen Staaten in andere Mitgliedstaaten umgesiedelt werden sollten (Beschlüsse 2015/1523 und 2015/1601 des Rates). Hierbei zeigten sich jedoch die Grenzen der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Einige Staaten weigerten sich, sich an der Umverteilung zu beteiligen und Asylsuchende aufzunehmen, nachdem der Beschluss als Mehrheitsentscheidung gegen die Voten Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und Rumäniens gefasst worden war (vgl. KOM/2018/301). 2. Die EU im Spannungsfeld von Migration und Sicherheit Migrationspolitik und speziell Flüchtlingspolitik ist ganz grundsätzlich geprägt von einem Spannungsverhältnis zwischen innerer bzw. nationaler Sicherheit und menschlicher Sicherheit (human security). Eine verstärkte Orientierung an nationaler Sicherheit führt 30 Hierzu ist anzumerken, dass die Entscheidung über einen Asylantrag immer eine individuelle ist, die nicht nach Herkunftsländern pauschalisiert werden kann. Dennoch divergieren die Anerkennungsquoten teilweise derart stark, dass von systematischen Unterschieden ausgegangen werden muss. 31 Danielle Gluns/Janna Wessels, Waste of Paper or Useful Tool? The Potential of the Temporary Protection Directive in the Current ‚Refugee Crisis‘, in: Refugee Survey Quarterly 36 (2017), Heft 2, 57–83.
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meist dazu, dass der Zugang zum Asylverfahren erschwert wird – und damit der Schutz der menschlichen Sicherheit. Umgekehrt kann eine ausschließliche Orientierung am Schutzbedürfnis der Geflüchteten in der aufnehmenden Bevölkerung ein ohnehin vorhandenes Unsicherheitsgefühl hinsichtlich der Neuzuwanderung verstärken – insbesondere, wenn dies in Migrationsdebatten durch rechtspopulistische AkteurInnen gezielt befeuert wird. Politisch wird diese Spannung meist dadurch aufgelöst, dass Maßnahmen zum Grenzschutz und zur „Bekämpfung von Schleuserbanden“ als Mittel zur Verhinderung von „Tragödien im Mittelmeer“ beschrieben und dadurch legitimiert werden. Dabei bleibt jedoch außer Acht, dass restriktive Maßnahmen das Geschäft der Schleuser durchaus auch lukrativer machen können, indem sie die Preise für die Schleusung in die Höhe treiben.32 Zäsuren für die Sicherheitsorientierung der europäischen Migrationspolitik stellen die Terroranschläge in New York, London und Madrid dar. Obwohl beispielsweise im Fall der Anschläge vom 11. September die Täter mit einem Touristenvisum in die USA eingereist waren und somit nicht als Migranten in den USA lebten, verschob sich durch die Angriffe der Fokus der Migrationspolitik von humanitären zu sicherheitspolitischen Maßnahmen.33 Der Fokus auf innere Sicherheit spiegelt sich beispielsweise im „Haager Programm“, das vom Europäischen Rat im November 2004 angenommen wurde. Es ist ein Fünfjahresprogramm für den Zeitraum 2005 bis 2009 und legt zehn Prioritäten für die Stärkung der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fest. Im Vergleich zum vorherigen Programm von Tampere legt das Haager Programm einen größeren Fokus auf die Bekämpfung des Terrorismus, den Kampf gegen irreguläre Migration und Menschenhandel sowie (organisierte) Kriminalität und Grenzschutz.34 Ein ähnlicher Schwerpunkt zeigt sich in der Migrationsagenda, die 2015 von der Europäischen Kommission vorgelegt wurde.35 Die innere Sicherheit soll durch verschiedene politische Maßnahmen gestärkt werden. Ein wichtiges Instrument zur Stärkung staatlicher Kontrolle, die als Voraussetzung zur Gewährleistung innerer Sicherheit gesehen wird, ist die Sammlung von Daten und der Austausch von Informationen. Hierzu dienen Maßnahmen wie die oben genannten Instrumente der Dublin-Verordnung und das dazugehörige Fingerabdrucksystem EURODAC sowie das Visa-Informationssystem (VIS) und das Schengener Informationssystem (SIS-II). Sie sollen die Kontrolle der Staaten über die Menschen sicherstellen, die sich in der EU aufhalten.36 Gleichzeitig sollen sie einen möglichen Missbrauch des Asylsystems, beispielsweise durch Mehrfachanträge in unterschiedlichen Staaten, verhindern.
32 Robin Hofmann, Flucht, Migration und die neue europäische Sicherheitsarchitektur. Herausforderungen für die EU-Kriminalpolitik, Wiesbaden 2017, 225–228. 33 Ariane Chebel dʼAppollonia, Frontiers of Fear. Immigration and insecurity in the United States and Europe, Ithaca, New York 2012. 34 Hofmann, Flucht, 206–208. 35 Ebd., 225–228. 36 Repasi, Visapolitik.
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Damit geraten jedoch Asylantragstellende und MigrantInnen unter den Generalverdacht, das Asylsystem ‚missbrauchen‘ zu wollen. Außerdem legen die Instrumente teilweise eine erhöhte Neigung zur Kriminalität nahe. Beispielsweise können auf die in EURODAC gespeicherten Daten – die vorrangig zur Umsetzung der Migrationspolitik erhoben werden – auch Behörden zugreifen, die für die Verfolgung schwerer Straftaten zuständig sind, ebenso wie EUROPOL.37 Die Verknüpfung von Asyl bzw. Migration mit einer (potenziellen) Kriminalität zeigt sich darüber hinaus auch in der Möglichkeit zur Inhaftierung von MigrantInnen und Geflüchteten, die durch verschiedene europäische Rechtsakte (z. B. die Dublin-Verordnung, die Rückführungsrichtlinie oder die Aufnahmerichtlinie) eingeräumt wird. Sie dient beispielsweise der Durchsetzung einer Ausreiseverpflichtung, kann aber auch zur Sammlung von Informationen über die Identität der betroffenen Person eingesetzt werden und kann in bestimmten Fällen in normalen Strafvollzugsanstalten erfolgen.38 Wer und was als Bedrohung konstruiert wird, bleibt dabei im öffentlichen und politischen Diskurs diffus. Häufig spielt die irreguläre Migration als wahrgenommenes Sicherheitsrisiko eine große Rolle, die oft gleichgesetzt wird mit Zuwanderung mithilfe von kriminell motivierten ‚Schleuserbanden‘. Die mediale Debatte konzentriert sich zudem häufig auf kriminelle geschmuggelte MigrantInnen und verstärkt dadurch das Gefühl einer Bedrohung der inneren Sicherheit. Die Frage der Menschenrechte der MigrantInnen – und erst recht die der FluchthelferInnen oder SchleuserInnen – rückt hingegen in den Hintergrund.39 Dementsprechend findet die Vielfalt der Migrationsmuster im politischen und gesellschaftlichen Diskurs oft keine Berücksichtigung. Beispielsweise handelt es sich bei den HelferInnen nicht immer um organisierte Gruppen, die Menschenschmuggel aus einer kriminellen Motivation heraus betreiben. Aufgrund des Mangels an legalen Zugangswegen für Geflüchtete reisen zudem auch Menschen irregulär ein, die aufgrund von Furcht vor Verfolgung gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention schutzberechtigt sind.40 In Reaktion auf die konstruierte Bedrohung, die von irregulären MigrantInnen ausgehe, soll Sicherheit vor allem durch eine Erhöhung staatlicher Kontrolle über Zuwanderungsprozesse erreicht werden. In diesem Sinne wird versucht, die spontane bzw. unkontrollierte Ankunft von Asylsuchenden und irregulär Einreisenden zu verringern und Zuwanderung allgemein stärker zu steuern – dies ist tatsächlich einer der wenigen Punkte, auf die sich alle Mitgliedstaaten in der Migrationspolitik einigen können. Mögliche politische Maßnahmen umfassen die Durchführung von Asylverfahren außerhalb der EU, die Suche nach Verbleib37 EUROPOL unterstützt die Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität, insbesondere in den Bereichen Terrorismus, Drogenhandel, Geldwäsche und -fälschung sowie Menschenhandel. Hierzu betreibt die Agentur v. a. Aufklärungsarbeit und erstellt Analysen. Sie ist dem Rat der Innen- und Justizminister unterstellt (siehe https://www.europol.europa.eu/about-europol, abgerufen am 14.12.2019). 38 Hofmann, Flucht, 213–217. 39 Koslowski, Mobility. 40 Hofmann, Flucht, 225–241.
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möglichkeiten in der Herkunftsregion sowie stärkere Überwachung der Grenzen.41 Diese Vorhaben werden von KritikerInnen mit dem Begriff der „Festung Europa“ bezeichnet. Hiermit wollen sie deutlich machen, dass Europa sich zunehmend abschottet und damit auch Menschen mit tatsächlichen Fluchtgründen der Zugang zum Asylverfahren in Europa verwehrt wird. Dies wird in den letzten Jahren zunehmend durch Hochtechnologien gestärkt: „Die Festung Europa ist eine wehrhafte Festung, die sich auf sattelitengestützte Grenzüberwachung, auf Flugdrohnen und Sensoren, Hightech-Boote und auf Roboter mit Überwachungskameras stützt.“42 a) Koordination des Grenzschutzes zwischen den Mitgliedstaaten Ein immer wichtiger werdender Akteur bei der Koordination des Grenzschutzes ist Frontex, bzw. die „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache“, wie sie offiziell seit 2015 heißt. Frontex ist eine eigenständige Rechtsagentur, die aber gegenüber dem Parlament und dem Rat rechenschaftspflichtig ist und von einem Verwaltungsrat überwacht wird, der aus VertreterInnen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission besteht. Sie war erstmals 2004 eingerichtet worden, um die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Sicherung der Außengrenzen der Union zu unterstützen. Nachdem die Agentur zunächst nur als Laboratorium zur Zusammenarbeit im Grenzschutz gegründet worden war – und damit quasi als kleinster gemeinsamer Nenner zwischen den Mitgliedstaaten – wuchsen ihr Budget und ihre Bedeutung schnell an (2019: 333 Millionen Euro). Frontex erfüllt heute verschiedene Aufgaben. Am sichtbarsten sind die operativen Einsätze, die auch den größten Teil der Ausgaben ausmachen. Bei diesen Einsätzen werden BeamtInnen der Mitgliedstaaten und Transportmittel wie Schiffe und Flugzeuge gemeinsam genutzt, um die Staaten an den Außengrenzen beim Grenzschutz und der Grenzüberwachung zu unterstützen. Ein Beispiel hierfür ist die Operation Themis, die im Februar 2018 die vorherige Operation Triton ersetzte und Italien bei der Grenzkontrolle auf See sowie bei der Registrierung ankommender MigrantInnen unterstützt. Mit der Weiterentwicklung und Umbenennung 2015 wurde die Agentur mit einem stärkeren Mandat und weiteren Ressourcen ausgestattet, um effektiver agieren zu können. Unter anderem ist ein Soforteinsatzpool von 1.500 Grenzschutzbeamten vorgesehen (KOM (2015) 673 endg.). Darüber hinaus überwacht Frontex die Lage an den Außengrenzen und kooperiert hierfür mit den Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen des Europäischen Grenzüberwachungssystems Eurosur. Ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit sind auch „Risikoanalysen“, die kritisiert werden, da sie eine Wahrnehmung von Migration als Bedrohung nahelegen und sie in die Nähe grenzüberschreitender Kriminalität rücken.43 Diese Analysen bilden nichtsdestotrotz die Grund41 Alexander Betts, Forced migration and global politics, Malden/Oxford/Chichester 2009, 75. 42 Hofmann, Flucht, 181. 43 Bernd Kasparek, Laboratorium, Think Tank, Doing Border: Die Grenzschutzagentur Frontex, in: Sabine Hess/
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lage des Handelns von Frontex und werden an die Mitgliedstaaten weitergegeben, um deren Grenzschutzaktivitäten zu unterstützen. Für die Stärkung der Grenzsicherung arbeitet Frontex auch mit den Grenzschutzbehörden nicht-europäischer Staaten zusammen und baut hierfür ein Netz aus Partnerschaften, insbesondere mit Herkunfts- und Transitländern der Migration, auf (s. u.). Inzwischen ist Frontex zunehmend auch in die Rückführung irregulär eingereister MigrantInnen eingebunden, indem es die Mitgliedstaaten bei der Organisation und Durchführung oder der Beschaffung von Ausweisdokumenten unterstützt oder selbst Rückführungen organisiert. Da die Tätigkeiten von Frontex eine Vielfalt von Grundrechten berühren, verfügt die Agentur seit 2012 über eine/n Beauftragte/n für Grundrechte. Diese Person ist unabhängig und untersteht direkt dem Verwaltungsrat. Sie arbeitet zusammen mit einem Konsultationsforum für Grundrechte, in dem VertreterInnen verschiedener internationaler Organisationen und Organisationen der Zivilgesellschaft vertreten sind. Im Zuge der Weiterentwicklung der Agentur wurden auch die rechtlichen Grundlagen ihrer Arbeit überarbeitet. Dadurch wurde sie expliziter an die menschenrechtlichen Verpflichtungen der EU und der Mitgliedstaaten gebunden und die Verantwortlichkeit der bereitgestellten Einsatzkräfte wurde transparenter geregelt.44 Dies ist eine Reaktion auf die harsche Kritik an einem fehlenden Schutz der Menschenrechte durch die Agentur in den ersten zehn Jahren ihres Bestehens, deren Praktiken auch sogenannte „Push-Backs“45 im Mittelmeer einschlossen. b) Exterritorialisierung des Grenzschutzes durch Abkommen mit Drittstaaten Trotz der Grenzkontrollen an den Außengrenzen der EU existiert weiterhin irreguläre Migration in die EU. Daher hat in den vergangenen Jahren die Zusammenarbeit mit Drittstaaten an Bedeutung gewonnen. Anfangs hatte sich die Zusammenarbeit der EU mit Drittstaaten vor allem auf die östliche Nachbarschaft und Beitrittskandidaten konzentriert. In der Folge wurden aber zunehmend die nordafrikanischen Staaten einbezogen. Das Ziel des Ansatzes ist es, einen „Ring aus Freunden“ zu schaffen, der unter anderem durch finanzielle, personelle und technologische Unterstützung sowie durch den Aufbau von Kapazitäten der Grenzüberwachung gestärkt werden soll.46 Von dieser ‚externen Dimension‘ der Migrationspolitik erhofft sich die EU eine Verringerung der irregulären Migration durch eine verbesserte Kontrolle Bernd Kasparek (Hrsg.), Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, 2. Aufl., Berlin 2012, 111–126. 44 Bernd Kasparek/Vassilis S. Tsianos, Whatever Works! Kontinuität und Krise des Schengener Systems, in: Lisa-Marie Heimeshoff u. a. (Hrsg.), Migration, Kontrolle, Wissen. Transnationale Perspektiven (Grenzregime 2), Berlin 2014, 41–57. 45 Damit wird das Aufgreifen von Menschen auf See oder in grenznahen Gebieten und ihre unmittelbare Zurückschiebung in die Länder verstanden, aus denen sie gerade ausgereist waren. Push-Backs sind seit 2014 durch die Seeaußengrenzenverordnung verboten. 46 Alison Gerard/Sharon Pickering, Gender, Securitization and Transit: Refugee Women and the Journey to the
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der Grenzen sowie durch eine Verringerung der Migrationsursachen (‚root causes‘). Die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten der MigrantInnen ist keine neue Erfindung, fand jedoch bis Anfang der 2000er Jahre vor allem auf bilateraler Ebene, das heißt durch Abkommen einzelner EU-Mitgliedstaaten mit Staaten außerhalb der EU statt. Auf diese Beziehungen baut die EU seit 2005 auf, als die Verknüpfung der Migrationspolitik mit sicherheitspolitischen Zielen im „Gesamtansatz zur Migrationsfrage“ (GAM) festgeschrieben und im Jahr 2011 zum „Gesamtansatz für Migration und Mobilität“ (GAMM) weiterentwickelt wurde. Die Bedeutung der externen Dimension für die europäische Migrationspolitik hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Nicht nur die Herkunftsstaaten der MigrantInnen werden zunehmend in das Migrationsmanagement einbezogen, auch Transitstaaten sollen an der Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung mitwirken. Die Bandbreite möglicher Instrumente in der Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten reicht von weichen Maßnahmen wie politischen Dialogen, Aktionsplänen und der Bereitstellung von Informationen, über die Stärkung der Grenzsicherung des Drittstaats hin zu formalen Abkommen, zum Beispiel im Rahmen sogenannter Mobilitätspartnerschaften (vgl. KOM/2008/611 endg.; KOM/2011/0743 endg.). Sie umfassen in der Regel Abkommen für Visaerleichterungen und die Rücknahme irregulär eingereister Personen. Solche Kooperationen erfuhren ab 2011 durch den „Arabischen Frühling“ und den damit einhergehenden politischen Veränderungen einen Dämpfer. Kurz darauf wurden aber bereits weitere Abkommen mit den neuen Machthabenden geschlossen.47 Ein Beispiel hierfür ist die zivile Mission EU Integrated Border Management Assistance (EUBAM), die seit 2013 die libyschen Behörden in der Grenzsicherung schult. Darüber hinaus sollen mit der EUNAVFOR MED (European Union Naval Force – Mediterranean) Operation Sophia48 Schleusernetzwerke bekämpft werden, die von Libyen aus operieren.49 Da die Eindämmung der Migration nicht unbedingt im Interesse der Partnerstaaten liegt, setzt die Europäische Union finanzielle Anreize wie eine Erhöhung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit. Dies ist eingebettet in das „Narrativ der EU, in: Journal of Refugee Studies 27 (2014), Heft 3, 338–359, 340 f. und Chris Rumford, Theorizing Borders. Introduction, in: European Journal of Social Theory 9 (2006), Heft 2, 155–169, 161. 47 Kasparek/Tsianos, Kontinuität, 42. 48 Während mit der Operation damit das Ziel der Erhöhung von Sicherheit in der EU verfolgt wird, heben politische Akteure auch den Schutz der Menschen hervor, die ansonsten aufgrund seeuntüchtiger Boote ihr Leben bei der Überfahrt riskieren würden. Dies soll sich auch in der Umbenennung der Operation widerspiegeln, die mit „Sophia“ den Namen eines Mädchens verwendet, das nach einer Rettung seiner Mutter im Mittelmeer an Bord einer deutschen Fregatte gerettet worden war, https://www.operationsophia.eu/about-us/ (abgerufen am 14.12.2019; s. a. Paolo Cuttitta, Das europäische Grenzregime: Dynamiken und Wechselwirkungen, in: Sabine Hess/Bernd Kasparek (Hrsg.), Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, 2. Aufl., Berlin 2012, 23–40, 34 f.). 49 Hofmann, Flucht, 232 f.
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Fluchtursachenminderung“.50 Dabei zeigt sich, dass die Staaten sehr unterschiedlich auf die Anreize und Angebote der EU reagieren. Die Spanne reicht von der Verweigerung der Zusammenarbeit, über „implementation gaps“ in der Praxis bis zu einer strategischen Nutzung der Verhandlungen für die Verfolgung eigener Interessen.51 Ein Beispiel für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten durch formale Verträge ist Marokko.52 Marokko ist nicht nur aufgrund seiner geographischen Nähe zu Europa, sondern auch aufgrund der hohen Emigration und Transmigration in die EU von zentraler Bedeutung. Spanien hatte bereits seit 1992 Abkommen mit Marokko geschlossen, um irreguläre Einwanderung zu begrenzen. Im Gegenzug für die Unterstützung bei der Verhinderung der Einreise über die Enklaven Ceuta und Melilla erhalten MarokkanerInnen beispielsweise Visa als SaisonarbeitnehmerInnen in Spanien. Darüber hinaus kooperierten Spanien und Marokko bei der Grenzsicherung. Die EU hat diese Zusammenarbeit 2013 durch eine Mobilitätspartnerschaft ergänzt. Sie umfasst die erleichterte Visavergabe und die Unterstützung des marokkanischen Grenzschutzes im Gegenzug für die Unterzeichnung eines Rückübernahmeabkommens auch für Drittstaatsangehörige, die über Marokko in die EU gelangt sind. Einem solchen Abkommen hatte sich Marokko lange widersetzt. Allerdings bietet die Zusammenarbeit mit der EU der marokkanischen Regierung die Möglichkeit, sich international als modernes und anerkanntes Land zu positionieren und seine eigene Reformagenda durchzusetzen, während sich der externe Transformationsdruck in Hinblick auf politische Reformen verringert. Derartige Anreize sind den Partnerstaaten der externen Migrationspolitik teilweise wichtiger als finanzielle Mittel. Ein weiteres Beispiel ist das Abkommen mit der Türkei („EU-Türkei-Deal“), die sich 2016 verpflichtete, irregulär von der Türkei nach Griechenland eingereiste MigrantInnen zurückzunehmen, wenn im Gegenzug syrische Flüchtlinge von der EU aufgenommen würden. Gleichzeitig wird die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten in der Türkei mit drei Milliarden Euro unterstützt.53 Womöglich noch wichtiger als diese finanzielle Unterstützung ist jedoch die Aussicht auf Visaliberalisierungen, die die Türkei seit Jahren fordert, die ihr jedoch mit Verweis auf notwendige Reformen immer wieder verweigert werden.54 Kritisch 50 David Kipp/Anne Koch, Auf der Suche nach externen Lösungen Instrumente, Akteure und Strategien der migrationspolitischen Kooperation Europas mit afrikanischen Staaten, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (Hrsg.), Migrationsprofiteure? Autoritäre Staaten in Afrika und das europäische Migrationsmanagement, Berlin 2018, 9–22, 17. 51 Siehe auch Stephan Dünnwald, Remote Control? Europäisches Migrationsmanagement in Mauretanien und Mali, in: movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies 1 (2015), Heft 1. 52 Isabelle Werenfels, Migrationsstratege Marokko – Abschotter Algerien, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (Hrsg.), Migrationsprofiteure? Autoritäre Staaten in Afrika und das europäische Migrationsmanagement, Berlin 2018, 23–35. 53 Erklärung EU-Türkei vom 18.03.2016, https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/03/18/ eu-turkey-statement/ (abgerufen am 14.12.2019). 54 Funda Tekin, Quadratur des Kreises? Hintergründe der EU-Türkei-Beziehungen, in: APuZ (2017), 9–10 und 36–41.
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an dem Abkommen ist anzumerken, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit einer Einschränkung ratifiziert hat – und diese nur auf Geflüchtete aus Europa anwendet. Die Aufnahme syrischer Flüchtlinge geschieht daher nicht auf völkerrechtlicher Grundlage, sondern als freiwilliger humanitärer Akt. Ein weiteres, bislang weniger genutztes, aber vom UNHCR gefordertes Instrument der externen Migrationspolitik ist das Resettlement von Geflüchteten. Hiermit ist die Neuansiedlung von Flüchtlingen aus den Erstaufnahmestaaten – die in der Regel in der unmittelbaren Nachbarschaft der Herkunftsstaaten liegen – in z. B. europäische oder nordamerikanische Staaten gemeint. Dabei legen die aufnehmenden Staaten Kontingente für die Anzahl der anzusiedelnden Flüchtlinge fest, die dann mithilfe eines regulären Visums einreisen können. Die Kommission hat im Jahr 2017 ein drittes EU-Resettlement-Programm auf den Weg gebracht, mit dessen Hilfe bis Oktober 2019 50.000 Geflüchtete in den EU-Mitgliedstaaten aufgenommen werden sollen. Darüber hinaus hat die Kommission ein dauerhaftes Wiederansiedlungsprogramm vorgeschlagen, über das aber aktuell noch keine Einigung erzielt wurde (Stand: März 2019). c) Die Grenzen der Versicherheitlichung Trotz der Versuche der Staaten, Sicherheits- und Kontrollaspekte zu stärken, bestehen in Europa Institutionen, die der Versicherheitlichung Grenzen setzen. Dazu zählen vor allem menschenrechtliche Garantien, die die Staaten durch die Ratifizierung z. B. der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingegangen sind und die durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) überwacht werden. So wurden beispielsweise Überstellungen gemäß der Dublin-Regelungen55 in manche EU-Mitgliedstaaten zeitweise oder für bestimmte Personengruppen ausgesetzt, da ein Schutz ihrer Rechte dort nicht gewährleistet werden konnte. Staaten sind dementsprechend verpflichtet, der menschlichen Sicherheit eine höhere Priorität einzuräumen als der Umsetzung der europarechtlichen Regelungen zur Zuständigkeit für Asylverfahren. Dabei muss die Wahrung grundlegender Rechte im Einzelfall geprüft werden.56 Darüber hinaus verurteilte der EGMR im Urteil Hirsi Jamaa vs. Italien die Praxis der sogenannten „Push-Backs“ nach Libyen auf der Basis des ItalienischLibyschen „Freundschaftsvertrags“.57 55 Entsprechend der sogenannten Dublin-Verordnung ist in Europa in der Regel der Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in den die betreffende Person zuerst eingereist ist. Falls sie danach in einen anderen Staat der EU weiterwandert, kann dieser die Antragstellerin bzw. den Antragsteller in den Ersteinreisestaat überstellen. 56 Dana Schmalz, Genauer hinschauen: Der Beschluss des BVerfG zu einer Abschiebung nach Griechenland. Verfassungsblog, 24. Mai 2017, https://verfassungsblog.de/genauer-hinschauen-der-beschluss-des-bverfg-zueiner-abschiebung-nach-griechenland/ (abgerufen am 14.12.2019). 57 Irini Papanicolopulu, Hirsi Jamaa v. Italy, in: The American Journal of International Law 107 (2013), Heft 2, 417.
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Ausgewählte Aspekte der europäischen Integration im Bereich Migration
EUROPÄISCHE INTEGRATION ALLGEMEIN 1951
1957
1992
Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
1997
Vertrag von Maastricht (in Kraft 1993)
(in Kraft 1958)
2004
2007
Vertrag von Amsterdam
Vertrag von Lissabon
(in Kraft 1999)
(in Kraft 2009)
Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS)
Erweiterung um zehn osteuropäische Staaten
(in Kraft 1952)
Schengener Abkommen
Schengener Durchführungsübereinkommen Dublin-Übereinkommen (in Kraft 1997)
1985
1990
Erste Phase des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS); u.a. Dublin-II-VO
Zweite Phase des GEAS; u. a. DublinIII-VO Global Approach to Migration and Mobility (GAMM, 2011)
Gründung Frontex (2004) Richtlinien zum Familiennachzug (2003), zum Daueraufenthalt (2003), für Studien- und Forschungszwecke (2004/2005) Global Approach to Migration (GAM, 2005)
2011–2013
Verhandlungen über die dritte Phase des GEAS
Blue CardRichtlinie (2009)
Richtlinie zu Studien- und Forschendenmigration (2016)
2001–2005
2009
Seit 2016
MIGRATIONSSPEZIFISCHE INTEGRATIONSSCHRITTE Abbildung 1: Ausgewählte Aspekte der europäischen Integration im Bereich Migration.
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Betrachtet man Grenzen als soziales Phänomen, das AkteurInnen durch ihr Handeln produzieren, wird außerdem deutlich, dass die Konstruktion von Migration als sicherheitsrelevantes Phänomen ebenso wenig unumstößlich ist wie die restriktiven Politiken, die zu ihrer Kontrolle institutionalisiert werden. Dies wurde besonders deutlich im ‚langen Sommer der Migration‘, in dem sich Gruppen von MigrantInnen dem herrschenden Grenzregime widersetzt und Einlass in die mitteleuropäischen Staaten verlangt haben. Dies wurde begleitet von einer Wende im Diskurs hin zu einer stärkeren humanitären Färbung, die die Notwendigkeit der Schutzgewährung in den Vordergrund stellte. Seit 2016 versuchen jedoch wieder gesellschaftliche Kräfte an Einfluss zu gewinnen, die einen stärkeren Fokus auf Kontrolle und Sicherheit legen. „Wie dieses Kräftemessen zwischen Kontrolle und dem Begehren der Migration nach einem anderen Leben ausgehen wird, ist eine tagtägliche Frage der Kräfteverhältnisse.“58
IV. Perspektiven für die zukünftige Entwicklung Die bisherige Entwicklung der Europäischen Migrationspolitik hat gezeigt, dass die fortschreitende Vergemeinschaftung kein ‚Selbstläufer‘ ist. Zwar sorgt der Binnenmarkt für Verflechtungen zwischen seinen Mitgliedern, die Druck zur Schaffung gemeinsamer Regelungen ausüben. Dennoch führt die Sensibilität des Politikfelds dazu, dass sich die Mitgliedstaaten immer wieder gegen die Abgabe von Kompetenzen wehren oder diese – wie im Fall des Amsterdamer Vertrags – zumindest hinauszögern. Darüber hinaus zeigt sich, dass implementation gaps entstehen, wenn die europäischen Regelungen nationalen Interessen zuwiderlaufen. So wurden bestehende Regelungen wie z. B. die offenen Grenzen des Schengenraums oder Überstellungen nach der Dublin-Verordnung zeitweise ausgesetzt und einige Mitgliedstaaten verweigerten sich der Umverteilung von Asylsuchenden aus besonders betroffenen Staaten an den Außengrenzen. Aktuell stehen die Regelungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erneut in einem Reformprozess, der sich bereits über mehrere Jahre erstreckt. Besonders schwierig ist der Umgang mit der Frage nach der Verteilung von Zuständigkeiten bzw. der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Zwar spricht der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union von einer gemeinsamen Migrationspolitik, „[…] die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet“ (Art. 67); in der Praxis scheint dieses Ziel insbesondere bezogen auf die Aufnahme von Asylsuchenden in den letzten Jahren aber in weite Ferne gerückt. Verbindliche Regelungen, die die Staaten im Zweifel zur Aufnahme von Drittstaatsangehörigen 58 Sabine Hess/Bernd Kasparek/Maria Schwertl, Regime ist nicht Regime ist nicht Regime. Zum theoriepolitischen Einsatz der ethnografischen (Grenz-) Regimeanalyse, in: Andreas Pott/Christoph Rass/Frank Wolff (Hrsg.), Was ist ein Migrationsregime? What is a migration regime? (Migrationsgesellschaften), Wiesbaden, Germany 2018, 257–283, 277.
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verpflichten – beispielsweise durch feste Quoten für die Aufnahme oder Verteilung von Asylsuchenden oder auch gemeinsame Regelungen für die Zuwanderung nicht hochqualifizierter Arbeitskräfte – sind besonders umstritten. Demgegenüber ist die Kooperation bei der Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten leichter zu erreichen und die Staaten sind zunehmend gewillt, dies auch mit finanziellen Mitteln zu unterstützen, wie sich beispielsweise in der Zusammenarbeit mit der Türkei gezeigt hat. Derartige Zusammenarbeit auch mit autoritären oder instabilen Staaten wie Libyen steht potentiell in einem Spannungsverhältnis mit menschen- und völkerrechtlichen Verpflichtungen der EU, deren Einhaltung durch die entsprechenden europäischen Gerichte (EuGH und EGMR) überwacht werden muss. Die Migrationspolitik in ihren verschiedenen Dimensionen wird damit zunehmend zum zentralen Politikfeld in der Frage nach der Zukunft der Europäischen Union. Beispielsweise war die Binnenzuwanderung aus osteuropäischen Staaten ein Kernargument der Brexit-BefürworterInnen. Ähnlich nutzen Ungarn und Polen die Asylzuwanderung in ihren Kampagnen gegen eine ‚Bevormundung aus Brüssel‘. Dabei wird oft übersehen, dass die Detailfragen der Zuwanderung aus Drittstaaten eng mit dem Kernprojekt der EU, dem Binnenmarkt, verwoben sind. Der Binnenmarkt ist wirtschaftlich eindeutig vorteilhaft für die Mitgliedstaaten und wird seine Anziehungskraft daher bei allen nationalistischen Debatten in den kommenden Jahren sicher nicht vollständig verlieren. Die Theorie des Neofunktionalismus verdeutlicht, dass die bereits entstandenen Verflechtungen eine Zusammenarbeit in weiteren Bereichen erfordern. Zudem zeigen die langwierigen und schwerfälligen Diskussionen um den Brexit, wie schwer es ist, die einmal eingegangenen Verflechtungen wieder zu lösen. Will die EU den Binnenmarkt erhalten, wird sie zumindest ein Mindestmaß gemeinsamer Migrationspolitik erhalten müssen. Allerdings deuten die aktuellen Entwicklungen durchaus darauf hin, dass die zukünftige europäische Migrationspolitik restriktiver ausgestaltet sein könnte, sodass Zusammenhalt im Innern möglicherweise durch eine stärkere Abgrenzung nach außen erkauft wird. Europäische Asylverfahren in Transitlagern auf dem afrikanischen Kontinent sind ein mittelfristig durchaus realistisches Szenario, das bereits heute kontrovers diskutiert wird. Erkennbar ist zudem bereits eine gemeinsame Flüchtlingspolitik unterschiedlicher Tiefe. Während Deutschland, Frankreich und einige wenige andere Länder mittlerweile grundsätzlich zu den Befürwortern gemeinsamer Verteilsysteme gelten können, werden sich zahlreiche osteuropäische Staaten in absehbarer Zeit nicht wirksam einbinden lassen. Es bleibt daher in der Flüchtlingspolitik kaum eine Alternative zu einem ‚Europa der mehreren Geschwindigkeiten‘. Gleichzeitig können der demographische Wandel und eine positive wirtschaftliche Entwicklung den Bedarf an Arbeitskräften, auch aus dem Ausland, stärker in den Blick rücken. Ansätze hierzu zeigen sich bei der Anwerbung von Hochqualifizierten, doch auch in anderen Sektoren wie z. B. der Pflege werden Arbeitskräfte in vielen Staaten dringend benötigt. Denkbar wären daher gemeinsame, aber flexible Regelungen, die den Staaten ein gewisses Steuerungspotenzial beispielsweise in Bezug auf die Zuwanderung für bestimmte Arbeitsmarktbereiche belassen. Inwieweit die EU bei der versuchten Steuerung der Zuwanderung auch ihre Verantwortung für die Situation in Herkunfts- und Transitländern anerkennt, wird sich zeigen müssen.
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Alexander Merkl
Der „reife Mensch“ (Max Weber) Über die Tragfähigkeit der Distinktion zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Anwendungskontext von Migration und Flucht I. Der ‚entscheidende Punkt‘ – zu Herkunft, Bestimmung und Bedingtheit der Distinktion zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik Die antinomische Distinktion von (prinzipien- bzw. wertbasierter) Gesinnungsethik und (folgenorientierter) Verantwortungsethik geht ursprünglich auf Max Weber (1864–1920) und dessen Vortrag „Politik als Beruf“1 aus dem Jahr 1919 zurück. Weber aber war seiner Profession nach kein dezidiert ethischer Denker, kein Philosoph oder gar Theologe, sondern allen voran Soziologe, akademischer Lehrer ebenso wie politischer Schriftsteller, dessen eigene parteipolitische Karriere wenig erfolgreich verlaufen war.2 Dennoch prägen seine insgesamt wenig umfangreichen Ausführungen zur Gesinnungs- und Verantwortungsethik in „Politik als Beruf“ als Termini technici das politisch-ethische Nachdenken und Argumentieren bis heute.3 Dies gilt gegenwärtig insbesondere für die kontroversen Debatten um Flucht und Migration.4 Webers Darstellungen müssen dabei immer auch vor ihrem zeithistorischen Entstehungshintergrund und in ihrem konkreten Interpretationskontext5 betrachtet werden. Seinen zu1 Max Weber, Politik als Beruf, in: Ders., Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919 (Max-Weber Gesamtausgabe I/17), hrsg. von Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter, Tübingen 1992, 157–252. 2 Max Weber war im Dezember 1918 als Kandidat der Deutschen Demokratischen Partei für die Wahlen zur Nationalversammlung angetreten und gescheitert. 3 Julian Nida-Rümelin, Verantwortung, Stuttgart 2011, 179: „Diese Unterscheidung eines Soziologen hat vermutlich mehr Einfluss auf das ethische Räsonieren außerhalb der Philosophie gehabt als alle ethischen Theorieentwürfe des 20. Jahrhunderts zusammen.“ 4 Für eine Unterscheidung der Begriffe siehe z. B. Alexander Merkl, Europas ‚Rendezvous‘ mit der Globalisierung. Grundlinien einer christlichen Migrationsethik, in: Militärseelsorge Dokumentation 54 (2016), 139–152, 140 f. 5 Weber hielt seinen Vortrag im Rahmen einer vom bayerischen Landesverband des Freistudentischen Bundes ausgerichteten Vortragsreihe zum Thema ‚Geistige Arbeit als Beruf‘ am 28. Januar 1919 in München. Vgl. Marianne Heimbach-Steins, Streit um den migrationsethischen Horizont. Umfassende Reflexion der Wirkungen, in: Herder Korrespondenz Spezial (2/2018), 45–49, 47: „Mit seinem Vortrag ‚Politik als Beruf‘ (1919) hatte Weber das Begriffspaar in die politisch und intellektuell aufgeheizte Debatte um die Kriegsschuldfrage nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt und gegen die revolutionären Bestrebungen Position bezogen.“
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nächst weitgehend frei gehaltenen, lediglich auf einem Stichwortmanuskript fußenden und erst später verschriftlichten und publizierten Vortrag hatte Weber wohl nur deswegen gehalten, weil er verhindern wollte, dass der damalige bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner an seiner Stelle sprach, den er für einen revolutionäre Ideen verbreitenden Gesinnungspolitiker hielt. Ebenfalls aber waren es Weber wichtige Anliegen, einerseits einen Beitrag zur damals aktuellen (kulturkritischen) Diskussion6 um die Politik als Beruf zu leisten sowie andererseits den pazifistisch gesonnenen Münchener Studenten entgegenzuhalten, dass sie den Beruf zur Politik nicht hätten. Wichtig an diesem unmittelbaren Kontext ist, dass Weber, wenn er von ‚Gesinnungsethik‘ spricht, Personen, die mit der späteren Münchener Räterepublik sympathisierten und an ihr aktiv beteiligt waren, vor Augen hat. Direkt spricht Weber in seinem Vortrag von ‚einem überzeugten gesinnungsethischen Syndikalisten‘. […] In diesem Zusammenhang muss Weber sich nicht nur von den Gesinnungspolitikern abgrenzen, sondern sich auch mit denen auseinandersetzen, die Politik als ein unmoralisches Geschäft [so z. B. Werner Sombart] und den Politikerberuf als unehrenhaft ansehen.7
Die Durchsicht von „Politik als Beruf“ zeigt, dass Weber erst gegen Ende seiner Schrift ethische Themen, darunter die Distinktion zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, zu berühren beginnt. Zuvor geht es ihm, stets mit Blick auf verschiedene zeitliche und kulturelle Kontexte, um die Bestimmung eines prägnanten Politikbegriffs, um staatsphilosophische Überlegungen und um die Geschichte sowie die (damals gegenwärtige) Entwicklung des Politikerberufs und des Parteiensystems. Erst im letzten Textviertel stellt Weber die explizite Frage nach dem Verhältnis von Politik und Ethik8, ausgehend wiederum von der Fragestellung, wie der Politiker der Macht9 und der ihm auferlegten Verantwortung gerecht werde: „Damit betreten wir das Gebiet ethischer Fragen; denn dahin gehört die Frage: was 6 Martin Leiner, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik – ein Gegensatz?, in: Jürgen Boomgaarden/Martin Leiner (Hrsg.), Kein Mensch, der der Verantwortung entgehen könnte. Verantwortungsethik in theologischer, philosophischer und religionswissenschaftlicher Perspektive, Freiburg i. Br. 2014, 194–224 und 199–205, 201 und 203 f. weist insbesondere auf die folgenden beiden Kontexte des Vortrags hin: „Der erste engere und wichtigere Kontext sind die Münchener Räterepublik und die Sympathien einiger Schüler von Weber wie Ernst Toller für deren Gedankengut. […] Der zweite Kontext, in dem man den Vortrag Politik als Beruf lesen muss, sind denn auch die Diskussionen, die ab 1907 zwischen Werner Sombart, Friedrich Naumann und andere über die ‚Politik als Beruf‘ – so der Titel eines Beitrags von Sombart – geführt wurde.“ 7 Ebd., Gegensatz, 203. 8 Begriffstheoretisch treffender wäre wohl die Gegenüberstellung von Moral und Politik gewesen, insofern es sich bei der Ethik um die zwar praxisorientierte, aber doch zunächst theoretische Reflexion der Moral und des gelebten Ethos auf einer Metaebene handelt. 9 Der Machtbegriff ist für Weber in diesem Kontext schon deswegen sehr bedeutsam, weil er die Politik eingangs als „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“ definiert sowie knapp zusammenfasst: „Wer Politik treibt, erstrebt Macht“ (Weber, Politik als Beruf, 159).
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für ein Mensch man sein muß, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen.“10 Zumindest auf drei Aspekte sei hier hingewiesen, die Weber in seiner Antwort darauf anspricht. Dabei wird zugleich deutlich werden, dass die Erörterungen Max Webers ethisch keineswegs nur hinsichtlich seiner wirkmächtigen Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bedenkenswert sind. Denn Weber beginnt mit einem tugendethischen Impuls. So könne man sagen, dass drei Qualitäten vornehmlich entscheidend seien für den Politiker: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Diese Qualitäten bestimmt er als „persönliche Vorbedingungen“11, die das Ethos des Politikers auszeichneten.12 Man könnte aus ethischer Sicht an dieser Stelle auch von sogenannten Sekundärtugenden, das heißt von moralisch zunächst indifferenten Grundhaltungen sprechen, deren moralische Bewertung davon abhängt, wie sie eingesetzt werden.13 Ausgehend von dem für sein Politikverständnis zentralen Machtbegriff weist Weber des Weiteren auf die Eitelkeit14 als falsche Grundhaltung des Politikers hin. Sie nämlich begünstige unsachliches und verantwortungsloses Machtstreben und verleite dazu, Macht nicht als Mittel, sondern als Ziel und als Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung zu erstreben: „Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker täglich und stündlich in sich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz sich selbst gegenüber.“15 Hiernach leitet er am Beispiel „absoluter Ethiken“16 und dadurch für sich allein betrachtet defizitärer Ethiken wie der Bergpredigt17, des Pazifismus oder der Wahrheitspflicht, die alle-
10 Ebd., 226 f. 11 Ebd., 226. 12 Vgl. hierzu nur exemplarisch die honorierende Aufnahme dieser Gedanken durch Altbundeskanzler Helmut Schmidt in: Ders., Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2012, 23: „Fleiß, Urteilskraft, Entschlusskraft und intellektuelle Redlichkeit gehören zu den Vorbedingungen, die einer erfüllen muss, der in der Politik Verantwortung trägt. Ich erinnere an Max Webers berühmte drei Qualitäten, die ‚vornehmlich entscheidend‘ sein sollen, wenn ‚Politik als Beruf‘ ausgeübt wird: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß. […] es sind heute wohl noch andere Eigenschaften hinzuzuwünschen: Einfühlungsvermögen beispielsweise, die Fähigkeit zur Formulierung, auf jeden Fall Zivilcourage.“ 13 Weitere Beispiele für solche Sekundärtugenden sind beispielsweise Pünktlichkeit, Fleiß oder Sparsamkeit. 14 An dieser Stelle darf auf die breite (theologisch-)ethische Tradition der sogenannten vitia capitalia, der Sieben Hauptlaster, die vielfach auch fälschlich als die ‚Sieben Todsünden‘ bezeichnet werden, hingewiesen werden. Hierunter wird schon früh das eitle Ruhmstreben, die griechischsprachige kenodoxia bzw. lateinischsprachige inanis gloria, gefasst. Vgl. nur exemplarisch die Ausführungen Thomas von Aquins in seiner Summa theologiae, dort STh II-II q. 132 (Thomas von Aquin, Tapferkeit. Maßhaltung (1. Teil) (DThA 21), kommentiert von Josef Fulko Groner, Graz u. a. 1964). 15 Weber, Politik als Beruf, 228. 16 Ebd., 236 f. Auf Seite 234 spricht er sogar von einer „Ethik der Würdelosigkeit – außer: für einen Heiligen“. 17 Werner Wolbert, Dem Übel nicht widerstehen? Zur Diskussion um Gesinnungs- und Verantwortungsethik, in: Hubert Mockenhaupt (Hrsg.), Gesellschaftspolitische Impulse. Das soziale Seminar. Beiträge zu den Fragen
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samt nicht nach den Folgen fragten – eine Annahme, die im Einzelnen kritisch zu beleuchten wäre18 –, auf den für ihn „entscheidende[n] Punkt“ über: Wir müssen uns klar machen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein.19
Zwischen beiden konstatiert er zunächst einen „abgrundtiefen Gegensatz“. Wichtig ist dabei zu sehen, dass es Weber nicht um die sittliche Gesinnung im Unterschied zur Tat, sondern um zwei verschiedene, offensichtlich unvereinbare ‚Ethiken‘20 bzw. Handlungsmaximen geht. Der Gesinnungsethiker im Sinne Webers nämlich neigt zum Rigorismus bzw. ist rigoristisch, indem er Handlungen primär oder gar nur nach Normen, Wertgrundsätzen und Prinzipien beurteilt. Er schließt eine Güter- und Folgenabwägung, und damit auch die Verursachung eines geringeren und als solchen in Kauf genommenen Übels (minus malum), ebenso aus wie die Aktualisierung intrinsisch schlechter Handlungen (z. B. Betrügen, Lügen, Töten). Die Gesinnungsethik scheint so aufgrund ihres moralischen Idealismus, ja bisweilen gar Utopismus, nur für einen ‚Heiligen‘ praktikabel. Weber schließt dies knapp mit dem bekannten Diktum ab: „Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim.“21 Damit ist Gesinnungsethik im Kern nichts anderes als das, was heute ethisch allgemein als Deontologie22 bezeichnet wird. Als ein anschauliches Beispiel für eine gesinnungsethische
der Zeit, Trier 1989, 99–106, 99: „Der gesinnungsethische Standpunkt ist nach Weber der Standpunkt der Bergpredigt, den sich der Politiker aber nicht zu eigen machen könne.“ 18 Hierzu z. B. Wilhelm Korff, Art. Verantwortungsethik, in: LThK3 10 (2009), 600–603, 602 oder Leiner, Gegensatz, 220–222, der darauf hinweist, dass sich Webers Kritik auf eine „bestimmte Interpretation der Bergpredigt“ richte, „die die radikale Umsetzung von Gewaltlosigkeit, Rechtsverzicht und Armut“ impliziere. „Diese Interpretation ist selbstverständlich nicht die einzige, die es in der Geschichte des Christentums gegeben hat. Sie ist auch nicht das einzig mögliche exegetische Verständnis dieses Textes.“ Auch der Begriff des Pazifismus wird heute differenzierter gebraucht als zu den Zeiten von Max Weber. 19 Weber, Politik als Beruf, 237. 20 Zur Weberʼschen Verwendung des Ethikbegriffs vgl. Bernward Grünewald, Gesinnung oder Verantwortung? Über den Widersinn der Entgegensetzung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, in: Hubertus Busche/ Anton Schmitt (Hrsg.), Kant als Bezugspunkt philosophischen Denkens, Würzburg 2010, 85–100, 87 f.: „Zunächst handelt es sich natürlich beide Male überhaupt nicht um ‚Ethiken‘ im Sinne einer moralphilosophischen Theorie, sondern um Haltungen, allenfalls das also, was man genauer als ‚Ethos‘ zu bezeichnen pflegt“. 21 Weber, Politik als Beruf, 237. 22 Vgl. für diese Gleichsetzung Wolbert, Diskussion, 102 oder auch Johannes Fischer u. a., Grundkurs Ethik, Stuttgart 22008, 429. Diese wie auch die folgende Zuordnung von Verantwortungsethik und Teleologie ist grundsätzlich plausibel und zulässig, wobei sich auch Kritik (vgl. z. B. Grünewald, Gesinnung oder Verantwortung?, 87 f.) gegen diese Gleichsetzung richtet, insofern es sich bei Weber nicht um die Klassifizierung von Ethiktypen handle. Weber spräche letztlich über ein politisches Ethos.
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Position wird sodann oft auf Immanuel Kant verwiesen, den Weber selbst jedoch nicht nennt.23 Dementgegen bedenke der Verantwortungsethiker die (voraussehbaren)24 Folgen einer Handlung, er rechne „mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen“25. Somit unterscheidet sich der Verantwortungsbereich der beiden Maximen: „Der Bereich, für den der Gesinnungsethiker Verantwortung übernimmt, beschränkt sich auf sein eigenes Gewissen, der Verantwortungsethiker sorgt sich auch um die Außenwelt und nimmt – i. S. einer Güterabwägung – unter Umständen auch moralisch bedenkliche Mittel in Kauf, um größere Übel zu vermeiden.“26 Damit meint Verantwortungsethik der Sache nach das, was im Ethischen als Teleologie oder als Konsequentialismus bezeichnet wird. Sie erweist sich als richtungsgebend für den Beruf des Politikers, weil sie realitätsnah und nüchtern kalkulierend, obgleich potentiell konfliktträchtig ist, „wenn nämlich das Ziel, das verantwortungsethisch erstrebt wird, aufgrund der gegebenen Umstände nur mit einem Handeln erreicht werden kann, das aus gesinnungsethischer Perspektive fragwürdig ist, weil mit ihm eine Handlungsweise […] aktualisiert wird, die in sich moralisch falsch oder verwerflich ist.“27 Auch wenn Weber bereits zu Beginn der relevanten Passage schreibt, dass Gesinnungsethik keineswegs mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik nicht mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre, wirft die Rede von einem ‚abgrundtiefen Gegensatz‘ oder von zwei ‚unaustragbar gegensätzliche Maximen‘ sowie die Behauptung, es sei nicht möglich, „Gesinnungs- und Verantwortungsethik unter einen Hut zu bringen“28, doch unweigerlich die Frage auf, ob es sich tatsächlich um völlig unvereinbare, kontradiktorische Gegensätze handelt. Dies mag zunächst den Anschein haben, doch holt Weber diese absolute Position zum Ende von ‚Politik als Beruf‘ wieder ein:
23 Grünewald, Gesinnung oder Verantwortung?, 94–99; sowie Leiner, Gegensatz, 214–217 zeigen auf, dass die Ethik Kants kein Beispiel für Gesinnungsethik ist. 24 Hierzu kritisch nochmals Schmidt, Verantwortung, 51: „Ich möchte [bei Max Weber] am liebsten das Wort ‚voraussehbar‘ streichen, obwohl es natürlich für den Politiker angenehmer ist, wenn ihm attestiert wird, dass er nur für die voraussehbaren Folgen aufkommen müsse. In Wirklichkeit muss der Politiker auch für die Folgen aufkommen, die er nicht voraussehen kann.“ 25 Weber, Politik als Beruf, 238. Dazu Konrad Hilpert, Ethik des glückenden Lebens. Perspektiveröffnungen, Freiburg i. Br. 2018, 37 f.: „Nach dem Muster der Verantwortungsethik kann sich der Handelnde gerade nicht hinterher herausreden auf Normen, die ihm vorgegeben waren. Und eben auch nicht auf Gehorsam oder Pflichttreue, die gar nicht mehr nachzudenken verlangen, ob das in diesem oder jenen Fall Verlangte inhaltlich falsch sein könnte oder Schaden anrichtet.“ 26 Micha H. Werner, Art. Verantwortung, 2. Historischer Überblick, in: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/ Ders. (Hrsg.), Handbuch Ethik, Stuttgart 32011, 543–545, 544. 27 Johannes Fischer, Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung? Über Gesinnungsethik, Verantwortungsethik und das Verhältnis von Moral und Politik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 60 (2016), Heft 4, 297–306, 298. 28 Weber, Politik als Beruf, 240.
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Wahrlich: Politik wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiß nicht nur mit dem Kopf gemacht. Darin haben die Gesinnungsethiker durchaus recht. Ob man aber als Gesinnungsethiker oder als Verantwortungsethiker handeln soll, und wann das eine und das andere, darüber kann man niemandem Vorschriften machen.29
Daran anschließend präzisiert Weber das Verhältnis von Gesinnungs- und Verantwortungsethik noch weiter, indem er zwischen den gesinnungsethischen „Windbeuteln“, die in der Mehrzahl seien und nicht real fühlten, was sie auf sich nähmen, sondern sich an romantischen Sensationen berauschten, und einem „reifen“ bzw. „echten Menschen“ unterscheidet, der sowohl jung als auch alt sein könne und der die „Verantwortung für die Folgen real und mit voller Seele empfindet und verantwortungsethisch handelt“, jedoch „an irgendeinem Punkte sagt: ‚ich kann nicht anders, hier stehe ich‘.“ Daraus zieht Weber im unmittelbaren Anschluss die folgende Schlussfolgerung. Darin gibt er zugleich die Antwort auf die oben zitierte Leitfrage, was für ein Mensch man sein müsse, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte zu legen: Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann.30
Der ‚reife‘ Politiker und politische Führer ist somit nach Weber einer, der auch gesinnungsethisch handeln kann, wenn er sich dazu verpflichtet fühlt, ohne hierbei jedoch die erforderliche Folgenabwägung aus dem Blick zu verlieren. Gesinnungs- und Verantwortungsethik sind daher in der (politischen) Praxis keineswegs absolute Gegensätze als vielmehr komplementäre Ansätze31 „unter Vorrang der realpolitischen Orientierung“32. Der ‚reife Mensch‘ weiß sowohl um das gesinnungsethische Fundament33 als auch um die Bedeutung der Folgen seiner Handlung.
29 Ebd., 249. 30 Ebd., hier und zuvor 250. 31 Alois Baumgartner, Art. Gesinnung, Gesinnungsethik, in: LThK3 4 (2009), 596 f., 597: „Weber beschreibt freilich weniger alternative, sich ausschließende Konzepte ethischen Argumentierens als vielmehr Idealtypen moralischen Handelns, die in der Wirklichkeit sehr wohl koexistieren und sich ergänzen können.“ Weber selbst jedoch arbeitet nicht näher aus, wie sich diese Komplementarität im Einzelnen und im Konkreten Ausdruck verleiht. Umso mehr ist hier die gegenwärtige Ethik herausgefordert. 32 Otfried Höffe, Lexikon der Ethik, 7. neubearbeitete und erweiterte Aufl., München 2008, 108. 33 Hilpert, Ethik, 39 f.: „Auch Verantwortungsethik braucht Gesinnung, also guten Willen, Prinzipien, Lauterkeit der Absicht, Redlichkeit der Person, Glaubwürdigkeit in den Überzeugungen, sonst wird sie ziellos und planlos oder gar zynisch. Genauso schlimm wie eine utopistische Gesinnungsspinnerei wäre die Ausrichtung aller Entscheidungen auf die Maximierung des Erfolgs und auf reine Nützlichkeitskalküle. Es darf nicht dazu kommen, dass der Zweck die Mittel heiligt.“
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Mit der eingangs recht deutlichen Kontrastierung beider Modelle will sich Weber letztlich vor allem gegen die radikalen Tendenzen seiner Zeit, allen voran gegen den radikalen Pazifismus, kritisch positionieren und die besondere ethische Herausforderung des Politikers herausstellen, die sich nicht im Beharren auf (persönliche) moralische Wertgrundsätze oder Prinzipien erschöpft. Dabei ging es Weber sicherlich nicht um eine Ausgliederung34 der Moral aus der Politik bzw. der moralischen35 aus der politischen36 Verantwortung oder gar um ein Plädoyer für eine Politik ohne Moral, sondern um die Sensibilisierung für die politischethische Grundfrage nach einem verantworteten Verhältnis von Moral und Politik. Hierzu weist er zwar auf das Spannungsverhältnis von Gesinnungs- und Verantwortungsethik hin, macht aber auch deutlich, dass dieses keinen Platz für Radikalität lässt. Weder könne sich der ‚reife‘ Politiker daher an radikalen Auslegungen (religiöser) Werte und Prinzipien allein ausrichten, noch könne er gänzlich ohne Ziele und Werte, aber auch nicht alleine mit Blick auf die vorhersehbaren Folgen, verantwortungsvoll handeln. Im Gesamt betrachtet entwirft der Soziologe Max Weber somit gewiss einen areligiösen37, auf die Rolle des Politikers und damit individualethisch fokussierten sowie stark zeithistorisch und damit kontextuell bedingten Ansatz. Durch seine Überlegungen befördert, stieg der Verantwortungsbegriff nach dem Ersten Weltkrieg zu einem „neuen ethischen Grundbegriff“38 auf. Seine komplementäre Distinktion zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik wird bis heute rezipiert. Festzuhalten ist aber auch, dass er mit seiner wirkmächtigen Unterscheidung ein theoretisch nicht weiter ausgearbeitetes und somit keineswegs ein stringentes, ethisches Konzept entworfen hat. Gewiss ging es ihm nicht um einen umfassenden Gesamtentwurf oder 34 In diese Richtung aber scheint z. B. die Lesart von Fischer, Verantwortung, 297–306 zu gehen. 35 Für eine knappe Begriffsbestimmung ‚moralischer Verantwortung‘ siehe Nida-Rümelin, Verantwortung, 170: „Da wir für alles dasjenige verantwortlich sind, für das wir Gründe haben, kann nicht jede Form der Verantwortlichkeit als eine moralische gelten. Moralische Verantwortung tragen wir dort, wo moralische Gründe uns leiten oder jedenfalls leiten sollten.“ 36 Zum Begriff der ‚politischen Verantwortung‘ an dieser Stelle siehe allgemein Nida-Rümelin, Verantwortung, 144: „Politische Verantwortung im weiteren Sinne umfasst die Verantwortung des polites, des Vollbürgers im Verständnis der griechischen Klassik, dessen Gegenmodell, der idiotes, der reine Privatmann, als eine defiziente Lebensform begriffen wurde. Politische Verantwortung im engeren Sinne ist die Verantwortung des Politikers in einem öffentlichen Amt, eventuell auch die Verantwortung eines kollektiven politischen Akteurs“. 37 Ulrich H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik, Göttingen 32012, 96 f.: „Max Weber dagegen hat das verantwortungsethische Modell als Alternative zu einer religiös begründeten Ethik verstanden, die unter den Voraussetzungen der säkularen Gesellschaft keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben könne.“ 38 Ebd., 92. Hinzuweisen wäre in der Folge auf Denker wie Hans Jonas (ders., Das Prinzip der Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979); Karl-Otto Apel (ders., Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt a. M. 1988); Emmanuel Lévinas (ders., Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br. 1992) oder FranzXaver Kaufmann (ders., Der Ruf nach Verantwortung. Risiko und Ethik in einer unüberschaubaren Welt, Freiburg i. Br. 1992).
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die abschließende Begründung einer ethischen Theorie, wobei einige seiner oftmals kaum beachteten Ausführungen ethischen Gehalts (Sekundärtugenden, Eitelkeit) durchaus bedenkenswert sind, sondern um die Kritik an zeitaktuellen Positionen sowie dann um die spezifische Verfasstheit der Sphäre des Politischen und um die politische Verantwortung. „Das eigentliche Thema des Vortrags ist also nicht die Ethik und die Unterscheidung zweier Typen ethischen Denkens.“39 Dies deutet schon an, dass sich eine zeitgemäße Ethik nicht im Paradigma von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, wie es Weber vor mehr als 100 Jahren vorgezeichnet hat, erschöpfen kann. Es bedarf einerseits einer vollständigen Rezeption, andererseits und mehr noch aber der Weiterentwicklung, allen voran der Ausdifferenzierung.
II. Max Webers Unterscheidung heute: Rezeptionskritik und Differenzierungsbedarf Im Wissen darum seien nun einige weitführende und kritische Überlegungen aus ethischer Sicht angeschlossen. Zu sprechen ist dabei zunächst über die gegenwärtige Rezeption der Weberʼschen Konzeption, ohne pauschalisieren zu wollen. Mit der katholischen Sozial ethikerin Marianne Heimbach-Steins aber muss hier allgemein konstatiert werden, dass die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik „vielfach in einer verkürzenden Weise rezipiert [wird], die weder Webers ursprünglichem Ansatz gerecht wird noch die Komplexität der aktuellen Situation angemessen aufgreift.“40 Dass dies insbesondere im Kontext von Flucht und Migration gilt, wird am Beispiel von Konrad Otts „Zuwanderung und Moral“ sogleich zu zeigen sein. So wird nicht selten unterschlagen, dass es um das Ethos des Politikers41, nicht aber des Wissenschaftlers oder anderer Personengruppen geht. Ebenso wird die grundsätzlich konstruktive, eben komplementäre Zuordnung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik allzu häufig ausgeblendet bzw. nur genannt, ohne daraus die in konzeptioneller Hinsicht erforderlichen Schlüsse zu ziehen. Gesinnungs- und Verantwortungsethik werden als scheinbar unvereinbare oder zumindest kaum vereinbare Gegensätze behandelt. Sie werden in Teilen sogar instrumentalisiert, um politische Positionen zu kontrastieren. Im Ergebnis steht eine unverhältnismäßige und dem Anliegen Webers nicht entsprechende Polarisierung zwischen gesinnungs- und verantwortungsethischer Positionen. Dementgegen steht die Forderung, angesichts der komplexen Gegenwartsituation, die sich durch Polarisierungen scheinbar einfach, aber doch kaum abschließend einfangen und beschreiben lässt, zum einen nicht die 39 Fischer, Politische Verantwortung, 298. Siehe auch Michelle Becka, Verantwortung übernehmen. Christliche Sozialethik und Migration, in: Stimmen der Zeit 236 (2018), Heft 5, 343–352, 343. 40 Heimbach-Steins, Streit, 47. 41 Dies macht aber nochmals deutlich, dass der Verantwortungsbegriff Webers ein (nur) individualethischer ist.
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ursprüngliche Intention Webers und die seinem Modell inhärenten Grenzen außer Acht zu lassen, zum anderen aber auch, über weiter erforderliche Differenzierungen nachzudenken. Dafür ließe sich bei den beiden zentralen Grundbegriffen der ‚Verantwortung‘ und der ‚Folgen‘ ansetzen, ohne diesen hier auch nur annähernd und umfassend gerecht werden zu können. Sich an den Folgen zu orientieren, heißt für Weber wie gesehen zunächst, die vorhersehbaren sowohl positiven als auch negativen Folgen abzuwägen. Dies ist eine wichtige Einschränkung gegen eine überbordende Verantwortlichkeit und den Vorwurf der Unmöglichkeit, alle Folgen einer Handlung individuell auch nur annähernd antizipatorisch einfangen zu können.42 Doch selbst dies kann gerade im politischen oder in anderen komplexen Kontexten immer nur einem Versuch gleichkommen und kann kaum je ohne Unsicherheiten, Vermutungen oder Wahrscheinlichkeiten vonstattengehen. Oft lässt die jeweilige Situation eine auch nur annähernd umfassende Abwägung selbst der vorhersehbaren direkten Folgen, oder auch der indirekten Folgen bzw. der Nebenwirkungen, schlichtweg nicht zu. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin geht daher auch so weit zu fragen, ob wir überhaupt für die Folgen unseres Handelns Verantwortung übernehmen können, und kommt zu dem Schluss, dass wir lediglich für unsere Handlungen und in keiner Weise für deren Folgen verantwortlich seien. Handlungen nämlich beinhalteten immer auch eine Wahrscheinlichkeitsverteilung über mögliche Handlungsfolgen: Ich trage also insofern Verantwortung für die Folgen meiner Handlungen, als ich mit jeder Handlung, für die ich mich entscheide, auch die Wahrscheinlichkeitsverteilung über Handlungsfolgen akzeptiere. […] Wir tragen mit der Handlung eine Verantwortung für die zu erwartenden Folgen insofern, als wir mit der Entscheidung für eine Handlung auch die durch die Handlung verursachte Wahrscheinlichkeitsverteilung für Folgen akzeptieren. Wir müssen gute Gründe haben, diese Wahrscheinlichkeitsverteilung ihrer Folgen zu akzeptieren. Unsere Verantwortung äußert sich darin, dass wir Gründe angeben können, warum wir diese Risiken und Chancen, die mit der Handlung verbunden sind, akzeptiert haben.43
42 Hierzu kritisch Eberhard Schockenhoff, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, 2. überarbeitete Aufl., Freiburg i. Br. 2014, 524: „Im Allgemeinen versuchen die Vertreter einer teleologischen Ethik dem Problem, dass sich zukünftige Weltzustände in Abhängigkeit von aktuellen Entscheidungsalternativen und ihren jeweiligen Wahrscheinlichkeiten nur unvollständig beschreiben lassen, dadurch zu entgehen, dass sie nur die vorhersehbaren und intendierten Folgen in das Handlungsurteil einbeziehen. Diese Reichweitenbegrenzung steht jedoch in einer merkwürdigen Spannung zu der geforderten Langzeitperspektive, die die Folgen menschlicher Handlungen auf Dauer und im Ganzen bewerten soll. Tatsächlich erscheint der geforderte Abwägungshorizont teleologischer Urteile auf eigenartige Weise zugleich zu eng und zu weit gefasst. Zu eng, weil sich die in moralischer Hinsicht entscheidenden Aspekte von Handlungen zum Zeitpunkt der Bilanzierung ihrer präsumtiven Folgen häufig nicht sicher abschätzen lassen. […] Zugleich ist der Abwägungshorizont aber auch zu weit, da unklar bleibt, inwiefern wir die vorhersehbaren Wirkungen fremder Handlungen in unsere eigenen Pläne einbeziehen müssen.“ 43 Hier lässt sich mit Nida-Rümelin, Verantwortung, 110–113 anschließen.
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Verantwortungsethisches Handeln ist dann nicht einfach nur folgenorientiertes Handeln, sondern die Wahrscheinlichkeit von Risiken (negativen Folgen) und Chancen (positiven Folgen) berücksichtigendes Handeln. Damit wird bereits bis hierher deutlich, wie begrenzt ein Appell zur Folgenorientierung ist. Nun bedürfte diese des Weiteren aber auch noch verbindlicher Kriterien und eines klaren Maßstabes der Bewertung.44 Das heißt, es müsste geklärt werden, „nach welchen Kriterien absehbare oder vermutete Folgen unterschiedlicher Handlungsoptionen gegeneinander abgewogen werden sollen.“45 Die Forderung nach Folgenorientierung alleine liefert diesen Maßstab nicht. An dieser Stelle gewinnen ethische Prinzipien, Normen oder auch Wertekodizes an Relevanz. Gleiches gilt für die wiederum weiterführende Einsicht, dass zu einer Handlung, die einer moralischen Beurteilung unterzogen werden soll, neben den Folgen, die überdies manchmal nicht einmal eine (motivationale) Rolle für die Handlungsentscheidung spielen, noch weitere Elemente zählen: das Subjekt46 selbst, dem die Handlung zugeschrieben werden kann; die Ziele (Absichten, Motive); die Mittel, mit denen diese Ziele versucht werden zu erreichen; die Situiertheit der Handlung (Kontext, Umstände).47 Der Verantwortungsbegriff im Sinne einer Verantwortung für Handlungen steht somit in einem komplexen Bedingungsgefüge und erschöpft sich keinesfalls in einer konsequentialistischen Engführung, obgleich Folgenabwägungen innerhalb philosophischer und theologischer Ethik zweifellos von zentraler Bedeutung sind.48 Darüber hinaus handelt es sich um einen mehrstelligen Relationsbegriff. Es geht um die Verantwortung für oder gegenüber jemandem für etwas aufgrund bestimmter normativer Orientierungsstandards, was wiederum auf einen voraus- bzw. zugrundeliegenden gesin44 Schockenhoff, Grundlegung, 522: „Eine Grundschwierigkeit, die von der scheinbar problemlosen Idee der Folgenabwägung überdeckt wird, liegt darin, dass die teleologische Ethik über kein moralisches Kriterium für die Bewertung von Handlungsfolgen verfügt. Sie versucht vielmehr umgekehrt, den moralischen Wert einer Handlung aus ihrer Folgenbilanz abzuleiten, wobei die Handlungsfolgen als außermoralische Güter und Übel definiert sind. Diese sollen zwar nach ihrer Stellung in der Hierarchie einer objektiven Güterordnung (ordo bonorum) bemessen werden, doch handelt es sich dabei immer nur um relative Unterschiede auf einer Skala nichtsittlicher Werte. Das Urteil über den moralischen Wert einer Handlung kann dagegen erst durch den Vorgang der Güterabwägung bzw. der Folgenbilanzierung aus dem Vergleich der von ihr bewirkten außermoralischen Güter und Übel erschlossen werden.“ 45 Heimbach-Steins, Streit, 48. 46 Gegen eine individualistische Engführung des Verantwortungsbegriffs richtet sich Franz-Josef Bormann, Von der ‚Freiheit‘ und der ‚Verantwortung‘ zur ‚verantworteten Freiheit‘, in: Jürgen Boomgaarden/Martin Leiner (Hrsg.), Kein Mensch, der der Verantwortung entgehen könnte. Verantwortungsethik in theologischer, philosophischer und religionswissenschaftlicher Perspektive, Freiburg i. Br. 2014, 123–146, 133, der darauf hinweist, dass „es neben der einzelnen natürlichen Person […] auch noch weitere institutionelle oder gar kollektive Handlungs- und Verantwortungssubjekte geben kann.“ 47 Hilpert, Ethik, 36. 48 Becka, Verantwortung übernehmen, 344 f.; sowie Schockenhoff, Grundlegung, 521: „Sofern Handeln ein Eingreifen in den Verlauf der Welt meint und mit dem Hervorbringen äußerer Wirkungen verbunden ist, kann es keine Ethik geben, der die Folgen einer Handlung gleichgültig wären.“
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nungsethischen Horizont verweist.49 Der Verantwortung als Zuschreibungsbegriff wohnt damit auch eine zutiefst relationale Dimension inne. Eine Verantwortungsethik rückt entsprechend „die Begegnung mit dem Anderen in den Mittelpunkt“50, zu dessen Gunsten mitunter auch negative Folgen in Kauf genommen werden können. Dieser jemand als der ‚Andere‘51 ist für den Politiker zunächst gewiss jener, der ihm das Amt durch Wahl übertragen hat und damit das durch ihn repräsentierte Gemeinwesen insgesamt, dessen Wohl er verpflichtet ist. Damit aber ist der Kreis der ‚Nächsten‘, gerade dort, wo an einer unantastbaren und gleichen Würde aller Menschen festgehalten wird, nicht schon abgeschlossen. Hier ist auch zu erinnern, dass von Verantwortung nicht nur als prospektiver, von Weber priorisierter52 und auf die zukünftigen Folgen ausgerichteter, sondern auch als retrospektiver zu sprechen ist, von einer Verantwortung im Blick auf Vergangenheit und Geschichte, die mit einer entsprechenden Rechenschaftspflicht einhergeht.53 49 Hier wird Verantwortung als vierstelliger Relationsbegriff gefasst, was aber noch erweitert werden kann, vgl. Traugott Jähnichen, Wirtschaftsethik, in: Wolfgang Huber u. a. (Hrsg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 331–400, 343: „Wer verantwortet was, wofür, weswegen, wovor, wann und wie?“ All dies hätte eine verantwortungsethische Position zu bestimmen. Insbesondere die Frage nach dem ‚wovor‘, das heißt vor welcher Instanz, bleibt dabei „ein Hauptproblem jedes verantwortungsethischen Entwurfs“ (Körtner, Sozialethik, 102). 50 Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands, Gott und die Würde des Menschen, Leipzig/Paderborn 2017, 59. 51 Siehe hierfür die weiterführenden Überlegungen von Dominik Farrenberg/Nadia Kutscher, Welche Verantwortung, welche Gesinnung? Eine Replik auf Konrad Otts Essay „Zuwanderung und Moral“, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft 58 (2017), 251–271, 263 in Rezeption der verantwortungsethischen Positionen Martin Bubers, Jacques Derridas und insbesondere Emmanuel Lévinas: „Laut Lévinas und Derrida ergibt sich Verantwortung bereits aus der bloßen Gegenwart des Anderen, indem diese eine Aufforderung darstellt, dem Anderen zu antworten. Diese Verantwortung ist unendlich und es ist nicht möglich, sich ihr zu entziehen. Verantwortung ist hier also nicht an die Frage gekoppelt, welche Folgen ein bestimmtes Handeln oder eine bestimmte Entscheidung mit sich bringen (können), sondern sie ist dem eigenen Sein durch die Präsenz des Anderen per se inhärent.“ Dies hieße aber auch (265): „Verantwortung endet dann nicht an nationalstaatlichen Grenzen und wird nicht am staatsbürgerlichen Status des Anderen bemessen. […] Die ethische Verantwortung gilt dann dem Anderen in seiner Andersartigkeit und Fremdheit, unabhängig davon, ob dieser als ein junger, aus Nordafrika geflüchteter Mann erscheint oder als eine deutsche Staatsbürgerin, die sich durch Zuwanderung überfremdet fühlt.“ 52 Weber, Politik als Beruf, 232; sowie dazu Leiner, Gegensatz, 208. 53 Hier wird dann auch die Rede von einer besonderen oder ‚höheren‘ Verantwortung (vgl. exemplarisch HeinzGerhard Justenhoven, Europas Verantwortung für die Entstehung von Grundkonflikten in Afrika und der arabischen Welt, in: Marianne Heimbach-Steins (Hrsg.), Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise, Freiburg i. Br. 2016, 174–190, 174) z. B. mit Blick auf Kolonialismus und mit Blick auf die Genese von Fluchtursachen anschlussfähig. Mit Johannes Wallacher/Alexander Heindl, Flüchtlingskrise, Globalisierung und Verantwortung, in: Marianne Heimbach-Steins (Hrsg.), Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise, Freiburg i. Br. 2016, 160–173, 169 kann darüber hinaus auf die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Verantwortung hingewiesen werden: „Die positive Verantwortung ist vor allem vorausschauend und bezeichnet die Verpflichtung, einen aktiven Beitrag zur
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Schon diese ersten basalen begrifflichen Reflexionen zeigen, dass die Tiefendimension des Verantwortungs- wie auch des Folgenbegriffs aus ethischer Sicht weitaus umfangreicher zu bestimmen ist, als dies in der Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik bei Weber, gewiss auch aus den oben genannten kontext- und disziplinspezifischen Gründen, sowie in dessen Rezeption geschieht. Dass es an dieser Tiefendimension und an entsprechenden Differenzierungen insbesondere im Kontext von Flucht und Migration allzu häufig mangelt, sei im nächsten Punkt exemplarisch dargestellt.
III. Anwendungskontext: Migration und Flucht Vorausgeschickt sei, dass es im nun Folgenden nicht um eine sozialethische54 Positionierung für oder gegen eine bestimmte Form der Zuwanderungspolitik oder um einen umfassenden migrationsethischen Entwurf geht, sondern vornehmlich um eine kritische Wahrnehmung des Umgangs mit dem Modell Max Webers in diesem Diskussionskontext. Denn zwar handelt es sich bei Flucht und Migration nach wie vor um eine primär politische Herausforderung, die jedoch zunehmend auch als ethische diskutiert wird. Hierbei entbrannte eine kontroverse Debatte um Gesinnungs- und Verantwortungsethik, der mitunter durch den bei Reclam publizierten Essay „Zuwanderung und Moral“ des Philosophen und Umweltethikers Konrad Ott eine breitere Aufmerksamkeit zukam. 1. Gesinnungsethik als Negativ-Etikett Zunächst ist allgemein festzustellen, dass die Migrations- und Flüchtlingspolitik der Deutschen Bundesregierung, die gerade auch von den beiden christlichen Kirchen unterstützt wird,55 allen voran im Zusammenhang der Ereignisse des Jahres 2015 eben als ‚Gesinnungsethik‘ kritisiert, ja beinahe gebrandmarkt wird. Sie sei verantwortungslos, weil sie nicht an den negativen Folgen für das Gemeinwesen,56 für die staatliche Ordnung und für Unterstützung derjenigen, die in Not sind, zu leisten […]. Die negative Verantwortung formuliert dagegen ein Gebot der Nichtschädigung, insofern damit die moralische Forderung verbunden ist, alle Handlungen zu unterlassen, die andere direkt oder indirekt schädigen.“ 54 Für Positionen der (christlichen) Sozialethik siehe Marianne Heimbach-Steins (Hrsg.), Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise, Freiburg i. Br. 2016. 55 Dies führte sowohl auf evangelischer als auch auf katholischer Seite zu lebhaften Debatten, wie die hier zitierten Beiträge vor Augen führen. Siehe Thorsten Moors, Moralisches Unbehagen. Die theologische Debatte um Flucht und Migration und das Verhältnis von Politik und Moral, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 62 (2018), Heft 4, 248–262 für eine Zusammenfassung der evangelischen Diskussion und Ulrich H. J. Körtner, Mehr Verantwortung, weniger Gesinnung. In der Flüchtlingsfrage weichen die Kirchen wichtigen Fragen aus, in: Zeitzeichen 17 (2016), Heft 2, 8–11 für eine kritische Bewertung der kirchlichen Stellungnahmen. 56 Dazu kritisch Heimbach-Steins, Streit, 48: „Diese Wahrnehmung verkürzt die ethische Herausforderung auf
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die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger orientiert gewesen sei. Dabei wird die Unterscheidung zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik vor allem von Kritikern57 der deutschen Flüchtlingspolitik, gleich einem Topos, als rhetorische Kontrastfolie eingebracht. Dies hat Folgen: Der Vorwurf ‚Gesinnungsethiker‘ zu sein, ist längst eine Allzweckwaffe im politischen und öffentlichen Diskurs geworden, die denjenigen der Naivität bezichtigt, der nicht zuerst und ausschließlich in Kategorien politischer Machbarkeit denkt, wobei Machbarkeit eng geführt wird auf das, was als Weg des geringsten Widerstands oder nicht selten als Festhalten am Status quo erscheint.58
Gesinnungsethik wird dadurch zu einem durchweg negativ konnotierten Prädikat, zu einem Instrument der Polarisierung, ja auch zum ‚Kampfbegriff‘ zu Zwecken der Polemisierung und Desavouierung, zumindest aber zu einer Etikettierung (vermeintlich) verantwortungsloser Politik. Vokabeln wie ‚gesinnungsethisches Gutmenschentum‘ werden geprägt. ‚Willkommenskultur‘ und Hilfsbereitschaft gelten als „Ausdruck einer gesinnungsethischen Haltung“59, die blind für jede Folgenbetrachtung sei, und werden als Moralismus diskreditiert, wobei a priori davon ausgegangen wird, dass deren Folgen nur negativ sein könnten: „Die Migrationsdebatte krankt unter anderem auch daran, dass scheinbar offensichtliche Folgen der Aufnahme von Migrantinnen und Migranten beklagt werden, etwa Überlastung, ohne dass diese erklärt oder belegt würden.“60 Mögliche positive Folgen kommen hingegen kaum bis gar nicht zur Sprache: Weder mögliche positive Folgen im Zuwanderungsland noch absehbare negative Folgen einer Abschottungspolitik für alle Beteiligten werden auch nur erwogen. Ethisches Denken im Paradigma der Verantwortung verlangt aber eine möglichst umfassende Reflexion der Wirkungen von Handlungsalternativen.61
das Maß des aktuell politisch Mach- und Durchsetzbaren. Der Anspruch der Ethik wird damit gründlich verfehlt; das Machbare ist nicht per se das ethisch Richtige.“ 57 Siehe die Beobachtung von Christof Mandry, Gesinnung oder Verantwortung. Zu einer irreführenden Alternative in der Migrationsethik, in: Cordula Brand u. a. (Hrsg.), Ethik in den Kulturen – Kulturen in der Ethik (Tübinger Studien zur Ethik 8), Tübingen 2017, 85–94, 87: „Kein ‚Gesinnungsethiker‘ bezeichnet sich selbst so. […] Gesinnungsethiker würden wohl einwenden, dass sie sehr wohl verantwortungsethisch argumentieren, nämlich in Verantwortung gegenüber moralischen Standards, wie sie etwa in den Menschenrechten formuliert sind.“ 58 Becka, Verantwortung übernehmen, 343. 59 Ulrich H. J. Körtner, Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 60 (2016), Heft 4, 282–296, 282. 60 Becka, Verantwortung übernehmen, 345. 61 Heimbach-Steins, Streit, 48.
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Dementgegen wird ‚Verantwortungsethik‘ mit Realpolitik identifiziert. Neben Konrad Ott vertritt auch der evangelische Sozialethiker Ulrich H. J. Körtner innerhalb der Diskussion wiederholt eine solche verantwortungsethische Position.62 Als „verantwortungsethische Gesichtspunkte der Einwanderungs- und Asylpolitik“ nennt er die Kontrolle der Staats- und Außengrenzen, die Reduktion des Zustroms von Flüchtlingen sowie die Erfordernis klarer Regeln für die Aufnahme von Zuwanderern, die auch die Abweisung von Menschen einschließe. Mit den Stichworten „brain drain“ und “Talenttransfer“ weist er zudem auf die Folgen für die Herkunftsländer hin und weitet damit die Folgenperspektive über die einzelnen Aufnahmeländer hinaus. Körtners und von ihm selbst als verantwortungsethisch bestimmte Position mag insgesamt zwar durchaus restriktiv sein, erhebt jedoch nicht die Forderung nach (völliger) Abschottung. Dies zeigt, dass die radikalisierenden und absoluten Gleichsetzungen sowohl von Gesinnungsethik und Willkommenskultur als auch von Verantwortungsethik und Abschottungspolitik schlichtweg zu kurz greifen (müssen). Vielmehr ist von einem facettenreichen Spektrum auszugehen, innerhalb dessen etwaige Positionierungen, abhängig von Gewichtungen und mit (unterschiedlicher) Bereitschaft zum Kompromiss, erfolgen. Nicht selten aber verfestigt sich der Eindruck, dass die Begriffe der Gesinnungs- und Verantwortungsethik letztlich nicht dazu verwendet werden, um ein (potentiell komplementäres) Spannungsverhältnis und ein moralisches Spektrum als vielmehr um einen radikalen Gegensatz, bis hin zum Konflikt, zu skizzieren. So kommt es zur weiteren (ethischen) Polarisierung eines ohnehin bereits (gesellschaftlich und politisch) polarisierenden Themas. Nicht erst dies dürfte dem ursprünglichen Anliegen Max Webers widersprechen63 und zeugt für eine oftmals ungenügende Rezeption seiner Distinktion ebenso wie für mangelnde (ethische) Differenzierung in der Migrationsdebatte. 2. Konrad Ott: Zuwanderung und Moral In diese Richtung problematischer Verkürzung tendiert die restriktive migrationspolitische Position Konrad Otts, die er in seinem Essay „Zuwanderung und Moral“ aus dem Jahr 2016 einnimmt. Auf der Basis einer schematisierenden Zweiteilung der „konkurrierende[n] Moralauffassungen“64 der Gesinnungs- und Verantwortungsethik, wobei er beide Ethiken einer bestimmten politischen Position in der Zuwanderungsfrage zuordnet, versteht sich Ott selbst als Verantwortungsethiker und grenzt sich gegenüber einer gesinnungsethischen Position ab. 62 Ulrich H. J. Körtner, Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik, in: Marianne HeimbachSteins (Hrsg.), Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise, Freiburg i. Br. 2016, 66–81, 69–71. 63 Marianne Heimbach-Steins, Europa und Migration. Sozialethische Denkanstöße (Kirche und Gesellschaft 438), Köln 2017, 3–16, 12. 64 Konrad Ott, Zuwanderung und Moral, Stuttgart 2016, 7.
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Sie zeichne sich vor allem durch das Bemühen um (tendenziell uferlose) Ausweitung aus. So sprächen Gesinnungsethiker nicht mehr von Flüchtlingen, sondern von „Menschen in Not“65, die in (fast) unbegrenzter Zahl aufzunehmen seien, und lösten damit die klare Unterscheidung von Migration und Flucht auf. Durch diese begriffliche Verschiebung von Flucht zu Not weiteten sie die Zahl potentieller Fluchtgründe aus. Ferner forderten sie globale Freizügigkeit sowie offene Grenzen und unternähmen den Versuch, das völkerrechtlich fixierte non-refoulement-Prinzip – gemeint ist das Verbot der Aus- und Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem Folter und schwere Menschenrechtsverletzungen drohen – soweit auszudehnen (z. B. auf „drohende Menschenrechtsverletzungen“), dass Abschiebungen faktisch unmöglich würden.66 Ott kritisiert hier nicht nur das Entstehen neuer Anreize, sondern auch den ambiguen Umgang der Gesinnungsethiker mit der vorgegebenen Rechtsstaatlichkeit, die im Zuge einer Rechtsweggarantie für Flüchtlinge nur solange als „taugliches Mittel“ erachtet werde, bis sie dort, wo sie zu konkreten Abschiebungen durch Rechtszwang führe, als zu „überwindendes Hindernis“67 erscheine. Das ethische Fundament der gesinnungsethischen Moralauffassung bildeten ein normativer Individualismus, universelle Hilfspflichten und die overridingness moralischer Gründe über andere Gründe, z. B. wirtschaftlicher Natur.68 Daher liefen Gesinnungsethiker Gefahr, auf eine schiefe Ebene zu gelangen und den verpflichtenden „Schritt in ein moralisches Heldentum“69 zu fordern. Dem stellt Ott mehrere verantwortungsethische Schlussfolgerungen entgegen: Armut sei nicht als Fluchtgrund anzuerkennen, Täuschungsversuche dürften nicht gelten, das Argument für offene Grenzen gehe fehl. Verantwortungsethiker müssten diese Schlüsse ziehen, da sie sich an völkerrechtliche Standards und nicht an Ideale gebunden sähen. Als übergeordneten verantwortungsethischen Leitsatz formuliert er: Es geht darum, wirksame Abreize gegen Migration in den Grenzen der Menschenwürde zu setzen und Fluchtgründe im Rahmen des Völkerrechts zu reduzieren.70 Den darin erneut greifbaren Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik hält er auch in seinem bilanzierenden Ausblick (Kapitel 5) durch, wo er von einem „clash of morals“ spricht: „Die Gesinnungsethik lässt sich aus verantwortungsethischer Sicht politisch nicht durchhalten, wohingegen sich die Verantwortungsethik aus gesinnungsethischer Perspektive moralisch nicht durchhalten lässt.71 Unerlässlich sei daher eine Grundsatzdebatte darüber, „ob die Politik ihre Entscheidungen auf gesinnungs- oder verantwortungsethischer Grundlage treffen soll.“72 Diese Fragestellung aber lässt kaum Freiraum für mögliche (gemäßigte) Zwischenpositionen. 65 Ebd., 26. 66 Ebd., 36. 67 Ebd., 39. 68 Ebd., 32 f. 69 Ebd., 23. 70 Ebd., 74. 71 Ebd., 88. 72 Ebd., 91.
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So werden beide Ansätze, Gesinnungs- und Verantwortungsethik, wenig integrativ oder gar komplementär, wie von Weber angedacht, als lediglich konkurrierende Konzepte einander diametral gegenübergestellt. Die gesinnungsethische Position wird derart radikal präsentiert, dass die Grenze zwischen Überzeichnung und Diskreditierung bisweilen verschwimmt. Exemplarisch greifbar wird dies auf Seite 40, wo eine moralische Anerkennung von Schleuserbanden durch Gesinnungsethiker zumindest nicht ausgeschlossen wird, oder auf den Seiten 35 und 36, wonach eine gesinnungsethische Position Strategien wie die Verschleierung von Identität, unkooperatives Verhalten oder dauerhaftes Untertauchen durchaus als legitim ansähe. Einschränkende Zusätze wie „manche“ oder „in vielen Fällen“73 können die Radikalität der Thesen, die der Gesinnungsethik die Begünstigung unethischen Verhaltens zu unterstellen scheinen, nicht abmildern. Insgesamt verfestigt sich ein einseitig negatives Bild der gesinnungsethischen Moralauffassung als „Hypermoral“74. Möglichkeiten der Verständigung beider moralischer Perspektiven, die Ott zumindest eingangs auf Seite 10 nicht ausschließt, werden, da „nur schwer vorstellbar“75, nicht weiter aufgezeigt. Lediglich der Hinweis bleibt: „Die Verantwortungsethik muss sich vor der Hartherzigkeit ebenso hüten wie die Gesinnungsethik vor der Willfährigkeit.“76 Vor diesem exemplarischen Horizont darf zumindest angefragt werden, ob die methodische Vorentscheidung, zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik einen diametralen Gegensatz aufzubauen, grundsätzlich geeignet und förderlich ist, um dem komplexen Thema ‚Zuwanderung‘ ethisch (umfassend) gerecht zu werden. Zu bezweifeln bleibt aber auch, dass die Distinktion Webers für sich alleine genommen, allen voran (aber nicht nur) im Zuge verkürzender Rezeptionen, einen ausreichenden migrationsethischen Horizont aufzuspannen hilft.
IV. Der gesinnungsethische Horizont verantwortungsethischen Handelns Die Diskussion um ‚Migration und Flucht‘ braucht sowohl auf einer nationalen als auch auf einer transnationalen und damit auf EU-Ebene, will man an der Distinktion und der damit verbundenen Begrifflichkeit Max Webers festhalten, aus ethischer Sicht eine ganzheitliche Rezeption dieses Ansatzes, die auf Radikalisierung ebenso wie auf Polarisierung und nicht zuletzt auf eine Ausgliederung der Moral aus der politischen Praxis, bei allen (vermeintlichen) realpolitischen Zwängen, verzichtet. Politik bleibt, wenn auch nicht nur, auf vorgegebene Prinzipien und festgelegte Werte ebenso verwiesen wie auf die Persönlichkeit bzw. 73 Ebd., 36 f. 74 Ebd., 88. 75 Ebd., 87. 76 Ebd., 90.
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die Grundhaltungen des Politikers, auf dessen angemessene Wahrnehmung der jeweiligen Situation und der Umstände sowie auf dessen wohlbegründete Abwägung der vorhersehbaren positiven und negativen Folgen. Es geht um ein fruchtbares, weil komplementäres Miteinander von Gesinnungs- und Verantwortungsethik, um ein ausgewogenes Verhältnis von Prinzipien- und Folgenorientierung, wie es Max Weber im Idealbild des ‚reifen Menschen‘ verwirklicht sieht. Marianne Heimbach-Steins spricht auf dieser Linie anschaulich von einem gesinnungsethischen Horizont, in dem „politische Abwägungsprozesse nach ethisch ausweisbaren Maßstäben zu erarbeiten [sind]. Erst das gesinnungsethische Fundament stellt sicher, dass Folgenabwägung mehr ist als die Durchsetzung kurzfristiger politischer Opportunitäten und Machbarkeitserwägungen.“77 Dieser Horizont bzw. dieses Fundament lässt sich dann beispielsweise durch normative Orientierungen wie den Kategorischen Imperativ oder die Goldene Regel, durch das Gebot der Nächstenliebe, durch Menschenwürde und Menschenrechte, durch (europäische78) Werte wie Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie oder durch weitere klassische Sozialprinzipien wie Gerechtigkeit (in allen ihren Ausprägungen), Personalität79, Gemeinwohl80, Solidarität und Subsidiarität inhaltlich näher bestimmen. Kon77 Heimbach-Steins, Streit, 48. An anderer Stelle dazu dies., Grenzenlose Offenheit oder begrenzte Verantwortung? Ethische Wegmarken europäischer Flucht- und Migrationspolitik, in: Alexander Merkl/Bernhard Koch (Hrsg.), Die EU als ethisches Projekt im Spiegel ihrer Außen- und Sicherheitspolitik (Studien zur Friedens ethik 63), Münster/Baden-Baden 2018, 225–249, 247: „Die entsprechenden ethischen ‚Wegmarken‘ […] zeigen aber die Notwendigkeit an, einen ethischen – genauer: gesinnungsethischen – Horizont aufzuspannen, in dem die Dimensionen der politisch einzulösenden Verantwortung ermessen und das konkrete politische Entscheiden geprüft werden kann. […] Dieser Zielhorizont ist gesinnungsethisch zu ‚füllen‘, und damit ist eine Aufgabe markiert, die über das hinausweist, was die politischen Akteure allein aus ihrer Funktion heraus leisten können. Weltanschauliche Überzeugungen, religiöse Bekenntnisse, die moralische Letztinstanz des Gewissens liegen der ‚Politik als Beruf‘ zugrunde und voraus.“ Vgl. ähnlich Mandry, Gesinnung, 92 f. oder Fischer, Politische Verantwortung, 298: „Das verantwortungsethisch orientierte Handeln des Politikers bedarf gewissermaßen eines gesinnungsethisch geschärften Gewissens als Korrektiv, damit fundamentale moralische Werte nicht dem verantwortungsethischen Kompromiss geopfert werden.“ 78 Kritisch dazu Alexander Merkl, Die Europäische Union und ihre Werte – normative Leitvorstellungen oder moralisches ‚Feigenblatt‘?, in: Ethik und Militär (2018), Heft 2, 4–9. 79 Hierzu exemplarisch Becka, Verantwortung übernehmen, 348: „So kann etwa im Personalitätsprinzip gefordert werden, Migration so zu gestalten, dass Leben geschützt wird und der Mensch Vorrang vor anderen Gütern und Interessen hat. […] Es ist kein Ausdruck von normativem Individualismus, sondern bringt neben der Einzigartigkeit und Vernunftnatur des Menschen ebenso seine Sozialnatur zum Ausdruck, in der die Angewiesenheit des Menschen auf Institutionen ankert.“ 80 Dies kann aber auch bedeuten, vor einem gesinnungsethischen Horizont Zuwanderung im Sinne der Gemeinwohlverträglichkeit regulieren zu müssen (Merkl, Grundlinien, 147 f.), wobei Marianne Heimbach-Steins, Menschheitsfamilie und globales Gemeinwohl – mehr als schöne Worte?, in: Dies. (Hrsg.), Begrenzt verantwortlich? Sozialethische Positionen in der Flüchtlingskrise, Freiburg i. Br. 2016, 94–107, 101 f. auf die Schwierigkeit hinweist, Gemeinwohl (in Zeiten der Globalisierung) auf eine nationalstaatliche Ebene zu beschränken. Siehe ferner und allgemeiner Körtner, Gesinnungs- und Verantwortungsethik, 74 f.: „Das ethische Kernproblem der Flüchtlingspolitik besteht in dem Unterschied zwischen dem universalen Recht auf Asyl und
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kurrenzen und Konflikte sind dabei nicht ausgeschlossen und bedürfen der kompromissbereiten Aushandlung, letztlich des Diskurses. Dennoch wäre es auch legitim, ernsthaft darüber nachzudenken, ob im Kontext von Flucht und Migration auf die Distinktion Max Webers der Begrifflichkeit, wenn auch nicht der Sache nach, zu verzichten wäre. Dafür spricht der bereits artikulierte Bedarf erforderlicher Profilierung des Konzepts, das nicht schlichtweg eins-zu-eins in komplexe Gegenwartskontexte übertragen werden kann. Ferner zeigte die Betrachtung des Ursprungszusammenhangs, dass es dem Soziologen Weber nicht um ein differenziertes ethisches System, sondern um die Verfasstheit des Politischen und die Politik als Beruf ging. Es handelt sich um ein zeithistorisch bedingtes und kaum umfassend ausgearbeitetes theoretisches Konzept, dessen vielfach ungenügende Rezeptionen zum Scheitern verurteilte Radikalisierungen der Gesinnungs- und Verantwortungsethik ebenso begünstigt wie ein ohnehin bereits polarisierendes Thema wie Migration und Flucht weiter polarisiert, indem eine Unvereinbarkeit des gesinnungsethischen, weil nicht an Folgen, sondern an moralischen Idealen ausgerichteten, und des verantwortungsethischen, nur an den Folgen und an realpolitischer Machbarkeit orientierten Pols konstruiert wird, die weder hilfreich für die Debatten noch im Sinne Webers selbst ist. Eine philosophische und theologische Migrationsethik kann und darf sich darin nicht erschöpfen. Will man jedoch am Weberʼschen Modell festhalten und soll also die Distinktion zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik aus (migrations-)ethischer Sicht weiterhin als tragfähig ausgewiesen werden können, so kann dies nur im Wissen um deren ursprüngliche zeitliche und kontextuelle Bedingtheit, deren theoretische Grenzen und die ihr inhärenten Gefahren der verkürzenden Rezeption, der (daraus resultierenden) Radikalisierung und Polarisierung sowie der potentiellen Ausgliederung der Moral aus der Politik sowie auf der Basis der zu leistenden und erforderlichen (begrifflichen) Differenzierungen und der Kenntnis sowohl um das spannungsvolle Miteinander von moralischer und politischer Verantwortung als auch um den komplementären Charakter beider Modelle gelingen. Eine Migrationsethik nämlich ist weder nur Gesinnungs- noch nur Verantwortungsethik.
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seiner Umsetzbarkeit auf der einzelstaatlichen Ebene. Auch in der Flüchtlings- und Asylpolitik gilt der Grundsatz: ‚Ultra posse nemo obligatur – über das Maß seiner Möglichkeiten kann niemand verpflichtet werden.‘ Wann die Grenze des Leistbaren erreicht ist, ist im Einzelfall zu prüfen […]. Aus verantwortungsethischer Sicht wird man aber um diese Frage nicht herumkommen.“
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D) Wirtschafts- und Handelsverantwortung
Godelieve Quisthoudt-Rowohl*1
Handelsbeziehungen im Wandel Globale Verantwortung für die Europäische Union Die Europäische Union (EU) ist ein Staatenverbund, dessen Mitglieder freiwillig einen Teil ihrer Souveränität abgegeben haben. Allerdings ist das den meisten Bürgern dieser Staaten, die auch weitgehend Unionsbürger sind, nicht bewusst. Besonders deutlich wird dies beim Thema „Außenhandel“, das wir nachfolgend genauer beleuchten wollen: Kaum ein Bürger wusste bis vor wenigen Jahren, dass die Kompetenzen dafür bei der EU liegen. Seit dem Streit um TTIP ist mittlerweile manchen klar geworden, dass die Nationalstaaten nicht mehr all-entscheidend sind, sondern dass Verhandlungen in Außenhandelsfragen ausschließlich von Brüssel geführt werden – und dass das Europäische Parlament als erstes nach dem Rat darüber abzustimmen hat. „Die gemeinsame Handelspolitik wird nach einheitlichen Grundsätzen gestaltet“ heißt es recht lapidar in Artikel 207 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Vertrag von Lissabon), und dies entspricht dem früheren Artikel 133 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Mit „Lissabon“ sind auch die Rechte des Europäischen Parlaments gestärkt worden und Mehrheitsentscheidungen des Rates sind die Regel. Im ‚Kleingedruckten‘ sind die Zuständigkeiten in einigen Aspekten komplizierter verteilt, deshalb hat nach einer Anrufung der Europäische Gerichtshof durch die EU-Kommission in der Frage der Zuständigkeiten bei den Abkommen mit Singapur entschieden, dass die Europäische Union über eine ausschließliche Zuständigkeit verfügt, wenn es um folgende Bereiche geht: − den Zugang zum Markt der Union und zum singapurischen Markt für Waren und Dienstleistungen (einschließlich aller Verkehrsdienstleistungen), im Bereich der öffentlichen Beschaffung und im Sektor der Energieerzeugung aus nachhaltigen nichtfossilen Quellen; − die Bestimmungen im Bereich des Schutzes ausländischer Direktinvestitionen singapurischer Staatsangehöriger in der Union (und umgekehrt); − die Bestimmungen im Bereich der Rechte des geistigen Eigentums; − die Bestimmungen über die Bekämpfung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen und die − Regelung von Zusammenschlüssen, Monopolen und Subventionen;
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Mitglied des Europäischen Parlaments 1989–2019, u. a. Sprecherin der Europäischen Volkspartei (EVP) im Ausschuss für internationalen Handel (INTA).
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− die Bestimmungen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung (der Gerichtshof stellt fest, dass das Ziel der nachhaltigen Entwicklung nunmehr fester Bestandteil der gemeinsamen Handelspolitik der Union ist und das geplante Abkommen die Liberalisierung der Handelsbeziehungen zwischen der Union und Singapur davon abhängig machen soll, dass die Vertragsparteien ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen in den Bereichen sozialer Schutz von Arbeitnehmern und Umweltschutz erfüllen); − die Regeln für den Informationsaustausch und die Pflichten zur Notifikation, Überprüfung, Zusammenarbeit, Mediation, Transparenz und Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien, außer wenn sich diese Regeln auf andere ausländische Investitionen als Direktinvestitionen beziehen; Die Union war in dem konkreten Bündel von Abkommen nur für zwei Teile des Abkommens nicht ausschließlich zuständig, nämlich für den Bereich der anderen ausländischen Investitionen als Direktinvestitionen („Portfolioinvestitionen“) und für die Regelung der Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und (Mitglied-)Staaten1. Nach der Klärung dieser Rechtsfrage geht die EU-Kommission jetzt so vor, dass es ein Abkommen „EU only“ und ein zweites „EU/mixed“ gibt. Diese höchstrichterliche Feststellung ändert aber nichts daran, dass die EU von anderen Akteuren in der Außenhandelspolitik tatsächlich als „Union“ erlebt wird. Wenn wir uns also bemühen, verantwortungsvolle Handelspartner zu sein, dann auch, weil viele Menschen in der ganzen Welt auf die EU als Vorbild schauen. Sie sehen, dass „Union“ zu sein für uns in Europa bedeutet, die Menschenwürde des Einzelnen und eine pluralistische Gesellschaft zu verteidigen. Deshalb tragen wir als Bündnis der freien Staaten und des Friedens eine hohe Verantwortung für die Ideale, die uns prägen. Wenn nicht die EU in der Lage wäre, Demokratie und vor allem Rechtsstaatlichkeit weltweit zu stärken und Regionen in dieser Entwicklung zu unterstützen, wer dann? Während andere große Mächte laut „America first!“ rufen oder eher still und zu wenig beachtet die Weltkarte zu ihrem Vorteil zu verändern suchen und sich mit zweifelhaften Allianzen Ressourcen für die Zukunft zu sichern versuchen, engagiert sich die EU außerordentlich für schwache Partner – die Wahrung der Menschenrechte und der anderen globalen Ziele für die Nachhaltigkeit ist Grundlage für unsere Handelsbeziehungen der EU. Zugleich gelten wir als Europäische Union nicht nur als Vorbild der Solidarität, sondern auch der Subsidiarität. Denn uns prägt trotz Harmonisierung vieler (zu vieler?) Regeln das Prinzip der Subsidiarität, dass also größere Einheiten nur dann Aufgaben übernehmen, wenn die kleineren dazu nicht in der Lage sind.
1 Gerichtshof der Europäischen Union, Pressemitteilung Nr. 52/17, 16. Mai 2017, Homepage des Gerichtshofes der Europäischen Union, https://curia.europa.eu (abgerufen am 14.12.2019).
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Deutschland ist der Mitgliedstaat, der durch den Umfang seiner Handelsströme wohl am meisten von offenen – aber zuverlässig geregelten – Märkten profitiert, was uns ein besonderes Maß an Verantwortung gibt.
I. Die neue Handelspolitik der EU Die Handelspolitik der EU hat in den letzten fünfzehn Jahren eine enorme Ausweitung erfahren: War „Handelspolitik“ früher eine komplizierte Materie für einen kleinen Kreis von Fachleuten, so hat sie sich seit Anfang der 2010er Jahre zu einem umfassenden Politikfeld mit globaler Bedeutung entwickelt. Der Beginn dieser neuen ‚policy‘, wie es in englischer Sprache im Gegensatz zu schlichten ‚politics‘ definiert werden würde, kann auf den Lissabon Vertrag datiert werden: 2007 wurde als eines der Ziele der EU in Artikel 3.5 des Lissabonner Vertrags ein ‚fairer Handel‘ formuliert. Am 1. Dezember 2009 ist dies in Kraft getreten. Die EU hat sich konsequent auf diesen Weg globaler Verantwortungsübernahme begeben. Die umfassenden und weitreichenden Freihandelsabkommen der jüngsten Zeit mit allen großen Handelspartnern (Kanada, Japan, Mercosur) belegen dies eindrücklich – leider zählen die USA nicht dazu, denn TTIP (Transatlatic Trade and Investment Partnership) ist blockiert. Selbst die Versuche von US-Präsident Donald Trump, eine neue Handelsordnung einzuführen, sind ins Leere gelaufen. Sowohl die EU als auch ihre anderen Handelspartner haben beschleunigt, konstruktiv und erfolgreich neue Allianzen geschmiedet. Eine Herausforderung ganz besonderer Dimension ist der Brexit, der jedoch hier noch nicht ausführlich analysiert werden kann.
II. Fairer, nachhaltiger Handel ‚Fairer‘ Handel hat mindestens zwei Dimensionen: die Freiheit des Handels und die Nachhaltigkeit im Sinne der „Sustainable Development Goals“ („Ziele für eine nachhaltige Entwicklung“, SDGs). Die Freiheit des Welthandels ist in den vergangenen Jahren insbesondere durch die Politik des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump beträchtlich eingeschränkt worden. Folgt man den Schlagzeilen der Medien, so könnte man sogar vermuten, dass wir uns in einem globalen Wirtschaftskrieg befinden. Tatsächlich hat aber die EU mit einer auf Deeskalation gerichteten Politik viele Wogen glätten und zugleich neue Allianzen schmieden können. Die Grundüberzeugung der EU ist dabei, dass die Märkte weltweit offen sein und Handelsschranken fallen sollen – möglichst sollten gleiche Bedingungen für alle gelten, ohne dass dies zur Benachteiligung von schwächeren Partnern führen soll. Für die EU soll Handel zugleich einen wichtigen Beitrag zur globalen Verbreitung der Grundprinzipien der Demokratie und Menschenrechte sowie zur Verringerung der Armut
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sein. Dies ist nicht nur eine Absichtserklärung, sondern zentraler Bestandteil in allen unseren aktuellen Handelsabkommen, die eigene Kapitel zu den Menschenrechten und zur Nachhaltigkeit haben. ‚Freier Handel‘ heißt für die EU auch keinesfalls hemmungsloser Kapitalismus! So schützt die EU in den Abkommen die Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge, es gibt keinen Zwang zur Privatisierung – beispielsweise wird die kommunale Wasserwirtschaft im Handelsabkommen mit Japan geschützt. Auch Schutz, Förderung und Finanzierung von Kultur und kultureller Vielfalt gehört zu den Zielen, welche die EU achtet. Mit anderen Worten: Daseinsvorsorge der öffentlichen Hand und Kulturgüter sind keine freie Handelsware! Manchmal habe ich mich in den letzten Jahren während der parlamentarischen Begleitung vieler Verhandlungen von Handelsabkommen gefragt, ob wir uns angesichts aller dieser noblen Themen eigentlich noch genügend auf die Kernfragen der Handelspolitik konzentrieren? Man könnte ja auch spitz formulieren, dass sich Handelspolitik vor allem um den Handel und die Mehrung des (eigenen) Wohlstands kümmern sollte. Aber die Verbindung von Handel mit anderen Materien wie den Menschenrechten und der Ökologie ist aus unserer Sicht wichtig.2 Und wir können sagen: Dies hat die Verträge mit zentralen Wirtschaftspartnern nicht verhindert oder verschlechtert. Ja, die gute Nachricht lautet: Sie hat sie nicht nur nicht verhindert, sondern wir haben damit Verträge erarbeitet, die eine hohe Akzeptanz besitzen. Wichtig ist mir auch, dass die EU eine große Transparenz in den Verhandlungsprozessen der Abkommen hergestellt hat – bei gleichzeitiger Vertraulichkeit in sensiblen Bereichen. Hier ist seit TTIP viel geschehen, z. B. hat EU-Kommission die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament während der gesamten Verhandlungen regelmäßig über den Stand der laufenden Verhandlungen informiert. Die Bundesregierung wiederum hat fortlaufend den Bundestag informiert.
2 In der Plenardebatte am 12. März 2018 (Gleichstellung der Geschlechter in Handelsabkommen der EU) habe ich dazu im Namen der EVP-Fraktion erklärt: „Ich halte eine werteorientierte Handelspolitik mit dem Ziel der Schaffung eines hohen Maßes an Schutz für Arbeits-, Umwelt- und Menschenrechte mit Blick auf eine nachhaltige globale Entwicklung für sehr relevant, und ich unterstütze entsprechende Maßnahmen. Wichtig ist, dass diese Maßnahmen, wozu auch die Verankerung von Frauenrechten gehört, nicht zu einer Überfrachtung von Freihandelsabkommen und zu einer übermäßigen Beschränkung des internationalen Waren- und Dienstleistungsverkehrs führen. Der internationale Handel trägt weltweit zur Vermehrung des Wohlstandes, insbesondere zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen bei. Das gilt auch für Frauen. Allerdings: Bindende Kapitel, sogar verbunden mit Sanktionen, sind kontraproduktiv. Das würde per Saldo mehr Schaden als Nutzen herbeiführen.“ Homepage des Europäischen Parlaments, https://www.europarl.europa.eu/portal/de (abgerufen am 14.12. 2019).
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III. Aktuelle Handelsabkommen der EU ‚Just bad news are good news‘ – erfolgreiche Politiken machen viel zu selten Schlagzeilen: Das gilt ganz besonders für die Handelspolitik der EU, verantwortet von der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament. Was hier in den Jahren 2018 und 2019 erreicht wurde, ist absolut bemerkenswert: Allein das Freihandelsabkommen mit Japan (JEFTA) liberalisiert fast 40 Prozent des Welthandels und ein Drittel des weltweiten Bruttoinlandproduktes. Dazu kommen Abkommen mit Singapur und den Mercosur-Staaten Südamerikas. Und weitere, zum Beispiel mit Vietnam, sind weit fortgeschritten. 1. Freihandelsabkommen mit Japan (JEFTA) Das JEFTA ist auch das wirtschaftlich bedeutendste bilaterale Handelsabkommen in der Geschichte der EU, denn es wird nach einer siebenjährigen Übergangszeit die mit 635 Millionen Menschen größte, fast zollfreie Wirtschaftszone der Welt schaffen. Tatsächlich werden die Zölle auf 99 % der exportierten Waren abgeschafft. Prognosen sagen einen Anstieg für die bilateralen Handelsaustausche von 34 Prozent und einen langfristigen Anstieg des Bruttoinlandproduktes für die EU um 0,76 Prozent und jährlich eine Milliarde Euro Einsparungen für Unternehmen, mehr Arbeitsplätze und mehr Wachstum voraus.3 Zu den großen Durchbrüchen zählt, dass europäische Unternehmen Zugang zum öffentlichen Beschaffungsmarkt der Kernstädte Japans sowie zu dessen Transport- und Eisenbahnsektor erhalten, die bisher abgeschottet waren. Erstmals in der Geschichte der EU enthält das Abkommen auch ein beidseitiges Bekenntnis zum Pariser Klimaschutzübereinkommen sowie zu zentralen Aspekten des Umwelt- und Arbeitsschutzes. 2. Freihandelsabkommen mit Singapur (EUSFTA) Neben Japan ist Singapur der mit Abstand wichtigste EU-Handelspartner in Südostasien: der jährliche Güterhandel und Dienstleistungsaustausch hatte 2017 einen Wert von 100 Milliarden Euro. Es ist das erste bilaterale Handelsabkommen der EU mit einem südostasiatischen Land und gilt deshalb als Maßstab für zukünftige Abkommen mit der Region und insbesondere ein erster Schritt in Richtung eines größeren Abkommens der EU mit den ASEAN-Staaten (neben Singapur: Thailand, Indonesien, Philippinen, Malaysia, Brunei, Vietnam, Laos, Myanmar und Kambodscha).
3 Homepage Gabler Wirtschaftslexikon, www.wirtschaftslexikon.gabler.de (abgerufen am 14.12.2019).
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Auch hier wurden, wie mit Japan, die meisten Zölle vollständig und nichttarifäre Handelshemmnisse zahlreich abgeschafft. Das Investitionsschutzabkommen folgt vollständig dem neuen EU-Ansatz eines Investitionsgerichtssystems als Gericht mit Berufungsmechanismus.4 Ebenso hat sich Singapur zu den ILO-Arbeitskonventionen bekannt und sich schriftlich verpflichtet, sie zu ratifizieren. Für das Europäische Parlament, das beides lange gefordert hatte, war dies ein Sieg, wie ich in meiner Stellungnahme vor dem Plenum das Parlamentes am 12. Februar 2019 für die EVP-Fraktion feststellen konnte.5 3. Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Ähnlich umfassend ist das Freihandelsabkommen der EU mit den Mercosur-Staaten (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela), das im Juni 2019 vereinbart wurde (aber noch finalisiert werden muss). Es soll 100 Prozent des EU-Handels und 90 Prozent des Mercosur-Handels zollfrei machen. Dieses Abkommen wird einen Markt mit 780 Millionen Menschen schaffen und die Mehrheit der Zölle auf EU-Ausfuhren in den Mercosur abschaffen, wodurch die Unternehmen der EU-Zölle in Höhe von 4 Mrd. Euro pro Jahr einsparen werden. Das Handelsabkommen wird Bestandteil des Assoziationsabkommens sein. Migration, digitale Wirtschaft, soziale Verantwortung von Unternehmen und Gesellschaft, Umweltschutz, Meerespolitik sowie Bekämpfung von Terrorismus, Geldwäsche und Cyberkriminalität verbessern. Das Vertragswerk ist fertig verhandelt und liegt dem Rat zur Abstimmung vor.6
IV. Transatlantische Handelsbeziehungen Während die EU mit fast allen wichtigen Handelspartnern der Welt teilweise ein Jahrzehnt lange Verhandlungen mit bemerkenswerten Freihandelserfolgen abschließen konnte, dominierten die Schlagzeilen des „America first!“-Präsidenten Donald Trump. Er möchte eine „Zeitenwende“ herbeiführen und ist überzeugt, dass vorherige US-Regierungen anderen Staaten zu große Handelsvorteile gewährt haben. Als Beleg dient ihm vor allem die Größe des US-Handelsdefizits. Er verlangt „Reziprozität“ und ist bereit, dafür rücksichtslos Konflikte auszutragen. 4 EU-Parlament billigt Freihandelsabkommen mit Singapur, Homepage EURACTIV, www.euractiv.de (abgerufen am 14.12.2019). 5 Freihandelsabkommen/Investitionsschutzabkommen zwischen der EU und Singapur, Homepage des Europäischen Parlaments, www.europarl.europa.eu (abgerufen am 14.12.2019). 6 Homepage der Europäischen Kommission, www.ec.europa.eu (abgerufen am 14.12.2019).
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Während die EU und ihre Vertragspartner nationalen Protektionismus mit revolutionären Abkommen abschaffen, verfolgt Trump das entgegengesetzte Ziel. Er setzte Antidumping- und Antisubventionsklauseln ein, brach Handelsabkommen und -verhandlungen ab (TPP, NAFTA, KORUS, TTIP) und änderte das Vergaberecht („buy American, hire American“). Konkret gegen die EU gerichtete Maßnahmen waren: − Zölle auf Stahl und Aluminium, die den Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) widersprechen, unter Berufung auf die „Nationale Sicherheit“ („US Section 232“). − Androhung von weiteren Strafzöllen auf europäische Autos und Autoteile, ebenfalls unter Berufung auf die „Nationale Sicherheit“. Die EU-Kommission hat viel Lob für ihren besonnenen Kurs in dieser schwierigen Materie verdient, weil sie nicht der Versuchung erlegen ist, in das Säbelrasseln des amerikanischen Präsidenten einzustimmen. Stattdessen wurden maßvolle und durchdachte, WTO-konforme Gegenmaßnahmen ergriffen – und die WTO-Statuten gaben uns genügend Spielraum, um angemessen reagieren zu können. „Donald Trumps protektionistische Strategie wird in Zeiten der global vernetzten Wertschöpfungsketten schon mittelfristig nicht aufgehen“, und Schutzzölle und Protektionismus werden sich zum Nachteil der eigenen Arbeitnehmer auswirken, diese Überzeugung habe ich als Sprecherin für den Ausschuss für internationalen Handel am 14. März 2018 im Plenum des EP vertreten7. Die von Trump angedrohten Zölle auf europäische Automobilexporte stellen ein großes Drohpotential seitens der USA dar, weil Unternehmen in der EU Autos im Wert von 50 Milliarden Euro in die USA exportiert, während Stahl- und Aluminium-Exporte ‚nur‘ 6,4 Milliarden Euro wert sind. Trumps Berufung auf die ‚Nationale Sicherheit‘ ist vielfach kritisiert worden. Nur zu vermuten, dass Handel mit der EU die Sicherheit der USA gefährden könnte, ist schlichtweg absurd. Nach einer Entscheidung der Streitschlichtungsinstanz der WTO vom 5. April 2019 (Ukraine vs. Russland) gehen wir davon aus, dass die USA das von der EU angestrengte Verfahren verlieren dürften. Für die WTO sind „political or economic differences between Members not sufficient, of themselves, to constitute an emergency in international relations for purposes of subparagraph (iii)…“8 Zugleich durften und dürfen wir nicht vergessen, dass die EU-US-Handelsbeziehung die umfassendste der Welt ist und auf mehr als ein halbes Jahrhundert erfolgreiche Geschichte zurückblicken kann. Klar ist auch, dass Stabilisierung und Reformierung der WTO keines7 Meine Rede in der Plenardebatte am 14.3.2018 (Entscheidung der USA, Zölle auf Stahl und Aluminium zu verhängen), Homepage www.europarl.europa.eu (abgerufen am 30.9.2019). 8 DS512: Russia – Measures Concerning Traffic in Transit, Homepage der World Trade Organization, www. wto.org (abgerufen am 14.12.2019).
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falls ohne Mitwirkung der USA unternommen werden können, da die USA für die Welthandelsordnung nach wie vor unerlässlich sind.9 Die EU hat insgesamt auf viererlei Weise auf Trumps Alleingänge geantwortet: − Klageerhebung bei der WTO gegen die amerikanischen Strafzölle. − - Ausgleichsmaßnahmen in Form von Zöllen (unter Inanspruchnahme von Artikel XVII des GATT). − Schutzklausel-Maßnahmen für den Fall einer Schwemme von Billig-Stahl und -Aluminium auf den EU-Markt (bedingt durch den beschränkten Zugang zum US-Markt). − vor allem aber Gespräche: Im Juli 2018 besuchte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die USA, um nach Trumps Androhungen miteinander sprechend einen Ausweg zu finden. Er erreichte die Etablierung einer „Executive Working Group“ mit folgendem Ziel: „to work toward an agreement on zero tariffs, zero non-tariff barriers and zero subsidies on non-auto-industrial goods“ sowie einem Zusammenwirken für eine Reform der WTO und gegenüber unfairen Handelspraktiken. Wenige Monate später konnten bereits förmliche Verhandlungen zwischen der EU und den USA „on conformity assessment, and the other on eliminating tariffs on industrial products“ anvisiert werden, im April 2019 gaben der EU-Rat und das Europäische Parlament grünes Licht dafür.
V. WTO in der Krise Es ist allgemeiner Konsens, dass die WTO sich in einer grundsätzlichen Krise befindet und reformiert werden muss. Ihre Entscheidungsmechanismen und Arbeitsweise müssen angepasst werden an die aktuelle Situation: geopolitische Änderungen und Wirtschaftswachstum in den großen Staaten. Konkret ist ihre Autorität bei Streitbeilegungsverfahren stark gefährdet. Dadurch ist das Gleichgewicht des multilateralen Handelssystems insgesamt bedroht – eine dramatische Feststellung für Deutschland angesichts unserer Abhängigkeit vom Welthandel. Neben der EU sehen auch andere wichtige Mitglieder wie China und Indien die Notwendigkeit von Reformen. Vorschläge, die bisher die EU und Kanada gemeinsam vorgelegt haben, reichen allerdings den USA nicht. Diese wiederum üben Druck aus, indem sie die Nominierung und Wahl neuer Mitglieder im Appellate Body verhindern. Dieses wichtige 9 Meine Rede in der Plenardebatte am 11. September 2018: Stand der Beziehungen zwischen der EU und den Vereinigten Staaten, Homepage des Europäischen Parlaments, www.europarl.europa.eu (abgerufen am 14.12.2019).
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Gremium sollte sieben Richter haben, bei Redaktionsschluss dieses Buches hatte es nur noch drei (das statuarische Minimum), von denen zwei zum Ende des Jahres 2019 in den Ruhestand gehen sollten. Beobachter befürchten, dass die USA keine Reform des derzeit existierenden Streitschlichtungsmechanismus wollen. Vielmehr würden sie eine Rückkehr zu den Regeln des alten GATT anstreben, welches ein eher machtpolitisch geprägtes Handelssystem war.
VI. Die Zukunft des Welthandels Die Verschiebung der Wirtschaftseinflüsse stellt in unserer globalisierten Welt die Handelsdiplomatie vor enorme Herausforderungen. Auf der Rio+20-Konferenz 2012 beschlossen die UN-Mitgliedstaaten die Entwicklung von „Zielen für eine nachhaltige Entwicklung“ (SDGs). Anders als bei den MillenniumsEntwicklungszielen, bei denen die soziale Entwicklungsdimension im Vordergrund stand, sollten die SDGs deutlich mehr auf ‚Nachhaltigkeit‘ fokussiert sein. So sollen soziale, ökonomische und besonders ökologische Aspekte mit in die Entwicklungsagenda aufgenommen werden. Für viele Abgeordnete des Europäischen Parlaments bedeutet das: Die Handelspolitik in der neuen Legislaturperiode steht unter dem Motto „faire und nachhaltige Handelsketten, Einhaltung der Menschenrechte (human rights due diligence) und der Ziele für eine nachhaltige Entwicklung“.10 Die Klimadebatte hat einen neuen Aspekt in die Handelspolitik eingebracht: Wie können wir den ökologischen Fußabdruck von Handelsströmen verkleinern? Erste Beobachtungen zeigen, dass die Argumente sehr unterschiedlich bewertet werden, sowohl aus parteipolitischer wie auch geografischer Sicht.
VII. Postscriptum: Brexit11 Die Debatte über den Austritt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland ist stark von wirtschaftlichen und finanziellen Argumenten geprägt – als Berichterstatterin des „Berichts über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Aufteilung der Zollkontingente in der WTO-Liste der Union nach
10 Homepage des Europäischen Parlaments, www.europarl.europa.eu (abgerufen am 14.12.2019). 11 Bei Redaktionsschluss dieses Buches war noch unklar, wie es im Vereinigten Königreich weitergehen wird. Der zwischenzeitlich auf den 31.10.2019 verschobene Austrittstermin konnte nicht gehalten werden und zu Redaktionsschluss dieses Bandes ist der Ausgang der Neuwahlen in Großbritannien am 12.12.2019 noch ungewiss.
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dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 32/2000 des Rates“12 hatte ich reichlich damit zu tun. Auch die genannten Folgen, die der Austritt haben könnte, fokussierten sich zunächst auf Fragen der Versorgung (also eines funktionierenden Handels über künftig trennende Grenzen) – welche politischen und diplomatischen Folgen ein Austritt aus der EU haben wird, wurde bis Herbst 2019 kaum diskutiert. Die EU-27 wird einem Nicht-Mitglied Großbritannien auch nach einem Austritt aus der EU engstens verbunden bleiben und versuchen, so viele der gewachsenen Verbindungen wie möglich faktisch zu erhalten. Das ist im Interesse aller Beteiligten, setzt allerdings Reziprozität voraus.
VIII. Ausblick In ca. 30 Jahren, im Jahr 2050, wird die EU-27 nicht einmal fünf Prozent der Weltbevölkerung darstellen, ihr Anteil an der Wirtschaftskraft wird ähnlich gesunken sein, während China 40 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften wird.13 Wir dürfen nicht unterschätzen, was derzeit weltweit passiert: Diktaturen wie China und Russland sichern sich Ressourcen der Zukunft, die einen mit Krediten und Entwicklungsprojekten, die anderen mit Krieg. Wenn wir davon ausgehen, dass die Welt derzeit noch tripolar – USA, China und EU – ist, ist das Risiko groß, dass dies nicht mehr lange so bleiben wird. Wir Europäer, unsere Wirtschaft und Gesellschaft werden global nur bestehen können, wenn wir im Inneren zusammenhalten und mit einer fairen Politik weltweit Partner um uns versammeln, die sich gegenseitig aufeinander und auf gemeinsame Werte verlassen können. Ohne unsere eigenen Interessen zu vernachlässigen, verfolgt die Handelspolitik der EU genau dieses Ziel.
Literaturverzeichnis Fogel, Robert, Capitalism and Democracy in 2040: Forecasts and Speculations, in: Daedalus 136 (2007), 87–95.
12 Homepage des Europäischen Parlaments, www.europarl.europa.eu (abgerufen am 14.12.2019). 13 So der Nobelpreisträger Robert Fogel, Capitalism and Democracy in 2040: Forecasts and Speculations, in: Daedalus 136 (2007), 87–95.
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Joachim Wiemeyer
Jugendarbeitslosigkeit – eine gesamteuropäische Verantwortung I. Einleitung Im Gefolge der weltweiten Finanzkrise ab 2008 und der „Euro“- bzw. Staatsschuldenkrise in der EU, verbunden mit einer tiefgreifenden Rezession, stieg die Jugendarbeitslosigkeit in den meisten Ländern der Europäischen Union stark an.1 Sie erreichte 2013 ihren Höhepunkt. In der Öffentlichkeit war man erschrocken darüber, dass in manchen EU-Ländern wie Griechenland oder Italien die Arbeitslosenquote für Jugendliche 50 % und mehr betrug. Exemplarisch kommt dies durch Papst Franziskus zum Ausdruck. Junge Leute, die arbeitslos sind, nannte der Papst die neuen Ausgegrenzten unserer Zeit. Stellt euch vor, in einigen Ländern Europas, in diesem unserem Europa, das so gebildet ist, gibt es bis zu 40 % Jugendarbeitslosigkeit, 47 % in anderen Ländern, in anderen 50 %. Aber was tut ein junger Mensch, der nicht arbeitet? Wo endet er? In den Abhängigkeiten, in psychischen Krankheiten, im Selbstmord. Und nicht immer werden die Statistiken der Selbstmorde von Jugendlichen veröffentlicht. Das ist eine Tragödie: es ist die Tragödie der neuen Ausgeschlossenen unserer Zeit. Und sie werden ihrer Würde beraubt. Die menschliche Gerechtigkeit erfordert Zugang zur Arbeit für alle.2
Die Sorge, dass eine ‚verlorene Generation‘ heranwächst, veranlasste die Staats- und Regierungschefs der EU 2013, ein milliardenschweres Programm, die „Jugendgarantie“, zu verabschieden. Jeder Jugendliche in der EU, der länger als 4 Monate arbeitslos ist, soll durch dieses Programm eine Chance erhalten, nämlich eine weiterführende Ausbildung, ein Praktikum, einen hochwertigen (subventionierten) Arbeitsplatz usw. Nach 2013 ging die Jugendarbeitslosigkeit in der EU schrittweise zurück. Jugendarbeitslosigkeit bleibt aber auch 2019 ein großes soziales Problem. Im Folgenden wird im ersten Abschnitt Jugendarbeitslosigkeit näher behandelt, wobei auf Besonderheiten der Arbeitslosigkeit von Jugendlichen im Vergleich zu Erwachsenen eingegangen wird. Es wird auf Folgen von Jugendarbeitslosigkeit hingewiesen sowie themati1 Joachim Wiemeyer, Jugendarbeitslosigkeit – eine große sozialethische Herausforderung in Europa, in: Polonia Sacra 20 (2016), Nr. 4 (45), 155–173. 2 Franziskus, Ansprache für Mitglieder des „Movimento Christiano Lavoratori“ am 16. Januar 2016, in: „Osservatore Romano“, 29. 1. 2016 (Deutsche Ausgabe) 46, Nr. 4, 8.
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siert, ob und inwieweit das EU-Programm erfolgreich war. Herausgestellt wird, weshalb in Deutschland die Jugendarbeitslosigkeit besonders gering ist. Im zweiten Abschnitt werden dann sozialethische Überlegungen zur Jugendarbeitslosigkeit angesprochen und vor allem die Frage thematisiert, inwieweit die Höhe und Dauer von Jugendarbeitslosigkeit zentralen Gerechtigkeitsvorstellungen widersprechen. Der dritte Abschnitt behandelt dann Handlungsoptionen.
II. Ursachen und Folgen von Jugendarbeitslosigkeit 1. Die Arbeitsmarktsituation von Jugendlichen Die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen (15–24 Jahre) ist praktisch in allen Ländern und zu verschiedenen Zeiten (unabhängig vom Konjunkturverlauf) höher gewesen als die Arbeitslosigkeit von Erwachsenen (25–64).3 Im EU-Durchschnitt beträgt sie das 2,5-fache. In Ländern wie Schweden, Rumänien und Finnland kann sie sogar das Vierfache betragen. Unterdurchschnittlich ist sie in Ländern wie Deutschland, Österreich, Dänemark und den Niederlanden mit einem beruflichen Ausbildungssystem. In Ländern mit besonders hohen Quoten der Jugendarbeitslosigkeit (Griechenland, Italien, Spanien) war die Relation nur durchschnittlich, weil auch dort die Arbeitslosigkeit von Erwachsenen nach der Finanzkrise 2008 sehr hoch war.4 Eine Ursache für eine allgemein im Vergleich zu Erwachsenen höhere Jugendarbeitslosigkeit ist, dass der Übergang von der Schule in eine Ausbildung, in Arbeit oder nach einem Studium in den Beruf zu kurzen Suchphasen führt, weil zum Zeitpunkt des Abschlusses in der Regel nicht bereits ein unterschriebener Arbeitsvertrag vorliegt. Eine solche Übergangsarbeitslosigkeit von etwa drei Monaten ist unproblematisch. Weitere Ursachen sind, dass Jugendliche Suchprozesse vornehmen, welche Arbeit und welcher Arbeitgeber ihren Vorstellungen, Begabungen usw. entspricht. Damit kann man verschiedene Tätigkeitsfelder und Unternehmen ausprobieren. Der Wunsch, neue Orte oder gar Länder kennenzulernen, die Bekanntschaft mit einem Partner an einem anderen Ort, kann den Umzug bedingen und damit eine temporäre Arbeitssuche an einem anderen Ort auslösen. Jugendarbeitslosigkeit kann aber auch mit den Regeln des Arbeitsmarktes zusammenhängen. Wenn in einer umfassenden Wirtschaftskrise oder in einer Krise eines einzelnen Unternehmens zu viele Arbeitsplätze vorhanden sind, erfolgt häufig zunächst ein Einstellungsstopp, der dann verschärft gerade diejenigen Jugendlichen trifft, die in dieser Zeit neu 3 Joachim Möller, Jugendarbeitslosigkeit – Ein Problem von europäischer Dimension, in: Ifo-Schnelldienst 68 (2015), Heft 17, 3–6, 4. 4 Karl Brenke, Jugendliche in Europa: rückläufige Jugendarbeitslosigkeit, aber noch große Probleme, in: DIWWochenbericht 84 (2017), 985–995, 989.
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Jugendarbeitslosigkeit – eine gesamteuropäische Verantwortung Jugendarbeitslosigkeit in ausgewählten EU‐Ländern Juli 2019 in Prozent 0
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10
15
20
25
30
35
45
32,1
Spanien 28,9
Italien 19,8
Kroatien
19,2
Frankreich 15,6
Euro‐Zone‐Durchschnitt 14,3
EU‐Durchschnitt 9,4
Österreich 8,3
Dänemark Tschechien
7
Niederlande
6,7
Deutschland
40 39,6
Griechenland
5,6
Grafik 1: Jugendarbeitslosigkeit in ausgewählten EU-Ländern Juli 2019. Eigene Grafik aus: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74795/umfrage/jugendarbeitslosigkeit-in-europa/ (abgerufen am 14.12.2019).
auf den Arbeitsmarkt treten. Wenn dann noch Arbeitsplätze abgebaut werden, geschieht dies zunächst häufig so, dass befristete Arbeitsverträge nicht verlängert werden. Jugendliche steigen aber häufig zunächst über befristete Verträge in die Arbeitswelt ein. Weiterhin kann bei der Sozialauswahl bei Kündigungen ein lediger Jugendlicher eher entlassen werden als ein verheirateter Familienvater mit mehreren Kindern. Andere Arbeitnehmer haben durch ihre langjährige Beschäftigung einen hohen Kündigungsschutz erworben. Weitere Ursachen für Jugendarbeitslosigkeit können sein, dass es in einem Land eine aufgrund des Bevölkerungswachstums sehr junge Bevölkerung gibt, sodass nur wenige aus dem Arbeitsleben ausscheiden, viele aber nachwachsen und der Aufbau von Arbeitsplätzen nicht dem Wachstum der Erwerbsbevölkerung standhält. Im Gegensatz zu anderen Erdteilen sinkt in der EU aber demographisch bedingt jedes Jahr die Zahl der Jugendlichen, die neu auf dem Arbeitsmarkt auftreten. Deshalb wurde in den von Jugendarbeitslosigkeit hauptbetroffenen EU-Ländern diese durch die negative demographische Entwicklung noch gemildert.5 Darüber hinaus kann es Migration von außen geben, sodass die Zugewanderten – auch wegen fehlender schulischer und beruflicher Qualifikation – keinen Arbeitsplatz finden. Auch diese externe Migration war bezogen auf die gesamte EU relativ gering und kann die
5 Gerhard Bosch, Jugendarbeitslosigkeit in Europa – warum versagen milliardenschwere Hilfsprogramme?, in: „Ifo-Schnelldienst“ 68 (2015), Heft 17, 7–11, 10.
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Höhe der Jugendarbeitslosigkeit nicht erklären, zumal die größte Zuwanderung Deutschland betraf, das die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit aufweist. Weiterhin ist es möglich, dass es auch für einheimische Jugendliche ein schlechtes schulisches oder berufliches Bildungswesen gibt, sodass Jugendliche nicht die notwendige Qualifikation aufweisen, die in der Wirtschaft nachgefragt wird. Erstaunlich ist, dass bei dem mehrfachen PISA-Sieger Finnland die Jugendarbeitslosigkeit im Juni 2019 16,6 % betrug und viermal höher als die Arbeitslosigkeit von Erwachsenen war. Vor allem Jugendliche ohne Schulabschluss weisen das Risiko von Langzeitarbeitslosigkeit auf. Weitere Probleme liegen in einer schulischen Berufsausbildung und einem Hochschulstudium, die nicht auf die Bedürfnisse und Qualifikationsanforderungen des Arbeitsmarktes ausgerichtet sind. Solche Ausbildungsgänge können auch – z. B. wegen fehlender Pflichtpraktika – den Schülern und Studenten die Qualifikationsanforderungen der Arbeitswelt nicht ausreichend vermitteln. Dann können offene Stellen und Jugendarbeitslosigkeit nebeneinander existieren. Probleme der Arbeitsmarktintegration können aber auch in verfehlten Berufswünschen sowie falscher Wahl von Ausbildungsgängen und Studienfächern liegen. Dies ist in Hinblick auf zwei Dimensionen möglich: Zum einen kann ein Beruf oder ein Studium schlechte Berufsaussichten aufweisen, weil es in diesem Bereich aufgrund ökonomischer Strukturveränderungen und technischen Fortschritts keine hinreichende Nachfrage gibt. Jugendliche können aufgrund von eigenen Informationsdefiziten und/oder denen ihrer Eltern falsche Richtungen einschlagen. Diese können auch auf einer Fehleinschätzung der eigenen Neigungen und Begabungen beruhen. Für Jugendliche bzw. Eltern mit Migrationshintergrund spielt auch eine Rolle, dass man Schulen und Berufsausbildungsstrukturen in einem fremden Land nicht kennt, etwa die Bedeutung des dualen Ausbildungssystems in Deutschland, das wegen der geringen Ausbildungsvergütung abgelehnt wird. Ein kleiner Teil von Jugendlichen kann auch Illusionen über berufliche Erfolgschancen (z. B. über eine Karriere in der Medienwelt als Schauspieler, Popstar, Fußballstar etc.) anhängen. 2. Die Messung von Jugendarbeitslosigkeit Wenn man von Arbeitslosenquoten von 50 % oder mehr bei Jugendlichen hört, erschrecken zunächst diese Zahlen. Man muss sich aber näher mit der Aussagekraft dieser Statistiken beschäftigen. In allen EU-Ländern sucht nur ein begrenzter Anteil von jungen Menschen zwischen 15–24 Jahren Arbeit. Viele gehen noch auf eine allgemeinbildende oder berufliche Schule, leisten Militär- oder einen Sozialdienst oder studieren. Sie suchen im Moment keine Erwerbsarbeit. EU-weit betrug die Erwerbsquote bei Jugendlichen zwischen 41–44 %6. Wenn also 50 % der Jugendlichen arbeitslos sind, trifft dies lediglich auf diejenigen eines Jahrgangs zu, die tatsächlich Erwerbsarbeit suchen. Damit betragen die höchsten Arbeits6 Brenke, Jugendliche, 987 f.
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losenquoten bezogen auf einen gesamten Jahrgang ‚lediglich‘ noch 20 % oder 25 %, was immer noch problematisch genug ist. Umgekehrt kann aber die in offiziellen Statistiken ausgewiesene Jugendarbeitslosigkeit auch zu gering bemessen sein.7 Gezählt werden nur Personen, die sich beim Arbeitsamt gemeldet haben. Dies sind aber nicht alle potentiell erwerbsfähigen und prinzipiell erwerbswilligen Jugendlichen. So kann es sein, dass sich nicht alle melden, weil sie gar keinen Anspruch auf Unterstützungsleistungen haben. Leistungen der Arbeitslosenversicherung setzen in der Regel voraus, dass man bereits gearbeitet und Beiträge gezahlt hat. Andere Hilfsprogramme wie Arbeitslosenhilfe bzw. Sozialhilfe werden aber in vielen Ländern nur gezahlt, wenn nicht die Eltern (bis 25) Unterhalt zahlen können bzw. Jugendliche nicht noch im Haushalt ihrer Eltern leben (z. B. 73,7 % der Jugendlichen in Griechenland).8 Es gibt Jugendliche ohne Ansprüche auf Geldleistungen und ohne Perspektive auf Arbeit, die sich nicht melden. Sie helfen ggf. in der elterlichen Landwirtschaft (u. Ä.) mit. In der offiziellen Statistik werden diese als NEET (not in employement, education or training) ausgewiesen. Unterschätzt werden kann Jugendarbeitslosigkeit aber auch durch zwei weitere Faktoren: Jugendliche haben zwar Teilzeitarbeit, würden aber gerne Vollzeit arbeiten. Etwa 1/3 der Jugendlichen in der EU arbeitet in Teilzeit.9 Weiterhin kann man wegen der schlechten Arbeitsmarktsituation künstlich Ausbildungszeiten (z. B. ein Studium) verlängern oder aus Verlegenheit eine weitere Ausbildung und ein weiteres Studium aufnehmen. Aus solchen Gründen sind Statistiken über Jugendarbeitslosigkeit mit Vorsicht zu betrachten. Außerdem kann die Beschäftigung von Jugendlichen eine hohe Quote an befristeten Beschäftigungsverhältnissen umfassen, etwa in Polen und Spanien mit 70 %. 3. Folgen von Jugendarbeitslosigkeit Falls es Jugendlichen für längere Zeit nicht gelingt, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen, können die Kenntnisse und Qualifikationen, die in allgemeinbildenden und beruflichen Schulen, in vorheriger Erwerbsarbeit oder im Studium erworben werden, wieder verloren gehen.10 Dies kann sich auch auf allgemeine Arbeitstugenden beziehen, wie pünktlich zur Arbeit zu erscheinen oder einen achtstündigen Arbeitstag durchzuhalten. Bei längerer Arbeitslosigkeit hat man, um die Zeit totzuschlagen, bestimmte Abläufe des Tages (schlafen, frühstücken etc.) länger gestreckt. Längere Arbeitslosigkeit kann dann zu einem Stigma werden, sodass bei einem neuen Wirtschaftsaufschwung Arbeitgeber Jugendliche, die frisch von der Schule 7 Bosch, Jugendarbeitslosigkeit, 7. 8 Thomas Köster, Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Eine europäische Verantwortung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Analysen und Argumente Nr. 269, Berlin 2017, 6. 9 Brenke, Jugendliche, 992. 10 Irene Dingeldey/Marie-Luise Assmann/Lisa Steinberg, Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Ein komplexes Problem – verschiedene Antworten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 67 (2017), Heft 26, 40–46, 40.
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oder Universität kommen, bevorzugen, nicht aber diejenigen, die länger arbeitslos waren. Jugendliche, die in einer länger anhaltenden Rezession arbeitslos waren oder aus anderen Gründen (z. B. fehlender Schulabschluss) nie in die Erwerbsarbeit integriert waren, erleiden dann für ihre gesamte berufliche Laufbahn einen Nachteil.11 Dies gilt auch für diejenigen, die zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit unterqualifizierte Jobs angenommen haben, z. B. als Hochschulabsolvent als Hilfsarbeiter in der Bauwirtschaft, Einzelhandelsverkäuferin oder Raumpflegerin in Hotelgewerbe gearbeitet haben. Sie können ggf. auf ihrem formalen Qualifikationsniveau nie mehr eine adäquate Stelle erhalten. Wenn Jugendliche arbeitslos sind, unfreiwillig Teilzeitarbeit leisten oder unterhalb ihrer formalen Qualifikation beschäftigt werden, verfügen sie auch über relativ wenig Einkommen. Daher sind Armutsquoten bei Jugendlichen überdurchschnittlich hoch. In bestimmten Jugendphasen wollen die meisten Jugendlichen ihr Elternhaus verlassen und eine eigene Wohnung beziehen, sei es, um mit Freunden oder Partnern zusammenzuziehen und/oder um einen Lebensstil zu pflegen, der nicht mehr der unmittelbaren elterlichen Kontrolle unterliegt. Aufgrund der finanziellen Lage sehen sich aber viele arbeitslose Jugendliche gezwungen, länger bei ihren Eltern zu wohnen. Auch sind vielfach finanzielle Grundlagen für eine Eheschließung und die Gründung einer Familie nicht gegeben. Jugendarbeitslosigkeit kann aber auch zur Folge haben, dass Jugendliche das Vertrauen in die Wirtschaftsordnung und die politische Ordnung insgesamt verlieren. In der EU kann dies nicht allein den Nationalstaat, sondern wegen des Euros auch die EU insgesamt betreffen. Dies kann zwei Reaktionen haben: Radikale und extremistische Bestrebungen auf beiden Seiten des politischen Spektrums, häufig mit Bereitschaft, Regeln zu übertreten und Gewalt anzuwenden, werden überproportional von Jugendlichen getragen. Umgekehrt kann sich die Protesthaltung von Jugendlichen auch in erhöhter Kriminalität niederschlagen. Es kann aber auch Resignation auftreten, die zu einer Abwendung von Gesellschaft und von gesellschaftlichem Engagement (z. B. in der Zivilgesellschaft) führt. Erhöhter Konsum von Alkohol und Drogen können ebenso auftreten. 4. Das EU-Programm der Jugendgarantie 2013 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU eine „Jugendgarantie“. Dafür wurden zusätzlich 6,4 Mrd. Euro, später auf 8 Mrd. erhöht, wobei 50 % die Einzelstaaten tragen müssen, zur Verfügung gestellt. Dieses Programm gehört zum Europäischen Sozialfonds, der von 2014–2020 mit 86 Mrd. Euro insgesamt ausgestattet ist. Mit diesen hohen Milliardenbeträgen sollten in allen Regionen der EU mit hoher Jugendarbeitslosigkeit Chancen für arbeitslose Jugendliche geschaffen werden. Alle Jugendliche in der EU sollen nach spätestens vier Monaten Arbeitslosigkeit ein konkretes Angebot einer weiterführenden
11 Möller, Jugendarbeitslosigkeit, 3.
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Ausbildung, eines Praktikums, eines hochwertigen Arbeitsplatzes etc. erhalten. Für die Umsetzung waren die einzelnen Nationalstaaten und ihre Arbeitsverwaltungen verantwortlich. Wegen der niedrigen deutschen Jugendarbeitslosigkeit entfielen auf den größten Finanzier der Aufwendungen Deutschland keine Fördermittel. Nach 2013 ging der Umfang der Jugendarbeitslosigkeit in Europa langsam zurück, sodass das Thema nicht mehr die politische Agenda dominiert. Auf den ersten Blick scheint dieses Programm einen Erfolg gehabt zu haben, weil die ausgewiesene Jugendarbeitslosigkeit in der EU nach 2013 zurückgegangen ist. Die ausgewiesene Zahl der gemeldeten jugendlichen Arbeitslosen ist aber ein unzureichender Indikator. Dies ist deshalb der Fall, weil ein Rückgang von Jugendarbeitslosigkeit gegeben sein kann, ohne eine erhöhte Integration und Beschäftigung von Jugendlichen im regulären (nicht subventionierten) Arbeitsmarkt, es also nicht mehr Stellen für Jugendliche gibt. Der Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit in einer Reihe von EU-Ländern12 beruht weniger auf mehr Beschäftigung, sondern auf demographischen Effekten, nämlich dass Jahr für Jahr weniger Jugendliche wegen geburtenschwacher Jahrgänge neu auf den Arbeitsmarkt strömen. EU-weit sank die Zahl der Jugendlichen zwischen 2013 und 2017 um 1,9 Mill.13 Dies ist mehr als der Rückgang der Arbeitslosen, der 1,7 Mill. betrug. Ohne Zuwanderung schrumpft die Zahl der Jugendlichen in der EU jedes Jahr um 290.000. Weiterhin wurde der Arbeitsmarkt in einigen EU-Ländern (z. B. Griechenland) dadurch entlastet, dass häufig qualifiziertere Jugendliche ins Ausland ausgewandert sind.14 Insoweit es sich um gutqualifizierte Jugendliche handelt, kann sich der kurzfristige Vorteil für ein Land langfristig als nachteilig erweisen, weil gutqualifizierte Personen auf Dauer fehlen und die Geburtenraten weiter absinken. Weiterhin kann es sein, dass Jugendliche länger im Ausbildungssystem verbleiben oder sich mehr Jugendliche aus dem Arbeitsmarkt ganz zurückgezogen haben.15 Eine Auswertung des EU-Rechnungshofs16 für das Programm „Jugendgarantie“ hat erhebliche Defizite in einer Reihe von Ländern ergeben: − Nicht allen Jugendlichen, die eventuell durch dieses Programm gefördert werden können, war es bekannt. In manchen Ländern mussten sich arbeitslos gemeldete Jugendliche ausdrücklich für das Programm erneut bewerben. − In manchen EU-Ländern war die Relation von Beratern in der Arbeitsverwaltung und der Anzahl von Jugendlichen, die betreut werden mussten, zu schlecht, sodass es zu Verzöge12 Brenke, Jugendliche, 987. 13 Ebd. 14 Köster, Jugendarbeitslosigkeit, 6. 15 Ulrich Stolzenburg, Jugendarbeitslosigkeit im Euroraum, IfW-Box 2016.4 (Institut für Weltwirtschaft), Kiel 2016. 16 Europäischer Rechnungshof, Sonderauswertung Nr. 5/ 2017. Jugendarbeitslosigkeit – Haben die Maßnahmen der EU Wirkung gezeigt? Eine Bewertung der Jugendgarantie und der Beschäftigungsinitiative für junge Menschen.
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rungen im Mittelabfluss kam. Während in Deutschland ein Mitarbeiter 48 Jugendliche zu betreuen hat, waren es in Spanien 596.17 2017 waren rd. 50 % der arbeitslosen Jugendlichen länger als sechs Monate arbeitslos, was dem Grundansatz der „Jugendgarantie“ widerspricht.18 In vielen EU-Ländern wurden zunächst die Jugendlichen vorab nicht genau befragt und es wurde nicht analysiert, wo deren Stärken und Schwächen sowie Neigungen liegen. Daher wurden Jugendliche in für diese ungeeigneten Ausbildungen oder Beschäftigungen geschickt. Eine hohe Abbrecherquote von Maßnahmen bzw. eine unzureichende Integration nach Abschluss der Maßnahme in den Arbeitsmarkt war die Folge. - Häufig wurden nicht alle Jugendlichen erfasst. Dabei wurden eher arbeitslose Jugendliche mit einer Hochschulausbildung gefördert, hingegen Jugendliche, die nicht einmal einen Schulabschluss haben, nicht erreicht. Die einzelnen EU-Länder evaluierten ihre Maßnahmen unzureichend, sodass sie nicht „Erfolgsquoten“ unterschiedlicher Maßnahmentypen erfassen konnten, um daraus zu lernen.
Von 14 Mill. arbeitslosen Jugendlichen in der gesamten EU erhielten 6 Mill. ein Angebot, gefördert wurden tatsächlich aber lediglich 1,4 Mill.19 Auf die Kritik des Rechnungshofes reagierte die EU-Kommission20 damit, dass sie der Auffassung war, dass viele benannte Defizite und die daraus abgeleiteten Empfehlungen des Rechnungshofes nicht die Arbeit der EU-Kommission betrafen, sondern die jeweiligen Nationalstaaten. Darin zeigen sich grundlegende Probleme von EU-Politik auf vielfältigen Gebieten: Erstens zielt EU-Politik allgemein darauf ab, dass die einzelnen EU-Länder von erfolgreichen Beispielen in anderen EU-Ländern lernen und diese übernehmen sollen. Im Kontext der Jugendarbeitslosigkeit wird dazu vor allem auch das deutsche System der beruflichen Ausbildung genannt. Dabei wird aber übersehen, dass dieses System in 100 Jahren und mehr gewachsen ist und auf einer eingespielten Kooperation von Unternehmen, Gewerkschaften, Politik (Berufsschulen) und Kammern beruht. Ein solches System kann nicht einfach auf andere Länder, in denen es keine Industrie- und Handels-, Handwerks- und Landwirtschaftskammern gibt und bei der eine Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften fehlt, übertragen werden.21 Zweitens liegen Probleme in vielen EU-Ländern generell in zentralen Defiziten im administrativen System und im politischen System (z. B. Kompetenzabgrenzungen zwischen Zentralregierung, regionalen und lokalen Verwaltungen, Spezialbehörden wie der Arbeitsverwaltung). Politische Kompetenzstreitigkeiten, Beset17 Dingeldey, Jugendarbeitslosigkeit, 44. 18 Brenke, Jugendliche, 994. 19 Köster, Jugendarbeitslosigkeit 7. 20 Europäischer Rechnungshof, Sonderauswertung (Anhang). 21 Bosch, Jugendarbeitslosigkeit, 11.
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zung von Verwaltungspositionen nicht nach Qualifikation, sondern aufgrund von Korruption, klientelistischer Verbindungen etc. stellen Problemursachen dar. Dies zeigt z. B. die niedrige Einstufung vieler EU-Länder im Korruptionsindex von „Transparency international“. Dies hat zur Konsequenz, dass EU-Recht faktisch nicht umgesetzt wird oder die Bereitstellung von EU-Mitteln nur an Symptomen kuriert, aber nicht die eigentlichen Ursachen angeht. EU-Programme können dazu führen, dass Problemursachen noch verstärkt werden, wenn z. B. Regionen arm sind und eine hohe (Jugend-)Arbeitslosigkeit aufweisen, weil dort Korruption in Politik und Verwaltung vorherrschen oder organisierte Kriminalität (Süditalien) einflussreich ist. Daher stellen zusätzliche EU-Mittel neue illegale Bereicherungsmöglichkeiten dar, z. B. wenn Unternehmen sowieso neue Arbeitskräfte einstellen wollen und sich diese dann durch ein EU-Programm zur Jugendarbeitslosigkeit finanzieren lassen, um ihren Gewinn zu steigern. Wenn zur Vermeidung eines ineffektiven oder gar kontraproduktiven Mitteleinsatzes die EU-Kommission eine Mittelzuteilung von strengen Auflagen abhängig macht, kommt es dazu, dass für ein Land bereitgestellte Mittel nicht abfließen, wie dies bereits jahrelang vor der Schuldenkrise bei Strukturfondsmitteln für Griechenland der Fall war.22 Dabei interessiert sich die EU-Kommission mehr dafür, dass die Mittel tatsächlich ausgegeben werden, als dass sie positive Ergebnisse hervorbringen. Da in den meisten Ländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit nach 2008 bereits immer schon die Jugendarbeitslosigkeit und die relative Armutsrate hoch und die Binnen- wie Auslandsmigration vor allem qualifizierter Jugendlicher hoch war, kommt strukturellen Problemlösungen hohe Bedeutung zu. In diesem Sinne handelt es sich bei der „Jugendgarantie“ eher um kurzfristige Symptomtherapie. Schärfer formuliert es Bosch: „Die vollmundige Rhetorik, allen Jugendlichen spätestens nach viermonatiger Arbeitslosigkeit eine hochwertige Arbeitsstelle oder eine geeignete Qualifizierung anzubieten, kann in vielen Teilen Europas nur als Zynismus empfunden werden.“23 5. Deutschland – eine Ausnahme Von allen EU-Ländern hat Deutschland die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit. Sie war nie so hoch wie in den meisten anderen EU-Ländern und ist auch in der Wirtschafts- und Finanzkrise nicht so stark gestiegen, sondern vielmehr schnell zurückgegangen. Dies lag erstens daran, dass in Deutschland die gesamtwirtschaftliche Entwicklung günstiger als in anderen EU-Ländern war, sodass von der günstigen Beschäftigungsentwicklung auch Jugendliche profitierten. Dies erklärt aber nicht die insgesamt niedrige Rate der Jugendarbeitslosigkeit und die relativ geringen Unterschiede der Raten zwischen Jugendlichen und Erwachsenen.
22 Zur geringen Abrufung von Mitteln der EU- Strukturfonds: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2018/2019, 34 (Nr. 56). 23 Bosch, Jugendarbeitslosigkeit, 11.
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Ursache für die günstige Entwicklung in Deutschland ist das berufliche Bildungssystem.24 Jugendliche, die nicht selbst den Einstieg in die Arbeitswelt schaffen, werden intensiv durch die Arbeitsverwaltung und ihre Instrumente begleitet, um sie noch für eine Ausbildung zu befähigen. Auch in schweren Wirtschaftskrisen werden neue Auszubildende eingestellt. So wurden auch zwischen 2008 und 2010 jedes Jahr mehr als 500.000 Jugendliche zu ‚Insidern‘ im Arbeitsmarkt. Sie wurden Teil einer betrieblichen Solidargemeinschaft. Unternehmen halten Lehrwerkstätten und Ausbildungskapazitäten vor, die auch bei einer Wirtschaftskrise nicht ungenutzt bleiben. Nachdem man in junge Menschen erfolgreich investiert, diese betrieblich sozialisiert und fachlich gut ausgebildet hat, will man diese Personen auch möglichst behalten. Da diese jungen Leute teilweise bereits während der Ausbildung der Gewerkschaft beigetreten sind, setzten sich Betriebsräte und Gewerkschaften für diese ein. Wenn nun aus ökonomischen Gründen ein Abbau von Arbeitsplätzen unumgänglich wird, geschieht dies nicht nur dadurch, dass Arbeitskräfte in den Ruhestand treten oder kündigen (natürliche Fluktuation), sondern in Deutschland vor allem auch dadurch, dass ältere Beschäftigte das Angebot erhalten, etwas früher als gewöhnlich in den Ruhestand zu treten. Einkommensverluste, z. B. durch Rentenabschläge, werden durch Ausgleichszahlungen im Rahmen von Sozialplänen kompensiert. Damit gelingt es zumindest, einen Teil der Auszubildenden auch in einer Wirtschaftskrise in den Produktionsprozess zu integrieren. In anderen Ländern sind Jugendliche, die von einer allgemeinbildenden, beruflichen Schule oder Hochschule ohne konkreten Unternehmensbezug kommen, Outsider.25 Sie können keinem konkreten Unternehmen und seiner Belegschaft zugerechnet werden, dass in sie investiert hat und diese Investitionen nicht verlieren will oder sie sind nicht Mitglied einer betrieblichen und gewerkschaftlichen Solidargemeinschaft. Es fühlt sich für einen konkreten Jugendlichen niemand direkt moralisch verantwortlich. Daher ist die Arbeitslosigkeit eines Jugendlichen lediglich ein allgemein gesellschaftliches, aber kein konkretes Problem. In Deutschland wurden bewusst Generationsbrücken geschaffen und auch sozialpolitisch zeitweise durch Frühverrentungsprogramme unterstützt. In manchen Branchen war es in Deutschland (Automobilindustrie) üblich, dass der Sohn oder die Tochter im Unternehmen des Vaters oder der Mutter arbeitet oder zumindest verwandtschaftliche Netzwerke bestehen. Dann ist sogar direkte familiäre Solidarität im betrieblichen Kontext möglich. Unternehmen stellen als Auszubildende Kinder von Betriebsangehörigen ein, weil diese wissen können, was auf sie zukommt und sie Hilfestellung von ihren Eltern erhalten können, aber auch einer gewissen sozialen Kontrolle unterliegen. In Krisensituationen können Eltern etwas früher in den Ruhestand treten, damit ihre eigenen Kinder nach einer Ausbildung übernommen werden. 24 Gerhard Bosch, Die duale Berufsausbildung – das Geheimnis der deutschen Wettbewerbsfähigkeit, IAQReport 2018-05. Homepage des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ), http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2018/report2018-05.php (abgerufen am 14.12.2019). 25 Bosch, Jugendarbeitslosigkeit, 9.
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III. Sozialethische Überlegungen zur Jugendarbeitslosigkeit Arbeit hat in der christlich-sozialethischen Tradition zentrale Bedeutung. Mit ihrer Arbeit setzen die Menschen den in der biblischen Schöpfungserzählung ihnen aufgegebenen Grundauftrag um, die Schöpfung zu behüten und zu bebauen. Daher wurde selbst im Paradies gearbeitet. Arbeit ist deshalb keineswegs eine Folge des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies. Auch Jesus hat die längste Zeit seines Lebens als Zimmermann oder Bauhandwerker auf Montage gearbeitet. Obwohl ein Wanderprediger traditionell das Recht auf Unterhalt durch die Gemeinden hat, verzichtet der Apostel Paulus darauf und bestreitet seinen Lebensunterhalt durch eigener Hände Arbeit vermutlich als Zeltmacher. Die ersten christlichen Gemeinden setzten sich mehrheitlich aus Personen unterer und mittlerer sozialer Gruppen zusammen, die regelmäßig einer Arbeit nachgehen mussten. Auch die christlichen Ordensleute, die mit täglicher Eucharistiefeier und täglichen Gebetszeiten einen besonderen spirituell geprägten Tagesrhythmus pflegen, gehen einer täglichen Arbeit (ora et labora) nach. Die anthropologische Grundbedeutung von Arbeit betrifft alle Arbeitsformen, ob selbstständige oder unselbstständige Erwerbsarbeit, Haus- und Sorgearbeit oder ehrenamtliche Betätigung. Arbeit stellt daher für arbeitsfähige Personen eine Verpflichtung dar, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Durch Arbeit kann der Einzelne seine Fähigkeiten entfalten und für seine Mitmenschen in einer arbeitsteiligen Wirtschaft produzieren und solidarisch für Nichtarbeitende (Kranke, Behinderte, Kinder, Alte) einen Beitrag leisten. Durch Arbeit integriert sich ein Mensch in die Gesellschaft. Arbeit ist eine wesentliche Funktion gesellschaftlicher Teilhabe, die für das individuelle Selbstwertgefühl und die gesellschaftliche Anerkennung hohe Bedeutung hat. Dies kann auch ein garantiertes Grundeinkommen26 nicht leisten. Besonders Jugendlichen, denen es gar nicht erst gelingt, sich in die Arbeitswelt zu integrieren, fehlen solche Möglichkeiten der Selbstentfaltung der eigenen Kräfte, ein Selbstwertgefühl über den Ertrag der eigenen Arbeit und das verdiente Einkommen und die soziale Anerkennung und Teilhabe. Daher entspricht in der christlichen Tradition der moralischen Pflicht zur Arbeit auch ein korrespondierendes Recht auf Arbeit. Dies bedeutet als Freiheitsrecht zunächst, das man sich eine Arbeit frei suchen darf, man also nicht durch diskriminierende Bedingungen im Arbeitsmarkt gehindert ist, Arbeit aufzunehmen, weil bestimmte Tätigkeiten bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppen, einem bestimmten Geschlecht etc. vorbehalten sind. Das Recht auf Arbeit bedeutet, dass die staatliche Bildungs-, Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik, ebenso wie Unternehmen und Gewerkschaften für einen hohen Beschäftigungsstand zu sorgen haben, sodass jeder Arbeitswillige und Arbeitsfähige eine Arbeit erhält. Arbeitslosigkeit, soweit sie einen geringen Umfang überschreitet und für die Betroffenen 26 Joachim Wiemeyer, Bedingungsloses Grundeinkommen als Kern eines neuen Sozialstaates? (Kirche und Gesellschaft 381), Köln 2011.
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überwiegend nicht nur vorübergehend ist, stellt auch eine kollektive Selbstschädigung der Gesellschaft und Desorganisation dar, weil die brachliegenden Fähigkeiten der Arbeitslosen nicht zu deren individuellem Wohl wie zum gesellschaftlichen Vorteil genutzt werden. Größere und dauerhafte Arbeitslosigkeit ist somit irrational, weil die Fähigkeiten von Menschen zur gesellschaftlichen Wohlfahrtssteigerung nicht produktiv eingesetzt werden. Im Gegensatz zu den früheren zentralgeleiteten Volkswirtschaften des Ostblocks ist es aber in einer freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung nicht möglich, einen darüberhinausgehenden Anspruch auf einen konkreten Arbeitsplatz für jeden Einzelnen zu realisieren. Dies würde sich an Freiheitsrechten stoßen. Dies gilt zum einen für das Recht einer Person, ihren Beruf oder ihr Studium selbst zu wählen, selbst wenn Einstellungschancen geringer sind und an anderer Stelle höherer gesellschaftlicher Bedarf besteht. Der gesellschaftliche Bedarf kann auch an anderen Orten vorhanden sein. Man kann aber nicht alle Personen zur Mobilität zwingen. Zum anderen müssen auch private Arbeitgeber das Recht haben, sich ihre Beschäftigten selbst auszusuchen, statt sie von einer Behörde zugeteilt zu bekommen. Dies gilt umgekehrt für die Beschäftigten entsprechend. Ebenso kann ein individuelles Recht auf Arbeit ggf. nur in einer bestimmten Lohnhöhe realisiert werden. Dies kann in Konflikt mit von Gewerkschaften und Unternehmern ausgehandelten Tarifverträgen treten. Daher muss sich ein ‚Recht auf Arbeit‘ auf das Ziel eines hohen Beschäftigungsstandes beschränken. Nicht nur Arbeitslosigkeit oder Diskriminierung können Probleme in der Arbeitswelt darstellen. Vielmehr gibt es unmenschliche Formen von Arbeit wie Zwangsarbeit, gesundheitsgefährdende Arbeit oder die Vorenthaltung des gerechten Lohnes. Daher stand im Mittelpunkt der christlich-sozialen Bewegung in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert der Einsatz für gerechte Arbeitsbedingungen. Zu solchen Anforderungen gehört etwa das Verbot der Kinderarbeit, der Jugendarbeitsschutz sowie besondere Schutzmaßnahmen für schwangere Frauen und Behinderte. Arbeit darf nicht die Gesundheit durch Unfälle oder Berufskrankheiten gefährden. Es muss durch eine Begrenzung der täglichen, der wöchentlichen (vor allem Sonntagsschutz) und der jährlichen Arbeitszeit (Urlaub) ausreichende Erholungsphasen geben sowie freie Zeit für Sorgearbeit im eigenen Haushalt, gesellschaftliches Engagement und soziale Beziehungen außerhalb der Arbeitswelt. In Unternehmen selbst ist die Personenwürde der arbeitenden Menschen zu schützen, sodass etwa eine lückenlose Überwachung durch technologische Instrumente dem ebenso entgegensteht, wie strikt hierarchische Formen der Arbeitsorganisation. Daher kann durch Betriebsräte und Regelungen der Mitbestimmung die Stellung der arbeitenden Menschen ebenso geschützt werden, wie durch Regelungen zum Schutz gegen willkürliche Kündigungen. Zu den partizipativen Rechten der arbeitenden Menschen gehört auch die Organisation in Gewerkschaften und die Möglichkeit, eigene Forderungen notfalls mit Streiks durchzusetzen. Solche Grundbedingungen und Voraussetzungen sind in Deutschland von der christlichsozialen Bewegung entwickelt, gegen Arbeitgeber bzw. Unternehmer erkämpft oder auf politischem Wege mit anderen durchgesetzt worden. Dazu ist der Einsatz christlicher Arbeit-
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nehmer, ihrer Funktionäre und Politiker von der wissenschaftlichen Sozialethik theoretisch untermauert und von der kirchlichen Sozialverkündigung bestärkt worden. In der kirchlichen Sozialverkündigung sind die anthropologischen Überlegungen zum Stellenwert der Arbeit, zu den Rechten des arbeitenden Menschen und den Grundbedingungen humaner Arbeitsbeziehungen entfaltet worden. Daher findet sich in der kirchlichen Sozialverkündigung auch das Thema der „Jugendarbeitslosigkeit“. Seine Besorgnis über Jugendarbeitslosigkeit drückt Johannes Paul II. in der Enzyklika Laborem Exercens (Nr. 18) bereits 1981 aus. Zu einem besonderen Übelstand wird sie [die Arbeitslosigkeit, J.W.], wenn sie vor allem Jugendliche trifft, die nach einer entsprechenden allgemeinbildenden, technischen und beruflichen Vorbereitung keinen Arbeitsplatz finden können und ihren ehrlichen Arbeitswillen verbunden mit ihrer Bereitschaft, die ihnen zukommende Verantwortung für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Gesellschaft zu übernehmen, schmerzlich enttäuscht sehen.
Johannes Paul II. warnte auch vor einem akademischen Proletariat: In dieser Lage können sich manche Kategorien oder Gruppen der arbeitsabhängigen »Intelligenz« befinden, besonders dann, wenn zugleich mit einem immer breiteren Zugang zur Bildung und bei anwachsender Zahl von Personen mit abgeschlossenem Studium die Nachfrage nach ihrer Arbeit abnimmt. Diese Arbeitslosigkeit der Intellektuellen ergibt sich oder steigert sich sogar, wenn die offenstehenden Bildungswege nicht auf die von echten Erfordernissen der Gesellschaft verlangten Leistungen oder Dienste ausgerichtet sind oder wenn eine Arbeit, die eine wenigstens berufsbezogene Bildung voraussetzt, weniger gefragt oder schlechter bezahlt ist als manche manuelle Arbeit. Selbstverständlich stellt Bildung als solche immer einen Wert und eine wichtige Bereicherung der menschlichen Persönlichkeit dar; doch bleiben unabhängig von dieser Tatsache manche Prozesse der »Proletarisierung« hierbei möglich. (Nr. 8).
Jugendarbeitslosigkeit ist auch Gegenstand des nachsynodalen Schreibens von Papst Franziskus nach der Jugendsynode 2018.27 Ich bitte die jungen Menschen, nicht zu erwarten, leben zu können, ohne zu arbeiten, während sie von der Hilfe anderer abhängig sind. Dies tut nicht gut, denn die Arbeit ist eine Notwendigkeit, sie ist Teil des Sinns des Lebens auf dieser Erde, Weg der Reifung, der menschlichen Entwicklung und der persönlichen Verwirklichung. Den Armen mit Geld zu helfen muss in diesem Sinn immer eine provisorische Lösung sein, um den Dringlichkeiten abzuhelfen. (Nr. 269).
27 Franziskus, Christus vivit, Nachsynodales Schreiben an die jungen Menschen und das ganze Volk Gottes (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 218), Bonn 2019.
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Papst Franziskus ist der Auffassung, dass die Arbeitswelt ein Bereich ist, in dem junge Menschen Formen der Ausgrenzung und Marginalisierung erleben, die sich am stärksten und gravierendsten in der Jugendarbeitslosigkeit bemerkbar machen, die in einigen Ländern ein exorbitantes Niveau erreicht hat. Fehlende Arbeitsmöglichkeiten machen sie nicht nur arm, sondern beschneiden sie auch in ihrer Fähigkeit zu träumen und zu hoffen und nehmen ihnen die Möglichkeit, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung zu leisten. In vielen Ländern ist diese Situation darauf zurückzuführen, dass gewisse Schichten in der jungen Bevölkerung unter anderem aufgrund von Defiziten im Bildungsund Ausbildungssystem nicht über entsprechende berufliche Fähigkeiten verfügen. Häufig ist die prekäre Beschäftigungssituation, die junge Menschen trifft, eine Folge wirtschaftlicher Interessen, die Arbeitskraft ausbeuten. (Nr. 270).
Arbeit stellt für junge Menschen eine Berufung dar, der sie folgen sollten. Ihre Integration in die Arbeitswelt geht über den Erwerb von Einkommen hinaus. Es ist Aufgabe der Christlichen Sozialethik, ihre normativen Überlegungen unabhängig von biblischen Grundlagen und lehramtlichen Verlautbarungen mit vernünftigen Argumenten zu begründen, die auch für Personen einsichtig sind, die der eigenen Konfession bzw. Religion nicht angehören. Dazu bedient sie sich sozialphilosophischer Überlegungen. In der modernen Sozialphilosophie spielt in Anlehnung an John Rawls der Gerechtigkeitsdiskurs eine wichtige Rolle.28 Daher kann die Rawlʼsche Grundkonzeption auch im Kontext der Christlichen Sozialethik auf konkrete Fragestellungen angewandt werden. Für Rawls sind solche gesellschaftlichen Regeln, Strukturen und Institutionen gerecht, auf die sich alle – abstrahiert und unabhängig von ihren konkreten Interessen – hinter einem ‚Schleier des Nichtwissens‘ einigen können. Wenn man diese Überlegungen auf verschiedene Jahrgänge in einer Gesellschaft anwendet, müssten alle Jahrgänge ähnliche Chancen auf Integration in die Erwerbsarbeit und Möglichkeiten der Einkommenserzielung haben. Es darf keine Jahrgänge geben, die strukturell lebenslang dadurch benachteiligt sind, dass sie in bestimmten Phasen ihres Lebens, in der Jugendzeit, längerfristig arbeitslos waren, und diese Arbeitslosigkeit sich negativ auf ihre gesamte Berufslaufbahn in Hinblick auf Möglichkeiten der Einkommenserzielung und des beruflichen Aufstiegs niederschlägt, während Generationen vor und nach ihnen bessere Möglichkeiten haben. Chancengerechtigkeit und Generationengerechtigkeit sind damit in ethischer Hinsicht Schlüsselkategorien für normative Reflexionen über Jugendarbeitslosigkeit. Gesellschaftliche Institutionen (Schule, berufliches Ausbildungswesen, Hochschule, Arbeitsrecht, Tarifpolitik, staatliche Mindestlohngesetzgebung, Vorschriften des Kündigungsschutzes etc.) sind so zu gestalten, dass beide Gerechtigkeitsdimensionen möglichst weitgehend realisiert 28 Joachim Wiemeyer, Keine Freiheit ohne Gerechtigkeit, Freiburg i. Br. 2015.
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werden. Dabei weiß eine Christliche Sozialethik, dass solche normativen Zielsetzungen nur unvollkommen erreichbar sind, weil aufgrund sachlicher und moralischer Irrtümer von Menschen, aber auch nichtintendierten Folgen des interdependenten Handelns einer Vielzahl von Akteuren gesellschaftliche Probleme (z. B. eine temporäre Konjunkturkrise) unvermeidbar sind. Es ist aber normativ gefordert, alle durch individuelles bzw. kollektives Handeln vermeidbaren Probleme einzugrenzen bzw. das Problemausmaß möglichst zu beschränken. Welche Handlungsoptionen im Bereich von Jugendarbeitslosigkeit bestehen, soll im nächsten Abschnitt erörtert werden.
IV. Der Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit 1. Handlungsmöglichkeiten der einzelnen EU-Länder Da die Jugendarbeitslosigkeit in den verschiedenen EU-Ländern unabhängig von der Konjunkturlage über längere Zeiträume unterschiedlich hoch war, gibt es offensichtlich eine Reihe von Handlungsoptionen, die im nationalen Kontext liegen. Zu solchen Handlungsoptionen gehört zunächst ein Schulsystem, das möglichst viele Jugendliche zu einem qualifizierten Abschluss führt. Hier liegt – trotz der niedrigen Jugendarbeitslosigkeit – auch ein Problem für Deutschland, weil hier die Zahl der Jugendlichen, die ohne Abschluss eine allgemeinbildende Schule verlassen, zu hoch ist.29 Es ist wichtig, möglichst viele Jugendliche ausbildungsfähig zu machen. Für andere EU-Länder ist es wichtig, die häufig rein schulisch stattfindende berufliche Ausbildung stärker auf die konkreten Anforderungen privater Arbeitgeber auszurichten. Eine engere Verknüpfung von Theorie und Praxis muss gegeben sein. Dazu gehört etwa, dass Schulen mit den technischen Geräten (z. B. Computern) ausgestattet werden, die auch in der Wirtschaftspraxis eingesetzt werden und auch Praxiselemente vorhanden sind. Im deutschen Hochschulwesen haben sich besonders auch die Fachhochschulen bzw. Hochschulen für angewandte Wissenschaften bewährt, in denen im Studium Praxissemester oder Praktika integriert sind und in denen Abschlussarbeiten häufig in Verbindung mit der Praxis angefertigt werden, sodass die Absolventen schon während des Studiums Kontakte mit potentiellen Arbeitgebern aufbauen. Ein duales Studium (Ausbildungsabschluss und zugleich Studienabschluss) sowie eine Weiterqualifikation als Meister sind weitere Elemente.30
29 Aline Hohbein/Lars Thiess, Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland: zu wenige profitieren vom dualen System, in: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Unsichere Zukunft. Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Vergleich, Gütersloh 2014, 6–12. 30 Bosch, Duale Berufsausbildung.
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Weiterhin ist es Aufgabe der einzelnen Länder, zu prüfen, ob Mängel in der Ordnung des Arbeitsmarkes zu einer hohen Jugendarbeitslosigkeit beitragen. So wird die deutlich höhere Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich im Vergleich zu Deutschland auch damit in Verbindung gebracht, dass in Frankreich der Mindestlohn höher ist. Ebenso sind Regeln hinsichtlich befristeter Beschäftigungsmöglichkeiten und des Kündigungsschutzes zu überprüfen. Einen starken Anstieg von Jugendarbeitslosigkeit gibt es bei einer Konjunkturkrise, wie sie etwa durch die weltweite Finanzkrise ausgelöst wurde. Auf solche Krisen kann sich der jeweilige EU-Staat selbst durch zwei Wege vorbereiten: Erstens kann er in Zeiten des Wirtschaftswachstums in der Arbeitslosenversicherung Überschüsse ansammeln. Dann besteht nicht die Gefahr, dass wegen einer stark steigenden Arbeitslosigkeit in der Krise wegen Finanzierungsproblemen Leistungen gekürzt werden müssen. Zweitens dürfen die Defizite der öffentlichen Haushalte in Wachstumsphasen nur gering sein, sodass zur Stützung der Konjunktur eine Neuverschuldung möglich ist, ohne gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt des Euro zu verstoßen.31 2. Europäische Handlungsmöglichkeiten Da das Niveau der Jugendarbeitslosigkeit auch von der allgemeinen konjunkturellen Entwicklung abhängt, kommt es nach wirtschaftlichen Schocks auf die Stabilisierung des Konjunkturverlaufs an. Dabei hat die Europäische Zentralbank in den letzten Jahren alles ihr Mögliche versucht, eine solche Stabilisierung zu erreichen. Sie ist dabei sowohl an Grenzen dessen gestoßen, was im Rahmen ihrer rechtlichen Kompetenz möglich ist, als auch, was geldpolitisch zu erreichen war. Es stellt sich daher die Frage, ob es eine Weiterentwicklung der Institutionen im Eurosystem geben sollte, um konjunkturelle Probleme abzumildern. Bei einer Wirksamkeit hätte dies positive Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit insgesamt. Da in den meisten EU-Ländern in Krisen die Jugendarbeitslosigkeit besonders stark steigt, würden Jugendliche davon besonders profitieren. Die dazu vorgeschlagenen Instrumente sind zum einen eine europäische Arbeitslosenversicherung und zum anderen ein eigener Investitionshaushalt der Euro-Staaten. a) Die europäische Arbeitslosenversicherung In der Literatur gibt es verschiedene Vorschläge. Besonders weitgehend ist das Konzept von Dullien/Fichtner32. Dieses Konzept sieht vor, das alle Arbeitnehmer in Europa einen Beitrag in eine europäische Arbeitslosenversicherung entrichten. Im Falle der Arbeitslosigkeit 31 SVR-Wirtschaft, 207 (Nr. 429). 32 Sebastian Dullien/Ferdinand Fichtner u. a., Eine Arbeitslosenversicherung für den Euroraum als automatischer Stabilisator – Grenzen und Möglichkeiten, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz der Republik Österreich, Berlin 2014.
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würden die Arbeitnehmer dann aus der europäischen Versicherung Leistungen erhalten. Die Leistungen der europäischen Versicherung stellen nur einen Mindeststandard dar. Die einzelnen EU-Länder hätten die Möglichkeiten, die Höhe der Leistungen und die Dauer der Zahlungen über die Mindesthöhe hinaus zu erweitern. Mit einer solchen Arbeitslosenversicherung würde ein Ausgleich zwischen EU-Ländern stattfinden, indem von Ländern mit niedriger Arbeitslosigkeit in Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit umverteilt wird. Vorbild dafür sind föderale Nationalstaaten wie die USA oder Deutschland, in denen es über die Arbeitslosenversicherung auch zwischen US-Bundesstaaten oder deutschen Bundesländern zu Umverteilungen kommt, wenn in einem Teilstaat die Arbeitslosigkeit deutlicher höher als in einem anderen Teilstaat ist, weil z. B. ein Wirtschaftszweig, der in diesem Teilstaat besonders stark vertreten ist, durch eine internationale Entwicklung (Einbruch in einem wichtigen Exportmarkt) besonders stark betroffen ist. Falls Krisen in längerer Frist unterschiedliche Länder betreffen, kann es auf Dauer zu einem Ausgleich kommen, weil nicht immer nur Zahlungen aus bestimmten Staaten erfolgen, während andere dauerhaft Empfänger sind. Modellrechnungen33 für den Euroraum für vergangene Perioden haben aber ergeben, dass besonders Spanien immer ein erheblicher Nettoempfänger gewesen wäre. Befürworter einer europäischen Arbeitslosenversicherung würden aber auch dauerhafte Transfers akzeptieren, weil sie wie in föderalen Bundesstaaten eine Solidargemeinschaft sehen. Mittlerweile ist die Europäische Union eine solche staatsähnliche Gemeinschaft bzw. sie müsste es bei einer gemeinsamen Währung werden. Denn in föderalen Nationalstaaten kommt es auf verschiedene Weise auch zu jahrzehntelangen Transfers zu Teilstaaten, die eine höhere Arbeitslosigkeit als andere aufweisen. Zudem bleibt das Ausmaß der Solidarität begrenzt, weil nur eine Mindestleistungshöhe gezahlt wird und die Dauer begrenzt bleibt. Von der Mehrheit der deutschen Ökonomen wird dieses Konzept abgelehnt, etwa vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung34 oder vom Wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums.35 Wesentliche Argumente sind dabei, dass die einzelnen EU-Staaten nach dem Subsidiaritätsprinzip die Möglichkeiten hätten, in ihrer Arbeitslosenversicherung und in ihren nationalen Haushalten für Konjunkturabschwächungen Vorsorge zu treffen. Eine europäische Arbeitslosenversicherung könnte solche Eigenanstrengungen schwächen. Weiterhin hängt Arbeitslosigkeit insgesamt von einer geeigneten Wirtschaftspolitik, der Förderung privater Investitionen, einer Steuerpolitik, der Forschungspolitik, einer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ab. In all diesen Politikbereichen könnten aber nationale Reformanstrengungen schwächer werden, wenn Kosten steigender Arbeitslosigkeit vom Ausland mitgetragen werden. Solche Fehlanreize im Rahmen von Ver33 Ferdinand Fichtner/Peter Haan, Europäische Arbeitslosenversicherung: Konjunkturstabilisierung ohne große Umverteilung der Haushaltseinkommen, in: DIW-Wochenbericht (2014), 843–854, 848. 34 SVR-Jahresgutachten 2018/19. 35 Wiss. Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Zwischen Fiskalunion und fiskalpolitischer Eigenverantwortung: Zum Vorschlag einer europäischen Arbeitslosenversicherung, Nr. 3, Berlin 2016.
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sicherungssystemen werden als „Moral Hazard“ bezeichnet.36 Gegen das von Befürwortern der Versicherung angeführte Argument einer Solidargemeinschaft wird eingewandt, dass innerhalb der Bundesstaaten der USA oder der deutschen Bundesländer die Arbeitskräftemobilität deutlich höher als zwischen den EU-Ländern ist, sodass sich durch Wanderungsbewegungen unterschiedliche Höhen von Arbeitslosenraten schneller angleichen würden, was wiederum einen Transferbedarf mindert. Zum anderen haben deutsche Bundesländer erheblich geringere finanz-, wirtschafts- und sozialpolitische Gestaltungsmöglichkeiten als EU-Staaten. Ebenso sind Tarifverträge häufig länderübergreifend. Daher besteht weniger die Möglichkeit, Folgen und daraus erwachsende Kosten einer verfehlten Politik auf Externe abzuwälzen, als dies im Kontext der EU möglich wäre. Wenn eine europäische Arbeitslosenversicherung eingeführt würde, müsste man der lediglich indirekt demokratisch legitimierten EU-Kommission oder dem Ministerrat mehr Kompetenzen gegenüber der stärker demokratisch legitimierten nationalen Regierung und dem nationalen Parlament zusprechen, um bei Fehlentwicklungen eingreifen zu können.37 Aufgrund solcher Bedenken sind weitere Varianten einer europäischen Arbeitslosenversicherung entwickelt worden. Ein Vorschlag geht dahin, dass ein Land, das dauerhaft hohe Arbeitslosenraten aufweist und den gemeinsamen Finanztopf zu sehr in Anspruch nimmt, nach dem Verursacherprinzip mit höheren Beiträgen zu belasten. Eine andere Variante geht dahin, dass in einer ökonomischen Krisensituation keine verlorenen Transfers gewährt werden, sondern lediglich Kredite, die zurückgezahlt werden müssen. Es wäre eine Rückversicherung, dass einem EU-Land bei einem starken ökonomischen Einbruch mit stark steigender Arbeitslosigkeit, aber bei nur begrenzten nationalen Kreditmöglichkeiten auf den Finanzmärkten, eine zusätzliche Verschuldungsmöglichkeit eröffnet werden müsste, sodass keine Kürzungen von Sozialleistungen erforderlich wären. Diese könnten ja durch einen Nachfragerückgang eine Wirtschaftskrise noch vertiefen und/oder verlängern. Da schwerwiegende Wirtschaftskrisen denkbar sind, die auch bei einer soliden Haushaltspolitik und Vorsorge in der nationalen Arbeitslosenversicherung deren Leistungsfähigkeit übersteigen kann,38 erscheint eine Rückversicherung über eine europäische Arbeitslosenversicherung als sinnvoll. b) Euro-Investitionsfonds Eine Arbeitslosenversicherung dient in einer Wirtschaftskrise dazu, die Kaufkraft in einem EU-Land zu stabilisieren, um zu verhindern, dass es zu einem sich selbst verstärkenden Nachfragerückgang kommt. Ein Europäischer Investitionsfonds zielt darauf ab, in einer Krisensituation zusätzliche Nachfrage zu schaffen, in dem in einem EU-Land, das von einer 36 Ebd., 23. 37 Ebd. 38 So zutreffend das Minderheitsvotum von Isabel Schnabel, in: SVR-Wirtschaft, 218–221, (Nr. 456 –464).
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Wirtschaftskrise stärker betroffen wird, durch zusätzliche staatliche Ausgaben der Privatwirtschaft Impulse zu geben und den Ausfall privater Nachfrage zu kompensieren. Die EU unternimmt mit ihren Strukturfonds bereits seit Jahrzehnten generell eine solche Investitionsförderung. Die mittelfristig angelehnten Programme weisen aber keine spezielle konjunkturpolitische Dimension auf. Ein eigenes Budget für die Eurozone könnte eine solche Funktion erfüllen. Da der EUHaushalt insgesamt nur gut 1 % des Bruttoinlandsprodukts der Mitgliedsländer aufweist, könnte er in einer Krise, die mehrere oder vor allem die größeren Mitgliedsländer betrifft, wegen ihres geringen gesamtwirtschaftlichen Gewichts, kaum stabilisierende Wirkung entfalten. Anders ist dies bei den kleineren EU-Staaten. Die ärmeren dieser Staaten erhalten aus den EU-Strukturfonds so viele Mittel, dass dies kaum administrativ handhabbar ist. Das dort mögliche Auftragsvolumen, vor allem in der Bauwirtschaft, überschreitet die vorhandenen Kapazitäten. Es stehen Finanzmittel in einem Umfang zur Verfügung, die sinnvoll (wegen vernünftiger Projekte) verausgabt kaum steigerbar sind, will man nicht aus Europa laufende Ausgaben (z. B. Gehälter im öffentlichen Dienst) finanzieren. Um eine Krise zu bewältigen, bestünde die Möglichkeit, dass Planungen für direkt realisierbare Projekte (in der Schublade) vorhanden wären, die sofort umgesetzt werden könnten. Dies ist aber häufig deshalb nicht möglich, weil gegen Infrastrukturprojekte oft Einwände erhoben und Klagen angestrebt werden. Selbst wenn diese Hindernisse nicht existieren, sind (europaweite) Ausschreibungen notwendig, die auch angefochten werden können, bevor die Projekte realisiert werden. Ein Mittel, Staaten in einer Wirtschaftskrise zu helfen, wäre, dass die EU auf den üblicherweise fälligen Eigenanteil des Mitgliedstaates verzichtet. Ein Problem besteht aber darin, dass dann ein Projekt (z. B. Straßenbau) quasi kostenlos für ein Land ist. Dann kann man Projekte vorschlagen und realisieren, die gesamtwirtschaftlich eine negative KostenNutzen-Relation aufweisen, weil es vermeintlich kostenlos ist. Vielmehr als zu verhindern, dass in einer Wirtschaftskrise öffentliche Investitionshaushalte zurückgefahren werden, wird sich durch Stabilitätshilfen durch EU-Mittel nicht realisieren lassen. Dazu reichen aber begrenzte Mittel, etwa durch ein Vorziehen von Haushaltsausgaben aus. Ggf. wäre ein beschränktes Haushaltsvolumen für Investitionen in konjunkturellen Abschwüngen sinnvoll. Wenn einzelne EU-Länder in einer starken Rezession wegen mangelnder Kreditwürdigkeit auf privaten Kapitalmärkten nicht mehr in der Lage wären, die öffentlichen Investitionen zu finanzieren, wäre ein Zugang zu zusätzlichen Mitteln für Investitionen sinnvoll. Da Jugendarbeitslosigkeit in konjunkturellen Krisen besonders stark steigt und längerfristige Jugendarbeitslosigkeit für die gesamte berufliche Laufbahn der besonders betroffenen Jugendlichen Konsequenzen haben kann, sind Instrumente, wie eine europäische Arbeitslosenversicherung und ein Investitionshaushalt, die das Ausmaß von Konjunkturkrisen in einzelnen EULändern mildern können, sinnvoll. Vermutlich beachten traditionelle Ökonomen nicht die deutlichen Verluste an Humankapital, die bei jungen Langzeitarbeitslosen auftreten. Auch
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werden die Gerechtigkeitsdimensionen wie die politischen Konsequenzen und die sozialen Folgekosten nicht hinreichend beachtet.
V. Fazit Jugendarbeitslosigkeit stellt eine große sozialethische Herausforderung dar, weil die Lebenschancen von bestimmten Jahrgängen von Jugendlichen in der Europäischen Union in bestimmten EU-Ländern stark beeinträchtigt sind. Dies stellt auch eine Verletzung der Generationengerechtigkeit dar. Vor allem kommt es darauf an, dass die EU-Länder, die immer schon eine überdurchschnittliche Jugendarbeitslosigkeit aufweisen, strukturelle Reformen einleiten, die den Übergang von Jugendlichen in den Arbeitsmarkt erleichtern.
Literaturverzeichnis Bosch, Gerhard, Jugendarbeitslosigkeit in Europa – warum versagen milliardenschwere Hilfsprogramme?, in: „Ifo-Schnelldienst“ 68 (2015), Heft 17, 7–11. Bosch, Gerhard, Die duale Berufsausbildung – das Geheimnis der deutschen Wettbewerbsfähigkeit, IAQ-Report 2018–05, http://www.iaq.uni-due.de/iaq-report/2018/report2018-05.php (angerufen am 14.12.2019). Brenke, Karl, Jugendliche in Europa: rückläufige Jugendarbeitslosigkeit, aber noch große Probleme, in: DIW-Wochenbericht 84 (2017), 985–995. Dingeldey, Irene/Assmann, Marie-Luise/Steinberg, Lisa, Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Ein komplexes Problem – verschiedene Antworten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 67 (2017), Heft 26, 40–46. Dullien, Sebastian/Fichtner, Ferdinand, u. a., Eine Arbeitslosenversicherung für den Euroraum als automatischer Stabilisator – Grenzen und Möglichkeiten, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz der Republik Österreich, Berlin 2014. Europäischer Rechnungshof, Sonderauswertung Nr. 5/ 2017, Jugendarbeitslosigkeit – Haben die Maßnahmen der EU Wirkung gezeigt? Eine Bewertung der Jugendgarantie und der Beschäftigungsinitiative für junge Menschen. Fichtner, Ferdinand/Haan, Peter, Europäische Arbeitslosenversicherung: Konjunkturstabilisierung ohne große Umverteilung der Haushaltseinkommen, in: DIW-Wochenbericht (2014), 843–854. Franziskus, Ansprache für Mitglieder des „Movimento Christiano Lavoratori“ am 16.01.2016, in: „Osservatore Romano“ (Deutsche Ausgabe) 46, Nr. 4 v. 29.01.2016, 8. Franziskus, Christus vivit, Nachsynodales Schreiben an die jungen Menschen und das ganze Volk Gottes, (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 218), Bonn 2019. Hohbein, Aline/Thiess, Lars, Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland: zu wenige profitieren vom dualen System, in: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Unsichere Zukunft. Jugendarbeitslosigkeit im europäischen Vergleich, Gütersloh 2014, 6–12.
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Jugendarbeitslosigkeit – eine gesamteuropäische Verantwortung
Köster, Thomas, Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Eine europäische Verantwortung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Analysen und Argumente Nr. 269, Berlin 2017. Möller, Joachim, Jugendarbeitslosigkeit – Ein Problem von europäischer Dimension, in: „Ifo-Schnelldienst“ 68 (2015), Heft 17, 3–6. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 2018/2019, 34 (Nr. 56). Schnabel, Isabel, in: SVR-Wirtschaft, 218–221, (Nr. 456–464). Stolzenburg, Ulrich, Jugendarbeitslosigkeit im Euroraum, IfW-Box 2016.4 (Institut für Weltwirtschaft), Kiel 2016. Wiemeyer, Joachim, Bedingungsloses Grundeinkommen als Kern eines neuen Sozialstaates? (Kirche und Gesellschaft 381), Köln 2011. Wiemeyer, Joachim, Keine Freiheit ohne Gerechtigkeit, Freiburg i. Br. 2015. Wiemeyer, Joachim, Jugendarbeitslosigkeit – eine große sozialethische Herausforderung in Europa, in: Polonia Sacra 20 (2016), Nr. 4 (45). Wiss. Beirat beim Bundesministerium der Finanzen, Zwischen Fiskalunion und fiskalpolitischer Eigenverantwortung: Zum Vorschlag einer europäischen Arbeitslosenversicherung, Nr. 3, Berlin 2016.
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Neue Regeln für den Datenschutz Europäische Verantwortungsübernahme im transnationalen Datenhandel I. Einleitung: Muss das Internet europäischer werden? Als der deutsche CSU-Politiker und Vorsitzende der Fraktion der Europäischen Volkspartei im EU-Parlament im Frühjahr 2019 in den Wahlkampf um das Amt des Kommissionspräsidenten zog – als Spitzenkandidat seiner Partei –, da gehörte auch die Netz- oder Digitalpolitik der EU zu einem der zentralen Themen. „Das Internet muss europäischer werden“, so lautete die Devise, unter der Weber seine Reden und Gastbeiträge zu dieser Thematik verstanden wissen wollte. In einem Artikel für das Magazin „Spiegel Online“ vom 3. April 2019 heißt es wörtlich: Der einseitig auf Selbstregulierung angelegte Ansatz des massenhaften Datensammelns in einem weitgehend nicht regulierten Markt ist gescheitert. Die Angebote im Internet können nicht nachhaltig sein, wenn sie nicht die Werte unseres Zusammenlebens respektieren. Dabei kommt der EU eine große Verantwortung zu. Nur Europa kann so einen wertegebundenen regulatorischen Rahmen schaffen, der die wesentlichen Grundsätze des Zusammenlebens in unseren Gesellschaften respektiert. Weder ein Internet in amerikanischer Wildwest-Manier noch ein Internet, das der Staat – wie in China – zur Überwachung einsetzt, kann Vorbild sein.1
In diesem kurzen Zitat kommen drei Kerngedanken zum Ausdruck: Erstens wird ein dringender Regulierungsbedarf in Hinblick auf die Digitalisierung und insbesondere Datafizierung, also die Sammlung und Auswertung immer größerer Bestände von personenbezogenen Daten im Internet, ausgemacht. Die überfällige Regulierung des sog. Cyberspace müsse sich zudem an den grundlegenden Werten unserer Gesellschaftsordnung orientieren. Drittens falle angesichts der jeweils abschreckenden Beispiele der USA wie Chinas die Verantwortung der EU zu, für eine werteorientierte Regulierung des Internets zu sorgen und damit gleichsam einen dritten Weg aufzuzeigen. Der einstige Wahlkämpfer Weber steht mit seiner plakativen Forderung für ein ‚europäischeres‘ Internet keineswegs allein da. Neben vielen entsprechenden Stimmen in der (europa-)politischen Debatte hat auch der wissenschaftliche Diskurs zumindest ein gesteigertes 1 Spiegel Online, 3. 4. 2019, https://www.spiegel.de/politik/ausland/manfred-weber-das-internet-muss-europaeischer-werden-a-1260900.html (abgerufen am 14.12.2019).
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Interesse an der normativen Rolle der EU in zentralen Fragen der Digitalpolitik erkennen lassen.2 Ein prominentes Beispiel aus der akademischen Politikberatung stellen die Beiträge von Wolfgang Kleinwächter, Max Senges und Matthias C. Kettemann dar, mit denen sie im Vorlauf zum Internet Governance Forum im November 2019 die Stakeholder für eine neue Rollendefinition der EU gewinnen wollen. Denn in den Beiträgen wird plakativ ein sog. „New Deal“ für das globale Internet, der von der EU federführend zu entwickeln sei, verlangt: „Europe Should Take Lead in Shaping a ‘New Deal’ on Internet Governance“. Weiter heißt es etwa in ihrem Gastbeitrag für „CircleID“, das führende Online-Fachmagazin im Bereich Internetentwicklung: Europe, which was rather silent in the Internet Governance discussion during the 2010s, could make a substantial contribution to such a ‘New Deal’. […] Historically, data protection law was a European concept that successfully migrated internationally. A number of cases (see Schrems or Google/Spain) have given Europe a judicial track record of holding companies to account. In terms of legislation, the recent GDPR is respected and recognized as an important example of how to weigh privacy, security and innovation. Europe must rely on its role as a normative actor.3
Wie im Beitrag Webers wird die EU auch hier in der Rolle des normativen Akteurs und eines wertegebundenen Regulierers angesprochen. Als Ausweis hierfür dienen europäische Rechtsprechung und Rechtsetzung im Bereich des Datenschutzes aus den vergangenen Jahren. Insbesondere die EU-Datenschutzgrundverordnung4 (im Folgenden DSGVO), verabschiedet 2016, wird als regulatorischer Meilenstein und Orientierungspunkt hervorgehoben. Ein Zusatzaspekt, der von den Autoren gleich eingangs betont wird, ist die langjährige Zurückhaltung der EU in Fragen der Digitalpolitik. Diese ist auch dadurch begründet, dass die
2 S. hierzu Robert Dewar/Myriam Dunn Cavelty, Die Cybersicherheitspolitik der Europäischen Union. Bollwerk gegen die Versicherheitlichung eines Politikbereichs, in: Wolf J. Schünemann/Marianne Kneuer (Hrsg.), E-Government und Netzpolitik im europäischen Vergleich (E-Government und die Erneuerung des öffentlichen Sektors 19), 2. Aufl., Baden-Baden 2019, 281-299; sowie Wolf J. Schünemann, Business as usual or norm promotion? Divergent modes and consequences of transatlantic crisis resilience in cybersecurity and data protection after the Snowden revelations, in: Gordon Friedrichs/Sebastian Harnisch/Cameron G. Thies (Hrsg.), The politics of resilience and transatlantic order. Enduring crisis? (Routledge studies on challenges, crises and dissent in world politics), Abingdon/Oxon/New York, NY 2019, 126–142. 3 Wolfgang Kleinwächter/Matthias C. Kettemann/Max Senges, IGF 13 & Paris Peace Forum: Europe Should Take Lead in Shaping a “New Deal” on Internet Governance, CircleID, http://www.circleid.com/posts/ 20181109_igf_13_paris_peace_forum_europe_should_take_lead/ (abgerufen am 14.12.2019). 4 „Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)“, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=CELEX:32016R0679 (abgerufen am 14.12.2019).
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verschiedenen Generationen organisch entwickelter Internetinstitutionen5 (zunächst die Adhoc-Gremien aus den wissenschaftlich geprägten Entwicklerkreisen, dann führende Internetunternehmen) ihren Ursprung und ihren Sitz in der Regel in den USA haben und sich die EU und die europäischen Staaten den liberalen Steuerungsvisionen und -arrangements USamerikanischer Prägung angeschlossen haben. Folgt man aktuellen medienwissenschaftlichen Untersuchungen zur sog. Plattformgesellschaft,6 dann ist das ‚europäische‘ Internet, wie es heute existiert und massenhaft genutzt wird, Teil eines durch US-amerikanische Internetfirmen („Big Five“: Google Alphabet, Amazon, Apple, Facebook, Microsoft) dominierten Plattform-Ökosystems, das weltweit allenfalls durch ein alternatives Ökosystem chinesischer, staatlich kontrollierter Plattformen herausgefordert wird. Europa oder die EU haben in diesem Systemwettbewerb keine eigenständige Alternative entwickelt, sondern folgen pfadabhängig der Orientierung an dem US-dominierten Ökosystem. Allerdings hat die EU ihre regulatorische Zurückhaltung angesichts eines gesteigerten kritischen Bewusstseins für die Auswirkungen des digitalen Wandels auf unser gesellschaftliches Zusammenleben in den vergangenen Jahren erkennbar aufgegeben.7 Schon in der Amtsperiode der Kommission 2014 bis 2019 ist die Schwerpunktsetzung auf die Verwirklichung eines Digitalen Binnenmarkts mit selbstbewussten und international (vor allem transatlantisch) umstrittenen Forderungen der Regulierung digitaler Ökonomien etwa in den Bereichen Urheberrecht oder Besteuerung von Internetunternehmen verbunden gewesen. Einen besonderen Schwerpunkt europäischer Regulierung im Kontext der Digitalpolitik bildet zudem schon weiter zurückreichend der Datenschutz. Tatsächlich fällt der EU aufgrund der gemeinschaftlichen Kompetenzen in diesem Bereich, ihrer Marktmacht, insbesondere aber auch ihrer Verantwortung zum Schutz der Rechte der EU-BürgerInnen eine bedeutende Rolle für den effektiven Schutz der Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung zu. Eine Reihe von Gründen spricht für die EU als Regulierungsebene, wenn es um Fragen internationaler Digitalpolitik geht: Zum Ersten hat die EU spätestens mit der Definition einer Unionsbürgerschaft und der Verabschiedung eines Grundrechtskatalogs schon in den 1990er und 2000er Jahren die Verantwortung für den Grundrechtsschutz ihrer BürgerInnen übernommen und diesen konstitutionell verankert. Hierzu zählt auch der Schutz persönlicher und personenbezogener Daten. Zum Zweiten kann die EU aufgrund ihrer supranationalen Autorität eine einzelstaatliche Regulierungspraxis in Effektivität und Kompatibilität (mit dem transnationalen Netz) überlegene Regulierungsalternative bilden und durch Harmonisierung eine stärkere Fragmentierung des Netzes (und des Digitalen Bin5 „organically developed internet institutions (odii)“, s. Milton L. Mueller, Networks and states. The global politics of internet governance (Information revolution and global politics), Cambridge, Mass. 2010. 6 Zu Konzept und Theorie der Plattformgesellschaft s. José van Dijck/Thomas Poell/Martijn de Waal, The platform society. Public values in a connective world, New York 2018. 7 In diesem Zusammenhang sprechen Bendiek et al. von der „digitalen Selbstbehauptung der EU“, Annegret Bendiek/Christoph Berlich/Tobias Metzger: Die digitale Selbstbehauptung der EU, in: SWP-Aktuell, 71 (2015).
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nenmarkts) verhindern. Zum Dritten kann sie darüber hinaus ihre große Marktmacht einsetzen, um auch globale Partner zu Anpassungen im Datenschutzrecht zu inspirieren, wenn nicht zu veranlassen. Schließlich ist die Entwicklung des sog. Digitalen Binnenmarkts als Kern der ökonomischen Entwicklungsagenda vom Vertrauen der NutzerInnen in den grenzüberschreitenden digitalen Datenhandel abhängig. Wie im Zitat von Kleinwächter et al. angedeutet, ist die Europäische Union in den zurückliegenden Jahren mit der Weiterentwicklung des Datenschutzrechts durch umfassende Rechtsetzung (DSGVO und aktuell E-Privacy-Verordnung8) sowie wegweisende EuGHUrteile, etwa zum sog. Recht auf Vergessenwerden9 oder zum Safe-Harbor-Abkommen10, in Erscheinung getreten. Inwieweit sie mit den eingeleiteten Maßnahmen und Grundsatzentscheidungen ihrer Verantwortung für eine Gestaltung der Digitalisierung in Einklang mit unseren Grundwerten, eine Ordnung, die den Schutz der informationellen Selbstbestimmung ihrer BürgerInnen mit dem Erhalt transnationalen Datenverkehrs vereint, gerecht werden kann, wird Gegenstand des Beitrags sein. Dabei wird er zunächst die Entwicklung des europäischen Datenschutzrechts bis zum Rechtsetzungsprozess für die DSGVO nachzeichnen (Abschnitt 2). Darauf aufbauend wird der politische Prozess beschrieben, der zur Verabschiedung der Verordnung als international beachtetem Rechtsakt im internationalen Datenschutz geführt hat (Abschnitt 3). In Abschnitt 4 werden die wesentlichen und teils innovativen Bestände des neuen Datenschutzrechts, die sog. emergenten Normen11 des Datenschutzes, vorgestellt, bevor die Frage nach ihrer effektiven Durchsetzung in einer globalen digitalen Ökonomie behandelt wird (Abschnitt 5). Im letzten Abschnitt schließlich (Abschnitt 6) wird eine Bewertung hinsichtlich der Verantwortungsübernahme durch die 8 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Achtung des Privatlebens und den Schutz personenbezogener Daten in der elektronischen Kommunikation und zur Aufhebung der Richtlinie2002/58/EG (Verordnung über Privatsphäre und elektronische Kommunikation) vom 10.1.2017, https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52017PC0010, abgerufen am 14.12.2019. 9 Urteil in der Rechtssache C-131/12 Google Spain SL, Google Inc./Agencia Española de Protección de Datos, Mario Costeja González vom 13. Mai 2014, http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&doc id=152065&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=1245263, abgerufen am 14.12.2019. 10 Urteil in der Rechtssache C-362/14 Maximillian Schrems gegen Data Protection Commissioner, Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland) vom 6. Oktober 2015, http://curia.europa.eu/juris/liste. jsf?language=de&num=C-362/14, abgerufen am 14.12.2019. Mit „Safe Harbor“ wird das Abkommen bezeichnet, auf dessen Grundlage der transatlantische Datenverkehr bis zum EuGH-Urteil praktiziert wurde. Insg. etwa 4.000 Firmen hatten sich zur Einhaltung grundlegender Regeln des EU-Rechts verpflichtet. Zu Inhalt und Entstehung s. Henry Farrell, Constructing the International Foundations of E-Commerce – The EU-U.S. Safe Harbor Arrangement, in: International Organization 57 (2003), Heft 2, 277–306; William J. Long/Marc Pang Quek: Personal data privacy protection in an age of globalization. The US-EU safe harbor compromise, in: Journal of European Public Policy 9 (2002), Heft 3, 325–344. 11 Die Bezeichnung und teils auch die Auswahl (s. unten) übernehme ich von Graham Greenleaf, Data protection in a globalised network, in: Ian Brown (Hrsg.), Research handbook on governance of the Internet, Cheltenham 2013, 221–259.
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EU vorgenommen. Die normative wie vereinfachende Frage, ob das Internet europäischer werden müsse, wird in diesem Beitrag nicht beantwortet. Darüber kann nur die politische Debatte entscheiden. Der Beitrag soll aber zu einem besseren Verständnis dafür beitragen, worin eine solche Veränderung, eine solche europäische Prägung bestehen würde und welche Rolle die EU selbst dabei spielen kann.
II. Datenschutz in Europa – eine Vorgeschichte der Datenschutzgrundverordnung Das internationale Datenschutzrecht hat sich in den vergangenen Jahrzehnten – und bereits vor der digitalen Revolution – erheblich entwickelt. Europa bildete hierbei eines der regionalen Zentren der Rechtsentwicklung. In wesentlichen Zügen hat das moderne Datenschutzrecht seine Ursprünge auf dem europäischen Kontinent.12 Das erste Datenschutzgesetz der Welt gab sich schon 1970 das Bundesland Hessen. Schweden machte 1973 auf nationaler Ebene den Anfang. Es folgte eine Reihe europäischer Nationalstaaten.13 Das erste Bundesdatenschutzgesetz wurde Ende der 1970er Jahre verabschiedet. In seinem berühmten Volkszählungsurteil hob das Bundesverfassungsgericht in Deutschland den Datenschutz 1983 als Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf Grundrechtsniveau.14 Auf internationaler Ebene hatte zwar die OECD bereits früh, im Jahr 1980, erste Empfehlungen für den Datenschutz ausgesprochen. Diese waren aber nicht verbindlich. Es war demgegenüber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der bereits in den 1970er Jahren eine Rechtsprechung entwickelte, die aus dem in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) formulierten Recht auf Privatleben den grundrechtlichen Schutz für personenbezogene Daten ableitete. Diese Deutung ist durch die Europäische Datenschutzkonvention (Nr. 108) des Europarates von 1981, genauer: „Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten“,15 in internationales Recht überführt worden. Die Konvention kann als erstes verbindliches zwischenstaatliches Abkommen zum Schutz personenbezogener Daten gelten. Es wurde ursprünglich von fünf europäischen Staaten ratifiziert, namentlich Deutschland, Frankreich, Norwegen, Schweden und Spanien. Bis heute haben insgesamt 55 Staaten das Abkommen ratifiziert, darunter auch neun Nichtmitglieder des Europarats, wie Argentinien, Marokko oder Senegal.
12 Kleinwächter et al., IGF 13 & Paris Peace Forum. 13 Greenleaf, Data protection in a globalised network. 14 Andreas Busch/Tobias Jakobi, Die Erfindung eines neuen Grundrechts. Zu Konzept und Auswirkungen der „informationellen Selbstbestimmung“, in: Christoph Hönnige/Sascha Kneip/Astrid Lorenz (Hrsg.), Verfassungswandel im Mehrebenensystem, Wiesbaden 2011, 297–320. 15 Text des Abkommens unter https://rm.coe.int/1680078b38, abgerufen am 14.12.2019.
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In den 1990er Jahren, im Zuge der politischen Transformation der EU mit dem Maastricht-Vertrag und der Definition einer EU-Bürgerschaft, übernahm die EU wesentliche Funktionen im Grundrechtsschutz. Auf EU-Ebene wurden dementsprechend auch die in der Konvention 108 verbrieften Datenschutzstandards 1995 in das Sekundärrecht integriert. Konkret verabschiedete die Europäische Gemeinschaft im Jahr 1995 die sog. Datenschutzrichtlinie (im Folgenden DS-RL).16 Schon die DS-RL erfuhr international große Beachtung und galt viele Jahre als das fortschrittlichste Datenschutzgesetz der Welt, an dem sich viele Staaten außerhalb der EU in ihrer Rechtsentwicklung orientierten.17 Allerdings hielt dieses Ansehen den dynamischen Entwicklungen elektronischer Datenverarbeitung im Zeitalter der Digitalisierung nicht stand. So galt die DS-RL ein gutes Jahrzehnt später als veraltet und das europäische Datenschutzrecht als reformbedürftig. Abgesehen von den eigentlichen Inhalten der Richtlinie, die den neuen Praktiken der Datafizierung nicht mehr angemessen schienen, erfuhr auch die mangelnde Einheitlichkeit in der Umsetzung in den Mitgliedstaaten Kritik. In ihrer Form als Richtlinie schien sie den Mitgliedstaaten zu viele Spielräume zu gewähren und insbesondere keine verbindlichen und harten Sanktionsregime für Regelverstöße zu ermöglichen. Im europäischen Wettbewerb um ausländische Investitionen gerade im Bereich digitaler Ökonomien wuchs der Verdacht gegenüber einigen Mitgliedstaaten, einen laxen Umgang mit den Datenschutzregeln auch als Standortvorteil einzusetzen. Aus dieser Debatte entstammen einige der argumentativen Grundlagen für den Anstoß einer Reform des europäischen Datenschutzrechts. Die Datenschutzrichtlinie wurde 2016 durch die DSGVO abgelöst. In der Zwischenzeit hatte der erste europäische Konvent, der sog. Grundrechtekonvent von 1999 und 2000, unter Leitung des früheren deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog, das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRCharta) zum europäischen Grundrecht erhoben. Mit dem Vertrag von Lissabon, der die Gründungsverträge der EU reformierte und 2009 in Kraft trat, wurde die Grundrechtecharta zwar anders als im zuvor in Referenden gescheiterten Verfassungsvertrag nicht in das Vertragswerk integriert, aber doch für rechtsverbindlich erklärt. Zudem greift der reformierte Vertrag über die Arbeitsweise der EU nach Lissabon-Reform die grundlegende Norm in Artikel 16 ausdrücklich auf und überträgt die Rechtsetzungskompetenz der europäischen Legislative.18 Mit diesen Vertrags16 Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Verkehr, https://eur-lex.europa. eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A31995L0046, abgerufen am 14.12.2019. 17 S. hierzu auch Abraham L. Newman, Building Transnational Civil Liberties. Transgovernmental Entrepreneurs and the European Data Privacy Directive, in: International Organization 62 (2008), Heft 1, 103–130; sowie Ariadna Ripoll Servent: Protecting or processing? Recasting EU data protection norms, in: Wolf J. Schünemann/Max-Otto Baumann (Hrsg.), Privacy, Data Protection and Cybersecurity in Europe, Berlin 2017, 129–145. 18 Jan Philipp Albrecht/Florian Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU. Grundlagen, Gesetzgebungsverfahren, Synopse (Nomos Praxis), Baden-Baden 2017, 37 und 44.
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reformen betonte die EU die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme im Bereich des Datenschutzes. Sowohl aus der politischen Debatte als auch der Rechtsentwicklung konnte die Kommission in unmittelbarer Folge die Aufgabe ableiten, das europäische Datenschutzrecht umfassend zu reformieren.
III. Der politische Prozess bis zur Verabschiedung der Datenschutzgrundverordnung Den wirksamen Schutz des Grundrechts auf Datenschutz zu gewährleisten, bildete denn auch das ausdrückliche Kernanliegen der EU-Kommission, als diese Anfang 2012 ihren Entwurf für die EU- DSGVO vorlegte. Daneben kam das Motiv zum Tragen, das Vertrauen in den transnationalen Datenhandel als wesentliche Bedingung für das Funktionieren des Digitalen Binnenmarkts zu stärken. Als Annahme für die internationale Entwicklung des Datenschutzrechts, die als Voraussetzung für den effektiven Schutz personenbezogener Daten in einer globalen digitalen Ökonomie gelten muss, formulierte die Kommission die Erwartung normativer Diffusion weit über den EU-Kontext hinaus und setzte sich den expliziten Anspruch, internationale Standards im Bereich Datenschutz zu bestimmen. So betonte etwa die seitens der Kommission zuständige damalige Justizkommissarin Reding während des Rechtsetzungsprozesses wiederholt in ähnlicher Form: „Europe must act decisively to establish a robust data protection framework that can be the gold standard for the world. Otherwise others will move first and impose their standards on us“.19 Im Vorfeld der Präsentation des Entwurfs waren in einem breit angelegten Konsultationsprozess zunächst die Stakeholder beteiligt worden. Damit sollte der antizipierten Reichweite der Reform Rechnung getragen werden. Erwartungsgemäß rief das Rechtsetzungsvorhaben ein intensives Lobbying hervor, das über den gesamten politischen Beratungs- und Entscheidungsprozess nicht abreißen sollte. Im Europäischen Parlament verhandelte der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE) federführend über den Entwurf. Der deutsche Abgeordnete der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Jan-Philipp Albrecht, fungierte als Berichterstatter. Er legte seinen Bericht im Frühjahr 2013 vor. Die Verhandlungen darüber blieben zunächst stecken. Die Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen reichten eine Rekordzahl von knapp 4.000 Änderungsanträgen ein, und Kompromisse in den wesentlichen Punkten waren über Monate nicht in Sicht.20 19 Viviane Reding, A data protection compact for Europe, Vortrag am Centre for European Policy Studies in Brüssel, 28.1.2014, https://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-14-62_en.htm, abgerufen am 14.12.2019. 20 Hierzu Alexander Dix, The Commission’s Data Protection Reform After Snowden’s Summer, in: Intereconomics 48 (2013), Heft 5, 268–271; sowie Catherine Stupp, Parliament approves privacy rules after record number of amendments, in: Euractiv, 14. 4. 2016, http://www.euractiv.com/section/digital/news/parliamentapproves-privacy-rules-after-record-number-of-amendments, abgerufen am 14.12.2019.
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Allerdings wirkten die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden 2013 über die globalen Praktiken der Massenüberwachung durch den US-amerikanischen Geheimdienst NSA sowie verbündete Geheimdienste als externer Schock, der nach verbreiteter Ansicht die Widerstände innerhalb des Parlaments überwinden half und im weiteren Prozess auch die Haltung der Mitgliedstaaten beeinflusste. Denn zum Ersten unterstrichen die Enthüllungen die Relevanz effektiven Datenschutzes angesichts der massenhaften und anlasslosen Verletzung dieses Grundrechts durch Geheimdienste. In diesem Zusammenhang gilt es zwar zu bedenken, dass das europäische Datenschutzrecht keine direkte Handhabe gegen geheimdienstliche Praktiken der Mitgliedstaaten, geschweige denn von Drittstaaten hat. Selbst die besondere Datenverarbeitung durch die mitgliedstaatlichen Sicherheitsbehörden fällt nicht unter die DSGVO, sondern Reformen in diesem souveränitätssensiblen Bereich wurden parallel, doch separat verhandelt und mit der sog. „Polizei-Richtlinie“21 verabschiedet. Dennoch kann die EU auf Basis gemeinschaftlichen Datenschutzrechts das Abgreifen personenbezogener Daten bei den Diensteanbietern und Intermediären erschweren bzw. verhindern, indem sie die Zulässigkeit des transnationalen Datenhandels von der Gewährleistung angemessenen Grundrechtsschutzes abhängig macht. Tatsächlich hat diese Erwägung in einem wegweisenden Urteil des EuGH aus dieser Zeit eine wesentliche Rolle gespielt, wurde darin doch der Angemessenheitsbeschluss, den die Europäische Kommission im Rahmen des sog. Safe-Harbor-Abkommens gefällt hatte, für nichtig erklärt.22 Damit war ein indirekter Zusammenhang zwischen der enthüllten geheimdienstlichen Praxis und der überwiegend – wenn auch nicht ausschließlich – auf Unternehmen gerichteten datenschutzrechtlichen Regulierung also doch gegeben. Unabhängig davon bewirkten die Snowden-Enthüllungen zum Zweiten einen erheblichen Anstieg des öffentlichen Bewusstseins für die allgemeinen Gefahren, die aus der digitalen Wirtschaft für die Freiheit und informationelle Selbstbestimmung erwuchsen. Daraus ergab sich zum Dritten geradezu eine Regulierungserwartung, die sich – wenngleich ihrerseits nicht primär auf die Unternehmen gerichtet – im Rahmen des ohnehin auf den Weg gebrachten Reformvorhabens kanalisieren ließ.23 Alles in allem erwiesen sich die Enthüllungen durch den Whistleblower mithin als sehr hilfreich, um die Widerstände im Rechtsetzungsprozess zu überwinden.24 Im März 2014 wurde der überarbeitete Entwurf des Parlaments mit übergroßer Mehrheit im Plenum gebil21 Richtlinie (EU) 2016/680 des Europäischen Parlaments und des Rates zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung des Rahmenbeschlusses 2008/977/JI. 22 Urteil in der Rechtssache C-362/14. 23 Schünemann, Business as usual or norm promotion?; ferner auch: Henry Farrell/Abraham Newman, The Transatlantic Data War. Europe Fights Back Against the NSA, in: Foreign Affairs (Jan/Feb 2016), 124–133. 24 Albrecht/Jotzo, Das neue Datenschutzrecht der EU, 41; sowie W. Gregory Voss, Looking at European Union Data Protection Law Reform through a Different Prism. The Proposed EU General Data Protection Regulation Two Years Later, in: Journal of Internet Law 17 (2014), Heft 9, 11–24 (20).
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ligt (621 Stimmen dafür, nur zehn dagegen, 22 Enthaltungen). Es dauerte in der Folge noch über ein Jahr, bis auch der Rat zu einer gemeinsamen Position gefunden hat. Im Mai 2015 begannen die Trilog-Verhandlungen, die zu einer vergleichsweise raschen Kompromissfindung führten. Nachdem im Dezember 2015 eine Einigung erzielt worden war, konnte die DSGVO im April 2016 verabschiedet werden. Sie trat einen Monat später in Kraft ((EU) 2016/679). Es zeugt erneut von dem Bewusstsein um die große Reichweite der Gesetzgebung, dass eine für das Instrument der Verordnung ungewöhnliche Umsetzungsfrist von zwei Jahren gewährt wurde. Die DSGVO wurde erst mit dem 25. Mai 2018 verbindlich. Trotz dieser weiteren ‚Vorsichtsmaßnahme‘ am Ende eines insgesamt zehnjährigen Beratungsprozesses seit Beginn der Konsultationen trafen die Reformen viele Anbieter von Online-Diensten, aber auch Verantwortliche für die Datenverarbeitung in ganz anderen Kontexten, nicht zuletzt die BürgerInnen und NutzerInnen offenbar unvorbereitet und lösten aufgeregte Reaktionen aus. Dabei gewann die Kritik an der angeblichen Überregulierung bis tief in individuelle Alltagspraktiken hinein Überhand gegenüber einem im Kreise der supranationalen EU-Organe verbreiteten Narrativ des effektiven Grundrechtsschutzes in Zeiten ausufernder digitaler Datenverarbeitung und damit der erfolgreichen Verantwortungsübernahme für die BürgerInnenrechte. Für eine kritische Bewertung der Ereignisse ist es wichtig, sich die zentralen Bestandteile und Innovationen der DSGVO vor Augen zu führen. Hierzu dient der folgende Abschnitt.
IV. Die regulatorischen Innovationen der Datenschutzgrundverordnung Was hat die DSGVO Neues im Vergleich mit einem – wie oben beschrieben – bereits weit entwickelten europäischen Datenschutzrecht gebracht? Welche Innovationen und emergenten Normen können den im Rechtsetzungsprozess seitens der VertreterInnen supranationaler Organe wiederholt betonten Anspruch effektiver Verantwortungsübernahme unterstreichen? Der innovative Charakter der DSGVO besteht im Wesentlichen in einer Modernisierung bestehenden Datenschutzrechts angesichts drastisch veränderter Rahmenbedingungen einer digitalen Ökonomie. Der Rechtsakt hat die Substanz europäischen Datenschutzrechts nur in Teilen angepasst (s. unten). Vieles von dem, was heute der DSGVO zugeschrieben wird, in positiver (etwa als effektiver Grundrechtsschutz) und negativer Stoßrichtung (etwa als Überregulierung), galt bereits zuvor. Dessen waren sich Verantwortliche und Betroffene aber vielfach nicht bewusst, nicht zuletzt wegen der chronischen Umsetzungsdefizite und der mangelnden Harmonisierung im Binnenmarkt. Vor diesem Hintergrund liegen wesentliche Neuerungen der DSGVO in der Reduktion der Umsetzungsschwächen bestehenden Rechts durch die Stärkung von Institutionen, die Ausweitung von Kompetenzen und die Verbesserung von Instrumenten. Ein wesentlicher Unterschied zum bisherigen Rechtsrahmen besteht schon in der Wahl des Rechtsetzungsinstruments an sich. Anders als in den 1990ern mit der DS-RL wählte die Kommission für die
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Reform bewusst das Instrument der Verordnung, um die nationalen Umsetzungsdifferenzen innerhalb der EU, die zu uneinheitlichen Datenschutzniveaus für die EU-BürgerInnen und zu unfairen Wettbewerbsbedingungen für die datenverarbeitende Industrie geführt hatten, einzuhegen. Zudem sind die nationalen Datenschutzbehörden organisatorisch erheblich gestärkt worden und werden fortan zudem in einem Europäischen Datenschutzausschuss mit eigener Rechtspersönlichkeit koordiniert (Art. 68 DSGVO). Er wird künftig mittels Empfehlungen und Leitlinien zur einheitlichen Umsetzung der DSGVO beitragen. Damit ist das Kollektivorgan der Datenschutzbehörden gegenüber der zuvor existierenden Art. 29 Working Party (nach Art. 29 DS-RL) erheblich aufgewertet worden. Der Ausschuss soll die einheitliche Anwendung der Verordnung prüfen und die Anliegen der Aufsichtsbehörden gegenüber den Organen, insbesondere der Kommission, durch Stellungnahmen, Leitlinien und Empfehlungen artikulieren. Dem Datenschutzausschuss gehört auch der Europäische Datenschutzbeauftragte an, dessen Position ebenfalls noch einmal gestärkt wird. Erstmals legt die Verordnung einen verbindlichen Rahmen für Sanktionen fest, einschließlich hoher Geldbußen von bis zu 20 Millionen Euro oder 4 % des weltweiten Jahresumsatzes eines Unternehmens im Fall von schweren Verstößen (Art. 83 Abs. 5 DSGVO). Dies ist eine deutliche Verschärfung, denn die DS-RL hatte es den Mitgliedstaaten überlassen, welche Sanktionen im Fall von Verstößen verhängt werden sollten. Laut Bundesdatenschutzgesetz vor seiner Reform nach DSGVO waren Geldbußen in einer maximalen Höhe von 300.000 Euro vorgesehen (§43 BDSG a. F.). In vielen anderen Ländern gab es keine vergleichbaren Sanktionen. Zu den tradierten Datenschutzgrundsätzen, die in das neue Datenschutzrecht übernommen wurden, gehören die Zweckbindung, die Datenminimierung, die Transparenz, die Richtigkeit, die Integrität und Vertraulichkeit der erhobenen Daten (Art. 5 EU-DSGVO). Gestärkt werden diese Rechte durch die Etablierung einer Rechenschaftspflicht bei dem für die Datenverarbeitung Verantwortlichen, der nachweisen muss, dass die Voraussetzungen für eine rechtmäßige Datenverarbeitung vorliegen. Ein wesentlicher Grundsatz zur Gewährleistung des Datenschutzes ist zudem die informierte Einwilligung (Art. 6–8 DSGVO). Die Bedingungen für die informierte Einwilligung werden derart spezifiziert, dass sie Entwicklungen in der Digitalwirtschaft Rechnung tragen und VerbraucherInnenrechte stärken. So muss die Information in einer klaren und einfachen Sprache erfolgen. Zudem verschärft die Verordnung das sogenannte Kopplungsverbot (Art. 7 Abs. 4 DSGVO), wonach es nicht gestattet ist, die Erfüllung eines Vertrags, also etwa eine digitale Dienstleistung von der Einwilligung zu einer Verarbeitung von personenbezogenen Daten abhängig zu machen, wenn diese Daten gar nicht für die vertraglich vereinbarte Dienstleistung benötigt werden. Neben diesen Stärkungen und Spezifizierungen bestehender Grundsätze enthält die DSGVO zudem auch eine Reihe substantieller Innovationen, die im Folgenden vorgestellt und diskutiert werden. In der öffentlichen Debatte und Bewertung der DSGVO haben sie eine hervorgehobene Rolle gespielt. An ihnen lässt sich gut ermessen, welche qualitativen Veränderungen des Datenschutzrechts die DSGVO angestoßen hat. Im Einzelnen sind dies das Recht auf Löschung, das Recht auf Datenportabilität sowie die kombinierten Grundsätze
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des Datenschutzes durch Technikgestaltung und durch datenschutzfreundliche Voreinstellungen („Data Protection by Design“ und „Data Protection by Default“). 1. Recht auf Löschung (Art. 17 DSGVO) Das Recht auf Löschung ist in dieser Reihe erklärungsbedürftig, denn es handelt sich um einen tradierten Bestandteil modernen Datenschutzrechts, denn geradezu selbstverständlich muss es einer Person möglich sein, die Löschung falscher oder veralteter, schlicht nicht mehr erforderlicher oder auf widerrufener Einwilligung beruhender Daten zu erwirken. In der digitalen Informationsökonomie gehört jedoch viel mehr dazu. Personenbezogene Informationen verbreiten sich im Netz nicht nur rasant, sondern sie sind auch nur ausgesprochen schwer oder gar nicht – gleichsam aus allen Winkeln des Netzwerks – wieder zu entfernen. Wie weit kann das Recht auf Löschung im Internet also gehen? Welche Verantwortung tragen die ursprünglich für die Erhebung oder gar Veröffentlichung verantwortlichen Stellen für im Netz verstreute Inhalte? Welche Verantwortung tragen die Content-Service-Provider und Intermediäre (wie etwa die Google-Suchmaschine), die die Daten zwar nicht erhoben oder veröffentlicht haben, aber verlinken und für lange Zeit auffindbar halten? Angesichts dieser Fragen, die grundlegende Veränderungen digitaler Informationsversorgung betreffen, ist es nicht verwunderlich, dass das Recht auf Löschung in den vergangenen Jahren zum Gegenstand prominent geführter Diskussionen geworden ist. So plädierte der Rechtswissenschaftler Mayer-Schönberger für ein „Recht auf Vergessenwerden“ als erhebliche Erweiterung des Rechts auf Löschung für das digitale Zeitalter.25 Der in bildhafter Sprache sogenannte ‚digitale Radiergummi‘ soll der Idee zufolge NutzerInnen auf individualrechtlicher Ebene ermöglichen, gegen die Vorhaltung und Indizierung falscher oder veralteter Informationen, die womöglich eine rufschädigende Wirkung haben, vorzugehen. Die Kommission nahm diese Idee in ihren Vorschlag für die DSGVO auf. Insbesondere die Indizierung durch Suchmaschinen war zudem schon vor Verabschiedung der DSGVO Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH. In seinem Präzedenzurteil aus dem Jahr 201426 urteilte der EuGH auf Basis des damals gültigen Datenschutzrechts (mit Bezug auf die Grundrechtecharta und die Datenschutzrichtlinie) im Sinne eines Rechts auf Vergessenwerden. Konkret sah der Gerichtshof Suchmaschinen wie Google in der Pflicht, Löschanfragen von Betroffenen für Links zu an anderer Stelle veröffentlichten personenbezogenen Daten anzunehmen und im Sinne des Datenschutzrechts zu entsprechen.27 25 „right to be forgotten“, Viktor Mayer-Schönberger, Delete. The virtue of forgetting in the digital age, Princeton N. J. 2009. 26 Urteil in der Rechtssache C-131/12. 27 Hierzu Ana Azurmendi, Spain: The Right to BeForgotten. The Right to Privacy and the Initiative Facing the New Challenges of the Information Society, in: Wolf J. Schünemann/Max-Otto Baumann (Hrsg.), Privacy, Data Protection and Cybersecurity in Europe, Berlin 2017, 17–30.
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Trotz dieses Urteils wurde die mit dem Recht auf Vergessenwerden verbundene Vorstellung eines ‚digitalen Radiergummis‘ in den DSGVO-Beratungen im Europäischen Parlament sowie im Rat allerdings als unrealistisch kritisiert. Auch wurden die womöglich paradoxen Effekte problematisiert. So wurde befürchtet, dass ein Recht auf Vergessenwerden die NutzerInnnen in falscher Sicherheit wiegen und zu einem sorgloseren Umgang mit personenbezogenen Daten animieren könnte – also im Widerspruch zum Grundsatz der Datensparsamkeit stehe. Für den Kompromisstext der DSGVO wurde ein umfassendes Recht auf Vergessenwerden somit verworfen. Stattdessen spricht die Verordnung explizit zunächst nur vom Recht auf Löschung. So lautet auch der Titel des Art. 17 DSGVO. Allerdings ist in einem Klammerzusatz in Anführungszeichen das „Recht auf Vergessenwerden“ ergänzt. Der zweite Absatz des Artikels greift die in der Rechtsprechung des EuGH etablierte innovative Idee auf. Demnach sind für die Datenverarbeitung Verantwortliche sogleich dazu angehalten, im Falle einer Löschung, auch die Entfernung von Links und Kopien bei Dritten zu erwirken. Inwiefern diese Auflage in einem globalen Netzwerk tatsächlich wirksam geprüft und sanktioniert werden kann, muss fraglich bleiben. Insbesondere steht der extraterritoriale Effekt der Regelung infrage (s. Abschnitt 5). 2. Recht auf Datenübertragbarkeit (Art. 20 DSGVO) Das Recht auf Datenübertragbarkeit ist zweifelsohne ein innovativer Bestandteil der DSGVO. Es besagt, dass datenverarbeitende Stellen (etwa Anbieter sozialer Netzwerke) dazu verpflichtet sind, den NutzerInnen auf Antrag alle über sie gespeicherten personenbezogenen Daten in einem maschinenlesbaren Format auszuhändigen, sodass diese die Möglichkeit haben, sie zu einem anderen Anbieter zu transferieren.28 Die Datenportabilität kann im engeren Sinne nicht als datenschutzrechtliche Bestimmung betrachtet werden, sondern fällt dem Gebiet der Wettbewerbsregulierung zu. Zwar lässt sie sich im weiteren Sinn durchaus als Realisierung eines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung verstehen, im Wesentlichen ist das Regulierungsziel aber die Reduktion der in der Digitalökonomie vielfach bestehenden sog. ‚Lock-in-Effekte‘, um damit die Wahlmöglichkeiten der NutzerInnen zu vergrößern, etwa einen Wechsel von einem Netzwerk zum anderen, und so Wettbewerb zu ermöglichen. Der Gesetzgeber unternimmt mit der Datenportabilität also eine grundlegende Marktkorrektur, die als Voraussetzung für unverfälschten Wettbewerb auch Datenschutzziele befördern kann, begibt sich damit aber auf ein fremdes Terrain, was im Zuge des Rechtsetzungsprozesses Kritik hervorgerufen hat. Insbesondere die VertreterInnen des Vereinigten Königreichs machten wiederholt auf diese Grenzüberschreitung aufmerksam.29
28 S. auch Voss, Looking at European Union Data Protection Law Reform through a Different Prism. 29 Siehe die Ratsdokumente mit den Nummern 5879/14, 8172/14, verfügbar unter https://www.consilium.europa.eu/en/documents-publications/public-register/, abgerufen am 14.12.2019.
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Darüber hinaus drangen einige Mitgliedstaaten in den Verhandlungen im Interesse von Unternehmen darauf, die Vorgaben für die Portabilität abzuschwächen, sodass Unternehmen etwa nicht dazu verpflichtet werden können, die Datenpakete direkt an Konkurrenten zu übermitteln, wie es in der Telefonie (bei der Portabilität von Rufnummern der Fall ist). Die Mitgliedstaaten befürchteten eine Schwächung der Wettbewerbsposition europäischer Unternehmen sowie Überregulierung (unter ihnen Dänemark, Deutschland, Finnland, Schweden und das Vereinigte Königreich). Auch der öffentliche Sektor und die Offline-Datenverarbeitung wurden im finalen Kompromiss auf Drängen der Mitgliedstaaten im Rat von der Verpflichtung ausgenommen. 3. Datenschutz durch Technikgestaltung und datenschutzfreundliche Voreinstellungen (Art. 25 DSGVO) Diese beiden unter den englischen Ausdrücken ‚Privacy by Design‘ und ‚Privacy by Default‘ firmierenden und viel diskutierten Prinzipien werden im Regelfall im Verbund genannt und sind auch in einem gemeinsamen Gesetzesartikel kodifiziert. Sie stellen für das europäische Datenschutzrecht wesentliche Innovationen der DSGVO dar, wenngleich es auf internationaler Ebene durchaus Vorbilder für die Norm gegeben hat.30 Festgelegt wird, dass der Verantwortliche alle technischen und organisatorischen Maßnahmen trifft, um bereits bei der Auswahl und beim Design von Hard- und Software die Datenschutzgrundsätze zu beachten. Insbesondere sind auch die Voreinstellungen, denen eine Anwendung also ohne weitere Einstellungen durch den Nutzer unterliegt, im Sinne maximaler Datensparsamkeit vorzunehmen. Jede darüber hinausgehende Datenverarbeitung muss dann von der betroffenen Person explizit autorisiert werden. Die Verhandlungen zu diesen Vorschriften in der DSGVO lassen ein ähnliches Muster erkennen. So waren es die supranationalen Organe, allen voran das Parlament, die eine möglichst pauschale Vorgabe im Sinne der NutzerInnen forderten, also den Grundrechtsschutz gegenüber Unternehmensinteressen schützen wollten. Demgegenüber traten die Mitgliedstaaten mit Bedenken auf. Sie plädierten für einen risikobasierten Ansatz, der eine differenzierte Bewertung des notwendigen Schutzniveaus abhängig von den tatsächlichen Risiken der Rechte und Freiheiten von natürlichen Personen vornimmt (so auch Deutschland). Großbritannien forderte, auf die kombinierten Verpflichtungen ganz zu verzichten („should not be set out in the Regulation”, Council Note No. 12312/1/14).31 Der entsprechende Artikel im final beschlossenen Rechtstext stellt eine Kompromissformel dar. Gleich im ersten Absatz etwa finden sich ggf. einschränkende Bewertungsmaßstäbe, wie sie von den Mitgliedstaaten gefordert wurden, wie etwa die Berücksichtigung der „unter30 Ann Cavoukian, Privacy by Design. Strong Privacy Protection – Now, and Well into the Future, 2011, https:// www.ipc.on.ca/wp-content/uploads/Resources/PbDReport.pdf, abgerufen am 14.12.2019; Colin Bennett/ Charles D. Raab, Revisiting the Governance of Privacy, in: SSRN Journal 2017, 20. 31 „should not be set out in the Regulation”, s. Ratsdokument Nr. 12312/1/14 REV 3, 15.
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schiedlichen Eintrittswahrscheinlichkeit und Schwere der mit der Verarbeitung verbundenen Risiken für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen“ (Art. 25 Abs. 1), daneben aber auch der Implementierungskosten. 4. Metanorm Marktortprinzip (Art. 3 DSGVO) Noch so konsequente und grundrechtsbewahrende Auflagen und Verpflichtungen für datenverarbeitende Unternehmen liefen Gefahr, ihre Wirkung zu verfehlen, wenn diese sich in einer transnationalen Datenwirtschaft auf abweichende Rechtsordnungen jenseits der EUGrenzen zurückziehen könnten. Tatsächlich kann es als eine wesentliche Schwäche früheren Datenschutzrechts in Anwendung auf Digitalwirtschaft und Datenhandel angesehen werden, dass sich die größten Anbieter datenintensiver Services (also überwiegend US-Internetunternehmen) auf den Vollzug der Datenverarbeitung außerhalb europäischen Territoriums berufen und damit der Regulierung entgehen konnten. Die DSGVO hat hier einen Paradigmenwechsel vorgenommen, indem es von dem bislang geltenden Territorialprinzip zum sogenannten Marktortprinzip übergegangen ist (Art. 3 DSGVO). Damit wird der Anwendungsbereich europäischen Datenschutzrechts grundsätzlich auf jegliche Verarbeitung personenbezogener Daten von EU-Ansässigen, die also für den europäischen Markt bestimmt ist, erweitert, ganz gleich, wo diese Datenverarbeitung vollzogen wird. Das Marktortprinzip bezeichne ich als eine Metanorm, weil es zum einen die grundlegende Regel darstellt, welche die effektive Anwendung der anderen Rechtsvorschriften der Verordnung im globalen Maßstab erst ermöglicht. Zum anderen, weil dieser Paradigmenwechsel geeignet ist, auf andere Gestaltungsbereiche auszustrahlen. So ist etwa auch der jüngere, im Rat abgewiesene Vorschlag zur Einführung einer EU-Digitalsteuer von der Anwendung auf alle Dienstleistungen, die auf dem europäischen Markt, also für EU-NutzerInnen angeboten werden, ausgegangen, also vom Marktort-, nicht vom Territorialprinzip.32 Dass der EU-Gesetzgeber gerade durch die Definition dieser Metanorm die Vorzeichen für eine extraterritoriale Wirkung der DSGVO und damit eine Beeinflussung der Datenschutzentwicklung im Sinne des neuen ‚Goldstandards‘ (s. die oben zitierte Rede Viviane Redings) setzen würde, war den Vertreter Innen der supranationalen Organe von Anfang an bewusst und entsprechend beabsichtigt.
V. Effektive Verantwortungsübernahme im transnationalen Datenhandel? Nationale und auch supranationale Regeln für den digitalen Datenverkehr sind entweder ineffektiv, weil leicht zu umgehen, oder sie leisten der Fragmentierung des globalen Netzes Vorschub. Die DSGVO stellt gerade durch den Übergang zum Marktortprinzip ein gutes 32 Vorschlag der EU-Kommission, COM (2018) 148 final, für eine Richtlinie des Rates zum gemeinsamen System einer Digitalsteuer auf Erträge aus der Erbringung bestimmter digitaler Dienstleistungen, Art. 5.
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Beispiel für einen Mittelweg dar und ist ein starker Ausdruck für den selbstbewussten Anspruch der EU, die Grundrechte ihrer BürgerInnen in einer transnationalen digitalen Wirtschaft effektiv zu schützen. Auf Basis des Marktortprinzips kann das neue Datenschutzrecht extraterritoriale Wirkung entfalten, in dem Sinne, dass Anbieter aus Drittstaaten die Grundrechte europäischer BürgerInnen nicht verletzen dürfen, wollen sie im Binnenmarkt tätig sein. In Verbindung mit verbesserter Aufsicht, abschreckenden Sanktionen und neu definierten Normen, die den Realitäten digitalen Datenhandels besser entsprechen, trägt die EU ihrer primären Verantwortung für den Grundrechtsschutz für EU-BürgerInnen also Rechnung. Doch mehr noch: Die große weltweite Aufmerksamkeit für den DSGVO-Prozess und die sich abzeichnende Orientierung der internationalen Rechtsetzung am EU-Beispiel deuten darauf hin, dass die EU tatsächlich die Rolle einer internationalen Normunternehmerin, eines normativen Akteurs im Bereich Datenschutz spielen kann. Nach Ansicht von ExpertInnen hat die DSGVO schon in ihren ersten Jahren nach Inkrafttreten entsprechende Reformen in einer Reihe von Staaten wie Argentinien, Brasilien und Japan inspiriert. Insbesondere wird auch der 2018 verabschiedete „California Consumer Privacy Act“ (CCPA) als erstes Datenschutzgesetz in den USA überhaupt in diesem Kontext gesehen (IAPP).33 Damit reicht die Bedeutung der EU als Verantwortungsgemeinschaft für den Grundrechtsschutz im digitalen Zeitalter potentiell über den Rahmen der EU und seiner Bürgerschaft hinaus. Dennoch hat die Normunternehmerschaft auch offensichtliche Grenzen. Dies betrifft zum einen die extraterritoriale Wirkung des EU-Rechts. Wie weiter oben bereits ausgeführt, können die Widersprüche und Widerständigkeiten unterschiedlicher Rechtsordnungen im globalen Maßstab nicht einfach und überall durch europäische Standardsetzung aufgehoben werden. Das umstrittene Recht auf Vergessenwerden etwa kann in Konflikt mit dem Grundrecht auf Informationsfreiheit geraten, dass in anderen Rechtsordnungen womöglich höher bewertet wird. Es wird deshalb dort auf absehbare Zeit nicht in dem von der EU definierten Sinn gelten. Wie der EuGH in seinem jüngsten Urteil dazu selbst festgehalten hat,34 kann ein global agierendes Unternehmen wie Google nicht dazu verpflichtet werden, die nach europäischem Recht ordnungsgemäß beanstandeten Informationen (bzw. Verlinkungen) aus allen seinen Versionen zu entfernen, sondern nur von den europäischen bzw. muss sicherstellen, dass EU-BürgerInnen darauf keinen Zugriff haben (was technisch aufwändiger sein dürfte). Das Recht auf Vergessenwerden gilt also nicht weltweit, sondern nur für die europäischen Versionen der Suchmaschinen. Der Gerichtshof hat dem extraterritorialen Effekt des EUDatenschutzrechts also Grenzen gesetzt. Die Entscheidung verdeutlicht zudem die fortwirkenden Dilemmata der internationalen Digitalpolitik, denn es zwingt den Google-Konzern zu einer herkunftsabhängigen Versionierung seines prinzipiell transnationalen Angebots und 33 Hierzu die entsprechenden Analysen der International Association of Privacy Professionals in der Serie „GDPR matchup“, verfügbar unter https://iapp.org, abgerufen am 14.12.2019. 34 Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-136/17 GC u. a. gegen Commission nationale de lʼinformatique et des libertés (CNIL), Vorabentscheidungsersuchen der Conseil d’État vom 24. September 2019.
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womöglich gar zu einem sog. Geoblocking, also der technischen Aussperrung europäischer NutzerInnen von einem ansonsten erbrachten Informationsangebot. In dem Moment aber, in dem eine Rechtsregel nicht global, sondern nur regional gilt, führt dies zu einer weiteren Fragmentierung des Internets, die mit dem Ideal transnationaler Kommunikationsfreiheit nicht in Einklang zu bringen ist. Die EU kann dieses Dilemma nicht auflösen. Es stellt den Charakter als Verantwortungsgemeinschaft in Hinblick auf den Datenschutz nicht infrage, macht aber ggf. übergeordnete Zielkonflikte in der Governance der Digitalisierung deutlich. Eine andere Spannung, einen Widerspruch in ihrer Datenschutzpolitik kann die EU ebenfalls nicht auflösen. Er betrifft den Zusammenhang von Datenschutz und Cybersicherheit oder allgemeiner: Freiheit und Sicherheit. Die Snowden-Enthüllungen wirkten auf den DSGVO-Prozess katalytisch. Sie hatten aber nur indirekt mit dem Regulierungsgegenstand der Verordnung zu tun. Denn Edward Snowden hatte die geheimdienstliche Massenüberwachung im Netz öffentlich gemacht. An ihr ändert die europäische Rechtsentwicklung der vergangenen Jahre fast nichts.35 Die Mitgliedstaaten haben ihre souveränen Kompetenzen im Bereich der Sicherheitspolitik genutzt, um die umstrittenen Praktiken der Informationsgewinnung und des Austauschs von Geheimdienstinformationen weitgehend zu legalisieren. Dieses „business as usual“ auf dem Feld der Geheimdienstkooperation lässt sich durch die asymmetrische Sicherheitspartnerschaft europäischer Staaten mit den USA erklären. Die supranationalen Organe haben trotz vereinzelter Versuche des Europäischen Parlaments36 keine Handhabe in diesem intergouvernementalen Politikfeld. Zudem ist anzunehmen, dass der bereits im Gange befindliche Rechtsetzungsprozess zur DSGVO den politischen Akteuren auf nationaler Ebene ermöglichte, der gesellschaftlichen Empörung ein Ventil zu bieten und Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, ohne die Sicherheitskooperation tatsächlich anzutasten.37 Zuletzt hat selbst die Rechtsetzung in gemeinschaftlichen Regelungsbereichen, wenn ein deutlicher Bezug zur sicherheitspolitischen Zusammenarbeit bestand, den Daten35 Hierzu Stefan Steiger/Wolf J. Schünemann/Katharina Dimmroth, Outrage without Consequences? PostSnowden Discourses and Governmental Practice in Germany, in: Media and Communication 5 (2017), Heft 1, 7–16. Eine Ausnahme bildet die weiter oben angesprochene indirekte Wirkung in Hinblick auf die Downstream-Praktiken der NSA und die Konsequenzen für das Safe-Harbor-Abkommen. 36 In Reaktion auf die Snowden-Enthüllungen verabschiedete das Europäische Parlament eine Reihe unverbindlicher Resolutionen zur Einschränkung geheimdienstlicher Praktiken: Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. Juli 2013 zu dem Überwachungsprogramm der Nationalen Sicherheitsagentur der Vereinigten Staaten, den Überwachungsbehörden in mehreren Mitgliedstaaten und den entsprechenden Auswirkungen auf die Privatsphäre der EU-Bürger (2013/2682(RSP)), http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc. do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2013-0322+0+DOC+XML+V0//DE, abgerufen am 14.12.2019; Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. März 2014 zu dem Überwachungsprogramm der Nationalen Sicherheitsagentur der Vereinigten Staaten, die Überwachungsbehörden in mehreren Mitgliedstaaten und die entsprechenden Auswirkungen auf die Grundrechte der EU-Bürger und die transatlantische Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (2013/2188(INI))(2017/C 378/14), https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/PDF/?uri=CELEX:52014IP0230&from=DE, abgerufen am 14.12.2019. 37 Schünemann, Business as usual or norm promotion?
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austausch in der Regel ermöglicht. So haben die Abstimmungen zur Richtlinie zur Verwendung von Fluggastdatensätzen (PNR) oder zum SWIFT-Abkommen das Image der EU als normativem Akteur für den Datenschutz eingetrübt.38
VI. Fazit Keine andere technologische Revolution zuvor ist so rasch und so tief in alle Lebensbereiche moderner Gesellschaften vorgedrungen wie die Digitalisierung. Sie ist heute ein bestimmender Faktor für unsere Kommunikation und Informationsversorgung, für privaten Konsum und beruflichen Austausch. Nach einer euphorischen Anfangsphase, in der die digitalen Transformationserscheinungen überwiegend emphatisch begrüßt worden sind und vor allem das Internet als Plattform der Freiheit und der Demokratisierung bewertet wurde, rücken in jüngeren Jahren zunehmend die Schattenseiten in den Blick. Eine besondere Rolle spielt dabei das Thema Datenschutz. Denn die Vernetzung über das Internet und die Digitalisierung gehen mit einem nie gekannten Ausmaß der Erhebung oder Erzeugung personenbezogener Daten einher. Damit hat sich der Regelfall der Verarbeitung personenbezogener Daten auf den privatwirtschaftlichen Bereich verschoben.39 In einem vielzitierten Bild werden persönliche und personenbezogene Daten als das „neue Öl“40 des digitalen Zeitalters bezeichnet. Kritischer Betrachtung zufolge muss die ubiquitäre Datenverarbeitung aber nicht nur als Chance, sondern auch als Bedrohung wahrgenommen werden. Entsprechend ist auch vom neuen „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“41 die Rede. Mit ihrer wegweisenden Rechtsetzung und Rechtsprechung auf dem Feld des Datenschutzes ist die EU in den vergangenen Jahren angetreten, um ihrer Verantwortung für den Grundrechtsschutz vor dem Hintergrund dieser Bedrohung gerecht zu werden, indem es das Datenschutzrecht auf die Umstände digitaler Ökonomien anpasst. Um den wirksamen Schutz ihrer BürgerInnen gerade auch im transnationalen Datenhandel zu gewährleisten, hat sie die Weichen für extraterritoriale Effekte der Gesetzgebung gestellt und ist als selbst38 Hierzu Javier Argomaniz, When the EU is the ‘Norm‐taker’. The Passenger Name Records Agreement and the EU’s Internalization of US Border Security Norms, in: Journal of European Integration 31 (2009), Heft 1, 119–136; sowie Ariadna Ripoll Servent/Alex MacKenzie, Is the EP Still a Data Protection Champion? The Case of SWIFT, in: Perspectives on European Politics and Society 12 (2011), Heft 4, 390–406. 39 Hierzu Max-Otto Baumann/Wolf J. Schünemann, Introduction. Privacy, data protection and cybersecurity in Europe, in: Wolf J. Schünemann/Max-Otto Baumann (Hrsg.), Privacy, Data Protection and Cybersecurity in Europe, Berlin 2017, 9–23. 40 Das Bild wird oft zitiert und im Ursprung der ehemaligen EU-Verbraucherschutzkommissarin Meglena Kuneva zugeschrieben: „Personal data is the new oil of the internet and the new currency of the digital world“, Meglena Kuneva, Keynote-Rede, Roundtable on Online Data Collection, Targeting and Profiling, Brüssel, 31. März 2009, https://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-09-156_en.htm, abgerufen am 14.12.2019. 41 Dies ist der Titel des international viel beachteten Werks Shoshana Zuboffs, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt a. M. 2018.
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bewusste Normunternehmerin in Erscheinung getreten, um Standards für die internationale Entwicklung des Datenschutzrechts zu setzen. In den vorangegangenen Abschnitten habe ich gezeigt, an welche Tradition international beachteter Rechtsentwicklung die EU dabei anschließen konnte, welche Innovationen die DSGVO enthält und welche Widerstände die supranationalen Organe als Reformtreiber zu überwinden hatten. Entsteht daraus auf der einen Seite das Gesamtbild einer kraft- und wirkungsvollen Verantwortungsübernahme für die EU, die einen prägenden regulatorischen Einfluss auf das Plattformökosystem US-amerikanischer Prägung haben kann, so sind auf der anderen Seite doch auch die fortbestehenden Einschränkungen und Hindernisse zu bedenken. Als Verantwortungsgemeinschaft für den Datenschutz zielt die EU auf die Auswüchse des Überwachungskapitalismus. Auf dem Feld der Sicherheitspolitik fehlen ihr aber weiterhin Akteursqualität und Kompetenzen, um in ähnlicher Weise normative Schranken gegen staatliche Überwachung hochzuziehen. Demgegenüber befinden sich die Mitgliedstaaten in einer asymmetrischen Sicherheitspartnerschaft mit den USA, die es ihnen nicht erlaubt, die bestehenden Arrangements des geheimdienstlichen Informationsaustauschs einzuhegen. Damit ist die EU in ihrer Verantwortungsübernahme für den Datenschutz auf das Feld des transnationalen Datenhandels beschränkt. Zudem sind die extraterritorialen Effekte der europäischen Datenschutzordnung begrenzt. Die EU hat mit ihrer Marktmacht zwar einen beträchtlichen Hebel, auch gegenüber USamerikanischen Firmen. Allerdings kann es jenseits des eigenen Marktes keine verbindliche Compliance erwarten, wie das jüngste EuGH-Urteil zum Recht auf Vergessenwerden zeigt. Die Unterscheidung des Geltungsraums für das gesetzte Recht in einen europäischen Binnenmarkt und ein globales Internet trägt zur Fragmentierung des globalen Internets bei. Zuletzt geht die Entwicklung des Datenschutzrechts auch im Inneren der EU weiter. Es scheint noch nicht ausgemacht, wie eng sich die aktuell im Rechtsetzungsprozess befindliche sog. E-Privacy-Verordnung, die unter anderem das lex specialis zur DSGVO darstellt, an den strikten Vorgaben der DSGVO orientieren wird. Die Verhandlungen sind vorerst ins Stocken geraten. Ob die EU also dem Anspruch der Verantwortungsgemeinschaft für den Datenschutz dauerhaft und in der digitalen Praxis gerecht werden kann, bleibt abzuwarten.
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E) Perspektiven
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Traditio und translatio Europäische Verantwortung im Kontext von Mehrsprachigkeit und Übersetzung I. Glurns Die heute kleine Stadt Glurns im Vintschau findet ihre erste urkundliche Erwähnung im Jahr 1163. In ihrer frühen Geschichte wurde sie hin- und hergerissen zwischen den Ansprüchen der Grafen von Tirol und denen des Bischofs von Chur. Nachdem 1363 Tirol von den Wittelsbachern an die Habsburger übergegangen war, haben sich im Unterengadin und im Münstertal die Anhänger des Churer Bischofs im sogenannten Gotteshausbund zusammengetan, einem ersten Baustein für den heutigen Kanton Graubünden, der ja später Teil der Schweizer Eidgenossenschaft wurde. Die Zuspitzung der Konflikte eskalierte 1499 im sogenannten Schwabenkrieg, in dem in der „Schlacht an der Calven“ die Bündnerischen Kräfte die Habsburger besiegt und hinterher Glurns geplündert und verwüstet haben. Es war kein Geringerer als Kaiser Maximilian I., der den Wiederaufbau von Glurns nach den Plänen von Jörg Kölderer befohlen hat. Die Stadt steht heute fast genauso an der Etsch wie zu Maximilians Zeiten. In diesem Glurns findet sich auf dem Friedhof der Grabstein des Familiengrabes der Familie Hofer (an der Kirchenmauer). Wie man sehen kann, ist ein im Jahr 1915 geborener Sohn mit dem berühmten Namen Andreas Hofer – ein Namensvetter des Freiheitskämpfers also –1938 im Spanischen Bürgerkrieg gefallen. Andreas war 23 Jahre alt und hat als Südtiroler sicherlich nicht ganz freiwillig auf Seiten von Mussolinis Truppen gekämpft. 1944 ist der 24-jährige Karl, der vermutlich sein Bruder war, wahrscheinlich als Soldat in Hitlers Wehrmacht in Russland gefallen. Dieses Beispiel einer Familie, die zwei ihrer Söhne an ganz unterschiedlichen Orten Europas in Kriegen verliert, die sie nicht veranlasst, ja vermutlich nicht einmal unterstützt haben, ist bedrückend – so wie die Gewaltgeschichte Europas insgesamt. Dieses Beispiel ist aber auch ein Auftrag zur Versöhnung und zur Verständigung über Grenzen, auch Sprachgrenzen, hinweg. Wir jetzt lebende Bewohner dieses Kontinents sind für diese Verständigung verantwortlich. In diesem heute so kleinen und unscheinbaren Glurns kristallisiert sich also wie an vielen anderen Orten Europas die dichte und facettenreiche Geschichte unseres Kontinents. „Glurns“ selber ist ein rätoromanischer Ausdruck, dessen deutschsprachiges Pendant „Erlenau“ wäre. Der Ort liegt auch heute noch an dieser Schnittstelle zwischen romanischem und deutschem Sprachgebiet. Mittlerweile sind es die Menschen im Ortlergebiet gewohnt, dass
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sie zwischen Deutsch und Italienisch hin- und herübersetzen müssen. In der Geschichte Europas hängt alles auf vielfältige Weise zusammen und ist auf vielfältige Weise doch auch aufgeteilt. Es ist in Sprachgebiete unterteilt, die selbst wieder ganz verschiedene Größen haben können und sich auch nicht mit den Staatsgebieten decken. Manchmal ist die Verbindung, die der Staat schafft, in einer gewissen Hinsicht sogar schwächer als die Verbindung, die eine gemeinsame Sprache schafft. Damit aber die Staaten erhalten werden können und damit Europa in seiner wichtigsten (aber nicht einzigen) politischen Verfasstheit erhalten bleiben kann, nämlich in der Europäischen Union, sind Übersetzungen notwendig und unentbehrlich. Die folgenden, nur anfänglichen und unvollständigen Überlegungen wollen deutlich machen, dass jedoch in der Vielfalt der Sprachen und der damit notwendigen Übersetzungen kein Defizit liegt, sondern eine Bereicherung, um die wir uns nicht künstlich bringen sollten.1 Dafür tragen wir alle eine Verantwortung, aber wir müssen uns auch verdeutlichen, was es genauer ist, wofür wir diese Verantwortung tragen. „Verantwortung“ ist ein Relationsbegriff.2 Unter anderem sind wir – als Handlungssubjekte – für etwas verantwortlich, z. B. für Folgen, die aus unserem Handeln resultieren – also unter anderem Konflikte, die aus unserem Sprechen folgen –, wir sind aber auch gegenüber jemandem verantwortlich, worunter wir als Handlungsträger auch immer selbst zählen, weil uns unser Handeln prägt. Gerade letzteres ist im Falle des Umgangs mit Sprachenvielfalt und mit Übersetzung so bedeutsam: Wir entscheiden in diesem Umgang mit der Vielfalt über uns selbst. Wer wir als Europäer sind, bestimmt sich nicht zuletzt darin, wie wir mit diesem Merkmal der Vielsprachigkeit als Europäer umgehen. Mit der Vielfalt der Sprachen in Europa korrespondiert eine Vielfalt an lokalen Traditionen, die wir achten und ernst nehmen müssen, wenn wir Europa in seinem historischen Geworden-Sein gerecht werden wollen. Achten und ernst nehmen bedeutet aber nicht, dass nur verwaltet werden soll, was als unveränderlich angesehen wird, sondern es bedeutet vor allem: in Treue und Kreativität aufnehmen. Gute Übersetzer gehen so mit den Sprachen um. Die Treue zum Ursprungstext ist man dem Autor und dem Rezipienten schuldig. Aber sklavische Abbildung verfälscht einen Gehalt, der in einem anderen (Sprach-)Kontext anders dargestellt werden muss. Von daher braucht es auch Kreativität im Übersetzen. Übersetzer sind für beides – Treue und Kreativität – verantwortlich. Letztere ist möglich, weil uns in der Sprache die Repräsentation einer alternativen Wirklichkeit gegeben ist, wie insbesondere der verneinende Satz zeigt. Aus Platzgründen können im Folgenden die genera der Texte hier wenig unterschieden werden, obwohl es natürlich einen großen Unterschied ausmacht, ob ein Rechtstext 1 Sie wurden in einer kürzeren Form erstmals bei der Enquete des Instituts für Religion und Frieden in Wiener Neustadt am 16. Oktober 2019 vorgetragen. 2 Hans Lenk, Verantwortlichkeit und Verantwortungstypen: Arten und Polaritäten, in: Ludger Heidbrink/Claus Langbehn/Janina Loh (Hrsg.), Handbuch Verantwortung, Wiesbaden 2017, 57–94, 62–64; und Thomas Bohrmann, Verantwortung als Schlüsselbegriff der Angewandten Ethik, in: Thomas Bohrmann/Matthias Reichelt/ Werner Veith (Hrsg.), Angewandte Ethik und Film, Wiesbaden 2018, 25–34, 27 f.
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übersetzt wird oder ein Gedicht. Das bekannte und sehr radikale Wort von Novalis, dass der Übersetzer „der Dichter des Dichters“ sein müsse,3 gilt wohl wirklich am ehesten für die Dichtung. Aber der Unterschied ist vermutlich eher ein gradueller denn ein prinzipieller.
II. Was ist Sprache? Die Frage danach, was eine Übersetzung überhaupt ist, führt uns immer zuerst zur Frage, was die Sprache selbst ist.4 Denn Sprechen ist der Gebrauch der Sprache, und Übersetzen bedeutet, das, was in einer Sprache gesprochen wurde, in einer anderen Sprache auszudrücken. In gewisser Weise ist die Frage nach der Sprache die Frage der Philosophie im 20. Jahrhundert gewesen.5 Die Sprache ist sicherlich in einem elementaren Sinn ein Werkzeug. Wir sagen dann, dass die Sprache ein Instrument der Verständigung ist. Wir wollen also etwas herstellen, das wir „Verständigung“ nennen, und die Sprache brauchen wir dafür als Mittel. Dass Sprache nicht nur repräsentiert oder abbildet oder vergegenwärtigt, sondern ganz häufig ein schlichtes Werkzeug ist, ist ausdrücklich erst im 20. Jahrhundert von Philosophen herausgestellt worden. Wir können uns in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein6 einfach eine Situation auf dem Bau vorstellen, bei der einer zum anderen sagt: „Schaufel“, und der andere gibt ihm die Schaufel. Dann sagt er „Hacke“, und der andere gibt ihm die Hacke. Anstelle der Wörter wären auch andere Symboliken denkbar, beispielsweise bestimmte Gesten oder Grimassen. Wenn der Eine eine Schaufel zu haben wünscht und es mit dem Äußern des Sprachlauts „Schaufel“ gelingt, an eine Schaufel zu kommen, so gelingt in gewissem Sinne sein Sprechakt. Er bekommt von anderen die Schaufel, und damit ist gezeigt, dass die Verständigung erreicht ist. Sprechen, also Sprache gebrauchen, ist ein Handeln, weshalb auch das Sprechen die Frage nach der Verantwortung aufwirft. „Handlung und Verantwortung sind zwei eng miteinander verknüpfte Begriffe. Keine Handlung ohne Verantwortung und keine Verantwortung für ein Verhalten, wenn dieses keinen Handlungscharakter hat.“7 John L. Austin hat in seiner Sprechakttheorie „Lokution“, „Illokution“ und „Perlokution“ unterschieden.8 John Searle hat das Dreierschema zu einem Viererschema erweitert: Der Äußerungsakt entspricht 3 Novalis, Blüthenstaub (Fragmente 1797/1798), Nr. 68. 4 Denn im Folgenden soll es um Übersetzungen aus einer natürlichen Sprache in eine gehen, nicht um das, was man „intersemiotische Übersetzung“ nennt, also der „Übersetzung“ eines Romans in einen Film oder der „Übersetzung“ von „Bildern einer Ausstellung“ in Musik. 5 Aus Raum-, aber auch Kompetenzgründen kann hier auch nicht auf die linguistischen Debatten, beispielsweise jene um die generative Transformationsgrammatik bei Noam Chomsky, eingegangen werden. 6 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 21995, 243 und 250. 7 Julian Nida-Rümelin, Verantwortung, Stuttgart 2011, 25 (Hervorhebung im Original). 8 John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Stuttgart 1986.
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dem Von-sich-Geben des Lautes „Schaufel“. Zu einem propositionalen Akt im vollen Sinne kommt es bei diesem Beispiel gar nicht, weil nicht etwas von etwas anderem prädiziert wird, wie es im Satz „Diese Schaufel ist aus Holz und taugt nicht“ der Fall ist. Der illokutionäre Akt teilt dies nun dem Rezipienten der Sprechhandlung mit. Der perlokutive Akt stellt auf eine Wirkung ab. Vielleicht bekommt der Sprecher von seinem Gegenüber nun eine andere Schaufel, und das ist es, was er wollte. – Man kann einem Fan eines bestimmten Fußballteams mitteilen, dass „seine“ Mannschaft ihr Spiel mit null-zu-zwei verloren hat. Das kann auf Information abstellen; es kann aber auch Häme sein und auf Verletzung zielen. Diese praktischen Aspekte der Sprache sind für eine Betrachtung, die aus der Perspektive der Ethik vorgenommen wird, natürlich die vorrangigen, und hier soll – weil der Raum begrenzt ist – vor allem einigen praktischen Aspekten der Sprache Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die ontologischen Aspekte bleiben so eher im Hintergrund.9
III. Die Kosten des Übersetzens Ein wirklicher unpraktischer Aspekt des menschlichen Sprechens scheint darin zu bestehen, dass es so viele verschiedene Sprachen gibt. Jürgen Trabant sieht drei Wege, mit dieser Vielsprachigkeit umzugehen: „Vereinheitlichen, Sprachenlernen, Übersetzen“.10 Sprachenlernen wäre bei weitem die beste Option, meint Trabant und unsere Überlegungen werden zeigen, dass man ihm dabei folgen sollte, aber schon im Falle der Europäischen Union, die ja 24 Amtssprachen pflegt, ist die Option praktisch für einen Menschen alleine nicht zu verwirklichen. Realistisch kann ein Mensch zu seiner Muttersprache vielleicht noch zwei oder drei Sprachen hinzulernen. Also bleibt häufig nur die Möglichkeit der Übersetzung. Übersetzung und Dolmetschen sind aber kostspielig. Die Europäische Union muss für beides eine große Menge Geld ausgeben: So zählen zum Stammpersonal der EU-Institutionen rund 4.300 Übersetzer und Übersetzerinnen und 800 Dolmetscher bzw. Dolmetscherinnen.11 Nehmen wir nur das Europaparlament: Es „beschäftigt etwa 270 verbeamtete Dolmetscher und kann regelmäßig auf mehr als 1.500 externe akkreditierte Dolmetscher zurückgreifen. Bei den Plenarwochen werden zwischen 700 und 900 Dolmetscher eingesetzt. Das Parlament beschäftigt etwa 600 Übersetzer; etwa 30 % der Übersetzungsaufträge werden an externe freiberufliche Übersetzer vergeben.“12 9 Natürlich wäre zu überlegen, wie die Vielfalt der Sprachen in einer Verbindung zur Einheit der Sprache zu denken ist. Klassische Texte hierfür finden sich natürlich bei Walter Benjamin, z. B. Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, Ditzingen 2019, oder: Die Aufgabe des Übersetzers., in: Ders., Sprache und Geschichte. Philosophische Essays, Stuttgart 1992, 50–64. 10 Jürgen Trabant, Die Sprache, München 2009, 118–122. 11 Homepage der Europäischen Union, https://europa.eu/european-union/about-eu/figures/administration_de (abgerufen am 14.12.2019). 12 Homepage des Europäischen Parlaments, http://www.europarl.europa.eu/news/de/faq/21/welche-sprachenwerden-im-parlament-verwendet (abgerufen am 14.12.2019).
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Obwohl die Internetseiten der Europäischen Union betonen, dass die Aufwendungen für Übersetzungen und Dolmetschen „weniger als 1 Prozent des Gesamthaushaltes der EU“13 ausmachen, wirft die Pluralität der Sprachen insgesamt beträchtliche ökonomische Kosten auf. Freilich erlauben es der technische Fortschritt und die mit ihm einhergehenden Effizienzgewinne, dass sich die europäischen Volkswirtschaften heute den gewaltigen Dolmetscher- und Übersetzungsapparat der Europäischen Union leisten können. Dennoch arbeiten unsere Bildungssysteme seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges daran, eine internationale Einheitssprache zu etablieren, die Verständigung in allen wichtigen wirtschaftlichen Bereichen möglich macht, nämlich das Englische. Die Kosten des Englischunterrichts in den Schulen sollen durch die wirtschaftlichen Vorteile im Austausch von Gütern und Dienstleistungen, auch im Tourismus, kompensiert werden. Die durch die Einheitssprache gegebene schnelle Verständigungsmöglichkeit zielt auf eine Minimierung von Konflikten durch Missverständnisse und in diesem Sinne auf Friedensgewinne ab, die sich ihrerseits wieder in ökonomischen Nutzen transformieren lassen. Das im Hintergrund stehende Rationalitätsmodell ist keine Erfindung des 20. Jahrhunderts, aber seine volle Wirkung kann es erst in einer Zeit entfalten, in der sich die Medientechnologien so rasant entwickelt haben, wie in unserer. Plausibel ist es dort, wo Wirtschaftlichkeit vor allem als Vermehrung von materiellen Gütern, inklusive des Erhalts von Dienstleistungen, verstanden wird; Güter und Dienstleistungen, die zu möglichst geringen materiellen Kosten erlangt werden können. Jedoch geht es bei den Übersetzungen in internationalen Organisationen keineswegs einfach nur um die Vorteile effizienter Verständigung, wie Schilderungen in Javier Marias‘ selbst vielfach übersetzten klassischen Roman „Mein Herz so weiß“ zeigen. Es ist eben nicht so, dass nur um der günstigen ökonomischen Auswirkungen willen übersetzt würde, die dann daraus resultieren, dass alle das Gleiche verstehen. Zwar leuchtet ein, dass es auf einer Baustelle nicht mehr richtig vorangeht, wenn der eine Bauarbeiter „marteau“ ruft und der andere Bauarbeiter nicht versteht, dass er einen Hammer will. Die arbeitsteilige Gesellschaft ist auf Kommunikation angewiesen, und die Beseitigung von Kommunikationshindernissen ist natürlich von ökonomischem Vorteil, auch wenn das Zwischenschalten eines Dolmetschers, der selbst Kosten verursacht, nur second best ist. Ideal wäre die Einheitssprache, derer wir aber gerade beraubt sind.14 – Offenbar geht es beim Übersetzen in internationalen Organisationen neben dem Eros der Ökonomie auch um den Thymos der Sprecher und derer, die sie vertreten. Das „Übersetzungsfieber“15, das Javier Marias eindrücklich schildert, gründet auch darin, dass Delegierte die rezipierte Bedeutung ihres Vortrags und ihrer Person 13 Homepage der Europäischen Union, https://europa.eu/european-union/about-eu/figures/administration_de (siehe oben Anm. 10). 14 Das Pfingstereignis in Apg. 2,1–11 stellt möglicherweise eine weitere Alternative vor: Die Apostel werden von ihren verschiedensprachigen Zuhörern in ihrer jeweiligen Muttersprache vernommen. Paulus dagegen kennt eine Rede „in Zungen“, mit der man nicht zu Menschen spricht, sondern zu Gott. Keiner versteht den Sprecher (1 Kor. 14,1). 15 Javier Marias, Mein Herz so weiß. Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr, München 81992, 66.
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daran messen, ob und in wie viele Sprachen ihre Ausführungen übersetzt werden. Der Protagonist des Romans, selbst ein Dolmetscher, schildert das so: Der einzige wirkliche Ehrgeiz der Delegierten und Repräsentanten besteht darin, übersetzt und verdolmetscht zu werden, und nicht darin, dass ihre Reden und Berichte Billigung oder Beifall finden oder ihre Vorschläge berücksichtigt oder in die Praxis umgesetzt werden, was im übrigen kaum jemals geschieht (weder Billigung noch Beifall noch Berücksichtigung noch Praxis).16
Und dann schildert er die pikante Szene, wie ein australischer Delegierter sich auf einer Tagung des Commonwealth in Edinburgh darüber ärgert, dass die Dolmetscherkabinen im Tagungssaal leer waren und kein Zuhörer Kopfhörer trug. Da jeder im Raum Englisch verstand, war eine Übersetzung offenkundig überflüssig. Also begann der Delegierte absichtlich, seinen bereits lästigen australischen Akzent so sehr zu forcieren, dass er unverständlich wurde für die Vertreter der anderen Länder und sogar für einige seines eigenen Landes, die sich zu beschweren begannen und Opfer des Reflexes jedes erfahrenen Kongressteilnehmers wurden, der sich die Kopfhörer anlegt, sobald jemand etwas sagt, das nicht zu verstehen ist.17
Marias‘ Protagonist gibt zu, dass Dolmetscher auch nicht immer „der Versuchung“ widerstehen können, „ab und zu ein paar Unwahrheiten einfließen zu lassen“,18 was die Berufsethik zuweilen schon deshalb zulässt, weil Dolmetscher wissen: „Je höher die Würdenträger sind, die sich treffen, um miteinander zu sprechen, um so unbedeutender ist in Wirklichkeit, was sie untereinander sagen, und umso weniger schwerwiegend wäre ein Irrtum oder ein Zuwiderhandeln unsererseits.“19 Leider stimmt das nicht immer, und aus Übersetzungsfehlern oder Dolmetscherfehlern können durchaus internationale Krisen erwachsen. Bekannt ist ja die Szene, wie 1956 Nikita Chruschtschow zu einer Gruppe westlicher Diplomaten einen russischen Satz sagt, der vom Dolmetscher lapidar mit „We will bury you!“ übersetzt wird. Es klang wie die Androhung eines Krieges, aber gemeint war eigentlich, dass der Sowjetkommunismus den Kapitalismus überleben und in diesem Sinne „begraben“ wird.
IV. Sprachenvielfalt als Plage Wenn Krieg aber ökonomisch schlecht ist, Übersetzen daher gut ist, so wäre doch eine Einheitssprache noch besser. Sie würde uns nicht nur helfen, Konflikte zu vermeiden, sondern 16 Ebd., 68. 17 Ebd. 18 Ebd., 73. 19 Ebd., 74.
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auch vom Problem der Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Übersetzen entlasten. Die Textpassage aus Augustinus‘ „De civitate Dei“ (Buch XIX, Kap. 7) ist ja bekannt. Wenn sich zwei, von denen keiner die Sprache des anderen versteht, im Leben begegnen, ich meine nicht, vorübergehend nur, sondern durch irgendwelche Verhältnisse aneinandergekettet, so werden leichter stumme Tiere, selbst von verschiedener Art, miteinander gesellig als sie, die doch beide Menschen sind. Die Verschiedenheit der Sprache genügt, den Austausch der Gedanken ihnen unmöglich zu machen, und da hilft ihnen alle Ähnlichkeit der Natur zur geselligen Annäherung nichts, so dass der Mensch die Gesellschaft seines Hundes der eines Menschen aus der Fremde vorzieht. (Übers. Schröder)20
Schlimmer – im Sinne von ungeselliger – als gar keine Sprache zu haben, ist es offenbar, wenn man verschiedene Sprachen hat. Der pessimistische Kirchenvater fährt denn auch an dieser Stelle mit Reflexionen zum gerechten Krieg fort, denn die sprachliche Einheit, die in einem Reich wie dem Imperium Romanum oberflächlich erlangt wird, ist in Wahrheit eine, die auf Zwang, Unterdrückung und Waffengewalt beruht. Die Vielheit der Sprachen ist in dieser Hinsicht nicht anders zu verstehen als eine Plage – eine Strafe für ein Vergehen. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel (Genesis 11, 1–9) gehört bestimmt zu den bekanntesten Erzählungen der Bibel, und sie findet sich auch in außerbiblischen Traditionen:21 Gott, so lesen wir das zumeist, musste die menschliche Hybris – die im Bau des Turmes zum Ausdruck kommt – stoppen, was ihm auch wirkungsvoll gelang, als er die Menschen in ihren Sprachen verwirrte und sie über die ganze Erde zerstreute. Pieter Bruegel der Ältere hat das Motiv in mehreren Ölgemälden umgesetzt. Die berühmteste Fassung befindet sich im Wiener Kunsthistorischen Museum: Bruegels Bild ist offenkundig von der wunderbaren Konstruktion des römischen Kolosseums beeinflusst, das er auf einer Italienreise selbst gesehen hat. Als frühneuzeitlicher Mensch ist er fasziniert von den technischen Möglichkeiten seiner Epoche und bringt dies in seiner Kunst zum Ausdruck – der Malerei, die ebenfalls technisch gereift ist. Häufig wird die menschliche Hybris, die Gott in Babel bestraft, denn auch als der Versuch verstanden, mit technischen Mitteln Gott gleich zu werden. Das Thema hat zeitlose Aktualität, wie man im noch jungen 21. Jahrhundert erkennen kann. Nur, dass wir nicht mehr mit äußeren Bauwerken Gott einholen und übertrumpfen wollen, sondern mit „Enhancements“ uns selbst zum „Homo Deus“ machen werden, wie Yuval N. Harari seinen Bestseller übertitelt hat.22 Dem biblischen Text wird diese Lesart nicht ganz gerecht, denn dort wird als Motiv für den Bau etwas anderes angegeben: 20 Zur Entfremdung durch die verschiedenen Sprachen siehe 1 Kor. 14,11. 21 Arno Borst, Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Bd. I–IV, Stuttgart 1957–1963 (Hiersemann). 22 Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen. München 152018.
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Abbildung 1: Pieter Bruegel der Ältere, Der Turmbau zu Babel, 1563 (originally from Google Art Project).
Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. (Gen. 11,4)
Es ist also gerade die Sorge vor der Zerstreuung, die zum Bau veranlasst. Weil die Menschen beisammen bleiben wollen, einigen sie sich in diesem Projekt. Bruegel hat dies mit aufgenommen: Wir sehen den Turm angrenzend an eine Großstadt seiner Zeit, offenbar Antwerpen, und wir sehen, wie die Menschen ihrem König, Nimrod, huldigen. Eine Herrschaft, ein Turm, eine Stadt – es wirkt ein wenig wie die Friedensutopie des Dante Alighieri in „De Monarchia“. Aber Gott hat mit dem Menschen andere Pläne: Er soll, wie es in Genesis 9 heißt, die ganze Erde besiedeln und sich auf ihr vermehren. Wenn es also eine strafbare ‚Verfehlung‘ gegeben hat, dann hat sie vielleicht nicht darin gelegen, dass der Mensch sich zu weit erheben wollte, sondern dass er nicht von seinen Mitmenschen lassen konnte. Dass Menschen Nähe brauchen, wird also nicht bestritten. Aber offenbar hat Gott den Menschen auch in Differenz geschaffen. Eine solche Perspektive auf die Erzählung vom Turmbau zu Babel könnte uns also zeigen, dass die sprachliche Zerstreuung mit all ihrem Konfliktpotential nicht einfachhin eine Strafe war, sondern auch ein Geschenk.
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V. Sprachenvielfalt als „Überfülle der Arten“ Der Literaturwissenschaftler und Philosoph George Steiner, der seine eigene randständige Stellung in der Debatte um die Philosophie der Übersetzung beklagt hat, bringt in „Nach Babel“ eine solche Perspektive ein. Er vergleicht die Vielfalt der Sprachen mit der „Überfülle der Arten“, die Charles Darwin konstatiert hat. Dadurch, dass die verschiedenen Lebensformen, so hochspezialisiert und schwer unterscheidbar sie auch sein mögen, im Wettbewerb miteinander entstehen, besetzen sie unterschiedliche Nischen in der Umwelt. Ihre Vielfältigkeit erhöht die Chancen einer präzisen Anpassung und des biologischen Fortschritts.23
Nun ist der Nutzen von Wettbewerb zwar auch im Kern einer auf Effizienz angelegten Wirtschaft unbestritten, aber die Sprache scheint ja nun gerade nicht zu den Wettbewerbsfaktoren zu gehören, die Effizienz verbessern, sondern eher zu den Umweltbedingungen, die Effizienz vereiteln. Sie zu normieren und zu vereinheitlichen wäre gleichermaßen nützlich wie die Normierung von elektrischen Steckern oder Papiergrößen. Aber dies ist nur eine vordergründige Betrachtung, wie uns Steiner zeigt, denn „die konstruktiven Kräfte der Sprache, sich eine Vorstellung von der Welt zu machen“, sichern das Überleben der Menschen – gerade durch die Vielfalt der Sprachen: Durch das wundersame [...] Vermögen der Grammatiken ist es möglich, den Tatsachen zu widersprechen und ‚Wenn‘-Sätze sowie vor allem Formen des Futurums zu bilden, die die menschliche Spezies dazu befähigen, zu hoffen und weit über das Ende des Individuums hinauszureichen. Wir dauern fort, wir dauern schöpferisch fort dank unserer gebieterischen Fähigkeit, ‚nein‘ zur Wirklichkeit zu sagen, Fiktionen des anderen, des Erträumten, des Erwünschten und des Erwarteten zu konstruieren, um unser Bewusstsein darin heimisch zu machen. In genau diesem Sinne sind das Utopische und das Messianische syntaktische Figuren.24
Für Steiner ist Übersetzen nicht eine besondere Tätigkeit im Umgang mit der Sprache, die immer dann erforderlich ist, wenn von einer Sprache in eine andere Sprache übertragen werden soll. Übersetzen ist „formal ebenso wie praktisch Teil eines jeglichen Kommunikationsaktes.“25 Bedeutung vernehmen und aufgreifen ist etwas anderes als kopieren oder abbilden. Um dem Übersetzen etwas auf die Spur zu kommen, muss man sich von unseren technizistischen Voreinstellungen, die mittlerweile auch alle menschlichen Prozesse auf maschinelle Grundmuster zurückführen wollen, lösen. So sah Steiner in den 70er Jahren 23 George Steiner, Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, Berlin 2014, vii. 24 Ebd., vii f. 25 Ebd., v.
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des 20. Jahrhunderts ebenfalls, wie sich das Englische zusehends ausbreitet, aber nur in dieser Ausbreitung das Problem zu sehen, bliebe zu oberflächlich: In den meisten Teilen der unterentwickelten Welt ist diese Sprache das einzige absehbare Mittel zur Beförderung der ökonomisch-sozialen Emanzipation. Von größerer Bedeutung ist, dass die Computer-‘sprachen‘, die meta-linguistischen Codes und die Algorithmen der elektronischen Kommunikation, welche fast sämtliche Facetten des Wissens und der Produktion revolutionieren, auf einer linguistischen ‚Vorgeschichte‘ beruhen, die grundlegend anglo-amerikanisch geprägt ist (in demselben Sinne, wie wir sagen können, dass der Katholizismus und seine Geschichte auf der Latinität basieren). Computer und Datenbanken plaudern in den ‚Dialekten‘ einer anglo-amerikanischen Muttersprache miteinander.26
Steiners berühmtes Buch trägt den Titel „Nach Babel“, aber wir müssen uns angesichts dieser Totalisierung von Sprache in den Algorithmen der vernetzten elektronischen Rechner fragen, ob wir nicht gerade wieder vor einem neuen Babel stehen. Heute scheint sich ausgehend vom technizistisch-ökonomischen Denkmodell, das in den Computersprachen formalisiert werden kann, eine neue ‚Vereindeutigung der Welt‘ anzubahnen. Stefan Zweig hat diesen Umstand schon in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts so treffend beklagt. Unter den Beispielen für seine These befindet sich auch das Radio: Alle diese Erfindungen haben nur einen Sinn: Gleichzeitigkeit. Der Londoner, Pariser und Wiener hören in der gleichen Sekunde dasselbe, und diese Gleichzeitigkeit, diese Uniformität berauscht durch das Überdimensionale. Es ist eine Trunkenheit, ein Stimulans für die Masse und zugleich in allen diesen neuen technischen Wundern eine ungeheure Ernüchterung des Seelischen, eine gefährliche Verfügung zur Passivität für den einzelnen.27
Thomas Bauer hat in einer kleinen Abhandlung, die zum Besteller geworden ist,28 Zweigs Motiv der „Gleichförmigkeit der äußeren Lebensformen“29 aufgegriffen. Wenn wir von der Verantwortung im Umgang mit Sprache sprechen, müssen wir auch über die Gewalt der Sprache und die Gewalt mittels der Sprache sprechen, denn mit Sprache beschreiben wir nicht nur Welt, sondern in der Sprache erschließen wir Welt. Als Bedingung der Möglichkeit dieser Erschließung muss man die wirklich erstaunliche Eigenschaft unserer Sprachen nennen, Modalitäten auszudrücken. Sprache bildet eben nicht einfach nur ab, sondern zeigt Mög26 Ebd., xii. 27 Stefan Zweig, Die Monotonisierung der Welt, in: Zeiten und Schicksale. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1902–1942, Frankfurt a. M. 1990, 30–39, 32. 28 Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018. 29 Zweig, Monotonisierung, 30.
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lichkeiten auf. Dazu gehört auch die Möglichkeit zur Lüge, also dem Vorgeben von Wirklichkeit in der Sprache, der die Wirklichkeit nicht entspricht. Aber ‚Wahrheit und Lüge‘ ist im Alltagsgebrauch kein einfacher binärer Code, zu dem das Gegensatzpaar erst in der formalen Logik gemacht wird. Es gibt die Lüge (als Handlungstyp des Lügens), aber mit der Wahrheit ist es schwieriger: Auch sie gibt es, aber zum Ausdruck kommt sie in kontingenten Sprachen und wird daher aus einer anderen Perspektive eher als Näherung wahrgenommen. Cicero hat in seinem Selbstverständnis als akademischer Skeptiker daher den lateinischen Ausdruck „veri simile“ geprägt: eine Näherung, eine Ähnlichkeit, aber nie Totalität und Absolutheit. Seine Epistemologie betont die dauerhafte Notwendigkeit von Prüfung und argumentativer Auseinandersetzung.30 Ratio und oratio gehen bei ihm ineinander über. Das verhindert in den gelungenen Fällen, dass ein Vernunftmodell zu einer „koloniale[n] Gewalt“ wird (Derrida31). Wir müssen hier keine erkenntnistheoretischen Feinheiten diskutieren, aber festhalten, dass für die Übersetzung dieser Raum des Möglichen ganz entscheidend ist. Der Übersetzer kann nicht beliebig agieren, aber innerhalb eines Möglichkeitsraumes kann er agieren.
VI. Der eindimensionale Blick Wenn alle Menschen nur noch in einer Sprache ihre Welt erschließen, dann erschließen sie alle die gleiche Welt. Ein eindimensionaler Blick auf die Welt wäre die Folge. Der Technizismus bietet so eine Ein-Dimension: Technisches Wissen und technisches Können beruhen auf dieser einen Sprache – auf einer funktionalistischen Sicht auf all das, was uns entgegentritt. Kausale Ursache und Wirkungszusammenhänge werden zum Paradigma der Verknüpfung alles Seienden. Liebe wird zum Instrument evolutionsbiologisch verstandener Fortpflanzungsfähigkeit, Frieden wird durch Recht erzeugt, Kinder sollen Mozarts Klavierkonzerte hören, um damit die Synapsenverbindungen im heranwachsenden Gehirn zu stärken und das logische Denken zu schulen. Am Ende zielt alles auf die bessere Gesellschaft, denn in einer Zeit, in der Gott verloren zu sein scheint, bleibt stets nur die ‚bessere Gesellschaft‘ als Fluchtpunkt. Auch in der darstellenden Kunst muss heute beinahe jedes Theaterstück die sozialen Verhältnisse und die echten und vermeintlichen Krisen thematisieren, damit es der Last der Begründung seines Seins gerecht werden kann. Dass Kunst selbst welterschließend ist – ja, dass nicht nur die Wissenschaftssprache Erfahrungen ermöglicht, sondern auch das Wort der Dichtung, ja sogar die wortlose Musik, fällt vielfach unter den Tisch. Technische nicht einholbare Haltungen wie die der Friedfertigkeit bleiben außerhalb des Reflexionshorizonts.32 30 Siehe z. B. Marcus Tullius Cicero, Akademische Abhandlungen. Lucullus, Text und Übers. von Chr. Schäublin, Hamburg 1995, 128. 31 Jacques Derrida, Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Alfred Hirsch (Hrsg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997, 119–165, 129 (zit. nach Vaihinger 1999, siehe unten Anm. 32 und 49). 32 Die Haltung der Friedfertigkeit kann nicht durch Recht ersetzt werden. Recht löst lediglich Koordinationspro-
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George Orwell hat die Problematik in seinem Klassiker „1984“ in einer kurzen Szene auf großartige Weise zum Ausdruck gebracht.33 Der Protagonist des Romans, Winston Smith, der selbst an der Umschreibung von Geschichte in Tageszeitungen arbeitet, trifft in der Kantine Syme, der an dem großen Wörterbuchprojekt der Partei arbeitet. Winston erkundigt sich nach dem Stand des Vorhabens, was Syme Gelegenheit gibt, begeistert Auskunft zu geben. Ziel sei ja, die Alltagssprache der Menschen durch eine Kunstsprache, die ‚Neusprache‘ oder das ‚Neusprech‘, zu ersetzen. Der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Neusprache erfolgt über das Ausmerzen von Wörtern. Verben, Adjektive, Substantive – von allem gibt es zu viel. Wenn man die Sprache auf ihr Grundgerüst zurücksetzen will, dann müssen undeutliche und unnötige Wörter eliminiert werden: ‚vorzüglich‘ oder ‚hervorragend‘ – was besagt das schon? Es reiche der Ausdruck ‚gut‘ und seine Steigerung ‚plusgut‘. Man fühlt sich – um hier einen kleinen Einschub zu wagen – zwangsläufig an die Formalisierungsbemühungen von Logikern erinnert, die z. B. zur Programmierung von Computern und Automaten Alltagssätze in standardisierte formal-logische Aussagen übertragen. Auch die Kritik des „Wiener Kreises“ an „eine[r] zu enge[n] Bindung an die Form der traditionellen Sprachen“34 und die Bemühungen, eine wissenschaftliche Einheitssprache zu schaffen, die ausgehend von „Protokollsätzen“ eine positivistische Beschreibung der Welt ermöglichen, drängen sich hier auf.35 Aber ein solches ‚Übersetzungsprojekt‘ geht, wie jeder Logiker bestätigen kann, mit gewaltigen Verlusten einher, denn viele Feinheiten, die wir alltagssprachlich sofort verstehen, fallen hierbei unter Tisch. „Es ist zwar erst 16:00 Uhr, aber ich habe dennoch schon Hunger.“ – Wie kommt das „zwar“ oder das „dennoch“ in die logische Zeichenfolge? Logiker suchen hier bis heute nach Antworten. Ein Blick auf die Sprache lehrt uns hier viel über die Reichweite sogenannter „künstlicher Intelligenz“. Selbst wenn wir bei KI-basierten Robotern annehmen dürften, dass sie ein gewisses ‚Verständnis‘ der Dinge entwickeln – es ist zweifellos ein sehr rudimentäres.36 Aber zurück zum Roman: Die Kunstsprache in „1984“ ist gewiss sehr effizient, aber das ist nicht der tiefe Grund dafür, dass sie eingeführt werden soll. Durch die Neusprache wird „die Reichweite des Gedankens“ verkürzt und das ‚Gedankenverbrechen‘ unmöglich. –‚Gebleme, aber die Frage der Haltung zum Recht, vor allem aber der Haltung zum anderen Menschen kann das Recht nicht lösen. 33 George Orwell, 1984, Frankfurt a. M. 1984, 48–51. 34 Rudolf Carnap/Hans Hahn/Otto Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung – der Wiener Kreis, in: Otto Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung, Sozialismus und Logischer Empirismus, hrsg. von Rainer Hegselmann, Frankfurt a. M. 1979, 81–101, 89. Vgl. Dirk Vaihinger, Zur Zerstreuung nach Babel: Das Phantasma der vollständigen Übersetzung, in: Sabine Eickenrodt/Stephan Porombka/Susanne Scharnowski (Hrsg.), Übersetzen – Übertragen – Überreden, Würzburg 1999, 41–51, 45–47. 35 Michael Stölzner/Thomas Uebel (Hrsg.), Wiener Kreis. Texte zur wissenschaftlichen Weltauffassung von Rudolf Carnap, Otto Neurath u. a., Hamburg 2006, 269–478. 36 Zu KI und Übersetzung vgl. Manuela Lenzen, Künstliche Intelligenz – Was sie kann & Was uns erwartet, München 2018, 64–66.
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dankenverbrechen‘ sind Vergehen, die sich Menschen (noch) in ihrem Denken erlauben, indem sie beispielsweise die Herrschaft des ‚Großen Bruders‘ in Frage stellen. In äußerer Form, beispielsweise durch Demonstrationen oder Widerstand, ist die Herrschaft des ‚G. B.‘ längst nicht mehr anfechtbar, aber das Denken ermöglicht die Vorstellung einer möglichen alternativen Welt. Dieses Verbrechen kann man ausmerzen, indem man der Sprache die Modalität nimmt. Syme bejaht diese Entwicklung: Mit jedem Jahr wird es weniger und immer weniger Worte geben, wird die Reichweite des Bewusstseins immer kleiner und kleiner werden. Auch heute besteht natürlich kein Entschuldigungsgrund für das Begehen eines Gedankenverbrechens. Es ist lediglich eine Frage der Selbstzucht, der Wirklichkeitskontrolle. Aber schließlich wird auch das nicht mehr nötig sein. Die Revolution ist vollzogen, wenn die Sprache geschaffen ist.37
Die Neusprache beschreibt keine Möglichkeiten, sondern nur Wirklichkeiten, mit denen sie identisch ist. Wird ein Vorgang schriftlich anders niedergelegt – was der Job von Winston Smith ist –, dann ändert sich der Vorgang selbst. Die Imagination einer anderen Wirklichkeit ist ausgeschlossen; das totale System verwirklicht. Obwohl Syme diese Entwicklung bejaht, ist sich Smith sicher, dass man ihn, Syme, „vaporisieren“ wird. Denn Syme sieht die Dinge zu klar „und spricht zu offen. Die Partei sieht solche Menschen nicht gerne. Eines schönen Tages wird er verschwinden. Es steht in seinem Gesicht geschrieben.“38 Tatsächlich kommt der Tag, an dem Syme verschwunden ist. – Die Erkenntnis dieses Prozesses bildet die letzte Differenz zu diesem Prozess, die man auslöschen muss. Pluralität von Sprachen und damit Pluralität von Welterschließung bringt auch Konflikte hervor. Konflikte zu bewältigen, ja vielleicht sogar Ambiguitäten aushalten, ist anstrengend. Insofern ist es in einem lethargischen Umfeld verständlich, dass im Sinne der Vermeidung von Anstrengung besser auf die Konflikte verzichtet wird. Toni Morrison, die im August 2019 verstorbene amerikanische Literaturnobelpreisträgerin, hat in ihrer Dankesrede in Stockholm 1993 die Babelerzählung aufgenommen. Wäre eine homogene einsprachige Welt eschatologisch überhaupt wünschenswert? Perhaps the achievement of Paradise was premature, a little hasty if no one could take the time to understand other languages, other views, other narratives period. Had they, the heaven they imagined might have been found at their feet. Complicated, demanding, yes, but a view of heaven as life; not heaven as post-life.39
37 Orwell, 1984, 50 f. 38 Ebd., 51. 39 Homepage der Nobelpreis Organisation, https://www.nobelprize.org/prizes/literature/1993/morrison/lecture/ (abgerufen am 14.12.2019).
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Der Umgang mit Differenzen und zuweilen mit Konflikten ist kompliziert und anstrengend, aber die Vermeidung wäre die Vermeidung des Lebens.
VII. Lokalität und Tradition Nun ist aber – und wir könnten sagen: glücklicherweise – die Pluralität von Sprachen und die mit ihr einhergehende Pluralität von Welterschließungen eine Tatsache, der sich noch nicht auf Dauer entgehen lässt und von der wir hoffen müssen, dass sie uns nicht auf Dauer entgeht. Das technizistische-ökonomische Bearbeitungsmodell versucht, diese Anstrengung (‚demanding‘) auf die Übersetzer und Dolmetscher auszulagern, die dafür entgolten werden, dass sie die Last in der arbeitsteiligen Gesellschaft für alle mitübernehmen. Letztendlich aber schafft sie die Anstrengung ab. Wir müssen uns ja sogar mit der Aussicht konfrontieren, dass KI-basierte Übersetzungssysteme in Zukunft immer leistungsfähiger werden und den Beruf des Übersetzers und vielleicht dann auch des Dolmetschers überflüssig machen. Dass Übersetzungsprogramme wie DeepL in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte gemacht haben, kann man kaum bezweifeln. Jedoch: In jeder Übersetzung steckt auch ein Stück weit eine neue Welt. Die Pluralität der Sprachen in der Europäischen Union ist daher nicht einfach nur eine Belastung, sondern vor allen Dingen eine Chance.40 Man vergibt sie, wenn man versucht, die Differenzen in einer möglichst objektivierten Bürokratensprache zu nivellieren. Dort, wo es um ökonomische Effizienz geht, hat eine solche Sprache ihren Platz; aber an vielen anderen Orten wirkt sie einfach nur gewaltsam. Die Anonymisierung menschlicher Kommunikation ist in bestimmter Hinsicht auch ihre Perversion. Allerdings ist eine solche Tendenz unübersehbar. Zwar ermöglicht es uns ausgerechnet die Sprache, einen vermeintlich abstrakten Standpunkt „von nirgendwo“41 einzunehmen und gewissermaßen völlig objektiv auf die Welt – die deskriptive wie auch die normative zu blicken –, aber umgekehrt zeigt uns die Reflexion auf die Sprache, dass wir unserer konkreten Verortung eben doch nicht entkommen können. Es wäre auch für die Ethik in unserer Zeit manchmal hilfreich, sich der Bedeutung von Lokalität und der Nähebeziehungen wieder mehr zu vergewissern, in denen Individuen als solche und nicht nur als abstrakte Variablen in einem nicht umgrenzten Zahlenraum wahrgenommen werden können. Die Dialektik von Individuum und Welt hat beide Seiten: die herrschendschöpferische und die beherrschend-knechtende. Sprache findet sich auf beiden Seiten. Je größer die Anonymität, desto mehr tritt oft die unterwerfende Seite hervor. Das ist nicht 40 Vor allem auch in der Wissenschaft, wie Bernadette Malinowski und Michael Sommer in einem aktuellen Zeitungbeitrag herausstreichen: Denglisch ist ungeeignet. Wissenschaft braucht Mehrsprachigkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 265, 14. 11. 2019, 6. 41 Um den Titel dieses Buches von Thomas Nagel aufzunehmen (Thomas Nagel, Der Blick von Nirgendwo, Frankfurt 1992).
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zuletzt für eine Friedensethik eine bedeutende Einsicht: Wenn Frieden nicht einfach etwas ist, dem wir unterworfen sind, wie dem Hobbes’schen Frieden des Leviathan (ein „negativer Frieden“), sondern ein Frieden sein soll, der im kreativen oder zumindest gleichgerichteten Zusammenspiel von Einzelnen besteht, dann muss er bei lokalen Verbindungen beginnen und Lokalität sowie ihre lokalen Traditionen ernst nehmen.42 Diese Thematik steht heute – nach David Goodharts Buch zu den „Anywheres“ und „Somewheres“ von 201743 – wieder stärker im Fokus der Gelehrten. George Steiner hat aber schon 1991, im Vorwort seiner Neuausgabe von „Nach Babel“ eine gegenläufige Tendenz zur geläufigen Kosmopolitisierung und Vereinheitlichung und Vereindeutigung unserer Sprache festgestellt: Durch das leidenschaftliche Streben einzelner Stämme, Regionen und Nationen nach Identität erweisen sich die Sprachen als resistenter gegenüber der Rationalisierung und den Vorteilen von Homogenität und technischer Formalisierung, als dies zu erwarten war.44
Diese Sehnsucht nach lokaler und regionaler Verbundenheit ist gegenwärtig oft darin zu beobachten, dass Dialekte und regionale Mundarten im öffentlichen Raum verschriftlicht werden. Das Schweizerdeutsche, das selbst nicht einheitlich ist, hat sich in den letzten Jahren vielfach zu einer Schriftsprache – auf Plakaten, aber auch in längeren Texten – erweitert. Ähnliches kann man in Bayern beobachten. Selbst der FC Bayern ist mit seinem Slogan „mia san mia“ auf den Zug aufgesprungen – im Übrigen ist natürlich Sprache selbst Gegenstand von Tradition. Auch der Sprachgebrauch wird weitergegeben, was sich auf Sprache und Denken auswirkt, wie nochmals George Orwell in seinem berühmt-berüchtigten Essay „Politics and the English Language“ betont hat:
42 Die „Lokalität der Sprache“ kann in ihrem sprachlichen Ausdruck im Genitivus subjectivus und im Genitivus objectivus verstanden werden: Sprache ist lokal, insofern als sie an eine an einem Ort lebende menschliche Gemeinschaft gebunden ist. Die Lokalität in der Sprache ist der „topos“ – der Ort, an dem unser Denken in der Sprache einen Anhaltspunkt findet. – Peter Utz schreibt zum Verfahren des Übersetzens: „Es geht vom Hier und Jetzt des eigenen Standpunktes aus, den es im Feld der fremden Blickpunkte neu vermisst.“ Peter Utz, Anders gesagt – autrement dit – in other words. Übersetzt gelesen: Hoffmann, Fontane, Kafka, Musil. München 2007, 16. 43 David Goodhart, The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics, London 2017. „Anywheres“ sehen die Welt von jedem beliebigen Ort aus, die „Somewheres“ sehen sie von ihrem bestimmten Ort aus. „Anywheres“ sind akademisch gebildet, können reisen, verfolgen ihre Karrieren in den Großstädten. „Somewheres“ sind in ihren Herkunftsorten verwurzelt und haben zuschreibbare Identitäten (Goodhart, Road to Somewhere, 3 f.). Viele „Anywheres“ denken, dass „Somewheres“ zurückgeblieben sind. 44 Steiner, Nach Babel, xii. – In Deutschland versucht man ja daher, den Begriff der „Heimat“ nun stärker politisch zu „bewirtschaften“ – mit der Paradoxie, in diese Versuche zwangsläufig laufen müssen: Denn als politischer Begriff wird „Heimat“ eben ein Allgemeines, ein Universales, von dem der Begriff ja gerade abgrenzen will. Etwas in der Sprache auszudrücken, kann oft eben heißen, es im Leben zu verlieren. Heimat hat man, so lange sie sprachlich athematisch bleibt.
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If thought corrupts language, language can also corrupt thought. A bad usage can spread by tradition and imitation even among people who should and do know better.45
Die politische Sprache, so lautet die bekannteste Passage aus dem Aufsatz, lässt Lügen wahr aussehen und den Mord anständig oder ehrlich („respectable“). Sprache wird hier zum Instrument der Verschleierung von Gewalt. Wir dürfen also das Thema ‚Gewalt der Sprache‘ nicht eindimensional betrachten. Das Verhältnis von Gewalt und Sprache kann in der Genitivverbindung sowohl als genitivus subjectivus wie auch als genitivus objectivus verstanden werden. Daher müssen wir – zumindest knapp – auch über die Sprache der Gewalt sprechen. Eine kleine Kautel sollte aber immerhin vorausgeschickt werden: Es ist nicht immer sinnvoll, bei der Diskussion von Gewalt mit den Substantiven zu beginnen. Das führt häufig in die Irre, denn wer nach dem Wesen der Gewalt fragt, tut so, als sei die Gewalt ein Objekt, das außerhalb unser selbst wie ein großer Felsblock herumsteht. Grundsätzlich sollten wir eher mit dem Adjektiv beginnen und uns fragen: Was heißt ‚gewaltsam‘ oder auch ‚gewaltig‘? Von welchen Vollzügen oder Vorgängen sagen wir aus, dass sie gewaltsam seien?
VIII. Die Gewalt im Sprechen und die Gewalt der Sprache Sprechen kann gewaltsam sein. Sprache als Werkzeug kann – und es scheint fast eine Banalität zu sein, dies herauszustellen – ein Mittel der Gewalt sein. Hier setzen auch all die gewalttheoretischen Reflexionen ein, die sprachliche Gewalt in der Metaphorik der körperlichen Verletzung zum Ausdruck bringen: „Seine Äußerung war ein Schlag ins Gesicht für mich“, oder: „Dieser Satz hat mich tief getroffen.“ Sprachliche Gewalt wird zunächst zumeist in Analogie zur physischen Gewalt gedacht. Die sprachpragmatische Auffassung gibt dazu auch großen Raum. Manche soziologischen Gewalttheoretiker, wie beispielsweise Jan Philipp Reemtsma, vertreten die These, dass der sprachlichen Gewalt im Grunde immer eine Form von physischer Gewalt zugrunde liegt, also dass sprachliche Gewalt eine Form von Drohung mit physischer Gewalt sei oder eine solche physische Verletzung zumindest in Aussicht stelle. Handlungen zeichnen sich ja gegenüber anderen faktischen Vollzügen des Menschen dadurch aus, dass sie – zumindest in einer Hinsicht – intentional, also absichtlich sind. In dieser Intentionalität liegt ein Dreh- und Angelpunkt ihrer ethischen Beurteilung. Aber wir wissen auch, dass wir – manchmal sogar tragischerweise – eine problematische Wirkung hervorbringen, ohne dass wir diese gewollt hätten – oder explizit intendiert hätten. Wir haben gute Gründe, auf unsere Sprache zu achten. Das gilt auch in den Fällen, in denen – wenn der Fall singulär betrachtet wird – eine schärfere Sprache grundsätzlich möglich wäre. Sie prägt einen Habitus, der uns auch dann in verletzende Sprache verfallen lässt, wenn eben 45 George Orwell, Politics and the English Language, in: Ders., Why I write, London 2004, 102–120, 116.
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diese nicht mehr angebracht oder häufig sogar gänzlich unangebracht ist. Dass hier soziale Kontexte eine große Rolle spielen, wussten die Tugenddenker der Antike (Aristoteles allen voran) auch schon. Wie aktuell das Thema ist, muss ich nicht besonders betonen. Die ganze Debatte um „Hate Speech“ im Internet kreist darum. Im Grunde bestätigt sich in der Netzwirklichkeit eine ganz alte Einsicht über die moralischen Vermögen des Menschen, nämlich wie durch kollektive soziale Praxis der Verfall individueller Praxis befördert werden kann, welcher seinerseits wiederum zum problematischen sozialen Verhalten beiträgt. Verletzende, schädigende, bedrohende Äußerungen im Medium des Internets zeigen uns eine düstere anthropologische Seite des Menschen, um die aber Christen immer schon wussten, ohne dass sie sich einseitig nur auf diese Seite stützen wollten und sollten. Paulus (oder eher ein Schüler von ihm) fordert die Epheser ausdrücklich auf, nur gute, aufbauende Worte zu sprechen (Eph. 4,29). Nicht im instrumentellen Sinn, sondern im existentiellen Sinn ist daher die Anrufung Gottes im Gebet so wichtig. In dem wunderbaren Hymnus „Iam lucis orto sidere“, der dem heiligen Ambrosius zugeschrieben wird, hat der Kirchenvater es so formuliert: Linguaem refraenans temperet, Ne litis horror insonet: Visum fovendo contegat, Ne vanitates hauriat.
Viele kennen den Passus in der deutschen Übersetzung als Bezähme unserer Zunge Macht, dass sie nicht Hass und Streit entfacht.
Ambrosius bittet Gott hier nicht, seine eigene Macht, die er mittels der Zunge bzw. der Sprache ausübt, zu bezähmen, sondern die Macht der Sprache selbst. Der Kirchenvater ist hier der zeitgenössischen amerikanischen Philosophin Judith Butler näher, als letzterer dies bewusst ist. Butler ihrerseits ist es wichtig, „dass das Sprechen selbst eine körperliche Handlung ist,“46 und im Sprechen der Sprecher nicht nur seinen eigenen Körper, sondern auch den des Adressaten ins Spiel bringt.47 Der Mensch ist nicht nur Schöpfer seiner Sprache. Er unterliegt ihr auch. Das Subjekt selbst konstituiert sich erst im Raum der Sprache, im Raum des Sprechens, aber vor allem auch des Angesprochen-Werdens. In der stoischen Philosophie ist der Logos – ein Ausdruck, der selbst größte Übersetzungsschwierigkeiten aufwirft, wie wir aus Goethes „Faust“ wissen48 – unser Innerstes, unsere Eigentlichkeit. Wenn wir dieses Moment am Sprechen und an 46 Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, 21 (Kursivschreibung im Original). 47 Ebd., 25. 48 Faust müht sich am ersten Satz des Johannes-Evangeliums („en arche en ho logos“; Joh. 1,1) ab: „Geschrieben
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der Sprache mitbedenken, dann wird uns klar, dass Sprache nicht nur ein Mittel der Gewalt ist, mit der wir ausgehend von anderem, z. B. dem Körper, auf anderes, z. B. einen Körper, zielen, sondern dass wir in der Sprache selbst verletzt werden können. Pierre Bourdieu hat für dieses Phänomen den Ausdruck „symbolische Gewalt“ geprägt.49 In hierarchischen Strukturen können Rede und Anrede völlig korrekt sein und ohne Gewaltabsichten erfolgen, aber dennoch kann in der Sprache selbst die Gewaltsamkeit der Struktur nicht nur zum Ausdruck kommen, sondern sogar hinterlegt sein. In diesem Sinne ist „die soziale Heterogenität der Sprache inhärent“50, wie Bourdieu sagt. Wir kennen die Erfahrung, dass sogar physische Gewalt ihre volle Form erst als symbolische kenntlich machen kann. Dies ist z. B. bei Ohrfeigen der Fall, die in ihrer körperlichen, also beispielsweise schmerzhaften Auswirkung begrenzt sind, aber doch eine enorme Demütigung und soziale Zurücksetzung enthalten können. Daher ist zurecht der Anerkennung in den letzten Jahrzehnten viel philosophische Aufmerksamkeit gewidmet worden. Bei sozialer Anerkennung handelt es sich „nämlich nicht um äußerliche Eigenschaften, mit denen sich ein eigentlich autonomes Subjekt nachträglich identifiziert, sondern vielmehr um den Stoff, aus dem das Subjekt selbst gemacht ist. Erst in dem Moment nämlich, in dem ein Subjekt eine Anerkennung seines jeweiligen Lebensentwurfs erfährt, kann es ein positives Selbstverhältnis aufbauen.“51 Es darf zudem nicht vergessen werden, dass auch Schweigen, also der bewusste Verzicht auf Sprechen, verletzen kann. Insofern als auch Schweigen etwas kommuniziert, kann Schweigen eine „Sprache“ sein. Wenn auf eine leicht zu beantwortende Frage keine Antwort gegeben oder wenn ein Gruß nicht erwidert wird, kann dies eine Missachtung des anderen darstellen.
IX. Kreative Treue in der Übersetzung Was hier für individuelle Subjekte behauptet wird, spielt mutatis mutandis auch für Kollektive eine entscheidende Rolle. Ein Kollektiv anzusprechen, sagen wir eine Bürgerschaft oder Volk, kann nur gelingen, wenn es in seiner je historisch gewachsenen Eigenheit mit all seinen situativen und normativen Besonderheiten, anerkannt wird. Hier spielt das Moment steht: „Im Anfang war das Wort!“/Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?/Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,/Ich muss es anders übersetzen,/Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin./Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn./Bedenke wohl die erste Zeile,/Dass deine Feder sich nicht übereile!/Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?/Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft!/Doch, auch indem ich dieses niederschreibe,/Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe./Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat/ Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“ 49 Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien 22005. 50 Ebd., 38. 51 Steffen K. Herrmann, Beleidigung, in: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hrsg.), Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, 110–115, 115.
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der Tradition eine ganz besondere Rolle. Wer Kollektive anspricht, sollte ein wenig über deren Geschichte und Herkommen Bescheid wissen. Abstrakte Sprache kann das nicht. Aber wir als Sprecher können und müssen uns immer wieder Geschichten wie die von Glurns in Südtirol und den Hofer-Söhnen und von Tausenden anderen Orten in Europa und ihren Töchtern und Söhnen erzählen, wenn wir Europäer ansprechen wollen. Wir müssen solche Geschichten in Deutsch, Italienisch und anderen Sprachen erzählen und sie dafür übersetzen. Geschichten wie jene, die Peter Handke – der Literaturnobelpreisträger von 2019 – sie in seinen Schriften und Theaterstücken („Immer noch Sturm“) erzählt.52 Die Beschäftigung mit Geschichte und der Geschichte ist kein l’art pour l’art oder nice to have, sondern die beste Vorbeugung gegen Nationalismus und eine ganz wesentliche Voraussetzung für gelingende transnationale Kommunikation, denn sie öffnet uns für den eigenen Verstehenshorizont und den des anderen. Tradition ist dabei nicht identisch mit Geschichte. Tradition sei nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe der Flamme, heißt in einem berühmten Ausspruch, der von Thomas Morus über Benjamin Franklin bis hin zu Gustav Mahler schon den verschiedensten Urhebern zugesprochen wurde. Dieser Ausspruch ist nun aber in der Tat so gut gelungen, dass es keine Rolle spielt, auf wen er zurückgeht; er gehört selbst in unser traditionelles Verständnis von Tradition. Roland Barthes hatte ja ganz generell einen „Tod des Autors“ konstatiert: Der Autor53 ist eine moderne Figur, die unsere Gesellschaft hervorbrachte, als sie am Ende des Mittelalters im englischen Empirismus, im französischen Rationalismus und im persönlichen Glauben der Reformation den Wert des Individuums entdeckte – oder, wie man würdevoller sagt, der ‚menschlichen Person‘.54
So wie der Autor in der Zeit seine Bedeutung erlangt habe, so würde er sie nun auch wieder in der Zeit verlieren. Aber Barthes schüttet wohl das Kind mit dem Bade aus, und dass seine Schrift seinen Namen als Autorenangabe trägt, macht den performativen Widerspruch nur umso eindrücklicher deutlich.55 Richtig ist jedoch: Das vom Autor entlassene Wort ist wie ein erwachsenes Kind und gewinnt eine Selbstständigkeit, die sich der Kontrolle des Autors entzieht (sofern er nicht alle seine rechtlichen Möglichkeiten nutzt, Kontrolle zu behalten). Die Rezipienten des Gesagten sind frei in ihrer Aufnahme, aber sie können nicht willkürlich 52 Vielleicht hat seine Arbeit als Übersetzer (z. B. von Werken Patrick Mondianos, dem Literaturnobelpreisträger von 2014) auch zur besonderen Aufmerksamkeit Handkes für das Singuläre, das geschichtlich Gewordene geführt. 53 Im frz. Original kleingeschrieben und kursiv. 54 Roland Barthes, Der Tod des Autors, in: Fotis Jannidis et al. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Ditzingen 2000, 185–193. 55 Auch Barthes würde gewiss wollen, dass sein französischer Text ‚treu‘ ins Deutsche übersetzt wird. Er kann als Autor eine solche Treue vom Übersetzer wohl einfordern.
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oder zufällig rezipieren. Übersetzer und Dolmetscher sind Rezipienten und Sprecher zugleich. Sie sind keine mechanischen Transformationsautomaten. Sie müssen zwei Tugenden in sich vereinen: die der Treue und die der Kreativität. Umberto Eco hat seinem Buch über das Übersetzen den Titel „Quasi dasselbe mit anderen Worten“ gegeben. Der Pfiff liegt in diesem „quasi“, das einen Möglichkeitsraum beschreibt, den Übersetzer füllen. Man kann das Problem der Kulturgebundenheit ebenso gut an Texten aus der Geistesgeschichte deutlich machen. Umberto Eco zeigt diese Anforderung an den Übersetzer am Beispiel des berühmten Huldigungssonetts an Beatrice, das Dante vor 700 Jahren verfasst hat.56 Die Ausdrücke ‚gentile‘, ‚donna‘, ‚cosa‘ usw. gibt es auch noch im heutigen Italienisch, weshalb sich für italienische Leser so leicht eine Lesart nahelegt. Das Gedicht bleibt in der sich nahelegenden Interpretation poetisch reizvoll, aber man bringt sich um den ‚interkulturellen‘ Gewinn, der darin besteht, dass man einmal veranlasst ist, sich in ein anderes Denken und Kulturmodell einzufühlen und versucht, es kognitiv zu erfassen.. Man kann nur mit Bedauern feststellen, dass die Beschäftigung mit der eigenen Tradition häufig gar nicht mehr in diesem Sinne verstanden wird, nämlich als kreative Anforderung, sich einen anderen Zeitkontext anzueignen. Insbesondere das reiche Erbe der christlichen theologischen Tradition wird heute vielfach nur noch als Ballast empfunden, dessen man sich erstens schnell entledigen sollte, sodass zweitens die Zuwendung zu ihm nur noch als reaktionäre Weltfremdheit erscheint. Aber die eigentliche Weltfremdheit liegt wohl eher bei jenen, die sich weigern, die Vielfältigkeit der Welten anzunehmen und zu erkunden. Moralisierende Voreinstellungen sind natürlich häufig ein nicht unbeträchtliches Hindernis. Die größte Faszination hat ja stets das Übersetzen aus dem Chinesischen ausgeübt, weil hier die Differenz in den Lauten und im Schriftbild für den europäischen Hörer und Leser (aber nicht nur den) so ungewöhnlich groß erscheint. Die Forderung nach mehr interkulturellem Einbezug außereuropäischer Philosophien ist ja schnell aufgestellt, aber wesentlich weniger einfach ist ihre Umsetzung. Die meisten Darstellungen chinesischer Philosophie bringen das ostasiatische Denken letztlich doch in europäische Denkkategorien. Zur Übersetzung und Interpretation chinesischer Philosophie gibt es daher einen eigenen Eintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy – ein Unikum.57 Übersetzung und Interpretation stehen ja in einem Wechselverhältnis, das zu klären, den hier gebotenen Raum übersteigen würde. Aber Übersetzung und Interpretation sind nicht identisch. In gewisser Hinsicht sind sie sogar konträr: Dem schönen Bild von Peter Utz nach sind Interpreten „Sinnsucher“, Übersetzer dagegen „Sprachsurfer“.58 Jedoch das gilt eben nur in bestimmter Hinsicht. In anderer Hinsicht setzt die Übersetzung eine Deutung voraus. Der Beitrag zur chinesischen 56 Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen. München, Wien 2006, 191–194. 57 Henry Rosemont Jr., Translating and Interpreting Chinese Philosophy, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2019 Edition), Edward N. Zalta (ed.), https://plato.stanford.edu/entries/chinese-translate-interpret/ (abgerufen am 15.12.2019). 58 Utz, Anders gesagt, 13 f.
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Philosophie in der philosophischen Enzyklopädie aus Stanford betont jedenfalls die Bedeutung des historischen Kontexts für die Übersetzung der Lautsprache, und auch die Interpretation der chinesischen Schriftsprache ist auf Kontextwissen angewiesen. Eines der berühmtesten philosophischen Argumente des 20. Jahrhunderts ist jenes vom „Chinesischen Zimmer“, das sich der schon oben erwähnte John Searle ausgedacht hat.59 Es zeigt, dass eine eigentliche Übersetzung von einem Computer, einer „künstlichen Intelligenz“ nicht geleistet werden kann, weil sie nur die Syntax der Wortzusammenstellungen aufzunehmen vermag, aber die Semantik der Begriffe und Sätze nicht begreift. Reines „Sprachsurfen“ auf der äußeren Gestalt ist kein Übersetzen. Sprache zeigt sich hier von seiner leiblichen Seite (man ist versucht zu sagen: nur leiblichen Seite, aber das wäre nicht ganz angemessen), wobei „leiblich“ nicht „körperlich“ heißt. Dem Leib kann man sich zwar von außen wie einem Körper nähern, aber als Leib verweist er schon auf das Geistige. Gerd Haeffner hat diese Analogie des Leiblichen in der Sprache philosophisch-anthropologisch ausgelegt. „Obwohl Bedeutung und Lautfolge etwas ganz anderes sind, finden wir sie doch, auf die Sprache reflektierend, in einer ursprünglichen Verschmelzung vor, sodass den Unterschieden auf der Seite des Bedeutungsträgers (der Laute) Unterschiede auf der Seite der Bedeutungen entsprechen.“60 Sprache hat eine körperliche Außenseite, die im Laut oder im Schriftbild zum Ausdruck kommt, aber sie verweist notwendig auf ihre „geistige“ Seite, nämlich die der Bedeutung. Nachdenken über die Sprache ist insofern immer Nachdenken über den Menschen und was ihn von seinen technischen Geschöpfen – zu welchen „intelligenten“ Vollzügen sie auch immer in der Lage sein mögen – unterscheidet. Wie sich in den Leibern der Menschen Tradition und Geschichtlichkeit verkörpert, also Singularität, so verkörpert sich diese Tradition und Geschichtlichkeit auch in den Sprachen.61 Der Verweis auf die Bedeutung der Tradition für das Verstehen wirkt heute ja vielfach ‚unzeitgemäß‘. Aber eine Offenbarungsreligion kann ohne ein tiefes Traditionsverständnis nicht auskommen. Nehmen wir eine Situation, wie sie in der Apostelgeschichte geschildert wird (Apg. 8, 26-40): Philippus geht auf der Straße von Jerusalem nach Gaza und begegnet einem mächtigen Mann, dem Kämmerer am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien. Dieser sitzt auf seinem Wagen und liest den Propheten Jesaja. Da fragt ihn der Apostel: „Verstehst Du auch, was Du liest?“. Der Schatzmeister gibt seine Schwierigkeiten mit dem Text zu: „Wie kann ich, wenn mich nicht jemand anleitet?“ Philippus legt ihm die Schrift im Lichte des Auferstehungsgeschehens aus. 59 John Searle, Minds, Brains and Programs, in: Behavioral and Brain Sciences, 3 (1980): 417–457. 60 Gerd Haeffner, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 21989, 90. 61 Jürgen Trabant weist im Übrigen auf einen wichtigen Sachverhalt hin: Übersetzt werden niemals „Sprachen“, sondern Texte oder Äußerungen, die in bestimmten Sprachen verfasst sind. Und einzelne Wörter aus bestimmten Sprachen, die sich schwer übersetzen lassen, sind kein guter Indikator für die Nicht-Übersetzbarkeit von einer Sprache in eine andere. Unter Umständen muss eben der Satz auch grammatisch veränderten werden (Trabant, Sprache, 121). Daran, dass sich mit der Verwendung anderer Sprachen die Erschließung der Welt ebenfalls verändert, tut dies keinen Abbruch.
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In dieser Szene geht es nicht einfach nur um das sprachliche Unvermögen des Kämmerers der Kandake, den hebräischen Text zu verstehen. Der bloßen Wortübersetzung scheint er schon fähig zu sein. Das Problem ist nicht, dass er nicht begreifen würde, was hier inhaltlich ausgesagt wird. Vielmehr besteht das Problem darin, dass er nicht weiß, wie er den Inhalt in einen größeren Kontext bringen soll: Von wem ist hier eigentlich die Rede? Philippus gibt ihm einen solchen Kontext dazu, indem er ihm von Jesus Christus erzählt. – Der Kontext steht nicht im Buch des Jesaja. Ein Übersetzungscomputer könnte dem Kämmerer der Kandake hier ebenfalls nicht helfen. Den Kontext erhält er aus der Überlieferung zu Jesu Leben und Auferstehung, die ihm von Philippus mitgeteilt wird. Die Schwierigkeit der Übersetzung, der translatio, ist hier nicht zu bewältigen ohne traditio, der Weitergabe der Überlieferung. Im Alltag der bürokratischen Übersetzungspraxis bei internationalen Institutionen wie der Europäischen Union geht es banaler zu. Die großen Traditionen des europäischen Denkens bleiben zumeist ausgeblendet. Die Übersetzer sind dafür verantwortlich, wahrhaftig das in einer Sprache Ausgedrückte möglichst angemessen in eine andere Sprache zu übertragen. Dennoch: Um die Tätigkeit des Übersetzens nicht mechanisch werden zu lassen, sollte man sich indessen des Hintergrundanspruchs bewusst bleiben. Übersetzen scheint eine Sache zu sein, die in einer nicht-idealen Wirklichkeit auftritt und erforderlich ist. Es operiert in einem ‚Dazwischen‘. Aber dieses ‚Dazwischen‘ sollten wir nicht in die Richtung einer Einheitssprache verlassen, sondern uns eher bemühen, nach menschlichen Möglichkeiten andere Sprachen zu lernen und in andere Sprachwelten einzutauchen. Der Anspruch ist nicht die Perfektion. Umberto Eco hat dies so formuliert: Das Problem der zukünftigen europäischen Kultur liegt sicher nicht im Triumph der totalen Vielsprachigkeit [...], sondern in der Herausbildung einer Gemeinschaft von Menschen, die in der Lage sind, den Geist, das Aroma, die Atmosphäre einer anderen Sprache zu erfassen. Ein Europa von Polyglotten ist kein Europa von Menschen, die viele Sprachen perfekt beherrschen, sondern im besten Fall eines von Menschen, die sich verständigen können, indem jeder die eigene Sprache spricht und die anderen versteht, ohne sie fließend sprechen zu können, wobei er, während er sie versteht, wenn auch nur mit Mühe, zugleich ihren ‚Geist‘ versteht, das kulturelle Universum, das ein jeder ausdrückt, wenn er die Sprache seiner Vorfahren und seiner Tradition spricht.62
Vielleicht kann man den Überlegungen hier eine didaktische Wendung geben, indem man sagt, dass zu jedem guten Sprachunterricht der Geschichtsunterricht mit dazugehört. Als kleine Coda sei bemerkt, dass die hier vorgebrachten Gedanken keineswegs neu, sondern ihrerseits Ausdruck von Tradition sind. Menschen wissen um die Bedeutung des 62 Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, München 1997, 355.
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„Sprachenschutzes“, der in Europa seinen besonderen Ausdruck in der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRML) gefunden hat. Dieses völkerrechtliche Abkommen, das 1992 auf Initiative des Europarats verabschiedet worden ist, hat eine Reichweite, die über die Europäische Union hinausreicht – von Norwegen bis Zypern. Wie bei vielen völkerrechtlichen Übereinkommen gibt es Unvollkommenheiten, die nicht zuletzt damit zu tun haben, dass die Staaten am Ende doch stets das letzte Wort haben. Einen wirklich durchschlagenden Sanktionsmechanismus sieht die ECRML nicht vor; zudem gibt es noch große Lücken im Ratifikationsstand, was auch damit zu tun haben mag, dass gegenwärtig die Bedeutung des Sprachenschutzes als Kulturgüterschutz zu wenig gesehen wird. Italien beispielsweise – das ja durch die Vielfalt seiner Kulturregionen und Sprachgruppen in Europa besonders herausragt – hat die Charta zwar im Jahr 2000 unterzeichnet, aber bislang noch nicht ratifiziert. Es wäre wünschenswert, wenn hier neue Initiativen unternommen werden könnten, das Bewusstsein für die Thematik wieder neu zu stärken – selbst wenn reine ökonomische Kalkulationen dagegensprechen mögen.
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Globale Verantwortung Die neue Rolle der Europäischen Union I. Einleitung: Verantwortung in der Internationalen Staatengemeinschaft 1. Gemeinsame aber unterschiedliche Verantwortung in der Klimapolitik Das Prinzip der „gemeinsamen aber unterschiedlichen Verantwortung“ (Common but Differentiated Responsibilities and Respective Capabilities, CBDR & RC) ist ein zentraler Leitgedanke des Umweltvölkerrechts. Es ist in Art. 3 und 4 der UN-Klimarahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) von 1992 statuiert. Das Prinzip geht von der souveränen Gleichheit aller Staaten aus. Es erkennt aber die unterschiedlichen Verursachungsbeiträge und die unterschiedliche Schutzfähigkeit der Staaten an. So schafft es eine internationale Ordnung mit gleichen Ansprüchen an die Staaten aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten für die Stabilisierung der Treibhausgasemissionen in der Atmosphäre auf einem für heutige und zukünftige Generationen ungefährlichen Niveau.1 Das dynamische Element der Umwelt- und Klimaschutzverantwortung ist, dass es sich nicht nur auf Maßnahmen der entwickelten Staaten im Sinne einer Anpassung der Verursachungsbeiträge bezieht (historische Gerechtigkeit), sondern es fordert die entwickelten Staaten mit hoher Schutzkompetenz auf, sich entwickelnde Staaten bei ihren Umweltschutzbemühungen zu unterstützen (gegenwärtige Gerechtigkeit).2 Die genaue Auslegung des Prinzips bleibt umstritten. Indes wird das Prinzip zur Differenzierung der Klimaschutzverantwortlichkeiten von entwickelten und sich entwickelnden Staaten fortwährend angewendet: etwa bei der differenzierten Fälligkeit von Maßnahmen, der Verwendung unterschiedlicher Bemessungsjahre, der Sanktionierung von Fehlverhalten oder der finanziellen und technologischen Unterstützung von sich entwickelnden durch entwickelte Staaten.3
1 Charlotte Kreuter-Kirchhoff, Schutzverantwortung im Völkerrecht, in: Hanno Kube et al. (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts. Festschrift für Paul Kirchhoff zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2012, 1115–1126, 1122. 2 Grundlegend zum „Principle of Common but Differentiated Responsibilities and Respective Capacities” (CBDR&RC): Harald Winkler/Lavanya Rajamani, CBDR & RC in a Regime Applicable to All, in: Climate Policy 14 (2014), Heft 1, 102–121. 3 Joanne Scott/Lavanya Rajamani, EU Climate Change Unilateralism, in: The European Journal of International Law 23 (2012), Heft 2, 469–494, 478.
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Vor diesem Hintergrund gehen wir in unserem Beitrag davon aus, dass sich die Art der Klimaschutzverantwortung der Europäischen Union (EU) und ihrer Mitgliedstaaten seit der Verabschiedung der UNFCCC (1992) und deren Umsetzung im Kyoto-Protokoll (1997) massiv verändert hat. Zum einen, so argumentieren wir, hat sich die Bedeutung historischer Verursachungsbeiträge der entwickelten Staaten, und damit auch der EU, durch den rasanten CO2-Emissionsaufwuchs der sich entwickelnden Staaten verändert.4 Dieser starke Aufwuchs verringert die historischen CO2-Verursachungsbeiträge der Industriestaaten am Gesamtemissionsbudget zwar merklich, erhöht aber deren Verantwortung, die sich entwickelnden Staaten darin zu unterstützen, ihren Aufwuchs kurzfristig zu drosseln, um noch eine Gesamtbudgetstabilisierung unterhalb der Zwei-Grad-Grenze zu ermöglichen. Zum anderen, so geben wir zu bedenken, hat sich mit der Pariser Übereinkunft (2015) und der nachfolgenden Ankündigung des Austritts der USA durch Präsident D. Trump (2017)5 der rechtliche Verpflichtungscharakter des Prinzips der CBDR & RC im Pariser Abkommen deutlich verändert.6 Da nun die Staaten im Wesentlichen selbst über ihre Emissionsreduktionsambitionen entscheiden und sich auch in der Union der Widerstand gegen eine ambitionierte CO2-Reduktionspolitik mehrt, wird die EU stärker durch ihr Außenhandeln wirken müssen.7 Beide skizzierten Entwicklungen, so unsere Argumentation, bewirken nun, dass sich die Erwartungen an die klimapolitische Rolle der EU wandeln. Um ein gefährliches Ausmaß des anthropogenen Klimawandels zu verhindern, ist eine vorbildliche Reduktion der eigenen CO2-Emmissionen im Sinne einer „internationalen klimapolitischen Führungsrolle der EU“ immer weniger ausreichend und angesichts der internen Auseinandersetzungen wahrscheinlich.8 Vielmehr muss die EU neue politische internationale Koalitionen schmieden, um Verhandlungsimpulse für eine Durchsetzung des Pariser Abkommens setzen zu können.9
4 Katharina Michaelowa/Axel Michaelowa, Equity and Development: Developing Countries in the International Climate Negotiations, in: Urs Luterbach/Detlef Sprinz (Hrsg.), Global Climate Policy. Actors, Concepts, and Enduring Challenges, Cambridge 2018, 263–296, 263. 5 Die Austrittsankündigung der USA vom Juni 2017 wird indes erst im November 2020 (nach den US-Präsidentschaftswahlen) aufgrund langer Übergangsregelungen rechtskräftig werden. 6 Sebastian Harnisch/Jale Tosun, Die Klimavereinbarung von Paris: eine erste politikwissenschaftliche Analyse, in: Zeitschrift für Umweltpolitik & Umweltrecht 39 (2016), Sonderheft der ZfU zur Pariser UN-Klimakonferenz, 72–87. 7 Deutsche Welle, 21. 6. 2019, https://p.dw.com/p/3Kp0g (abgerufen am 15.12.2019). 8 Alexandra Lindenthal, Leadership im Klimaschutz. Die Rolle der Europäischen Union in der internationalen Umweltpolitik, Frankfurt a. M. 2009; Thomas Hickmann, Die richtungweisende Führungsrolle der Europäischen Union in der internationalen Klimapolitik, in: Jochen Franzke (Hrsg.), Europa als Inspiration und Herausforderung: sozialwissenschaftliche Sichten aus Deutschland und Polen, Potsdam 2011, 63–85; Ole Elgström, Legitimacy, Credibility and Coherence – Perceptions of EU Roles in Global Climate Change Negotiations, in: EUI Working Papers RSCAS 6 (2015). 9 Karin Bäckstrand/Ole Elgström, The EU’s Role in Climate Change Negotiations: From Leader to “Leadiator”, in: Journal of European Public Policy 20 (2013), Heft 10, 1369–1386.
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Zu diesem Zweck muss die EU sehr rasch und gezielt den Aufwuchs der CO2-Emissionen in den sich entwickelnden Ländern durch Finanz- und Technologietransfer eindämmen helfen. Nur so können diese Staaten für eine dynamische Interpretation des CBDR & RC-Prinzips gewonnen werden und so gleichzeitig zu einer wirksamen Stabilisierung des globalen Gesamtemissionsbudgets befähigt werden. Kurz: Neben die langjährige Vorbildfunktion muss nun viel stärker die klimapolitische Ertüchtigung der sich entwickelnden Staaten treten, sodass die EU zum ‚Leading Facilitator‘ in der internationalen Klimapolitik werden kann. Der Beitrag ist in fünf Abschnitte aufgeteilt: Nach einer kurzen theoretischen Einführung in das Verantwortungskonzept und dessen Verwendung in der Europäischen Union diskutieren wir in Abschnitt II die internationale Verantwortung aus rollentheoretischer Perspektive. Abschnitt III skizziert sodann kurz die wichtigsten Veränderungen in den externen klimapolitischen Rollenerwartungen und Verhalten der signifikanten Anderen, insbesondere der Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump sowie der wichtigsten sich entwickelnden Staaten (Volksrepublik China und Indien). In Abschnitt IV analysieren wir die internen Rollenerwartungen in der EU sowie ihr klimapolitisches Rollenverhalten während und nach dem Pariser Klimaabkommen (2015). Abschnitt V fasst die empirischen Ergebnisse zusammen und zieht ein kurzes theoretisches Fazit. 2. Internationale Verantwortung und das Außenhandeln der Europäischen Union Das Konzept „internationale Verantwortung“ wird in der politikwissenschaftlichen Lehre der Internationalen Beziehungen bislang vor allem in zwei theoretischen Kontexten diskutiert.10 Aus der Perspektive des strukturellen Realismus (Kenneth Waltz) erwächst Verantwortung aus der strukturellen souveränen Gleichheit der wichtigsten Einheiten des internationalen Systems, d. h. der Staaten und deren ungleichen Fähigkeiten (Machtressourcen) zur Durchsetzung ihrer Ziele.11 Da Machtressourcen die relative Positionierung der Staaten gegenüber allen anderen Akteuren bestimmen, folgt daraus, dass den mächtigsten Staaten eine besondere Verantwortung im und für das Staatensystem zukommt. [I]n any realm populated by units that are functionally similar but of different capability […] those of greatest capability take on special responsibilities.12
10 Vgl. für die deutsche Debatte insbesondere die Beiträge in Christopher Daase et al. (Hrsg.), Politik und Verantwortung. Analysen zum Wandel politischer Entscheidungs- und Rechtfertigungspraktiken, Baden-Baden 2017, 244–435. 11 Unter der Bedingung fehlender Herrschaft in der internationalen Politik streben sie primär danach, ihr eigenes Überleben zu sichern. 12 Kenneth N. Waltz, Theory of International Politics, Reading 1979, 198.
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Während Verantwortung in der realistischen Theorietradition also aus materiellen Fähigkeiten hervorgeht, wird diese in sozialkonstruktivistischen Ansätzen den Akteuren auf der Grundlage bestimmbarer Werthaltungen zugeschrieben.13 Zunächst geschieht dies konstitutiv durch die gegenseitige Zuschreibung von Souveränität, d. h. die Anerkennung der Gleichheit der Staaten, und sodann durch die Zuschreibung von Autorität im Sinne von Vorrechten in der „Internationalen Staatengemeinschaft“ (Ungleichheit).14 In der sozialkonstruktivistischen Sichtweise entstehen unterschiedliche Formen von Verantwortung durch die Zuschreibung sozialer Macht in Form von Autorität und Vorrechten, die in wechselnden Sozialstrukturen des jeweiligen Staatensystems eingelassen sind.15 Internationale Verantwortung kann daher für unsere Zwecke wie folgt definiert werden: [International, S.H./M.V.] responsibilities are a differentiated set of obligations, the allocation of which is collectively agreed, and they provide a principle of social differentiation for managing collective problems in a world characterised by both formal equality and inequality of material capability.16
Gemessen an der Verwendung des Begriffs Verantwortung in zentralen sicherheitspolitischen Dokumenten der Europäischen Union – die EU Global Strategy von 2016 verzeichnet den Terminus Verantwortung oder verantwortliches Handeln mehr als 50 Mal – ist die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der weltpolitischen Verantwortung der EU hingegen beschränkt geblieben.17 Die Debatte über die ethischen Grundsätze des auswärtigen Handelns der EU ist gleichwohl primär über die Konzepte der EU als „normative power“ (Manners 2002; Whitman 2011), als „civilian power“ (Duchêne 1973; Orbie 2012) oder als „ethical power“ (Aggestam 2008; Meikle 2016) geführt worden.18 Als eigenständiger Forschungsstrang der EU-Außenpolitikforschung hat sie sich nicht etablieren können. 13 Die Zuschreibung von Akteursfähigkeit oder weitergehend Völkerrechtssubjektivität betrifft nicht nur Staaten, sondern zunehmend auch internationale Organisationen sowie Einzelpersonen oder Gruppen, vgl. bspw. Toni Erskine (Hrsg.), Can Institutions Have Responsibilities? Collective Moral Agency and International Relations, Basingstoke 2003. 14 Daniel Philpott, Revolutions in Sovereignty: How Ideas Shaped Modern International Relations, Princeton 2001, 11 f. 15 Robyn Eckersley/Mlada Bukovansky/Ian Clark, Special Responsibilities, New York 2012, 10. 16 Eckersley/Bukovansky/Clark, Special Responsibilities, 10; vgl. auch Alain Pellet, The Definition of Responsibility in International Law, in: James Crawford/Alain Pellet/Simon Olleson (Hrsg.), The Law of International Responsibility, Oxford 2010, 3–16. 17 Hartmut Mayer/Henri Vogt (Hrsg.), A Responsible Europe? Ethical Foundations of EU External Affairs, Basingstoke 2006; Hartmut Mayer, Is It Still Called ‘Chinese Whispers’? The EUʼs Rhetoric and Action as a Responsible Global Institution, in: International Affairs 84 (2008), Heft 1, 61–79. 18 François Duchêne, The European Community and the Uncertainties of Interdependence, in: Max Kohnstamm/ Wolfgang Hager (Hrsg.), A Nation Writ Large? Foreign-Policy Problems before the European Community, London 1973, 1–21; Ian Manners, Normative Power Europe: a Contradiction in Terms?, in: Journal of Com-
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Folgt man dem Konzept der EU als global verantwortlicher Institution von Mayer (2008), so lassen sich sechs Prinzipien identifizieren, welche ein verantwortliches Handeln der Union anleiten sollten: 1. Das Verursacherprinzip: Die Union hat die Pflicht, negative Konsequenzen des eigenen Handelns für sich und andere Akteure zu vermeiden bzw. zu lindern. 2. Das Nutznießerprinzip: Die Union hat die Verpflichtung, Schaden und Verluste für andere Akteure abzuwenden, wenn sie selbst von einer Situation profitiert hat. 3. Das Gemeinschaftsprinzip. Als Mitglied der Staatengemeinschaft fallen der Union Verpflichtungen zu, u. a. die Einhaltung des (Völker-)Rechts und der Regeln dieser Gemeinschaft. 4. Das Handlungskapazitätsprinzip: Wenn es eine legitime Verpflichtung in der Gemeinschaft gibt, ist Union aufgefordert diese zu erfüllen, wenn sie über entsprechende Kapazitäten verfügt. 5. Das legitime Erwartungsprinzip: Die Union hat die Verpflichtung zum Handeln, wenn andere Akteure entsprechende legitime Erwartungen hegen. 6. Das Konsensprinzip: Die Union ist zum Handeln verpflichtet, wenn sie sich zuvor freiwillig dazu bereit erklärt hat.19 Im Folgenden nutzen wir Mayers idealtypisches Konzept der „Europäischen Union als global verantwortlicher Institution“, indem wir die EU als Trägerin einer internationalen Rolle konzipieren (Abschnitt II). Das Konzept der internationalen Rolle wird eingeführt, weil es im Vergleich zu anderen Konzepten, bspw. „außenpolitische Identität“ oder „strategische Kultur“, die funktionale soziale Position der EU in einer sich wandelnden Staaten- und Verantwortungsgemeinschaft analysieren kann.20 Rollenerwartungen an die EU, und insbesondere deren Kompatibilität und Konfliktträchtigkeit, entstehen einerseits durch Erwartungen der Staatengemeinschaft, sogenannter „signifikanter (externer) Anderer“ (Alter-part). Andererseits hegen auch die EU-Mitgliedstaaten und die EU-Institutionen Erwartungen an die EU als international agierende Institution (Ego-part). mon Market Studies 40 (2002), Heft 2, 235–258; Lisbeth Aggestam, Ethical Power Europe?, in: International Affairs 84 (2008), Heft 1, 1–11; Richard Whitman (Hrsg.), Normative Power Europe. Empirical and Theoretical Perspectives, Basingstoke 2011; Jan Orbie, Civilian Power Europe. Review of the Original and Current Debates, in: Cooperation and Conflict 41 (2012), Heft 1, 123–128; Chris Meikle, Ethical Norm Promotion in European Union Foreign Policy: Responding to the Arab Uprisings in the Southern Neighbourhood, Ph.D. Dissertation Otago 2016. 19 Mayer, Is It Still Called ‘Chinese Whispers’?, 65–66. 20 In der Politik werden kollektive Entscheidungen regelmäßig auf Rollenträger, u. a. Repräsentanten, übertragen und individualisiert. Es folgt, dass die Rollenträger dann für diese Entscheidungen „verantwortlich gemacht“ werden können, d. h. zur Rechenschaft gezogen werden können; vgl. Christopher Daase, Verantwortung in der Politik und Politik der Verantwortung: Eine Einleitung zum Sonderheft, in: Christopher Daase et al. (Hrsg.), Politik und Verantwortung. Analysen zum Wandel politischer Entscheidungs- und Rechtfertigungspraktiken, Baden-Baden 2017, 3–11, 6.
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II. Rollentheorie und die Konstitution einer internationalen Verantwortungsgemeinschaft Internationale Ordnungen, so der Politikwissenschaftler Hedley Bull, repräsentieren „Muster von Aktivitäten, welche die elementaren oder primären Zwecke der Staatengemeinschaft aufrechterhalten“.21 Wie diese Ordnungen entstehen, ist in zwei kontroversen Debatten in der Lehre der Internationalen Beziehungen debattiert worden: Zunächst wurde in den 1950er Jahren in der „Debatte über die Analyseebenen“ (Level-of-Analysis-Debatte) darüber gestritten, ob und inwiefern Internationale Ordnungen durch Akteure (Staaten) oder Strukturen (z. B. Machtkonstellationen) geprägt werden;22 darauffolgend wurde in der Akteur-Strukturdebatte der 1990er Jahre heftig darüber diskutiert, ob und inwieweit zwischen Akteuren und Struktur eine kausale und/oder konstitutive Beziehung bestehe.23 In der Akteur-Struktur-Debatte der 1990er Jahre nimmt die Rollentheorie eine Mittlerposition ein. Sie argumentiert, dass Akteure und Strukturen selbst erst durch die Interaktion als distinkte dritte Ebene geschaffen werden.24 Konkret führte Alexander Wendt (1999) aus, dass die „Identitäten von Akteuren“ als auch die „sozialen Ordnungen der internationalen Beziehungen“, die er als unterschiedliche Kulturen fasste, sich gegenseitig bedingen (KoKonstitution).25 Bei Wendt nimmt das Konzept der „Rolle“ daher eine analytische Brückenfunktion ein. Denn durch die Rolle (als Interaktionsphänomen) kann sowohl die Identität eines Akteurs als auch die Struktur einer Ordnung, z. B. einer Institution wie der EU, stabilisiert oder verändert werden.26 Zu analytischen Zwecken differenzierte Wendt daher zwischen einer Rollenidentität, dem Selbstverständnis eines Akteurs über die Funktionen seiner sozialen Position in der internationalen Staatengemeinschaft, und der internationalen Rolle. Letztere bezeichnet eine kollektiv-konstituierte strukturelle Position, die der Interaktion vorausgeht und die der Rollenidentität erst ihre (externe) Bedeutung zuweist.27 Indem Akteure eine zugeschriebene Rollenerwartung annehmen, internalisieren sie die Erwartungen und Verhaltensmuster der Rolle in ihre eigene Rollenidentität.28 Rollen, als Eigenschaften der Sozialstruktur, bilden dann, je nach Ausrichtung und Zusammensetzung, unterschiedliche Kulturen inter21 Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, London 1977, 9. 22 U. A. David J. Singer, The Level of Analysis Problem in International Relations, in: World Politics 14 (2007), Heft 1, 77–92. 23 Audie Klotz/Cecelia Lynch/Jeffrey T. Checkel/Kevin C. Dunn, Moving beyond the Agent-Structure Debate, in: International Studies Review 8 (2006), Heft 2, 355–381. 24 Cameron Thies, The United States, Israel, and the Search for International Order: Socializing States, New York 2013, 21. 25 Alexander Wendt, Social Theory of International Politics, Cambridge 1999, 162. 26 Wendt, Social Theory, 42. 27 Ebd., 227. 28 Ebd., 251.
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nationaler Ordnung. Herrscht ein bestimmter Rollentypus vor (Feind, Rivale oder Freund), so ergibt sich nach Wendt durch entsprechende Interaktionen eine Hobbesʼsche, Lockeʼsche oder Kantʼsche Kultur.29 Konzeptionell werden Rollen daher als soziale Positionen gefasst, die durch Ego- und AlterErwartungen konstituiert werden und die Funktionen eines Akteurs in einer organisierten Gruppe bezeichnen.30 Rollen als Bündel von Erwartungen können daher auch intern oder extern umstritten sein, sodass Konflikte zwischen externen und internen Erwartungen (intra-Rollenkonflikte) oder zwischen zwei unterschiedlichen Rollen eines Akteurs entstehen (inter-Rollenkonflikte).31 Eine weitere wichtige Unterscheidung zielt auf die (vollständige) Aneignung einer extern erwarteten Rolle (role taking) und der Re-Interpretation dieser Rolle (role making) durch den Akteur selbst. Schließlich bezeichnet der Begriff ‚altercasting‘ die Zuweisung einer bestimmten Rolle an ein Gegenüber durch eine eigene Rolleneinnahme. Das altercasting kann sowohl auf eine Stabilisierung bestehender Institutionen oder deren Wandel abzielen.32 Unternimmt bspw. ein Akteur den Versuch, eine internationale Führungsrolle einzunehmen, dann erfolgt die Stabilisierung der Institution nur, wenn andere Akteure, zumeist Staaten, eine entsprechende Gefolgschaftsrolle einnehmen. Misslingt die Zuweisung der Gefolgschaftsrolle, z. B. indem die Führung keine glaubwürdigen Gruppenziele definiert oder die notwendigen Ressourcen zu deren Erreichung nicht bereitstellt, dann können internationale Institutionen und deren sozialisierende Wirkung für das Rollenverhalten der Gefolgschaft geschwächt werden.33 Internationale Führungsrollen können in diesem Zusammenhang als Sets von einzelnen Rollen verstanden werden, die aus Erwartungen der Mitglieder einer Gruppe gegenüber einem oder mehreren Gruppenmitgliedern sowie deren/dessen Eigenerwartungen darüber gespeist werden, inwiefern die Führungsrolle durch Eigenmittel und Gefolgschaft zur Durchsetzung bestehender Gruppenziele oder deren Weiterentwicklung beitragen soll.34 29 Ebd. 30 Sebastian Harnisch, Role Theory: Operationalization of Key Concepts, in: Sebastian Harnisch/Cornelia Frank/Hanns W. Maull (Hrsg.), Role Theory in International Relations. Contemporary Approaches and Analyses, New York 2011, 7–15, 8. 31 Cristian Cantir/Juliet Kaarbo, Domestic Role Contestation, Foreign Policy, and International Relations, New York 2016; Sebastian Harnisch, Conceptualizing in the Minefield: Role Theory and Foreign Policy Learning, in: Foreign Policy Analysis 8 (2012), Heft 1, 47–71. 32 Sebastian Harnisch, Role Theory: George Herbert Mead contribution to Role Theory and his reconstruction of International Politics, in: Sebastian Harnisch/Cornelia Frank/Hanns W. Maull (Hrsg.), Role Theory in International Relations. Contemporary Approaches and Analyses, New York 2011, 36–45, 42. 33 Aggestam, Lisbeth /Markus Johansson, The Leadership Paradox in EU Foreign Policy, in: Journal of Common Market Studies 55 (2017), Heft 6, 1–18, 4. 34 Sebastian Harnisch, Deutsche Führung in der internationalen Gesellschaft: ein rollentheoretischer Ansatz, in: Sebastian Harnisch/Joachim Schild (Hrsg.), Deutsche Außenpolitik und internationale Führung. Ressourcen, Praktiken und Politiken in einer veränderten Europäischen Union, Baden-Baden 2014, 17–55, 23.
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Funktional besteht ein idealtypisches Führungsrollenset aus einer Agendasetzungsfunktion, der Gruppenzielbestimmung in einer Situation der Unsicherheit, einer Repräsentationsfunktion, der Responsivität gegenüber den Bedürfnissen aller Gruppenmitglieder, und einer Mediationsfunktion, der Vermittlung zwischen rivalisierenden Zielansprüchen.35 Rollentheoretisch hängt die Form einer Verantwortungsordnung von der jeweiligen Art und Interaktionsstruktur der Führungs- und Gefolgschaftsrollen innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppe, hier der internationalen Staatengemeinschaft, ab. Entscheidend für eine erfolgreiche (Führungs-)Rolleneinnahme ist neben der Anzahl der Gruppenmitglieder und den Zielen der Gruppe die relative Bedeutung der (materiellen) Kapazitäten des oder der Führenden für die Gruppe insgesamt.36 Repräsentiert der Führende nur noch einen geringen Anteil der Ressourcen zur Erreichung des Gruppenziels und kann er durch Vermittlung zwischen den divergierenden Zielansprüchen der Gruppenmitglieder nicht eine legitime Gefolgschaftsrolleneinnahme erwirken, dann wird sich die Führungsstruktur wandeln müssen, um eine neue, legitimere Autoritäts- und Verantwortungsstruktur in der jeweiligen sozialen Ordnung zu etablieren. Dabei ist es im Falle der internationalen Staatengemeinschaft unerheblich, ob der führende Verantwortungsträger ein Staat oder eine internationale Organisation ist, denn bereits 1949 vertrat der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Auffassung, dass die Vereinten Nationen durch die Funktionsübertragung ihrer Mitglieder auch mit den jeweiligen Pflichten und Verantwortlichkeiten ausgestattet worden seien, und damit als Völkerrechtssubjekt auch zum Träger internationaler Verantwortung werden können.37
III. Verantwortung im Klimaregime: Rollenwandel der USA und Chinas In der internationalen Staatengemeinschaft spielen einige Staaten für die Einnahme und Zuweisung von Führungs- und Gefolgschaftsrollen eine bedeutsamere Rolle als andere, weil sie über ein größeres ökonomisches Potential verfügen und die Größe oder Aufwuchsgeschwindigkeit ihres CO2-Emissionsbudgets erheblich für die Erreichung der vereinbarten Gruppenziele sind. Hinzu kommt, dass Staaten, die in anderen Politikfeldern regelmäßig führen, die gewonnene Legitimität und das Vertrauen einsetzen können, um Führungsaufgaben zu übernehmen. Legt man diese materiellen und immateriellen Kriterien an, so können neben der Europäischen Union und den USA und Japan noch Brasilien, Russland, Indien, die Volksrepublik China und Indonesien als „signifikante Andere“ einer internationalen klimapolitischen Führungsrolle identifiziert werden.38 35 Ebd., 24 f. 36 Aggestam/Johansson, The Leadership Paradox, 6. 37 Pellet, The Definition of Responsibility, 6 f. 38 Charles F. Parker/Christer Karlsson/Mattias Hjerpe/Björn-Ola Linnér, Fragmented Climate Change Leadership. Making Sense of the Ambiguous COP-15 Outcome, in: Environmental Politics 21 (2012), Heft 2,
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In den internationalen Klimaverhandlungen werden bislang lediglich den USA, China, Indien und der Europäischen Union wichtige Führungsfunktionen von anderen Staaten als auch internationalen Beobachtern zugewiesen.39 Diese Untersuchungen zeigen, dass sich nicht nur deren Führungsfunktionen gewandelt haben – Parker et al. unterscheiden zwischen structural (fähigkeitsbasiertem), directional (zielorientiertem), idea-based (überzeugungsbasiertem) und instrumental (verhandlungsbasiertem) Leadership –, sondern dass auch die Zuschreibung über Zeit und zwischen den Staaten schwankt. Sie zeigen ferner, dass diese führenden Staaten nicht gleichermaßen erfolgreich waren, ihre eigenen Ziele in die jeweiligen Führungsrollen miteinzubringen.40 Tabelle 1: Anerkennung der Führungsrolle. COP 14 (2008)
COP 15 (2009)
COP 20 (2014)
COP 21 (2015)
EU als Leader
62 %
46 %
48 %
41 %
China als Leader
47 %
48 %
48 %
54 %
USA als Leader
27 %
53 %
52 %
59 %
Quelle: Eigene Darstellung; Daten aus Charles F. Parker/Christer Karlsson/Mattias Hjerpe, Assessing the European Union’s Global Climate Change Leadership: From Copenhagen to the Paris Agreement, in: Journal of European Integration 39 (2017), Heft 2, 239–252, 247.
Unter den klimapolitisch führenden Staaten nimmt die EU nicht nur wegen ihres Verbundcharakters eine Sonderstellung ein. Die EU hat auch besonders früh, explizit und konstant einen klimapolitischen Führungsanspruch formuliert.41 Dabei konnte sie ihren Führungsanspruch nicht immer durchsetzen, u. a., weil die Art der Führung und der Umfang der EUZiele keine oder keine hinreichende Gefolgschaft in der Staatengemeinschaft fanden. Die umfragebasierten Untersuchungen von Parker et al. zeigen zwar, dass die EU vor dem Kli268–286; Detlef Sprinz/Guri Bang/Lars Brückner/Yasuko Kameyama, Major Countries, in: Urs Luterbach/ Detlef Sprinz (Hrsg.), Global Climate Policy. Actors, Concepts, and Enduring Challenges, Cambridge 2018, 171–216, 172. 39 Vgl. insbesondere Charles F. Parker/Christer Karlsson/Mattias Hjerpe, Climate Change Leaders and Followers: Leadership Recognition and Selection in the UNFCCC Negotiations, in: International Relations 29 (2014), Heft 4, 434–454; Charles F. Parker/Christer Karlsson/Mattias Hjerpe, Assessing the European Union’s Global Climate Change Leadership: From Copenhagen to the Paris Agreement, in: Journal of European Integration 39 (2017), Heft 2, 239–252. 40 Stellvertretend Sebastian Oberthür/Lisanne Groen, Explaining Goal Achievement in International Negotiations: The EU and the Paris Agreement on Climate Change, in: Journal of European Public Policy 25 (2018), Heft 5, 708–727. 41 Rüdiger Wurzel/James Connelly (Hrsg.), The European Union in International Climate Change Politics: Still Taking the Lead?, Abingdon 2017, 4.
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magipfel in Kopenhagen (2009; COP 15) am meisten Zuspruch fand, dieser Zuspruch aber während der Verhandlungen einbrach und vor dem Pariser Gipfel (COP 21) im Jahr 2015 nur teilweise wiedererlangt werden konnte (siehe Tabelle 1).42 Der Einbruch der klimapolitischen Führungsrolle der EU kann nicht nur auf mangelnde Gefolgschaft, sondern muss auch auf die Rückkehr der USA in die internationale Klimapolitik unter Präsident B. Obama zurückgeführt werden. Unter George W. Bush hatten die USA zunächst das Kyoto-Protokoll abgelehnt und dann weitgehend auf eine aktive Führungsrolle verzichtet. Nach ihrer Amtseinführung im Januar 2009 erklärte die Obama-Administration alsbald explizit einen klimapolitischen Führungsanspruch und konnte ihre Ziele aufgrund geschickter Verhandlungsführung in Kopenhagen weitgehend erfolgreich durchsetzen: die symmetrische und verbindliche Verpflichtung für alle Emittenten (mit Ausnahme der am wenigsten entwickelten Staaten), gepaart mit einer Bereitschaft der USA, moderate Reduktionsobliegenheiten einzugehen (17 % CO2-Verringerung gegenüber 2005 im Jahr 2020).43 Zwar konnte die Administration weitere Partner, darunter insbesondere die chinesische Regierung, nicht davon überzeugen, gleichermaßen feste Reduktionsziele zu akzeptieren wie sie selbst, u. a., weil viele Regierungen Zweifel an der Durchsetzungsfähigkeit der Exekutive gegenüber dem republikanisch-dominierten Kongress hegten.44 Daher konnte in Kopenhagen nur eine lose Absichtserklärung vereinbart werden, die für den Führungsanspruch der EU gleichwohl einen wichtigen Wendepunkt markierte. Die Kopenhagener Erklärung band nicht nur erstmalig mit den USA, China und Indien die potentesten Emittenten ein, die bislang dem rechtlich verbindlicheren Kyoto-Protokoll-Regime ferngeblieben waren, sondern die Kopenhagener Beschlüsse wurden auch praktisch unter Ausschluss der EU und auf Betreiben der sich entwickelnden Ökonomien im Verbund mit den USA geschlossen.45 Auch im Vorfeld der Verhandlung von Paris gelang es zunächst der Obama-Administration, in bilateralen Gesprächen die neue chinesische Führung unter Präsident Xi Jinping für eine gemeinsame Erklärung zu gewinnen (14. September 2014), die erstmalig verbindliche Zusagen über CO2-Reduktion und den Beginn der Dekarbonisierung des Wirtschaftswachstums vorsah. In Paris selbst setzte sich die US-Delegation sodann für das bereits in Kopenhagen initiierte Vorschlags- und Kontrollverfahren auf der Grundlage nationaler Klimaschutzversprechen ein, aber ansonsten schloss sich die USA der von der EU organisierten Koalition an (vgl. Abschnitt 5).46
42 Parker/Karlsson/Hjerpe, Assessing the European Union’s Global Climate Change Leadership, 245. 43 Guri Bang/Miranda Schreurs, The United States. The Challenge of Global Climate Leadership in a Politically Divided State, in: Rüdiger Wurzel/James Connelly/Duncan Liefferink (Hrsg.), The European Union in International Climate Change Politics, London 2016, 239–253. 44 Parker/Karlsson/Hjerpe/Linnér, Fragmented Climate Change Leadership, 280. 45 Charles F. Parker/Christer Karlsson, Climate Change and the European Union’s Leadership Moment: An Inconvenient Truth?, in: Journal of Common Market Studies 48 (2010), Heft 4, 923–943. 46 Bang/Schreurs, The United States, 239–253.
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Mit dem Amtsantritt von D. Trump im Jahr 2017 haben die USA ihren klimapolitischen Führungsanspruch weitgehend aufgegeben. So kündigte der Präsident kurz nach Amtsantritt den fristgerechten Austritt der USA für den November 2020 an und gab zunächst zögerlich und dann immer umfänglicher die Einhaltung der bisherigen US-Klimaschutzziele auf.47 Setzt man die Aufgabe der bisherigen CO2-Reduktionsmaßnahmen unter Präsident Trump allerdings ins Verhältnis zu jenen Emissionseinsparungen, die durch die Einführung erneuerbarer Technologien, den Übergang in die Schiefergasnutzung sowie die von der US-Bundesregierung abweichende Haltung vieler Bundesstaaten, Städte, Gemeinden und Unternehmen wahrscheinlich eintreten werden, dann werden die USA trotzdem über die kommenden Jahre ihren Kohlendioxidausstoß absenken können.48 Vergleicht man nun die internationale Klimapolitik der Volksrepublik China mit jener der USA, so lässt sich feststellen, dass zunächst beide gemeinsam die Beteiligung an rechtlichverbindlichen Verpflichtungen im Rahmen des Kyoto-Regimes ablehnten und beide ihre passive Haltung mit der Vereinbarung von Kopenhagen aufgaben. Unterschiede zeigen sich vor allem in der Verantwortungszuweisung, denn die Volksrepublik spricht den industrialisierten Staaten aufgrund ihres historisch kumulierten CO2-Eintrags eine deutlich größere Verantwortung zu als den Entwicklungsländern. Sie unterstreicht dieses klimagerechtigkeitstheoretische Argument noch, indem sie auch – aufgrund der heutigen Ressourcenausstattung der Industrieländer – die Forderung nach einem zusätzlichen finanziellen und technologischen Transfer zugunsten der sich entwickelnden Gesellschaften erhebt.49 Spätestens seit Mitte der 2000er Jahre geriet diese klimagerechtigkeitstheoretische Position Chinas jedoch erheblich unter Druck, denn der rasante wirtschaftliche Aufstieg und die damit einhergehende Entwicklung CO2-intensiver Lebensstile einer wachsenden Mittelschicht ließen die Volksrepublik 2007 zum weltweit größten CO2-Emittenten werden. Dies führte 2013 dazu, dass jeder Chinese erstmalig mehr Kohlendioxid als der globale Durchschnittsbürger ausstieß und China damit auch historisch-kumulativ zum zweigrößten Emittenten nach den USA avancierte.50 Chinas klimapolitischer Führungsanspruch unter den sich entwickelnden Ökonomien änderte sich. Nach harscher Kritik an der Blockade rechtlich verbindlicher Reduktionszusagen in Kopenhagen veränderte sich die chinesische Haltung merklich in den 2010er Jahren. So kündigte die chinesische Delegation schon bei der COP 17 in Durban 2011 an, verbindliche Ziele für die Jahre nach 2020 akzeptieren zu wollen, und erklärte im Zuge der chinesischamerikanischen Klimakonsultation 2014 den chinesischen CO2-Gesamtausstoß schon ab 47 Frank Jotzo/Joanna Depledge/Harald Winkler, US and International Climate Policy under President Trump, in: Climate Policy 18 (2018), Heft 7, 813–817. 48 Christopher S. Galik/Joseph F. DeCarolis/Harrison Fell, Evaluating the US Mid-Century Strategy for Deep Decarbonization amidst Early Century Uncertainty, in: Climate Policy 17 (2018), Heft 8, 1046–1056. 49 Parker/Karlsson/Hjerpe/Linnér, Fragmented Climate Change Leadership, 278. 50 Sprinz/Bang/Brückner/Kameyama, Major Countries, 182; CO2 and Greenhouse Gas Emissions, Our World in Data, https://ourworldindata.org/co2-and-other-greenhouse-gas-emissions (abgerufen am 15.12.2019).
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2025 spürbar und nicht erst ab 2030 absenken zu wollen.51 Im Vorfeld der COP 15 sowie in Paris selbst zeigte die chinesische Delegation dann auch die Bereitschaft, gemeinsam im Verbund mit den anderen Hauptemittenten ein neues, auf freiwilligen Reduktionszusagen basierendes Reduktionsregime zu etablieren.52 Auch nach der Ankündigung des US-Austritts aus dem Pariser Übereinkommen hielt die chinesische Führung an ihren bisherigen Reduktionszusagen fest. Sie kündigte zusätzlich an, die Bemühungen zur Erreichung des Zwei-Grad-Ziels noch zu verstärken.53 Indien gehört, ebenso wie die Volksrepublik China, zu den rasch sich entwickelnden Ökonomien. Es weist aufgrund seiner hohen Bevölkerungszahl einen erheblichen Anteil an den globalen Gesamtemissionen aber auch an der Aufwuchsgeschwindigkeit auf.54 Im Falle Indiens geht dieser relativ gewichtige CO2-Eintrag allerdings immer noch mit vergleichbar geringen Pro-Kopf-Emissionen einher.55 Die indische Regierung hielt nach der Unterzeichnung der Klimarahmenkonvention (1992), vergleichbar mit der Führung in Peking, lange Zeit an einer postkolonialen klimapolitischen Rollenzuschreibung fest. Diese weist die Hauptreduktionslasten den Industriestaaten zu und fordert gleichzeitig substantielle Transferzahlungen zur Ertüchtigung der sich entwickelnden Länder ein.56 Diese traditionell passive klimapolitische Rolle änderte sich jedoch im Zuge der COP 15-Verhandlungen. Die indische Regierung akzeptierte nun erstmalig freiwillige Reduktionszusagen im Tausch für reziproke Versprechen anderer Industrie- und Entwicklungsländer, welche noch nicht im Kyoto-Prozess eingebunden waren. Mit Betz (2012) argumentieren wir, dass dieser Rollenwandel auf konvergierende externe Erwartungen – Indien als verantwortlicher internationaler Akteur – und interne Erwartungen – Reduktion von Energieimportabhängigkeit durch bessere Energieeffizienz und die Nutzung von erneuerbaren Energien – zurückgeführt werden kann.57 Im Vorfeld der COP 15 und COP 21-Verhand51 Xinlei Li, China: From a Marginalized Follower to an Emerging Leader in Climate Politics, in: Rüdiger Wurzel/James Connelly/Duncan Liefferink (Hrsg.), The European Union in International Climate Change Politics, London 2016, 254–269, 260. 52 Sebastian Oberthür/Lisanne Groen, Explaining Goal Achievement in International Negotiations: The EU and the Paris Agreement on Climate Change, in: Journal of European Public Policy 25 (2018), Heft 5, 715. 53 Isabel Hilton/Oliver Kerr, The Paris Agreement: China’s ‘New Normal’ Role in International Climate Negotiations, in: Climate Policy 17 (2017), Heft 1, 48–58; Climate Home News, 2. 7. 2019, https://www.climatechangenews.com/2019/07/02/china-pledges-strengthen-climate-plan-2020/ (abgerufen am 15.12.2019). 54 Christoph Böhringer, Two Decades of European Climate Policy: A Critical Appraisal, in: Review of Environmental Economics and Policy 8 (2014), Heft 1, 1–17. 55 Sprinz/Bang/Brückner/Kameyama, Major Countries, 190. 56 Navroz K. Dubash, The Politics of Climate Change in India: Narratives of Equity and Cobenefits, in: Wiley Interdisciplinary Reviews: Climate Change 4 (2013), Heft 3, 191–201; Michaelowa/Michaelowa, Equity and Development, 263–296. 57 Joachim Betz, Indiaʼs Turn in Climate Policy: Assessing the Interplay of Domestic and International Policy Change, in: GIGA Working Papers (2012), Heft 190.
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lungen engagierte sich die indische Delegation zudem auch stark im Rahmen der BASICKoalition für die stärkere Berücksichtigung freiwilliger, autonomieschonender Reduktionsmaßnahmen, etwa der Verringerung der Energieintensität des Wirtschaftswachstums durch den Ausbau der Solarenergie, um so eine Koalition zur Erreichung des Zwei-Grad-Ziels zu schmieden. Insbesondere in Paris präsentierte sich die indische Regierung mit ambitionierten Reduktionszielen, i. e. durch den raschen Ausbau der Solarwirtschaft, sodass Indien substantiell zum Gelingen des Gipfels beitragen konnte.58 Als Reaktion auf die US-amerikanische Rückzugsankündigung erklärte der indische Premierminister Modi ebenfalls, dass Indien seine gemachten Zusagen einhalten und weiter verschärfen werde, um das angestrebte Zwei-Grad-Ziel zu erreichen.59 Betrachtet man nun die Veränderungen in den drei klimapolitischen Führungsrollen der USA, China und Indiens im Vergleich, so zeichnet sich folgendes Bild ab: Zum einen wurden alle drei Staaten deutlich proaktiver in der Beteiligung und Verantwortungsübernahme vor und nach den Klimagipfeln in Kopenhagen (2009) und Paris (2015), indem sie sich gegen zentrale EU-Positionen aussprachen und für freiwillige, primär politisch-verbindliche Reduktionsmaßnahmen einsetzten. Zum anderen wird erkennbar, dass die Staaten vor allem die Vereinbarungen von Kopenhagen prägten, während wichtige Bestimmungen des Pariser Abkommens eher dem Ambitionsniveau der Europäischen Union entsprachen.60
IV. Verantwortung und Rolle der EU in der internationalen Klimapolitik In der wissenschaftlichen Debatte über die Agenda für Nachhaltige Entwicklung oder die Entwicklung eines regelgestützten internationalen Handelssystems wird immer häufiger auf die moralische Autorität der Europäischen Union und ihre Werte rekurriert.61 Dabei wird eingefordert, dass die EU aufgrund ihrer historischen Verantwortung gegenüber ehemaligen Kolonien und als eine der wohlhabendsten Regionen der Welt ihre moralische Verantwortung für die Bekämpfung der Armut in anderen Kontinenten tragen müsse.62 58 Joyeeta Gupta, The Paris Climate Change Agreement: China and India, in: Climate Law 6 (2016), Heft 1 und 2, 171–181; Kirsten Jörgensen, India: The Global Climate Power Torn between ‘Growth-first’ and ‘Green Growth’, in: Rüdiger Wurzel/James Connelly/Duncan Liefferink (Hrsg.), The European Union in International Climate Change Politics, London 2016, 270–284. 59 Lok Sabha Secretariat, Paris Climate Change Accord: Recent Developments, New Delhi 2017. 60 Oberthür/Groen, Explaining Goal Achievement, 716. 61 Andrew Moravcsik, Europe Is Still a Superpower. And Itʼs Going to Remain One for Decades to Come, in: Foreign Policy (2017); Die Europäische Union und die Welthandelsorganisation, http://www.europarl. europa.eu/factsheets/de/sheet/161/die-europaische-union-und-die-welthandelsorganisation (abgerufen am 15.12.2019). 62 Karen E. Smith, The ACP in the European Union’s Network of Regional Relationships: Still Unique or Just One in the Crowd?, in: Karin Arts/Anna K. Dickson, EU Development Cooperation: From Model to Symbol, Oxford 2013, 60–79.
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Auch in der Selbstzuschreibung der EU-Organe weisen hochrangige Vertreter der Union seit geraumer Zeit auf die weltpolitische Verantwortung ausdrücklich als eines der Leitprinzipien der EU hin. So spricht Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union davon, dass die EU ihre Werte und Interessen in ihren Beziehungen zu anderen Staaten vertritt und das Wohlergehen eigener und fremder Völker zu schützen vermag: Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, zu freiem und gerechtem Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.63
Die Klimapolitik der Union bildet keine Ausnahme. Seit Anfang der 1990er Jahre versteht sich die EU als Vorreiterin in der internationalen Klimapolitik.64 Diesem Angebot der Union steht zudem eine entsprechende Nachfrage gegenüber, denn viele sich entwickelnde Staaten erwarten von der EU, aufgrund ihrer historischen Verantwortung – als der drittgrößte Emittent von Treibhausgasen seit Beginn der Industrialisierung – und ihrer heutigen ökonomischen Kapazitäten, einen besonders substantiellen Beitrag zum internationalen Klimaschutz.65 So verwundert es nicht, dass die EU bereits 1996 das globale Ziel einer Emissionsminderung vorschlug, um den Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen im Vergleich zum vorindustriellen Niveau auf zwei Grad zu beschränken.66 Im Nachgang zum UN-Klimagipfel von Kyoto (1997) nahm die Union sodann eine hervorgehobene Rolle ein und verkündete ein gemeinsames Emissionsreduktionsziel von 8 % gegenüber dem Basisjahr 1990. Nachdem der Vorschlag einer gemeinsamen CO2-Besteuerung am Widerstand einzelner Mitgliedstaaten scheiterte, etablierte die Union ab 2005 indes das weltweit erste grenzüberschreitende Emissionshandelssystem (Emission Trading System, ETS).67
63 Vertrag über die Europäische Union (konsolidierte Fassung), https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ ALL/?uri=celex:12012M/TXT (abgerufen am 15.12.2019). 64 Sebastian Oberthür/Claire Roche Kelly, EU Leadership in International Climate Policy: Achievements and Challenges, in: The International Spectator 45 (2008), Heft 3, 35–50; Rüdiger Wurzel/James Connelly (Hrsg.), The European Union in International Climate Change Politics: Still Taking the Lead? Abingdon 2017; Tom Delreux/Frauke Ohler, Climate Policy in European Union Politics, in: Finn Laursen (Hrsg.), The Oxford Encyclopedia of European Union Politics, Oxford 2019. 65 Oliver Geden/Felix Schenuit, Klimaneutralität als Langfrist-Strategie. Die Ausgestaltung des EU-Nullemissionsziels und die Folgen für Deutschland, in: SWP-Aktuell 38 (2019). 66 Europäische Gemeinschaft, Climate Change – Council Conclusions 8518/96 (Presse 188-G), https://europa. eu/rapid/press-release_PRES-96-188_de.htm (abgerufen am 15.12.2019). 67 Emissionshandelssystem (EU-EHS), https://ec.europa.eu/clima/policies/ets_de (abgerufen am 15.12.2019).
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Im Vorfeld der Kopenhagener Verhandlungen strebte die EU erneut eine führende Rolle an, indem sie 2007 das Klima- und Energiepaket 2020 verabschiedete. Das Paket sah vor, dass verbindliche Rechtsvorschriften eine Senkung der Treibhausgasemissionen um 20 % (gegenüber dem Stand von 1990), einen Anteil von 20 % des Energieverbrauchs in der EU aus erneuerbaren Quellen und eine Verbesserung der Energieeffizienz um 20 % festschreiben würden.68 Während die EU versuchte, durch ein kurzfristiges Klimaschutzprogramm für Entwicklungsländer eine Koalition für ein ambitioniertes und rechtlich-verbindliches Reduktionsabkommen zu schmieden, bildete sich im Rahmen der BASIC-Koalition um Brasilien, Indien und China im Verbund mit den USA eine Mehrheit heraus, die eine auf freiwilligen Zusagen beruhende politische Vereinbarung bevorzugten. Die Strategie der Union, Gefolgschaft durch eine „Führung durch Vorbild“ zu rekrutieren, dürfte auch deshalb weitgehend gescheitert sein, weil die EU die zuvor in Kyoto versprochenen Reduktionsziele nur teilweise erreichen konnte.69 Nach dieser enttäuschenden Erfahrung bemühte sich die EU verstärkt um den Aufbau einer „Koalition der Gleichgesinnten“, insbesondere mit fortschrittlichen Entwicklungsländern.70 Zunächst wurde 2010 der sogenannte „Cartagena Dialog“ gegründet, in dem sich „klima-progressive“ Industrie- und Entwicklungsländer inklusive der EU zusammenfanden, um das gemeinsame Ziel eines rechtlich verpflichtenden Abkommens unter dem Dach der UNFCCC zu verfolgen.71 Dieses informelle Forum wurde 2015 wiederbelebt und führte letztendlich bei der Pariser Konferenz zur Schaffung einer „Koalition der hohen Ambitionen“ zwischen der EU und vielen kleineren Entwicklungsländern, der sich bald auch Staaten wie die USA und Brasilien angeschlossen haben. Dieser Koalition gelang es, die Verhandlungskonstellation auf dem Klimagipfel zu ändern und für einen ehrgeizigeren Klimavertrag einzutreten.72 Die neue Rolle der EU in Paris wird bislang als „Leadiator“ bezeichnet. Dieses Rollenkompositum verbindet die Rolle eines „Leaders“ und eines „Mediators“. Sie soll zudem eine Schwerpunktverlagerung zwischen einzelnen Führungsfunktionen signalisieren.73 Diese vermittelnde Führungsrolle machte die Union auch deutlich erfolgreicher, denn das Pariser 68 Klima- und Energiepaket 2020, https://ec.europa.eu/clima/policies/strategies/2020_de (abgerufen am 15.12.2019). 69 Parker/Karlsson, Climate Change and the European Union’s Leadership Moment, 923–943; Parker/Karlsson/ Hjerpe/Linnér, Fragmented Climate Change Leadership, 277 f. 70 Robert Falkner/Hannes Stephan/John Vogler, International Climate Policy after Copenhagen: Toward a “Building Blocks” Approach, in: Global Policy 1 (2010), Heft 3, 252–262. 71 Oberthür/Groen, Explaining Goal Achievement, 720. 72 Dieser Koalition stand die Gruppe der „gleichgesinnten Entwicklungsländer“ (Like Minded Group of Developing Countries) gegenüber, der Staaten wie China, Indien und Saudi-Arabien angehören. 73 Hickmann et al. (2010) bezeichnen das Verhandlungsgeschick der EU als die „unternehmerische Form“ derer Führungsrolle; Thomas Hickmann/Julka Jantz/Markus Lederer, Die richtungweisende Führungsrolle der Europäischen Union in der internationalen Klimapolitik, in: WeltTrends Papiere 15 (2010); siehe auch Bäckstrand/ Elgström, The EU’s Role in Climate Change Negotiations, 1369–1386.
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Abkommen von 2015 weist Paris deutlich über das (niedrigere) Ambitionsniveau der USA, Chinas und Indiens als potentieller Führungsstaaten hinaus: Die Vereinbarung statuiert für alle Staaten gleiche rechtliche Verbindlichkeiten und schreibt faire, ambitionierte und quantifizierbare Zusagen fest. Sie etabliert einen Überprüfungsmechanismus, der eine regelmäßige Anhebung des Anspruchsniveaus (nach jeweils 5 Jahren) festlegt und zusätzlich auch die Forderung beinhaltet, das Zwei-Grad-Ziel zu unterschreiten.74 Neben einer sehr geschickten Verhandlungsführung der französischen Gastgeber auf der Konferenz selbst kann vor allem die Initiierung einer breiten Koalition unter Einschluss vieler Entwicklungsländer, gepaart mit einer sehr ambitionierten Selbstverpflichtung (40 % CO2-Reduktion im Jahr 2030 gegenüber dem Basisjahr 1990), für den Erfolg verantwortlich gemacht werden.75 Dass die Union ihre ehrgeizigeren Ziele, insbesondere bei der rechtlichen Verpflichtung und Überprüfbarkeit, im Vorfeld der Verhandlungen erkennbar beschränkte und damit denen Position der USA, Chinas und Indiens annäherte, dürfte sich ebenfalls positiv ausgewirkt haben.76 Auch nach der Ankündigung der US-Administration unter Präsident Trump, die Pariser Vereinbarung im November 2020 zu verlassen, bekennt sich die Union zu ihren Verpflichtungen aus dem Pariser Übereinkommen. Es ist für die Union aber deutlich schwieriger geworden, Verbündete im globalen Klimakampf zu finden.77 So hat sich Brasilien, das bis zum Amtsantritt vom jetzigen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro ein wichtiger Unterstützer des Pariser Klimaabkommens war, der Gruppe der Blockierer um die US-Administration von D. Trump angeschlossen und konkret die Gastgeberschaft der COP 25 im Winter 2019 verweigert. Die EU reagierte auf diese neue Situation, indem sie als ‚Brückenbauer‘ gegenüber am wenigsten entwickelten Ländern und kleinen Inselstaaten auftrat. Sie konzentrierte sich dabei vor allem auf finanzielle Unterstützung und den Transfer von klimafreundlichen und nachhaltigen Technologien.78 Mit der Zusage von fast der Hälfte aller Ressourcen des in74 Oberthür/Groen, Explaining Goal Achievement, 714. 75 Stefan C. Aykut, Musterschüler? Frankreich, Deutschland und Europa in den Verhandlungen über das Paris-Abkommen zum Klimaschutz, in: DGAP Analyse 5 (2016); Wolfgang Obergassel/Christof Arens/Lukas Hermwille/Florian Mersmann/Hermann Ott/Hanna Wang-Helmreich/Nicolas Kreibich, Phoenix from the Ashes – An Analysis of the Paris Agreement to the United Nations Framework Convention on Climate Change, Wuppertal Institute for Climate, Environment and Energy 2016; Parker/Karlsson/Hjerpe, Assessing the European Union’s Global Climate Change Leadership, 239–252. 76 Oberthür/Groen, Explaining Goal Achievement, 720. 77 Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, erklärte daraufhin, dass die EU ihre Führungsrolle im Klimaschutz in enger Zusammenarbeit mit anderen Partnern, wie China und der Afrikanischen Union, intensivieren werde (Speech by President Juncker at the European Parliament on President Trumpʼs Decision to Withdraw the U.S. from the COP 21 Climate Agreement http://europa.eu/rapid/press-release_ SPEECH-17-1647_en.htm (abgerufen 27.12.2019)). 78 Oberthür/Groen, Explaining Goal Achievement, 720 f.; Susanne Dröge/Vijeta Rattani, Nach dem Klimagipfel in Kattowitz. Wichtige Elemente der EU-Klimaagenda 2019, in: SWP-Aktuell 15 (2019).
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ternationalen Klimaschutzfonds (des Green Climate Fund) stellen die EU-Mitgliedstaaten zudem den größten Beitrag zur Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen in den ärmsten und vom Klimawandel am stärksten bedrohten Ländern bereit. Zusätzlich hat die Union die globale Allianz gegen den Klimawandel (GCCA) ins Leben gerufen, mit der sie den am wenigsten entwickelten Ländern und kleinen Inselstaaten technische und finanzielle Unterstützung zur Verfügung stellen möchte.79 Auch der Warschauer Mechanismus, der 2013 zum Umgang mit klimabedingten Verlusten und Schäden gegründet wurde, sieht politische und finanzielle Unterstützung besonders betroffener Länder und ihrer Emissionssenkungs- und Anpassungsmaßnahmen an die Auswirkungen des Klimawandels vor. Während die Europäer jegliche Kompensation oder Haftung für Folgen des Klimawandels ablehnen, leisten sie auf diesem Wege dennoch einen erheblichen Beitrag zur internationalen Klimaschutzfinanzierung. Mit der Schwerpunktverlagerung ihrer Klimaschutzaktivitäten in Regionen, wo diese potentiell größere Reduktionswirkungen als in der EU für das globale Gesamtbudget erzielen können, reagiert die EU zumindest indirekt auch auf den wachsenden Widerstand einiger Mitgliedstaaten aus Mittelosteuropa. Diese fürchten, dass weitere eigene Reduktionsanstrengungen wegen der bestehenden Abhängigkeit von Kohlekraftwerken eine sinkende Wettbewerbsfähigkeit und steigende Arbeitslosigkeit nach sich ziehen könnten. Konkret blockierte Polen im Jahr 2011 die EU-Kommission, als diese klima- und energiepolitische ‚Roadmaps‘ für das Jahr 2050 vorlegte. Auch, nachdem sich alle EU-Staaten in Paris selbst verpflichtet haben, in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts Klimaneutralität zu erreichen, bleiben grundlegende klimapolitische Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten bestehen. So haben sich jüngst beim Treffen des Europäischen Rats im Juni 2019 die meisten Staats- und Regierungschefs für eine klimaneutrale EU bis 2050 ausgesprochen.80 Doch die drei Visegrád-Staaten Tschechien, Polen und Ungarn haben die benötigte Einstimmigkeit verhindert und damit die Schlussfolgerungen aufgeweicht. In einer Fußnote der angenommenen Schlussfolgerungen heißt es, dass für eine „große Mehrheit“ der Mitgliedstaaten (im Unterschied zur EU als Ganzes) das vorgeschlagene Ziel der „Treibhausgas-Neutralität“ bis 2050 erreicht werden muss.81
79 Internationale Klimaschutzfinanzierung, https://ec.europa.eu/clima/policies/international/finance_de (abgerufen am 15.12.2019). 80 Im November 2018 hat die Europäische Kommission eine Strategie für ein bis 2050 zu realisierendes wohlhabendes, modernes, wettbewerbsfähiges und klimaneutrales Europa mit dem Titel „A Clean Planet for all“ (Ein sauberer Planet für alle) veröffentlicht (Europäische Kommission, Ein sauberer Planet für alle. Eine Europäische strategische, langfristige Vision für eine wohlhabende, moderne, wettbewerbsfähige und klima neutrale Wirtschaft https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52018DC0773&from =EN (abgerufen 27.12.2019). 81 Tagung des Europäischen Rates am 20. Juni 2019 – Schlussfolgerungen, https://www.consilium.europa.eu/ media/39942/20-21-euco-final-conclusions-de.pdf (abgerufen am 15.12.2019).
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CO2-Emissionen in kt 14.000.000 12.000.000 10.000.000 8.000.000 6.000.000 4.000.000 2.000.000 -
1990
EU 28
2000
USA
2005
2010
2015
China
Indien
China & Indien
2017
Grafik 1: CO2-Emissionen der potentiellen Führungsstaaten im Vergleich. Quelle: Eigene Darstellung; Daten aus Marilena Muntean/Diego Guizzardi/Edwin Schaaf/Monica Crippa/Efisio Solazzo/Jos Olivier/Elisabetta Vignati, Fossil CO2 emissions of all world countries – 2018 Report, Luxembourg 2018.
Während einige Regierungen, wie Schweden oder Frankreich, nationale Nullemissionsziele für spätestens 2050 verabschiedet haben und eine Verschärfung der klimapolitischen Ziele fordern, verlangen die mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten verstärkte Zugeständnisse der anderen Mitgliedstaaten: Im Tausch für die Erfüllung ihrer nationalen Emissionsminderungsziele fordern sie weiterreichende Zusagen für die Versorgungssicherheit bei fossilen Energieträgern und politische Zugeständnisse.82 Zeigten sich die anderen Mitgliedstaaten der EU allerdings erpressbar, so würde dies potentiell die Glaubwürdigkeit der bereits zugesagten EU-Reduktionsverpflichtungen unterhöhlen und möglicherweise Nachahmungseffekte in anderen Staaten hervorrufen.
82 Karolina Jankowska, Poland’s Clash over Energy and Climate Policy: Green Economy or Grey Status Quo?, in: Rüdiger Wurzel/James Connelly/Duncan Liefferink (Hrsg.), The European Union in International Climate Change Politics, London 2016, 163–178; Severin Fischer/Oliver Geden, Die europäische Energie- und Klimapolitik, in: Peter Becker/Barbara Lippert (Hrsg.), Handbuch Europäische Union, Wiesbaden 2018, 1–19
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V. Conclusio Im vorliegenden Kapitel haben wir die Verantwortungsübernahme der Europäischen Union in der internationalen Klimapolitik als Einnahme unterschiedlicher Führungsrollen seit der Unterzeichnung der UN-Klimarahmenkonvention von 1992 konzipiert. Unsere Absicht war dabei eine doppelte: Zum einen wollten wir internationale Verantwortung so konzeptualisieren, dass sie als hervorgehobene soziale Position mit besonderen Rechten und Obliegenheiten leicht verstehbar, aber auch wissenschaftlich anwendbar wird; zum anderen sollte die Konzeptualisierung von Verantwortung als Führungsrolle zeigen, dass (erfolgreiche) Verantwortungsübernahme als ein Prozess der Selbst- und Fremdzuschreibung verstanden werden kann, der historisch kontingent, d. h. wandelbar ist. Unsere empirische Untersuchung zeigte, dass die EU die drei Führungsrollenkomponenten – Agenda-Setzung, Vermittlung und Repräsentation – über Zeit unterschiedlich erfolgreich einsetzen konnte, indem sie sich maßgeblich für das Zustandekommen des KyotoProtokolls verantwortlich zeichnete, die Kopenhagener Erklärung quasi als Außenseiter zur Kenntnis nehmen musste und substantiell durch Agenda-Setzung und Vermittlung zur Bildung einer Koalition der hohen Ambitionen in Paris beitrug. Die Analyse zeigte, dass die Strategie ‚Führung durch Vorbild‘ in Kopenhagen scheiterte, weil die Union zuvor gemachte Reduktionszusagen aufgrund innerer Konflikte nicht einhalten konnte und den USA als auch Indien und China von der Staatengemeinschaft ebenso Führungsqualitäten zugesprochen wurden. Dieser Umstand verweist darauf, dass Führungsrollen und die damit einhergehenden Verantwortungszuschreibungen relationale, d. h. aufeinander bezogene Konzepte sind. Konkret bedeutet dies für die internationale Klimapolitik zweierlei: Je mehr die Zusammensetzung und das Wachstum des globalen Emissionsbudgets von Staaten außerhalb der EU bestimmt werden, desto weniger kann die EU durch eigenes vorbildliches Verhalten materiell zur Begrenzung des Klimawandels beitragen. Diese Verlagerung zeigt sich bereits deutlich in der Verantwortungszuschreibung gegenüber den sich entwickelnden Ökonomien mit starkem Emissionswachstum Indien und China. Zum anderen kann die EU gleichwohl erfolgreich mehr internationale Verantwortung übernehmen, indem sie durch einen verstärkten Finanz- und Technologietransfer sich entwickelnde Staaten ertüchtigt, CO2-Ausstoß zu vermeiden und trotzdem nachhaltige Wirtschaftsentwicklung aufrechtzuerhalten. Konzeptionell bringt dieser Umstand zwei Herausforderungen mit sich: Die rollentheoretische Konzeptualisierung muss die Verschiebung der Verantwortungsübernahme – für wen wird Verantwortung übernommen und für welche (historische) Emissionsperiode – genauso abbilden können wie die Verschiebung der Eigen- und Fremderwartungen an die entsprechende Führung. Um die Veränderung der Art der EU-Verantwortungsübernahme während und nach der Pariser Vereinbarung zu erfassen, schlagen wir vor, die EU-Rolle als „Leading Facilitator“ zu bezeichnen. Sie beschreibt, dass die EU nunmehr den Schwerpunkt ihrer Führungsfunktion auf die Ertüchtigung anderer Staaten legt, weil ihre historische
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Emissionsverantwortung relativ geringer geworden ist, die Bedeutung ihrer gegenwärtigen Verantwortung, die Emissionen der sich entwickelnden Staaten zu begrenzen, aber relativ gewachsen ist. Die zweite konzeptionelle Herausforderung besteht darin, wie Elgström betont,83 die Glaubwürdigkeit der angestrebten EU-Führungsrolle analytisch zu fassen. Für unsere Zwecke kann Glaubwürdigkeit als die Gewissheit über den Zusammenhang zwischen angekündigtem und tatsächlichem Rollenverhalten verstanden werden, der auf der Zuschreibung von Handlungsmotiven beruht. Insofern erlangt die EU-Führungsrolle auf mindestens zwei Wegen Glaubwürdigkeit: Zum einen durch die Ankündigung von Reduktionszielen, die den Gruppenzielen entsprechen, und konsistentes Rollenverhalten; zum anderen durch die plausible Zuschreibung von Handlungsmotiven, welche das EU-Führungsverhalten erklären, bspw. die Verminderung der Klimarisiken für die EU-Mitgliedstaaten oder internationale Reputationsgewinne für die EU als international handlungsfähiger Akteur.84 Verlöre die EU-Führungsrolle aufgrund interner Konflikte über die Einhaltung ihrer Klimaziele an Glaubwürdigkeit in der Staatengemeinschaft,85 so könnte sich dies negativ auf ihre Fähigkeit zur Rekrutierung von Gefolgschaft auswirken. Da derzeit aber weder die USA unter Präsident Trump, noch Indien unter Premierminister Modi, noch Brasilien unter Präsident Bolsanaro klimapolitische Führung glaubwürdig reklamieren können, werden sich die entsprechenden Erwartungen einstweilen auf die Europäische Union richten.86 Die Union sollte diese Erwartungen an- und aufnehmen und sich nachdrücklich für die Umsetzung des Pariser Abkommens durch stetig wachsende Angebote zur Verantwortungsübernahme einsetzen.
83 Ole Elgström, Legitimacy, Credibility and Coherence – Perceptions of EU Roles in Global Climate Change Negotiations, in: EUI Working Papers RSCAS 6 (2015). 84 Oberthür/Groen, Explaining Goal Achievement, 718. 85 Der fehlende Konsens unter den Mitgliedstaaten mit Blick auf die bis 2050 zu realisierende Klimaneutralität war ein Rückschlag für die Rolle der EU als Vorreiterin in der internationalen Klimapolitik. Miguel Arias Cañete, EU-Kommissar für Klimaschutz und Energie, erklärte, dass ohne eine weitere Ambitionssteigerung die von der EU im Rahmen des Pariser Abkommens festgelegten langfristigen Ziele nicht zu erreichen sind (Long-term Strategy: Press Conference by Commissioner Miguel Arias Cañete on 28. November 2018, https://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-18-6595_en.htm (abgerufen am 15.12.2019)). Im Vergleich dazu setzten sich Staaten wie Costa Rica ambitioniertere Ziele, die unter anderem beinhalten, dass ihre Wirtschaften in naher Zukunft treibhausgasneutral werden. 86 Inwiefern die chinesische Führung unter Präsident Xi eine klimapolitische Führungsrolle beanspruchen kann, erscheint derzeit ungewiss, denn mit der Seidenstraßen-Initiative für transregionale Infrastrukturprojekte gehen erhebliche umwelt- und klimapolitische Risiken einher, die entsprechende Rollenerwartungen an eine chinesische Führung dämpfen könnten.
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Europäische Gemeinschaft vermitteln Wegweisungen durch ein weites Feld I. Wenn in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland oder anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nationalistische Parteien vermehrt Zulauf haben oder eine Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU stimmt, dessen formaler Vollzug sich anschließend als nahezu unmöglich erweist, dann wird deutlich, dass die Politik der Europäischen Gemeinschaft und die Lebensrealität vieler ihrer Einwohnerinnen und Einwohner auseinanderklaffen. Es drängt sich die Folgerung auf, Europa habe ein Vermittlungsproblem. Mehr Wissen um transnationale Zusammenhänge, mehr Aufklärung über interkulturelles Zusammenleben, mehr Verständnis für nationale Besonderheiten und mehr Einsicht in politische Notwendigkeiten, könnte den Zusammenhalt stärken, soziale Konflikte befrieden und die Ausprägung einer europäischen Identität fördern, so könnte man annehmen. Solche Vorstellungen überschätzen die Wirkmächtigkeit von Pädagogik und unterschätzen die Komplexität der europäischen Gemeinschaft, in der der Zusammenhang zwischen den Handlungsräumen der Akteure der Europäischen Union und den Erfahrungsräumen der Menschen, die in Europa leben, bisweilen schwer nachvollziehbar ist. Der normative Entwurf von Europa als Verantwortungsgemeinschaft lässt sich nicht konstruieren, ohne die kulturellen Differenzen innerhalb Europas mit zu bedenken. Die Vorstellung von Verantwortung kommt in den verschiedenen Ländern Europas historisch zu unterschiedlichen Zeitpunkten zur Sprache. Das historische Wörterbuch der Philosophie gibt an, das Substantiv ‚Verantwortung‘ ließe sich im Deutschen seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachweisen. Im Englischen sei eine substantivische Verwendung ab 1766 zu verzeichnen, fände aber nicht vor 1775 allgemeine Verbreitung. Das französische Äquivalent ‚responsabilité‘ würde unter semantischem Einfluss des Englischen erstmals 1783 verwendet, um dann in rascher Verbreitung in die politische Terminologie des revolutionären Frankreichs einzugehen. In der italienischen Sprache sei ein Gebrauch nicht vor dem Ausgang des 19. Jahrhunderts belegt1. Dieser kursorische Blick in die Begriffsgeschichte illustriert zweierlei: Verantwortung als moralisches Konzept entsteht in der Moderne, wenn Sorge und Verpflichtung für die Mitwelt zur allgemeinen gesellschaftlichen Aufgabe und 1 Jann Holl, Verantwortung, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Darmstadt 2001, 566 ff.
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damit zum Gegenstand politischen Handelns werden; und diese Entwicklung vollzieht sich innerhalb Europas zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Das soziale Phänomen, das mit der Bezeichnung Verantwortung begriffen wird, ist historisch und kulturell bedingt und entsprechend differenziert zu betrachten. Es wäre demnach leichtfertig, davon auszugehen, dass dem Konstrukt von Europa als Verantwortungsgemeinschaft überall dieselbe Bedeutung zugemessen wird. Und es wäre bestenfalls idealistisch, diese Idee zum Vermittlungsgegenstand zu erklären. Vermittlungsbedürftig sind vielmehr die kulturellen Differenzen innerhalb Europas in ihrem soziohistorischen Kontext, vermittlungsbedürftig sind zudem die Instrumente, Verfahren und Methoden des Bildungsprozesses der Europäischen Gemeinschaft, der alles andere als abgeschlossen ist. Auch wenn Bildungsprozesse in Europa, Bildungserfahrungen von Europäerinnen und Europäern, auf vielfältige Weise von Regelungen und Vereinbarungen der Europäischen Gemeinschaft und ihrer ausführenden Organe betroffen sind, ist Europa in diesem Kontext nicht mit der EU gleichzusetzen, denn es reicht historisch, geografisch, kulturell und politisch darüber hinaus. Begreift man Europäisierung und die Europäische Gemeinschaft als sozialen Konstruktionsprozess und Verantwortung als Konzept, dem notwendig soziale Differenzierungen vorausgehen, dann kann eine wie immer verortete europäische Bildung nur darauf gerichtet sein, über die Bedingungen und den Verlauf dieses Prozesses in gesellschaftlicher Hinsicht aufzuklären, Interventionsmöglichkeiten auszuloten und zur Mitgestaltung und Teilhabe zu befähigen. Folglich ist Misstrauen geboten, wenn Europa als normatives Postulat gesetzt wird, das soziale Ungleichheiten und kulturelle Differenzen relativiert oder verschweigt. Auch dem Diskurs vom Lebenslangen Lernen in der Wissensgesellschaft, der Teilhabe an Erwerbstätigkeit und am Arbeitsmarkt als einziges bildungspolitisches Ziel setzt, ist kritisch zu begegnen. Dabei ist es hilfreich, begrifflich zwischen Lernen und Bildung zu differenzieren, die in den Übersetzungen des EU-Diskurses allzu oft synonymisiert werden. Vermittlung meint dann weder die einseitige Weitergabe oder Bereitstellung von Faktenwissen und Informationszugängen, noch das Aushandeln von Kompromissen oder die Moderation von Konfliktkonstellationen, sondern die Eröffnung eines Reflexionsraums, in dem soziale und kulturelle Differenzen und Gemeinsamkeiten als soziale und politische Konstrukte und damit als Ausdrucksformen sozialen Wandels verständlich werden.
II. Bildung in Europa und Bildung von Europa – und damit auch die Prozesse ihrer Vermittlung, die hier in Rede stehen – entfaltet sich in drei Dimensionen: Sie bezieht sich zum einen auf die subjektiven, individuellen Bildungsprozesse, die sich im geografischen Raum von Europa, auf europäischem Boden, vollziehen, wenn die Menschen sich – innerhalb und außerhalb von Schulräumen – in einer vernetzten Welt, einer globalisierten Ökonomie einrich-
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ten und orientieren, mit transnationalen Karrieren, Mehrsprachigkeit und individualisierten Chancen und Risiken. Sie bezieht sich zum zweiten auf die Vielfalt der Bildungssysteme mit ihren historisch gewachsenen Bildungskulturen in den europäischen Ländern, die im Spannungsfeld zwischen nationalen oder regionalen Besonderheiten und transnationaler, europäischer Verallgemeinerung auf Transparenz und Übertragbarkeit von Qualifikationen zielen. Und sie beinhaltet zum dritten jene Veränderungsprozesse, die als originär europäische gelten können. Hierzu zählt die Ausrichtung nationaler Bildungssysteme an Benchmarks, die auf europäischer Ebene vereinbart wurden, oder die Vereinheitlichung des Europäischen Hochschulraums. Hierzu zählen aber auch transnationale Aktivitäten europäischer Organisationen, die jenseits nationaler Bildungskulturen ganz eigene multikulturell geprägte Bildungskontexte entstehen lassen, gleich ob es sich dabei um eine Ferienfreizeit von Jugendlichen, ein Forschungsprojekt, die Interessenvertretung einer europäischen Dachorganisation oder ein Fachkräfteaustauschprogramm handelt. Freilich stellt sich die Frage, wie und wo, auf welche Weise die Vermittlung von Europa als Verantwortungsgemeinschaft stattfinden kann. Hier sind wiederum zwei Handlungsebenen zu unterscheiden: Eine zwischen den Mitgliedstaaten abgestimmte, gemeinsame Bildungspolitik gestaltet die Rahmenbedingungen des europäischen Bildungsraums und damit weitgehend auch die Bedingungen für die Gestaltung von nationalen Bildungssystemen, während sich gleichzeitig informelle Bildungsprozesse als Erfahrungslernen im sozialen Alltag europäisierter Lebenswelten vollziehen – durchaus auch mit nichtintendierten Folgen. Europa ist zu einem festen Bezugsrahmen nationaler Bildungspolitiken geworden. Der Vertrag von Maastricht 1992 gilt als erster Meilenstein für eine gemeinsam abgestimmte Bildungspolitik innerhalb der EU, die in der Erklärung von Lissabon 2000 mündete, die das ehrgeizige Ziel verkündete, Europa solle bis zum Jahr 2010 zur wettbewerbsfähigsten Wissensgesellschaft werden (was schon wenige Jahre später revidiert werden musste, weil die vereinbarten Benchmarks in diesem Zeitraum nicht zu erreichen waren). In Anerkennung der Vielfalt der Bildungssysteme und unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips setzte damit eine gemeinsame Bildungspolitik ein, die auf Transparenz und Übertragbarkeit von Qualifikationen und Abschlüssen gerichtet war. Zu den zentralen Gestaltungselementen dieses Ausbaus des europäischen Bildungsraums gehörten u. a. die Modularisierung von Ausbildungsgängen, die Aufwertung und Anerkennung informellen Lernens und die Individualisierung von Lernwegen. Internationale Vergleichsstudien, die Vereinbarung von Benchmarks und Bildungsberichterstattung sind weitere Instrumente in diesem Prozess, zu dem auch die Angleichung von Studienabschlüssen im Rahmen der Bologna-Vereinbarung zählt. Im Bereich der beruflichen Bildung intendiert die Einführung des Europäischen Qualifikationsrahmens in gleicher Weise die Vergleichbarkeit von (Aus-)Bildungsabschlüssen, die den transnationalen Transfer beruflicher Qualifikationen ermöglichen soll. Bei der Konstruktion eines europäischen Bildungsraums treten zudem neue Akteure auf den Plan. Nichtstaatliche Organisationen und Agenturen spielen eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Konzepten, deren Umsetzung und Evaluation.
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Governing is based more and more on the use of commercial and private partners and a recognition that the state is no longer the main arbiter and sole provider of the economic and social order.2
Diese internationalen Expertennetzwerke agieren quer zu etablierten Entscheidungsstrukturen über nationale Grenzen hinweg. The informality of their organization, the complexity of their knowledge relations and exchanges, the hybridity of their institutional association, combines with their overall interdependence to produce a distinctive form of governance in Europe.3
III. Transparenz und Übertragbarkeit von Bildungsabschlüssen, wie sie mit der Einführung des Europäischen Qualifikationsrahmens hergestellt werden sollten, wirken als Einführung von allgemeinen Äquivalenten im Bildungsbereich, um erworbene Kompetenzen formal von einem kulturellen Kontext, vor allem aber von einem nationalen Arbeitsmarkt in einen anderen übertragen zu können. Dies fördert die Bewegung von Waren, Werten und Menschen, aber welche Erfahrungen von europäischer Gemeinschaft werden damit verknüpft? In der Praxis gestaltet sich die Anerkennung von im Ausland erworbenen Kompetenzen und Qualifikationen nach wie vor schleppend, die Vorstellung, Bildungsabschlüsse seien europaweit verwertbar, entpuppt sich für manch eine und einen als Illusion. Individuelle Bildungsprozesse sind in der Programmatik europäischer Bildungspolitik stets eng mit Beschäftigungsfähigkeit verknüpft. Auch die Bedeutung des Lebenslangen Lernens als individuelle Verhaltensdisposition wird so mitbegründet. Die Annahme zunehmender erwerbsbiographischer Diskontinuität wird gleichsam zur normativen Prämisse für die Extensivierung von Lernaktivitäten. Die Perspektive des ‚Individualberufs des Arbeitskraftunternehmers‘ (Voß), der durch aktive ‚Selbstsozialisation‘ ein individuelles Qualifikationsprofil entwickelt und selbst vermarktet, stellt die Gestaltung des beruflichen Lebenslaufs zunehmend in die Verantwortung und Kompetenz des Einzelnen und impliziert nicht zuletzt gravierende Konsequenzen für das individuelle Lernverhalten und für das institutionalisierte Lernen. Mit dieser veränderten Semantik ist eine bildungspolitische Perspektive verbunden, in der die Eigenverantwortung für gelingende Bildungsprozesse zentral ist. Bildungserfolg hängt von der individuellen Anstrengung ab, nicht von den sozialen Bildungs2 António Nóvoa/Martin Lawn (Hrsg.), Fabricating Europe. The Formation of an Education Space, Boston 2002, 7. 3 Ebd., 5.
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bedingungen. Die Idee von Europa als Verantwortungsgemeinschaft erscheint in gänzlich anderem Licht, wenn einer gemeinschaftlichen Verantwortung die Sorge für sich selbst derart vorangestellt wird. Der heimliche Lehrplan der europäischen Sozial- und Bildungspolitik vermittelt Lektionen über Zugehörigkeit und Ausgrenzung, die neue Ungleichheiten hervorbringen und alte verstärken. Zudem bleibt auch der Bildungssektor nicht von Privatisierungstendenzen und Effizienzkriterien ausgespart. Bildung wird zunehmend als Dienstleistung konzipiert, die mit Managementverfahren gesteuert und an ökonomischen Kriterien gemessen wird. Der Blick auf die Ausgabenseite verstellt dabei oft die Sicht auf langfristige individuelle und soziale Bildungsgewinne.
IV. Die Transformationsprozesse eines Europas von unten machen hingegen europäische Erfahrungen möglich, die einige der gängigen Annahmen über Erziehung, Bildung, Lernen und Wissen in Frage stellen. Schnell wird deutlich, dass Bildungsprozesse nicht auf Institutionen und Formalisierungen angewiesen sind. Informelle Lernprozesse und tacit knowledge (implizites Wissen) gewinnen in Zusammenhang mit dem europäischen Einigungsprozess an Bedeutung für Individuen und Gesellschaft. So gesehen werden die Bewegungen auf den europäischen (Arbeits-)Märkten immer auch zu Bildungsbewegungen, wie Schlögel4 betont. Er führt gegen den stereotypen EUropadiskurs die Europaerfahrungen der Menschen, die hier leben, ins Feld. Bei ihm erscheint Europa als fortdauernde soziale Praxis, die sich weniger auf Konferenzen, in Hörsälen oder Memoranden realisiert als im alltäglichen Miteinander eines europäischen Handlungsraums im Wortsinn. So treffen wir auf den Basaren überall Leute mit doppelter oder mehrfacher Identität, mit mehreren Berufen, meist überqualifiziert: Journalisten, die zu commis voyageurs geworden sind; Polizisten, die in Schwarz gekleidet, jetzt die Containerbuden auf den Basaren bewachen; Lehrer, die ihre Familien ernähren, indem sie Autos von Rotterdam nach Majampale überführen; Direktorinnen, die vorübergehend wenigstens zwischen Jekaterinburg und dem chinesischen Tientsin pendeln. Die Basare sind Symptome des Kollapses der alten Wirtschaftsform, zugleich aber die Vorläufer – im besten Fall – einer neuen Marktökonomie. Auf ihnen wird aber nicht nur gehandelt, sondern auch gelernt.5
4 Dazu Karl Schlögel, Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent, München 2013. 5 Ebd., 28.
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V. Bildungswissenschaftliches Erkenntnisinteresse bezieht sich sowohl auf die Instrumente, mit denen Bildung in den europäischen Ländern organisiert, gestaltet und verwaltet wird, als auch auf die individuellen Aneignungsprozesse derjenigen, die in diesen Ländern aufwachsen, leben, arbeiten und handeln. Trotz des Subsidiaritätsprinzips spielen dabei bildungspolitische Impulse der europäischen Ebene eine wichtige Rolle. Insbesondere europäische Strukturförderung schafft neue Möglichkeitsräume im Bildungsbereich.6 Diese bleiben gleichwohl bedeutungslos, solange sie nicht aktiv angeeignet, in den subjektiven Deutungshorizont integriert werden. Für den Flüchtling am Mittelmeer, die Erasmus-Studentin in Schweden, die EU-Referentin in Brüssel oder den Rentner in Birmingham, die Touristengruppe im Baltikum, den Bauern in Rumänien oder die Pflegefachkraft aus Lettland vermitteln sich Europa und die EU auf je besondere Weise. Negt hat ganz im Sinne der Frankfurter Schule das friedliche Zusammenleben in der Europäischen Gemeinschaft zum zentralen Ausgangspunkt seines Konzepts einer europäischen Bildung genommen. Politische Urteilsfähigkeit und aufgeklärte demokratische Teilhabe sind sein vorrangiges Bildungsziel. Also ist, damit Auschwitz sich nicht wiederhole, an das Gegenwartsverhalten die Forderung gerichtet, die Verhältnisse unseres gesellschaftlichen Lebens so einzurichten, dass die Menschen möglichst von Not und Angst befreit, aktiv und urteilsfähig an der Gestaltung unseres Gemeinwesens teilnehmen.7
Erfahrungsorientiertes Lernen ist die Methode, um solche politische Urteilfähigkeit zu erlangen. Das Vermögen, Bedingungen und Folgen sozialer Verhältnisse und sozialen Handelns stets mitzubedenken und zum Maßstab eigenen Handelns werden zu lassen steht im Mittelpunkt seines Curriculums, das u. a. historische Kompetenz und Utopiekompetenz beinhaltet. Beides, das friedliche Zusammenleben der EuropäerInnen und deren politisches und soziales Engagement gehen keineswegs selbstverständlich mit dem europäischen Einigungsprozess einher, vielmehr sei politische Bildung notwendig, um dessen soziale Begleiterscheinungen zu be- und verarbeiten. Europa kann sich nicht allein durch Marktverkehr, politische Institutionen und einheitliche Währung zu einer friedensfähigen und auf Ausgrenzung verzichtenden Gemeinschaft entwickeln, wenn das Disparate dieses Vereinigungsrohstoffs nicht bearbeitet wird: durch die Ent6 Beatrix Niemeyer/Sebatian Zick, Working the boundaries of spaces for agency in adult education. How European social inclusion policy challenges adult educatorsʼ creativity (Forschungsförderung working paper 132), Düsseldorf 2019 https://www.boeckler.de/6299.htm?produkt=HBS-007156# (abgerufen am 02.01.2020). 7 Oskar Negt, Der politische Mensch: Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010, 135.
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wicklung einer Erinnerungs- und Gedächtniskultur ebenso wie durch die Förderung und allgemeine Entfaltung politischer Urteilskraft. Nur in diesem Spektrum können die in Europa zusammenlebenden Völker voneinander lernen.8
Negt wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die betriebswirtschaftliche Perspektive, die bislang die Mehrzahl der Aktivitäten des Europäisierungsprozesses leitet, zu gesellschaftlichen Verwerfungen führen muss, wenn keine gemeinsame Geschichte entsteht. Er diagnostiziert konkret drei Gefahren, nämlich die der Polarisierung (durch die Konzentration von immer mehr Geld auf immer weniger Menschen oder Konzerne), die der Flexibilisierung (durch die Demontage sozialer Bindungen und den Verlust von Heimat im Bloch’schen Sinn) und schließlich die der Abkoppelung ganzer Gesellschaftsschichten vom Produktionsund Lebenszusammenhang.9 Setzen sich diese Entwicklungen fort – und die von ihm zusammengetragenen Indizien sprechen dafür –, so würden sich die Lebenswelten und Lebensbedingungen der zukünftigen Generation so dramatisch von denen unterscheiden, unter denen die derzeitigen Entscheidungsträger aufgewachsen sind, dass die Folgen im Wortsinn unvorstellbar sind.10
VI. Auch Negt stellt die Regelwelt der Europäischen Union der Erfahrungswelt europäischer Bürgerinnen und Bürger gegenüber, wenn er die für ihn existenzielle Frage formuliert: Wie werden diese Regierungsentscheidungen, wie werden Maßnahmen, Verordnungen und Richtlinien des Europäischen Parlaments und der EU-Kommission in Brüssel in die Lebenswelt der Menschen hineingenommen, werden sie verarbeitet, akzeptiert – mit einem Wort zum Rohstoff kritischer Urteilskraft?11
Negt propagiert politische Bildung, Bindungsfähigkeit und Geschichtsbewusstsein als Lösungsvorschlag und damit als Bildungsziele für die Menschen, die in der Europäischen Gemeinschaft leben. Er reklamiert die zentrale Bedeutung einer politischen Bildung, die auf kollektive, kulturelle Lernprozesse gerichtet ist. Es sind deshalb Lernprozesse erforderlich, die zwischen den einzelnen Ländern gestaltet werden müssen. Es sind Übersetzungsanstrengungen epochaler Art erforderlich, um aus dem alten 8 Ebd., 152. 9 Negt, Mensch (2010), 58. 10 Ebd. 11 Ebd., 162.
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Europa ein die gewaltigen kulturellen Energiequellen nutzendes föderatives und doch identitätsstiftendes Gemeinwesen zu machen.12
Zu diesen epochalen Anstrengungen gehöre seines Erachtens die Beantwortung der Frage einer europäischen Identität, die für ihn keine gemeinsame sein darf, denn: In der Identitätsfrage selbst steckt, sieht man genau hin, immer ein Moment der Gewalt. Wirklich befriedigte und erfüllte Identität wäre nichts anderes als die zwanglose Anerkennung des Nicht-Identischen, der lebendige Prozess gegenseitiger Anerkennung dessen, was auf einen Nenner nicht zu bringen ist.13
Kollektive Lernprozesse, das Abtragen der „ideologischen Ablagerungen, die Wirklichkeit verdecken“14, benötigt Zeit. Die Aneignung von Geschichte vollzieht sich über Generationen hinweg. Schlögel plädiert daher für ein Moratorium im Europadiskurs. Es sei an der Zeit, innezuhalten und „in einen Prozess der ursprünglichen Akkumulation von Erfahrungen einzutreten, Bilder zu sammeln. Vor aller Besserwisserei geht es erst einmal um Wissen, Wahrhaben, Wahrnehmen, sich umsehen, sich die Geschichten zu erzählen, zu denen man fünfzig Nachkriegsjahre keine Zeit oder keine Gelegenheit hatte“.15
VII. Europa erscheint als Lernanlass, Lernaufgabe und Lerngelegenheit gleichermaßen, und räumt – aus dieser Perspektive gesehen – gründlich mit dem herkömmlichen Lernverständnis auf. Weder das alltägliche Handlungswissen in und über Europa, auf das Schlögel verweist, noch das von Negt reklamierte Verstehen europäischer Politikprozesse findet sich in Lehrbüchern oder lässt sich im Schulunterricht hinreichend vermitteln. Bildung in Europa ist eng an Erfahrungen gebunden, die im lebenslangen Lernprozess außerhalb von Schulen erworben werden. Europa ist ein nicht abgeschlossenes Projekt, politische, soziale, auch ökonomische Prozesse schreiten voran und bringen – intendiert oder nicht – stets nur Zwischenergebnisse hervor. Professionelle Bildungsarbeit im europäischen Kontext braucht daher altes und neues Wissen über Europa, Wissen über die Prozesse, Steuerungsformen, Instrumente, mit denen der europäische Bildungsraum gestaltet wird. Das meint weniger Fakten wie die Zusammensetzung des Parlaments, sondern vielmehr Verfahren der Entscheidungsfindung und 12 Ebd., 188. 13 Ebd., 159, Hervorhebung im Original. 14 Ebd., 36. 15 Schlögel, Grenzland, 35.
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Mitbestimmung, mit denen Teilhabe möglich wird. Auch das Wissen um die vielfältigen europäischen Förderprogramme, mit denen sich Handlungsräume erweitern, ist notwendig, um den Bildungsraum Europa weiter zu entwickeln und erfahrbar werden zu lassen. Erfahrung bezieht sich dabei sowohl darauf, wie und wo Europa im Alltag wirkt, wo es bemerkbar wird – dies gilt es, im jeweiligen situierten Kontext aufzuspüren und der bewussten Reflexion zuzuführen. Erfahrung bezieht sich aber auch auf die (neuen) Erfahrungsräume, die mit der Schaffung des europäischen Bildungsraums selbst erst entstehen: Erasmusaufenthalte ebenso wie Auslandspraktika, Interreg- oder andere Projekte, Bildungs- und Arbeitsmigration. Bildung in Europa umfasst auf der Mikro-, Meso- und Makroebene jene sozialen Praktiken, mit denen Aneignungsprozesse von Wissen und Handlungsfähigkeit ermöglicht oder verhindert werden. Sie bezieht sich sowohl auf die Ebene der Bildungspolitik als auch auf die Strukturen des institutionalisierten, formalen Bildungssystems und auf die Praxis des pädagogischen Handelns und – dies ist in Zeiten gesellschaftlichen Wandels von zunehmender Bedeutung – auf informelle, selbstorganisierte, erfahrungsbasierte Lernprozesse, die in den Alltag lebenslang und lebensweit eingelagert sind. Zentrale Voraussetzungen dafür sind Zeit für eigene Erfahrungen und Raum für deren kritische Reflexion. Die Curricula dafür sind kaum festzuschreiben. Die wichtigsten Lektionen werden – wie stets – informell erteilt.
Literaturverzeichnis Holl, Jann, Verantwortung, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried/Gabriel, Gottfried (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Darmstadt 2001, 566 ff. Negt, Oskar, Der politische Mensch: Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010. Niemeyer, Beatrix/Zick, Sebastian, Working the boundaries of spaces for agency in adult education. How European social inclusion policy challenges adult educators’ creativity, Forschungsförderung working papaer 132, Düsseldorf 2019 https://www.boeckler.de/6299.htm?produkt=HBS-007156# (abgerufen am 02.01.2020). Nóvoa, António/Lawn, Martin (Hrsg.), Fabricating Europe. The Formation of an Education Space, Boston 2002. Schlögel, Karl, Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent, München 2013.
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Pulse of Europe Hildesheim Ein persönlicher Erfahrungsbericht und eine Zwischenbilanz
Abbildung 1: 6. Kundgebung am 7. Mai 2017 auf dem Andreasplatz in Hildesheim, 300 Teilnehmer.
I. Pulse of Europe Pulse of Europe (PoE), übersetzt auch „Pulsschlag Europas“, ist eine unabhängige Bürgerbewegung, die weder parteipolitische Ziele verfolgt, noch Interessengruppen verbunden und überkonfessionell ist. Pulse of Europe finanziert sich ausschließlich aus Spendengeldern. Es erfolgt insbesondere keine finanzielle Unterstützung seitens europäischer und sonstiger politischer Institutionen oder Organisationen. Zur üblichen Pulse of Europe-Zeit, einmal monatlich, sonntags um 14 Uhr, finden in vielen deutschen und weiteren europäischen Städten Kundgebungen und Veranstaltungen statt, bei denen zahlreiche Europaaktivistinnen und Europaaktivisten für den Erhalt der Europäischen Union (EU) demonstrieren. 1. Entstehung Die Bürgerinitiative „Pulse of Europe“ wurde von dem Frankfurter Rechtsanwaltsehepaar Sabine und Dr. Daniel Röder im November 2016 ins Leben gerufen. Der weltweit zunehmende Erfolg nationalistischer und populistischer Parteien ließ in ihrem Freundeskreis den Entschluss reifen, dass man vor den 2017 bevorstehenden Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland, die für das Fortbestehen der EU existentiell sein würden, sel-
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ber aktiv werden müsse. Das von vielen unerwartete Brexit-Referendum und kurz darauf die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten waren die entscheidenden Auslöser, aufzustehen und sich einzusetzen. Es ging darum, die große schweigende Mehrheit der Europa-Befürworter wachzurütteln, um den möglichen Abbau der EU zu verhindern und ein neues Europabewusstsein zu schaffen. Am 9. November 2016, dem Tag nach der amerikanischen Präsidentschaftswahl, sind die ersten Konzepte und der Name der Bürgerbewegung, nämlich „Pulse of Europe“, entstanden. Die ausgearbeiteten zehn Grundaussagen, die zunächst nur im Freundes- und Kollegenkreis verteilt wurden, wurden von nun an auch bei allen Kundgebungen weitergegeben. Nachdem die erste Kundgebung im November 2016 in Frankfurt am Main erfolgreich verlaufen war, gingen die Organisatoren ab Januar 2017 in einen wöchentlichen Rhythmus über und trafen sich jeden Sonntag um 14 Uhr auf dem Goetheplatz, um für ein starkes, friedliches, vereintes und soziales Europa zu demonstrieren. 2. Entwicklung Schnell wurden viele andere Städte, wie zum Beispiel Karlsruhe oder Freiburg, auf die Bewegung aufmerksam, sodass ab März 2017 eine Geschäftsstelle in Frankfurt am Main eingerichtet wurde. Im April hat die Pulse of Europe-Bewegung bereits in 100 Städten in 14 europäischen Ländern existiert, darunter Ungarn, Polen, Tschechien, Irland, Großbritannien, Frankreich oder auch Italien. Durch deutschland- bzw. europaweite Gemeinschaftsaktionen vor den Wahlen in Frankreich und den Niederlanden hat Pulse of Europe eine große öffentliche Aufmerksamkeit erlangt. Immer wieder haben auch verschiedene Medien wie z. B. die Tagesschau und große deutsche Tageszeitungen über die Bewegung berichtet. Im November haben zeitweise in 140 Städten von 21 Ländern zeitgleich regelmäßige Kundgebungen und Veranstaltungen stattgefunden. Um die Bürgerinitiative besser organisieren zu können, haben sich im April 2017 erstmals Pulse of Europe-Aktivistinnen und -aktivisten aus verschiedenen deutschen und europäischen Städten getroffen, um über die Organisation und Vorgehensweise für die nächsten Monate zu sprechen und zu diskutieren. Mit zunehmender medialer Öffentlichkeit sind nach kurzer Zeit die ersten Auszeichnungen für Pulse of Europe gefolgt. Um nur einige Preise zu nennen, sei im Folgenden eine kurze Aufzählung gegeben. − Am Europatag 2017 wurde in Berlin der „Europapreis Blauer Bär“ vom Land Berlin und der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland an Pulse of Europe verliehen. Im September wurde der „Europäische Bürgerpreis“, der vom Europäischen Parlament vergeben wird, und dies sowohl in Berlin als auch in Brüssel. Ebenfalls ist Pulse of Europe mit dem „Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis“ der Stadt Osnabrück 2017 ausgezeichnet worden und auch der „Marion Dönhoff Preis“ von der ZEIT-Verlagsgruppe ging zugunsten der Bürgerinitiative an die Gründer. − Im März 2018 wurde PoE der „Bürgerpreis der deutschen Tageszeitungen“ vom Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger ausgezeichnet. Am 22. Mai desselben Jahres verlieh
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der amtierende deutsche Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, dem Ehepaar Röder das Bundesverdienstkreuz. − Zu den Preisen für das Jahr 2019 zählt der „Erich-Fromm-Preis“, mit dem Personen ausgezeichnet werden, die mit ihrem wissenschaftlichen, sozialen, gesellschaftspolitischen oder journalistischen Engagement Hervorragendes für den Erhalt oder die Wiedergewinnung humanistischen Denkens und Handelns im Sinne Erich Fromms geleistet haben bzw. leisten1. Ebenso bekam PoE im Mai 2019 den Gustav-Heinemann-Preis der SPD durch die damalige Fraktions- und Parteivorsitzende Andrea Nahles verliehen. 3. Motive, Ziele und die zehn Grundaussagen In den zurückliegenden Jahren ist immer spürbarer geworden, wie der Brexit, die Klimadiskussion, antieuropäischer Populismus und Finanz- und Flüchtlingskrisen auf die Zivilbevölkerung einwirken und Gesellschaften spalten. Dieses Phänomen wirkt bedrohlich und in ganz Europa werden radikale Kräfte immer stärker hörbar. Bewährte politische Strukturen brechen auseinander und ehemals verlässliche Grundrechte werden hinterfragt. Das Erstarken von rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Bewegungen und Parteien verunsichert viele Teile der Bevölkerung und verhindert größtenteils eine konstruktive, friedliche politische Atmosphäre. In diesen Zeiten ist es wichtig, für ein vereintes Europa einzustehen und sich für den Erhalt der Europäischen Union einzusetzen. Es geht um die Bewahrung von Frieden, Freiheit, Zusammenhalt, Rechtsstaatlichkeit, Stabilität und Demokratie – es geht um den Erhalt der Werte der Europäischen Union. Die Weiterentwicklung Europas und die Stärkung der europäischen Identität sind für Pulse of Europe-Aktivistinnen und -aktivisten und ihr Engagement maßgebend.2 Damit die schweigende Mehrheit die Ziele von Pulse of Europe erfährt, wurden zusammen mit allen PoE-Städten europaweit die zehn Grundaussagen formuliert. 1. Europa darf nicht scheitern: Pulse of Europe ist der Ansicht, das europäische Projekt darf nicht nationalistischen Strömungen überlassen werden, die Europa von innen her abbauen möchten. 2. Der Frieden steht auf dem Spiel: Die Europäische Union ist ein Garant des Friedens. Seit über 70 Jahren mussten die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union keinen Krieg mehr miterleben.
1 Homepage von Pulse of Europe, https://pulseofeurope.eu/auszeichnungen-und-preise/ (abgerufen am 15.12. 2019). 2 Homepage von Pulse of Europe, https://pulseofeurope.eu/ueber-uns/ (abgerufen am 15.12.2019; dem Anhang dieses Aufsatzes beigefügt).
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3. Wir sind verantwortlich: Es geht nicht darum, Andere für die negativen Ereignisse der letzten Jahre verantwortlich zu machen, sondern für sich selbst nachzudenken, ob und inwieweit man selbst verantwortlich war oder ist. 4. Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit sind unantastbar: Gerade mit einem Blick nach Osteuropa fällt auf, dass Rechtsstaatlichkeit und die Bewahrung der Menschenrechte eben keine Selbstverständlichkeiten mehr sind. 5. Wirtschaftliche Freiheit und soziale Verantwortung verbinden: Der Europäische Binnenmarkt soll auch in Zukunft für freien Waren-, Personen- und Dienstleistungsverkehr sorgen. Trotzdem dürfen die verschiedenen Lebensverhältnisse in den EU-Staaten nicht vergessen werden. 6. Reformen sind notwendig: Pulse of Europe sieht Europa nicht durch die rosarote Brille, sondern wünscht sich vielmehr, dass die EU weiter reformiert wird. 7. Vielfalt und Gemeinsames leben: Das Motto der Europäischen Union lautet: United in diversity. Das Zusammenleben aller Menschen mit unterschiedlichen Kulturen und Traditionen gilt als große Errungenschaft. Vielfalt und Gemeinsames ist eben kein Widerspruch. 8. Europäische Identität stärken: Das europäische Wir-Gefühl muss für eine stabile und erfolgreiche Zukunft neu gefestigt werden und dies ist die Aufgabe aller Europäerinnen und Europäer. 9. Aufstehen, aktiv werden, wählen gehen: Die Wahlbeteiligung in allen europäischen Ländern muss weiterhin erhöht werden. PoE setzt sich dafür ein, dass viele europafreundliche Parteien gewählt werden sollen. 10. Alle können mitmachen – und sollen es auch: Wie schon in Punkt drei erwähnt, ist Jede oder Jeder für den Erhalt der EU verantwortlich. Auch die, die ihre ‚Komfortzone‘ ungern verlassen, sollen sich angesprochen fühlen.3 4. Organisationsstruktur Jede einzelne PoE-Stadt organisiert ihre Veranstaltungen selbst. Alle teilnehmenden Städte stehen in kontinuierlichem Austausch mit Frankfurt am Main. Dort gibt es eine Geschäftsstelle mit vier festen Mitarbeitern, in der alle Informationen und Einzelheiten zusammenlaufen. Von Frankfurt aus werden Kampagnen und Aktionen in Zusammenarbeit mit den Städten koordiniert und geplant. Es ist das Ziel, einheitlich über alle Kanäle mit den gleichen Botschaften zu kommunizieren, um die größte Wirkung zu entwickeln und auch, um als eine Bewegung wahrgenommen zu werden. Zwar hätte die Einführung einer Geschäftsstelle zu einer Art Zentralismus führen können, doch ist dies nicht eingetreten. Die einzelnen Ortsgruppen können jeweils über die eigenen Formate entscheiden. Eine Geschäftsstelle sowie 3 Homepage von Pulse of Europe, https://pulseofeurope.eu/worum-geht-es/ (abgerufen am 15.12.2019, dem Anhang dieses Aufsatzes beigefügt).
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ein Vorstand, der Entscheidungen trifft, ist unumgänglich, da sonst kein einheitliches Bild entsteht. Weitere Untersuchungen dieser Art liegen bislang nicht vor, es ist aber davon auszugehen, dass die Beziehungen zwischen der Geschäftsstelle, dem Vorstand und den Städtegruppen auf keinerlei Hindernisse stoßen. Zur internen Kommunikation von Pulse of Europe dient in erster Linie ein Intranet. Jede PoE-Stadt, jede Organisatorin und jeder Organisator sowie jede Helferin und jeder Helfer besitzen eine eigene Seite mit Kontaktdaten. In regelmäßigen Abständen halten die Geschäftsstelle und der Vorstand die PoE-Aktivistinnen und PoE-Aktivisten auf dem Laufenden. Informationen zu Kampagnen und Aktionen, Aufrufe, Infos zu Fundraising und Finanzen und anderen wichtigen Themen werden über die Intranet-News geteilt oder auch als Städtemail verschickt. Zudem finden Telefonkonferenzen auf Deutsch und Englisch statt. In diesen werden wichtige Themen besprochen. Jede Organisatorin und jeder Organisator kann sich einwählen und mitdiskutieren. Etwa alle sechs Monate findet ein Netzwerktreffen statt. Alle PoE-Engagierten kommen in einer jeweils anderen Stadt für ein Wochenende zusammen, um sich auszutauschen und die nächsten Aktionen und Kampagnen zu planen. So gab es bereits zwei Netzwerktreffen in Frankfurt und jeweils ein Treffen in Karlsruhe, Essen und Luxemburg. Daran nehmen durchschnittlich circa 120–140 Organisatorinnen und Organisatoren teil. In unregelmäßigen Abständen finden PoE-Regionaltreffen statt. Diese sind von den Städten innerhalb einer Region organisiert und dienen der besseren lokalen Verknüpfung. PoE ist seit 2017 ein eingetragener Verein und hat 184 Mitglieder (Stand: Oktober 2019). Diese finden sich jährlich zu einer Mitgliederversammlung zusammen. Alle zwei Jahre wird der Vorstand von der Versammlung neu gewählt. Als unabhängige Bürgerbewegung finanziert sich PoE über Spenden, Fördermitgliedschaften und Fördermittel für Projekte und Kampagnen. Finanzielle Mittel werden neben den Projekten und Kampagnen auch für die Instandhaltung der Geschäftsstelle (Website, Finanzbuchhaltung, Rechtliches, IT-Infrastruktur) und für Aktivitäten in den einzelnen PoE-Städten verwendet. Auch das Preisgeld, welches das Ehepaar Röder bei diversen Auszeichnungen und Verleihungen erhalten haben, fließt in den Verein. Eine Datenerfassung zur Wirkung Pulse of Europeʼs auf die Zivilgesellschaft wurde bislang nicht erhoben. Dennoch können die vielen Auszeichnungen und Preise, die Aufmerksamkeit in den Medien und die Steigerung der Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2019, zum Beispiel in der Stadt Hildesheim um 17,4 %, als besonderer Verdienst PoEʼs aufgeführt werden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Bürgerbewegung eine große Wahrnehmung in der Öffentlichkeit erfährt.
II. Pulse of Europe Hildesheim PoE Hildesheim ist eine Ortsgruppe der Bürgerinitiative, die sich im März 2017 in Hildesheim gegründet hat. Nach verschiedenen Personalfragen besteht das Team seit Längerem aus vier Organisationsmitgliedern:
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− Konstantin Gerbrich4 (21 Jahre), Hauptorganisator. Konstantin Gerbrich etablierte PoE im März 2017 in Hildesheim und ist seitdem der Hauptorganisator der Ortsgruppe. − Pia-Marie Holstein5 (20 Jahre), Organisatorin. Bei PoE Hildesheim ist Pia-Marie Holstein zunächst als Helferin aktiv, seit Juni 2017 als Organisatorin. − Anna-Lena Lorenz6 (22 Jahre), Organisatorin. Anna-Lena Lorenz ist seit März 2018 als Organisatorin im Team. Vorher hat sie als Helferin das Organisationsteam unterstützt. − Magdalena Gerbrich7 (19 Jahre), Organisatorin. Magdalena unterstützte das Organisationsteam von März 2017–Februar 2018 als Helferin. Seither ist sie ebenfalls Organisatorin. Da sie sich während des Zeitpunktes der Europawahl in Neuseeland befand, konnte sie sich nicht einbringen, sodass sich das Team auf drei Personen reduzierte und deswegen im weiteren Verlauf des Textes oft nur die Rede von drei Personen ist. Das Hildesheimer PoE-Team ist europaweit das jüngste Organisationsteam im Alter von 19 bis 22 Jahren. 1. Entstehung und Entwicklung Der Brexit, die Trump-Wahl in den USA und immer mehr Nationalisten und Populisten auf dem Vormarsch: „Eigentlich müsste man etwas tun, aufstehen, sagen, was man denkt, irgendetwas unternehmen“,8 so ist Konstantin Gerbrichs Gefühl Anfang des Jahres 2017. Angeregt durch den Besuch einer PoE-Verantstaltung im März 2017 in Hannover, bei der 500 Menschen dem Anschein nach FÜR und nicht GEGEN etwas demonstrierten, wollte Gerbrich eine ebensolche friedliche Bewegung auch in Hildesheim etablieren. Zu der ersten Veranstaltung am 26. März 2017 kamen 200 Personen zum Platz auf der Lilie in Hildesheim. Bei der darauffolgenden Kundgebung folgten über 300 Teilnehmer dem Aufruf der Bürgerbewegung. Der Zulauf von Teilnehmerinnen und Teilnehmern liegt seit4 Konstantin Gerbrich ist am 4. Januar 1998 in Hildesheim geboren. 2016 hat er sein Abitur am Bischöflichen Gymnasium Josephinum abgelegt, ehe er im Oktober 2016 sein Studium des Fächerübergreifenden Bachelors für die Fächer Germanistik und katholische Theologie an der Leibniz Universität Hannover begann. 5 Pia-Marie Holstein ist am 21. Juni 1999 in Hildesheim geboren. Sie legte ihr Abitur 2017 ebenfalls am Josephinum ab. Nach einem Freiwilligendienst in der Heimstatt Röderhof startete sie im Oktober 2018, den Polyvalenten Zwei-Fächer-Bachelorstudiengang mit Lehramtsoption für die Fächer Germanistik und katholische Theologie an der Universität Hildesheim zu studieren. 6 Anna-Lena Lorenz ist am 20. August 1997 in Hildesheim geboren. Sie legte ihr Abitur, zusammen mit Konstantin Gerbrich, 2016 am Josephinum ab. Nach einem Freiwilligendienst bei der Dommusik des Bistums Hildesheim fing sie im Oktober 2017 an, Medienmanagement an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover zu studieren. 7 Magdalena Gerbrich, die jüngere Schwester von Konstantin Gerbrich, ist am 28. Juni 2000 in Hildesheim geboren. Sie hat ihr Abitur 2018 an der Marienschule Hildesheim abgelegt, anschließend entschied sie sich, als Au Pair in Neuseeland (Januar bis Oktober 2019) zu arbeiten. 8 Kehrwieder am Sonntag, 9. 4. 2017.
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dem zwischen 70 bis 400 Personen. Anfangs fanden die Kundgebungen des Hildesheimer Organisationsteams wöchentlich sonntags um 14 Uhr statt. Erst Anfang Juni 2017 gingen die Veranstalter in einen monatlichen Rhythmus über, denn sowohl Organisation als auch das Verfassen von Texten gestalteten sich als sehr zeitintensiv. Mittlerweile ist der erste Sonntag im Monat um 14 Uhr die übliche PoE-Zeit. Jede Zusammenkunft beginnt mit dem Hildesheimer Glockenspiel am Rathaus, das auf Initiative der Organisatoren sonntags um 14 Uhr die Europahymne spielt. a) März 2017–Juni 2017 Die ersten Kundgebungen in Hildesheim dienten dazu, auf die bevorstehende Präsidentschaftswahl in Frankreich aufmerksam zu machen. Die Kundgebungen sollten und sollen ein Signal an die Politikerinnen und Politiker senden und die ‚Menschen vom Sofa bewegen‘, damit sie sich für Europa einsetzen. Am 9. April stand die Kundgebung beispielsweise unter dem Motto „Hildesheim aime la France“ (Hildesheim liebt Frankreich). Es handelte sich um eine europaweite PoE-Aktion, bei der etwa 90 Städte ihren Wunsch nach einem friedlichen, geeinten Europa gezeigt haben und gleichzeitig ihre Solidarität mit Frankreich bekundeten. Ende April fand das erste Netzwerktreffen von PoE in Frankfurt am Main statt, bei dem sich viele der Städte-Organisationsteams versammelten, um über den zukünftigen Fahrplan, die Öffentlichkeitsarbeit und alle weiteren organisatorischen Fragen zu sprechen. Konstantin Gerbrich vertrat seine Stadt Hildesheim. b) Juli 2017–Januar 2019 Ab Juli 2017 widmeten sich die Organisatoren ihrem regelmäßigen Rhythmus und veranstalteten einmal monatlich eine Kundgebung. Die Themenwahl war dabei völlig unterschiedlich, ob Jugendarbeitslosigkeit in Europa, Seenotrettung, Populismus, Vorurteile über Europa oder Rechtsstaatlichkeit. Als größere Aktionen lassen sich in diesem Zeitraum zuerst die von PoE-Hildesheim organisierte Podiumsdiskussion anlässlich der Bundestagswahl 2017 aufzählen, die unter dem Thema „Europas Zukunft“ stand. Die Diskutanten setzten sich aus den Bundestagswahlkandidatinnen und -kandidaten zusammen. Die CDU, vertreten durch Ute Bertram, die SPD durch Bernd Westphal, Ottmar von Holtz von Bündnis 90/Die Grünen sowie Dr. Hendrik Jacobs von der FDP und Orhan Kara für Die Linke komplettierten das Podium. Die AfD hat auf die Einladung zur Podiumsdiskussion nicht reagiert. Als weitere besondere Aktion fuhr das PoE-Team gemeinsam mit etwa 45 Teilnehmerinnen und Teilnehmern Ende November 2017 zu einer Hauptstadtkundgebung nach Berlin. Zusammen mit anderen deutschen Städten wie Hamburg, Frankfurt oder Karlsruhe veranstalteten sie auf dem Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs eine Kundgebung und kamen anschließend mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmern ins Gespräch. Eine große Bereicherung war der Redebeitrag von Joschka Fischer, dem ehemaligen
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deutschen Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Nach einer kurzen Winterpause im Januar folgte im Februar 2018 ein „Europa-Stammtisch“. Ab Sommer 2018 erhielt PoE Hildesheim immer wieder Einladungen zu verschiedenen Gesprächsrunden, Podiumsdiskussionen und Veranstaltungen, bei denen das PoE-Team sowohl als Gast, aber auch als Akteur auftrat. Anfang des Jahres 2019 begann die wirklich ‚heiße Phase‘, denn die Europawahl stand unmittelbar bevor. c) Februar 2019–heute Am 10. Februar 2019 fand die erste Kundgebung des neuen Jahres statt. Damit fiel der ‚Startschuss‘ für die wichtige Phase vor der Europaparlamentswahl am 26. Mai. Gleich zu Beginn des neuen Jahres wurde die Kundgebung, auf der ein Werbefilm für das Hildesheimer Kino anlässlich der Europawahl gedreht werden sollte, durch die rechtsextreme Identitäre Bewegung gestört und musste letztendlich sogar abgebrochen werden. Es folgten viele Gespräche mit Vertretern der Polizei, Politik und der Stadt Hildesheims. Vom 15.–17. Februar 2019 fand das Netzwerktreffen von PoE in Essen statt, bei dem der genaue Fahrplan in Bezug auf die Europawahl besprochen wurde. Aktionen, Kampagnen, die Öffentlichkeitsarbeit und viele weitere Themen wurden diskutiert. Um vor der richtungsweisenden Wahl erfolgreich aufzutreten und so viele Menschen wie möglich anzusprechen, war es wichtig, dass sich alle Städte gemeinsam positionieren und daran arbeiten, dass die Wahlbeteiligung in Deutschland und Europa steigt. Genau das war das Ziel der Wahlkampagne von PoE. Der Slogan dazu lautete: „Was immer du wählst, wähl Europa“! In den darauffolgenden Monaten, einschließlich der heutigen Zeit, folgten viele Einladungen zu Podiumsdiskussionen, Vorträgen in Schulen, Abendveranstaltungen und Workshops, die alle angenommen wurden (siehe Abschnitt 4, Seite 400). Die Kundgebungen wurden bis Ende April erst noch monatlich durchgeführt, ab Ende April ging das Team in einen wöchentlichen Rhythmus über. Erst ab Juli fanden die Kundgebungen wieder in einem monatlichen Rhythmus statt. 2. Motive und Ziele Offene Grenzen, der Euro als gemeinsame Währung, Frieden in der EU – all das ist gerade für junge Menschen zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Dass ohne die Europäische Union viele Errungenschaften nicht erreicht worden wären, daran denken nur die wenigsten Menschen. Bei Gesprächen in den Fußgängerzonen oder an Infoständen haben vor der Europawahl viele Bürgerinnen und Bürger die Politik der EU kritisiert. Einige haben sich von den Organisatoren ansprechen und informieren lassen, weil PoE eine Bürgerbewegung und keine Partei ist. Aufgrund von fehlendem Vertrauen und Politikverdrossenheit haben sich aber längst nicht alle Personen zur Diskussion bereit erklärt.
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Als Konstantin Gerbrich PoE in Hildesheim gegründet hat, wollte er sich für den Erhalt der EU einsetzen und die Menschen von der europäischen Idee überzeugen. Das Ziel ist es, diejenigen, die Europa kritisch gegenüberstehen, von den Erfolgen und positiven Werten der EU zu berichten. Als Bürgerbewegung möchte PoE näher an den Menschen sein, Sorgen und Ängste anhören und mit ihnen zusammen ein Zeichen setzen. Auch Politikerinnen und Politiker sind bei den Zusammenkünften gerne gesehen. Jedoch dürfen sie nicht als Redner auftreten, um die Überparteilichkeit zu bewahren. Ihre Anwesenheit allein reicht meistens, um den Bürgerinnen und Bürgern zu zeigen, dass ihnen bürgerliches Engagement und der Einsatz für ein friedliches und demokratisches Europa nicht gleichgültig ist. Als das jüngste PoE-Team in Europa haben Konstantin, Pia-Marie, Anna-Lena und Magdalena eine andere Überzeugungskraft als vielleicht andere. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn es in Europa Grenzkontrollen gibt. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn sich Länder gegenseitig bekriegen und man in ständiger Angst um seine Zukunft leben muss. Bei Besuchen und Vorträgen in Schulen ist es deren Aufgabe, klarzustellen, wie wichtig es ist, für die Werte der EU zu kämpfen. Junge Leute sollen dazu motiviert werden, auf die Straßen zu gehen und für ihre Zukunft einzustehen. Engagement wird immer wichtiger und Jede und Jeder sollte ihre und seine Stimme nutzen, um etwas zu verändern. 3. Aktionen, Formate und Kooperationen Seit der Gründung von PoE in Hildesheim haben die Organisatoren 33 Kundgebungen organisiert und durchgeführt (Stand Oktober 2019). Hin und wieder luden Konstantin Gerbrich und seine Mitstreiterinnen einen Redner ein, wie den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Dr. Klaus Hänsch, oder die Hildesheimer Universitätsprofessoren Michael Gehler und Alexander Merkl. Im Mittelpunkt einer jeden Kundgebung steht das „offene Mikrofon“. Jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer darf ansprechen, was sie oder ihn stört bzw. bedrückt. Oft nehmen sie Bezug auf die davor gehaltene Rede. PoE Berlin hat mit den europäischen HausParlamenten (HP) ein weiteres Format entwickelt. Ein Team bereitet jeweils die Runde der HausParlamente vor. Zu Beginn überlegen sie sich in Zusammenarbeit mit dem Vorstand ein europäisches Thema, das von hoher Aktualität und Bedeutung ist. Passend zum politischen Thema wird eine Entscheidungsträgerin oder ein Entscheidungsträger ausgewählt, der die Runde der HausParlamente betreut und nach Abschluss der Diskussionen Stellung zu den Ergebnissen bezieht. Nachdem ein Experte gefunden wurde, erstellen die Organisatorinnen und Organisatoren Unterlagen mit Fragen zusammen, die an die Hausparlamentarier, also die Zivilgesellschaft, gesendet werden. Im Anschluss verpflichten sich die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, unabhängig davon, ob sie den Empfehlungen der HausParlamente folgen, ihre und seine Sichtweisen im Lichte der Ergebnisse den Hausparlamentariern gegenüber speziell zu be-
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gründen.9 Jede und Jeder kann Freunde oder Bekannte zu sich nach Hause einladen, um in einer kleinen Debatte über das vorher festgelegte politische Thema zu diskutieren. Mit den HP soll zivilgesellschaftliches Engagement für Europa dort ermöglicht werden, wo Meinungen als erstes entstehen: am Küchentisch, beim gemeinsamen Essen mit Freunden und Bekannten, im Café, am Stammtisch oder im Park. Die Entwickler möchten gerade auch jene Menschen miteinbeziehen, die sich (noch) nicht von der europäischen Politik angesprochen fühlen. Vor der Europawahl im Frühjahr 2019 fand die zweite Runde der HausParlamente statt. Über 1.500 Bürgerinnen und Bürger diskutierten in 260 privat organisierten HP über aktuelle europapolitische Themen. Unter dem Motto „Ein Europa, das schützt“ wurde über die Einführung eines Arbeitslosen-Fonds, einer CO2-Steuer oder einer Stärkung der Grenzschutzagentur FRONTEX gesprochen. Als Kooperationspartner stand in der ersten Runde der HausParlamente der Staatsminister für Europa, Michael Roth (SPD), Rede und Antwort. In der zweiten Runde nahmen mit Manfred Weber (CDU), Katarina Barley (SPD), Nicola Beer (FDP) und Sven Giegold (Bündnis 90/Die Grünen) vier Spitzenkandidaten ihrer jeweiligen Partei Stellung zu den Argumenten und Fragen.10 Im Vorfeld der Europawahl kooperierte das Hildesheimer PoE-Team mit dem Amt für regionale Landesentwicklung und Europaangelegenheiten Leine-Weser (ArL) und dem Bistum Hildesheim. Die Kooperation mit dem ArL kam aufgrund der hohen Nachfrage von Schulen zustande. Das Bistum sendete eine Anfrage für ein gemeinsames Projekt vor der Europawahl. PoE-Hildesheim wurde außerdem Mitglied im neu gegründeten Bündnis „Niedersachsen für Europa“, mit dem unterschiedliche Verbände und Vereine auf die Europawahl aufmerksam machen wollten. 4. Europawahl 2019 Neben diversen Podiumsdiskussionen, an denen in fast allen Fällen Konstantin Gerbrich als Diskutant teilnahm, hielten die Studierenden auch Vorträge in Schulen oder vor Verbänden. Aufgrund der Kooperation mit dem ArL besuchte das Team Schulen in Elze, Rinteln, Nienburg, Hameln, Garbsen und Stadthagen. Auch in den Hildesheimer Schulen wie der Marienschule, dem Bischöflichen Gymnasium Josephinum oder der Robert-Bosch-Gesamtschule sowie der Marienbergschule in Nordstemmen waren sie zu Gast. Gerade im Vorfeld der Europawahl war es den Organisatoren besonders wichtig, den Schülerinnen und Schülern Informationen zur Wahl auszuhändigen. Aus diesem Grund wurde eine PowerPoint-Präsentation erstellt, die die Grundlage eines jeden Vortrags in der Schule bildete. Nach Auskünften zur Europawahl, den Abgeordneten und zur Arbeit im Europäischen Parlament folgte eine kurze Erläuterung über die Bürgerinitiative Pulse of Europe und die konkrete Arbeit in der 9 Homepage der Pulse of Europe Hausparlamente, https://pulseofeurope.org/wp-content/uploads/2018/06/ Mehr_Informationen_HausParlamente.pdf (abgerufen am 15.12.2019). 10 Homepage der Pulse of Europe Hausparlamente, https://homeparliaments.eu/ (abgerufen am 15.12.2019).
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Ortsgruppe Hildesheim. Den Abschluss bildete ein vielseitiges Quiz rund um das Thema Europa. Vor allem in den Berufsbildenden Schulen waren die konkreten Informationen zum Ablauf der bevorstehenden Europawahl wichtig, weil sich ein großer Teil der jungen Erwachsenen noch gar nicht bzw. nur teilweise mit diesem Thema beschäftigt hatte. Vielen Auszubildenden hat man angemerkt, dass sie sich aufgrund des Vortrags von PoE Hildesheim entschieden, doch von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Allgemein ist aber zu sagen, dass die Reaktion auf den Vortrag sehr unterschiedlich ausfiel. Gerade die jüngeren Schülerinnen und Schülern schienen wenig Interesse an der Europawahl und an politischem Engagement zu haben, dafür umso mehr am Europa-Quiz, bei dem die Mädchen und Jungen gegeneinander antreten konnten. Wissen über die Europäische Union und deren Abläufe war aber nur in geringem Teil vorhanden, weil Europa in den Lehrplänen der Schulen nur zu einem kurzen Zeitpunkt im Halbjahr vorkommt. Bei wahlberechtigten Schülerinnen und Schülern bestand hingegen größerer Diskussionsbedarf. Der Brexit, Klimawandel oder die rechtspopulistischen Strömungen waren nur einige Themen während der Gespräche. Ein großer Vorteil für die Vorträge war der geringe Altersunterschied zwischen Vortragenden und Zuhörenden. Aus den unterschiedlichen Begegnungen und Erlebnissen in den Schulen konnte das Organisationsteam viele Erfahrungen sammeln und als Wissenserweiterung für die Schülerinnen und Schüler agieren. Dennoch war es für die drei jungen Studierenden teilweise erschreckend zu beobachten, wie wenig Interesse für politische Bildung und Partizipation bei den Jugendlichen besteht. In der Schule erfolgt ausschließlich eine Auseinandersetzung mit den europäischen Institutionen. Die Lehrerinnen und Lehrer haben nur wenig Zeit, um mit den Schülerinnen und Schülern über die positiven Errungenschaften sowie die negativen Aspekte der EU zu diskutieren. Umso mehr freuten sich die Lehrkräfte, dass mit drei jungen, engagierten Studierenden, die auch erst vor wenigen Jahren ihr Abitur abgelegt haben, eine Sensibilisierung für das Thema stattfinden konnte. Viele Lehrkräfte und auch das Team von PoE Hildesheim gaben den Schülerinnen und Schülern mit auf den Weg, mit ihren Eltern und Freunden über Europa ins Gespräch zu kommen. Am 6. Mai 2019 fand eine Podiumsdiskussion mit dem Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer SCJ und dem ehemaligen Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) statt. In Kooperation mit dem Bistum Hildesheim standen die beiden Prominenten unter dem Thema „Kann die Jugend Europa retten?“, Moderator Gerbrich Rede und Antwort. Schülerinnen und Schüler des 10. Jahrgangs der Gymnasien Josephinum Hildesheim und Marienschule Hildesheim schickten dem Team zuvor Fragen, die in der Podiumsdiskussion behandelt wurden. Zuvor hatten sowohl der Bischof als auch Gabriel über ihre Erfahrungen mit der EU erzählt. Der Bischof ermutigte die Jugendlichen, sich zu engagieren, während Gabriel betonte, dass Europa das größte Friedensprojekt des Abendlandes sei und dass auch Frankreich und Deutschland nach jahrelangen Kriegen vor mehr als 70 Jahren Freunde wurden. Mehrere Termine an einem Tag waren in den Wochen vor der Europawahl keine Seltenheit. In den meisten Fällen fand am Vormittag ein Interview oder ein Vortrag in einer Schule statt und am Abend folgte entweder eine weitere Präsentation oder eine Podiumsdiskussion.
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Häufig wurde das Team zu diversen Veranstaltungen verschiedener Parteien eingeladen. So erhielt das PoE-Team Hildesheim Einladungen der CDU, SPD und von Bündnis 90/Die Grünen. Die CDU lud Gerbrich beispielsweise als Diskutant ein, um gemeinsam mit Politikerinnen und Politikern wie der ehemaligen Hildesheimer Europaabgeordneten Godelieve Quistholdt-Rowohl oder dem Bundesvorsitzenden der Jungen Union, Tilman Kuban, zu sprechen. Am 29. April 2019 war der ehemalige Ministerpräsident Niedersachsens und jetziger Abgeordneter des Europäischen Parlamentes, David McAllister (CDU), in Hildesheim zu Gast. Er diskutierte mit Gerbrich über die wichtigsten Fragen zur Europawahl. Auch die SPD lud das Team zu zahlreichen Diskussionsveranstaltungen ein, die im Nachfolgenden nicht alle aufgezählt werden können. Neben kleineren Podien fand am 25. Februar 2019 eine Diskussion mit dem Staatsminister für Europa, Michael Roth, statt. Der Hildesheimer Bundestagsabgeordnete Bernd Westphal führte durch den Abend, bei dem es um viele interessante Themen wie den Brexit oder den aufkommenden Populismus ging. Durch einige Termine und Treffen mit Hildesheimer Landtagsabgeordneten wurde auch die niedersächsische Europaministerin Birgit Honé auf die Bewegung und das Hildesheimer Organisationsteam aufmerksam. Sie zeigte sich begeistert von der Arbeit des jungen Teams. Dies zeigte sich auch dabei, dass PoE zum ersten Zukunftsdiskurs über Europa eingeladen wurde. Die Europaministerin wollte erreichen, Jugendliche aus unterschiedlichen Bereichen zu vernetzen und über Europa zu diskutieren. Längerfristige Aufmerksamkeit sicherte sich das PoE-Team durch einen selbstentworfenen Kinospot, der von Mitte März bis Ende Mai im Thega Filmpalast Hildesheim lief, um auf die bevorstehende Europawahl aufmerksam zu machen. An 24 Tagen vor der Wahl organisierten die Studierenden einen „Maikalender“ in der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung, bei dem jeden Tag eine andere Person mit dem Satz: „Ich gehe wählen, weil...“ zu sehen war. Am 26. Mai, dem lang ersehnten Wahltag, fand auf Initiative der Studierenden die erste überparteiliche Wahlparty mit Anhängern der Parteien CDU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen in Hildesheim statt. Im Café und Restaurant Nil im Museum trafen sich ca. 250 Personen, um vor allem die gestiegene Wahlbeteiligung zu feiern. Für Konstantin, Pia-Marie und Anna-Lena bildete die Party einen krönenden Abschluss ihres ‚Wahlkampfes‘, der mit einer Einladung zum Sommerfest der Niedersächsischen Landesregierung in Berlin durch den SPD-Landtagsabgeordneten Markus Brinkmann und den Stadtverbandsvorsitzenden der CDU, Frank Wodsack, gewürdigt wurde. 5. Anerkennungen und Ehrungen Bereits im März 2019 traf sich das Hildesheimer PoE-Team mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (SPD) zu einem 45-minütigen Gespräch. Dieses Gespräch und ein anschließender Besuch seinerseits auf einer Kundgebung waren eine besondere Auszeichnung und Anerkennung ihres Engagements.
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Im September 2019 fand zugunsten des großen europapolitischen Einsatzes eine Preisverleihung im Hildesheimer Rathaus statt. Die Hildesheimer Serviceclubs (Lions Club Hildesheim, Lions Club Hildesheim-Rose, Lions Club Hildesheim-Marienburg, Rotary Club Hildesheim, Rotary Club Hildesheim-Rosenstock, Rotary Club Calenberg-Pattensen, Bürgerstiftung), die Sparkasse Hildesheim-Goslar-Peine und das Unternehmen Koffer Koch würdigte die Arbeit von PoE Hildesheim mit einem Reisebudget, das für eine Brüssel-Reise bestimmt ist, die im Oktober 2019 stattfand. Vor Ort wurde ein vielfältiges Programm sowohl vom Kabinettschef Nils Behrndt als auch von dem Leiter der Niedersächsischen Landesregierung in Brüssel, Michael Freericks, zusammengestellt. Zu den Gratulanten gehörte auch Oberbürgermeister Dr. Ingo Meyer, der mit Blick auf aktuelle nationalistische Tendenzen in Europa schlussfolgerte: Um die freiheitliche Demokratie in Europa zu wahren, braucht es – wenn man so möchte – europäische Patrioten im positiven Sinne. Und das sind in Hildesheim ganz besonders Konstantin Gerbrich, Pia Holstein und Anna-Lena Lorenz, die gerade jungen Menschen die Bedeutung Europas aufzeigen.11
Im November 2019 wurde das Organisationsteam von der niedersächsischen Europaministerin, Frau Birgit Honé, zu einem zweitägigen Aufenthalt nach Berlin eingeladen, bei dem die Landesvertretung und der Bundesrat besichtigt wurden. Vor Ort haben sie mit weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern über aktuelle politische Probleme und Themen diskutiert. 6. Brüsselreise Nachdem das junge Organisationsteam am 9. September 2019 mit einem Preisgeld durch die Hildesheimer Serviceclubs ausgezeichnet wurde, starteten Konstantin, Pia-Marie und AnnaLena am Dienstag, dem 15. Oktober, ihre Reise nach Brüssel. Am Nachmittag wurden sie von der Vizepräsidentin und Abgeordneten des Europäischen Parlamentes, Dr. Katarina Barley, empfangen. In einem längeren Gespräch erzählte sie von ihrem Umzug und dem Wechsel nach Brüssel, ihren ersten Monaten im Europäischen Parlament und ihren Einschätzungen über den Brexit. Sie lobte die Arbeit und das Engagement für PoE und interessierte sich besonders für die Erfahrungen und Erlebnisse der vergangenen Monate. Als Mitglied des Präsidiums könne sie die drei Studierenden in vielerlei Hinsicht unterstützen und bot eine mögliche Zusammenarbeit bei bestimmten Themen an. Am Abend wurden Konstantin Gerbrich, PiaMarie Holstein und Anna-Lena Lorenz von Birgit Honé, der Europaministerin Niedersachsens, zu einem Essen ins Restaurant „Poivre et Sel“ eingeladen. Sie selbst konnte leider nicht vor Ort sein, dennoch lernte die kleine Reisegruppe die Organisatoren der Reise, Nils Behrndt und Michael Freericks, kennen. Nils Behrndt ist Kabinettschef des kroatischen Kommissars 11 Homepage der Stadt Hildesheim, https://www.hildesheim.de/leben-in-hildesheim/2019-09-11/ehrung-vonpulse-of-europe-hildesheim.html (abgerufen am 15.12.2019).
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Neven Nimica und stammt aus dem Landkreis Hildesheim. Michael Freericks leitet die Niedersächsische Landesvertretung in Brüssel. Das Spitzenkandidatenmodell, die Stärkung des Europäischen Parlamentes, die akute Lage in der Türkei und die Anhörung der neuen Kommission sind nur einige Themenschwerpunkte, über die an diesem Abend gesprochen wurden. Der darauffolgende Tag begann mit einem Besuch in der Niedersächsischen Landesvertretung und einem längeren Treffen mit Michael Freericks. Dieser berichtete von der Zusammenarbeit zwischen Niedersachsen und Brüssel und erklärte seinen vielfältigen Aufgabenbereich. Einen weiteren intensiven Austausch und nachfolgende Kooperationen wünsche er sich herzlich. Auch hier stellte das Team erneut fest: Europa ist für Niedersachsen ein fester, wichtiger Partner. Im Anschluss daran fanden Gespräche mit vier niedersächsischen Abgeordneten im Europäischen Parlament statt, im Folgenden werden zwei Erfahrungen näher erläutert. Lena Düpont (CDU) wurde im Mai zum ersten Mal gewählt und schilderte ihre Erfahrungen über die ersten Monate in Brüssel. Sie interessierte sich, genau wie Katarina Barley, sehr für die Arbeit des Organisationsteams und bot am Ende ihre Unterstützung für eine Zusammenarbeit an. Ebenso nahm sich Tiemo Wölken (SPD) viel Zeit für ein intensives, themenorientiertes Gespräch über seine Arbeit im Europäischen Parlament. Auch er berichtete von seinen bisherigen Erfahrungen und interessierte sich besonders für die Erlebnisse in den Schulen, die PoE Hildesheim vor der Europawahl besucht hat. Am darauffolgenden Donnerstag fand ein Besuch in der Europäischen Kommission statt. Am Vormittag trafen die Organisatoren Matthias Oel, den Direktor der Abteilung Migration, Mobilität und Innovation im Kabinett des griechischen Kommissars Dimitris Avramopoulos. Er gab viele hochspannende und neue Einblicke in die Ursachen der Migration. Als das Team in der Kommission angekommen war, wurde das Presseaufkommen stetig höher, denn in diesem Moment kam die Nachricht, dass zwischen der EU und Großbritannien ein Deal vorlag. Antje Terhechte, die Leiterin des Besucherzentrums, empfing die jungen Erwachsenen und besuchte gemeinsam mit ihnen die Midday-Pressekonferenz der Europäischen Kommission. Michel Barnier, der Beauftragte der EU-Kommission für die Verhandlungen zum EU-Austritt des Vereinigtem Königreichs, informierte die anwesenden Journalisten über Einzelheiten des Deals. Im Anschluss sprachen die drei mit Johannes Noack, einem Mitarbeiter aus dem Kabinett des österreichischen Kommissars, Johannes Hahn, der für den Bereich der Erweiterungspolitik zuständig ist. Mit ihm unterhielten sie sich u. a. über den möglichen Beitritt von Nord-Mazedonien und Albanien oder seine weitere Tätigkeit in der Kommission, wenn diese zum Ende des Jahres wechselt. Danach nahm die deutsche Redenschreiberin von Jean-Claude Juncker, Helene Banner, PoE Hildesheim zur Pressekonferenz von Großbritanniens Premierminister Boris Johnson und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit. Besonders Junckers Satz am Ende der Pressekonferenz, „I am happy about the deal but I am sad about Brexit“12, löste nicht nur bei den jungen Europäern 12 Homepage der Europäischen Kommission, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/speech_ 19_6126 (abgerufen am 15.12.2019).
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eine große emotionale Wirkung aus, denn PoE hat sich u. a. wegen des drohenden Brexits gegründet und erfährt in Form von den dreien jetzt einen populistisch auftretenden Johnson, der durch einen emotional geleiteten Juncker gebremst wird. Nils Behrndt führte das Team durch die Räumlichkeiten der 13. Etage der Kommission. Dort befindet sich der Sitzungsraum der Kommissare und Kabinettschefs sowie das Büro des Kommissionspräsidenten. Als letztes fand ein Gespräch mit Alvaro De Elero, der im Kabinett von Frans Timmermans arbeitet und zuständig für bessere Rechtsetzung, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtcharta verantwortlich ist, statt. Hauptthema dieses Gespräches war die derzeitige Situation in Polen und Ungarn sowie die Krise in der Türkei. Am vorletzten Tag der Reise stand ein Besuch im NATO-Hauptquartier auf dem Programm. Lioba Sturtewagen, eine Mitarbeiterin des deutschen Botschafters, empfing Konstantin Gerbrich, Pia-Marie Holstein und Anna-Lena Lorenz auf dem Gelände der NATO. Sie zeigte dem Team das Gebäude und erklärte die Arbeit eines Botschafters. Die NATO versteht sich nicht nur als Verteidigungsbündnis, sondern auch als militärisch-politische Organisation von 29 Mitgliedstaaten mit dem Ziel eigener Sicherheit und weltweiter Stabilität. Im Anschluss trafen sie Benjamin Reiner, den Pressesprecher in der deutschen Botschaft der NATO. Mit dem Besuch der NATO endete das offizielle Programm, das für das Team ausgearbeitet wurde. Das junge Team ist gestärkt von der Reise in das ‚Herz Europas‘ wiedergekommen und wird die Erlebnisse nicht vergessen. Nirgendwo anders lernt man das Arbeiten der EU so zu verstehen wie in Brüssel.
III. PoE – In Zukunft sichtbar und hörbar? Seit der Gründung der Bürgerinitiative PoE gab es zahlreiche verschiedene Aktionen und Formate, mit denen die Aktivistinnen und Aktivisten auf sich aufmerksam gemacht haben. Im Laufe der Zeit haben sich Kundgebungen und deutschland- und europaweite Aktionen bewährt, aber auch Einzelformate haben ihre mediale Wirkung erzielt. Doch was passiert nach der Europawahl, dem größten Projekt, auf das die Bürgerinitiative seit fast einem Jahr hingearbeitet hat? PoE wird auch in Zukunft weiterhin auf der Straße sichtbar und hörbar sein. Es stellt sich jedoch die Frage, auf welche Art und Weise die Aktivistinnen und Aktivisten der Bevölkerung in Zukunft gegenüberstehen. Ein mögliches Format, das sich in der zurückliegenden Zeit bewährt hat, sind die HausParlamente. Sie sollen auch in Zukunft weitergeführt werden und für einen regen Austausch zwischen Politikerinnen und Politikern sowie Bürgerinnen und Bürgern sorgen. Es hat sich gezeigt, dass politische Diskussionsrunden in heimischen Wohnzimmern neue Interessen wecken können und sich dadurch mehr Menschen mit wichtigen politischen Themen auseinandersetzen.
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Man kann zum jetzigen Zeitpunkt davon sprechen, dass sich die Bürgerbewegung nach der Europawahl in einer Findungsphase befindet. Durch ein gemeinsames Netzwerktreffen und verschiedene Arbeitsgruppen soll Ende Oktober 2019 ein neuer Fahrplan erstellt werden, der auf die zukünftige Arbeit blickt. Allen Organisatorinnen und Organisatoren ist ein starkes, gemeinsames Auftreten auch in Zukunft sehr wichtig. Die Kräfte zu bündeln, um auch medial wahrgenommen zu werden, ist für viele ein entscheidender Punkt in der momentanen Findungsphase. Viele PoE-Städte organisieren weiterhin Kundgebungen als sehr gut funktionierendes Medium. Auch in Hildesheim ist das nicht anders. Mittlerweile hat sich ein starker Kern von etwa 100 Personen gefunden, die das junge Team bei nahezu jeder Veranstaltung unterstützen. In anderen Städten kommen nicht mehr allzu viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu den Kundgebungen, sodass diese das Format überdenken und einen anderen Weg finden wollen, um den Menschen Europa näher zu bringen.
IV. Zwischenbilanz/Fazit Bei der Gründung im März 2017 war für die Organisatoren nicht vorhersehbar, welch große Aufmerksamkeit in den folgenden Monaten und Jahren in Hildesheim erzeugt wird. Durch die örtlichen Tageszeitungen und dem Radiosender stand das junge Team vermehrt in der Öffentlichkeit. Zwar gab es zu Beginn noch personelle Umformungen in dem Organisationsteam, der Erfolg und der Zulauf blieb aber nicht aus. Der Auftritt der rechtsextremen Identitären Bewegung hat sich nach wie vor fest in den Köpfen der Studierenden verfestigt. Niemals hätten die Organisatoren gedacht, von einer rechtsextremen Bewegung überrumpelt zu werden. Der danach folgende Umgang mit der Polizei und der Stadt war sehr zeitintensiv und die Reaktionen verärgerte teilweise das Organisationsteam. Auch die Anwesenheit von örtlichen Politikerinnen und Politikern war nicht immer leicht, denn als Gäste auf den Kundgebungen dürfen sie nicht zu Wort kommen, damit die Überparteilichkeit der Bewegung bewahrt wird. Trotz des Vorfalls mit der Identitären Bewegung, schwankender Teilnehmerzahlen und unplanbaren Kundgebungen hat sich das Team nicht von ihrem Kurs abbringen lassen und ist immer ihrem Ziel, den europäischen Gedanken an die Bürgerinnen und Bürger heranzutragen, treu geblieben. Die Hildesheimer feilten an guten Formaten, um so viele Menschen wie möglich anzusprechen und sie von Europa zu begeistern: von Beginn an durch Kundgebungen, später mit einem Europa-Stammtisch, einer Podiumsdiskussion und weiterhin vielen Vorträgen vor Verbänden und Schulen. Die Anzahl von Terminanfragen wuchs stetig, auch der steigende Bekanntheitsgrad machte sich durch Einladungen zu verschiedenen Veranstaltungen bemerkbar. Die universitären Verpflichtungen mit den Terminen von PoE zu vereinbaren, war nicht immer leicht, sodass die Studierenden Vorlesungen und Seminare verpassten. In dieser Phase war den dreien jedoch klar, dass die Europawahl höchste Priorität hat und nur die wichtigsten Kurse besucht wurden. Mit der Zeit wurde nicht nur über die Erfolge des jungen
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Teams gesprochen, auch als Ansprechpartner für europapolitische Themen machten sie auf sich aufmerksam und ernteten viel Lob dafür. Im Oktober 2019 blickt das Organisationsteam auf insgesamt 33 Kundgebungen und weit über 100 weitere Veranstaltungen zurück. Treffen mit hochrangigen Politikerinnen und Politikern, Interviews mit Radiosendern und Zeitungen sowie verschiedenste Abendveranstaltungen gehörten vor allem im Vorfeld der Europawahl im Mai 2019 zu festen Bestandteilen des Engagements. Stress, Müdigkeit und Vernachlässigung von Freundinnen und Freunden waren abzusehen. Während andere junge Frauen und Männer im gleichen Alter auf Partys gehen, konzentrierten sie sich auf die Europawahl. Die drei Studierenden, die auch privat sehr gut miteinander befreundet sind, schafften die Balance zwischen Freundschaft, Universität und dem Engagement für PoE in den meisten Fällen problemlos. Trotz kleiner Meinungsverschiedenheiten, die zumeist aber nicht gravierend waren, behielten sie ihr Ziel, Europa und seine Errungenschaften näher an die Zivilgesellschaft zu bringen, immer im Hinterkopf. Heute sind sie stolz und ergriffen, was sie in den letzten zweieinhalb Jahren auf die Beine gestellt und für Veranstaltungen organisiert und durchgeführt haben. Podiumsdiskussionen und Gespräche mit renommierten Politikerinnen und Politikern, Vorträge und Präsentationen, Auftritte in den Medien und das Aufeinandertreffen mit Schülerinnen und Schülern waren und sind nur einige Aufgaben, die dem Team sehr viel Freude bereiten. Vor allem der Besuch in Brüssel im Oktober 2019 hat sich tief in den Herzen des Organisationsteams verankert. Europa ist für sie nicht nur ein Kontinent, sondern eine Errungenschaft, um die es auch in Zukunft zu kämpfen gilt. Das werden Konstantin Gerbrich, Pia-Marie Holstein, Anna-Lena Lorenz und Magdalena Gerbrich auch in den folgenden Jahren bewältigen, um so noch mehr Menschen mit dem ‚Europa-Virus‘ anzustecken.
V. Anhang 1. Die Beweggründe der Pulse of Europe-Gründer „Unsere Beweggründe An der rasanten Radikalisierung des politischen Lebens wirkt vieles bedrohlich. Gesellschaften spalten sich, vormals verlässliche politische Strukturen und Bündnisse werden geringgeschätzt und lösen sich gar auf. Grundlegende Wertvorstellungen werden zusehend missachtet. Nationalistische und protektionistische Strömungen vergrößern die globalen Probleme der heutigen Zeit. Dem muss entgegengetreten werden! Es geht um nichts Geringeres als die Bewahrung eines Bündnisses zur Sicherung des Friedens und zur Gewährleistung von individueller Freiheit und Rechtsicherheit. Nur gemeinsam ist der Einfluss groß genug, um die globalen Herausforderungen zu meistern und die sich verändernde Weltordnung mitzugestalten.
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Unser Ziel Der Erhalt und die zukunftsfähige Gestaltung eines vereinten Europas sind heute wichtiger denn je. Wir sind überzeugt, dass die Mehrzahl der Menschen an die europäische Idee glaubt und sie nicht nationalistischen und protektionistischen Tendenzen opfern möchte. Wir stellen uns destruktiven und zerstörerischen Stimmen entgegen, weil wir an die Reformierbarkeit und Weiterentwicklung der EU glauben. Dafür müssen wir alle aber laut und sichtbar sein! Lasst uns positive Energie aussenden, die den negativen Tendenzen entgegenwirkt. Der europäische Pulsschlag muss spürbar sein! Es geht um unsere Zukunft und um die Frage, in welcher Welt wir leben möchten. Wir können sie aktiv gestalten. Richtungsweisende Entscheidungen stehen bevor. Wir Europäer müssen unser Schicksal beherzt in die Hand nehmen. Jetzt ist die Zeit, sich einzubringen und aktiv zu werden – nicht gegen, sondern für etwas. Es ist nicht die Zeit der Proteste. Es ist Zeit, für die Grundlagen unserer Wertegemeinschaft im positiven Sinne einzustehen. Dafür möchten wir so viele Menschen wie möglich an so an vielen Orten wie möglich zusammenbringen. Wir wünschen uns dadurch ein neues europäisches Bewusstsein, das Menschen und Nationen miteinander verbindet.“13 2. Die 10 Grundaussagen der internationalen Organisation „1. Europa darf nicht scheitern Die Europäische Union droht zu zerfallen. Jedoch nur gemeinsam haben die europäischen Länder ausreichenden Einfluss, die sich rasant verändernde Welt mitzugestalten. Es ist von existenzieller Bedeutung, dass alle, denen Europa wichtig ist, aktiv werden und Zeichen setzen. Für die europäische Idee geht es jetzt um alles! 2. Der Frieden steht auf dem Spiel Die Europäische Union war und ist in erster Linie ein Bündnis zur Sicherung des Friedens. Dieser wird von innen und außen bedroht: Nationalistische und protektionistische Strömungen nehmen zu. Gesellschaften driften auseinander. Bisher verlässliche politische Strukturen und Bündnisse werden in Frage gestellt oder lösen sich gar auf. Wer in Frieden leben will, muss sich für Zusammenhalt stark machen. Europa darf sich nicht spalten lassen! 3. Wir sind verantwortlich Jede und jeder Einzelne ist verantwortlich für die Gestaltung unserer Zukunft. Niemand kann sich herausreden. Zu hoffen, es werde schon alles gut gehen, ist brandgefährlich. Europa braucht jetzt uns alle, um für Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, politische Vielfalt und Solidarität einzustehen. Wir müssen destruktiven und rückwärtsgewandten Tendenzen entschieden entgegentreten. Demokratie lebt nur, wenn die Bürger sich aktiv beteiligen. Demokratie scheitert nicht an ihren Gegnern, sondern an der Untätigkeit der Demokraten. 13 Homepage von Pulse of Europe, https://pulseofeurope.eu/ueber-uns/ (abgerufen am 15.12.2019).
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4. Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit sind unantastbar In mehreren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union werden bereits Grundrechte wie Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit verletzt und die Rechtsstaatlichkeit wird eingeschränkt. Diese Angriffe auf das Fundament des geeinten Europas sind nicht hinnehmbar. Gewaltenteilung und Rechtssicherheit sind gemeinschaftsweit zu gewährleisten. Staatliches Handeln darf nur auf Grundlage rechtmäßiger und demokratisch legitimierter Gesetze erfolgen. Unabhängige Gerichte, Gesellschaft und Presse müssen ihre Kontrollaufgabe wahrnehmen können. 5. Wirtschaftliche Freiheit und soziale Verantwortung verbinden Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, freier Waren- und Zahlungsverkehr sind Grundlage des Binnenmarkts und Voraussetzung für individuelle Freiheit und Wohlstand in Europa. Zukunftsfähig ist jedoch nur eine nachhaltige Wirtschaft. Um den Zusammenhalt in der Europäischen Union zu stärken, braucht es zudem weitere Schritte zur Angleichung der Lebensverhältnisse und eine höhere Chancengerechtigkeit. 6. Reformen sind notwendig Die Europäische Union muss erhalten bleiben, damit sie verbessert werden kann. Und ohne Verbesserung wird sie nicht erhalten bleiben. Bürger müssen aktiv in Reformprozesse eingebunden werden, so dass die Einheit Europas von allen mitgetragen wird. Ein breiter öffentlicher Diskurs über die zentralen europäischen Themen ist Grundlage für demokratische Teilhabe. Bedenken müssen gehört und an ihren Ursachen muss gearbeitet werden. Es geht um Transparenz und Glaubwürdigkeit! Die europäische Idee muss verständlicher werden und für jeden greifbar sein. 7. Vielfalt und Gemeinsames leben Die Vielfalt innerhalb Europas ist großartig. Sie zu erhalten und regionale Unterschiede zu wahren, muss europäisches Programm sein. Gleichzeitig verbindet die Europäer viel: Die Geschichte eines jeden Landes ist etwas Besonderes, doch kann sie nicht ohne die Geschichte anderer Länder geschrieben werden. Die sprachlichen und kulturellen Traditionen in Europa haben sich immer gegenseitig durchdrungen und beeinflusst – und werden dies auch weiterhin tun. Vielfalt und Gemeinsamkeit sind also kein Widerspruch: Niemand muss sich zwischen regionaler, nationaler und europäischer Identität entscheiden! 8. Europäische Identität stärken Das Gefühl der Zusammengehörigkeit macht Europa erst lebendig. Es geht um die Entwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft! Wir müssen europäisch denken lernen und verstehen, dass das Wohl und Wehe unserer europäischen Nachbarn uns direkt betrifft. Hierzu braucht es eine länderübergreifende Öffentlichkeit. Je mehr sprachliche und kulturelle Verständigung wir fördern, desto größer sind die Chancen, Verständnis füreinander zu gewin-
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nen. Dazu gehört eine ausgewogene und verständliche Berichterstattung. Gefragt ist eine gesamteuropäische und nicht nur eine nationale Sicht. 9. Aufstehen, aktiv werden, wählen gehen Lasst uns den europäischen Gedanken wieder sichtbar und hörbar machen. Wir wollen die schweigende Mehrheit aufrütteln. Wir sind überzeugt, dass die Zahl der Menschen, die der europäischen Idee positiv gegenüberstehen, größer ist als die Zahl ihrer Gegner. Macht Euch für Europa stark und diskutiert mit. Geht wählen und gebt europafreundlichen Parteien Eure Stimme. 10. Alle können mitmachen – und sollen es auch Pulse of Europe ist eine Bewegung der europäischen Zivilgesellschaft, überparteilich und unabhängig. Alle, denen die europäische Idee wichtig ist, können sich einbringen. Der europäische Pulsschlag soll spürbar sein.“14
14 Homepage von Pulse of Europe, https://pulseofeurope.eu/worum-geht-es/ (abgerufen am 15.12.2019).
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Epilog: Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft Verbleibende Aufgaben für die Gegenwart und die Zukunft
Dieses Sammelwerk trägt den Titel „Die Europäische Union als Verantwortungsgemeinschaft“ und behandelte eine Thematik, die sich einerseits in einem weiten Spannungsfeld von hochtrabenden und entsprechend großen Ansprüchen der EU sowie andererseits ihnen entgegenstehenden harten Realitäten bewegt. Nach Offenlegung der Grundlagen im Lichte der Herausforderungen für die EU (Risiko, Werte und Zusammenhalt) sind die Beiträge auf verschiedenste Aufgaben, Ebenen und Politikfelder europäischer Verantwortlichkeiten eingegangen: Geschichte, Frieden, Postkolonialismus, Sicherheit und Verteidigung, Zuwanderung, Wirtschaft und Handel, Datenschutz und Datenhandel, Mehrsprachigkeit und Übersetzung sowie die Klimafrage und nicht zuletzt auch notwendiges öffentliches Engagement für den europäischen Einigungsgedanken. Ausgehend von dieser enormen Bandbreite an zu behandelnden Aufgabenbereichen für das gemeinschaftliche Europa stellte und stellt sich gleichzeitig auch die Frage seiner Behauptungs-, Krisenbewältigungs- und Widerstandsfähigkeit. Diese spiegeln sich in den Begriffen und Fragen der Responsibilität und der Resistenz wider, wobei sich letztgenannter Terminus als bestimmter, griffiger und verbindlicher erweist als das vage und unbestimmte Konjunkturwort der „Resilienz“. Die EU benötigt zur Annahme der Herausforderungen und ihrer Bewältigung gewiss mehr Resistenz. Angesichts der beachtlichen Integrationsfortschritte der europäischen Einigung, sei es seitens a) des Europarates (gegründet 1949) mit der wenig beachteten rechtsverbindlichen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) (1951, in Kraft 1953) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR),1 b) dessen ebenso völkerrechtsbindenden Europäischen Sozialcharta (ESC) (1961, in Kraft 1965), c) der EG mit der Zollunion (seit 1968), d) der Direktwahlen zum Europäischen Parlament (seit 1979), 1 Michael Gehler, Dauerauftrag für Staat & Gesellschaft. Vor 65 Jahren, am 3. September 1953, trat die Europäische Menschenrechtskonvention in Kraft. Ein Meilenstein des internationalen Rechts, in: Extra. Beilage zur Wochenendausgabe der Wiener Zeitung, 1./2.9.2018.
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e) der Erweiterungen der Gemeinschaften um den Norden (Dänemark, Großbritannien und Irland 1973), den Süden Europas (Griechenland 1981, Portugal und Spanien 1986), f) des Binnenmarkts (1993), g) des Beitritts von drei EFTA-Staaten (Finnland, Schweden und Österreich 1995), h) der Währungsunion mit der Einführung des Euro als Buchgeld (1999), i) des Euro als Bargeld (2002), h) der „Osterweiterung“, die nicht nur die Mitte (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien), sondern auch den Norden (Estland, Lettland und Litauen) und Südosten (Bulgarien, Rumänien) wie den Süden Europas (Malta, Zypern) einbegriff (2004, 2007) sowie i) der Einbeziehung der nun auch rechtsverbindlichen Grundrechtecharta in den Anhang des Unionsvertrags von Lissabon (2007, in Kraft 2009) sind bereits sehr erfolgreich eine Vielzahl von Integrationslösungen gefunden worden. Demgegenüber schlagen die Vertagung der Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (1954), das lange währende und erfolglose Ringen um Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat bzw. im Rat der EU in den harten Politikbereichen (z. B. der Außen-, Verteidigungs- und Sozialpolitik), bedingt durch die Politik des „leeren Stuhles“ (1965) und den sogenannten Luxemburger Kompromiss (1966) sowie das Scheitern einer europäischen Verfassung (2005) negativ zu Buche. Bemerkenswerterweise scheiterten alle diese Vorhaben immer an Frankreich. Einmal setzte die Assemblée Nationale das Thema Europaarmee von der Tagesordnung ab, beim zweiten Mal führte die Haltung Charles de Gaulles für mehrere Jahrzehnte zur Blockade von Mehrheitsentscheidungen im Rat und beim dritten Mal wurde dem Konstitutionalisierungsprozess durch ein französisches Referendum ein jähes Ende bereitet. Umso mehr ergeben sich heute im Bereich der Digitalisierung, der Energiesicherung, des Kapitalverkehrs, sowie der Klima-, Migrations-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik weitere große, ja gigantische Zukunftsherausforderungen und damit Verantwortlichkeiten für die EU. Die Europäische Gemeinschaft verstand sich in ihrer Gründungs- und Formationsphase v. a. als Friedenssicherungsgemeinschaft, was sehr viel mit der Aufgabe der Einbindung und Kontrolle des deutschen Potentials zu tun hatte und hat – was freilich stets nur unter Voraussetzung der deutschen Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbsteinbindung und Selbstkontrolle umgesetzt werden konnte.2 Die Aufgabe der Friedenssicherung stellt sich im 21. Jahrhundert auf doppelte Weise dar. Als große Themen gegenwärtiger und zukünftiger Aufgaben der Union, woraus von ihr zu übernehmende Verantwortlichkeiten abgeleitet werden können, sind die Sicherung und 2 Michael Gehler, Was trieb und treibt Deutschlands und die (west-)europäische Integration zum Friedensprojekt EU?, in: Dominik Geppert/Hans Jörg Hennecke (Hrsg.), Interessen, Werte, Verantwortung. Deutsche Außenpolitik zwischen Nationalstaat, Europa und dem Westen. Zur Erinnerung an Hans-Peter Schwarz (Veröffentlichung der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus), Paderborn 2019, 77–101.
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Wahrung des inneren Friedens, aber auch die Anbahnung und Gewährleistung eines äußeren Friedens vorrangig zu nennen. Zumindest in den unmittelbaren Nachbarschaftsräumen der EU muss diese durch außengrenzüberschreitende Abkommen und Kooperationen, aber auch in ferneren Regionen durch Krisenprävention, Konfliktlösung und Partnerschaften Verantwortung übernehmen. Gemessen an den hochgesteckten Zielen der neuen EU-Kommission unter ihrer neuen Präsidentin Ursula von der Leyen, die sich neuerdings für viele Beobachter und Insider gar nicht so überraschend als eine ‚geopolitische‘ Institution der Union verstehen will, zeichnen sich – clausula rebus sic stantibus – Prioritäten bereits deutlich ab. Von außen bzw. an den Peripherien und Rändern drohen der EU eine Reihe von Gefahren. Den Krieg in der Ostukraine zu einem Ende zu bringen, scheint die nachbarschaftsund sicherheitspolitisch verantwortungsgemeinschaftliche Aufgabe Nummer eins. Das setzt auch Austausch und Verständigung voraus, um eine Normalisierung der Beziehungen zur Russischen Föderation zu erzielen. Dies ist nur möglich unter der Voraussetzung, dass ihre Führung sich weiterer Bestrebungen zur Schwächung, Spaltung und Zerstörung der EU enthält, wofür allerdings auch in ein geregeltes und für beide Seiten fruchtbringendes Verhältnis einzutreten wäre. Das jedoch bedarf von Seiten der EU und ihrer Mitglieder großer verantwortungsgemeinschaftlicher Anstrengungen. Gerade den mittelosteuropäischen Ländern, besonders mit Blick auf die baltischen Staaten und Polen, die aufgrund der leidvollen Erfahrungen mit der Sowjetunion im Zeichen des Hitler-Stalin-Paktes (1939) und des Kriegsgeschehens (1939–1945) Annexionen, Deportationen, Repressionen sowie Teilung, Unterdrückung und Zerstörung erfahren haben, würde dies viel Überwindung abverlangen. So wird insbesondere auch von russischer Seite viel Vertrauensbildung notwendig sein. Deutschland kann und wird hierbei eine Schlüsselrolle zur Vermittlung und Verständigung zukommen, auch ganz im Sinne von historischem Verantwortungsbewusstsein und politischer Verantwortungsübernahme für seine Angriffskriege gegen Polen und die Sowjetunion sowie im Zuge der dabei begangenen nationalsozialistischen Verbrechen. Das Thema Europäische Verteidigungsunion ist infolge der äußeren Bedrohungen und Gefährdungen auf der Tagesordnung der EU ganz oben angesiedelt. Das geschieht seit 2017 mit der Permanent Structural Cooperation (PESCO), einem bereits in Ansätzen zukunftsweisenden Projekt zur Koordination der Rüstungsindustrien Europas mit einem intergouvernemental angelegten europäischen Verteidigungsfonds. Es handelt sich hier um ein neues Vorhaben, welches mit dem Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich (2016), der Aufgabe der Blockade und dem Rückzug seitens der Briten von diesem Unternehmen, Fahrt aufgenommen hat: Außer Dänemark, Malta und Zypern sind die restlichen 24 EU-Mitglieder alle an Bord dieses Projekts, um die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, wie sie auf Deutsch ausgeschrieben wird, auf dem Militär- und Rüstungssektor neben und unabhängig von der NATO zu ermöglichen.
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Was die labilen Außenräume angeht, ist auch auf die Frage des sogenannten „Westbalkans“ zu verweisen.3 Die EU-Integration der dortigen Staaten (in alphabetischer Reihenfolge: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Nord-Mazedonien, Serbien) wird ohne die vollständige Anerkennung des Kosovo seitens aller EU-Mitglieder und mit der anhaltenden französischen Verweigerung des Abschlusses von Verhandlungen mit diesen Ländern nicht gelingen. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron betreibt hier eine alles andere als europäisch zu nennende Verantwortungspolitik.4 Dieser Raum ist neben der Ukrainefrage der europäische Verantwortungsraum Nummer eins – nicht Afghanistan oder Mali! –, zumal am Westbalkan bereits China, Russland, die Türkei und Saudi-Arabien Einfluss genommen haben und entsprechend präsent sind. Nicht zuletzt ist aus Sicht Europas und der EU auf die Türkei als einem eigenen Problemkomplex zu verweisen, die seit dem autoritären Kurs der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan ausgehend von der EMRK nicht mehr europakompatibel agiert. Das ist als eine berechtigte Frage aufzuwerfen, zumal das Land am Bosporus seit 1949 dem Europarat angehört. Die Türkei führt einerseits einen Kampf und Krieg gegen die pauschal als ‚Terroristen‘ und ‚Staatsfeinde‘ qualifizierten Kurden inner- und außerhalb des Landes, versorgt andererseits durch den 2016 abgeschlossenen Flüchtlingspakt mit der EU über drei Millionen Kriegsmigranten aus Syrien und hält damit weitere Zuwanderung von Europa fern. Aufgrund dieser Konstellation ist ein Abhängigkeitsverhältnis seitens der EU und v. a. seitens der von der Immigration besonders betroffenen südosteuropäischen und mitteleuropäischen Staaten von der Türkei entstanden, das Erpressungspotential mit sich bringt und von der Führung in Ankara auch so ungeniert wie ungeschminkt artikuliert wird. Die Verantwortung europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist daher umso mehr gefordert. Sie impliziert eine gehaltvolle und nachhaltige Rekonstruktions- und Stabilisierungspolitik im Mittleren wie im Nahen Osten, um den Massen an Kriegsmigranten wieder eine erträgliche und sinnvolle Perspektive für eine Rückkehr in die Herkunftsländer als ihre Heimat zu ermöglichen. Das bedeutet auch eine viel stärkere postkoloniale Verantwortungsübernahme seitens der Europäer. Wie weit hierfür die finanziellen, personellen und strukturellen Kapazitäten aktivierbar und zu stemmen sind, ist mehr als fraglich. Von der EU und ihren Institutionen allein kann diese Megaaufgabe sicher nicht erfüllt werden. In Zusammenhang mit der Migrationsfrage, die bereits vor Jahrzehnten als ein Weltflüchtlings- und gleichzeitig auch als ein Weltordnungsproblem von historisch geleiteter,
3 Ein in Hildesheim zu diesem Thema gehaltener und von den Herausgebern erbetener Beitrag von Andreas Maurer wurde leider nicht mehr für den Druck geliefert. Nord-Mazedonien und Serbien schienen zuletzt die besten Beitrittsaussichten zu haben, während in den anderen Kandidatenländern noch erhebliche Defizite bestehen wie die Fragen der erfolgreichen Bekämpfung von tiefgehenden Korruptionserscheinungen und der Rechtsstaatlichkeit. 4 Streit über neue EU-Mitglieder, Frankreichs fatale Blockade, https://www.spiegel.de/politik/ausland/eukeine-einigung-zu-beitritt-von-westbalkan-staaten-a-1297300.html (abgerufen am 15.12.2019).
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klug abwägender und weit vorausschauender Politikwissenschaft erkannt und erklärt,5 von der Politik allerdings glatt ignoriert worden ist, wird auch zunehmend die Klimafrage im Zusammenhang diskutiert. Mit der Zielsetzung der Klima-Neutralität für Europa im Jahre 2050 hat sich die neue EU-Kommission ein weiteres äußerst ambitioniertes Ziel gesteckt. Solange jedoch China und die USA vergleichbar bescheidene Klimaschutzziele verfolgen oder gar glatt ignorieren, ist der Kampf gegen den Klimawandel und für den Umweltschutz allein auf europäischer Ebene weder aussichtsreich noch auf globaler Ebene durchgreifend genug. Immerhin kann aber die EU als Inspirationsquelle, Impulsgeber und somit gleichzeitig als Modell, Vorreiter und Vorbild im Sinne eines „Leading Facilitators“ (Harnisch) dienen, v. a. hinsichtlich klimafreundlicher und umweltschonender innovativer Technologien. Viel enger mit der Migrationsfrage ist für die EU selbst die Frage des sozialen Friedens in ihren Mitgliedstaaten verknüpft. Wenn die eine Herausforderung nicht annähernd bewältigt wird, kann schwerlich die andere Problematik gelöst werden. Für die Union ist die Binnenwanderung von Arbeitssuchenden in prosperierende EU-Länder, vor allem auch von Jugendlichen, ein schwerwiegender Verantwortungsbereich. Eine europäische Sozialunion ist noch in weitester Ferne, aber eine Stärkung des Europäischen Sozialfonds (EFS) wie auch die Einleitung von mehr gemeinschaftlich schützenden Vorkehrungen auf europäischer Ebene für die Arbeitslosen könnten erste Schritte auf dem Weg sein, um im Sinne von Gemeinschaftsverantwortung den sozialen Zusammenhalt zu sichern. Weniger praktisch ist es, Sozialleistungen zentral zu steuern. Einen europäischen Mindestlohn EU-weit durchzusetzen, erscheint auch aufgrund der realwirtschaftlichen Unterschiede der Mitglieder unrealistisch. Grundsätzliche Sozialversicherungsregelungen könnte man jedoch harmonisieren und vereinheitlichen, aber auch hier existieren stark national gewachsene Strukturen, die nicht einfach zu überwinden sind. Wenn jedes EU-Mitglied vernünftig agieren würde, wäre es ein weit geringeres Problem. Die Kohäsion im Großen hat seit Jahrzehnten EU-weit nicht auf allen Ebenen sehr überzeugend funktioniert. Wichtiger erscheint der Auf- und Ausbau weiterer binnengrenzüberschreitender sinnvoller Infrastrukturen im Sinne einer Transportunion durch mehr Schnellzugverbindungen oder im Bereich der Energieversorgung etc. nach dem Motto: „Wenn die Wirtschaft sich gut weiterentwickelt, kann auch der sozialen Entwicklung gedient werden.“ All die aufgezeigten Herausforderungen und damit verbundenen Aufgaben können nur ansatzweise angenommen und bewältigt werden, wenn ein europäischer Finanzfrieden hergestellt wird. Was heißt das konkret? Weit weniger die EU, sondern ihre Gründungs- und später hinzugekommenen Mitglieder, also Europas Nationalstaaten, sind hier in der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, und zwar dergestalt, dass sie mehr Kompetenzen abzutreten und auf die EU-Ebene zu übertragen haben, die sie selbst im nationalen Alleingang und 5 Ludger Kühnhardt, Die Flüchtlingsfrage als Weltordnungsproblem. Massenzwangswanderungen in Geschichte und Politik, Wien 1984.
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für sich ohnehin nicht mehr effektiv genug einsetzen können. V. a. aber werden sie mehr Ressourcen bereitstellen müssen, um mehr Handlungs-, Gestaltungs- und Steuerungsfähigkeit der EU zu ermöglichen. Das bedeutet zu guter Letzt, dass eben in erster Linie die EUMitglieder nicht ihre eigenen einzel- und nationalstaatlichen Interessen noch mehr, sondern ihre gemeinschaftlichen Interessen als vorrangig begreifen und definieren müssen. Sie sind es, die die Hauptverantwortung dafür tragen, dass die EU funktionsfähig bleibt und damit auch fortexistieren kann. Hierbei stellt sich auch eine Bildungs- und Vermittlungsaufgabe, um ein breiteres und besseres Verständnis europäischer Bevölkerungen über die EU zu ermöglichen. Eine Didaktik und eine politische Bildung hinsichtlich der europäischen Integration6 sind daher als ein weiteres wichtiges Ziel im Sinne europäischer Verantwortungspolitik anzuführen. Mit der weitverbreiteten Ahnungslosigkeit, sehr vagen Vorstellungen und Unkenntnis über die EU lässt es sich nicht seriös über sie als Verantwortungsgemeinschaft im mitgliedstaatlichen Kontext diskutieren. Fundiertes Grundlagenwissen wollte dieser Band daher zur Verfügung stellen.
6 Ein in Hildesheim zu diesem Thema gehaltener und von den Herausgebern erbetener Beitrag von Monika Oberle wurde leider nicht mehr für den Druck geliefert.
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Autorinnen und Autoren
Michael Gehler, Prof. Dr., ist Professor und Leiter des Instituts für Geschichte der Universität Hildesheim sowie Inhaber eines ‚Jean Monnet Chairs‘, verliehen durch die Europäische Kommission der Europäischen Union. Konstantin Gerbrich, Pia Holstein und Anna-Lena Lorenz leiten seit 2017 als jüngstes Organisationsteam in Europa die Hildesheimer Ortsgruppe von Pulse of Europe. Danielle Gluns, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für SozialwissenschaftPolitikwissenschaft und Leiterin der Forschungs- und Transferstelle Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Sebastian Harnisch, Prof. Dr., ist Inhaber der Professur für Internationale Beziehungen und Außenpolitik im Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg. Bernhard Koch, Dr., ist stellvertretender Direktor des Instituts für Theologie und Frieden in Hamburg. Alexander Merkl, Prof. Dr., ist Juniorprofessor für Theologische Ethik im Institut für Katholische Theologie der Universität Hildesheim. Werner Müller-Pelzer, Dr., war zwischen 1990 und 2014 Dozent für Wirtschaftsfranzösisch und Wirtschaftsspanisch im Fachbereich Wirtschaft der Fachhochschule Dortmund. Seit 2011 leitet er über seine Pensionierung hinaus die Forschungsstelle für interkulturelle und europäische Studien. Jürgen Nielsen-Sikora, PD Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und z. Z. in Vertretung Leiter des Hans Jonas-Instituts der Universität Siegen. Beatrix Niemeyer, Prof. Dr., ist Inhaberin der Professur für Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Europa-Universität Flensburg. Peter Nitschke, Prof. Dr., ist Inhaber der Professur für Wissenschaft von der Politik der Universität Vechta. Peter Pichler, Dr., arbeitet als Zeithistoriker in Forschung und Lehre an der Universität Graz.
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Autorinnen und Autoren
Godelieve Quisthoudt-Rowohl, Prof. Dr., ist Honorarprofessorin im Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim und war von 1989 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und lange Mitglied im Ausschuss für internationalen Handel. Hannes Schammann, Prof. Dr., ist Inhaber der Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Migrationspolitik an der Universität Hildesheim. Kai Schinke, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Katholische Theologie der Universität Hildesheim. Marco Schrage, Dr., ist Projektleiter im Institut für Theologie und Frieden in Hamburg. Wolf J. Schünemann, Prof. Dr., ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politik und Internet an der Universität Hildesheim. Thomas Spielbüchler, Dr., ist Senior Lecturer im Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Linz. Martina Vetrovcova, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg. Silvio Vietta, Prof. em. Dr., war Inhaber der Professur für Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Hildesheim. Philipp von Wussow, PD Dr., ist Projektleiter im Institut für Theologie und Frieden in Hamburg. Joachim Wiemeyer, Prof. Dr., ist Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
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Personenregister Adenauer, Konrad 56, 128, 152, 159 Alighieri, Dante 340, 352 Ambrosius 349 Anaximenes 103 Apel, Karl-Otto 15, 33 – 35 Aristoteles 52, 349 Arnold, Guy 192 Augustinus 339 Austin, John L. 335 Bahr, Egon 152, 154, 157 Banner, Helene 404 Barley, Katharina 400, 403, 404 Barnier, Michel 404 Barthes, Roland 351 Bauer, Thomas 342 Baumann, Zygmunt 58 Beck, Ulrich 93 Beck, Valentin 39 Beer, Nicola 400 Behrndt, Nils 403, 405 Bertram, Ute 397 Betz, Joachim 368 Bloch, Ernst 35, 387 Böhler, Dietrich 35 Bolsonaro, Jair 372 Bosch, Gerhard 297 Bosch, Hieronymus 94 Bouchards, Gérard 68 Bourdieu, Pierre 350 Brandt, Willy 69, 154, 157, 159, 185 Brecht, Bertolt 98 Brinkmann, Markus 402 Bruegel (der Ältere), Pieter 339, 340 Brundtland, Gro Harlem 72 Brzeziński, Zbigniew 155 Buchanan, James M. 52 Bush, George H. W. 159 Bush, George W. 161, 366 Butler, Judith 349
Carter, Jimmy 155, 156 Chruschtschow, Nikita S. 152, 177, 338 Churchill, Winston S. 150, 164, 172 – 174 Cicero 343 Clark, Christopher 26 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus 174 Darwin, Charles 341 Dawkins, Richard 118 De Elero, Alvaro 405 De Gasperi, Alcide 128 De Gaulle, Charles 56, 120, 128, 136, 159, 179, 412 Demokrit 103 Descartes, René 31, 103 Dulles, John Foster 152 Dullien, Sebastian 304 Düpont, Lena 404 Durkheim, Émile 108, 113 Eco, Umberto 352, 354 Eisner, Kurt 258 Ekardt, Felix 111, 112 Elgström, Ole 376 Eller, Vernard 201 Etzioni, Amitai 52, 53 Feuerbach, Ludwig 118 Fichte, Johann Gottlieb 69, 80 Fichtner, Ferdinand 304 Fischer, Joschka 109, 397 Foch, Ferdinand 149 Franklin, Benjamin 351 Franziskus, Papst 289, 301, 302 Freericks, Michael 403, 404 Gabriel, Sigmar 401 Galilei, Gallileo 103 Garton Ash, Timothy 155 Gehler, Michael 9, 17, 87, 101, 399 Genscher, Hans-Dietrich 157 – 159
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Personenregister George, David Lloyd 148 Gerbrich, Konstantin 10, 396, 397, 399 – 403, 405, 407 Giegold, Sven 400 Giscard d’Estaing Valéry 156 Gluns, Danielle 19 Goethe, Johann Wolfgang 349 Goodharts, David 347 Gorbatschow, Michail S. 157, 160, 162 Großheim, Michael 64 Gruhn, Isebill V. 183, 184 Haarmann, Hermann 101 Habermas, Jürgen 15, 33, 34, 40, 52, 107, 120 Haeffner, Gerd 353 Hallstein, Walter 181 Handke, Peter 351 Hänsch, Klaus 399 Harari, Yuval N. 339 Harnisch, Sebastian 21, 415 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 118 Heidegger, Martin 62, 103 Heimbach-Steins, Marianne 264, 273 Heraklit 103 Herodot 103 Herzog, Roman 316 Hitler, Adolf 149, 333, 413 Hobbes, Thomas 52, 114, 116, 117, 347, 363 Hofer, Andreas 333, 351 Holstein, Pia-Marie 396, 403, 405, 407 Holtz, Ottmar von 397 Honé, Birgit 402, 403 Hösle, Vittorio 15, 32, 33 Houphouët-Boigny, Félix 182 Hume, David 74, 118 Huntington, Samuel 119 Hussain, Junaid 221 Jacobs, Hendrik 397 Jamaa, Hirsi 251 Johannes Paul II., Papst 301 Johnson, Boris 404, 405 Jonas, Hans 15, 30 – 33, 35 – 38 Juncker, Jean-Claude 37, 142, 171, 286, 404, 405 Jünger, Ernst 146 Justenhoven, Heinz-Gerhard 10
Kant, Immanuel 15, 28 – 30, 33, 36, 52, 133, 145, 261, 333, 363 Kaplan, Robert D. 113 Kara, Orhan 397 Kennedy, John F. 152 Kettemann, Matthias C. 312 Kissinger, Henry 156 Kleinwächter, Wolfgang 312, 314 Knabe, Hubertus 112 Koch, Bernhard 21 Kohl, Helmut 134, 158, 160 Kölderer, Jörg 333 Kopernikus, Nikolaus 103 Körtner, Ulrich H. J. 270 Koselleck, Reinhart 96 Koufa, Amadou 198 Kreisky, Bruno 156 Krumeich, Gerd 149 Kuban, Tilman 402 Kühnhardt, Ludger 167 Küsters, Hanns Jürgen 143, 151, 152, 158 Leibniz, Gottfried Wilhelm 103, 127 Le Pen, Marine 135 Lessenich, Stephan 39 Leyen, Ursula von der 37, 413 Locke, John 52, 114, 363 Lorenz, Anna-Lena 396, 403, 405, 407 Macmillan, Margaret 163 Macron, Emanuel 25, 26, 38, 40, 49, 164, 414 Mahler, Gustav 351 Marias, Javier 337, 338 Marx, Karl 108 Maximilian I., Kaiser 333 Mayer, Hartmut 361 Mayer-Schönberger, Viktor 321 Mazuri, Ali A. 173 McAllister, David 402 Merkel, Angela 161, 164 Merkl, Alexander 9, 19, 399 Metzger, Wolfgang 74 Meyer, Ingo 10, 403 Mitterrand, François 160 Modi, Narendra 369, 376 Monnet, Jean 128 Montesquieu 114
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Personenregister Morrison, Toni 345 Morus, Thomas 351 Müller-Pelzer, Werner 15, 16 Napoleon Bonaparte 68, 107 Napoleon III. Bonaparte 145 Negt, Oskar 386 – 388 Niakan, Kathy 39 Nida-Rümelin, Julian 265 Nielsen-Sikora, Jürgen 10, 15 Niemeyer, Beatrix 22 Nietzsche, Friedrich 49, 62, 118 Nimica, Neven 404 Nitschke, Peter 10, 17 Nkrumah, Kwame 182 Noack, Johannes 404 Novalis (Georg Philipp Friedrich von Hardenberg) 335 Obama, Barack 165, 366 Oberle, Monika 10 Oel, Matthias 404 Orwell, George 21, 344, 347 Ott, Konrad 19, 264, 268, 270 – 272 Patel, Kiran Klaus 87, 90, 91 Paulus, Apostel 299, 349 Perikles 115 Peter, Matthias 157, 158 Pettit, Philip 52 Pichler, Peter 16 Pichon, Stéphen 150 Pohlmann, Christoph 10 Pörksen, Bernhard 40, 41 Quisthoudt-Rowohl, Godelieve 10, 20 Randers, Jochen 111 Rawls, John 52, 302 Reiner, Benjamin 405 Ricardo, David 108 Röder, Daniel 391, 393, 395 Röder, Sabine 391, 393, 395 Roosevelt, Franklin D. 149, 150, 164, 172, 173 Roth, Michael 400, 402 Rousseau, Jean-Jacques 51, 52, 114
Sacharow, Andrej 155 Sachs, Jeffrey 112 Sandel, Michael 52 Sarkozy, Nicolas 161 Schammann, Hannes 10, 19 Scheel, Walter 154 Schinke, Kai 9 Schleiermacher, Friedrich 105 Schlögel, Karl 385, 388 Schmale, Wolfgang 58, 68, 88 Schmidt, Helmut 156, 158 Schmitz, Hermann 53, 54, 59, 61 – 64, 66, 69, 72 – 74, 80 Schrage, Marco 18 Schulz, Martin 143 Schuman, Robert 94, 128, 139 – 141, 175, 181 Schünemann, Wolf J. 20 Searle, John 335, 353 Senges, Max 312 Senghor, Leopold Sedar 178, 182 Singer, Peter 36 Skinner, Quentin 52 Sloterdijk, Peter 68, 69, 82 Smith, Adam 52, 108 Snell, Bruno 62 Snowden, Edward 318, 326 Solana, Javier 141, 142 Solschenizyn, Alexander 155 Sonnino, Sidney 148 Speich Chassé, Daniel 181 Spielbüchler, Thomas 10, 18 Staack, Michael 10 Stalin, Josef W. 140, 149, 150, 413 Steiner, George 341, 342, 347 Stoltenberg, Jens 134 Sturtewagen, Lioba 405 Suppan, Arnold 147 Tacitus 145 Taparelli dAzeglio, Luigi 206 Taylor, Charles 53 Terhechte, Antje 404 Thales 103 Thomas von Aquin 145 Thunberg, Greta 75, 76 Tönnies, Ferdinand 52 Trabant, Jürgen 21, 336
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Personenregister Truman, Harry S. 173 Trump, Donald 20, 113, 165, 228, 281, 284 – 286, 358, 359, 367, 372, 376, 392, 396 Utz, Peter 352 Vetrovcova, Martina 21 Vietta, Silvio 16 Voegelin, Eric 119 Waltz, Kenneth 359 Weber, Manfred 311, 312, 400 Weber, Max 15, 19, 29, 30, 257 – 265, 267, 268, 270, 272 – 274 Weidmann, Jens 48, 49
Weil, Stephan 402 Wendt, Alexander 362, 363 Westphal, Bernd 397, 402 Wiemeyer, Joachim 20 Wilmer, Heiner SCJ 401 Wilson, Woodrow 148, 164, 175 Wittgenstein, Ludwig 335 Wodsack, Frank 402 Wölken, Timo 404 Wussow, Philipp von 10, 18 Xenophanes 118 Xi Jinping 366 Zweig, Stefan 342
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Abkürzungsverzeichnis ACP AKP ASEAN ATF BASIC
African, Caribbean and Pacific Group of States Gruppe der afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten Verband Südostasiatischer Nationen (Association of Southeast Asian Nations) Advisory Task Force, Teil der EUTM Mission in Mali Gruppe von vier großen Schwellenländern – Brasilien, Südafrika, Indien und China BIP Bruttoinlandsprodukt BND Bundesnachrichtendienst BRD Bundesrepublik Deutschland BSI Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik CBDR & RC gemeinsame aber unterschiedliche Verantwortung (Common but Differentiated Responsibilities and Respective Capabilities) CCPA Kalifornisches Gesetz zum Schutz der Privatsphäre von Verbrauchern (California Consumer Privacy Act) CDU Christlich Demokratische Union CERT-EU Computer Emergency Response Team for the EU Institutions, Bodies and Agencies CSU Christlich Soziale Union CUPW Childrenʼs United Parliament of the World DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst DDR Deutsche Demokratische Republik DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DSGVO Datenschutzgrundverordnung EC3 Europäisches Zentrum zur Bekämpfung von Cyberkriminalität ECRML Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen EEAS Europäischer Auswärtiger Dienst (European External Action Service) EEF Europäischen Entwicklungsfonds EFS Europäischer Sozialfonds EFTA Europäische Freihandelsassoziation EGE Europäischen Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der Neuen Technologien EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EMRK Europäische Menschenrechtskonvention
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Abkürzungsverzeichnis
ENISA
Agentur der Europäischen Union für Cybersicherheit (European Union Network and Information Security Agency) EPZ Europäische Politische Zusammenarbeit ERASMUS Förderprogramm der Europäischen Union ERCC Zentrum für die Koordination von Notfallmaßnahmen (Emergency Response Coordination Centre) ESC Europäische Sozialcharta ETS EU-Emissionshandel (Emission Trading System) ETTF Education and Training Task Force, Teil der EUTM Mission in Mali EU Europäische Union EU INTCEN EU Intelligence Analysis Centre EUBAM EU Integrated Border Management Assistance EUCAP EU Capacity Building Mission in Mali EuGH Europäischer Gerichtshof EUMS INT Nachrichtendienstlicher Teil des Militärstabs der Europäischen Union (European Union Military Staff Intelligence Directorate) EUNAVFOR MED European Union Naval Force – Mediterranean EUR Euro EURATOM Europäische Atomgemeinschaft EURODAC Europäisches Fingerabdruck-Identifizierungssystem (European Dactyloscopy) EUROPOL Europäisches Polizeiamt, Polizeibehörde der Europäischen Union EUSFTA Europäisches Freihandelsabkommen mit Singapur (EU-Singapore Free Trade Agreement) EUTM Militärmission der Europäischen Union als Beitrag zur Ausbildung der malischen Streitkräfte (European Union Training Mission Mali) EUV EU-Vertrag EVG Europäische Verteidigungsgemeinschaft EVP Europäische Volkspartei EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EZU Europäischen Zahlungsunion FAMa Streitkräfte Malis (Forces Armées Maliennes) FDP Freie Demokratische Partei FRONTEX Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache FWF Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung GAM Gesamtansatz zur Migrationsfrage GAMM Gesamtansatz für Migration und Mobilität GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GATT Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tariffs and Trade)
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Abkürzungsverzeichnis
GCCA GEAS GESVP GUS HP Hybrid CoE
Globale Allianz gegen den Klimawandel (Global Climate Change Alliance) Gemeinsames Europäische Asylsystem Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Europäische HausParlamente Europäisches Exzellenzzentrum zur Bekämpfung hybrider Bedrohungen (European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats) IAPP International Association of Privacy Professionals ILO Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization) INF Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) IOM Gruppe von Volksvertretern aus den französichen Kolonien (Indépendants d’Outre-Mer) ISIS sogenannter ‚Islamischer Staat‘ IWF Internationaler Währungsfonds JEFTA Freihandelsabkommen der EU mit Japan KI Künstliche Intelligenz KORUS Koreanisch US-Amerikanisches Freihandelsabkommen KSZE Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa KTC Multinationales Trainingscamp der EUTM Mission in Mali (Koulikoro Training Camp) LIBE Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs) LKA Landeskriminalamt MINUSMA Multidimensionale Integrierte Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali (United Nations Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali) MWK Niedersächsisches Ministerium für Wissenschaft und Kultur NAFTA Nordamerikanisches Freihandelsabkommen (North American Free Trade Agreement) NATO Nordatlantische Vertragsorganisation (North Atlantic Treaty Organization) NEET not in employement, education or training NSA National Security Agency OAU Organisation der Afrikanischen Einheit (Organisation of African Unity) OEEC Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for European Economic Co-operation) OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa PESCO Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation) PISA internationale Schulleistungsuntersuchungen PJZS polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
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PNR SDGs SED SIS-II SPD TPP TTIP UdSSR UN UNESCO UNFCCC UNHCR USA VIS WTO
Richtlinie zur Verwendung von Fluggastdatensätzen (Passenger Name Record) Ziele für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Schengener Informationssystem Sozialdemokratische Partei Deutschlands Transpazifische Partnerschaft Transatlantisches Freihandelsabkommen (Transatlatic Trade and Investment Partnership) Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Vereinte Nationen (United Nations) Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) UN-Klimarahmenkonvention (United Nations Framework Convention on Climate Change) Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees ) Vereinigte Staaten von Amerika (United States of America) Visa-Informationssystem Welthandelsorganisation (World Trade Organization)
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ARBEITSKREIS EUROPÄISCHE INTEGRATION. HISTORISCHE FORSCHUNGEN. VERÖFFENTLICHUNGEN Band 11: Michael Gehler | Silvio Vietta | Sanne Ziethen (Hg.) Dimensionen und Perspektiven einer Weltgesellschaft Fragen, Probleme, Erkenntnisse, Forschungsansätze und Theorien 2084. 520 Seiten, gebunden € 90,00 D | € 93,00 A ISBN 9978-3-205-20627-9 eBook: € 74,99 D | € 77,10 A ISBN 978-3-205-20207-3 Band 10: Reiner Arntz | Michael Gehler | Mehmet Tahir Öncü (Hg.), Die Türkei, der deutsche Sprachraum und Europa Multidisziplinäre Annäherungen und Zugänge 2014.540 Seiten, 10 s/w-Abb., 31 Tab. und Grafiken, gebunden € 75,00 D | € 77,00 A ISBN 978-3-205-79469-16 Band 9: Thomas Fischer | Michael Gehlen (Hg.) Tür an Tür / Next Door Vergleichende Aspekte zu Schweiz, Liechtenstein, Österreich und Deutschland | Aspects in comparison of Switzerland, Liechtenstein, Austria and Germany 2013. 375 Seiten, 17 Tab. und Grafiken, geb. € 55,00 D | € 57,00 A ISBN 978-3-205-79464-6
Band 8: Michael Gehler | Maddalena Guiotto (Hg.) Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa / Italy, Austria and the Federal Republic of Germany in Europe Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart/A Triangle of Mutual Relations and Perceptions from the Period 1945-49 to the Present 2012. 670 Seiten, gebunden € 90,00 D | € 93,00 A ISBN 978-3-205-78545-3 Band 7: Michael Gehler | Silvio Vietta (Hg.) Europa - Europäisierung - Europäistik: Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte 2009. 543 Seiten, 6 s/w-Abb., gebunden € 75,00 D | € 78,00 A ISBN 978-3-205-78388-6 Band 6: Michael Gehler | Wolfram Kaiser | Brigitte Leucht (Hg.) Netzwerke im europäischen Mehrebenensystem. Von 1945 bis zur Gegenwart Networks in European Multi-Level Governance. From 1945 to the Present 2009. 282 Seiten, gebunden € 39,00 D | € 41,00 A ISBN 978-3-205-77745-8
Preisstand: 1.1.2020
DIE DEUTSCHE EINHEIT WIRD ERSTMALS AUS GESAMT-EUROPÄISCHER PERSPEKTIVE IN DEN BLICK GENOMMEN
Michael Gehler / Maximilian Graf (Hg.) Europa und die deutsche Einheit Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen 2017. 848 Seiten mit 1 Schaubild, gebunden € 60,00 D | € 62,00 A ISBN 978-3-525-30186-9 eBook: € 49,99 D | € 51,40 A ISBN 978-3-647-30186-0
Auf den ersten Blick gehört die deutschen Einheit zu den am besten aufgearbeiteten Kapiteln der jüngsten Zeitgeschichte, jedoch fokussierte die bisherige Forschung vor allem auf die innerdeutsche Dimension und auf die internationale Durchsetzung der Einheit. Dabei standen insbesondere die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und einige Nachbarstaaten im Mittelpunkt. Dieser Band untersucht die »Wiedervereinigung« erstmals aus einer gesamteuropäischen Perspektive und gliedert sich in regional- und bündnisbedingte Themenblöcke (Vier Mächte, Neutrale und NATO-Staaten, Skandinavien, Benelux-Staaten, Mittel- und Osteuropa, Südeuropa). Zudem wird auch die Rolle transnationaler Parteiennetzwerke thematisiert. Die einzelnen Länderstudien skizzieren das Verhältnis des jeweiligen Landes zu den beiden deutschen Staaten vor 1989/90. Länderspezifische Schwerpunktsetzungen machen deutlich, wie divers die deutsche Einheit aus den jeweiligen nationalen Blickwinkeln wahrgenommen wurde und wie sehr diese bis heute das Deutschlandbild (mit)prägen. Vor dem Hintergrund der Vertiefung der europäischen Integration und der Erweiterung der EU wird ein Ausblick auf die Rolle des geeinten Deutschlands bis ins Europa unserer Tage gewagt.
Preisstand: 1.1.2020