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German Pages 194 [195] Year 2003
ANNA GROSSE WENTRUP
Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera und Detlef Merten
Band 97
Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten Eine Untersuchung am Beispiel von Art. 14 und Art. 16 EuGRC
Von Anna Große Wentrup
Duncker & Humblot . Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D6 Alle Rechte vorbehalten
© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11109-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster im Sommersemester 2002 als Dissertation angenommen. Für die Betreuung der Arbeit und die zügige Korrektur danke ich herzlich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Bodo Pieroth. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr. Johannes Hellermann für die Übernahme des Zweitgutachtens. Meinen Eltern danke ich für ihre Unterstützung, für ihr Vertrauen und für die Möglichkeiten, die sie mir eröffnet haben. Unter meinen Freunden gilt mein besonderer Dank Kora, die meine Arbeit trotz eigener Examensbelastung in kürzester Zeit gelesen hat und mit ihren stets den Punkt treffenden Verbesserungsvorschlägen eine wertvolle Hilfe war. Dank gebührt schließlich auch Torsten für die liebevolle Betreuung und für seine ansteckende Gelassenheit. Düsseldorf, im April 2003
Anna Große Wentrup
Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . .
13
I. Entstehungsgeschichte und Status der Grundrechtecharta .......................
13
11. Bedeutung eines Grundrechtekatalogs im System des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes ...........................................................
15
111. Gang der Arbeit ................................................................
17
A. Historischer Vergleich ............................................................
19
I. Die Nationalversammlung in der Paulskirche 1848 .............................
19
11. Die Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 ................................
20
1. Überblick ...................................................................
20
2. Gründe für den Verzicht auf Grundrechte... ... . ... . .. . . .. . . ... . .. . ... ... . .. .
21
a) Die Befürworter der Grundrechte im Reichstag...........................
21
b) Die Gegner der Grundrechte im Reichstag ...............................
22
c) Die Haltung der Nationalliberalen........................................
22
d) Die Haltung der einzelstaatlichen Regierungen ...........................
23
e) Die Haltung Bismarcks ..................................................
23
f) Zusammenfassung .................................... . ..................
25
m. Die Reichsgründung 1871
......................................................
25
1. Überblick ...................................................................
25
2. Gründe für den Verzicht auf Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
3. Die weitere Entwicklung ....................................................
26
IV. Bewertung der Debatten aus heutiger Sicht .....................................
28
B. Die Adressaten der Grundrechte .................................................
30
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene ...............................
30
1. Die Bindung der Union nach Art. 6 Abs. 2 EUV .............................
31
a) Die Bindung der Europäischen Union als Gesamtgebilde .................
31
6
Inhaltsverzeichnis aa) Rechtsnatur der Europäischen Union ................................
32
(1) Argumente für die Rechtsfähigkeit der Union....................
34
(2) Argumente gegen die Rechtsfähigkeit der Union ................
36
bb) Ergebnis ............................................................
40
b) Die Bindung der Europäischen Gemeinschaften ..........................
40
aa) Die Adressaten der Grundrechte.....................................
40
bb) Die Bedeutung der Grundrechtsbindung .............................
41
cc) Ergebnis ............................................................
42
c) Die Bindung innerhalb der zweiten und dritten Säule der Union..........
42
aa) Die Adressaten der Grundrechte .....................................
42
bb) Die Bedeutung der Grundrechtsbindung .............................
45
cc) Ergebnis ............................................................
46
d) Die Bindung internationaler Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit ..................................................................
46
aa) Die Adressaten der Grundrechte. . . .... . . ...... .. . ............ .... ...
46
bb) Ergebnis ............................................................
47
e) Ergebnis .................................................................
47
2. Die Bindung der Organe und Einrichtungen der Union nach Art. 51 Abs. 1 EuGRC .....................................................................
48
a) Die Bindung der Europäischen Gemeinschaften ..........................
48
b) Die Bindung innerhalb der zweiten und dritten Säule der Union ..........
48
c) Die Bindung internationaler Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit ..................................................................
49
d) Ergebnis .................................................................
49
3. Ergebnis ....................................................................
49
11. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten ...................................
49
1. Die bisherige Bindung ......................................................
50
a) Durchführung von Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
aa) Vollziehung von Verordnungen und unmittelbar anwendbaren Richtlinien................................................................
52
bb) Umsetzung von Richtlinien ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
(1) Umsetzung in nationales Recht..................................
54
(2) Ergebnis ........................................................
56
(3) Vollziehung des umgesetzten Rechts ............................
56
(4) Ergebnis ........................................................
56
cc) Ergebnis ............................................................
56
b) Einschränkung der Grundfreiheiten .............................. ;.......
57
aa) Die Auffassung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Inhaltsverzeichnis
7
bb) Die Gegenansicht
58
cc) Stellungnahme ......................................................
59
dd) Vennittelnde Lösungsvorschläge ....................................
61
(I) Gemeinschaftsgrundrechte als Mindeststandard .................
61
(2) Abgrenzung in Anlehnung an die Kompetenzverteilung .........
63
(3) Ergebnis ........................................................
64
c) Ergebnis .................................................................
64
2. Die Grundrechtsbindung nach Art. 51 Abs. 1 EuGRC .......................
65
a) Auslegung der Grundrechtecharta ........................................
65
b) Auslegung von Art. 51 Abs. 1 EuGRC ...................................
66
c) Ergebnis.................................................................
70
3. Ergebnis ....................................................................
70
IH. Endergebnis .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
c. Untersuchung einzelner Grundrechte
............................................
72
I. Status negativus: Art. 16 EuGRC ...............................................
74
1. Inhalt der Gewährleistung ...................................................
74
a) Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
74
aa) Grammatische Auslegung...........................................
74
bb) Teleologische Auslegung....... . ............. . ......................
75
cc) Systematische Auslegung ...........................................
78
(1) Berufsfreiheit nach Art. 15 EuGRC ..............................
78 78
(a) Die Berufsfreiheit in der Rechtsprechung des EuGH ......... (b) Die unternehmerische Freiheit in der Rechtsprechung des EuGH ... ........ ...... ............ .... .... .... .... .......... (c) Ergebnis.....................................................
81 83
(2) Abgrenzung zwischen Art. 15 und 16 EuGRC ...................
84
dd) Historische Auslegung ..............................................
85
(1) EuGH-Entscheidungen zur Berufsfreiheit .......................
85
(2) EuGH-Entscheidungen zur Vertragsfreiheit ......................
86
(3) Art. 4 Abs. 1 und 2 EGV ........................................
87
ee) Ergebnis ............................................................
87
b) "Anerkennung" der unternehmerischen Freiheit ..........................
88
aa) Grammatische Auslegung ...........................................
88
bb) Systematische Auslegung ...........................................
88
cc) Teleologische Auslegung............................................
89
8
Inhaltsverzeichnis c) "Nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" ..........................................
90
aa) Systematische Auslegung ...........................................
90
(I) Weitere Chartagrundrechte ......................................
91
(2) Abgrenzung zu Art. 52 Abs. 1 EuGRC .......................... (a) Gemeinschaftsrecht .......................................... (b) Einzelstaatliche Rechtsvorschriften .......................... (c) Einzelstaatliche Gepflogenheiten ............................ (d) Grenzen der Befugnis zur Schutzbereichsgestaltung ..........
92 92 94 95 96
bb) Teleologische Auslegung ............................................
99
cc) Ergebnis ............................................................
99
2. Wechselwirkungen zwischen Grundrechtsbindung und Kompetenzverteilung 101 a) Begrenzte Wirkung des Grundrechts infolge der Kompetenzverteilung ... 101 aa) Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten .. 101 bb) Kompetenzverteilung im Bereich des Wirtschaftsrechts .............. 102 cc) Ergebnis ............................................................ 103 b) Begründung neuer Gemeinschaftskompetenzen .......................... 104 aa) Implied-powers-Lehre ............................................... 105 bb) Art. 308 EGV ....................................................... 106 cc) Ergebnis ............................................................ 107 c) Beeinträchtigung bestehender Kompetenzen der Mitgliedstaaten ......... 108 aa) Grundrechte als materielle Kompetenzausübungsschranken .......... 109 (I) Vollziehung von Verordnungen und unmittelbar anwendbaren
Richtlinien ...................................................... 109
(2) Umsetzung von Richtlinien...................................... 110 (3) Einschränkung der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Beurteilung staatlicher Dienstleistungsmonopole nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Beurteilung staatlicher Dienstleistungsmonopole nach Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Ergebnis...................... . ................... . ..........
111 113 115 118
(4) Ergebnis ........................................................ 118 bb) Entgegenstehende Chartavorschriften .. .. . . .. . .. .. . . .. .. . . .. . . .. . .. .. 119 (I) Die Gestaltungsbefugnis der Mitgliedstaaten nach Art. 16
EuGRC ......................................................... 119
(2) Die eingeschränkte Grundrechtsbindung nach Art. 51 Abs. 1 EuGRC ......................................................... 119 (3) Ergebnis ........................................................ 120 d) Ergebnis............ ................. .. .................. .. .............. 120 3. Endergebnis zu Art. 16 EuGRC ............................................. 121
Inhaltsverzeichnis
9
II. Status positivus: Art. 14 EuGRC ............................................... 122 1. Inhalt der Gewährleistung................................................... 123 a) Sachlicher Schutzbereich ................................................ 123 aa) Recht auf Bildung nach Art. 14 Abs. I, 1. Alt. EuGRC .............. 123 (1) Abgrenzung zu Art. 14 Abs. 1,2. Alt. EuGRC ................... 123 (2) Art. 2 S. 1 EMRKIl. ZP ........................................ 125 (3) Ergebnis ........................................................ 126 bb) Recht auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung nach Art. 14 Abs. 1,2. Alt. EuGRC .................................. 126 cc) Recht auf unentgeltliche Teilnahme am Pflichtschulunterricht nach Art. 14 Abs. 2 EuGRC ............................................... 127 dd) Ergebnis ............................................................ 128 b) Funktionen des Grundrechts ............................................. 128 aa) Recht auf Bildung und auf unentgeltliche Teilnahme am Pflichtschulunterricht nach Art. 14 Abs. I, 1. Alt. und Abs. 2 EuGRC ............ 129 bb) Recht auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung nach Art. 14 Abs. 1,2. Alt. EuGRC .................................. 132 cc) Ergebnis ............................................................ 133 2. Wechselwirkungen zwischen Grundrechtsbindung und Kompetenzverteilung 133 a) Kompetenz zur Gewährleistung der Rechte aus Art. 14 Abs. 1 und 2 EuGRC .................................................................. 134 aa) Kompetenzverteilung im Bereich des Bildungswesens ............... 134 (1) Art. 149 und 150 EGV .......................................... 134
(a) Befugnisse der Gemeinschaft................................ 134 (b) Maßnahmen ................................................. 136 (2) Art. 40 EGV: Arbeitnehmerfreizügigkeit ........................ 137 (3) Art. 47 (i.V.m. Art. 55) EGV: Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit ................................................... 139 (4) Art. 12 EGV .................................................... 139 (5) Kompetenznormen aus anderen Politikbereichen ................ 140 (6) Art. 308 EGV ................................................... 141 (7) Ergebnis ........................................................ 143 bb) Kompetenz der Gemeinschaft zur Gewährleistung der Rechte aus Art. 14 Abs. 1 und 2 EGV ........................................... 144 (1) Recht auf Bildung und auf unentgeltliche Teilnahme am Pflichtschulunterricht nach Art. 14 Abs. I, 1. Alt. und Abs. 2 EuGRC .. (a) Teilhaberechtliche Funktion ................................. (b) Leistungsrechtliche Funktion ................................ (aa) Art. 149 EGV .......................................... (bb) Art. 40 EGV ........................................... (cc) Art. 308 EGV .......................................... (dd) Ergebnis ...............................................
144 144 145 145 146 147 148
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Inhaltsverzeichnis (2) Recht auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung nach Art. 14 Abs. 1,2. Alt. EuGRC ............................. 148 (3) Ergebnis ........................................................ 149 cc) Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 14 Abs. 1 und 2 EuGRC .. 149 (1) Vollziehung und Umsetzung von Gemeinschaftsrecht ............ 149 (2) Einschränkung der Grundfreiheiten .............................. 150 (3) Ergebnis ........................................................ 151 dd) Ergebnis ............................................................ 151 b) Begründung neuer Gemeinschaftskompetenzen .......................... 151 aa) Implied-powers-Lehre ............................................... 152 bb) Art. 308 EGV ....................................................... 154 (1) Art. 14 EuGRC als Zielbestimmung LS. von Art. 308 EGV ...... 154
(a) Auslegung von Art. 308 EGV ................................ 154 (b) Auslegung von Art. 14 EuGRC .............................. 156 (2) Übertragung der Schranken des Art. 149 EGV auf Art. 308 EGV 158 (3) Ergebnis ........................................................ 159 cc) Ergebnis ............................................................ 159 c) Beeinträchtigung bestehender Kompetenzen der Mitgliedstaaten ......... 160 aa) Grundrechte als materielle Kompetenzausübungsschranken .......... 161 (1) Vollziehung und Umsetzung von Gemeinschaftsrecht ............ 161
(2) Einschränkung der Grundfreiheiten .............................. 161 bb) Unbenannte Rechtsakte der Gemeinschaft........................... 163 (1) Inhalte und Bindungswirkung ................................... 164
(2) Rechtsgrundlagen ............................................... 166 cc) Ergebnis ............................................................ 168 d) Ergebnis................................................................. 168 3. Endergebnis zu Art. 14 EuGRC ............................................. 170 D. Schluß............................................................................. 171
1. Zusammenfassung der Ergebnisse .............................................. 171 11. Bewertung der Charta .......................................................... 172 1. Auswirkungen der Grundrechte auf die Kompetenzverteilung
173
2. Auswirkungen der Kompetenzverteilung auf die Grundrechte
176
3. Ergebnis .................................................................... 177 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 179 Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Abkürzungsverzeichnis Abg.
Abgeordneter
ABI.
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
BAG
Bundesarbeitsgericht
bzgl.
bezüglich
bzw.
beziehungsweise
CMLR
Common Market Law Review
ders.
derselbe
EG
Europäische Gemeinschaft
EGV I EG-Vertrag
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
Einl.
Einleitung
EKMR
Europäische Kommission für Menschenrechte
ESC
Europäische Sozialcharta
EU
Europäische Union
EuG
Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
EuGRC
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
EUV lEU-Vertrag
Vertrag über die Europäische Union
evtl.
eventuell
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
GA
Generalanwalt I Generalanwältin
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
gern.
gemäß
GW
Bismarck, Die Gesammelten Werke
HandwO
Handwerksordnung
HK
Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union
KOM
Kommissionsdokument
n.n.i.Slg.
noch nicht in der Amtlichen Sammlung
PIZS
Polizeiliche und Iustitielle Zusammenarbeit in Strafsachen
RTNDB
Reichstag des Norddeutschen Bundes
Schlußantr.
Schlußanträge
Slg.
Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes
s. o.
siehe oben
12
Abkürzungsverzeichnis
Spstr.
Spiegelstrich
u. a.
unter anderem
v.
vom
Verb. Rs.
Verbundene Rechtssachen
WVK
Wiener Vertragsrechtskonvention
z.B.
zum Beispiel
ZBn
Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres
ZP
Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
Hinsichtlich der übrigen Abkürzungen wird verwiesen auf: Kirchner, Hildebert. Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache. 4. Auflage. Berlin I New York 1993.
Einleitung I. Entstehungsgeschichte und Status der Grundrechtecharta Die Frage, ob die Europäische Union einen Grundrechtekatalog braucht und welchen Inhalt ein solcher haben könnte, ist in der europäischen Rechtsöffentlichkeit immer wieder Gegenstand von Diskussionen gewesen. Nachdem allerdings der Entwurf eines Katalogs, den das Europäische Parlament am 12. April 1989 vorgelegt hatte, nicht in die Verträge aufgenommen wurde, trat das Thema zunächst gegenüber aktuelleren Problemen wie der Vollendung des Binnenmarktes und der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion in den Hintergrund. Einen neuen Anstoß bekam die Diskussion, als auf der Tagung des Europäischen Rates am 3. und 4. Juni 1999 in Köln die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten die Ausarbeitung einer Charta der Grundrechte für die Europäische Union beschlossen. Auf der Basis dieser Einigung bestimmte der Europäische Rat von Tampere vier Monate später die Besetzung der für die Ausarbeitung des Entwurfs zuständigen Kommission und das zu beachtende Verfahren. Am 17. Dezember 1999 trat diese Kommission, die sich selbst als Konvent bezeichnete, erstmals zusammen. Der Konvent, dem der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog vorsaß, stellte in der Geschichte der europäischen Einigung im Hinblick auf seine Zusammensetzung ein Novum dar. Um möglichst viele widerstreitende Interessen berücksichtigen zu können und dem Entwurf größtmögliches Gewicht zu verleihen, wurde keine klassische Regierungskonferenz einberufen, sondern eine Versammlung von Abgesandten der europäischen Institutionen, der nationalen Parlamente und der Regierungen der Mitgliedstaaten. 1 Als Beobachter fungierten zwei Vertreter des Europäischen Gerichtshofs und zwei Vertreter des Europarates, von denen einer dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angehörte. Anzuhören waren schließlich der Wirtschafts- und Sozialausschuß, der Ausschuß der Regionen sowie der Europäische Bürgerbeauftragte. Bereits im Juli 2000 konnte der Konvent einen Entwurf einer Grundrechtecharta für die Europäische Union vorlegen. Dieses Dokument ist nach einigen geringfügigen Änderungen im Rahmen der Regierungskonferenz in Nizza am 7. Dezember 2000 feierlich proklamiert worden. Eine Aufnahme der Charta in den EU- oder den EG-Vertrag ist bislang allerdings noch nicht erfolgt. 1 Im einzelnen setzte sich der Konvent aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, einem Beauftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments sowie 30 Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammen.
2 Große Wentrup
14
Einleitung
Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob und inwieweit der Grundrechtecharta überhaupt schon rechtliche Bindungswirkung zukommen kann. Das Dokument ist zwar vom Europäischen Rat in Nizza am 7. Dezember 2000 feierlich proklamiert worden, eine Aufnahme in EU- oder EG-Vertrag ist bislang aber noch nicht erfolgt. Dennoch geht die Europäische Kommission davon aus, daß der EuGH die Chartagrundrechte schon jetzt als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ansehen und ihnen auf diese Weise rechtsverbindliche Wirkung zuerkennen wird. 2 Eine Stellungnahme des Gerichtshofs zu dieser Frage liegt zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar noch nicht vor. Gegen die Auffassung der Kommission spricht jedoch, daß sie im Widerspruch zur erklärten Absicht des Konvents und des Europäischen Rates steht? Der Konvent verfolgte bei seiner Arbeit einen "Als-ob-Ansatz", d. h. der Entwurf sollte so ausgearbeitet werden, daß eine Aufnahme in die Verträge ohne weitere Änderungen möglich wäre. 4 Diese Vorgehensweise zeigt, daß eine solche Integration in das Vertragswerk gerade als Voraussetzung für die Rechtsverbindlichkeit der Charta angesehen wurde. Auch der Europäische Rat hat bewußt die Handlungsform der "feierlichen Proklamation" gewählt, um der Charta noch keine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung zu verleihen. 5 Der Auffassung der Kommission kann daher nicht gefolgt werden. Einen überzeugenden Ansatz schlägt dagegen Kingreen vor: Zwar sei noch nicht zu erwarten, daß der EuGH die Charta als selbständige Rechtserkenntnisquelle für seine Grundrechtsrechtsprechung betrachten werde, da Art. 6 Abs. 2 EUV nicht auf sie verweise. Der Gerichtshof könne sie allerdings als Ausdruck der in dieser Vorschrift genannten gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen schon jetzt in seine Rechtsprechung einfließen lassen. 6 Diese Annahme wird durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichts Erster Instanz (EuG) gestützt. Das Urteil hatte einen Rechtsakt der Kommission zum Gegenstand, durch den die Beschwerde eines Unternehmens gegen eine Kommissionsentscheidung zurückgewiesen worden war. Streitig war, ob die Kommission diese Beschwerde in angemessenem Umfang überprüft hatte. In diesem Zusammenhang führte das Gericht aus: "Auf die sorgfältige und unparteiische Behandlung einer Beschwerde besteht ein Anspruch im Rahmen des Rechts auf eine geordnete Verwaltung, das zu den allgemeinen Grundsätzen des Rechtsstaats gehört, die den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Art. 41 Abs. 1 der am 7. Dezember 2000 in Nizza proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigt das.,,7 Im Anschluß daran gibt der EuG den Wortlaut von Art. 41 EuGRC wieder. 2 Mitteilung der Kommission zum Status der Grundrechtecharta der Europäischen Union, KOM (2000) 644, S. 6. 3 Kingreen in: Calliess I Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 40 a. 4 Mitteilung der Kommission zum Status der Grundrechtecharta der Europäischen Union, KOM (2000) 644, S. 4. 5 Schmitz, JZ 2001, 833 (834). 6 Kingreen in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 35 a, 40 b; ähnlich Pache, EuR 2001, 475 (486).
11. Bedeutung eines Grundrechtekatalogs
15
Das Gericht betrachtet die Charta also offenbar als Beleg für gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Der Ansatz Kingreens wird ferner durch die Praxis der Generalanwälte, zur Begründung ihrer Standpunkte auch auf Chartagrundrechte hinzuweisen8 , untermauert. Bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt entfaltet die Charta insofern mittelbar rechtliche Wirkungen. Dieser Zustand soll aber auch nach Auffassung des Europäischen Rates nur vorübergehend sein. Es ist Bestandteil des Mandats des seit dem 28. Februar 2002 tagenden Konvents zur Reform der Europäischen Union, über die Aufnahme der Charta in die Verträge zu verhandeln. 9 In welcher Form dies geschehen wird, ist allerdings noch nicht absehbar. lO Um grundrechtsdogmatische Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Charta ergeben könnten, konkret untersuchen zu können, wird auch dieser Arbeit ein "Als-ob-Ansatz" zugrunde liegen. Im folgenden wird vorausgesetzt, daß den Chartagrundrechten zukünftig die gleiche rechtliche Verbindlichkeit wie den im Wege der Rechtsfortbildung durch den EuGH entwickelten Gemeinschaftsgrundrechten zukommen wird.
11. Bedeutung eines Grundrechtekatalogs im System des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes Die Vorteile, die ein umfassender Grundrechtekatalog gegenüber dem bisherigen System des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes mit sich bringt, liegen auf der Hand. Die Gemeinschaftsgrundrechte sind im Wege der Rechtsfortbildung durch den EuGH entwickelt worden. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Entscheidung "Stauder" aus dem Jahr 1969, in der erstmals anerkannt wurde, daß auch die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehören. 11 Zur Ermittlung ihres Inhalts greift der Gerichtshof auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte zurück. 12 Die daraus folgende Ein7 EuG, Rs. T-54/99, 30. 01. 2002, Rn. 48, n.n.i.Slg. In einer älteren Entscheidung hatte das Gericht die Anwendbarkeit der Charta noch aus zeitlichen Gründen verneint; vgl. EuG, Rs. T-112198, 20. 02. 2001, Rn. 76, n.n.i.Slg. 8 Vgl. z. B. GA Jacobs, Schlußantr., Rs. C-377/98, 14.06.2001, Rn. 197,210, n.n.i.Slg.; GA Geelhoed, Schlußantr., Rs. C-413/99, 05. 07. 2001, Rn. 59, 110, n.n.i.Slg.; GA StixHackl, Rs. C-21O/OO, 27.11. 2001, Rn. 84, n.n.i.Slg. 9 Erklärung der Staats- und Regierungschefs auf der Gipfeltagung in Laeken vom 15. Dezember 2001, abgedruckt etwa in FAZ v. 18. 12.2001, S. 9. 10 Die Charta könnte vollständig in den EU-Vertrag oder einen künftigen Verfassungsvertrag aufgenommen werden, denkbar ist aber auch die Aufnahme eines Verweises auf das Dokument in Art. 6 Abs. 2 EUV. 11 EuGH, Rs. 29/69,12.11. 1969, Slg. 1969,419, Rn. 17. 12 EuGH, Rs. 11/70, 17. 12. 1976, Slg. 1970, 1125, Rn. 4; Rs. 4/73,14.05.1974, Slg. 1974,491, Rn. 13.
2*
16
Einleitung
zelfallabhängigkeit des Grundrechtsschutzes bringt es mit sich, daß für Grundrechtsberechtigte und -verpflichtete gleichermaßen Unsicherheit darüber besteht, welche Rechte mit welchem Inhalt existieren. Eine Katalogisierung bringt demgegenüber einen erheblichen Zuwachs an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit mit sich. 13 Zudem wird für den EuGH jedenfalls in dem Umfang, in dem die Grundrechte in die Charta aufgenommen sind, die komplizierte Ermittlung der Schutzbereiche erleichtert. 14 Nicht zuletzt trägt ein sichtbarer Grundrechtsschutz auch dazu bei, die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die EU gegenüber dem Bürger zu legitimieren. 15 Daß die Kodifizierung der Gemeinschaftsgrundrechte möglicherweise die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten beeinflussen könnte, wird dagegen sowohl als Vorteil als auch als Nachteil der Charta angesehen. Wahrend es teilweise positiv bewertet wird, daß die Zusammenfassung der Grundrechte in einem Dokument unter Umständen kompetenzverstärkende oder sogar -begründende Wirkung zugunsten der Gemeinschaft entfalten und so die europäische Integration vorantreiben könnte l6 , sehen andere darin die Gefahr einer schleichenden Verlagerung von Zuständigkeiten von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft und warnen vor staatlichen Souveränitätsverlusten 17 • Diese unterschiedliche Beurteilung möglicher Auswirkungen der Charta macht deutlich, daß die Grundrechtsfrage mit der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten einen sensiblen Punkt berührt. Die im Gemeinschaftsrecht vorgesehene Kompetenzordnung wird bestimmt von dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gern. Art. 5 EUV und Art. 5 Abs. 1 EGV. Nach diesem Grundsatz darf die Gemeinschaft nur dann rechtsetzend tätig werden, wenn sie durch die Verträge ausdrücklich dazu ermächtigt wird. Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten ist demnach der Normalfall, während die Kompetenz der Gemeinschaft stets einer speziellen Legitimation bedarf. 18 Auf diese Weise wird gewährleistet, daß die Mitgliedstaaten die Kontrolle über die Übertragung von Hoheitsrechten behalten. Trotz dieser an sich strikten Zuständigkeitsbegrenzung wird den Gemeinschaftsorganen aber immer wieder vorgeworfen, durch eine "exzessive Handhabung" ihrer Befugnisse eine Kompetenzverlagerung bis hin zu einem "völligen Bedeutungsverlust der Mitgliedstaaten" zu betreiben. 19 Angesichts dieses Konflikts wird auch der seit dem 28. Februar 2002 tagende Konvent zur Reform der Europäischen Union, der in seiner Zusammensetzung dem Grundrechtekonvent nachPe mice, NJW 1990,2409 (2418); Zuleeg, OÖV 1992,937 (944). Hoffmann, S. 75. IS Langguth, EuZW 1991,393 (394); Zuleeg, DÖV 1992,937 (944); Pemice, NJW 1999, 2409 (2418). 16 Hilf, S. 333; Koenig, EuZW 2000, 417. 17 Hirsch, NJW 2000, 46 (47); ders., FAZ v. 12. 10. 2000, S. 11; Tettinger; NJW 2001, 1010 (1014); Lindner;DÖV 2000,543 (549);Albers, S. 155 ff. 18 Jarass, AöR 121 (1996), 173 (175). 19 GolllKenntner; EuZW 2002,101 (102 ff.); SteinberglBritz, OÖV 1993,311 ff. 13
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III. Gang der Arbeit
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gebildet ist, vor allem darüber beraten, wie die Verteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten verdeutlicht und vereinfacht werden kann. Dabei soll nach einer gemeinsamen Erklärung der Staats- und Regierungschefs insbesondere gewährleistet werden, daß die Neuverteilung von Zuständigkeiten nicht zu einer "schleichenden Ausuferung der Zuständigkeiten der Union oder zu einem Vordringen in die Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und ( ... ) der Regionen" führt. 2o Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß die möglichen Auswirkungen der Grundrechtecharta auf die Kompetenzverteilung zwischen europäischer und nationaler Ebene nicht nur positiv bewertet werden.
111. Gang der Arbeit Im Rahmen dieser Arbeit soll untersucht werden, ob und inwieweit tatsächlich konkrete rechtliche Wechselwirkungen zwischen den Gewährleistungen der Charta und der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung bestehen. Dabei wird ein historischer Vergleich den Ausgangspunkt der Überlegungen bilden. Schon die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848 hat darüber diskutiert, ob die Schaffung von Reichsgrundrechten unitarisierende und integrierende Wirkung haben würde und ob eine solche Wirkung erwünscht wäre. 21 Diese Diskussion setzte sich anläßlich der Gründung des Norddeutschen Bundes im Jahr 1866 und der Reichsgründung 1871 mit dem Ergebnis fort, daß beide Verfassungen keinen Grundrechtekatalog enthielten. Die Untersuchung der Argumente, die von Befürwortern und Gegnern dieser Entscheidungen vorgebracht wurden, kann daher - bei aller Vorsicht, die bei einem solchen Vergleich angebracht ist - für die heutige Grundrechtsdiskussion aufschlußreich sein. Um die Wirkungen der Gemeinschaftsgrundrechte beurteilen zu können, muß zunächst geklärt werden, wer Adressat dieser Grundrechte ist. In Betracht kommen dabei sowohl die EU und ihre Organe als auch die Mitgliedstaaten selbst. Im Anschluß daran werden exemplarisch zwei Chartagrundrechte, die unternehmerische Freiheit gern. Art. 16 und das Recht auf Bildung gern. Art. 14 der Grundrechtecharta (im folgenden auch: EuGRC), auf ihre konkreten Wechselwirkungen mit der derzeitigen Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten untersucht. Dabei wird einerseits geprüft werden, ob die Grundrechte unabhängig von der Intention ihrer Verfasser tatsächlich geeignet sind, auf das zur Zeit existierende Kompetenzgefüge einzuwirken. Andererseits muß aber auch gefragt werden, inwieweit die Aufnahme dieser Rechte in die Charta angesichts der derzeitigen Kompetenzverteilung sinnvoll ist. 20 Erklärung der Staats- und Regierungschefs auf der Gipfeltagung in Laeken vom 15. Dezember 2001, abgedruckt etwa in FAZ v. 18. 12.2001, S. 9. 21 Hilf, S. 328; Hartung, S. 16.
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Einleitung
Abschließend wird eine Bewertung der Charta im Hinblick auf ihre Wechselwirkungen mit der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung vorgenommen. Anhand der Untersuchung der einzelnen Grundrechte und unter Berücksichtigung der historischen Parallelen wird beurteilt werden können, ob die Befürchtungen einer Kompetenzverschiebung zugunsten der Gemeinschaft berechtigt sind bzw. ob die Charta den von ihren Befürwortern erhofften Integrationsschub auslösen kann.
A. Historischer Vergleich I. Die Nationalversammlung in der Paulskirche 1848 Im April des Jahres 1848 hatte die Bundesversammlung des Deutschen Bundes Wahlen für eine Nationalversammlung angeordnet, die eine gesamtdeutsche Verfassung beraten sollte. Dieses Gremium trat am 18. Mai 1848 zur feierlichen Eröffnung in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Vom 3. Juli bis zum 12. Oktober 1848 beriet die Nationalversammlung in erster Lesung über die Aufnahme von Grundrechten in die Verfassung. Nach der Auffassung einer großen Mehrheit der Abgeordneten war ein umfassender Grundrechtekatalog unabdingbares Element einer gesamtdeutschen Verfassung. 22 Diese grundsätzliche Übereinstimmung führte neben anderen Gründen dazu, daß die Nationalversammlung mit der Beratung über den Grundrechtsteil der Verfassung begann und verfassungsorganisatorische Fragen zunächst zurückstellte. Man hielt die Grundrechte für ein vergleichsweise neutrales Gebiet, auf dem keine wesentliche Abweichung der Ansichten zu erwarten sein würde. 23 Sie sollten der Unterstützung des Einheitsverlangens dienen und die nationalstaatliche Integration fördern. 24 Man ging davon aus, daß auf Reichs- oder Bundesebene verankerte Grundrechte eine unitarisierende Wirkung entfalten würden 25 , die zum damaligen Zeitpunkt gerade erwünscht war. Die Grundrechte sollten "äußere Einheit und innere Einheitlichkeit,,26 bewirken und dem deutschen Partikularismus entgegenwirken 27 . Darüber hinaus wurden sie als Manifest gegen staatliche Willkür angesehen28 , mit dessen Hilfe der Feudalismus und der absolutistische Obrigkeits- und Polizeistaat in den Einzelstaaten beseitigt werden sollte29 . Die mit der Schaffung dieser Rechte verfolgten Ziele entsprachen insofern den Zielen der Revolution von 1848?O Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß das Projekt der Schaffung von Reichsgrundrechten insbesondere bei den Regierungen der größeren Einzelstaaten 22 23 24
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Ribhegge, S. 50 ff.; Valentin, S. 314; Nipperdey, S. 616. Huber, Bd. 2, S. 774 f. Hilf, S. 328. Hartung, S. 16; Hilf, S. 328. Kühne, S. 182. Siemann, S. 137; Nipperdey, S. 616. Hilf, S. 328. Ribhegge, S. 52; Nipperdey, S. 616; Huber, Bd. 2, S. 775. Nipperdey, S. 616.
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A. Historischer Vergleich
auf heftigen Widerstand stieß. Der Grundrechtsteil der Verfassung war nach einer zweiten Lesung als Einzelgesetz ohne die noch auszuarbeitenden staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen verabschiedet und am 27. Dezember 1848 im Reichsgesetzblatt verkündet worden. Mit dieser Verkündung traten die Grundrechte in Kraft und beanspruchten somit auch für die Landesstaatsgewalten Verbindlichkeit. Vor allem in Preußen, Bayern, Hannover und Österreich wurde dies als nicht hinnehrnbarer Eingriff in die eigene Autonomie empfunden. Man versuchte in diesen Staaten daher, das Inkrafttreten der Grundrechte dadurch zu verhindern, daß die Publikation des Reichsverkündungsgesetzes verweigert wurde. Zwar hatte diese landesrechtliche Verkündung nach geltender Rechtslage nur deklaratorische Wirkung, die Länder bestritten unter Hinweis auf die fehlende Publikation aber trotzdem die Wirksamkeit der Grundrechte in ihrem Territorium. 31 Der Streit zwischen Reichsinstanzen und den größeren Einzelstaaten wurde letztendlich nicht entschieden, da die Ablehnung der Kaiserkrone durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV., den die Nationalversammlung zum deutschen Kaiser gewählt hatte, das Scheitern der Paulskirchenverfassung und damit auch das Scheitern des ersten gesamtdeutschen Grundrechtekatalogs zur Folge hatte. Dennoch antizipiert der Konflikt bereits die Probleme, die dieses Thema in späteren Zeiten immer wieder mit sich bringen sollte.
11. Die Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 1. Überblick Im Jahr 1866 zerbrach der Deutsche Bund, und unter preußischer Führung entstand der Norddeutsche Bund als ein aus Preußen und 22 Mittel- und Kleinstaaten bestehender Bundesstaat nördlich des Mains. Auf der Grundlage des von der Frankfurter Nationalversammlung 1848 beschlossenen Wahlgesetzes fanden im Februar 1867 allgemeine und direkte Wahlen zum Parlament des Norddeutschen Bundes, dem sogenannten Reichstag, statt. Dieser Reichstag trat am 24. Februar 1867 erstmals zusammen und beriet in den folgenden Wochen über den im wesentlichen von Bismarck ausgearbeiteten Verfassungsentwurf. Dieser Entwurf enthielt, im Gegensatz zu einigen Vorlagen, die Bismarck bei der Ausarbeitung zur Verfügung standen32 , keinen Grundrechtekatalog. 33 Die Frage, ob Grundrechte in die Verfassung aufzunehmen seien, kam in den Reichstagsdebatten jedoch mehrfach zur Sprache. Am 19. März 1867 wurde zunächst die direkte Aufnahme einiger Grundrechte in den Verfassungsentwurf beantragt. Nachdem dieser Antrag mit 65 zu 189 Stimmen abgelehnt worden war, wurde beantragt, eine Kommission ein31
32 33
Huber; Bd. 2, S. 782. Remmele, S. 191. GW 6, S. 187 ff.
11. Die Gründung des Norddeutschen Bundes 1867
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zusetzen, die über die Aufnahme bestimmter Grundrechte in den Entwurf beraten sollte. Auch dieser Antrag fand jedoch nicht die Zustimmung einer Mehrheit der Reichstagsmitglieder. Schließlich wurde am 21. März der Antrag gestellt, dem Bund zumindest die Gesetzgebungskompetenz für die Schaffung von Grundrechten zu sichern. Dieser Versuch scheiterte aber ebenfalls in einer namentlichen Abstimmung mit 128 zu 130 Stimmen. 34 Am Ende nahm der Reichstag den Verfassungsentwurf Bismarcks ohne Änderungen in bezug auf Grundrechte im April 1867 an. Es folgte die Ratifizierung durch die verbündeten Regierungen und die Landtage, und am 1. Juli 1867 trat die Verfassung des Norddeutschen Bundes in Kraft.
2. Grunde für den Verzicht auf Grundrechte Es stellt sich nun die Frage, was die Ursache dafür war, daß nach der Euphorie, die 1848 unter den Abgeordneten der Nationalversammlung hinsichtlich der Schaffung von Reichsgrundrechten geherrscht hatte, ein so drastischer Umschwung stattfand. Allein der Verweis auf das Scheitern der Paulskirchenverfassung greift hier zu kurz. Vielmehr spielten dabei zahlreiche Gründe eine Rolle, die überwiegend in den Reden der Reichstagsabgeordneten bei der Beratung des Verfassungsentwurfs zum Ausdruck gekommen sind.
a) Die BefülWorterder Grundrechte im Reichstag Für die Aufnahme von Grundrechten in die Verfassung des Norddeutschen Bundes plädierten insbesondere Vertreter der Fortschrittspartei, der Freien Liberalen Vereinigung und der katholischen Fraktionen. Letztere forderten in erster Linie religiöse Grundrechte 35 , während sonst überwiegend die Ausarbeitung eines umfassenden Katalogs befürwortet wurde, der z. B. die Gewerbefreiheit, die Niederlassungsfreiheit und die Ehefreiheit enthalten sollte36 . Dies wurde von einem Abgeordneten der Fortschrittspartei damit begründet, daß man für den Bürger einen Ausgleich für die großen Lasten schaffen müsse, die auf militärischem und finanziellem Gebiet durch die Verfassung entstünden. Nur so sei die notwendige Unterstützung des Volkes für den Bund gewährleistet, und nur so könne erreicht werden, daß sich "in jeder Hütte des Landes die Constitution" befinde. Zudem seien die Grundrechte auch Ausdruck für das Ziel von Staat und Verfassung, die individuelle menschliche Entwicklung für alle zu ermöglichen und zu fördern. Sie definierten insofern die Aufgabe des Staates?7 Ein der schleswig-holsteinischen Opposition Remmele, S. 192. Abg. Scherer, RT NDB, 15. Sitzung, 19.03. 1867, S. 249 f. 36 Abg. Schulze-Delitzsch, RT NDB, 15. Sitzung, 19. 03. 1867, S. 247; Abg. Rohden, S.235. 37 Abg. Schulze-Delitzsch, RT NDB, 15. Sitzung, 19.03. 1867, S. 246 f. 34
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A. Historischer Vergleich
angehörender Abgeordneter brachte schließlich vor, allein Grundrechte seien geeignet, die staatliche Einheit dauerhaft zu festigen, die süddeutschen Länder zu integrieren und Minderheiten zu beruhigen. 38 Die Befürworter der Aufnahme von Grundrechten in den Verfassungsentwurf bildeten allerdings nur eine Minderheit im Reichstag. b) Die Gegner der Grundrechte im Reichstag
Zu den kategorischen Gegnern der Einbeziehung von Grundrechten gehörten vor allem die Abgeordneten der Konservativen, der Freikonservativen und der Altliberalen. 39 Diese Haltung entsprang zum Teil dem generellen Widerstand gegen jegliche Veränderung mit liberaler Tendenz. Vor allem aber war man der Ansicht, die Schaffung von Bundesgrundrechten stelle ein "Hineinreglementieren" in die Verfassungsautonomie der Einzelstaaten dar. Der Gesetzesvollzug war nach dem Verfassungsentwurf überwiegend Sache der Länder, d. h. diese wären in erster Linie Adressaten der Grundrechte gewesen, und in den meisten Landesverfassungen waren auch Grundrechte verbürgt. Diese Rechte wurden daher als für die einzelstaatliche Souveränität entscheidender Bereich angesehen, und man wollte die Annahme der Verfassung durch die Regierungen der Länder nicht gefährden. Dafür wurde den Grundrechten auch insgesamt eine zu geringe Bedeutung beigemessen. 40 c) Die Haltung der Nationalliberalen
Die Nationalliberalen, die die größte Fraktion im Reichstag bildeten, lassen sich nicht eindeutig als Gegner oder Fürsprecher eines Grundrechtekatalogs einordnen. Zwar wurde die Einführung von Grundrechten grundsätzlich befürwortet, man hielt aber die Vollendung der Einheit und die Frage der Organisation des Bundes für vorrangig. Wegen des zu erwartenden Widerstandes der Landesregierungen und der gebotenen Eile sollte daher auf einen Grundrechtekatalog verzichtet werden. 41 Allerdings sprachen sich einige nationalliberale Abgeordnete zumindest für die Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Grundrechtsfragen aus. Auf diese Weise könnten Grundrechte im Wege der Gesetzgebung vom zukünftigen Reichstag in die Verfassung eingefügt werden, ohne daß es zu Konflikten mit den verbündeten Regierungen käme. 42 Abg. Schrader, RT NDB, 15. Sitzung, 19.03.1867, s. 236. Remmeie, S. 195. 40 Abg. Freiherr v. Vincke, RT NDB, 17. Sitzung, 21. 03. 1967, S. 297 f.; Remmele, S. 195 f. 41 Abg. Dr. Braun, RTNDB,15.-Sitzung,J9. 03.1867, S. 254 f.; Abg. Grumbrecht, S. 247. 42 Abg. Dr. Jäger, RT NDB 15. Sitzung, 19.03. 1867, S. 248 f.; Abg. Dr. Braun, S. 255; Abg. Twesten, S. 257; Abg. v. Unruh, RT NDB, 17. Sitzung, 21. 03.1867, S. 304. 38 39
ß. Die Gründung des Norddeutschen Bundes 1867
23
d) Die Haltung dereinzelstaatlichen Regierungen
In den Regierungen der Einzelstaaten herrschte besonders starker Widerstand gegen die Einführung von Bundesgrundrechten. Exemplarisch dafür ist die Haltung der Regierungen der beiden Mecklenburgischen Staaten. In diesen galt noch eine ständische Ordnung, Grundrechte waren nicht gewährleistet. Man befürchtete daher, die Aufnahme von Grundrechten in die Bundesverfassung würde einschneidende Veränderungen der Verhältnisse mit sich bringen. 43 Wichtigstes Argument der Vertreter der Regierungen war in diesem Zusammenhang, daß zentrale Grundrechte die Individualität der Staaten zu sehr beeinträchtigten. Durch sie würde die Entstehung des Einheitsstaates und die Auflösung der Einzelstaaten beschleunigt. 44 Die Regierungen machten demzufolge deutlich, daß die Schaffung eines Grundrechtekatalogs die Ablehnung der Verfassung zur Folge haben würde. Besonders vehement gegen die Grundrechte sprach sich ferner der Abgesandte der hessischen Regierung Hofmann aus. 45 Zunächst wies auch er darauf hin, daß die Verfassung für die Gesamtheit der norddeutschen Bundesstaaten gemacht werde und in den meisten dieser Staaten Grundrechte in den Landesverfassungen verbürgt seien. Zudem könnten die Bundesgrundrechte als Durchschnitt der Landesverfassungen ohnehin nur ein Minimum im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners darstellen und daher keinen wesentlichen Fortschritt bringen. Entscheidend sei schließlich, daß die Einführung von Bundesgrundrechten ohne gleichzeitige Erweiterung der Bundeskompetenzen sinnlos sei. Wenn schon durch den Bund das Presse-, Vereins- und Versammlungswesen geregelt werde, dann auch in beide Richtungen, d. h. es dürften nicht nur die Grundrechte, sondern mit ihnen müßten auch Kompetenzen für deren Einschränkung geschaffen werden. Dagegen spreche allerdings das Recht der Staaten auf Selbständigkeit, das nicht mehr als unbedingt nötig beeinträchtigt werden dürfe. Eine zu starke Beeinträchtigung der einzelstaatlichen Souveränität gefährde nicht nur die Annahme der Verfassung durch die Landesregierungen, sondern erschwere auch die Vereinigung mit Süddeutschland. e) Die Haltung Bismarcks
Schließlich spielte auch die Ablehnung Bismarcks in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Von dem damaligen preußischen Ministerpräsidenten stammte der Entwurf der Verfassung, der keinen Grundrechtsteil enthielt. Auch im Reichstag lehnte Bismarck ausdrücklich die Schaffung einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Grundrechte ab. 46 Die Gründe für diese Haltung waren vielfältig. Zunächst maß Bismarck grundsätzlich den bürgerlichen Freiheiten gegenüber der 43
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Remmele, S. 194. Grafv. Bassewitz, RT NDB, 15. Sitzung, 19.03. 1867, S. 252 f. RT NDB, 17. Sitzung, 21. 03. 1867, S. 303 f. RT NDB, 17. Sitzung, 21. 3. 1867, S. 302.
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staatlichen Sicherheit geringe Bedeutung bei. 47 Seine entscheidenden Bedenken waren aber politischer Natur. Zum einen wollte Bismarck aus den Erfahrungen von 1848 lernen. Seiner Ansicht nach war die Frankfurter Nationalversammlung an der "Mißachtung der Realitäten" in Deutschland gescheitert, indem sie die "Lebenskraft der Einzelstaaten und die Stärke des deutschen Partikularismus" verkannt hatte. 48 Fast der gesamte Rechtsvollzug durch Verwaltung und Rechtsprechung und damit das staatliche Handeln, dem durch Grundrechte Schranken gesetzt werden sollten, lag zu diesem Zeitpunkt in der Hand der Länder.49 Durch die Schaffung von Bundesgrundrechten und die nach Bismarcks Ansicht notwendigerweise damit verbundene Erweiterung der Zuständigkeit und des Aufsichtsrechts des Reichs auf Kosten der Länder würde daher in empfindlicher Weise die Verfassungsautonomie dieser Länder beeinträchtigt. 50 Es war insofern abzusehen, daß an der Frage der Grundrechte die Annahme der Verfassung durch die verbündeten Regierungen scheitern konnte. Diese Entwicklung wollte Bismarck um jeden Preis verhindern. 51 Dementsprechend sollte den Einzelstaaten zur Schonung ihres Selbstbewußtseins nur soviel an Rechten genommen werden, wie unbedingt erforderlich. 52 Auf dieser Linie liegt auch das Argument, die Aufnahme von Grundrechten würde zu einer zu starken staatlichen Einheit führen, die den Beitritt der Süddeutschen Staaten verhindern könnte. 53 Darüber hinaus erschien Bismarck die Schaffung von Bundesgrundrechten aber nicht nur als vermeidbarer Eingriff in die Souveränität der Länder, sondern im Hinblick auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten auch als sinnlos. Aus den späten vierziger Jahren ist aus einer Debatte über die Einführung der Presse- und der Versammlungsfreiheit das Zitat überliefert, diese Grundrechte seien "antizipierte Bruchstücke eines zukünftigen Rechtszustandes, welche, wo ihnen die Ergänzung durch Repressivgesetze fehlt, jede Regierung zu einem fortwährenden Kriegsfuße gegen den Aufruhr nötigen".54 Schließlich stand für Bismarck auch die schnellstmögliche Schaffung einer gefestigten politischen Organisation des Reichs im Vordergrund. Seiner Ansicht nach war es ein Fehler, daß die Nationalversammlung 1848 den Grundrechten gegenüber den staatsrechtlichen Verfassungsprinzipien den Vorrang eingeräumt und sich mehrere Monate mit Grundrechtsdebatten beschäftigt hatte. Diesen Fehler wollte er vermeiden. Rosin, S. 103. Lösener; S. 88; GW 13, Ansprache an die Thüringer, S. 514. 49 Huber; Grundrechte, S. 164; Kröger, S. 38. so Hilf, S. 329; Hartung, S. 16; Huber; Grundrechte, S. 164. 51 Kohl, 3. Bd., RT NDB, 20. Sitzung, 21. 03. 1867, S. 238. 52 GW 11, RT NDB, 16.04. 1869, S. 45; Kohl, 3. Bd., RT NDB, 20. Sitzung, 21. 03. 1867, S. 238; Lösener; S. 88. 53 GW 11, RT NDB, 16.04. 1869, S. 41. 54 Rosin, S. 103. 47
48
III. Die Reichsgründung 1871
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f) Zusammenfassung
Die Gründe, die dazu geführt haben, daß in die Verfassung des Norddeutschen Bundes keine Grundrechte aufgenommen wurden, lassen sich in drei Gruppen unterteilen. Zunächst wird in den Argumentationen immer wieder auf das Verhältnis zwischen Bund und Einzelstaaten verwiesen. Man betrachtete die Schaffung von Bundesgrundrechten als Eingriff in die einzelstaatliche Souveränität und wollte nicht die Annahme der Verfassung durch die Länder gefährden bzw. die geplante Integration der Süddeutschen Staaten erschweren. Diese Rücksicht auf die Selbständigkeit der Einzelstaaten kam auch im Verfassungstext zum Ausdruck. Die Präambel der Verfassung definiert den Norddeutschen Bund als Bund der deutschen Fürsten und der Senate der Freien Städte. Diese allein sollten Träger und Inhaber der Souveränität sein, nicht der Bund oder gar das deutsche Volk. 55 Darüber hinaus wurden die Grundrechte gegenüber der zügigen Herstellung der Einheit und der organisatorischen Ausgestaltung des Bundes als nachrangig angesehen. Bei der Schaffung der Paulskirchenverfassung hatte die Beratung über die Grundrechte sehr viel Zeit in Anspruch genommen, so daß darüber die Beratung über die institutionellen und organisatorischen Fragen vernachlässigt worden war. Dies wurde im Rückblick überwiegend als Fehler angesehen, den es zu vermeiden galt. Schließlich wurde immer wieder darauf verwiesen, daß die Aufnahme von Bundes grundrechten sinnlos sei, wenn nicht zugleich entsprechende Kompetenzen des Bundes zur Einschränkung dieser Rechte geschaffen würden.
111. Die Reichsgründung 1871 1. Überblick
Nach der Gründung des Norddeutschen Bundes schloß Preußen mit den Süddeutschen Staaten zunächst militärische Schutz- und Trutzbündnisse. Auf wirtschaftlichem Gebiet wurde der 1833 gegründete Allgemeine Deutsche Zollverein durch Vertrag im Juli 1867 auf das gesamte zukünftige Reichsgebiet ausgedehnt. Die politische Einigung wurde allerdings erst durch den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 möglich. Unterstützt von einer allgemeinen patriotischen Hochstimmung in Deutschland gelang es Bismarck noch während des Krieges, Anschlußverträge mit den Süddeutschen Staaten auszuhandeln. Diese Verträge wurden dann von dem Norddeutschen Reichstag und den süddeutschen Landtagen ratifiziert, so daß am 1. Januar 1871 das durch den Beitritt der Süddeutschen Staaten entstandene Deutsche Reich in Kraft trat. Am 18. Januar 1871 folgte im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles die Kaiserproklamation. 55
Huber, Bewahrung und Wandlung, S. 68.
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A. Historischer Vergleich
Die Reichsverfassung ging aus der Verfassung des Norddeutschen Bundes hervor und enthielt ebenfalls keinen Grundrechtekatalog. 2. Gründe für den Verzicht auf Grundrechte Zwar kam das Thema der Grundrechte auch im Rahmen der Debatten über die Reichsverfassung wieder zur Sprache, aber selbst die Parteien, die 1867 noch die Aufnahme von Grundrechten befürwortet hatten, sprachen sich nun überwiegend dagegen aus. Zunächst wurde im Reichstag über den Inhalt der mit den Süddeutschen Staaten geschlossenen Verträge verhandelt. Lediglich die Fraktion der Fortschrittspartei beantragte in diesem Zusammenhang die Einfügung von Grundrechten. Dieser Antrag scheiterte jedoch vor allem am Widerstand der Nationalliberalen, die wiederum die deutsche Einigung durch eine Grundrechtsdebatte nicht gefährden wollten. 56 Im Rahmen der Verhandlungen über die Reichsverfassung, in denen die Verträge in die Verfassung des Norddeutschen Bundes integriert werden sollten, beantragte das Zentrum nochmals die Einfügung von Grundrechten, beschränkte sich dabei aber im wesentlichen auf die Religions- und Kirchengrundrechte. 57 Diese Forderung wurde von allen anderen Fraktionen abgelehnt. Dabei berief man sich im wesentlichen auf die bereits 1867 vorgebrachten Argumente. Zusätzlich wurde die Ablehnung damit begründet, daß die Beschränkung auf die kirchlichen Grundrechte willkürlich sei und deren Aufnahme daher keinen freiheitlichen Fortschritt für die Verfassung darstelle. 58 Auch in der Präambel der Reichsverfassung wird das Deutsche Reich dementsprechend als Bund der deutschen Fürsten bezeichnet. Das Reich ist danach ein Staatskörper, der allein auf dem Willen der Einzelstaaten beruht. Bei ihnen liegt die verfassunggebende Gewalt, nicht bei dem Reich oder seinen Organen oder dem deutschen Volk. 59 Das Volk erscheint nach dieser Konzeption lediglich als Adressat staatlicher Entscheidungen und Empfanger staatlicher Wohltaten. 60 3. Die weitere Entwicklung Es bleibt nun zu untersuchen, ob der Verzicht auf Reichsgrundrechte angesichts der weiteren Entwicklung des Deutschen Reichs seinen Zweck erfüllt hat, d. h. ob diese Entscheidung zumindest aus der Sicht der Gegner der Grundrechte gerechtfertigt gewesen ist. 56 57
58 59 60
Remmele, S. 201. FrotscherlPieroth, Rn. 409. Remmele, S. 202. Huber, Bewahrung und Wandlung, S. 68. Huber, Bewahrung und Wandlung, S. 68.
III. Die Reichsgründung 1871
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Zunächst ist festzuhalten, daß der Wortlaut der Präambel, nach dem das Reich ein Bund der Fürsten ist, zumindest teilweise irreführend ist. Diese Formulierung läßt vermuten, daß es sich bei den beiden Verfassungen um oktroyierte, d. h. einseitig von den Fürsten aufgrund ihrer Machtvollkommenheit geschaffene Werke ohne jegliche Beteiligung des Volkes gehandelt hat. 61 Eine solche Deutung wird der Wirklichkeit allerdings nicht ganz gerecht, da das Volk an der Verfassunggebung ebenfalls beteiligt war. Die Bevölkerungen der Einzelstaaten waren vertreten durch die Landesparlamente, die den Verfassungen zustimmen mußten, und das gesamte Volk wurde durch die Reichstage von 1867 und 1870/71 repräsentiert. Die Verfassungen sind daher eher als vereinbarte Verfassungen anzusehen 62 und somit mehr vom Volk getragen, als es zunächst den Anschein hat. 63 Auch wurden einige der föderalistischen Erwägungen, aufgrund derer auf Bundes grundrechte verzichtet worden war, bald von der rechtlichen Realität im Reich überholt. 64 Die Verfassung wies dem Reich entscheidende gesetzgeberische Kompetenzen zu. Dazu gehörten z. B. die Wirtschaftspolitik, die Justizpolitik und die Sozialpolitik. Darüber hinaus erweiterte das Reich seine Zuständigkeiten selbst durch den Erlaß einfacher Gesetze, etwa im Bereich des Zivilrechts. 65 Neben Gesetzgebungskompetenzen zog das Reich aber auch zunehmend Verwaltungszuständigkeiten an sich, obwohl die Verwaltungshoheit der Einzelstaaten ursprünglich ein "Kernstück der Verfassung" dargestellt hatte. 66 Durch die Gründung zahlreicher Zentralinstanzen wurde nach und nach eine oberste Reichsverwaltung geschaffen, die das Gewicht des Reichs im bundesstaatlichen System erheblich verstärkte. 67 Dieser Anstieg der eigenen staatlichen Eingriffsmacht des Reichs hatte zur Folge, daß nicht mehr nur die Einzelstaaten als Grundrechtsadressaten in Betracht kamen, sondern auch das Bedürfnis nach einer Grundrechtsbindung des Reichs entstand. Zudem unterlagen die Länder bei der Ausführung der Reichsgesetze teilweise einer Rechtmäßigkeitskontrolle durch das Reich68 , so daß auch die Unterschiede zwischen Reichs- und Landesstaatsgewalt mehr und mehr verwischt wurden69 . Die zunehmende Zuweisung von Staatsaufgaben im Bereich von Gesetzgebung und Verwaltung an das Reich bewirkte insofern eine Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Reichs. Zusätzlich trugen noch weitere 61
62
Huber, Bewahrung und Wandlung, S. 68. Huber, Bewahrung und Wandlung, S. 69.
63 Nipperdey bezeichnet es als von Bismarck vertretene "staatsrechtliche Legende", daß die Fürsten Gründer des Reichs und Urheber seiner Verfassung seien; vgl. S. 87 f. 64 Huber, Grundrechte, S. 165. 65 Nipperdey, S. 87, 98. 66 Nipperdey, S. 112. 67 So entstanden z. B. das Reichspostamt (1876), das Reichseisenbahnamt (1873), das Statistische Amt (1872), das Kaiserliche Gesundheitsamt (1876) und das Patentamt (1877); vgl. Nipperdey, S. 114; Huber, Grundrechte, S. 165. 68 Menger, Rn. 294. 69 Huber, Grundrechte, S. 165.
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A. Historischer Vergleich
Umstände wie die starke Stellung von Kaiser und Reichskanzler, das Militär sowie der Imperialismus, gepaart mit einem immer stärker werdenden Nationalismus, faktisch zu einer fortschreitenden Unitarisierung des Reichs bei. 7o Unter Berücksichtigung dieser Entwicklungen verliert das Argument, daß aus Rücksicht auf die Souveränität der Einzelstaaten auf die Aufnahme von Reichsgrundrechten in die Verfassung verzichtet werden müsse, an Überzeugungskraft. Die Integration und Vereinheitlichung des Reichs wurde durch eine Vielzahl rechtlicher und tatsächlicher Umstände vorangetrieben. Daß dieser Prozeß gerade durch die Existenz von in der Verfassung verbürgten Reichsgrundrechten wesentlich intensiviert oder beschleunigt worden wäre, ist unwahrscheinlich. Darüber hinaus ist auch die Erwägung, ein Grundrechtekatalog sei mangels entsprechender Eingriffskompetenzen des Reichs nicht erforderlich, angesichts der fortschreitenden Erweiterung der Reichskompetenzen nicht überzeugend. Schließlich bedeutete der Verzicht auf die Aufnahme von Grundrechten in die Verfassung nicht, daß diese im Deutschen Reich nicht mehr anerkannt gewesen wären. Grundrechtsrege1ungen wurden vom Gesetzgeber des Norddeutschen Bundes und vom Reichsgesetzgeber im Rang einfacher Gesetze etabliert. So wurden auf diesem Wege die Freizügigkeit, die Gewerbefreiheit, die Koalitionsfreiheit, die Bekenntnisfreiheit, die Pressefreiheit und einige weitere Grundrechte und rechtsstaatliche Gewährleistungen garantiert. Der Unterschied zwischen diesen Verbürgungen und Grundrechten mit Verfassungsrang war im Bismarckschen Reichssystem gering: Der Reichstag konnte auch verfassungsändernde Gesetze mit einfacher Mehrheit beschließen, so daß in der Verfassung garantierte Grundrechte keine stärkere Bestandsgarantie vermittelt hätten. 71 Dennoch ist aber unbestritten, daß das Fehlen eines in die Verfassung integrierten Grundrechtekatalogs zumindest zu einem Mangel an Legitimität für das dem Rechtsstaatsprinzip verpflichtete Kaiserreich geführt hat. 72 Ob die Hinnahme einer solchen "auffälligen verfassungspolitischen Lücke,,73 tatsächlich erforderlich gewesen ist, muß angesichts der weiteren Entwicklung des Verhältnisses zwischen Reich und Einzelstaaten bezweifelt werden.
IV. Bewertung der Debatten aus heutiger Sicht Die Untersuchung der Debatten von 1848, 1867 und 1871 hat gezeigt, daß schon damals der Aufnahme von Grundrechten in die jeweiligen Verfassungen integrierende und unitarisierende Wirkung zugunsten des Gesamtgebildes Bund bzw. Reich zugeschrieben wurde. Darüber hinaus erhofften die Befürworter dieses Vorhabens, so die Unterstützung des Volkes für die Verfassungen zu gewinnen. Diese 70 71 72
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Nipperdey, S. 94. Huber; Grundrechte, S. 17(}. Kröger; S. 38. Huber; Grundrechte, S. 165.
IV. Bewertung der Debatten aus heutiger Sicht
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Erwartungen ähneln den Argumenten, die in der Diskussion um die Kodifizierung der Gemeinschaftsgrundrechte von deren Fürsprechern vorgebracht werden. So soll auch die Grundrechtecharta die Integration der Europäischen Union fördern und die Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Unionsorgane gegenüber dem Bürger legitimieren. Parallelen zeigen sich aber auch zwischen den Argumenten gegen die Aufnahme von Grundrechten in die Verfassungen und den im Hinblick auf die Grundrechtecharta geäußerten Bedenken. Der größte Teil dieser Erwägungen betrifft letztlich das Macht- und Kompetenzverhältnis zwischen Einzelstaaten und übergeordneter Ebene, im ersten Fall der Norddeutsche Bund bzw. das Deutsche Reich, im zweiten Fall die Europäische Union. Auch im Zusammenhang mit der Grundrechtecharta wird immer wieder angeführt, eine Reform der Institutionen der Europäischen Union und die endgültige Festschreibung eines Kompetenzkatalogs, d. h. die Schaffung einer europäischen Verfassung, seien die vorrangig zu bewältigenden Aufgaben. 74 Dementsprechend wird auch der seit dem 28. Februar 2002 tagende Konvent zur Reform der Europäischen Union vor allem über diese Fragen beraten. Gerade die deutschen Länder hegen zudem die Befürchtung, daß die Charta zu einer weiteren Ausdehnung der Kompetenzen der EU führen und "kompetenzansaugende" Wirkung entfalten könnte. 75 Auch die Bedingung der Vertreter Großbritanniens im Konvent, der Charta nur zuzustimmen, wenn sie vorerst nur feierlich proklamiert und nicht direkt rechtsverbindlich wird, ist als Ausdruck der Befürchtung eines zu weitgehenden Eingriffs in die staatliche Souveränität zu sehen. Schließlich wird auch immer wieder argumentiert, die Etablierung von Grundrechten für Bereiche, in denen die EU ohnehin keine Kompetenz zur Beschränkung dieser Rechte habe, sei sinnlos. 76 Die Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Union ist wie die Entstehung von Norddeutschem Bund und Deutschem Reich für die beteiligten Einzelstaaten ohnehin mit Souveränitätseinbußen verbunden. Die Befürchtung, daß die Schaffung von Grundrechtekatalogen im Rahmen dieser Prozesse zusätzlich eine Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten des Zentralstaats bzw. der supranationalen Gewalt bewirken kann, ist vor diesem Hintergrund zumindest nachvollziehbar. Bei der Untersuchung der einzelnen Probleme, die die Grundrechtecharta im Hinblick auf das Kompetenzgefüge zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten mit sich bringen könnte, werden diese Bedenken daher im Auge zu behalten sein. Darüber hinaus werden sie - unter Berücksichtigung der Entwicklung, die das Kaiserreich genommen hat - den Ausgangspunkt für die abschließende Bewertung der Charta im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten bilden. Vgl. z. B. Tettinger; NJW 2001, 1010 (1014). Clement. FAZ v. 16. 11. 2001, S. 10; Gnauck. FAZ v. 06.12.2000, S. 11; so auch Tettinger; NJW 2001, 1010 (1014); Lindner; DÖV 2000, 543 (549). 76 Pemice. DVBI. 2000, 847 (852). 74
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3 Große Wentrup
B. Die Adressaten der Grundrechte Laut Art. 6 Abs. 2 EUVachtet "die Union" die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Art. 51 Abs. 1 EuGRC bestimmt dagegen, daß die Grundrechte für "die Organe und Einrichtungen der Union ( ... ) und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union" gelten. Bereits auf den ersten Blick fallen schon zwei Unterschiede ins Auge: Art. 6 Abs. 2 EUV enthält im Gegensatz zu Art. 51 Abs. 1 EuGRC keinen Hinweis auf eine etwaige Bindung der Mitgliedstaaten und richtet sich zudem nur allgemein an "die Union" und nicht an einzelne "Organe und Einrichtungen" derselben. Was sich hinter diesen Formulierungen verbirgt, muß daher näher beleuchtet werden. Dabei wird zunächst untersucht, inwieweit eine Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene verwirklicht ist. Im Anschluß daran soll geklärt werden, ob auch die Mitgliedstaaten der EU durch gemeinschaftliche Grundrechtsgewährleistungen verpflichtet werden können.
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene Im Zusammenhang mit der Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene stellt sich zunächst die Frage, was sich hinter der Bezeichnung "Union" in Art. 6 Abs. 2 EUV und Art. 51 Abs. 1 EuGRC verbirgt. Dieser Begriff ist in der Rechtssprache mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen besetzt. Einerseits wird mit "Europäischer Union" das gesamte Gebilde auf europäischer Ebene bezeichnet, das sich aus den drei Gemeinschaften EG, EGKS und Euratom sowie den durch Titel V und VI des Vertrags von Maastricht eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit zusammensetzt. Andererseits wird dieser Begriff aber auch dann verwendet, wenn unter Ausklammerung der Gemeinschaften allein von dem nach Maßgabe des Titels V und VI EUV tätigen Subjekt die Rede ist. 77
Art. 6 Abs. 2 EUV findet sich unter Titel I des Vertragswerks, der die sogenannten "Gemeinsamen Bestimmungen" beinhaltet. Daraus wird teilweise geschlossen, daß die Vorschriften dieses Titels - als Ausnahme zu der ansonsten strikt durchgeführten Trennung zwischen den Gemeinschaftsverträgen und dem EU-Vertrag 77
Wichard in: Ca1liess I Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 26.
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene
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auch für die Gemeinschaften Geltung beanspruchen. 78 Andere halten diese Bezeichnung dagegen für mißverständlich und vertreten unter Verweis auf Art. 47 EUV die Ansicht, die Vorschriften des EU-Vertrags könnten nur dann Auswirkungen auf die Gemeinschaftsverträge haben, wenn letztere ausdrücklich abgeändert worden seien. Dies sei allerdings bei Art. 6 Abs. 2 EUV der Fall, da die Vorschrift durch Art. 46 lit. d EUV für das Gemeinschaftsrecht "aktiviert" werde. 79 Obwohl die Begründung im einzelnen umstritten ist, herrscht also im Ergebnis Einigkeit darüber, daß der Begriff "Union" in Art. 6 Abs. 2 EUV den gesamten Komplex bezeichnet, der dem Bürger auf europäischer Ebene gegenübertritt. Es ist ferner davon auszugehen, daß auch Art. 51 Abs. 1 EuGRC diese Definition voraussetzt, da ansonsten gerade die Gemeinschaften, die in erster Linie zum Erlaß verbindlicher Rechtsakte gegenüber dem einzelnen in der Lage sind und auf die die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH zugeschnitten ist, von der Bindung ausgenommen wären. Beiden Bestimmungen liegt insofern das Verständnis der Union als Gesamtgebilde zugrunde. Ausgehend von dieser Definition muß nun geklärt werden, inwieweit die Union bereits durch Art. 6 Abs. 2 EUV bzw. die EuGH-Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden ist und welche Veränderungen die Grundrechtecharta in dieser Hinsicht mit sich bringen könnte.
1. Die Bindung der Union nach Art. 6 Abs. 2 EUV a) Die Bindung der Europäischen Union als Gesamtgebilde Nach Art. 1 Abs. 3 EUV, der die "Architektur" der Europäischen Union regelt, sind die Europäischen Gemeinschaften, ergänzt durch die mit dem Maastrichter Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit, die Grundlage der Union. In Anlehnung daran wird zur Erklärung der Konstruktion Europäische Union überwiegend das sogenannte Tempel- oder Säulenmodell herangezogen. Danach bildet die Union ein Dach über drei Säulen, und diese Säulen sollen die Gemeinschaften, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) sein. 8o Dieser Definition ist zugute zu halten, daß sie ein anschauliches Bild von dem Komplex Wichard. EuR 1999.170 (175). Trüe. S. 28 f. Cremer in: Calliess/Ruffert. Art. 47 EUV. Rn. 1; Geiger, Art. 6 EUV. Rn. 3. Art. 46 lit. d EUV ordnet die Zuständigkeit des EuGH für die Kontrolle der Beachtung der Grundrechte durch die Gemeinschaftsorgane an. Teilweise wird dieser Vorschrift und Art. 6 Abs. 2 EUV hinsichtlich der Bindung der Gemeinschaften auch nur eine deklaratorische Funktion zugesprochen, da der EuGH ja schon seit langer Zeit die Beachtung der Grundrechte durch die Gemeinschaften kontrolliere; vgl. E. Klein in: HK, Art. L EUV. Rn. 6, Art. M EUV, Rn. 5. 80 BVerfGE 89, 155 (159); Bleckmann. Rn. 50; Ress. JuS 1992, 985; für fünf Säulen: E. Klein in: HK, Art. A EUV, Rn. 41; Streinz. Rn. 121 a. 78
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B. Die Adressaten der Grundrechte
Europäische Union vermittelt. Sie läßt allerdings keinen Rückschluß auf das Verhältnis zwischen Dach und Säulen und insbesondere auf die Rechtsnatur der Union selbst zu. Für die Frage nach der Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene könnte aber von Bedeutung sein, ob diese Union ein eigenständiges Rechtssubjekt ist und als solches als Träger von Rechten und Pflichten in Betracht kommt. aa) Die Rechtsnatur der Europäischen Union Die Rechtsnatur der Europäischen Union ist in der europäischen Rechtslehre seit langem überaus umstritten. Eine ausdrückliche Verleihung der Rechtsfähigkeit, wie sie für die drei Gemeinschaften in Art. 281 EGV, Art. 6 Abs. 1 EGKSV und Art. 184 Euratom zu finden ist, ist weder durch den Vertrag von Maastricht noch durch dessen Neufassung im Vertrag von Amsterdam erfolgt. Dennoch gehen Teile der Literatur mit unterschiedlichen Begründungen davon aus, daß die Union ein von Gemeinschaften und Mitgliedstaaten zu unterscheidendes eigenständiges Rechtssubjekt iSt. 81 Innerhalb dieser Ansicht ist weiter umstritten, ob die Union das einzige Rechtssubjekt auf europäischer Ebene darstellt, in dem die Gemeinschaften und die Politiken und Formen der Zusammenarbeit nach dem EUV aufgegangen sind82, oder ob sie als eigenständiges Rechtssubjekt neben bzw. über die auch weiterhin rechtsfähigen Gemeinschaften getreten ist83 . Von der überwiegenden Meinung in der Literatur wird demgegenüber angenommen, die EU besitze keine Rechtspersönlichkeit. 84 Diese Auffassung ist auch in verschiedenen Stellungnahmen der Kommission, des Europäischen Parlaments und des Rates zu dieser Frage zum Ausdruck gekommen. 85 Eine Äußerung des Gerichtshofs im Hinblick darauf liegt bislang noch nicht vor. Dieser Streit hat Auswirkungen auf die Frage, wer Adressat der Gemeinschaftsgrundrechte sein kann. Als Adressat einer Regelung wird derjenige bezeichnet, der durch diese Regelung selbst berechtigt oder verpflichtet wird. Die AdressatensteIlung setzt insofern Rechtsfähigkeit voraus. Geht man nun davon aus, daß der Union Rechtspersönlichkeit verliehen worden ist, könnte sie selbst Zurechnungssubjekt der grundrechtlichen Normbefehle sein. Verneint man dagegen mit der überwiegenden Meinung die Rechtsfähigkeit der Union, so könnte sie auch nicht selbst als Grundrechtsverpflichtete angesehen werden. Als Adressaten kämen dann 81 Wichard in: Calliess/Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 9 ff.; ders., EuR 1999, 170 (173 ff.); v. Bogdandyl Nettesheim, NJW 1995, 2324; dies., EuR 1996, 3 (24); Ress, JuS 1992,985 (986); Magiera, Jura 1994, 1 (6); Thun-Hohenstein, S. 56; Dörr, EuR 1995,334 (345); Tme, S. 11 ff. 82 v. Bogdandy/Nettesheim, NJW 1995,2324; dies., EuR 1996,3 (12 ff.). 83 Wichard in: Calliess/Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 19 ff.; Dörr, NJW 1995,3162 (3163); ders., EuR 1995, 334 (344 f.); Tme, S. 59. 84 Bleckmann, Rn. 166; Pechstein/ Koenig, Rn. 85, 94; Streinz, Rn. 121 b; Geiger, Art. 1 EUV,Rn.7. 85 Vgl. die einzelnen Nachweise bei Busse, S. 46 f.
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene
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allein die Gemeinschaften oder die Mitgliedstaaten in Betracht. 86 Die praktischen Unterschiede zwischen diesen beiden Standpunkten mögen auf den ersten Blick zwar von geringer Bedeutung sein. Durch die Verwendung des weiten Begriffs "Union" in Art. 6 Abs. 2 EUV soll erreicht werden, daß bei jeglicher Ausübung von Hoheitsgewalt auf europäischer Ebene die Grundrechtsbindung verwirklicht ist. 87 Ausgeübt wird diese Gewalt aber nicht durch die Union selbst, die unabhängig von ihrer Rechtsfähigkeit jedenfalls nicht handlungsfähig ist, sondern durch Organe. Diese Organe, die intern als rechtliche Urheber der getroffenen Maßnahmen anzusehen sind88 , müssen daher letztendlich bei ihrer Tätigkeit die Grundrechte beachten. Welchem Rechtsträger das OrganhandeIn wiederum zugerechnet werden muß, kann aber beispielsweise dann entscheidend sein, wenn ein Grundrecht ein Leistungsrecht gewährt. In diesem Fall muß feststellbar sein, von welchem Rechtssubjekt dieses Recht eingefordert werden kann. Zudem können Haftungsprobleme entstehen, wenn nicht geklärt ist, für wen die nach Maßgabe von EU-Vertrag und Gemeinschaftsverträgen handelnden Organe letztlich tätig werden. Der Frage der Rechtsfähigkeit der Union muß daher zur Bestimmung der Grundrechtsverpflichteten auf europäischer Ebene geklärt werden. Die Diskussion wird oftmals dadurch verkompliziert, daß verschiedene Aspekte des Begriffs "Rechtspersönlichkeit" miteinander vermengt werden. Unter diesen Oberbegriff fallen sowohl die Volkerrechtsfähigkeit als die Fähigkeit, Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein, als auch die innerstaatliche Rechtsfähigkeit, die die Möglichkeit bezeichnet, im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten Träger privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Rechte und Pflichten zu sein und Rechtsgeschäfte wirksam vorzunehmen. 89 Hinsichtlich der Volkerrechtsfähigkeit ist wiederum zu differenzieren zwischen der Rechtsfähigkeit einer Organisation gegenüber ihren Mitgliedstaaten (im folgenden: interne Volkerrechtsfähigkeit) und derjenigen gegenüber Drittstaaten und internationalen Organisationen (im folgenden: internationale Volkerrechtsfähigkeit).90 Die interne Volkerrechtsfähigkeit setzt voraus, daß die in Rede stehende Organisation gegenüber ihren Mitgliedstaaten mit eigenen Aufgaben, Kompetenzen und Pflichten ausgestattet ist, während für die internationale Volkerrechtsfähigkeit die Anerkennung durch andere Volkerrechtssubjekte erforderlich iSt. 91 Im Rahmen dieser Arbeit ist lediglich von Interesse, ob die Union selbst oder nur die Gemeinschaften bzw. die Mitgliedstaaten Adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte sein können. Diese Frage wird unter anderem anband der Kompetenzen, die der Union im Verhältnis zu Gemeinschaften und Mitgliedstaaten zustehen, zu entscheiden sein. Ausschlaggebend ist 86
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Geiger, Art. 3 EUV, Rn. 6; Lindner, DÖV 2000, 544 (545). Geiger, Art. 6 EUV, Rn. 8; E. Klein in: HK, Art. F EUV, Rn. 10. v. Bogdandy/Nettesheim, EuR 1996, 3 (24). E. Klein in: HK, Art. A EUV, Rn. 14, 16; Wichard, EuR 1999, 170. E. Klein in: HK, Art. A EUV, Rn. 14. v. Bogdandy/Nettesheim, EuR 1996, 3 (24); E. Klein in: HK, Art. A EUV, Rn. 14.
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B. Die Adressaten der Grundrechte
hier also allein, ob der Union von den Mitgliedstaaten die interne Völkerrechtsfähigkeit zuerkannt worden ist.
( 1) Argumente für die Rechtsfähigkeit der Union Die Verleihung dieser Rechtsfähigkeit wird von Teilen der Literatur aus den Vertragsbestimmungen unter Hinzuziehung der implied-powers-Lehre hergeleitet. 92 Diese Lehre stammt aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis und wird insbesondere vom Internationalen Gerichtshof vertreten, der auf diese Weise die Völkerrechtsfähigkeit internationaler Organisationen ermittelt. 93 Danach kann auf die Absicht der Mitgliedstaaten, der von ihnen gegründeten internationalen Organisation Rechtssubjektivität zu verleihen, geschlossen werden, wenn dieser Organisation Kompetenzen zustehen, die notwendigerweise das Bestehen der Völkerrechtspersönlichkeit voraussetzen. 94 Die Eigenschaft als Völkerrechtssubjekt wird insofern implizit aus den vertraglich festgelegten Aufgaben und Zwecken der Organisation hergeleitet. 95 Zu den Bestimmungen, die auf die Rechtsfähigkeit der Union hindeuten, gehören zunächst diejenigen, in denen die körperschaftliche Struktur des Zusammenschlusses zum Ausdruck kommt. 96 So wird die Union gern. Art. 1 EUV "gegründet", sie setzt sich nach Art. 2 EUV Ziele, verfügt gern. Art. 3 EUV über einen einheitlichen institutionellen Rahmen und sie treffen bestimmte Pflichten, beispielsweise aus Art. 1 Abs. 3 oder eben aus Art. 6 EUV. 97 Zudem spricht der EUV von "Mitgliedstaaten", und Art. 49 EUV sieht den Beitritt neuer Staaten zur Union in ihrer Gesamtheit vor98 , während ein Beitritt allein zu den Gemeinschaften nicht mehr möglich ist. Auch die Formulierung von Art. 18 Abs. 1 EUV, nach der in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik "die Union" vom Vorsitz vertreten wird, könnte einen Hinweis darauf geben, daß diese Union ein selbständiges Rechtssubjekt ist. 99 Ferner wird für die Rechtsfähigkeit der Union angeführt, diese sei zunehmend in der Lage, einen eigenständigen Willen zu bilden. Art. 23 Abs. 2 EUV mache Mehrheitsbeschlüsse des Rates im Rahmen der GASP möglich, und gern. Art. 23 Abs. 1 und Art. 41 Abs. 1 EUV i.Y.m. Art. 205 Abs. 3 EGV stünden Enthaltungen ein92 Dörr, EuR 1995,334 (345); Wichard in: Calliess/Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 9 ff.; ders., EuR 1999, 170 (173 ff.); v. BogdandylNettesheim, EuR 1996, 3 (24); Trüe, S. 11 ff. 93 Epping in: Ipsen, § 6, Rn. 8; E. Klein in: HK, Art. A EUV, Rn. 17. 94 Seidl-HohenveldemIStein, Rn. 813; Epping in: Ipsen, § 6, Rn. 19. 95 Epping in: Ipsen, § 6, Rn. 8. 96 v. BogdandylNettesheim, EuR 1996, 3 (24); Wichardin: Calliess/Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 7; Trüe, S. 11 f. 97 v. BogdandylNettesheim, EuR 1996,.3 (24). 98 v. BogdandylNettesheim, EuR 1996, 3 (13); Trüe, S. 42 f. 99 Wichard in: Calliess/Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 7.
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene
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zelner Staatenvertreter im Rat einstimmigen Beschlüssen nicht mehr entgegen. 100 Durch Art. 35 und Art. 34 Abs. 2 S. 2 EUV sei überdies die Rolle der von den Mitgliedstaaten unabhängigen Organe EuGH und Kommission innerhalb der PJZS verstärkt worden. 101 Im Zusammenhang mit dieser Willensbildungsfähigkeit steige auch die Möglichkeit der Union, die Mitgliedstaaten zu binden, beispielsweise durch gemeinsame Aktionen gern. Art. 14 Abs. 3 EUV oder Rahmenbeschlüsse und sonstige Beschlüsse gern. Art. 34 Abs. 2 lit. bund C. 102 Diese Fähigkeit zeige sich auch in Art. 7 EUV, der vorsieht, daß Mitgliedschaftsrechte eines Staates wegen Verstoßes gegen die Grundsätze des Art. 6 EUV ausgesetzt werden können. 103 Darüber hinaus deute auf die Rechtsfähigkeit der Union noch hin, daß diese zu rechtserheblichem Handeln im Außenverhältnis in der Lage sei und im völkerrechtlichen Rechtsverkehr auch als eigenständiges Rechtssubjekt auftrete. 104 So werde z. B. in Art. 11 Abs. 1 EUV als Akteur auf dem Gebiet der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nur noch die Union genannt, und dieser stehe nach Art. 24 EUV auch die Kompetenz zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge zu. 105 Aus all diesen im Unionsvertrag vorgesehenen Aufgaben, Pflichten und Kompetenzen der Union könne daher auf die Verleihung der Rechtsfähigkeit geschlossen werden. Insbesondere für die Wahrnehmung ihrer Kompetenzen im Innen- und Außenverhältnis benötige sie eine eigenständige Rechtspersönlichkeit. Schließlich wird die Rechtsfähigkeit der Union auch noch mit der nachträglichen Praxis der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Unionsrechts begründet. Bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge ist gern. Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK eine spätere Übung bei der Anwendung dieser Verträge zu berücksichtigen, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über die Auslegung hervorgeht. Da auch der EU-Vertrag ein völkerrechtlicher Vertrag sei, fänden die Art. 31 ff. WVK bei seiner Auslegung Anwendung. Einzelnen Sekundärrechtsakten auf der Grundlage von EUV bzw. EGV sei nun der Wille der Staaten zu entnehmen, der Union Rechtspersönlichkeit zu verleihen. So halte beispielsweise der Rat die EU laut seiner Begründung zur Verordnung über dual-use-Güter lO6 für fähig, Adressat völkerrechtlicher Pflichten zu sein l07 , und die Union trete in internationalen Verhandlungen vermehrt als "Europäische Union" auflO8 • Im Rahmen der Verwaltung der Wichard in: Calliess/Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 10; ders., EuR 1999, 170 (173). Wichard in: Calliess/Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 10; ders., EuR 1999, 170 (173). 102 Wichard in: Calliess I Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 11; ders., EuR 1999, 170 (173). 103 Wichard in: Calliess/Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 11; ders., EuR 1999, 170 (173); v. BogdandylNettesheim, EuR 1996,3 (24). 104 Wichard in: Calliess/Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 12; v. BogdandylNettesheim, EuR 1996, 3 (25). 105 Wichard in: Calliess I Ruffert, Art. 1 EGV, Rn. 12. 106 3. Begründungserwägung, ABI. Nr. L 367 v. 31. 12. 1994, S. 1. 107 v. BogdandylNettesheim, EuR 1996, 3 (6); Trüe, S. 53 f. 108 v. BogdandylNettesheim, EuR 1996,3 (25); Trüe, S. 53. 100 101
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B. Die Adressaten der Grundrechte
Stadt Mostar sei sie sogar selbst als Verwalterin tätig geworden. I09 Es existiere mithin eine ständige Übung der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Unionsvertrages, die auf eine Zuerkennung der Rechtsfähigkeit schließen lasse. HO
(2) Argumente gegen die Rechtsfähigkeit der Union Der zuerst genannten Ansicht ist zwar zuzugeben, daß tatsächlich durch die Formulierung einiger Bestimmungen des EU-Vertrags der Eindruck entsteht, die Union stelle eine gegenüber den Mitgliedstaaten eigenständige rechtsfähige Körperschaft dar. Der Vertrag enthält jedoch auch Vorschriften, denen ebenso gut das gegenteilige Ergebnis entnommen werden kann. So findet sich beispielsweise in Art. 1 Abs. 2 die Aussage, der EUV stelle eine neue Stufe bei der "Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" dar. In diesem Zusammenhang steht der Begriff "Union" eher für ein Bündnis oder eine verstärkte Zusammenarbeit einzelner Staaten als für ein von diesen zu unterscheidendes Rechtssubjekt. Ferner werden die aufgrund des EUV möglichen Rechtsakte im Gegensatz zum gemeinschaftlichen Sekundärrecht überwiegend als "gemeinsame" Maßnahmen bezeichnet, z. B. gemeinsame Aktionen gern. Art. 14 oder gemeinsame Standpunkte nach Art. 15. Diese Bezeichnung deutet darauf hin, daß die Maßnahmen nicht einem einheitlichen Unionswillen, sondern dem gemeinsamen Willen der Mitgliedstaaten entspringen. Auch aus Art. 18 EUV, nach dem "die Union" durch den Vorsitz vertreten wird, folgt aufgrund des Zusammenhangs mit Art. 19 Abs. 1 S. 2 keine eindeutige Aussage über die Rechtsfähigkeit. Nach der letztgenannten Vorschrift koordinieren "die Mitgliedstaaten" in internationalen Organisationen und auf Konferenzen in Angelegenheiten der GASP ihr Handeln und vertreten die gemeinsamen Standpunkte. III Überdies setzt die Befugnis zur Darlegung bestimmter außenpolitischer Positionen keineswegs notwendigerweise die Verleihung der Rechtspersönlichkeit voraus. 112 Auch unter Heranziehung der impliedpowers-Lehre läßt sich diesen Bestimmungen insofern kein eindeutiger Hinweis für oder gegen die Rechtsfähigkeit der Union entnehmen. Ferner läßt Art. 49 EUV, der den Beitritt zur Union regelt, ebenfalls keinen zwingenden Schluß auf die Rechtssubjektivität der EU zu. Diese Vorschrift kann ohne weiteres auch so interpretiert werden, daß der Beitritt eines neuen Staates nur noch gleichzeitig zu allen drei Gemeinschaften mit der zusätzlichen Verpflichtung zur Beteiligung an den Politiken und Formen der Zusammenarbeit nach Titel V und VI EUV möglich ist. lJ3 Diese Auslegung wird insbesondere von Art. 49 Abs. 2 gestützt, nach dem 109 v. Bogdandy / Nettesheim, EuR 1996, 3 (25) mit Verweis auf den Beschluß des Rates 94 I 308 I GASP, ABI. Nr. Ll34 v. 30.05. 1994, S. 1, Art. 1; Trüe, S. 56 ff. 110 Dörr, EuR 1995,334 (343); Trüe, S. 49 ff. 111 Pechstein/ Koenig, Rn. 78; Streinz, Rn. 121 b; eine vergleichbare Anordnung für den Bereich der PJZS enthält Art. 37 EUV. 112 Epping in: Ipsen, § 6, Rn. 19; Pechstein/ Koenig, Rn. 78. 113 Pechstein/ Koenig, Rn. 79 ff.
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die Aufnahme des antragstellenden Staates durch ein Abkommen der Mitgliedstaaten der Union mit diesem Staat erfolgt, das dann durch alle Staaten nach den innerstaatlichen Grundsätzen ratifiziert werden muß. 114 Darüber hinaus ist die Union trotz der allmählich fortschreitenden Vertiefung der Zusammenarbeit noch nicht in der Lage, außerhalb der Gemeinschaftsverträge dauerhaft einen einheitlichen Willen zu bilden und auszuüben. 115 Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit gern. Art. 23 Abs. 2 EUV sind nur möglich, wenn diesen in der Sache bereits eine einstimmige Entscheidung vorausgegangen ist. Zudem kann eine Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip von einem Mitgliedstaat, der den zu fassenden Beschluß aus nationalen Gründen ablehnt, gern. Art. 23 Abs. 2 S. 2 verhindert werden. Auf diese Weise ist sichergestellt, daß eine Bindung der Mitgliedstaaten gegen ihren Willen aufgrund des EU-Vertrags nicht möglich iSt." 6 Nicht zuletzt ergibt sich auch aus Art. 24 EUV keine Kompetenz der Union zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge. Abs. 1 S. 3 dieser Vorschrift, nach dem ein Mitgliedstaat durch eine entsprechende Erklärung seines Vertreters im Rat erreichen kann, daß er durch die Übereinkunft nicht gebunden ist, macht deutlich, daß Vertragsparteien nur die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit sein sollen, nicht dagegen die Union selbst. 117 Festzuhalten ist daher, daß allein aus der Formulierung einzelner Bestimmungen des Unionsvertrags keine eindeutige Entscheidung der Mitgliedstaaten für oder gegen die Verleihung der Rechtssubjektivität abgeleitet werden kann. Der Union sind überdies keine Zuständigkeiten und Befugnisse verliehen worden, die ohne die gleichzeitige Zuerkennung der Rechtsfähigkeit nicht sinnvoll wahrgenommen werden könntenYs Dies wäre jedoch für die Annahme der impliziten Verleihung der Rechtssubjektivität erforderlich. Schließlich kann auch das von einigen Vertretern der erstgenannten Ansicht angeführte Argument, wegen Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK könne zumindest aufgrund der späteren Praxis der Vertragsstaaten auf die Rechtsfähigkeit geschlossen werden, nicht überzeugen. Zweifelhaft ist bereits, ob diese Auslegungsmethode auf den EU-Vertrag überhaupt anwendbar ist. Von einem großen Teil der Literatur wird 114 115
PechsteinlKoenig, Rn. 79. Streinz, Rn. 121 b.
116 Der Rat ist im übrigen auch die einzige Institution, die auf der Grundlage des EUV in der Lage ist, verbindliche Entscheidungen zu treffen. Insofern kann die Argumentation von Trüe, das Einstimmigkeitserfordemis sei zur Abgrenzung rechtsfähiger Organisationen von intergouvernementalen Konferenzen nicht geeignet, da ansonsten auch die Europäischen Gemeinschaften infolge des Luxemburger Kompromisses ihre Eigenschaft als rechtsfähige internationale Organisationen verloren hätten, nicht überzeugen. Im Rahmen der Gemeinschaften ist vor allem die Kommission als supranationales Element anzusehen, dessen verbindliche Entscheidungen dem Einfluß der mitgliedstaatlichen Regierungen entzogen sind. Auf der Grundlage der Gemeinschaftsverträge war eine Bindung der Mitgliedstaaten gegen ihren Willen daher trotz des Luxemburger Kompromisses stets möglich, nach dem EUV hingegen nicht. 117 Geiger, Art. 1 EUV, Rn. 7; KoeniglHaratsch, Rn. 770. 118 Bleckmann, Rn. 166; Streinz, Rn. 121 b; PechsteinlKoenig, Rn. 77 ff.
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B. Die Adressaten der Grundrechte
vertreten, daß die spezifisch völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätze trotz des völkerrechtlichen Ursprungs des EU-Vertrags auf diesen nicht anwendbar seien, da er als Teil einer in der Entwicklung begriffenen eigenständigen Rechtsordnung Verfassungscharakter habe. 1l9 Ferner läßt sich vertreten, daß die Berücksichtigung der späteren Praxis der Mitgliedstaaten in dieser Frage auch der Regelung des Art. 48 EUV widerspräche. 120 Diese Vorschrift sieht ein bestimmtes Verfahren für die Änderung des Primärrechts der Union vor, an dem Europäisches Parlament, Kommission und nationale Parlamente zu beteiligen sind. Da nach den bisherigen Untersuchungen dem Vertragstext die Zuerkennung der Rechtspersönlichkeit nicht zu entnehmen ist, könnte die Herleitung der Rechtssubjektivität aus der späteren Übung als gegen Art. 48 EUV verstoßende Vertragsänderung anzusehen sein. 121 Das letztendlich entscheidende Argument für die überwiegende Ansicht ist jedoch, daß das Ergebnis der erstgenannten Meinung sogar dem ausdrücklichen Willen der Vertrags staaten widerspricht. Im Rahmen der Verhandlungen über den Vertrag von Amsterdam hatte die irische Ratspräsidentschaft mehrere Varianten vorgeschlagen, wie der Union durch diesen Vertrag ausdrücklich die Rechtsfahigkeit verliehen werden könnte. 122 Diese Vorschläge wurden allerdings von einigen Delegationen ausdrücklich abgelehnt l23 , so daß eine zur Vertragsänderung erforderliche einstimmige Entscheidung in dieser Angelegenheit nicht möglich war. 124 119 Pemice in: Grabitz/Hilf, Altbd. 11, Art. 164 EGV, Rn. 33; Schwarze in: Schwarze, Art. 220 EGV, Rn. 27; Schwarze, EuR 1983, 1 (15); Streil in: BBPS, 7.2.4.1; a.A. Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1179); Oppermann, Rn. 680. 120 Pechstein/ Koenig, Rn. 75. 121 Von dem überwiegenden Teil der Literatur und dem EuGH wird in der Tat vertreten, daß Art. 48 EUVeine gemeinschaftsrechtlich zwingende Regelung enthält mit der Folge, daß Vertragsänderungen nur unter Beachtung des in dieser Vorschrift vorgesehenen Verfahrens zulässig sind; vgl. Vedder/Folz in: Grabitz/Hilf, Bd. 1, Art. 48 EUV, Rn. 47; Oppermann, Rn. 503; Beutler in: BBPS, 3.1.2.2; EuGH, Rs. 43175, 08. 04. 1976, Slg. 1976,455, Rn. 561 58 zu Art. 236 EGV 1Maastricht. Es finden sich allerdings auch Stimmen in der Literatur, die aus dem allgemeinen V6lkerrecht das Recht der Vertragsstaaten ableiten, abgeschlossene Verträge im Konsens jederzeit auch forrnfrei zu ändern, da auch von zunächst vereinbarten Änderungsmodalitäten wieder abgewichen werden könne; vgl. Koenig / Haratsch, Rn. 856 ff.; Seidl-Hohenveldem/Loibl, Rn. 1538 f. 122 CONF/2500196 v. 05. 12. 1996, S. 91 ff., und CONF/2500196, ADD. 1, v. 20. 3. 1997, S. 47 ff. 123 CONF/2500196v.05. 12. 1996,S. 94. 124 Diese Entstehungsgeschichte ist bei der Vertragsauslegung auch zu berücksichtigen. Zwar wird überwiegend davon ausgegangen, daß die historische Auslegungsmethode im Rahmen des Gemeinschaftsrechts nur eine untergeordnete Rolle spielt bzw. überhaupt nicht heranzuziehen ist. Dies wird damit begründet, daß die Normen des Gemeinschaftsrechts in der Regel eine Komprornißlösung nach kontroversen Verhandlungen darstellten, so daß die Stellungnahmen der Beteiligten, an die die historische Auslegung anknüpfen müßte, oft gegensätzliche, in der Regelung letztendlich nicht berücksichtigte Ansichten enthielten. Zudem werde diese Methode dem Verfassungscharaktet:-der Verträge und der Dynamik der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht gerecht. Anwendbar seien daher allein objektive, an Systematik und Vertragszielen orientierte Auslegungsgrundsätze; vgl. Bleckmann, NJW 1982, 1177
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene
39
Daraus läßt sich schließen, daß zumindest einige Mitgliedstaaten eine ausdrückliche Regelung zur Begründung der Rechtssubjektivität der Union für erforderlich halten und zu diesem Schritt bislang nicht bereit sind. 125 Zudem haben die Vertragsstaaten in der Amsterdamer Schlußakte im Hinblick auf Art. 24 EUV, dessen Formulierung den Schluß auf eine implizite Verleihung der Rechtsfähigkeit zuließe und der von Vertretern der erstgenannten Ansicht auch so interpretiert wird, ausdrücklich erklärt, daß diese Bestimmung keine Übertragung von Zuständigkeiten von den Mitgliedstaaten auf die Union zur Folge haben solle. 126 Der fehlende Wille der Mitgliedstaaten, der Union zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Rechtsfähigkeit zu verleihen, ist insofern deutlich zutage getreten. Entgegen diesem ausdrücklich erklärten Willen kann auf eine Verleihung der Rechtssubjektivität weder im Wege der implied-powers-Lehre noch durch Berücksichtigung einer späteren Gedoch vor den Verhandlungen über den Vertrag von Amsterdam erfolgten) Übung im Sinne des Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK geschlossen werden. Es fehlt insofern der notwendige übereinstimmende Wille der Gesamtheit der Mitgliedstaaten. 127 Jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Europäische Union daher kein eigenständiges, von der Gesamtheit der Mitgliedstaaten zu unterscheidendes Rechtssubjekt. Dieses Ergebnis läßt die Frage, wie die Konstruktion Union in Abgrenzung zu den drei Gemeinschaften und den Mitgliedstaaten zu definieren ist, unbeantwortet. In dieser Hinsicht herrscht auch unter den Vertretern der überwiegenden Ansicht keine Einigkeit. Während teilweise lediglich auf das wenig aussagekräftige Tempel- oder Säulenmodell verwiesen wird 128, ist die Union nach einem anderen Ansatz als ein nicht rechtsfähiges Konzernmodell zu verstehen, das sich als verbindende Organisation über die fünf eigenständigen Organisationen GASP, PJZS und Gemeinschaften erstreckt l29 . Wieder andere sehen in ihr einen nicht rechtsfähigen Verbund der drei Gemeinschaften und der Unionsstaaten, d. h. eine Verklammerung supranationaler und intergouvernementaler Elemente zur Erreichung gemein(1178 ff.); Meyer, Jura 1994,455 (455 f.). Die Bedenken, die gegen die historische Auslegung sprechen, greifen in dieser Konstellation aber nicht durch. Zum einen kann die Feststellung, ob ein bestimmter Änderungsvorschlag Eingang in den Vertrag gefunden hat, objektiv und unabhängig von evtl. irreführenden Stellungnahmen der Beteiligten getroffen werden. Zum anderen sind sowohl die implied-powers-Lehre als auch die Auslegung nach Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK auf die Ermittlung des wahren Willens der Vertragsstaaten ausgerichtet. Im Wege der implied-powers-Lehre soll von den Aufgaben und Kompetenzen, die der Union zustehen, auf die Absicht der Mitgliedstaaten, dieser Organisation Rechtssubjektivität zu verleihen, geschlossen werden, und auch die spätere Übung nach Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK soll nur Anhaltspunkt zur Ermittlung des Willens der Staaten sein. Insofern muß es zulässig sein, zur Widerlegung der auf diese Auslegungsmethoden gestützten Ansicht den bei der Entstehung des Vertrages zutage getretenen tatsächlichen Willen der Vertragsstaaten zu berücksichtigen. 125 Pechstein/Koenig, Rn. 65. 126 Geiger, Art. 1 EUV, Rn. 7; Pechstein/ Koenig, Rn. 83. 127 Pechstein/Koenig, Rn. 73 ff. 128 E. Klein in: HK, Art. A EUV, Rn. 41. 129 Busse, S. 162 ff., 256 ff., 308 f.
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B. Die Adressaten der Grundrechte
samer Ziele. 13o Dieses Problem muß im Rahmen der hier angestellten Untersuchungen aber nicht gelöst werden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang allein, daß die Union selbst mangels Rechtsfähigkeit nicht Grundrechtsverpflichtete sein kann. bb) Ergebnis Aufgrund der fehlenden Rechtssubjektivität kann das Gesamtgebilde Europäische Union nicht Adressat der Grundrechte sein. Daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Union die Rechtsfähigkeit noch abzusprechen ist, kann durchaus als bedauerlich bezeichnet werden, da es infolgedessen nach wie vor kaum möglich ist, griffig und für die europäische Öffentlichkeit verständlich zu definieren, was die Europäische Union denn nun eigentlich ist. Auch bleiben viele klärungsbedürftige Fragen, z. B. die des Verhältnisses zwischen Union und Gemeinschaften, offen. Die Schlußfolgerung ist jedoch symptomatisch für den derzeitigen Entwicklungsstand und die Integrationswilligkeit auf europäischer Ebene. Obwohl die Union bereits eine in Ansätzen körperschaftliche Struktur besitzt, obwohl die Bestimmungen des EUV einer Verleihung der Rechtsfähigkeit nicht entgegenstehen und die Zuerkennung der Rechtssubjektivität viele Unklarheiten beseitigen würde, sind die Mitgliedstaaten aus Furcht vor einem zu weitgehenden Verlust ihrer Eigenstaatlichkeit zu diesem an sich konsequenten Schritt nicht bereit. Aufgrund dieser Zögerlichkeit der Einzelstaaten läßt sich ein anderes Ergebnis, sei es auch noch so wünschenswert, zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht konstruieren. Es ist zwar damit zu rechnen, daß der Union im Zuge der fortschreitenden Integration früher oder später die Rechtsfähigkeit zuerkannt werden wird. Bis dahin kommen jedoch als Grundrechtsverpflichtete auf europäischer Ebene in erster Linie die drei Gemeinschaften, die die erste Säule der Union bilden, in Betracht. Darüber hinaus muß untersucht werden, in welcher Weise eine Grundrechtsbindung innerhalb der zweiten und dritten Säule der Union verwirklicht ist, wenn die Union selbst als Zurechnungs subjekt ausscheidet. b) Die Bindung der Europäischen Gemeinschaften aa) Die Adressaten der Grundrechte Der Grundrechtsschutz gegen Maßnahmen der drei Europäischen Gemeinschaften wird durch den EuGH seit dem Fall "Stauder" aus dem Jahr 1969 131 gewährleistet und fortentwickelt. Diese Rechtsprechung ist durch die Einführung von Art. 6 Abs. 2 EUV (Art. F Abs. 2 EUV I Maastricht) mit Wirkung auch für die Gemeinschaften (s.o. B.I.) vertraglich verankert worden. Da diesen in ihren Gründungsverträgen ausdrücklich die Rechtsfähigkeit verliehen worden ist (vgl. 130
\31
Pechstein/ Koenig, Rn. 92 ff. EuGH, Rs. 29/69,12.11. 1969, Slg. 1969,419.
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene
41
Art. 281 EGV, Art. 6 Abs. 1 EGKSV, Art. 184 Euratom), können sie unproblematisch selbst Grundrechtsadressaten sein. Fraglich ist insofern allein, wie sich diese Bindung in der Praxis realisiert. bb) Die Bedeutung der Grundrechtsbindung Wie bereits festgestellt wurde, werden für nicht handlungsfähige Rechtssubjekte deren Organe tätig. In der Praxis haben daher die Organe der Gemeinschaften bei der Erfüllung ihrer Aufgaben die Grundrechte zu beachten. Gern. Art. 7 Abs. 1 EGV sind Hauptorgane der Gemeinschaft das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, der Gerichtshof und der Rechnungshof. Darüber hinaus sieht Art. 7 Abs. 2 EGV den Wirtschafts- und Sozialausschuß sowie den Ausschuß der Regionen als Hilfs- oder Nebenorgane 132 vor, und Art. 8 und 9 EGV nennen die Europäische Zentralbank (EZB) und die Europäische Investitionsbank (EIB) als Gemeinschaftseinrichtungen mit organähnlichem Status 133. Seit dem Fusionsabkommen 1957 und dem Fusionsvertrag 1965 werden diese Organe einheitlich für alle drei Gemeinschaften tätig. Von Bedeutung ist die Grundrechtsbindung der Organe der Gemeinschaften insbesondere dann, wenn diese Rechtsakte erlassen, die unmittelbar wirksam und rechtlich verbindlich ist. Dazu ist zunächst der Rat in der Lage, der durch den Erlaß von Verordnungen und Entscheidungen für den Bürger Rechte und Pflichten erzeugen kann. Auch die Kommission hat einzelne legislative und vor allem exekutive Befugnisse, die geeignet sind, die Rechtssphäre des einzelnen zu beeinträchtigen. So kann sie beispielsweise in ihrer Funktion als europäische Kartellbehörde Buß- oder Zwangsgelder verhängen. Eine solche Entscheidung ist nach Art. 256 EGV auch vollstreckbar. Bedeutung erlangt die Grundrechtsbindung schließlich auch im Verhältnis zwischen den Gemeinschaften und ihren Bediensteten. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang noch die Grundrechtsbindung im Rahmen des Titels IV im dritten Teil des EGV (Art. 61 ff.). Dieser Titel enthält Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Justiz- und Innenpolitik, die durch den Vertrag von Amsterdam "vergemeinschaftet", d. h. aus dem Unionsvertrag in den EGV überführt worden sind. Folge dieser Vergemeinschaftung ist, daß die in Titel IV geregelten Bereiche nicht mehr auf der intergouvernementalen Ebene behandelt werden, sondern daß die im EGV vorgesehenen Handlungsinstrumente, Verfahren und Zuständigkeiten Anwendung finden, soweit in den Art. 61 ff. EGV nichts anderes vorgesehen iSt. 134 Unter Titel IV fallen insbesondere die Grenzkontrollen, die Visapolitik, das Asyl- und Asyl-
133
Calliess in: CaIliess I Ruffert, Art. 7 EGV, Rn. 5. Häde in: CaIliess/Ruffert, Art. 8 EGV, Rn. 4; Kohl in: Calliess/Ruffert, Art. 9 EGV,
134
Brechmann in: Calliess/Ruffert, Art. 61 EGV, Rn. 2.
132
Rn. 2.
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B. Die Adressaten der Grundrechte
verfahrensrecht, die Einwanderungspolitik, die justitielle Zusammenarbeit in Zivilsachen und die Zusammenarbeit der Verwaltungen. Die Einbeziehung dieser Bereiche in den EG-Vertrag soll die bisher rein wirtschaftliche Ausrichtung der Gemeinschaft erweitern. Ziel der Gemeinschaft ist nun nicht mehr nur die Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, sondern die Erhaltung und Weiterentwicklung eines Raumes "der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" (s. Art. 2 Abs. 1, 4. Spstr. EUV). Diese Zielsetzung und die damit verbundenen Aufgaben und Befugnisse charakterisieren an sich die Ausübung von Staatsgewalt in einem Rechtsstaat. In einem solchen Staat erfüllen jedoch die Grundrechte die Funktion, der Ausübung von Staatsgewalt Grenzen zu setzen. 135 Dementsprechend sind die in Titel IV geregelten Bereiche auch besonders "eingriffsnah".136 Sie enthalten Befugnisse, die zu erheblichen Eingriffen in die Rechtssphäre des einzelnen ermächtigen und denen aus diesem Grund durch die Grundrechte Schranken gesetzt werden müssen. Die Grundrechtsbindung in diesem Bereich der Ausübung von Hoheitsgewalt durch die Gemeinschaft ist daher von besonderer Bedeutung. cc) Ergebnis Die drei Gemeinschaften EG, EGKS und Euratom bzw. deren gemeinsame Organe sind Adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte gern. Art. 6 Abs. 2 EUV.
c) Die Bindung innerhalb der zweiten und dritten Säule der Union
aa) Die Adressaten der Grundrechte Neben den drei Gemeinschaften sind die durch den Vertrag von Maastricht eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit Grundlage der Europäischen Union (vgl. Art. lAbs. 3 EUV). Letztere waren ursprünglich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nach Art. J.l bis J.18 EUV I Maastricht und die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBH) nach Art. K.I bis Art. K.9 EUV I Maastricht. Teile der ZBH wurden jedoch durch den Vertrag von Amsterdam in den EG-Vertrag überführt. Im EU-Vertrag in der Fassung von Amsterdam verbleiben daher als Politiken und Formen der Zusammenarbeit i.S. des Art. 1 Abs. 3 EUV die GASP gern. Art. 11 bis 28 und die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) gern. Art. 29 bis 42. Entsprechend dem überwiegend verwendeten "Tempelmodell" wird die GASP in diesem Zusammenhang als zweite und die PJZS als dritte Säule der Union bezeichnet. Beide 135 Vgl. die Definition des Rechtsstaates bei Stern, Staatsrecht I, S. 781: ,,Rechtsstaatlichkeit bedeutet, daß die Ausübung staatlicher Macht nur auf der Grundlage der Verfassung und von fonnell und materiell verfassungsmäßig erlassenen Gesetzen mit dem Ziel der Gewährleistung von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zulässig ist". 136 Thun-Hohenstein, S. 22.
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene
43
Bereiche basieren im Gegensatz zu den in EGV, EGKSV und Euratom geregelten Materien auf dem Prinzip der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Die im EGV vorgesehenen Handlungsinstrumente und Verfahren sind nicht anwendbar, bei Beschlüssen ist grundsätzlich Einstimmigkeit erforderlich und der EuGH ist nur sehr eingeschränkt zuständig. Dementsprechend ist der EU-Vertrag insoweit auch nicht als supranationales Gemeinschaftsrecht, sondern als intergouvernementales Völkerrecht anzusehen. 137 Auf der Grundlage des EUV tätige Organe sind der Europäische Rat gern. Art. 4 EUV und nach Art. 5 EUV die Organe der Gemeinschaften, die zu bestimmten Aufgaben ergänzend herangezogen werden. Der Europäische Rat i.S. des Art. 4 EUV, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten der Kommission zusammensetzt, ist ein intergouvernementales Organ und nicht mit dem nach Maßgabe des EGV handelnden Ministerrat zu verwechseln. Seine Aufgabe ist es, der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse zu geben und die allgemeinen politischen Leitlinien festzulegen. Darüber hinaus kann er gern. Art. 13 Abs. 2 EUV sogenannte gemeinsame Strategien in Bereichen beschließen, in denen wichtige gemeinsame Interessen der Mitgliedstaaten bestehen. Zum Erlaß verbindlicher Rechtsakte ist er nicht befugt. Wichtigster Entscheidungsträger ist dagegen auch im Rahmen von GASP und PJZS der in Art. 5 EUV genannte Rat. Dieser ist in seiner personellen Zusammensetzung identisch mit dem Rat der Gemeinschaften, d. h. in ihm versammeln sich die jeweils zuständigen Vertreter der Mitgliedstaaten auf Ministerebene. Im Rahmen der GASP hat der Rat beispielsweise die Kompetenz, auf der Grundlage von Art. 12 ff. EUV gemeinsame Aktionen und gemeinsame Standpunkte der Mitgliedstaaten zu beschließen. Die übrigen in Art. 5 EUV genannten Organe der Gemeinschaften werden ebenfalls zu einzelnen Aufgaben im Rahmen von GASP und PJZS herangezogen. Ihnen stehen allerdings keine verbindlichen Entscheidungsbefugnisse zu. Daß die in Art. 6 Abs. 2 EUV manifestierte Grundrechtsbindung der Union auch im Rahmen der zweiten und dritten Säule gilt, ist unstreitig. 138 Allerdings ist entsprechend den Ausführungen unter B.l.l.a)aa)(3) die Europäische Union als Gesamtgebilde kein eigenständiges Rechtssubjekt. Sie kann daher nicht selbst Grundrechtsadressat sein. Aus den gleichen Gründen existiert auch im Rahmen der im EU-Vertrag geregelten zweiten und dritten Säule der Union kein von den Mitgliedstaaten zu unterscheidendes selbständiges Rechtssubjekt, das Zurechnungssubjekt der Grundrechte sein könnte. Es ist bereits festgestellt worden, daß auch auf dem Gebiet von GASP und PJZS keine Aufgaben und Zuständigkeiten begründet worden sind, die die Verleihung der Rechtsfahigkeit notwendigerweise voraussetzen würden. Zudem bezieht sich der Unwille der Mitgliedstaaten, wegen eines möglichen Verlusts an Eigenstaatlichkeit zu viele Kompetenzen aufzugeben, gerade Geiger; Art. 1 EUV, Rn. 5. Geiger; Art. 6 EUV, Rn. 8; Kingreen in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 55; E. Klein in: HK, Art. F EUV, Rn. 10; Thun-Hohenstein, S. 22. 137
138
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B. Die Adressaten der Grundrechte
auf die in der GASP geregelten Materien. 139 Es ist daher kein Grund ersichtlich, weshalb die Mitgliedstaaten bereit sein sollten, im Rahmen der zweiten und dritten Säule der Union ein selbständiges Rechtssubjekt mit eigenen Kompetenzen anzuerkennen. 140 Wird in diesem Zusammenhang der Unionsbegriff genannt, so bezeichnet er die Gesamtheit der Mitgliedstaaten in ihrer durch den EU-Vertrag geschaffenen Verbundenheit. 141 Art. 6 Abs. 2 EUV begriindet insofern für die aufgrund des Unionsvertrages und in den dort vorgesehenen Formen handelnden Mitgliedstaaten die völkerrechtliche Verpflichtung, bei dieser Tätigkeit die Grundrechte zu beachten. 142 Adressaten der Grundrechte im Rahmen der zweiten und dritten Säule der Union sind die Mitgliedstaaten in ihrer intergouvernementalen Zusammenarbeit. Dieses Ergebnis hat auch Auswirkungen auf die Einordnung der im Rahmen von GASP und PJZS tätigen Organe und Einrichtungen und deren Grundrechtsbindung. Ein Organ zeichnet sich dadurch aus, daß es für ein nicht handlungsfähiges Rechtssubjekt tätig wird und dieses durch sein Handeln berechtigt und verpflichtet. 143 Mangels eigenständiger Rechtspersönlichkeit kann die EU selbst daher auch keine eigenen Organe haben. l44 Die exakte Zuordnung der auf Grundlage des EUV handelnden Organe und Einrichtungen ist insofern problematisch. Die Versuche, den Europäischen Rat näher zu definieren, reichen dementsprechend von der Bezeichnung als "einziges genuines Organ der EU,,145 oder "politisches Leitorgan,,146 über die Einordnung als Vertragsorgan der Mitgliedstaaten 147 bis hin zu der Qualifizierung als besonders ausgestaltete Form einer Regierungskonferenz l48 . Unabhängig von diesen Begrifflichkeiten ist jedoch entscheidend, daß das Handeln des Europäischen Rates wegen der fehlenden Rechtsfähigkeit der Union allein den Mitgliedstaaten zuzurechnen ist. 149 Aus dem gleichen Grund können auch die in Art. 5 EUV aufgeführten Organe der Gemeinschaften nicht zugleich Organe der EU sein. Ihre Tätigkeit aufgrund des Unionsvertrages kann nur mit der Rechtsfigur Pechstein/ Koenig, Rn. 90. Dementsprechend kann auch die Ansicht Busses (vgl. Fn. 129), nach der das Gesamtgebilde Europäische Union als Konzernmodell anzusehen ist, das sich auf fünf eigenständige internationale Organisationen erstreckt, nicht überzeugen. 141 Geiger, Art. 3 EUV, Rn. 6, Art. 6 EUV, Rn. 2. 142 Thun-Hohenstein, S. 21 f.; Pemice, DVBl. 2000, 847 (855). 143 Maurer, § 21, Rn. 24; Koenig/Haratsch, Rn. 768; Epping in: Ipsen, § 6, Rn. 14. 144 Pechstein/Koenig, Rn. 181; Koenig/Haratsch, Rn. 768. 145 E. Klein/Haratsch, DÖV 1993,785 (788). 146 Beutler in: BBPS, 2.2.2.2.; Streinz, Rn. 279. 147 Geiger, Art. 4 EUV, Rn. 2; E. Klein in: HK, Art. D EUV, Rn. 3; Hilf/Pache in: Grabitz/Hilf, Altbd. I, Art. D EUV, Rn. 9. 148 Pechstein/ Koenig, Rn. 170 ff.; Capotorti in: FS-Pescatore, S. 87; Koenig / Haratsch, Rn. 770. 149 Hilf/Pache in: Grabitz/Hilf, Altbd. I, Art. E EUV, Rn. 7; Pechstein/Koenig, Rn. 171; Koenig / Haratsch, Rn. 768. 139
140
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene
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der Organleihe zugunsten der Mitgliedstaaten erklärt werden. 150 Auch das Handeln dieser Organe im Rahmen von GASP und PJZS wird somit letztlich den Mitgliedstaaten zugerechnet. Im Rahmen der zweiten und dritten Säule der Union müssen folglich die Mitgliedstaaten und die für diese handelnden Organe die Grundrechte beachten. bb) Die Bedeutung der Grundrechtsbindung Derzeit können Beschlüsse im Rahmen von GASP und PJZS aufgrund ihres rein völkerrechtlichen Charakters kein gegenüber dem einzelnen unmittelbar anwendbares Recht erzeugen. Konkrete Grundrechtsbeeinträchtigungen können nur durch die innerstaatlichen Transformationsakte ausgelöst werden. 151 Eine zumindest mittelbare Grundrechtserheblichkeit kann sich jedoch daraus ergeben, daß bestimmte Maßnahmen des Rates für die Mitgliedstaaten in dem Sinne verbindlich sind, daß sie diese zu einem bestimmten Verhalten verpflichten. Darunter fallen beispielsweise die gemeinsamen Aktionen gern. Art. 14 EUV oder die bindenden Rahmenbeschlüsse und sonstigen Beschlüsse gern. Art. 34 Abs. 2 lit. bund c EUV. Aus diesem Grund ist es wichtig, daß die Grundrechte schon bei der Verabschiedung von Maßnahmen auf Grundlage des EUV berücksichtigt werden, wenn die Durchführung dieser Maßnahmen in den Staaten Grundrechtseingriffe zur Folge haben könnte. 152 Als Beispiele für Beschlüsse im Rahmen der GASP, die jedenfalls mittelbar Grundrechtsbeeinträchtigungen bewirkt haben, sind die gemeinsamen Standpunkte zu nennen, durch die gegenüber Drittstaaten Kapital-, Zahlungsverkehrsund Wirtschaftsembargomaßnahmen verhängt worden sind. 153 Aus dem Bereich der PJZS (damals: ZBJI) ist eine gemeinsame Maßnahme aufgrund von Art. K.3 Abs. 2 lit. b EUV / Maastricht erwähnenswert, nach der die Mitgliedstaaten Informationen über gewaltbereite Personengruppen, die eine Binnengrenze überschreiten, austauschen sollten. 154 Durch die Umsetzung solcher Beschlüsse können Grundrechtseingriffe für die Betroffenen bewirkt werden. Diese Beispiele machen deutlich, daß eine Grundrechtsbindung auch im Bereich der zweiten und dritten Säule der Union unerläßlich ist.
150 Fischer/Köck, S. 260; E. Klein in: HK, Art. 4 EGV, Rn. 5; differenzierend Pechstein/ Koenig, Rn. 181 ff.: Rat ist Vertragsorgan auf Grundlage des EU-Vertrages, Organleihe bzgl. der übrigen Gemeinschaftsorgane. 151 Pechstein, DÖV 1998,569 (575); BVerfGE 89,155 (176). 152 E. Klein in: HK, Art. F EUV, Rn. 10. 153 Cremer in: CaIliess/Ruffert, Art. 15 EUV, Rn. 5; vgl. z. B. 98/374/GASP: Verbot von Neuinvestitionen in Serbien, ABI. Nr. L 165 v. 10. 06. 1998, S. 1; 98/4091 GASP: Verbot von Verkauf und Lieferung von Waffen nach Sierra Leone, ABI. Nr. L 187 v. 01. 07. 1998, S.l. 154 Gemeinsame Maßnahme über die Zusammenarbeit im Bereich der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, ABI. Nr. L 147 v. 05. 06. 1997, S. 1.
4 Große Wentrup
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B. Die Adressaten der Grundrechte
cc) Ergebnis Adressaten der Grundrechte im Rahmen der zweiten und dritten Säule der Union sind die Mitgliedstaaten in ihrer intergouvernementalen Zusammenarbeit.
d) Die Bindung internationaler Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit aa) Die Adressaten der Grundrechte Schließlich ist noch von Interesse, ob und inwieweit die von den Mitgliedstaaten auf Grundlage des EUV gegründeten internationalen Organisationen an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind. Wichtigstes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die europäische Polizeibehörde Europol. Diese ist von den Mitgliedstaaten durch das Europol-Übereinkommen vom 26. Juli 1995 als internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit errichtet worden und hat am 1. Juli 1999 ihre Tätigkeit aufgenommen. Bisher ist Europol eine reine Datensammlungszentrale l55 ohne Exekutivbefugnisse. Die Behörde sammelt Daten, die ihr von den Mitgliedstaaten, Drittstaaten oder DrittsteIlen (z. B. Interpol) übermittelt werden oder aus eigener Analysetätigkeit hervorgehen und stellt diese in eigenen Datenbanken zusammen. Diese Datenbanken enthalten nicht nur Informationen über Täter und Tatverdächtige, sondern auch über Opfer, Zeugen, Kontaktpersonen und Informanten. 156 Die Daten können dann den Mitgliedstaaten, Drittstaaten oder DrittsteIlen zur Unterstützung ihrer Ermittlungstätigkeit zur Verfügung gestellt werden. Gern. Art. 30 Abs. 2 lit. a und b EUV ist überdies geplant, Europol auch Befugnisse im operativen Bereich, beispielsweise die Mitwirkung bei der Vorbereitung spezifischer mitgliedstaatlicher Ermittlungsmaßnahmen, zu übertragen. Mit der Einräumung exekutiver Kompetenzen ist zumindest mittelfristig zu rechnen. 157 Zudem ermächtigt auch die gegenwärtige Aufgabenzuweisung Europol bereits, in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung einzugreifen. 158 Insofern ist die Bindung der Behörde an die Grundrechte ein wichtiger Bestandteil des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene. Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EUV, "die Union" achte die Grundrechte, läßt allerdings nicht ohne weiteres den Schluß zu, daß auch auf der Grundlage des EUV geschaffene internationale Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit erfaßt sein sollen. Aufgrund der Tatsache, daß in der EU 11 Amtssprachen existieGeiger, Art. 30 EUV, Rn. 17. Vgl. Art. 10 ff. Europol-Übereinkornmen. 157 Vgl. Z. B. den SPD-Leitantragsentwurf "Verantwortung für Europa", FAZ v. 02. 10. 2001, S. 3, nach dem Europol im Sinne einer operativen europäischen Polizei mit exekutiven Befugnissen ausgebaut werden soll. 158 Waechter, ZRP 1996,167 (168 f.); FroweinlKrisch, JZ 1998,589 (590). 155
156
I. Die Grundrechtsbindung auf europäischer Ebene
47
ren, kommt der grammatischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht allerdings weit weniger Bedeutung zu als in den nationalen Rechtsordnungen. 159 Wichtigste Methode ist in diesem Zusammenhang die teleologische Auslegung, die sich an den in Art. 2 EGV und Art. 2 EUV sowie in den Präambeln verankerten Zielen der Verträge orientiert. l60 Ziel der Union soll unter anderem die Schaffung eines Raumes "der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" (vgl. Art. 2 Abs. 1,4. Spstr. EUV) sein. Es ist insofern davon auszugehen, daß Art. 6 Abs. 2 EUV darauf gerichtet ist, die gesamte Ausübung von Hoheitsgewalt auf europäischer Ebene an die Grundrechte zu binden. Europol ist zwar eine eigenständige internationale Organisation, die Behörde ist aber - wie die Art. 29 ff. EUV zeigen - in die PJZS eingebunden und kann nach Art. 30 Abs. 2 EUV auch durch PJZS-Beschlüsse abgeändert werden. 161 Es ist daher anzunehmen, daß von der weiten und - wie bereits oben gezeigt - etwas ungenauen Formulierung des Art. 6 Abs. 2 EUVauch die im Rahmen der zweiten und dritten Säule der Union gegründeten Einrichtungen erlaßt sein sollen. bb) Ergebnis Auch die von den Mitgliedstaaten auf der Grundlage des EUV gegründeten internationalen Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit sind Adressaten der Grundrechte gern. Art. 6 Abs. 2 EUV.
e) Ergebnis
Zusammenfassend bedeutet Art. 6 Abs. 2 EUV, nach dem "die Union" die Grundrechte achtet, im Hinblick auf die Grundrechtsadressaten folgendes: Die Formulierung "die Union" bezieht sich auf das auf europäischer Ebene tätige Gesamtgebilde Europäische Union. Dadurch wird allgemein und etwas unscharf die Bindung aller Rechtssubjekte und ihrer Organe angeordnet, die auf dieser Ebene unmittelbar oder mittelbar Hoheitsgewalt ausüben. Dazu zählen die Europäischen Gemeinschaften mit ihren Organen, die im Rahmen der zweiten und dritten Säule kooperierenden Mitgliedstaaten und die für sie auf der Grundlage des EUV handelnden Organe sowie die nach Maßgabe des EUV geschaffenen eigenständigen internationalen Organisationen.
159 160
161
4*
Huber; Integration, § 8, Rn. 2; Wegener in: Calliess I Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 11. Huber; Integration, § 8, Rn. 2; Herdegen, Rn. 200; Bleckmann, Rn. 547. Pechstein/ Koenig, Rn. 354.
B. Die Adressaten der Grundrechte
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2. Die Bindung der Organe und Einrichtungen der Union nach Art. 51 Abs. 1 EuGRC Nach Art. 51 Abs. 1 EuGRC gilt die Charta für die "Organe und Einrichtungen der Union". Ob damit eine vergleichbare oder sogar eine weitergehende Bindung angeordnet wird, ist im folgenden zu untersuchen. Die Union als Gesamtgebilde kann mangels Rechtspersönlichkeit nicht selbst Grundrechtsadressat sein. Auch im Zusammenhang mit Art. 51 Abs. 1 EuGRC kommen als Grundrechtsverpflichtete daher nur die Gemeinschaften, die zweite und dritte Säule der Union und die auf der Grundlage des EUV geschaffenen internationalen Organisationen in Betracht. Die Formulierung von Art. 51 Abs. 1 EuGRC, die auf Organe und Einrichtungen "der Union" verweist, ist insofern etwas unscharf. Sie trägt auf diese Weile allerdings dem Umstand Rechnung, daß in der Praxis entscheidend ist, welche gegenüber dem Bürger auftretende Instanz bei ihrer Tätigkeit die Grundrechte zu beachten hat. a) Die Bindung der Europäischen Gemeinschaften
Die drei Gemeinschaften EG, EGKS und Euratom bilden gemeinsam die erste Säule der Union. Da sich Art. 51 Abs. 1 EuGRC auf die gesamte Union bezieht (s. o. B.I.), folgt aus der Vorschrift, daß alle Organe und Einrichtungen der Gemeinschaften im Rahmen ihrer Tätigkeit die Grundrechte beachten müssen. Deren Handlungen sind wiederum den mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Gemeinschaften zuzurechnen. Hinsichtlich der Grundrechtsadressaten im Rahmen der ersten Säule der Union ergeben sich insofern keine Unterschiede gegenüber der Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV. b) Die Bindung innerhalb der zweiten und dritten Säule der Union
Adressaten der Grundrechte im Rahmen von GASP und PJZS sind alle Organe und Einrichtungen, die aufgrund des Unionsvertrages und in den dort vorgesehenen Formen tätig werden. Darunter fallen der Europäische Rat i.S. des Art. 4 EUV und die Organe der Gemeinschaften, soweit diese auf der Grundlage des EUV handeln. Wie bereits festgestellt, existiert jedoch im Rahmen der zweiten und dritten Säule der Union ebenfalls kein eigenständiges Rechtssubjekt, dem die Tätigkeit dieser Organe zugerechnet werden könnte. Der Unionsbegriff bezeichnet in diesem Zusammenhang die Gesamtheit der Mitgliedstaaten in ihrer durch den EU-Vertrag geschaffenen Verbundenheit. 162 Auch Art. 51 Abs. 1 EuGRC begründet insofern die völkerrechtliche Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, bei ihrer Tätigkeit auf der Grundlage und in den Formen des EU- Vertr~gs die Grundrechte zu beachten. 162
Geiger, Art. 3 EUV, Rn. 6, Art. 6 EUV, Rn. 2.
II. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
49
c) Die Bindung internationaler Organisationen
mit eigener Rechtspersönlichkeit
Schließlich ist noch auf die Bindung der von den Mitgliedstaaten auf Grundlage des EU-Vertrags errichteten internationalen Organisationen, in erster Linie Europols, einzugehen. Auch diese Behörde ist nicht im eigentlichen Wortsinn ein Organ oder eine Einrichtung der Union, da sie aufgrund der ihr verliehenen Rechtsfähigkeit eigenständig ist. Dennoch ist Europol in den EU-Vertrag eingebunden und durch diesen abänderbar [so o. B.l.l.d)aa)]. Die Behörde ist daher eine auf Unionsebene und nach Maßgabe von Unionsrecht tätige Einrichtung. Zudem ist die für einen Grundrechtekatalog sehr ausführliche Regelung über den Datenschutz in Art. 8 EuGRC geradezu auf die Befugnisse Europols zugeschnitten. Schließlich ist auch nicht davon auszugehen, daß die Grundrechtecharta im Hinblick auf die Bindung auf Unionsebene hinter der bisherigen Regelung zurückzubleiben bezweckt. 163 Die Anordnung des Art. 51 Abs. 1 EuGRC erstreckt sich demnach auch auf Europol und vergleichbare Institutionen. d) Ergebnis Hinsichtlich der Grundrechtsadressaten auf europäischer Ebene trifft Art. 51 Abs. 1 EuGRC im Ergebnis die gleiche Regelung wie Art. 6 Abs. 2 EUV. 3. Ergebnis Sowohl nach der bisherigen Rechtslage als auch nach der Anordnung des Art. 51 Abs. 1 EuGRC sind alle Rechtssubjekte samt ihrer Organe, die auf europäischer Ebene unmittelbar oder mittelbar mit der Ausübung von Hoheitsgewalt befaßt sind, an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden. Dazu zählen die Europäischen Gemeinschaften mit ihren Organen, die im Rahmen der zweiten und dritten Säule kooperierenden Mitgliedstaaten und die für sie auf der Grundlage des EUV handelnden Organe sowie die nach Maßgabe des EUV geschaffenen eigenständigen internationalen Organisationen.
11. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten Neben der Grundrechtsverpflichtung auf europäischer Ebene ist ferner von Interesse, ob und inwieweit die Mitgliedstaaten einer Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte unterliegen, die über die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte anläßlich des Zusammenwirkens im Rahmen der zweiten und dritten Säule der 163
Rengeling in: FS-Rauschning, S. 237.
50
ß. Die Adressaten der Grundrechte
Union hinausgeht. Auch in diesem Zusammenhang ist zwischen der bisher infolge von Art. 6 Abs. 2 EUV bzw. der Rechtsprechung des EuGH bestehenden Bindung und dem Umfang der Verpflichtung nach Art. 51 Abs. 1 EuGRC zu unterscheiden. 1. Die bisherige Bindung
Laut Art. 6 Abs. 2 EUV achtet allein "die Union" die Grundrechte. Diese Formulierung läßt sich auf zweierlei Weise interpretieren: Zum einen könnte man annehmen, daß tatsächlich allein europäische Organe und Einrichtungen an die Grundrechte gebunden sein sollen und eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten völlig ausgeschlossen ist. 164 Der Wortlaut ließe allerdings auch die Auslegung zu, daß die Mitgliedstaaten, die ja als hinter der GASP und der PJZS stehende Rechtssubjekte gemeinsam mit den drei Gemeinschaften die Union bilden, bei ihrem gesamten Handeln die vom EuGH entwickelten Grundrechte beachten müssen. Beide Interpretationen werden allerdings dem Sinn und Zweck dieser Regelung nicht gerecht. Durch Art. 6 Abs. 2 EUV sollte die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH eine vertragliche Grundlage erhalten. 165 Das zeigt sich unter anderem darin, daß in der Vorschrift die Formulierungen des EuGH zu den Rechtsquellen der Grundrechte fast wörtlich übernommen worden sind. 166 Ziel der Regelung war daher weder eine Beschränkung noch eine Erweiterung dieser Rechtsprechung. Die Ermittlung des Umfangs der bisher bestehenden Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte hat sich folglich an den vom EuGH entwickelten Grundsätzen zu orientieren. Wie die Grundrechtsrechtsprechung überhaupt, ist auch die Judikatur zur Bindung der Mitgliedstaaten Gegenstand eines allmählich fortschreitenden Entwicklungsprozesses gewesen. In der Entscheidung "Rutili" vom 28. Oktober 1975 hat der Gerichtshof erstmals angedeutet, daß nationale Regelungen im Bereich des Gemeinschaftsrechts an der EMRK zu messen sein könnten. 167 Diese Entscheidung ist allerdings insgesamt noch zu vorsichtig formuliert, als daß man ihr die Anordnung der Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte für mitgliedstaatliches Handeln entnehmen könnte. 16S Das etwa zehn Jahre später ergangene Urteil im Fall "Cinetheque" vom 11. Juli 1985 enthielt sogar noch eine recht deutliche Absage an eine Grundrechtsbindung der Staaten und eine entsprechende Kontrolle durch den EuGH. Der Gerichtshof führte in dieser Entscheidung aus, er habe zwar für die Einhaltung der Grundrechte auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts zu sorgen, er könne jedoch nicht prüfen, "ob ein nationales Gesetz, das ( ... ) zu einem Bereich So in der Tat Stumpfin: Schwarze, Art. 6 EUV, Rn. 16. JürgensenlSchlünder; AöR 121 (1996),200 (204); Hilfin: Grabitz/Hilf, Altbd. I, Art. F EUV, Rn. 45; Hengstschläger; Ißl. 2000,409 (412). 166 Bleckmann, Rn.-9&, Killgreenin: Calliess I Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 17. 167 EuGH, Rs. 36175, 28. 10. 1975, Slg. 1975, 1219 ff. 168 Ruffert, EuGRZ 1995,518 (520). 164
165
II. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
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gehört, der in das Ermessen des nationalen Gesetzgebers fällt, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist". 169 Eine Wende nahm diese Rechtsprechung erst in den Fällen "Klensch,,170 und "Wachaur,17I aus den Jahren 1986 und 1989. In diesen im gemeinschaftlichen Agrarrecht angesiedelten Entscheidungen stellte der EuGH erstmals fest, daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaftsgrundrechte zu berücksichtigen hätten, soweit sie mit der Durchführung von Gemeinschaftsrecht befaßt seien. Diese Rechtsprechung ist in weiteren Entscheidungen verfestigt und insbesondere durch die Entscheidung "ERT" aus dem Jahr 1991 172 wesentlich ausgedehnt worden. Mittlerweile verwendet der EuGH in ständiger Rechtsprechung' die Formulierung, eine nationale Regelung sei an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen, wenn sie "in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts,,173 falle. Dies ist nach Ansicht des Gerichtshofs zum einen der Fall, wenn die Mitgliedstaaten mit der Vollziehung oder Umsetzung von Gemeinschaftsrecht befaßt sind. Zum anderen kommt eine Bindung staatlicher Instanzen an die Gemeinschaftsgrundrechte in Betracht, wenn durch eine nationale Regelung eine gemeinschaftliche Grundfreiheit beschränkt wird. Im folgenden sollen zunächst diese Fallgruppen erläutert und die Auffassung des Gerichtshofs kritisch untersucht werden. Im Anschluß daran sollen in der Literatur entwickelte alternative Ansätze vorgestellt und diskutiert werden. a) Durchführung von Gemeinschaftsrecht
In der Fallgruppe "Durchführung von Gemeinschaftsrecht" werden drei verschiedenen Situationen zusammengefaßt, in denen sich die Mitgliedstaaten nach Meinung des EuGH im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bewegen. Zunächst ist es Aufgabe der Staaten, gemeinschaftliche Verordnungen zu vollziehen. Seit einer Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 1970 können aber auch Richtlinien, die an sich einer Umsetzung in nationales Recht bedürfen, ausnahmsweise unmittelbar anwendbar sein. 174 In diesem Fall haben die nationalen Behörden dann ebenfalls die Aufgabe, Gemeinschaftsrecht zu vollziehen. Mittelbar mit der Anwendung von Gemeinschaftsrecht befaßt sind die nationalen Instanzen schließlich, wenn eine nicht unmittelbar anwendbare Richtlinie in nationales Recht umgesetzt wird und dieses Recht vollzogen werden muß.
EuGH, Rs. 60 und 61/84,11. 07.1985, Sig. 1985,2605, Rn. 26. EuGH, Rs. 201 und 202/85,25.11. 1986, Sig. 1986,3477. 171 EuGH, Rs. 5/88,13.07.1989, Sig. 1989,2609. 172 EuGH, Rs. C-260/89, 18.06.1991, Sig. 1991,2925. 173 EuGH, Rs. C-I44/95, 13.06. 1996, Sig. 1996,1-2909, Rn. 12; Rs. C-309/96, 18. 12. 1997, Sig. 1997,1-7493, Rn. 13. 174 EuGH, Rs. 9170,06.10.1970, Sig. 1970,825 (837 ff.). 169
170
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B. Die Adressaten der Grundrechte
aa) Vollziehung von Verordnungen und unmittelbar anwendbaren Richtlinien Daß die Mitgliedstaaten bei der Vollziehung von Verordnungen an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sind, hat der Gerichtshof mehrfach ausdrücklich ausgesprochen. 175 Eine Entscheidung zur Bindung bei der Vollziehung unmittelbar anwendbarer Richtlinien liegt bislang noch nicht vor. Da die mitgliedstaatlichen Behörden aber auch in dieser Konstellation Gemeinschaftsrecht anwenden, ist davon auszugehen, daß sie von der EuGH-Rechtsprechung ebenfalls erfaßt wird. 176 In der Praxis bewirkt die Grundrechtsbindung, daß die nationalen Behörden verpflichtet sind, das ihnen eingeräumte Ermessen im Sinne der Gemeinschaftsgrundrechte auszuüben. l77 Letztendlich ist dies nichts anderes als die Pflicht, die Verordnungen und Richtlinien grundrechtskonform auszulegen. 178 Die Auffassung des EuGH, daß in diesen Situationen die Gemeinschaftsgrundrechte eingreifen, wird von dem ganz überwiegenden Teil der Literatur geteilt. 179 Lediglich Coppel/ O'Neill sind auch in bezug auf diese Fallgruppe der Ansicht, der Gemeinschaft fehle die Kompetenz, eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte anzuordnen und durchzusetzen. 180 Sie gehen in ihrer Kritik sogar so weit, dem Gerichtshof vorzuwerfen, er schütze die Grundrechte nicht um ihrer selbst willen, sondern instrumentalisiere sie, um den Einfluß der Gemeinschaft auf die Mitgliedstaaten zum Zweck der Beschleunigung der wirtschaftlichen Integration vertragswidrig auszuweiten. 181 Durch einen solchen "offensive use of fundamental rights" werde die Idee der Grundrechte entwertet; zudem bringe der EuGH sich selbst dadurch in Verruf. 182 Diesen Bedenken steht auf seiten der überwiegenden Meinung eine Vielzahl von Argumenten gegenüber. Einige dieser Erwägungen haben allerdings eher rechtspolitisches Gewicht. So wird beispielsweise angeführt, die Bindung der Mitgliedstaaten sei schon deshalb gerechtfertigt, weil die Gemeinschaftsgrundrechte ohnehin aus den nationalen Verfassungsordnungen im Wege der Rechtsvergleichung ermittelt würden. 183 Die nationalen Grundrechtsbestimmungen sind aber von Staat zu Staat sehr unterschiedlich, und der EuGH entwickelt die Grundrechte auch immer unter Berücksichtigung der besonderen Ziele der Gemeinschaft. Von der 175 Vgl. z. B. EuGH, Rs. 201 und 202/85, 25. 11. 1986, Sig. 1986,3477; Rs. C-63/93, 15.02. 1996, Sig. 1996,1-569. 176 Cirkel, S. 93. 177 Fischer; § 6, Rn. 12; Kingreen in: CaIliess 1Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 57. 178 Huber; Integration, § 6, Rn. 35. 179 Bleckmann/Pieper in: Dauses, Bd. 1, B.I, Rn. 116, 149; Hiljin: Grabitz/Hilf, Altbd. I, Art. F EUV, Rn. 45; Kingreen in: CaIliess 1Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 57 f.; Rengeüng, S. 191. 180 Coppel/O'Neill, CMLR 1992,669 (670). 181 Coppel/O'Neill, CMLR 1992. 669 (670). 182 Coppel/O'Neill, CMLR 1992,669 (691 f.). 183 So aber Temple Lang, Legal Issues ofEuropean Integration 1991/2,23 (29).
Ir. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
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Bindung der Mitgliedstaaten an die nationalen Grundrechte kann daher nicht auf die Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte geschlossen werden. 184 Überzeugend sind demgegenüber die Argumente, die an die Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten und das daraus folgende Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Recht anknüpfen. Infolge der Kompetenzvermutung zugunsten der Mitgliedstaaten sind mitgliedstaatliche Maßnahmen grundsätzlich allein anhand der nationalen Grundrechte kontrollierbar. 185 Aus diesem Grund kommt ein Schutz durch die Gemeinschaftsgrundrechte nur dann in Betracht, wenn und soweit die Anwendung nationaler Verfassungsbestimmungen den Vorrang des Gemeinschaftsrechts und seine einheitliche Anwendung gefährden würde. 186 Wenn die Mitgliedstaaten Verordnungen und unmittelbar anwendbare Richtlinien vollziehen, weist ihr Handeln einen sehr starken gemeinschaftsrechtlichen Bezug auf. 187 Die Gemeinschaft erscheint aufgrund der rechtlichen Vorgaben als Miturheber des staatlichen Handeins; die Mitgliedstaaten werden gewissermaßen als deren "verlängerter Arm" tätig. 188 Diese Konstellation wird daher treffend auch als "agency situation" bezeichnet. 189 Um dem Gemeinschaftsrecht zu optimaler Wirksamkeit nach dem Gebot des "effet utile" zu verhelfen, muß in diesen Fällen zur Förderung der einheitlichen Anwendung auch ein möglichst einheitlicher Grundrechtsschutz in den einzelnen Staaten gewährleistet sein. 190 Hinzu kommt, daß Verordnungen und unmittelbar anwendbare Richtlinien als sekundäres Gemeinschaftsrecht auch nach der Rechtsprechung des BVerfG grundsätzlich nicht anhand der nationalen Grundrechte zu überprüfen sind. 191 Diese Sperrwirkung des Gemeinschaftsrechts muß aber auch für nationale Vollzugsmaßnahmen gelten, da ansonsten über eine Kontrolle der innerstaatlichen Regelungen am Maßstab des Grundgesetzes der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ausgehebelt werden könnte. 192 Die nationalen Behörden sind daher beim Vollzug von Verordnungen und unmittelbar anwendbaren Richtlinien nicht an die nationalen, sondern allein an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden. Die Gemeinschaft hat insofern - in Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip - die Kompetenz, zu den sekundärrechtlichen Regelungen einen grundrechtlichen Standard für die Durchsetzung dieser Vorschriften zu gewährleisten. 193 Der Ansicht des EuGH und der überwiegenden Literaturmeinung ist aus diesen Gründen der Vorzug zu geben. Ruffert, EuGRZ 1995,518 (524). Kingreen in: Calliess I Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 56. 186 Kingreen in: Calliess I Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 56. 187 Ruffert, EuGRZ 1995,518 (527). 188 Ruffert, EuGRZ 1995,518 (527); KingreenlStörmer, EuR 1998, 263 (280). 189 KingreenlStörmer, EuR 1998,263 (279). 190 Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (527). 191 BVerfGE 89,155 (174 f.). 192 KingreenlStörmer, EuR 1998,263 (280); Kingreen in: Caliiess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 58. 193 Kingreenl Störmer, EuR 1998, 263 (280 f.). 184 185
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B. Die Adressaten der Grundrechte
Bei der Vollziehung gemeinschaftlicher Verordnungen und unmittelbar anwendbarer Richtlinien sind die nationalen Behörden demnach verpflichtet, das ihnen eingeräumte Ermessen im Sinne der Gemeinschaftsgrundrechte auszuüben. In diesen Konstellationen werden die Grundrechte aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen durch die vom EuGH entwickelten Grundrechte verdrängt. bb) Umsetzung von Richtlinien Unter dem Gesichtspunkt der Durchführung von Gemeinschaftsrecht wird als zweite Fallgruppe diskutiert, ob eine Bindung des nationalen Gesetz- und Verordnungsgebers an die Gemeinschaftsgrundrechte bei der Umsetzung von Richtlinien und der Vollziehung des umgesetzten Rechts in Frage kommt.
( 1) Umsetzung in nationales Recht Der EuGH hat in dem Vorabentscheidungsverfahren "X" entschieden, daß die Gemeinschaftsgrundrechte von den nationalen Behörden bei der Auslegung und Anwendung von umgesetztem Richtlinienrecht zu beachten sind. 194 Wenn auch diese Tätigkeit noch als Durchführung von Gemeinschaftsrecht angesehen wird, so muß dies erst recht für die Umsetzung der Richtlinie selbst gelten. Dafür spricht auch, daß die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts nur dann gewährleistet ist, wenn die Grundrechte schon bei der Umsetzung als Maßstab fungieren. 195 Von der Anordnung des EuGH, daß die Mitgliedstaaten bei Durchführung des Gemeinschaftsrechts an die Grundrechte gebunden sind, ist daher auch diese Konstellation erfaßt. Die Bindung gilt allerdings auch nach Auffassung des Gerichtshofs nicht uneingeschränkt. Es ist jedenfalls dann allein nationales Verfassungsrecht zu beachten, wenn und soweit die Richtlinie dem Gesetz- oder Verordnungs geber einen eigenen, vom Gemeinschaftsrecht nicht vorbestimmten Gestaltungsspielraum einräumt. 196 Dies gilt insbesondere für die Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung, die gern. Art. 249 Abs. 3 EGV ausdrücklich den Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Die zuständigen innerstaatlichen Instanzen, i.d.R. der Gesetz- oder Verordnungsgeber, sollen aber insoweit an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sein, als der Umsetzungsakt durch die Vorgaben der Richtlinie determiniert iSt. 197
EuGH, Rs. C-74/95 und C-129/95, 12. 12. 1996, Slg. 1996,1-6609,1-6637, Rn. 25 f. Cirkel, S. 84. 196 Kingreen in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 59; PierothlSchlink, Rn. 191; Nicolaysen, EuR 1989,215 (221). 197 Bleckmann, Rn. 117; KoeniglHaratsch, Rn. 89; Ruffert, EuGRZ 1995,518 (527 f.); Weber, JZ 1989, 965 (971); Huber, Integration, § 6, Rn. 35; Rengeling, S. 190; Gerstnerl Goebel, Jura 1993, 626 (632). 194
195
11. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
55
Nach anderer Ansicht ist in diesem Fall dagegen eine Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte gar nicht erforderlich. 198 Es sei ausreichend, daß das die Richtlinie erlassende Gemeinschaftsorgan an die Grundrechte gebunden sei und diese Bindung auch kontrolliert werden könne. Wenn ein durch die Richtlinie vorbestimmter nationaler Umsetzungsakt gegen Gemeinschaftsgrundrechte verstoße, müsse dieser Verstoß - gerade wegen der Determiniertheit - in der Richtlinie seinen Grund haben. Allein die Richtlinie müsse dann auf ihre Grundrechtskonformität überprüft werden. Sei sie gültig, müsse dies auch für den determinierten Teil des Umsetzungsaktes gelten. Im Falle ihrer Nichtigkeit sei die Richtlinie dagegen für die nationale Regelung gegenstandslos. Letztere sei dann allein an nationalem Verfassungsrecht zu messen. Die Vertreter dieser Ansicht fassen allerdings den Begriff der Determiniertheit zu eng auf. Es sind durchaus Konstellationen denkbar, in denen lediglich der Umsetzungsakt hinsichtlich des gemeinschaftsrechtlich vorbestimmten Teils und nicht die Richtlinie selbst gegen Gemeinschaftsgrundrechte verstößt. Dies wird möglich, wenn eine Richtlinie den für die Umsetzung zuständigen nationalen Instanzen zwar Spielräume beläßt, den der Richtlinie zugrunde liegenden Wertungen aber zu entnehmen ist, daß diese Spielräume unter Berücksichtigung gemeinschaftsgrundrechtlicher Wertentscheidungen zu nutzen sind. 199 Vorstellbar sind solche Fälle beispielsweise im Bereich der zahlreichen europäischen Umweltschutzrichtlinien. Regelungen auf diesem Rechtsgebiet liegt grundsätzlich eine Abwägung der grundrechtlieh geschützten Interessen der Betroffenen zugrunde. In der Regel werden in diesem Zusammenhang die wirtschaftlichen Grundrechte der potentiellen Umweltverschmutzer den Grundrechten der möglicherweise Beeinträchtigten auf körperliche Unversehrtheit oder Eigentum gegenübergestellt. 2OO Wenn nun die Mitgliedstaaten eine solche Richtlinie umsetzen, sind sie zwar in der Wahl der Formen und Mittel frei. Der Umsetzungsakt ist aber insofern gemeinschaftsrechtlich determiniert, als die grundrechtlichen Wertungen, die der Richtlinie zugrunde liegen, berücksichtigt werden müssen. Waren die Mitgliedstaaten in derartigen Fällen bei der Umsetzung allein an nationales Verfassungsrecht gebunden, dem im konkreten Fall eine andere Wertung zu entnehmen sein könnte, so könnte dies zur Folge haben, daß nur der nationale Umsetzungsakt mit den Gemeinschaftsgrundrechten nicht in Einklang stünde. Auf diese Weise würde jedoch der Vorrang des Gemeinschaftsrechts unterlaufen. Zudem wäre eine einheitliche Umsetzung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts nicht mehr gewährleistet. Eine Bindung der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien, soweit das nationale Recht durch die Richtlinie vorbestimmt ist, ist insofern erforderlich und mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar. Die letztgenannte Ansicht ist aus diesen Gründen abzulehnen. 198
Kingreen in: Cailiess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 59; Kingreen/Stönner, EuR 1998,263
199
Ähnlich Cirkel, S. 84. Ruffert, EuGRZ 1995,518 (519).
(281). 200
B. Die Adressaten der Grundrechte
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(2) Ergebnis Auch bei der Umsetzung von Richtlinien ist der nationale Gesetz- und Verordnungsgeber an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, soweit der Umsetzungsakt durch die Vorgaben der Richtlinie determiniert ist.
(3) Vollziehung des umgesetzten Rechts Nach der EuGH-Rechtsprechung sind die nationalen Behörden bei der Vollziehung des im Wege der Umsetzung einer Richtlinie ergangenen nationalen Rechts ebenfalls an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, da sie auch in diesem Fall, wenn auch mittelbar, mit dem Vollzug von Gemeinschaftsrecht befaßt sind. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht besteht insofern kein wesentlicher Unterschied zu der Vollziehung einer Verordnung?OI Die Ansicht des EuGH wird auch in diesem Punkt von der Literatur überwiegend geteilt. 202 Bejaht man bereits eine Bindung bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht, so ist diese Schlußfolgerung zur Gewährleistung von Vorrang und einheitlicher Anwendung des Gemeinschaftsrechts auch zwingend vorgegeben.
(4) Ergebnis Ebenso wie in den Fällen der Vollziehung von Verordnungen und unmittelbar anwendbaren Richtlinien sind nationale Behörden bei der Vollziehung des in Umsetzung einer Richtlinie ergangenen nationalen Rechts an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden. cc) Ergebnis Im Anschluß an die Rechtsprechung des EuGH ist eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten insoweit zu bejahen, als diese mit der Umsetzung und Vollziehung von Gemeinschaftsrecht befaßt sind. Das ist zum einen der Fall, wenn innerstaatliche Behörden Verordnungen und unmittelbar anwendbare Richtlinien vollziehen. Zum anderen greifen die Gemeinschaftsgrundrechte ein, wenn Richtlinien in nationales Recht umgesetzt werden und dieses Recht vollzogen wird.
Cirkel, S. 97. Streinz, Grundrechtsschutz, S. 188; Nicolaysen, EuR 19S9,215 (221); Everling, EuR 1990, 195 (213); Ruffert, EuGRZ 1995,518 (527); krit. etwa Weber, JZ 1989,965 (971 f.). 201
202
11. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
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b) Einschränkung der Grundfreiheiten
aa) Die Auffassung des EuGH Nach Auffassung des EuGH bewegen sich die Mitgliedstaaten schließlich auch dann im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, wenn sie aufgrund von im EG-Vertrag ausdrücklich genannten oder implizierten Ermächtigungen die Grundfreiheiten einschränken. Als zentrale Bestimmungen zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes enthält der EG-Vertrag das Gebot der Warenverkehrsfreiheit, der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit und der Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Diese sogenannten Grundfreiheiten sind in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares Recht. Der EG-Vertrag enthält jedoch eine Reihe von Ausnahmeklauseln, die den Mitgliedstaaten eine Abweichung von den strengen Anordnungen der Grundfreiheiten gestatten. So ist z. B. gern. Art. 46 Abs. I EGV der Erlaß nationaler Vorschriften, die die Niederlassungsfreiheit beschränken, zulässig, wenn diese Vorschriften aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind. Ähnliche Ausnahmeregelungen enthält der EGV auch für die übrigen Grundfreiheiten. Darüber hinaus hat der EuGH in der richtungweisenden Cassis-de-DijonEntscheidung dem EG-Vertrag die Wertung entnommen, daß die Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit grundsätzlich zulässig ist, wenn die mitgliedstaatliche Regelung nicht diskriminierend wirkt und wenn sie wegen zwingender Erfordernisse des Allgemeinwohls geboten ist. 203 Die Grundfreiheiten unterliegen also gewissen Schranken, die entweder ausdrücklich aus dem EG-Vertrag folgen oder dem System des Vertrags entnommen werden. Aufgrund dieser Schranken ist es den Mitgliedstaaten gestattet, Vorschriften zu erlassen oder beizubehalten, die eine Grundfreiheit beschränken. Der EuGH hat nun im Fall "ERT" aus dem Jahr 1991 erstmals entschieden, daß eine mitgliedstaatliche Regelung, die auf der Grundlage von Art. 55 EGV (Art. 66 EGV I Maastricht) i.Y.m. Art. 46 EGV (Art. 56 EGV I Maastricht) aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit die Dienstleistungsfreiheit beschränkt, im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere der Grundrechte auszulegen ist. 204 Die nationale Ausnahmeregelung muß sich insofern am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte messen lassen. Dies gilt nach Auffassung des Gerichtshofs ebenfalls für die weiteren ausdrücklichen Ausnahmeklauseln in Art. 30, 39 Abs. 3 und 58 Abs. 1 EGV sowie für die "zwingenden Erfordernisse" LS. der Cassis-Rechtsprechung. 205 Die Grundrechte fungieren auf diese Weise als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten. 203 EuGH, Rs. 120178, 20. 02. 1979, Slg. 1979, 649, Rn. 8. Diesen Grundsatz hat der EuGH nach und nach auf die übrigen Grundfreiheiten ausgedehnt; vgl. etwa Rs. 205/84, 04.12. 1986,Slg. 1986,3755. 204 EuGH, Rs. C-260/89, 18.06.1991, Slg. 1991,2925. 205 EuGH, Rs. C-23/93, 05.10.1994, Slg. 1994,1-4795, Rn. 23 ff.; Rs. C-368 195, 26. 06. 1997, Slg. 1997,1-3689, Rn. 24 ff.; Ruffert, EuGRZ 1995, 518 (528).
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B. Die Adressaten der Grundrechte
Die Ansicht des EuGH, auch in dieser Situation liege ein mitgliedstaatliches Handeln "im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts" vor, wird von großen Teilen der Literatur befürwortet. 206 Andere bringen ihr dagegen heftigen Widerstand entgegen. 207 bb) Die Gegenansicht Gegen eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten in dieser Konstellation wird eingewandt, daß der Bezug der nationalen Regelung zum Gemeinschaftsrecht hier deutlich weniger ausgeprägt sei als in den oben geschilderten "agency situations". Die mitgliedstaatlichen Regelungen fielen nicht in den von den Gemeinschaften zu verantwortenden Bereich, so daß die Gemeinschaften auch nicht als Miturheber dieser Rechtsakte angesehen werden könnten. 208 Vor allem wird dem EuGH aber vorgeworfen, er liefere keine in methodischer Hinsicht überzeugende Begründung dafür, warum allein die Einschlägigkeit einer Grundfreiheit die Bindung an die Grundrechte nach sich ziehen sollte?09 Der Gerichtshof lese die Grundrechte in dem Sinne in die Grundfreiheiten hinein, daß letztere im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden müßten. Er erkenne damit den Gemeinschaftsgrundrechten eine ähnliche Wirkung auf das übrige Gemeinschaftsrecht wie den Grundrechten des Grundgesetzes auf die deutsche Rechtsordnung zu. Eine solche Wirkung setze allerdings voraus, daß die Grundrechte im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung gegenüber den Grundfreiheiten höherrangig seien?lO Bislang seien Grundrechte und Grundfreiheiten als Bestandteile des primären Gemeinschaftsrechts jedoch gleichrangig; eine umfassende objektive Werteordnung mit Ausstrahlungswirkung auf das gesamte Gemeinschaftsrecht konstituierten die Grundrechte gerade noch nicht. 211 Sie könnten daher durchaus im Rahmen der Auslegung der Grundfreiheiten herangezogen werden, eine Begründung für die Geltung in den Mitgliedstaaten lasse sich daraus aber nicht ableiten. 212 Auch das Erfordernis der vorrangigen und einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts gebietet nach dieser Auffassung nicht die mitgliedstaatliche Grundrechtsbindung. Das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem 206 Fischer; § 6, Rn. 14; Koenig/Haratsch, Rn. 89; Gersdorf, AöR 119 (1994), 400 (407 f.); Weber, JZ 1989,965 (971); Ahlt, S. 36; Kühling, EuGRZ 1997, 296 (299); Quasdorf, S. 154 ff.; Rengeling, S. 192; Temple Lang, Legal Issues of European Integration 199112,23 (32). 207 Kingreen in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 61 f.; Störmer; AöR 123 (1998), 541 (567); Epiney, S. 260; Pemice, NJW 1990, 1409 (1417 f.); Coppel/O'Neill, CMLR 1992, 669 ff.; Huber; Integration, § 6, Rn. 39; Hilfin: Grabitz I Hilf, Altbd. I, Art. F EUV, Rn. 45. 208 Ruffert, EuGRZ 1995,518 (528). 209 Kingreen in: Calliess I Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 61. 210 Kingreen in: Calliess I Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 61. 211 Ruffert, EuGRZ 1995,518 (528). 212 Kingreen in: Calliess I Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 61; Ruffert, EuGRZ 1995,518 (528 f.); Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 (283).
II. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
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Recht sei dadurch gekennzeichnet, daß das europäische Recht nicht uneingeschränkt entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht verdränge. Der Grundsatz vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts greife nur ein, soweit Maßnahmen der Gemeinschaft einer einheitlichen Anwendung bedürften. 213 Dies sei aber gerade nicht der Fall, wenn die Verträge den Mitgliedstaaten einzelne Bereiche vorbehielten, die sie eigenverantwortlich und unter Berücksichtigung nationaler Interessen regeln könnten. Solche Freiräume gewährten die Ausnahmeklauseln zu den Grundfreiheiten. 214 Durch die Möglichkeit, zur Durchsetzung typisch nationaler Interessen wie der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, dem Gesundheitsschutz und dem Schutz des nationalen Kulturguts gewisse Bereiche in eigener Verantwortung zu regeln, werde die erhebliche Beschränkung der staatlichen Autonomie, die aus dem weiten Anwendungsbereich der Grundfreiheiten folge, wieder ausgeglichen. 215 Diese Regelungen an den gemeinschaftlichen Grundrechten zu messen, widerspreche insofern dem in der Struktur der Grundfreiheiten zum Ausdruck kommenden Interessenausgleich zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten. ce) Stellungnahme Der zuletzt genannten Auffassung ist zwar zuzugeben, daß der Bezug der mitgliedstaatlichen Regelungen zum Gemeinschaftsrecht in dieser Fallgestaltung tatsächlich weniger ausgeprägt ist als in den zuvor dargestellten "agency situations". Daraus folgt jedoch nicht, daß der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nicht trotzdem eröffnet sein kann. Verstößt eine nationale Regelung gegen eine Grundfreiheit, z. B. weil sie den innergemeinschaftlichen Handel beeinträchtigt, wird anhand gemeinschaftsrechtlicher Maßstäbe geprüft, ob sie gerechtfertigt iSt. 216 Sie muß zur Erreichung eines gegenüber der Grundfreiheit höherrangigen Zieles erforderlich und im Hinblick auf die beschränkte Grundfreiheit verhältnismäßig sein. Grundsätzlich ist in diesen Fällen also Gemeinschaftsrecht anwendbar. Die Grundrechte stellen nun als allgemeine Rechtsgrundsätze ebenso wie die Grundfreiheiten und das Verhältnismäßigkeitsprinzip einen Teil des gemeinschaftlichen Primärrechts dar. Die vorstehend dargestellte Ansicht hätte demnach zur Folge, daß nur teilweise Gemeinschaftsrecht zur Anwendung käme. Insbesondere dürften die Grundrechte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die ja an sich dem Ausgleich der betroffenen widerstreitenden Interessen dient, nicht berücksichtigt werden. Für eine solche Differenzierung innerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts ist jedoch kein zwingender Grund ersichtlich. Dieser folgt entgegen der Literaturrneinung insbesondere auch nicht aus dem Rang und der Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte. Die Grundrechte sind im VerhältKingreen in: Cailiess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 62. Stönner, AöR 123 (1998), 541 (567); Epiney, S. 260; Kingreen in: Calliess I Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 62; Huber, Integration, § 6, Rn. 39. 215 Kingreen in: Calliess I Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 62; Huber, Integration, § 6, Rn. 39. 216 Gersdorf, AöR 119 (1994), 400 (407 f.). 213
214
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B. Die Adressaten der Grundrechte
nis zu den Grundfreiheiten gleichrangig und können daher aus systematischen Gesichtspunkten bei deren Auslegung herangezogen werden. Dies gilt nicht nur für die Grundfreiheiten selbst, sondern auch für die im EGV vorgesehenen Ausnahmeklauseln. Eine Höherrangigkeit der Grundrechte ist dafür nicht erforderlich, ebensowenig wie deren Qualifizierung als objektive Werteordnung für das gesamte Gemeinschaftsrecht. Im Verhältnis zu den zu überprüfenden mitgliedstaatlichen Regelungen sind die Gemeinschaftsgrundrechte dagegen zweifellos höherrangig. Ist daher der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts infolge des Verstoßes gegen eine Grundfreiheit eröffnet, sprechen Rang und Funktion der Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht dagegen, die Ausnahmeklauseln im Lichte der Grundrechte auszulegen und auf diese Weise die mitgliedstaatliche Maßnahme am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte zu kontrollieren. Eine solche Kontrolle ist überdies wegen des Erfordernisses der vorrangigen und einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts geboten?17 Der Grundsatz vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts untersagt es den Mitgliedstaaten, im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts einseitige Maßnahmen zu ergreifen, die diesem Recht widersprechen?18 Er dient der Sicherung der einheitlichen Anwendung und der unbedingten Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts in seinem Anwendungsbereich. 219 Die Grundfreiheiten selbst stellen zentrale Bestimmungen im System des EGV dar, die unstreitig der einheitlichen Anwendung bedürfen. Dies muß gleichermaßen für die im EGVenthaltenen Ausnahmeklauseln zu den Grundfreiheiten gelten, sofern es sich bei den in diesen Vorschriften genannten Bereichen nicht tatsächlich um Materien handelt, die die Mitgliedstaaten allein unter Berücksichtigung nationaler Interessen regeln können und die jeglichem gemeinschaftlichen Eingriff strikt entzogen sind. Daß durch diese Regelungen eine solche "domaine reservee" für die Mitgliedstaaten nicht begründet werden sollte, ergibt sich aber aus einer teleologischen Analyse. Sinn und Zweck der Ausnahmeregelungen ist es, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die nationalen Rechtsordnungen auch in besonders binnenmarktrelevanten Bereichen nach wie vor Differenzen aufweisen. So sind z. B. gern. Art. 30 EGV trotz Art. 28 EGV Handelsbeschränkungen zulässig, wenn sie zum Schutze des gewerblichen und kommerziellen Eigentums gerechtfertigt sind. Ziel der gemeinschaftlichen Tatigkeit ist jedoch, diese Handelshemmnisse zu beseitigen. Die Gemeinschaft hat dementsprechend gern. Art. 94 f. EGV die zur Rechtsvereinheitlichung erforderlichen Kompetenzen. Von diesen hat sie gerade im Hinblick auf das gewerbliche und kommerzielle Eigentum auch in großem Umfang Gebrauch gemacht. 220 Durch die Ausnahmeklauseln zu den Grundfreiheiten werden Temple Lang, Legal Issues ofEuropean Integration 1991/2,23 (28 ff.). EuGH, Rs. 6/64,15.07.1964, Slg. 1964, 1251 (1269 ff.). 219 Emmert, § 14, Rn. 7. 220 Vgl. z. B. Richtlinie 89/l04/EWG, ABI. Nr. L 040 v. 11. 02. 1989 (MarkenrechtsRichtlinie). 217 218
11. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
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daher keineswegs Freiräume für die Mitgliedstaaten geschaffen, die diese frei und unabhängig von gemeinschaftlichen Einflüssen regeln können. In diesen Regelungen kommt vielmehr zum Ausdruck, daß mitgliedstaatliche Vorschriften, die nicht mit den Grundfreiheiten vereinbar sind, vorläufig hingenommen werden, solange der jeweilige Bereich noch nicht gemeinschaftsrechtlich harmonisiert worden ist. Es soll aber kein genereller Dispens von der Geltung des Gemeinschaftsrechts erteilt werden. Das zeigt sich auch daran, daß die in den Ausnahmeklauseln enthaltenen Begriffe der "öffentlichen Ordnung" oder "öffentlichen Sicherheit" originär gemeinschaftsrechtlich definiert werden, d. h. daß nationale polizei- und ordnungsrechtliche Maßstäbe nicht berücksichtigt werden dürfen?21 Um die gemeinschaftsweit einheitliche Auslegung dieser Begriffe zu gewährleisten, ist sogar eine Richtlinie erlassen worden, die vorsieht, welche Maßnahmen aufgrund der Ausnahmeklausein gerechtfertigt sein können und auf welche Interessen die Mitgliedstaaten sich berufen dürfen?22 Schließlich würde man beispielsweise auch nicht argumentieren können, daß eine mitgliedstaatliche Regelung zum Schutze des gewerblichen und kommerziellen Eigentums, die wegen Art. 30 EGV im Hinblick auf Art. 28 EGV zulässig ist, nicht mehr anhand des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts überprüft werden dürfte. 223 Durch die Ausnahmeklauseln zu den Grundfreiheiten werden die Mitgliedstaaten insofern nicht generell aus dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts entlassen. Ihnen ist zwar gestattet, ausnahmsweise von den Anordnungen der Grundfreiheiten abzuweichen. Die Grenzen dieser Befugnis folgen aber aus dem Gemeinschaftsrecht. Der Ansatz, nach dem die Gemeinschaftsgrundrechte in dieser Konstellation grundsätzlich nicht anwendbar sind, kann daher nicht überzeugen. dd) Vermittelnde Lösungsvorschläge In der Literatur finden sich weitere Ansätze, die die Auffassung des EuGH nicht grundsätzlich ablehnen, sondern eine vermittelnde Lösung suchen. ( 1) Gemeinschaftsgrundrechte als Mindeststandard
Eine Lösung, die sich zwar an der Rechtsprechung des EuGH orientiert, diese aber mit Rücksicht auf die Autonomie der Mitgliedstaaten abschwächt, schlägt Ruffert vor. 224 Grundsätzlich geht auch er in den oben dargestellten Konstellationen von einer staatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte aus. Diese Bindung solle jedoch nur dann aktiviert werden, wenn der nationale GrundrechtsEmmert, § 32, Rn. 4 ff. Richtlinie zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABI. Nr. L 56 v. 04. 04. 1964, S. 850. 223 Vgl. z. B. EuGH, Verb. Rs. 56 und 58/64,13.07.1966, Slg. 1966,321 ff. 224 Ruffert, EuGRZ 1995, 518 ff. 221
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B. Die Adressaten der Grundrechte
schutz im konkreten Fall nicht ausreichend sei. Die Gemeinschaftsgrundrechte sollen demnach für die Staaten nur einen Mindeststandard darstellen mit der Folge, daß im Regelfall allein eine Überprüfung anhand der nationalen Grundrechte stattfände. Dieser Grundsatz soll nach der Ansicht Rufferts sowohl in den Fällen der Umsetzung und Vollziehung von Gemeinschaftsrecht als auch bei der Überprüfung mitgliedstaatlicher Regelungen, die in Ausfüllung der Ausnahmeklauseln die Grundfreiheiten beschränken, zur Anwendung kommen. In der letztgenannten Konstellation sei jedoch aufgrund des weitaus schwächeren Bezugs zum Gemeinschaftsrecht eine noch stärkere Reduzierung der gemeinschaftsrechtlichen Kontrolle auf schwerwiegende Verstöße geboten. Dieser Ansicht ist zunächst zugute zu halten, daß sie in diesem sensiblen Bereich um einen Ausgleich zwischen gemeinschaftlichen und staatlichen Interessen bemüht ist. Die nationalen Grundrechte werden auch innerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts nicht völlig bedeutungslos, und dennoch gewährleisten die subsidiär anwendbaren Gemeinschaftsgrundrechte jedenfalls einen einheitlichen Mindeststandard. Dieser Ansatz kann insofern auch als "umgekehrte" Solange-lI-Formel bezeichnet werden: Solange bei der Kontrolle der nationalen Vorschriften und Maßnahmen anhand innerstaatlicher Grundrechte das gemeinschaftliche Schutzniveau nicht unterschritten wird, wird die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte nicht aktiviert. Letztlich ist diese Auffassung jedoch zu unentschieden und wird keiner der widerstreitenden Positionen wirklich gerecht. Wie ausgeführt [s.o. B.II.l.a)], sprechen gewichtige Argumente für eine Bindung der Mitgliedstaaten im Bereich der Umsetzung und Vollziehung von sekundärem Gemeinschaftsrecht. Die Ansicht Rufferts aber hätte in diesem Bereich die Wirkung einer "Rosinentheorie" in dem Sinne, daß die Gemeinschaftsgrundrechte nur dann zur Anwendung kämen, wenn sie im konkreten Fall eine für den einzelnen günstigere Regelung bereithielten. Ein derart selektiver Gebrauch würde jedoch der Bedeutung der Grundrechte, die früher oder später als Elemente einer europäischen Verfassung eine umfassende Werteordnung für die Union bilden sollen, nicht gerecht. Zudem kann auf diese Weise nicht ausgeschlossen werden, daß durch die Kontrolle der staatlichen Maßnahmen an den im Einzelfall weitreichenderen nationalen Grundrechten der Anwendungsvorrang des sekundären Gemeinschaftsrechts wieder ausgehebelt würde. Auch das Problem der Bindung der Mitgliedstaaten bei der Einschränkung von Grundfreiheiten löst Ruffert nicht überzeugend. Einerseits sprechen die unter B.II.l.b)bb) angeführten Argumente generell für eine Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte in dieser Situation. Doch auch wenn man der Auffassung ist, daß zum Schutz der mitgliedstaatlichen Autonomie die gemeinschaftliche Kontrolle nationaler Regelungen möglichst restriktiv gehandhabt werden sollte, wird dieses Ziel durch den Ansatz Rufferts nicht erreicht. Wären die Gemeinschaftsgrundrechte auch in diesen Fällen als Mindeststandard anweOObar, hätte das zur Folge, daß letztendlich doch jede mitgliedstaatliche Maßnahme mit Bezug zu den Grundfreihdten am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte überprüft werden müßte, um zu ermitteln, ob diese ein
11. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
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höheres Schutzniveau gewährleisten. Dies wäre nicht nur praktisch sehr umständlich, sondern würde darüber hinaus auch dem sensiblen Verhältnis zwischen gemeinschaftlichem und nationalem Grundrechtsschutz nicht gerecht. In diesem Bereich ist eine Lösung erforderlich, die klare und eindeutige Kriterien zur Abgrenzung der unterschiedlichen Schutzsysteme bereithält. Der Auffassung Rufferts kann aus diesen Gründen nicht gefolgt werden. (2) Abgrenzung in Anlehnung an die Kompetenzverteilung
Einen Ansatz, der versucht, für die Abgrenzung allgemeine, einzelfallunabhängige Regeln zu finden, haben Jürgensen / Schlünder entwickelt. 225 Auch nach ihrer Ansicht setzt die Anwendbarkeit der Gemeinschaftsgrundrechte stets einen gemeinschaftlichen Bezug des mitgliedstaatlichen Handeins voraus. Diesen Bezugspunkt soll die Verbandskompetenz der Gemeinschaft für eine bestimmte Materie darstellen, da der Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nur so weit reiche wie die Summe der Bereiche, die in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fielen. Innerhalb dieses Anwendungsbereichs beanspruchten die Gemeinschaftsgrundrechte dann uneingeschränkten Vorrang. Unterschieden werden müsse allerdings zwischen den unterschiedlichen Formen der Gemeinschaftskompetenzen. In den Bereichen, in denen die Gemeinschaft die ausschließliche Kompetenz habe, beispielsweise in der Handelspolitik gern. Art. 131 ff. EGV, seien die Gemeinschaftsgrundrechte immer anwendbar. Falle eine Maßnahme dagegen in den Bereich der konkurrierenden Kompetenz, seien die Grundrechte nur einschlägig, wenn die Gemeinschaft von ihrer Kompetenz schon Gebrauch gemacht habe. Ein Beispiel für eine solche ausgeübte konkurrierende Kompetenz stellen dieser Ansicht nach die Grundfreiheiten des EGV dar. Auf dem Gebiet der parallelen Kompetenzen, z. B. im Wettbewerbsrecht gern. Art. 81 ff. EGV, sollen die Gemeinschaftsgrundrechte schließlich nur gelten, soweit der konkreten Maßnahme Gemeinschaftsrecht zugrunde liegt. Für diese Ansicht spricht zunächst, daß sie eine klare und - jedenfalls auf den ersten Blick - praktikable Lösung bietet. Falls in einem Bereich, der in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, eine mitgliedstaatliehe Maßnahme ergeht, greift auch der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz ein. Zudem tragen die Gemeinschaftsgrundrechte, die der EuGH unter Berücksichtigung der gemeinschaftlichen Ziele entwickelt hat, mehr als die nationalen Grundrechte den Gefahren Rechnung, die im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts entstehen können. Auch aus diesem Grund ist es sinnvoll, diese Grundrechte immer dann anzuwenden, wenn Hoheitsgewalt unter gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben ausgeübt wird. Schließlich kann dieser Ansatz auch eine Erklärung dafür liefern, warum sich die Mitgliedstaaten bei dem Erlaß von Regelungen, die eine Grundfreiheit beschränken, im Bereich des Gemeinschaftsrechts bewegen. Allerdings könnte man in bezug auf 225
5*
Jürgensen/Schlünder, AöR 121 (1996),200 (221 ff.).
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B. Die Adressaten der Grundrechte
die letztere Fallgruppe nach wie vor einwenden, die Verknüpfung des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzes mit den Kompetenzzuweisungen lasse es durchaus zu, den Mitgliedstaaten innerhalb eines in die Gemeinschaftskompetenz fallenden Bereichs gewisse Freiräume zur eigenverantwortlichen Gestaltung zu belassen. Überdies wird ein weiterer gravierender Schwachpunkt dieser Ansicht von den Autoren selbst angesprochen 226 : Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Einteilung der Kompetenzen sowie deren Reichweite im einzelnen noch so ungeklärt, daß diese an sich einfache Formel die Verwirrung angesichts der Frage, welches Grundrechtsschutzsystem anwendbar wäre, wohl eher vergrößern würde. Dies gilt insbesondere angesichts der dynamischen Ausgestaltung von Kompetenznormen wie Art. 94 f. EGV, die losgelöst vom konkreten Einzelfall keine Aussage darüber zulassen, zu welchen Maßnahmen die Gemeinschaft auf ihrer Grundlage befugt sein kann. Hinzu kommt, daß überaus umstritten ist, ob die Gemeinschaftskompetenzen überhaupt in ausschließliche, konkurrierende und parallele eingeordnet werden können und wie eine solche Zuordnung vorgenommen werden könnte. 227 Allerdings soll der seit dem 28. Februar 2002 tagende Konvent zur Reform der Europäischen Union auch darüber beraten, wie die Verteilung der Aufgaben und Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten verdeutlicht und vereinfacht werden kann. Wenn diese Neuordnung der Kompetenzen abgeschlossen ist, kann erneut geprüft werden, ob die einzelnen Befugnisnormen so ausgestaltet sind, daß der von Jürgensen / Schlünder entwickelte Ansatz praktikabel wäre. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dies jedoch nicht der Fall. (3) Ergebnis
Die in der Literatur entwickelten Konzepte liefern - jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt - keine überzeugende Alternative zu der von EuGH und Teilen der Literatur vertretenen Auffassung. c) Ergebnis
Im Interesse des Vorrangs und der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts sind die jeweils zuständigen nationalen Stellen an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, soweit sie unmittelbar oder mittelbar mit der Umsetzung und Vollziehung von europäischem Recht befaßt sind. Dies ist zunächst der Fall, wenn Verordnungen und unmittelbar anwendbare Richtlinien vollzogen werden. Darüber hinaus sind die Gemeinschaftsgrundrechte anwendbar, wenn Richtlinien in nationales Recht umgesetzt werden, soweit der Umsetzungsakt durch die Richtlinie determiniert wird, und wenn das umgesetzte Recht vollzogen wird. Schließlich binden die Gemeinschaftsgrundrechte die Mitgliedstaaten aber 226
227
Jürgensen/Schlünder; AöR 121 (1996),200 (223). Vgl. Jarass, AöR 121 (1996), 173 (185 ff.).
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auch bei dem Erlaß von Vorschriften, die in Einklang mit den expliziten und impliziten Ausnahmeklauseln des EGV eine Grundfreiheit einschränken. Die innerstaatlichen Grundrechte werden insoweit durch die vom EuGH entwickelten Grundrechte verdrängt. 2. Die Grundrechtsbindung nach Art. 51 Abs. 1 EuGRC Zu untersuchen ist nun, wie die Grundrechtecharta das Problem der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte regelt. Laut Art. 51 Abs. 1 EuGRC gilt die Charta "für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union". Wie der Begriff der "Durchführung" zu interpretieren ist, d. h. ob die vom EuGH entwickelten Fallgruppen erfaßt werden, ist im Wege der Auslegung zu klären. a) Auslegung der Grundrechtecharta
Die Charta ist bislang noch nicht in den EG- oder EU-Vertrag aufgenommen worden. Sie ist aber vom Europäischen Rat als Institution der EU proklamiert worden und kann daher trotz der fehlenden Rechtsverbindlichkeit dem Unionsrecht zugerechnet werden. Darüber hinaus soll der Konvent zur Reform der Europäischen Union auch über die Aufnahme der Charta in die Verträge verhandeln. 228 Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, auf das Dokument schon jetzt die vom EuGH herausgebildeten Grundsätze zur Auslegung primären und sekundären Gemeinschaftsrechts anzuwenden. Diese Auslegungsregeln unterscheiden sich aufgrund der Besonderheiten der europäischen Rechtsordnung in Einzelheiten von den Grundsätzen, die innerhalb der nationalen Rechtsordnungen gelten. Aus demselben Grund sind sie trotz des völkerrechtlichen Ursprungs des Gemeinschaftsrechts auch mit den völkerrechtlichen Interpretationsregeln nicht identisch?29 Wie im deutschen Recht ist auch bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht der Wortlaut Ausgangspunkt der Interpretation. Allerdings wird der grammatischen Auslegung aufgrund der 11 Amtssprachen in der Union weniger Bedeutung beigemessen als in den nationalen Rechtsordnungen. 23o Erforderlich ist aus diesem Grund auch stets, die spezifisch gemeinschaftsrechtliche Bedeutung der in Rede stehenden Formulierung zu ermitteln. 231 Wichtigste Methode ist demgegenüber die teleologische Auslegung, die sich an den aus Art. 2 EGV und Art. 2 EUV und 228 Erklärung der Staats- und Regierungschefs auf der Gipfeltagung in Laeken vom 15. Dezember 2001, abgedruckt etwa in FAZ v. 18. 12.2001, S. 9. 229 Herdegen, Rn. 200; Schwarze in: Schwarze, Art. 220 EGV, Rn. 27; Bleckmann, Rn. 537. 230 Huber, Integration, § 8, Rn. 2; Wegener in: Calliess I Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 11. 231 Huber, Integration, § 8, Rn. 2.
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B. Die Adressaten der Grundrechte
den Präambeln folgenden Zielen der Verträge orientiert. 232 Auf diese Weise kann im Rahmen der Auslegung die dynamische, auf eine fortschreitende Entwicklung ausgerichtete Struktur der Gemeinschaftsrechtsordnung berücksichtigt werden. 233 Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang auch dem Grundsatz der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts ("effet utile") ZU. 234 Soweit die Ziele der Union ausdrücklich in den Verträgen erwähnt sind, überschneidet sich die teleologische mit der systematischen Auslegung, die bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts ebenfalls heranzuziehen ist. Letztere Methode ist darauf gerichtet, die Bedeutung einer Norm unter Berücksichtigung ihrer Struktur und des Zusammenhangs mit anderen Vorschriften zu ermitteln. 235 Eine eher nachgeordnete Rolle spielt demgegenüber die historische, am Willen des Gesetzgebers orientierte Auslegung. Die Normen des Gemeinschaftsrechts stellen in der Regel eine Kompromißlösung nach kontroversen Verhandlungen dar, so daß die Stellungnahmen der Beteiligten, an die die historische Auslegung anknüpfen muß, oft gegensätzliche, teilweise in der Regelung letztendlich auch nicht berücksichtigte Ansichten enthalten. 236 Überdies wird diese Auslegungsmethode der Dynamik der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht immer gerecht. 237 Sie ist insofern allenfalls ergänzend heranzuziehen.
b)Auslegung von Art. 51 Abs. 1 EuGRC Anhand dieser Grundsätze ist nun die Bedeutung der Formulierung "bei der Durchführung des Rechts der Union" in Art. 51 Abs. 1 EuGRC zu ermitteln. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch hat "durchführen" den Sinngehalt von "verwirklichen", "in die Tat umsetzen" oder "ausführen,,?38 Voraussetzung für die Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte wäre demnach, daß die Mitgliedstaaten eine gemeinschaftliche Norm gegenüber dem Bürger zur Anwendung bringen. Grundlage des mitgliedstaatlichen HandeIns müßte insofern ein Rechtsakt der Union sein. Dies ist problemlos zu bejahen, wenn die Mitgliedstaaten gemeinschaftliche Verordnungen und unmittelbar anwendbare Richtlinien vollziehen. Sie sind in diesen Fällen unmittelbar mit der Durchführung des Rechts der Union, d. h. der Anwendung dieses Rechts gegenüber dem Bürger, befaßt. Fraglich ist allerdings, ob unter den Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 auch die Konstellation zu subsumieren 232 Huber, Integration, § 8, Rn. 3; KoeniglHaratsch, Rn. 313; Wegener in: Calliess-Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 14. 233 Huber, Integration, § 8, Rn. 3. 234 Wegener in: Calliess/Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 14; KoeniglHaratsch, Rn. 313; Herdegen, Rn. 200. 235 Huber, Integration, § 8, Rn. 3 f.; Bleckmann, Rn. 542. 236 Wegener in: Calliess I Ruffert, Art.l20 EGV. Rn. 8. 237 Huber, Integration, § 8, Rn. 6; Zuleeg, DÖV 1969,97 (100). 238 Vgl. Wahrig, Zweiter Bd., S. 321.
11. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
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ist, in der die Mitgliedstaaten Richtlinien in nationales Recht umsetzen und das umgesetzte Recht vollziehen. Zumindest in letzterem Fall folgt die Rechtsgrundlage des mitgliedstaatlichen Handelns aus innerstaatlichen Vorschriften. Letztendlich liegen jedoch auch diesen Maßnahmen gemeinschaftliche Rechtsakte zugrunde, so daß die Mitgliedstaaten jedenfalls mittelbar mit der Vollziehung von Gemeinschaftsrecht befaßt sind. Die Einbeziehung dieser Fallgruppen ist daher mit dem Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 vereinbar. Etwas anderes könnte allerdings gelten, wenn die Mitgliedstaaten in Ausfüllung der expliziten oder impliziten Ausnahmeklauseln des EGV die Grundfreiheiten beschränken. In dieser Konstellation erläßt der nationale Gesetzgeber Regelungen auf der Grundlage von innerstaatlichen Kompetenzzuweisungen. Ein solches Verhalten kann bei einer wortlautorientierten Auslegung wohl nicht mehr unter die Formulierung "bei Durchführung des Rechts der Union" subsumiert werden. Auch wenn man an die Berufung auf eine Ausnahmeklausel anknüpft, kann dieses Verhalten nur schwerlich als Durchführung ebendieser Klausel bezeichnet werden. Interpretiert man die deutsche Fassung allein anhand ihres Wortlauts, erstreckt sich die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten daher nicht auf die Fälle, in denen staatliche Stellen unter Berufung auf die Ausnahmeklauseln eine Grundfreiheit einschränken. Nach der französischen Version richtet sich die Charta an die Mitgliedstaaten "uniquement lorsqu'ils mettent en ceuvre le droit de l'Union". "Mettre en ceuvre" läßt sich übersetzen mit "Gebrauch machen", "anwenden" oder "ausführen".239 In dieser Fassung erscheint die Interpretation vertretbar, daß Gemeinschaftsrecht nicht nur durch dessen unmittelbare oder mittelbare Durchführung, sondern auch durch die Berufung auf die im EGV enthaltenen Ausnahmeklauseln angewandt wird. Naheliegender ist allerdings, daß durch die Verwendung des Begriffs "mettre en ceuvre" ebenfalls allein die Durchführung von Gemeinschaftsrecht gegenüber dem Bürger erfaßt werden soll. In der englischen Version lautet Art. 51 Abs. 1 folgendermaßen: "The provisions of this Charter are addressed ( ... ) to the Member States only when they are implementing Union law". Das Verb "to implement" bedeutet "ausführen" oder "durchführen".24o Auch diese Fassung spricht insofern eher gegen eine Bindung bei dem Erlaß innerstaatlicher Vorschriften, die die Grundfreiheiten beschränken. Schließlich ist nach der italienischen Fassung für die Bindung der Staaten die "attuazione deI diritto dell'Unione" erforderlich. "Attuazione" kann mit "Verwirklichung" oder "Ausführung" übersetzt werden241 , so daß auch diese Version eine ähnliche Auslegung nahelegt. Bei einer am Wortlaut orientierten Interpretation von Art. 51 Abs. 1 EGV ist insofern davon auszugehen, daß sich die mitgliedstaatliche Grundrechtsbindung auf die unmittelbare oder mittelbare Durchführung von Gemeinschaftsrecht beschränkt. Allerdings hat die gram239 240 241
PONS Großwörterbuch Französisch, S. 388. Langenscheidts Großwörterbuch Englisch, S. 472. Langenscheidts Großwörterbuch Italienisch, S. 50.
68
B. Die Adressaten der Grundrechte
matische Auslegung anhand der einzelnen sprachlichen Fassungen angesichts der Sprachenvielfalt im Gemeinschaftsrecht nur sehr eingeschränkte Aussagekraft [so o. B.II.3.a)]. Dementsprechend stützt sich auch der EuGH bei der Ermittlung des Wortsinns nicht auf die natürliche Bedeutung in den nationalen Sprachen, sondern sucht nach einer spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung. 242 Zu diesem Zweck zieht er insbesondere systematische und teleologische Gesichtspunkte heran. 243 Es ist also zu prüfen, ob das zuvor gefundene Ergebnis durch die Anwendung der übrigen Auslegungsmethoden bestärkt oder entkräftet wird. Art. 51 Abs. 1 S. 1 EuGRC, der durch die Verwendung des Ausdrucks "ausschließlich" ("only", "uniquement", "esc1usivamente") die eingeschränkte Bindung der Mitgliedstaaten hervorhebt, ist zu entnehmen, daß in erster Linie die Gemeinschaft bei der Ausübung hoheitlicher Gewalt an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden sein soll. Aus den Verweisen auf die Beachtung vorhandener Zuständigkeiten und auf das Subsidiaritätsprinzip (z. B. in Art. 51 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 sowie in der Präambel der Charta) läßt sich darüber hinaus die allgemeine Zielsetzung bei der Abfassung der Charta ablesen, so wenig wie möglich in nationale Sphären einzugreifen. Andererseits kommt jedoch gerade in der Präambel der Charta auch die Absicht ihrer Verfasser zum Ausdruck, keinesfalls hinter dem bereits erreichten Integrationsniveau zurückzubleiben. Zum einen diente die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH als wichtiger Orientierungspunkt (vgl. Abs. 5 der Präambel). Zum anderen wurde mit der Zusammenfassung der Grundrechte in einer Charta der Zweck verfolgt, diese Rechte sichtbarer zu machen und dadurch ihren Schutz zu verstärken (vgl. Abs. 4 der Präambel). Diese Erwägungen sprechen somit eher dafür, daß durch die Charta der Umfang der mitgliedstaatlichen Bindung an die Gemeinschaftsgrundrechte zumindest nicht reduziert werden sollte. Die teleologische Auslegung verdeutlicht insofern den Grundkonflikt bei der Abfassung der Charta: Einerseits sollte ein möglichst weitgehender Grundrechtsschutz gewährleistet werden, andererseits mußte jedoch stets auf die Befürchtungen der Mitgliedstaaten, die Charta könne ihre Souveränität beeinträchtigen, Rücksicht genommen werden. Infolgedessen läßt die teleologische Auslegung von Art. 51 Abs. 1 EuGRC zwei unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten zu.
Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang dagegen die historische Auslegung. Die Ausführungen unter B.II.3.a) haben zwar gezeigt, daß diese Methode im Gemeinschaftsrecht grundsätzlich von nachrangiger Bedeutung ist. Sie kann aber jedenfalls zur Unterstützung der mit Hilfe der übrigen Auslegungsmethoden gewonnenen Ergebnisse herangezogen werden. Anhaltspunkte für den Willen der Verfasser der Grundrechtecharta lassen sich den Erläuterungen des Präsidiums zu 242 EuGH, Rs. 66/85,03.07. 1986, Slg. 86,2121, Rn. 16; Rs. 55/87, 07. 07. 1988, Slg. 1988, 3845, Rn. 15; Rs. 283/81, 06. 10. 1982, Slg. 1982, 3415, Rn. 18 ff.; Bleckmann, Rn. 540; Streil in: BBPS, 7.2.4.2. 243 EuGH, Rs. 55/87, 07. 07. 1988, Slg. 1988, 3845, Rn. 15; Rs. 1/54,21.12.1954, Slg. 1954, I (31); Rs. 30/59, 23. 02.1961,1 (42 f.); Rs. 283/81, 06.10.1982, Slg. 1982,3415, Rn. 18 ff.; Huber, Integration, § 8, Rn. 2; Streit in: BBPS, 7.2.4.2.
11. Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten
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den einzelnen Artikeln entnehmen?44 Diese enthalten zur Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte folgende Aussage: "Der Rechtsprechung des EuGH ist eindeutig zu entnehmen, daß die Bindung nur bei einem Handeln im Rahmen des Gemeinschaftsrechts gilt für zentrale Behörden und regionale und lokale Stellen sowie öffentliche Einrichtungen bei der Anwendung von Unionsrecht. " Art. 51 Abs. 1 EuGRC sollte insofern hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Grundrechtsbindung uneingeschränkt die Rechtsprechung des EuGH widerspiegeln. Die historische Auslegung spricht daher eindeutig für eine Bindung der innerstaatlichen Instanzen bei der Beschränkung der Grundfreiheiten. Zusammengefaßt ergibt die Auslegung von Art. 51 Abs. 1 EuGRC folgendes Bild: Die grammatische Auslegung begründet die Annahme, die Bindung der Mitgliedstaaten beschränke sich auf die Fälle der unmittelbaren oder mittelbaren Durchführung von Gemeinschaftsrecht. Diese Interpretation läßt sich durch teleologische Erwägungen unterstützen. Demgegenüber führt die historische Auslegung zu dem Ergebnis, daß in Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH die Mitgliedstaaten immer dann an die Grundrechte gebunden sind, wenn sie sich im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts bewegen, d. h. auch wenn sie aufgrund der jeweiligen Ausnahmeklauseln die Grundfreiheiten beschränken. Auch diese Interpretation ist mit den bei der Schaffung der Grundrechtecharta verfolgten Zielen vereinbar. Wie ist es nun zu erklären, daß sich die Absicht der Verfasser, wie sie aus den Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 51 EuGRC hervorgeht, im Wortlaut der Vorschrift nicht eindeutig niedergeschlagen hat? Möglich ist einerseits, daß davon ausgegangen wurde, der gewählte Wortlaut erfasse auch die problematische Fallgruppe der Einschränkung der Grundfreiheiten. Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, daß den Verfassern schlichtweg nicht bekannt war, daß der EuGH die Mitgliedstaaten nicht nur bei der unmittelbaren oder mittelbaren Durchführung von Gemeinschaftsrecht, sondern auch bei dessen Beschränkung für an die Grundrechte gebunden hält. Da der Gerichtshof sich auch in der Vergangenheit bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts oft vom Wortsinn gelöst und nach "dem wirklichen Willen des Urhebers und dem von ihm verfolgten Zweck" gesucht hat245 , ist davon auszugehen, daß er von seiner bisherigen Rechtsprechung zu dieser Frage nicht abweichen wird. Überdies entspricht eine solche integrationsfreundliche Auslegung der Vorschrift auch grundsätzlich der Tendenz des Gerichtshofs und dem Gebot des "effet utile". Für diese Interpretation spricht schließlich auch die relativ geringe Aussagekraft der wortlautorientierten Auslegung sowie die Tatsache, daß die historische Auslegung in diesem Fall nicht nur bloße gesetzgeberische Motive aufdeckt, sondern Rückschlüsse auf die ratio des Art. 51 Abs. 1 EuGRC zuläßt. Auch nach 244 Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 17 EuGRC, Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS 2000, S. 10. 245 EuGH, Rs. 55/87,07.07. 1988, Slg. 1988,3845, Rn. 15; Rs. 30/59,23.02. 1961, Slg. 1961, 1 (43).
70
B. Die Adressaten der Grundrechte
der Charta können die Gemeinschaftsgrundrechte daher als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten wirken. 246 c) Ergebnis
Gern. Art. 51 Abs. 1 EuGRC sind die Mitgliedstaaten der Union an die Gemeinschaftsgrundrechte gebunden, wenn sie Unionsrecht durchführen. Dies ist zunächst der Fall, wenn innerstaatliche Stellen Verordnungen und unmittelbar anwendbare Richtlinien vollziehen. Darüber hinaus sind die Grundrechte anwendbar, wenn Richtlinien in nationales Recht umgesetzt werden, soweit das nationale Recht durch die Richtlinie determiniert ist, und wenn das umgesetzte Recht vollzogen wird. Schließlich binden die Gemeinschaftsgrundrechte die Mitgliedstaaten auch bei dem Erlaß von Vorschriften, die in Einklang mit den expliziten und impliziten Ausnahmeklauseln des EGV eine Grundfreiheit beschränken. Dem Wortlaut von Art. 51 Abs. 1 EuGRC läßt sich dieses Ergebnis allerdings nicht eindeutig entnehmen. Dieser Befund ist mit großer Wahrscheinlichkeit dadurch bedingt, daß die Frage der Reichweite der mitgliedstaatlichen Bindung wegen der Befürchtung der Mitgliedstaaten, die Grundrechtecharta könne Auswirkungen auf nationale Souveränität und Verfassungsautonomie haben, ein besonders sensibles Thema gewesen ist. Gerade aus diesem Grund sollte es aber nicht in der Weise geregelt werden, daß durch eine nur scheinbar restriktive Formulierung von Art. 51 Abs. 1 EuGRC die Wirkungen der Vorschriften verschleiert werden. Wenn der Konvent zur Reform der Europäischen Union im Rahmen der Verhandlungen über eine Integration der Charta in die Verträge nochmals inhaltliche Fragen diskutiert, wäre es dringend zu empfehlen, dieses Problem einer eindeutigen Lösung zuzuführen. 3. Ergebnis
Hinsichtlich der Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte trifft Art. 51 Abs. 1 EuGRC im Ergebnis die gleiche Regelung wie Art. 6 Abs. 2 EUV bzw. wie sie in der Rechtsprechung des EuGH zum Ausdruck kommt.
III. Endergebnis Art. 51 Abs. 1 EuGRC enthält im Hinblick auf die Bindung auf europäischer Ebene gegenüber der Anordnung des Art. 6 Abs. 2 EUV bzw. der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Neuerungen. Durch die Formulierung, die Charta gelte für die "Organe und Einrichtungen der Union", weist die Vorschrift jedoch deutlicher 246 Anderer Ansicht ist Kingreen in: CalliessIRuffert.Art. 6 EUV, Rn. 61; unentschieden Calliess, EuZW 2001, 261 (266).
III. Endergebnis
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als Art. 6 Abs. 2 darauf hin, daß eine Bindung aller in die Union eingebundenen Institutionen bezweckt ist. Sollten also weitere Eingriffsbefugnisse auf Einrichtungen wie beispielsweise Europol übertragen werden, ist gewährleistet, daß diese bei ihrer Tätigkeit die Gemeinschaftsgrundrechte beachten müssen. Da die Grundrechte jegliche Ausübung von Hoheitsgewalt auf europäischer Ebene begrenzen, können sich auch bei einer zunehmenden Erweiterung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft keine Schutzlücken ergeben. Nach der hier vertreten Ansicht entspricht die Charta auch im Hinblick auf die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte der bisherigen Rechtsprechung des EuGH. Die Grundrechte sind nicht nur im Fall der Vollziehung und Umsetzung von Gemeinschaftsrecht durch staatliche Instanzen anwendbar, sondern sie wirken darüber hinaus auch als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten. Die Bindung in der zuletzt genannten Situation ist allerdings umstritten, und es ist angesichts der unterschiedlichen Deutungen, die Art. 51 Abs. 1 EuGRC zuläßt, nicht zu erwarten, daß die Charta in ihrer gegenwärtigen Form den Streit beenden wird. Dieses Ergebnis macht deutlich, daß die Frage, wie weit das Gemeinschaftsrecht in die mitgliedstaatliehe Sphäre hineinreichen kann und darf, noch lange nicht beantwortet ist.
C. Untersuchung einzelner Grundrechte Im folgenden Abschnitt sollen nun einzelne Grundrechtsbestimmungen der Charta auf ihre Wechselwirkungen mit dem bestehenden Kompetenzgefüge untersucht werden. Zu klären ist dabei einerseits, ob bestimmte Rechte und Verbote ins Leere zielen, weil die Union in diesem Bereich nicht über die einschlägigen Kompetenzen verfügt. Andererseits wird geprüft, ob die Aufnahme einzelner Grundrechte in die Charta die Begründung neuer oder die Verstärkung vorhandener Kompetenzen der Gemeinschaft nach sich ziehen kann. Dabei soll an das von Georg Jellinek entwickelte System der öffentlichen Rechte angeknüpft werden?47 Ausgangspunkt dieses Systems ist für Jellinek die Zugehörigkeit des einzelnen zum Staat. Infolge dieser Zugehörigkeit steht das Individuum in verschiedenen Beziehungen zum Staat, die es in eine Reihe rechtlich relevanter Zustände, von Jellinek Statusverhältnisse genannt, versetzen. Aus diesen Statusverhältnissen ergeben sich dann Ansprüche, d. h. subjektive öffentliche Rechte. 248 Den Zustand der Unterwerfung des einzelnen unter den Staat, in dem die Selbstbestimmung ausgeschlossen ist, bezeichnet Jellinek als passiven Status oder status subiectionis. Die Existenz dieses Status, der die Pflichtsphäre des einzelnen gegenüber dem Staat kennzeichnet, ist die Basis staatlicher HOheitsgewalt. 249 Demzufolge erwachsen dem Individuum aus diesem Zustand keine subjektiven öffentlichen Rechte. Die Herrschaft des Staates ist nach Jellinek aber eine Herrschaft über Freie und insofern sachlich begrenzt. Dem einzelnen kommt daher auch eine individuelle, den Staat verneinende Freiheitssphäre zu, der sogenannte negative Status oder status libertatis. In diesem Zustand kann sich das Individuum unabhängig vom Staat betätigen und über seine Rechtsgüter verfügen. 250 Geschützt wird der negative Status dadurch, daß der einzelne einen Anspruch auf seine Anerkennung hat und den staatlichen Behörden jede Störung, d. h. jede Auferlegung eines gesetzlich nicht begründeten Eingriffs, verboten iSt. 251 Dem Bürger stehen insofern Abwehrrechte gegen den Staat zu. Der dritte Status folgt nach Jellinek daraus, daß letztlich die gesamte Tätigkeit des Staates im Interesse der Staatsbürger ausgeübt wird. Gewährt der Staat dem Individuum Ansprüche auf staatliche Leistungen, so erkennt lellinek, lellinek, lellinek, lellinek,
S. 81 ff. S. 86. 249 S. 86. 250 S. 87; Pieroth/Schlink, Rn. 58; Starck in: v. MangoldtlKlein/Starck, Art. 1 Abs. 3, Rn. 148. 251 lellinek, S. 105. 247
248
C. Untersuchung einzelner Grundrechte
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er ihm den positiven Status oder status civitatis ZU. 252 Auf diesen Status gründen sich die sogenannten Leistungs- und Teilhabe-, Schutzgewähr- und Verfahrensrechte gegen den Staat. 253 Als status activus wird schließlich der Zustand bezeichnet, in dem der einzelne politische Mitwirkungsrechte, z. B. das Wahlrecht, auszuüben berechtigt ist. Auf diese Weise wird das Individuum seinerseits für den Staat tätig?54 Der Europäischen Union fehlt bislang die Staatsqualität. Das Verhältnis des einzelnen zur Gemeingeschaftsgewalt ist daher nicht vollständig mit seinem Verhältnis zur staatlichen Gewalt vergleichbar. Dennoch kann das Individuum auch im Rahmen der Unionsrechtsordnung in verschiedenen Beziehungen zur Gemeinschaftsgewalt stehen. Ausgehend von der Differenzierung lellineks soll daher jeweils ein aus dem status negativus und ein aus dem status positivus folgendes, in der Grundrechtecharta gewährleistetes Recht im Hinblick auf seine Wechselwirkungen mit der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten untersucht werden. Im Zusammenhang mit einzelnen grundrechtlichen Abwehrrechten ist einerseits denkbar, daß diese infolge der gegenwärtigen Kompetenzverteilung gegenüber der Gemeinschaft nur begrenzte oder gar keine Wirkung entfalten, weil den Gemeinschaftsorganen die entsprechenden Eingriffsbefugnisse fehlen. Umgekehrt muß untersucht werden, ob und inwieweit durch die Schaffung solcher Rechte die Kompetenzordnung zugunsten der Gemeinschaft verschoben werden kann. Im Hinblick auf Rechte, die aus dem status positivus folgen, stellt sich zunächst die Frage, ob die Gemeinschaft nach der gegenwärtigen Kompetenzverteilung zur Gewährleistung solcher Rechte in der Lage ist. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob die Schaffung grundrechtlicher Leistungsrechte auf Gemeinschaftsebene dazu geeignet ist, neue Gemeinschaftskompetenzen zu begründen oder in anderer Weise auf die den Mitgliedstaaten verbliebenen Kompetenzen einzuwirken. Gegenstand der Darstellung werden mit dem Recht auf Bildung gemäß Art. 14 EuGRC und der unternehmerischen Freiheit gemäß Art. 16 EuGRC zwei Grundrechte sein, die im deutschen Grundgesetz - zumindest ausdrücklich - nicht enthalten sind. Auf die nähere Untersuchung eines aus dem status activus folgenden Rechts wird dagegen verzichtet. Zwar enthält die Grundrechtecharta einige Bestimmungen, die Mitgestaltungsrechte der Unionsbürger vorsehen, z. B. das Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament gern. Art. 39. Im Zusammenhang mit diesen Rechten ergeben sich im Hinblick auf das gemeinschaftsrechtliche Kompetenzgefüge aber keine Probleme.
252 253 254
Jellinek, S. 87. Pierothl Schlink, Rn. 60. Jellinek, S. 87.
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C. Untersuchung einzelner Grundrechte
I. Status negativus: Art. 16 EuGRC Ein Abwehrrecht des Bürgers gegenüber der Gemeinschaftsgewalt und - in den oben dargestellten Grenzen - gegen mitgliedstaatliche Hoheitsgewalt könnte Art. 16 EuGRC enthalten, der die unternehmerische Freiheit schützt. Die Vorschrift hat folgenden Wortlaut: "Die unternehmerische Freiheit wird nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt."
Dieses Grundrecht soll im folgenden zunächst auf den Umfang seiner Gewährleistung untersucht werden. Im Anschluß daran wird geprüft werden, welche konkreten Wechselwirkungen zwischen dem Grundrecht und der Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten bestehen. 1. Inhalt der Gewährleistung
a) Schutzbereich der untemehmerischen Freiheit Um zu ermitteln, welches Verhalten durch Art. 16 EuGRC geschützt werden soll, muß der Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit bestimmt werden. Der Schutzbereich eines Grundrechts ist der Lebensbereich, in dem dieses Recht wirkt. 255 aa) Grammatische Auslegung Ausgangspunkt der Auslegung ist die am Wortlaut orientierte Interpretation der Vorschrift. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch wird die unternehmerische Betätigung als selbständige, auf Eigeninitiative und eigener Verantwortlichkeit beruhende Tätigkeit verstanden, die die Einbringung von Waren oder Dienstleistungen in den Wirtschaftsverkehr zum Inhalt hat. Der Unternehmerbegriff umfaßt nach diesem Verständnis sowohl die Ausübung kaufmännischer als auch handwerklicher Tätigkeiten?56 Nicht als Unternehmer werden nach dem allgemeinen Sprachgebrauch dagegen die sogenannten Freiberufler wie Ärzte oder Rechtsanwälte angesehen. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, ob Handelnder ein Einzelunternehmer, eine Personenhandels- oder Kapitalgesellschaft oder eine nichtrechtsHihige Vereinigung ist. Da Art. 16 EuGRC nicht näher definiert, welche Tätigkeiten im einzelnen unter die unternehmerische Freiheit fallen sollen, könnten nach der grammatischen AusPieroth/Schlink, Rn. 197,203. Vgl. Wahrig, Dritter Bd., S. 426: Ein Unternehmen ist eine "organisatorische Einheit, die wirtschaftliche Zwecke verfolgt". Ein Unternehmer ist jemand, der "ein Unternehmen auf eigene Kosten führt". 255
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I. Status negativus: Art. 16 EuGRC
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legung sämtliche Aspekte der unternehmerischen Betätigung von ihrer Aufnahme über die Ausübung bis hin zur Beendigung vom Schutzbereich erfaßt sein. Für eine nähere Eingrenzung des Schutzumfangs müssen daher die übrigen Auslegungsmethoden herangezogen werden. bb) Teleologische Auslegung Wichtigste Auslegungsmethode im Rahmen des Gemeinschaftsrechts ist die teleologische Interpretation, die darauf abzielt, Sinn und Zweck der zu untersuchenden Norm zu ermitteln [so o. B.II.2.a)]. Die mit den Bestimmungen der Grundrechtecharta verfolgten Zwecke ergeben sich zunächst aus der Präambel der Charta selbst. Darüber hinaus können jedoch auch die in EGV und EUV verankerten Ziele der Gemeinschaft zur Auslegung der einzelnen Grundrechte herangezogen werden. In der Charta sollten die Grundrechte, die seit langem als Teil des Gemeinschaftsrechts anerkannt sind, schriftlich fixiert werden. Zudem wurde sie mit dem Ziel der Inkorporation in die Verträge geschaffen. Insofern kann dieses Dokument trotz der bislang noch nicht erfolgten Einbindung in EU- oder EG-Vertrag nicht isoliert von dem übrigen Gemeinschaftsrecht interpretiert werden. Da durch Art. 16 EuGRC ein wirtschaftliches Grundrecht verbrieft wird, sind zur Ermittlung seines Schutzbereichs in erster Linie die wirtschaftsrechtlichen bzw. wirtschaftspolitischen Grundsätze und Ziele der Gemeinschaft von Interesse. Die Präambel der Grundrechtecharta selbst enthält diesbezüglich - von einer Bekräftigung der Geltung der Grundfreiheiten des EG-Vertrags abgesehen - keine Aussage. In EG-Vertrag und Unionsvertrag finden sich Zielbestimmungen vor allem in den Präambeln, in Art. 2 und 4 EGV sowie in Art. 2 EUV. Art. 2 EGV formuliert in wirtschaftlicher Hinsicht lediglich die recht vage Absichtserklärung, die Gemeinschaft werde eine "harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens" sowie einen "hohen Grad von Wettbewerbsfähigkeit" fördern. Ähnliche Bekundungen enthalten die Präambeln von EGV und EUV sowie Art. 2 EUV. Eine konkrete Aussage in bezug auf die wirtschaftliche Ausrichtung der Union trifft dagegen der durch den Maastrichter Vertrag eingeführte Art. 4 EGV. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift gehört es zu den Aufgaben der Gemeinschaft, eine Wirtschaftspolitik einzuführen, die "dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist." Gern. Abs. 2, der sich mit der Wirtschafts- und Währungsunion beschäftigt, dient die Festlegung von Wechselkursen und einer einheitlichen Geld- und Wechselkurspolitik dazu, die "allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft unter Beachtung des Grundsatzes der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" zu unterstützen. Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz enthält der EG-Vertrag mit diesen Aussagen ein eindeutiges Bekenntnis zu einer vom Wettbewerb geprägten marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung. 257 257 Häde in: CaIliess/Ruffert, Art. 4 EGV, Rn. 8 f.; Bleckmann. DVBl. 1992,335 (341); Oppermann. Rn. 1025.
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C. Untersuchung einzelner Grundrechte
Die Aufnahme dieser Norm in den EG-Vertrag bringt die Grundsatzentscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers zum Ausdruck, daß die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung in der Gemeinschaft nur in begründeten Ausnahmefällen und unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden soll.258 Allerdings legt Art. 4 EGV keine verbindlichen rechtlichen Maßstäbe zur Kontrolle der Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane fest, sondern gibt lediglich Leitprinzipien vor, die gegen andere Zielbestimmungen abgewogen werden können,z59 Das zeigt sich unter anderem darin, daß in den gemeinschaftsrechtlich geregelten Materien marktwirtschaftliche Prinzipien in sehr unterschiedlichem Maße berücksichtigt werden. Wahrend etwa das Wettbewerbsrecht zum Zweck der Errichtung und Sicherung eines möglichst unverfälschten Wettbewerbs sehr liberal ausgerichtet ist260, finden sich in der Agrarpolitik eindeutig planwirtschaftliche Tendenzen261 . In diesem Zusammenhang ist nun die Garantie der unternehmerischen Freiheit gern. Art. 16 EuGRC zu sehen. Die Möglichkeit der privaten wirtschaftlichen Betätigung ist Voraussetzung für ein marktwirtschaftliches System mit freiem Wettbewerb. Marktwirtschaft und unternehmerische Freiheit sind insofern untrennbar miteinander verknüpft. Sinn und Zweck von Art. 16 EuGRC kann unter Beachtung der Zielbestimmung des Art. 4 EGV daher nur sein, die Verhaltensweisen, die für eine funktionierende Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb notwendig bzw. charakteristisch sind, grundrechtlich, d. h. subjektiv-rechtlich zu verankern. Zur Ermittlung des Schutzbereichs dieses Grundrechts muß daher geprüft werden, welche Äußerungsformen der privatwirtschaftlichen Betätigung in besonderem Maße kennzeichnend für diese Wirtschaftsform sind. Dem von Adam Smith (1723 - 1790) entwickelten Konzept der freien Marktwirtschaft liegt der Gedanke der wirtschaftlichen Privatautonomie des Individuums, d. h. das Recht des einzelnen zur freien und eigenverantwortlichen Betätigung im wirtschaftlichen Bereich, zugrunde. 262 Eigenverantwortung beinhaltet dabei die Entfaltung eigener Initiative, die Bereitschaft, zu anderen Wirtschaftsteilnehmern in Wettbewerb zu treten, aber auch die Inkaufnahme persönlicher Risiken,z63 In einem marktwirtschaftlichen System bestimmen Angebot und Nachfrage die unternehmerischen Entscheidungen und wirken so als wirtschaftliche Steuerungsmechanismen. Im Gegensatz zur Planwirtschaft ist diese Wirtschaftsordnung auf eine Beschränkung staatlicher Steuerungsmittel gerichtet264 ; auch eine exzessive staatliche Wirtschaftstätigkeit ist ihr fremd. Der Staat 258 259 260
261 262 263 264
Hatje in: Schwarze, Art. 4 EGV, Rn. 9; Zuleeg in: GTE, Art. 3 a EGV, Rn. 19. Hatje in: Schwarze, Art. 4 EGV, Rn. 10. Oppermann, Rn. 1025 f.; Zuleeg in: GTE, Art. 3 a EGV, Rn. 19. Hatje in: Schwarze, Art. 4 EGV, Rn. 10; Oppermann, Rn. 1026. Stober, § 41I 1. Stober, § 4 II 1. Stobe r, § 4 II 1.
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hat in diesem System in erster Linie die Aufgabe, den freien Wettbewerb zu schützen. 265 Voraussetzung für die unternehmerische Betätigung in einem marktwirtschaftlichen System ist demnach zunächst die Freiheit des Marktzugangs und -austritts. Der Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit wäre daher beispielsweise durch die Schaffung oder die Existenz von Staatsmonopolen berührt. Darüber hinaus muß aber auch die Möglichkeit eigenständiger und eigenverantwortlicher Disposition am Markt, d. h. im Wettbewerb mit anderen, geschützt sein. Die Grundrechtsträger müssen beispielsweise dazu in der Lage sein, die von ihnen angebotenen Produkte oder Dienstleistungen zu bewerben und deren Preis frei festzusetzen. Generell dürfen die Entscheidungen privater Unternehmer nicht von staatlichen Planvorgaben abhängig gemacht werden?66 Essentielle Vorbedingungen für eine unternehmerische Betätigung in einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung sind schließlich die Möglichkeit des Erwerbs und der Nutzung von Privateigentum und allgemein die Vertragsfreiheit im wirtschaftlichen Bereich. 267 Entsprechend der oben dargestellten Konzeption einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung gewährt das Grundrecht dagegen keinen Schutz vor solchen Risiken, die gerade das Wesen der wirtschaftlichen Tätigkeit ausmachen. So sind etwa Kundenstarnm und Geschäftsverbindungen eines Unternehmens keine gern. Art. 16 EuGRC schutzfähigen Positionen, da die Unsicherheit über den Bestand derartiger Werte Teil des Unternehmerrisikos ist. Auch kann eine Marktposition, die ein Unternehmen zu einem bestimmten Zeitpunkt innehat, in einem marktwirtschaftlichen System nicht grundsätzlich gegen eine Veränderung der allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen geschützt sein. So könnte über Art. 16 EuGRC beispielsweise kein Schutz vor der Konkurrenz durch neue Marktteilnehmer verlangt werden. Auch die Auferlegung von Steuern und Abgaben kann den Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit prinzipiell nicht berühren. Etwas anderes gilt aber jedenfalls dann, wenn eine drohende Modifikation der Rahmenbedingungen so radikal wäre, daß dem Unternehmen die Möglichkeit zur Tätigung langfristiger Investitionen genommen wäre. Ein wirksamer Schutz der unternehmerischen Freiheit muß beispielsweise auch einen Schutz vor wirtschaftlich belastenden Rückwirkungsgesetzen beinhalten, da ansonsten die für dauerhafte unternehmerische Strategien erforderliche Planungs- und Rechtssicherheit nicht gegeben wäre. Nach der teleologischen Auslegung muß demnach Maßstab für die Abgrenzung, ob eine bestimmte Verhaltensweise oder Position in den Schutzbereich von Art. 16 EuGRC fällt, stets das Leitbild einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb i.S. von Art. 4 EGV sein. Stober; § 4 II 1. Zuleeg in: GTE, Art. 3 a EGV, Rn. 19. 267 Ähnlich zum Schutzbereich der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit gern. Art. 2 Abs. 1 GG: Di Fabio in: Maunz/Dürig, Art. 2, Rn. 79,101. 265
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C. Untersuchung einzelner Grundrechte
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cc) Systematische Auslegung Im Wege der systematischen Interpretation wird die Bedeutung einer Norm unter Berücksichtigung ihrer Struktur und ihres Zusammenhangs mit anderen Vorschriften ermittelt. 268 Aufschlußreich für die Reichweite von Art. 16 EuGRC könnte die Abgrenzung zu der in Art. 15 EuGRC geSChützten Berufsfreiheit sein.
(1) Berufsfreiheit nach Art. 15 EuGRC In Art. 15 EuGRC wird das Recht einer jeden Person, "zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben", gewährleistet. Bei dem Entwurf dieser Vorschrift haben sich die Mitglieder des Konvents vor allem an der recht umfangreichen Judikatur des EuGH zur Berufsfreiheit orientiert. 269 Zur Ermittlung des SChutzbereichs der Berufsfreiheit muß daher auf diese Rechtsprechung zurückgegriffen werden. (a) Die Berufsfreiheit in der Rechtsprechung des EuGH Obwohl der EuGH die Berufsfreiheit, die er zumeist als Recht auf freie Berufsausübung bezeichnet270 , seit langer Zeit in ständiger Rechtsprechung anerkennt271 , hat er bislang keine gemeinschaftsrechtliche Definition des Berufsbegriffs entwickelt. 272 Es kann aber zumindest als unstreitig angesehen werden, daß eine berufliche Tatigkeit im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, wenn diese dauerhaft gegen Entgelt zum Zweck der Schaffung und Erhaltung einer Existenzgrundlage erbracht wird 273 und ihr Umfang nicht so gering ist, daß sie als völlig unwesentlich anzusehen wäre274 . Seit der Entscheidung in der Rechtssache "Hauer" aus dem Jahr 1979 differenziert der Gerichtshof darüber hinaus zwischen Huber, Integration, § 8, Rn. 3 f.; Bleckmann, Rn. 542. Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zu Art. 15 EuGRC, Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS 2000, S. 9 f. 270 EuGH, Rs. 44179, 13. 12. 1979, Slg. 1979,3750, Rn. 32; Verb. Rs. 133 bis 136/85, 21. 05.1987, Slg. 1987,2289, Rn. 15; Rs. C-280/93, 05. 10. 1994, Slg. 1994,1-4973, Rn. 81; Rs. 234/85, 08. 10.1986, Slg. 1986,2897, Rn. 9. 271 Vgl. z. B. EuGH, Rs. 44179, 13. 12. 1979, Slg. 1979, 3750, Rn. 32; Verb. Rs. 133 bis 136/85, 21. 05. 1987, Slg. 1987, 2289, Rn. 15; Rs. C-280/93, 05. 10. 1994,1-4973, Slg. 1994, Rn. 81. 272 In der Literatur werden daher unterschiedliche Anknüpfungspunkte für eine solche Definition vorgeschlagen. Für eine Orientierung arn Berufsbegriff des BVerfG: Kingreen in: Cailiess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 125; für eine Anlehnung an die Definition, die das Gemeinschaftsrecht für die Grundfreiheiten bereithält bzw. die der Gerichtshof im Hinblick auf die durch diese geschützten Tatigkeiten entwickelt hat: Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (270 f.). 273 Kingreen in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 125. 274 Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (270 f.). 268
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Berufswahl und Berufsausübung, die beide - allerdings mit unterschiedlicher Schutzintensität - vom Schutzbereich umfaßt sind. 275 Im übrigen beschränkt er sich auf die Feststellung, ob einzelne Tatigkeiten oder Positionen in den Schutzbereich fallen oder nicht. So werden beispielsweise die freie Wahl des Geschäftspartners276 oder der freie Zugang der Arbeitnehmer zur Beschäftigung277 als Bestandteile der Berufsfreiheit angesehen. Dagegen hat der EuGH in der Rechtssache "Nold" aus dem Jahr 1973 entschieden, daß zwar "das Eigentum, die Freiheit der Arbeit, des Handels und anderer Berufstätigkeiten" im Gemeinschaftsrecht grundrechtlieh geschützt seien, dieser Schutz aber nicht auf kaufmännische Interessen und Aussichten, deren Ungewißheit zum Wesen wirtschaftlicher Tätigkeit gehöre, ausgedehnt werden könne. 278 Gerechtfertigte Eingriffe in das Grundrecht der Berufsfreiheit enthielten nach Auffassung des Gerichtshofs eine Verordnung, die Weinhändlern Vorgaben für die Weinetikettierung machte279 , sowie ein Verbot, Qualitätsweine bestimmter Anbaugebiete außerhalb dieses Gebiets herzustellen 28o . In Verbindung mit der Berufsfreiheit nennt der Gerichtshof häufig auch den Grundsatz der Wettbewerbsfreiheit. 281 Es bleibt allerdings unklar, ob diese ein Aspekt der grundrechtlichen Garantie 282 oder lediglich eine objektive Zielbestimmung283 sein soll. Aufschlußreich für die Bestimmung des Schutzbereichs der Berufsfreiheit ist darüber hinaus die Rechtsprechung zu Grundrechtseingriffen auf dem Agrarsektor, die durch die zahlreichen Gemeinsamen Marktordnungen bewirkt werden. Insbesondere mit den in diesen Marktordnungen festgesetzten Quotensystemen hatte sich der Gerichtshof in einer Reihe von Fällen auseinanderzusetzen. Anfangs hielt der EuGH in diesem Zusammenhang das Grundrecht der Berufsfreiheit generell nicht für anwendbar. Eine Marktposition, die ein Unternehmen vor der Einführung einer Marktorganisation innehatte, fiel nach Auffassung des Gerichtshofs grundsätzlich nicht in den Schutzbereich der Berufsfreiheit. Brachte eine Marktorganisation also Nachteile für ein betroffenes Unternehmen mit sich, z. B. die Festsetzung einer Produktionsquote, wurde darin kein Eingriff in die Berufsfreiheit gesehen?84 Ebenso sollte auch die Beschneidung von Vorteilen, die 275 EuGH, Rs. 44179, 13. 12. 1979, Sig. 1979, 3727, Rn. 17; vgl. auch Rs. 116/82, 18. 09. 1986, Sig. 1986, 2519, Rn. 27: Der Gerichtshof verneinte eine Beeinträchtigung des Wesens gehalts der freien Berufswahl mit der Begründung, die angegriffene Vorschrift habe lediglich Auswirkungen auf die Berufsausübung. 276 EuGH, Verb. Rs. C-90/90 und C-91 190, 10.07.1991, Sig. 1991,1-3617, Rn. 13. 277 EuGH, Rs. 222/86,15.10.1987, Sig. 1987,4097, Rn. 14. 278 EuGH, Rs. 4173, 14.05. 1974, Sig. 1974,491, Rn. 14. 279 EuGH, Rs. 234/85, 08. 10. 1986, Sig. 1986,2897, Rn. 9. 280 EuGH, Rs. 116/82, 18.09.1986, Sig. 1986,2519, Rn. 27 f. 281 EuGH, Verb. Rs. 133 bis 136/85,21. 05. 1987, Sig. 1987,2289, Rn. 15. 282 Dafür: Penski/Elsner; DÖV 2001, 265 (271). 283 Dafür: Pemice in: Grabitz 1Hilf, Altbd. Il, Art. 164 EGV, Rn. 70. 284 EuGH, Rs. 230178, 27. 09.1979, Sig. 1979,2749, Rn. 22; Verb. Rs. 133 bis 136/85, 21.05. 1987,Slg. 1987,2289,Rn. 15, 18.
6*
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durch eine Marktorganisation gewährt worden waren, z. B. die Kürzung einer einmal zugeteilten Produktionsquote, keine Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Berufsfreiheit des betroffenen Unternehmens darstellen. 285 Der EuGH ging sogar so weit, daß sich auch außerhalb einer Marktorganisation stehende Unternehmen, die durch deren Einführung in ihrer Wettbewerbsstellung beeinträchtigt wurden, z. B. weil durch die Marktorganisation Konkurrenzprodukte subventioniert wurden, gegenüber dieser Regelung nicht auf die Berufsfreiheit berufen konnten. 286 Das Gericht sah insofern wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die durch Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane beeinflußt werden können, insgesamt als nicht von der Berufsfreiheit geschützt an. Eine Wende dieser Rechtsprechung deutete sich in der umstrittenen Bananenmarkt-Entscheidung an. Der EuGH stellte in diesem Urteil fest, daß die Einführung eines Zollkontingents und des Mechanismus seiner Aufteilung durch eine Gemeinsame Marktorganisation tatsächlich die Wettbewerbsstellung der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer in der Bundesrepublik ändere und deren Recht auf freie Berufsausübung beeinträchtige. Das Gericht bejahte insofern einen Grundrechtseingriff, hielt diesen im Ergebnis allerdings für gerechtfertigt. 287 In dieser Entscheidung hat der EuGH erstmals die Marktposition, die ein unter eine Marktordnung fallendes Unternehmen vor Einführung dieser Marktordnung innehatte, für schutzwürdig gehalten. Da das Gericht bis zu diesem Zeitpunkt eine Grundrechtsbeeinträchtigung stets mit dem Argument abgelehnt hatte, daß eine Marktorganisation den betroffenen Unternehmen insgesamt Vorteile bringe 288 , ist zu erwarten, daß in Zukunft auch die Rechtsposition von Unternehmen, die nicht unter eine Marktorganisation fallen, anders beurteilt werden wird. Diese Unternehmen können durch Regelungen aus den Marktordnungen betroffen werden, ohne daß dieser Eingriff durch wirtschaftliche Vorteile wie Abnahmegarantien kompensiert würde. In diesen Fällen dürfte insofern erst recht eine Grundrechtsbeeinträchtigung vorliegen. Auch nach der Rechtsprechung des EuGH kann also mittlerweile die Einführung oder Änderung einer Marktordnung einen Eingriff in die Berufsfreiheit der betroffenen Unternehmen darstellen. Diese Beispiele zeigen, daß die Urteile des EuGH zur Berufsfreiheit meist einzelne Erscheinungsformen der Berufsausübung durch Unternehmen zum Gegenstand haben. Dabei schützt das Grundrecht mittlerweile auch ansatzweise vor wirtschaftspolititschen Interventionen der Gemeinschaft, die zu einer Änderung der allgemeinen Wirtschaftsbedingungen oder der Ertragslage eines Unternehmens führen?89 Bestimmte Aspekte der unternehmerischen Freiheit i.S. von Art. 16 285 EuGH, Rs. 230/78, 27. 09. 1979, Sig. 1979,2749, Rn. 22; Verb. Rs. 133 bis 136/85, 21. 05. 1987, Sig. 1987,2289, Rn. 15, 18. 286 EuGH, Verb. Rs. 133 bis 136/85, 21. 05. 1987, Sig. 1987,2289, Rn. 15; krit. dazu Hilf/Wilms, EuGRZ 1989, 189 (194). 287 EuGH, Rs. C-280/93, 05.)0.1994, Sig. 1994,1-4973,1-5066, Rn. 81 ff. 288 Hilf/Wilms, EuGRZ 1989, 189 (194). 289 v. Milczewski, S. 262; Nicolaysen, Europarecht 1, S. 61.
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EuGRC werden also schon nach der Rechtsprechung des EuGH grundrechtlich geschützt. Es stellt sich insofern die Frage, ob den entsprechenden Urteilen Hinweise darauf zu entnehmen sind, daß auch der Gerichtshof zwischen allgemeiner Berufsfreiheit und unternehmerischer Freiheit unterscheidet. (b) Die unternehmerische Freiheit in der Rechtsprechung des EuGH Im Zusammenhang mit der Berufsfreiheit erwähnt der Gerichtshof oft auch ein Recht auf freie Ausübung der Wirtschaftstätigkeit. 29o Dieses Recht könnte möglicherweise als eigenständige Garantie der unternehmerischen Freiheit i.S. von Art. 16 EuGRC verstanden werden. Die Entscheidungen, in denen der Gerichtshof dieses Recht erwähnt, sind daher im Hinblick auf diese Frage näher zu untersuchen. Die Analyse der relevanten Urteile wird dadurch erschwert, daß der EuGH den Begriff der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit von Fall zu Fall in ganz unterschiedlicher Weise verwendet. In seinem Urteil in den Verb. Rs. C-143 / 88 und C-92/89, in denen die Rechtmäßigkeit der Verpflichtung eines Unternehmens zur Zahlung von Abgaben zu beurteilen war, gebrauchte der Gerichtshof Berufsfreiheit und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit bei der Benennung des möglicherweise verletzten Grundrechts synonym. Im übrigen führte er die Prüfung einer Grundrechtsverletzung aber nach den zur Berufsfreiheit entwickelten Grundsätzen durch?91 Die Anerkennung eines eigenständigen Grundrechts auf unternehmerische Freiheit kann dieser Entscheidung daher nicht entnommen werden. In einem anderen Fall, in dem der EuGH ein System zur Regulierung des Preises von Olivenöl zu überprüfen hatte, zog er dagegen allein das Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung des Klägers als Maßstab für die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Maßnahmen heran. Ohne näher zu definieren, welchen Inhalt dieses Recht haben könnte, griff er zur Rechtfertigung des Eingriffs in den Schutzbereich jedoch wieder auf die zur Berufsfreiheit entwickelten Grundsätze zurück. 292 Insofern läßt auch diese Entscheidung nicht den Rückschluß zu, daß sich das Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung inhaltlich von der Berufsfreiheit unterscheidet. Aufschlußreich könnten dagegen die Fälle sein, in denen sich die Kläger selbst ausdrücklich auf eine Verletzung ihres Rechts auf freie wirtschaftliche Betätigung berufen?93 In der Regel sind dies italienische Unternehmen, da die italienische Verfassung neben der allgemeinen Berufsfreiheit ein Recht auf freie privatwirt290 EuGH, Verb. Rs. C-90/90 und C-91/90, 10. 07. 1991, Sig. 1991, I-3617, Rn. 13; Rs. C-280/93, 05. 10. 1994, Sig. 1994, I-4973, Rn. 81; Verbs. Rs. 63 und 147/84, 19.09. 1985, Slg. 1985,2857, Rn. 23 f.; Rs. C-359/89, 21. 03.1991, Slg. 1991, I-1677, Rn. 5. 291 EuGH, Verb. Rs. C-143/88 undC-92/89, 21. 03.1991, Slg. 1991, I-415, Rn. 73 ff. 292 EuGH, Rs. C-359/89, 21. 03.1991, Sig. 1991,1-1677, Rn. 15 ff. 293 EuGH, Rs. 230/78,27. 09. 1979, Slg. 1979,2749: "Eridania"; Verb. Rs. 63 und 147/ 84, 19.09. 1985, Slg. 1985,2857: "Finsider".
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schaftliehe Betätigung vorsieht. 294 In diesem Zusammenhang böte sich für den EuGH daher die Gelegenheit zu einer eindeutigen Stellungnahme, ob ein solches Recht auf Gemeinschaftsebene existiert. Erstmals hatte sich der Gerichtshof in der Rechtssache "Eridania" aus dem Jahr 1979 mit dieser Frage auseinanderzusetzen. In diesem Fall war die Rechtmäßigkeit der Herabsetzung einer Produktionsquote für Zucker zu beurteilen, die einem Unternehmen auf der Grundlage einer Gemeinsamen Marktordnung zugeteilten worden war. Entsprechend seiner damals ständigen Rechtsprechung zu den Marktordnungen stellte der EuGH in der Urteilsbegründung jedoch lediglich fest, daß die Wirtschaftstätigkeit der betroffenen Unternehmen durch das Quotensystem nicht eingeschränkt werde. Überdies könne sich ein Unternehmen nicht auf ein wohlerworbenes Recht auf Beibehaltung eines Vorteils berufen, der sich aus der Einführung einer bestimmten Marktorganisation ergeben habe und der ihm zu einem bestimmten Zeitpunkt zugute gekommen sei. Die Beschneidung eines solchen vorübergehenden Vorteils stelle keine Verletzung des Grundrechts der Berufsfreiheit dar. 295 Der EuGH verneinte also eine Beeinträchtigung der Wirtschaftstätigkeit und stellte dann fest, das Grundrecht der Berufsfreiheit sei nicht verletzt. Ob zwischen unternehmerischer Freiheit und Berufsfreiheit zu differenzieren ist, läßt sich auch diesem Urteil nicht entnehmen. Beachtenswert ist dagegen die Entscheidung in der Sache "Finsider" aus dem Jahr 1985. Diesem Verfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Stahlerzeuger hatte unter Inanspruchnahme von EU-Beihilfen in eine neue Walzstraße investiert. Dies geschah in der Erwartung, daß daraufhin die Produktionsquote erhöht werden würde. Zu dem Zeitpunkt, als die Walzstraße in Betrieb genommen werden sollte, war jedoch die Regelung, nach der im Anschluß an Investitionsprogramme eine Quotenanpassung beantragt werden konnte, bereits wieder außer Kraft gesetzt worden. Ein entsprechender Antrag des Unternehmens wurde daher von der Kommission abgelehnt. Das Unternehmen erhob daraufhin Klage gegen die ablehnende Entscheidung und berief sich darauf, daß die neue Anlage ohne eine Erhöhung der Quote nicht genutzt werden könne. Durch die Änderung der Rechtslage seien daher die Vorteile aus einer bedeutenden wirtschaftlichen Investition entschädigungslos entzogen worden, so daß eine Verletzung des Rechts auf freie wirtschaftliche Betätigung vorliege. Der EuGH wandte dagegen ein, daß die Klägerin an der Inbetriebnahme der neuen Walzstraße nicht gehindert sei, da sie einen Teil ihrer Quote für bereits geschlossene oder zu schließende Anlagen auf die neue Anlage 294 Art. 41 der italienischen Verfassung lautet: (1) Die privatwirtschaftliche Initiative ist frei. (2) Sie darf nicht im Gegensatz zum Gemeinwohl oder in einer Weise ausgeübt werden, die der Sicherheit, der Freiheit und der Würde des Menschen schadet. (3) Das Gesetz bestimmt die Programme und die zweckmäßigen Kontrollen, um die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit auf sozmIez;iele auszurichten und abzustimmen. 295 EuGH, Rs. 230178, 27. 09.1979, Sig. 1979,2749, Rn. 22; Verb. Rs. 133 bis 136/85, 21. 05.1987, Sig. 1987,2289, Rn. 15, 18.
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übertragen könne. Die Investition der Klägerin werde daher nicht nachträglich entwertet, so daß eine Grundrechtsbeeinträchtigung ausscheide. 296 Mit dieser Feststellung deutet der Gerichtshof an, daß er die Planungs- und Rechtssicherheit, die erst die Tätigung langfristiger Investitionen ermöglicht und somit Voraussetzung der Entfaltung privatwirtschaftlicher Initiative ist, jedenfalls grundsätzlich für grundrechtlich geschützt hält. Da er aber auch in dieser Entscheidung nicht näher darauf eingeht, welches Grundrecht diesen Schutz gewähren könnte, bleibt weiterhin unklar, ob er ein eigenständiges Grundrecht auf unternehmerische Freiheit auf europäischer Ebene anerkennt. Soweit der EuGH also ein Grundrecht auf freie wirtschaftliche Betätigung erwähnt, bezeichnet dies in der Regel die Berufsfreiheit allgemein oder die Berufsausübung im engeren Sinne. 297 Gegenüber der Berufsfreiheit weitergehende Rechte lassen sich daraus nicht ableiten. 298 (c) Ergebnis Nach der Rechtsprechung des EuGH umfaßt der Schutzbereich der Berufsfreiheit die Wahl und Ausübung jeder auf Dauer angelegten Tätigkeit, die nicht völlig unwesentlich ist und der Schaffung und Erhaltung einer Existenzgrundlage dient. 299 Auch die unternehmerische Betätigung ist grundsätzlich als Beruf geschützt. Darüber hinaus können einzelne Bedingungen, die für die unternehmerische Dispositionsfreiheit entscheidend sind, in den Schutzbereich der Berufsfreiheit fallen. Dazu gehören z. B. der Schutz der Planungssicherheit oder der Schutz vor grundlegenden Veränderungen wirtschaftlicher Rahmenbedingungen. Ein eigenständiges Grundrecht, das die unternehmerische Freiheit schützt, kennt der Gerichtshof allerdings nicht. Laut Art. 15 Abs. 1 EuGRC hat jede Person das Recht, "zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben". Eine Definition des Berufs enthält auch diese Vorschrift nicht. Nach den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zu Art. 15 EuGRC soll das Grundrecht aber eine Anerkennung der Berufsfreiheit im Sinne der EuGH-Rechtsprechung darstellen?OO Dementsprechend liegt dieser Vorschrift grundsätzlich der gleiche Berufsbegriff zugrunde wie der Rechtsprechung des Gerichtshofs. EuGH, Verb. Rs. 63 und 147/84,19.09.1985, Sig. 1985,2857: "Finsider". Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (271). 298 Kingreen in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 123; Pernice in: Grabitz/Hilf, Altbd. II, Art. 164 EGV, Rn. 70; Günter, S. 23. 299 Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (271); Kingreen in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 125. Ob die Tatigkeit erlaubt sein muß, ist umstritten, in diesem Zusammenhang aber auch nicht von Bedeutung. 300 Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zu Art. 15 EuGRC, Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS 2000, S. 9 f. 296
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(2) Abgrenzung zwischen Art. 15 und 16 EuGRC Fraglich ist nun, wie Art. 15 und 16 EuGRC voneinander abzugrenzen sind. Die Tätigkeiten, die Ausdruck der unternehmerischen Freiheit sind, weisen in der Regel auch einen Bezug zur Berufsausübung des Grundrechtsträgers auf. Art. 16 EuGRC kann insofern nur dann eigenständige Bedeutung erlangen, wenn einzelne Aspekte der unternehmerischen Tätigkeit, die für diese charakteristisch sind, aus dem Schutzbereich der Berufsfreiheit ausgegliedert werden, so daß sie nunmehr allein von der unternehmerischen Freiheit erfaßt werden. Als Anknüpfungspunkt empfiehlt sich dabei - wie schon im Rahmen der teleologischen Auslegung dargestellt - das Bild der unternehmerischen Betätigung, die Voraussetzung und Wesensmerkmal einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung ist. Zu fragen ist insofern, ob die zu überprüfende Maßnahme schwerpunktmäßig die Möglichkeit der Entfaltung unternehmerischer Initiative oder allgemein die Berufswahl oder Berufsausübung betrifft. Allein die unter Art. 16 EuGRC fallende Wettbewerbsfreiheit ist beispielsweise berührt, wenn der Staat oder die Gemeinschaft bestimmten Unternehmen durch Subventionen einen Wettbewerbsvorteil verschafft oder durch ein staatliches Monopol den Marktzugang völlig versperrt. Gesetzliche Kontrahierungszwänge für Unternehmen beschränken die Vertragsfreiheit und sind daher ebenfalls am Maßstab des Art. 16 EuGRC zu messen. Aber auch in einzelnen Fällen, in denen der EuGH die Berufsfreiheit für anwendbar gehalten hat, wäre nach dieser Differenzierung eher die unternehmerische Freiheit als Rechtmäßigkeitsmaßstab heranzuziehen. Durch die in den Gemeinsamen Marktorganisationen vorgesehenen Quotenregelungen werden z. B. die Mengen festgelegt, die die betroffenen Marktteilnehmer von einer bestimmten Ware produzieren dürfen. Als Ausgleich dafür werden den Herstellern Absatz- und Mindestpreisgarantien zugestanden. Auf diese Weise werden Unternehmen daran gehindert, ihren Kapazitäten entsprechend zu produzieren. Gleichzeitig wird eine Preisbildung unter den Bedingungen des Wettbewerbs unterbunden. Gegenüber dieser erheblichen Beeinträchtigung des freien Wettbewerbs fallt die Beeinflussung der Berufsausübung, die in der Festlegung und Zuteilung der Quote ebenfalls enthalten ist, nicht ins Gewicht. Einschlägig ist insofern allein die unternehmerische Freiheit. Gleiches gilt z. B. für den Fall "Rau..301 , in dem die Hersteller von Margarine gegen die Subvention des Verkaufs von Butter auf der Grundlage einer Gemeinsamen Marktorganisation für Butter klagten. Infolge der Unterstützung des Butterabsatzes waren die Margarinehersteller daran gehindert, ihre Erzeugnisse unter den Bedingungen des freien Marktes vennarkten und verkaufen zu können. Die angegriffene Regelung führte insofern zu einer Wettbewerbsverzerrung. Auch in dieser Konstellation liegt der Schwerpunkt des Eingriffs auf einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsfreiheit. Die freie Berufsausübung wird demgegenüber nur am Rande berührt. 301
EuGH, Verb. Rs. 133 bis 136/85,21. 05.1987, Sig. 1987,2289 ff.
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Insbesondere die wirtschaftspolitischen Interventionen der Gemeinschaft im Rahmen der Gemeinsamen Marktorganisationen fallen also in der Regel nicht mehr unter die Berufsfreiheit, sondern unter den insoweit spezielleren Art. 16 EuGRC. Dieses Ergebnis erscheint auch sachgerecht, da auf diese Weise deutlicher wird, welchen Aspekt der wirtschaftlichen Betätigung derartige Maßnahmen betreffen. Im übrigen deutet die Formulierung des Art. 16 EuGRC, die unternehmerische Freiheit werde "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt", darauf hin, daß dieses Grundrecht im Vergleich zu der Berufsfreiheit weitgehendere Einschränkungsmöglichkeiten enthält. Diese könnten eine differenziertere Betrachtung der wirtschaftspolitischen Erwägungen, die die Gemeinschaftsgewalt zu einer Einschränkung des Marktgeschehens veranlassen, ermöglichen. Es sind allerdings auch Überschneidungen der Schutzbereiche der Berufsfreiheit und der unternehmerischen Freiheit denkbar. So ist beispielsweise die Werbung für eine bestimmte Ware oder Dienstleistung einerseits ein wesentlicher Bestandteil der Berufsausübung des jeweiligen Unternehmers, andererseits aber auch ein Element der Wettbewerbsfreiheit. Daher sind Werbebeschränkungen und -verbote, z. B. für Tabakerzeugnisse, sowohl an Art. 15 als auch an Art. 16 EuGRC zu messen. Abhängig von der Zielrichtung des Eingriffs kann Art. 16 EuGRC dementsprechend entweder als spezielle Regelung Art. 15 EuGRC verdrängen oder selbständig neben der Berufsfreiheit zur Anwendung kommen. Die Aufnahme der unternehmerischen Freiheit in die Charta stellt insofern eine sinnvolle Ergänzung und Präzisierung der wirtschaftlichen Grundrechte auf Gemeinschaftsebene dar. dd) Historische Auslegung Anhaltspunkte für den Willen der Verfasser der Grundrechtecharta lassen sich den Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zu den einzelnen Artikeln entnehmen. In den Anmerkungen zu Art. 16 EuGRC wird auf einige Entscheidungen des EuGH sowie auf Art. 4 Abs. 1 und 2 EGV verwiesen. 302 (1) EuGH-Entscheidungen zur Berufsfreiheit
In den Anmerkungen zu Art. 16 EuGRC beruft sich das Präsidium zunächst auf zwei Entscheidungen des Gerichtshofs, in denen die Freiheit, eine Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit auszuüben, anerkannt wurde. Dies erscheint auf den ersten Blick verwunderlich, da nach den Ausführungen unter C.I.1.a)cc)(b) der EuGH zwar bisweilen auf ein Recht auf freie wirtschaftliche Betätigung verweist, diesem jedoch bislang neben der Berufsfreiheit keine eigenständige Bedeutung beimißt. Mög302 Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zu Art. 16 EuGRC, Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS 2000, S. 10.
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licherweise sind diese Entscheidungen aber dennoch aufschlußreich für die Ermittlung des Schutzbereichs von Art. 16 EuGRC. Die Erläuterungen verweisen zunächst auf das bereits erwähnte Urteil in der Rechtssache "Nold" aus dem Jahr 1973. In dieser Entscheidung hatte der EuGH erstmals anerkannt, daß "das Eigentum, die Freiheit der Arbeit, des Handels und anderer Berufstätigkeiten" im Gemeinschaftsrecht grundrechtlich geschützt sind. Im konkreten Fall verneinte er allerdings eine Grundrechtsbeeinträchtigung, da die der Klägerin entstandenen Nachteile auf die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung zurückzuführen seien. Der Schutz eines Unternehmens könne nicht auf bloße kaufmännische Interessen und Aussichten ausgedehnt werden, deren Ungewißheit zum Wesen wirtschaftlicher Tatigkeit gehöre. 303 Eine Aussage, wie der Schutzbereich der Berufsfreiheit positiv zu bestimmen ist, enthält dieses Urteil nicht. Dementsprechend finden sich erst recht keine Anhaltspunkte dafür, welchen Inhalt ein von der Berufsfreiheit zu unterscheidendes Grundrecht auf unternehmerische Freiheit haben könnte. Der Verweis auf diese Entscheidung spricht aber dafür, daß auch Art. 16 EuGRC die unternehmerische Tätigkeit nicht uneingeschränkt gegen die Veränderung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen schützen soll. In den Erläuterungen wird ferner die bereits unter C.I.l.a)cc)( 1)(b) dargestellte Rechtssache "Eridania" zitiert, in der der Gerichtshof über die Herabsetzung einmal zugeteilter Produktions- und Verkaufsquoten im Rahmen einer Marktorganisation für Zucker zu entscheiden hatte?04 Obwohl der EuGH auch in dieser Entscheidung eine grundrechtlich garantierte unternehmerische Freiheit nicht ausdrücklich anerkannt hat, könnte der Verweis auf dieses Urteil für die Bestimmung des Schutzbereichs des Art. 16 EuGRC aufschlußreich sein. Nach der unter c.l.l.a)cc)(e) vorgenommenen Abgrenzung zwischen Art. 15 und 16 EuGRC beschränken die gemeinschaftlichen Quotenregelungen, die die betroffenen Unternehmen daran hindern, ihren Kapazitäten entsprechend zu produzieren und ihre Preise frei festzusetzen, schwerpunktmäßig die unternehmerische Entscheidungsfreiheit. Daß in den Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 16 EuGRC eine Entscheidung zu diesen Regelungen zitiert wird, deutet darauf hin, daß auch die Verfasser der Charta eine derartige Abgrenzung zwischen Berufsfreiheit und unternehmerischer Freiheit beabsichtigt haben.
(2) EuGH-Entscheidungen zur Vertragsfreiheit In den Erläuterungen des Präsidiums werden zwei weitere Entscheidungen des Gerichtshofs genannt, die sich mit der Vertragsfreiheit beschäftigten. In dem ersten Urteil aus dem Jahr 1979 bestätigte der EuGH lediglich die Existenz des Prinzips der Vertragsfreiheit, ohne diese Freiheit näher zu konkretisieren?05 In der zweiten 303 304
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EuGH, Rs. 4173,14.05.1974, Slg. 1974,491, Rn. 14 f. EuGH, Rs. 230178, 27. 09.1979, Slg. 1979, 2749,-Rn. 21 f. EuGH, Rs. 151178, 16.01. 1979, Slg. 1979, 1, Rn. 20.
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Entscheidung aus dem Jahr 1997 stellte er fest, aus dem Grundsatz der Vertragsfreiheit folge ein Recht der Parteien, von ihnen geschlossene Verträge abzuändern. Dieses Recht könne jedoch durch eine entsprechende Gemeinschaftsregelung eingeschränkt werden. 306 Die Nennung dieser Entscheidungen untermauert die mit Hilfe der übrigen Auslegungsmethoden gewonnenen Ergebnisse. Wie unter C.I.l.a)bb) dargelegt, ist die Anerkennung des Grundsatzes der Vertragsfreiheit eine der Voraussetzungen eines funktionierenden marktwirtschaftlichen Systems. Durch die Aufnahme der unternehmerischen Freiheit in den Grundrechtekatalog ist die Freiheit, im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Betätigung Verträge abzuschließen, abzuändern oder aufzulösen, nunmehr eindeutig als ein dem Schutzbereich des Art. 16 EuGRC zuzuordnendes subjektives Recht des einzelnen anzusehen.
(3)Art. 4 Abs. 1 und 2 EGV Schließlich stützt sich das Präsidium in seinen Erläuterungen zu Art. 16 EuGRC noch auf Art. 4 Abs. 1 und 2 EGV, in dem die Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb als für den europäischen Raum geltende Wirtschaftsordnung festgelegt wird. Dieser Verweis bestätigt den engen Zusammenhang zwischen der unternehmerischen Freiheit und der Wirtschaftsverfassung der Union. Die historische Auslegung stützt insofern die These, daß Ausgangspunkt für die Bestimmung des Inhalts der unternehmerischen Freiheit das Leitbild einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung mit freiem Wettbewerb sein muß. Die im Wege der historischen Auslegung gefundenen Ergebnisse entsprechen damit im wesentlichen den Resultaten, die unter Anwendung der übrigen Interpretationsmethoden erzielt wurden. ee) Ergebnis Der sachliche Schutzbereich des Art. 16 EuGRC ist demnach wie folgt zu bestimmen: Das Grundrecht schützt mit der unternehmerischen Freiheit die Möglichkeit der Entfaltung privatwirtschaftlicher Initiative in einer marktwirtschaftlich organisierten Wirtschaftsordnung. Voraussetzung dafür ist zunächst die Möglichkeit des Marktzugangs für private Unternehmen und damit die Möglichkeit, zu anderen Marktteilnehmern in Konkurrenz zu treten. Die freie unternehmerische Betätigung setzt ferner die Möglichkeit voraus, am Markt frei und eigenverantwortlich disponieren zu können. Art. 16 EuGRC wird unter diesem Gesichtspunkt insbesondere durch die wirtschaftslenkenden Maßnahmen der Gemeinschaft im Rahmen der Gemeinsamen Marktordnungen berührt. Als essentielle Vorbedingungen der unternehmerischen Tlitigkeit sind schließlich die Möglichkeit des Erwerbs und der Nut306
EuGH, Rs. 240/97, 05.10.1997, Slg. 1999,1-6571, Rn. 99.
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zung von Privateigentum zu unternehmerischen Zwecken und allgemein die Vertragsfreiheit im wirtschaftlichen Bereich vom Schutzbereich erfaßt. Das Grundrecht gewährt dagegen keinen Schutz vor solchen Risiken, die gerade das Wesen der wirtschaftlichen Tatigkeit ausmachen. Maßstab für die Abgrenzung, ob eine bestimmte Verhaltensweise oder Position in den Schutzbereich von Art. 16 EuGRC fallt, muß stets das Leitbild einer Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb LS. von Art. 4 EGV sein.
b) "Anerkennung" der untemehmerischen Freiheit Die offene Fassung des Schutzbereichs von Art. 16 EuGRC ermöglicht grundsätzlich einen weitgehenden Schutz der unternehmerischen Betätigung. Diese Gewährleistung könnte allerdings durch die Formulierung, die unternehmerische Freiheit werde "anerkannt", wieder abgeschwächt werden. Ein Recht, das anerkannt wird, erscheint zumindest auf den ersten Blick für den Adressaten weniger verpflichtend als beispielsweise ein Recht, das gewährleistet ist. Die Vorschrift könnte daher so zu verstehen sein, daß sie lediglich eine Absichtserklärung enthält, nicht aber eine unbedingte Verpflichtung, mit der ein subjektives Abwehrrecht des einzelnen korrespondiert. Es muß insofern im Wege der Auslegung geklärt werden, ob die "weiche" Formulierung dieses Grundrechts tatsächlich eine Abschwächung des Schutzumfangs zur Folge hat. aa) Grammatische Auslegung Das Verb "anerkennen" ist gleichzusetzen mit "respektieren", "achten", "für gültig halten" oder "bestätigen". Eine Verpflichtung zur Anerkennung eines Rechts beinhaltet dementsprechend das Gebot, dieses Recht nicht zu verletzen. Mit dieser Verpflichtung korrespondiert jedoch nicht zwangsläufig ein subjektives Abwehrrecht des Berechtigten gegenüber eventuellen Beeinträchtigungen. Allein anhand der am Wortlaut orientierten Auslegung läßt sich daher keine eindeutige Aussage über den Charakter von Art. 16 EuGRC treffen. bb) Systematische Auslegung Aufschlußreich ist dagegen die Betrachtung der Norm im Zusammenhang mit anderen Bestimmungen der Charta. Die grammatische Auslegung hat ergeben, daß die ,,Anerkennung" eines Rechts und dessen "Achtung" synonym sind. Die übrigen Vorschriften der Charta, in denen ebenfalls die Anerkennung oder Achtung eines Rechts angeordnet wird, bieten jedoch ein völlig uneinheitliches Bild. So werden z. B. laut Art. 13 S. 2 EuGRC die akademische Freiheit und gern. Art. 11 Abs. 2 EuGRC die Freiheit der Medien und ihre-Pluralität geachtet. In der bishererschienenen Literatur zur Grundrechtecharta herrscht überwiegend Einigkeit darüber,
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daß diese Bestimmungen subjektive Abwehrrechte verleihen?07 Demgegenüber ist wohl ebenfalls unbestritten, daß aus Art. 22 EuGRC, nach dem die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen achtet, kein subjektives Recht, etwa für Angehörige nationaler Minderheiten, hergeleitet werden kann?08 Berücksichtigt man schließlich die Vielzahl von Amtssprachen in der EU und die Tatsache, daß die Formulierungen der Charta insgesamt sehr uneinheitlich sind309, so muß daraus gefolgert werden, daß allein die Verwendung des Verbs "anerkennen" keine Aussage über den Schutzumfang von Art. 16 EuGRC zuläßt. Entscheidend ist vielmehr zum einen der enge Zusammenhang mit Art. 15 und 17 EuGRC, die eindeutig subjektive Rechte enthalten. Die unternehmerische Freiheit ergänzt und präzisiert die Berufsfreiheit gern. Art. 15 EuGRC. Darüber hinaus sind Überschneidungen mit der Eigentumsgarantie gern. Art. 17 EuGRC denkbar, soweit Art. 16 EuGRC als Voraussetzungen der unternehmerischen Betätigung den Erwerb und die Nutzung von Privateigentum erfaßt. Im Hinblick auf diese Verbindung ist nicht ersichtlich, warum gerade Art. 16 EuGRC kein echtes Abwehrrecht enthalten sollte. Zum anderen findet sich die unternehmerische Freiheit in Kapitel 11 der Grundrechtecharta, das mit "Freiheiten" betitelt ist und dementsprechend ganz überwiegend klassische Freiheitsrechte wie die Meinungsfreiheit (Art. 11 EuGRC) oder die Versammlungsfreiheit (Art. 12 EuGRC) enthält. Der systematische Zusammenhang, in dem Art. 16 EuGRC steht, spricht daher dafür, daß diese Vorschrift nicht nur eine objektiv zu berücksichtigende Absichtserklärung, sondern ein subjektives Abwehrrecht enthält. cc) Teleologische Auslegung Maßgebend ist letztendlich auch das im Rahmen der teleologischen Auslegung zu berücksichtigende Ziel der Vorschrift. Durch die Zusammenfassung der Gemeinschaftsgrundrechte in der Charta sollten diese sichtbarer gemacht werden, um ihren Schutz zu verstärken. Dabei orientierte sich der Konvent vor allem an der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH. Die Formulierung bloßer Absichtserklärungen war insofern gerade nicht beabsichtigt. Darüber hinaus sind einzelne Aspekte der unternehmerische Freiheit auch nach der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs bereits grundrechtlich geschützt [s.o. C.I.1.a)cc)(1)(a)). Verstünde man Art. 16 EuGRC nun nicht als echtes Abwehrrecht, wäre dies ein Rückschritt gegenüber dem bereits erreichten grundrechtlichen Schutzniveau im Gemeinschaftsrecht, da dann einzelne, bislang der Berufsfreiheit zuzuordnende Verhal307 Calliess, EuZW 2001, 261 (263); Tettinger, NJW 2001, 1010 (1013); widersprüchlich wohl Grabenwarter, DVBI. 2001, I (5), der die Formulierung in Art. II Abs. 2 nur "scheinbar" abschwächend nennt, zu Art. 13 S. 2 jedoch bemängelt, daß die akademische Freiheit nach dieser Vorschrift "bloß zu achten" sei. 308 Grabenwarter, DVBI. 2001, I (6). 309 Rechte werden beispielsweise gewährleistet (Art. 9, 18), anerkannt (Art. 10 Abs. 2), geschützt (Art. 17) oder anerkannt und geachtet (Art. 25, 26).
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tensweisen nicht mehr i.e.S. grundrechtlich geschützt wären. Dieser Effekt wäre jedoch mit den bei der Schaffung der Grundrechtecharta verfolgten Zielen unvereinbar. Möglich ist zwar, daß die unternehmerische Freiheit wegen der Formulierung, sie werde "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" anerkannt, im Vergleich mit der Berufsfreiheit in weiterem Umfang beschränkbar ist. Es handelt sich aber nichtsdestotrotz um ein echtes subjektives Abwehrrecht. Allein durch die Verwendung des Verbs "anerkennen" wird der Schutz der unternehmerischen Freiheit insofern nicht verringert. c) "Nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten"
Eine Abschwächung des Schutzumfangs des Art. 16 EuGRC könnte sich allerdings aus der Formulierung, die unternehmerische Freiheit werde "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" anerkannt, ergeben. In der bisher zur Grundrechtecharta erschienenen Literatur wird - soweit ersichtlich - infolge dieses Wortlauts überwiegend von einer weiten Beschränkbarkeit des Grundrechts ausgegangen31O, ohne daß präzisiert würde, in welcher Form und in welchen Grenzen diese Einschränkungen möglich sein sollen. Unklar ist insbesondere das Verhältnis zur allgemeinen Schrankenbestimmung des Art. 52 Abs. 1 EuGRC, nach dem eine Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte gesetzlich vorgesehen sein muß, den Wesensgehalt des Grundrechts nicht antasten darf und das Verhältnismäßigkeitsprinzip beachten muß. Der Wortlaut des Art. 16 EuGRC läßt im Hinblick auf diese Frage unterschiedliche Interpretationen zu. Möglich wäre einerseits, daß die unternehmerische Freiheit durch Gemeinschaftsrecht unabhängig von seinem Rang, durch jegliche mitgliedstaatliche Rechtsvorschrift sowie durch die gesamte rnitgliedstaatliche Praxis ohne weiteres eingeschränkt werden könnte. Auf dieses Weise würde das Grundrecht letztlich doch auf eine unverbindliche Absichtsbekundung reduziert. Andererseits ist es aber auch nicht ausgeschlossen, daß aus Art. 16 EuGRC selbst keine gegenüber Art. 52 Abs. 1 EuGRC stärkeren Beschränkungsmöglichkeiten folgen. Wie die Vorschrift zu verstehen ist, muß daher unter Heranziehung der übrigen Auslegungsmethoden ermittelt werden. aa) Systematische Auslegung Zur Bestimmung des Inhalts der Formulierung, die unternehmerische Freiheit werde "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschrif310 Grabenwarter, DVBI. 2001, I (5); Calliess, EilLW 2001,261 (264); Magiera, DÖV 2000,1017 (1026); Schwarze, EuZW 2001,517 (524).
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ten und Gepflogenheiten" anerkannt, soll zunächst ein Vergleich mit weiteren Chartagrundrechten vorgenommen werden. Weiterhin muß eine Abgrenzung zu Art. 52 Abs. I EuGRC erfolgen.
( 1) Weitere Chartagrundrechte Eine Reihe anderer Grundrechte in der Charta sind ähnlich wie Art. 16 EuGRC formuliert. Gern. Art. 9 EuGRC werden die Rechte, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet, welche die Ausübung dieser Rechte regeln. Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach Art. 10 Abs. 2 EuGRC ebenfalls nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, die die Ausübung dieses Rechts regeln. Art. 28 EuGRC sieht schließlich vor, daß Arbeitnehmer und Arbeitgeber nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht haben, Tarifverträge auszuhandeln und bei Interessenkonflikten die geeigneten Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen zu ergreifen. Das Recht, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen, ist dadurch gekennzeichnet, daß sein Schutzbereich normgeprägt ist, d. h. daß dieser der Ausgestaltung und Konkretisierung durch Rechtsvorschriften bedarf.3\l Insbesondere die Ehe ist nicht nur ein soziales Gebilde, sondern auch eine vom Staat rechtlich geregelte und demzufolge von ihm mitkonstituierte Beziehung. Erforderlich sind insofern Rechtsnormen, die diese Beziehung überhaupt definieren, damit der einzelne zum Grundrechtsgebrauch imstande iSt. 312 Zur Wehrdienstverweigerung sind die Grundrechtsberechtigten zwar grundsätzlich ohne weitere rechtliche Ausgestaltung des Schutzbereichs in der Lage, so daß dieses Grundrecht nicht im engeren Sinne normgeprägt ist. Erforderlich ist aber ein staatliches Verfahren, innerhalb dessen der einzelne von seinem Recht effektiv Gebrauch machen kann. Daher sind auch die Träger dieses Grundrechts auf staatliche Vorkehrungen angewiesen. Das Recht, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen, ist dagegen wiederum im klassischen Sinne rechtsgeprägt, da es z. B. Normen des bürgerlichen Rechts voraussetzt, die das Zustandekommen und die Wirkungen solcher Verträge regeln. Diesen Rechten ist insofern gemeinsam, daß sie zur Ermöglichung ihres Gebrauchs der näheren Ausgestaltung durch den Gesetzgeber bedürfen. Ähnliches gilt für die unternehmerische Freiheit. Bereits der enge Zusammenhang zwischen dem Grundrecht und der in der Union existierenden bzw. angestrebten Wirtschaftsordnung zeigt, daß die unternehmerische Freiheit durch wirtschaftsrechtliche und allgemeine zivilrechtliehe Regelungen ausgestaltet werden darf und muß?I3 So setzt z. B. die Garantie der Vertragsfreiheit privatrechtliehe RegePierothlSchlink, Rn. 209, 635, 647. Kingreen, Jura 1997,401 (403); PierothlSchlink, Rn. 209, 635, 647. 313 Für die wirtschaftliche Handlungsfreiheit gern. Art. 2 Abs. 1 GG: Di Fabio in: Maunz I Dürig, Art. 2 Abs. 1 GG, Rn. 78. 311
3\2
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lungen über Zustandekornrnen und Wirksamkeit von Verträgen voraus. Die Wettbewerbsfreiheit ist nur gewährleistet, wenn Vorschriften vorhanden sind, die definieren, was als lauterer und dementsprechend als schützenswerter Wettbewerb anzusehen ist. Auch die unternehmerische Freiheit ist insofern auf gesetzgeberische Gestaltung angewiesen. Es ist daher zunächst festzuhalten, daß durch die Formulierung, die unternehmerische Freiheit werde "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" anerkannt, Gemeinschaftsgesetzgeber und Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung des Schutzbereichs berechtigt werden. Indem sich das Grundrecht - im Gegensatz z. B. zu Art. 9 EuGRC - an gemeinschaftliche und mitgliedstaatliche Organe wendet, wird dem Umstand Rechnung getragen, daß auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts beide mit Kompetenzen ausgestattet sind. 314
(2) Abgrenzung zu Art. 52 Abs. 1 EuGRC Fraglich ist nun, wie sich das Verhältnis zwischen der in Art. 16 EuGRC enthaltenen Befugnis zur Schutzbereichsbestimmung und der allgemeinen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 EuGRC darstellt. Hätten sowohl Gemeinschaft als auch Mitgliedstaaten die unbegrenzte Möglichkeit, den Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit zu definieren und in diesem Rahmen auch zu verkürzen, könnten auf diese Weise die Grenzen, die Art. 52 Abs. 1 EuGRC aufstellt, umgangen werden. In diesem Zusammenhang stellen sich im wesentlichen zwei Fragen. Zunächst muß ermittelt werden, was unter "Gemeinschaftsrecht" sowie "einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" zu verstehen ist. Darüber hinaus ist zu klären, welche Grenzen der Ausgestaltungsbefugnis von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten gezogen werden müssen, d. h. wann eine schutzbereichsgestaltende Maßnahme in einen Eingriff umschlägt. (a) Gemeinschaftsrecht Der Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit wird gern. Art. 16 EuGRC zunächst durch das Gemeinschaftsrecht definiert. Dieses läßt sich in Primär- und Sekundärrecht unterteilen. Zum Primärrecht gehören der EU-Vertrag und die Gründungsverträge der Gemeinschaften mitsamt den nachfolgenden Änderungen. 315 Teil des Primärrechts sind zudem die vom EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze, d. h. auch die Gemeinschaftsgrundrechte?16 Als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts sind die Grundrechte gleichrangig mit 314 Vgl. z. B. die Rechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft gern. Art. 83 oder Art. 86 Abs.3EGV. 315 Emmert, § 12, Rn. 1. 316 Streinz, Rn. 354.
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dem übrigen Primärrecht. Daraus folgt, daß einerseits die Grundrechte stets in Einklang mit den Bestimmungen des Primärrechts, insbesondere mit den Grundfreiheiten, auszulegen sind?1? Umgekehrt ist aber auch das übrige Primärrecht im Lichte der Grundrechte zu interpretieren. Eine darüber hinausgehende Aussage ist Art. 16 EuGRC im Hinblick auf das gemeinschaftliche Primärrecht nicht zu entnehmen. Das gemeinschaftliche Sekundärrecht wird von den Organen der Gemeinschaft auf der Grundlage des Primärrechts erlassen. Mögliche Handlungsformen sind gern. Art. 249 EGV die Verordnung, die Richtlinie, die Entscheidung, die Empfehlung und die Stellungnahme. Diese Handlungsformen unterscheiden sich in Reichweite und Bindungswirkung. Empfehlungen und Stellungnahmen sind gern. Art. 249 Abs. 5 EGV keine verbindlichen Rechtsakte, sondern enthalten lediglich Meinungsäußerungen der Gemeinschaftsorgane über bestimmte Situationen oder Vorgänge. Sie bedürfen deshalb grundsätzlich keiner speziellen Ermächtigung in den Verträgen. 318 Als Maßnahmen ohne Rechtswirkungen sind sie allerdings auch nicht geeignet, den Schutzbereich eines Grundrechts in einer für die Grundrechtsträger verbindlichen Weise zu definieren. Diese Sekundärrechtsakte sind daher von vornherein nicht als Gemeinschaftsrecht im Sinne von Art. 16 EuGRC anzusehen. In Betracht kommen insofern nur noch die Verordnung, die Richtlinie und die Entscheidung. Die Verordnung hat gern. Art. 249 Abs. 2 EGVallgemeine Geltung, d. h. sie richtet sich an eine unbestimmte Vielzahl von Adressaten zur Regelung einer unbestimmten Vielzahl von Sachverhalten. 319 Sie ist in allen Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Damit erfüllt sie die materiellen Voraussetzungen eines Gesetzes. 320 Die Richtlinie bedarf dagegen der Umsetzung durch den nationalen Gesetz- oder Verordnungsgeber. Sie ist für diesen hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überläßt ihm jedoch die Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung. Allerdings hat sich die Richtlinie hinsichtlich ihrer Wirkungen in der Praxis der Verordnung angenähert, da sie oft sehr detaillierte Vorgaben für die innerstaatlichen Stellen enthält und zudem unter bestimmten Voraussetzungen auch unmittelbare Wirkung entfalten kann. 321 Infolge ihrer normativen Wirkungen sind Verordnung und Richtlinie insofern in jedem Fall als Gemeinschaftsrecht LS. von Art. 16 EuGRC anzusehen. Fraglich ist allerdings, ob das auch für die Entscheidung gilt. Diese Handlungsform ermöglicht, vergleichbar mit dem Verwaltungsakt im deutschen Recht, den Erlaß verbindlicher Einzelfallregelungen. 322 Sie bezieht sich insofern unter BePenski/Elsner, DÖV 2001, 265 (272). Grabitz in: Grabitz/Hilf, Altbd. 11, Art. 189 EGV, Rn. 75; a.A.: Hummer in: Grabitzl Hilf, Altbd. 11, Art. 155 EGV, Rn. 40. 319 Streinz, Rn. 378. 320 Streinz, Rn. 378. 321 Oppennann, Rn. 547. 322 Oppennann, Rn. 563. 317 318
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zeichnung des oder der Adressaten auf eine konkrete Situation. Zuständig für dieses typisch exekutivische Handeln ist in der Regel die Kommission. 323 Wäre auch die Entscheidung als Gemeinschaftsrecht i.S. von Art. 16 EuGRC anzusehen, dann könnten die zuständigen Organe, zumeist also die Kommission, für jeden Einzelfall den Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit neu bestimmen. Dies hätte eine erhebliche Rechtsunsicherheit über den Schutzumfang des Grundrechts zur Folge, da allgemeingültige Aussagen über dessen Reichweite nicht getroffen werden könnten. Die Entscheidung als konkret individuelle Maßnahme ist bereits aus diesem Grund zur Schutzbereichsgestaltung nicht geeignet. Zudem wird im Hinblick auf die mitgliedstaatliehe Ausgestaltungsbefugnis ausdrücklich zwischen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten differenziert, wobei mit letzteren offenbar die praktische Rechtsanwendung gemeint ist. In bezug auf gemeinschaftliche Maßnahmen wird dagegen lediglich von Gemeinschaftsrecht gesprochen. Wegen ihrer Vergleichbarkeit mit dem Verwaltungsakt ist die Entscheidung LS. von Art. 249 Abs. 4 EGVallerdings eher dem Bereich der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zuzuordnen. Die Gemeinschaftspraxis ist im Gegensatz zu der mitgliedstaatlichen Praxis von Art. 16 EuGRC aber nicht erlaßt. Aus diesen Gründen sind Entscheidungen nicht zu den gemeinschaftlichen Maßnahmen zu rechnen, durch die der Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit definiert werden kann. Gemeinschaftsrecht LS. von Art. 16 EuGRC ist insofern zunächst das gesamte Primärrecht. Im Hinblick auf diesen Teil des Gemeinschaftsrechts enthält die Vorschrift allerdings keine Aussage, die über den allgemeinen Grundsatz hinausginge, daß bei der Auslegung der Grundrechte das übrige Gemeinschaftsrecht zu berücksichtigen ist und umgekehrt das Primärrecht im Lichte der Grundrechte ausgelegt werden muß. Aus dem Bereich des Sekundärrechts sind die Verordnung und die Richtlinie als Gemeinschaftsrecht LS. von Art. 16 EuGRC anzusehen. (b) Einzelstaatliche Rechtsvorschriften Die Mitgliedstaaten sind gern. Art. 16 EuGRC befugt, durch Rechtsvorschriften den Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit zu definieren. Da der Begriff der Rechtsvorschriften in Abgrenzung zu den mitgliedstaatlichen Gepflogenheiten verwendet wird, ist davon auszugehen, daß als Rechtsvorschriften alle Gesetze im materiellen Sinne anzusehen sind, d. h. Verhaltensnormen, die für eine unbestimmte Vielzahl von Personen und Sachverhalten verbindliche Regelungen enthalten. 324 Zu diesen gehören die Parlamentsge setze als sogenannte formelle Gesetze, aber auch Rechtsverordnungen und Satzungen. 325 Streinz, Rn. 415; OppertnlUln, Rn. 564. Stein. § 14 I. 325 Grundsätzlich ist zum materiellen Recht eines Staates auch das Gewohnheitsrecht zu rechnen; vgl. Larenz/Wolf, BGB AT'; 3, Rn. 2. Ob dies auch hier der Fall ist, ist angesichts des Erfordernisses einer Rechtsvorschriji unklar. Diese Frage ist jedoch ftirdie im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Probleme nicht von Bedeutung. 323
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(c) Einzelstaatliche Gepflogenheiten Fraglich ist schließlich, was unter den einzelstaatlichen Gepflogenheiten, durch die gern. Art. 16 EuGRC ebenfalls der Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit definiert werden kann, zu verstehen ist. Die Auslegung des Begriffs der Gepflogenheit wird zum einen dadurch erschwert, daß es sich dabei nicht um einen Rechtsterminus handelt. Zum anderen hat offenbar auch das Präsidium des Konvents diesem Teil der Vorschrift entweder keine größere Bedeutung beigemessen oder sich nicht auf eine Auslegung einigen können, da dieser Aspekt in den Erläuterungen zu Art. 16 EuGRC nicht einmal erwähnt wird. Dort wird lediglich festgestellt, das Recht auf unternehmerische Freiheit werde "natürlich unter Einhaltung des Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ausgeübt,,326. Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ist eine Gepflogenheit eine Gewohnheit, ein Brauch oder eine Sitte, d. h. eine in bestimmten Situationen regelmäßig an den Tag gelegte Handlungsweise. Da die staatlichen Gepflogenheiten neben den staatlichen Rechtsvorschriften genannt werden, ist davon auszugehen, daß auf diese Weise tatsächliche Verhaltensweisen und Verfahren erfaßt werden sollen, also die Rechtsanwendung im Gegensatz zur Rechtsetzung. 327 Eine staatliche Gepflogenheit kann insofern eine Handlungsweise der Verwaltung oder der Gerichte sein. Um die Bedeutung des Begriffs der Gepflogenheit zu ermitteln, könnte die Prüfung hilfreich sein, auf welche Weise im Gemeinschaftsrecht oder im deutschen Recht an anderer Stelle einem tatsächlichen Verhalten rechtliche Wirkung beigemessen wird. Zu denken ist dabei zum einen an das Gewohnheitsrecht und zum anderen an die Sitten und Gebräuche mit rechtlicher Bedeutung, z. B. die Handelsbräuche i.S. von § 346 HGB. Gewohnheitsrecht entsteht durch die Betätigung einer Rechtsüberzeugung, die in einer Rechtsgemeinschaft vorherrscht, durch eine entsprechende ständige Übung der Rechtsgenossen. Erforderlich ist insofern eine objektive Übung, der die allgemeine Überzeugung der rechtlichen Gebotenheit zugrunde liegt. 328 Dieses subjektive Element ist für die Entstehung eines Handelsbrauchs, der Anhaltspunkte für die Auslegung privatrechtlicher Rechtsgeschäfte gibt, nicht erforderlich. Ein solcher setzt lediglich eine nahezu ausnahmslos befolgte tatsächliche Übung über einen längeren Zeitraum hinweg voraus, die auf der freiwilligen Anerkennung durch die beteiligten Verkehrskreise beruht. 329 Diese beiden Rechtsfiguren haben 326 Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 16, Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS 2000, S. 10. 327 Auch die übrigen Fassungen der Charta legen dieses Ergebnis nahe, vgl. etwa "practices" im Gegensatz zu "laws" in der englischen Version, "pratiques" gegenüber "legislations" in der französischen oder "prassi" und "legislazioni" in der italienischen Fassung. 328 Larenz/Wolf, BGB AT, § 3, Rn. 23. 329 Canaris, § 24, Rn. 5.
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gemeinsam, daß einem tatsächlichen Verhalten rechtliche Bedeutung beigemessen wird. Dies gilt aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit allerdings nur dann, wenn das betreffende Verhalten dauerhaft und in gleichbleibender Weise praktiziert worden ist. 330 Die Gepflogenheit gern. Art. 16 EuGRC kann zwar weder mit dem Gewohnheitsrecht noch mit einem Brauch im Sinne einer Verkehrs sitte gleichgesetzt werden, da ersteres gerade schon Rechtsnormqualität erlangt hat und letzterer durch eine tatsächliche Übung privater Rechtssubjekte zustande kommt. Art. 16 EuGRC knüpft dagegen an ein staatliches Verhalten an, durch das der Inhalt subjektiver Rechte bestimmt werden soll, dem aber gerade keine normative Wirkung zukommt. Die Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sind als allgemeine Rechtsgrundsätze jedoch auch im Gemeinschaftsrecht anerkannt und als Bestandteile des Primärrechts bei der Auslegung der Grundrechte zu berücksichtigen. 331 Dementsprechend kann auch im Rahmen von Art. 16 EuGRC ein rein tatsächliches Verhalten nur in eingeschränktem Maße rechtliche Wirkungen entfalten. Könnte jede Verwaltungsentscheidung zur Regelung eines Einzelfalles und jedes Gerichtsurteil den Schutzbereich der unternehmerischen Freiheit in allgemeingültiger Weise neu definieren, so wäre der Schutzumfang dieses Grundrechts für den einzelnen nicht mehr bestimmbar. Eine solche Auslegung des Begriffs der Gepflogenheiten würde zu einer großen Rechtsunsicherheit führen. Um dies zu verhindern, ist in diesem Punkt eine enge Auslegung von Art. 16 EuGRC geboten. Die Annahme einer staatlichen Gepflogenheit im Sinne dieser Vorschrift muß eine gefestigte staatliche Praxis voraussetzen, die über einen gewissen Zeitraum hinweg angewandt worden ist und die für die Betroffenen auch als solche erkennbar ist. Dies kann sowohl eine kontinuierliche Übung bei der Rechtsanwendung durch die Verwaltung als auch eine ständige Rechtsprechung der Obergerichte zu einer bestimmten Rechtsfrage sein. Daß diese Praxis zudem auf der Überzeugung der rechtlichen Gebotenheit beruhen muß, versteht sich aufgrund der Bindung von Rechtsprechung und Verwaltung an Recht und Gesetz gern. Art. 20 Abs. 3 GG von selbst. Eine Schutzbereichsgestaltung durch staatliche Gepflogenheiten ist insofern nur in eingeschränktem Maße möglich. (d) Grenzen der Befugnis zur Schutzbereichsgestaltung Fraglich ist schließlich, welchen Grenzen die Befugnis der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung des Schutzbereichs der unternehmerischen Freiheit unterliegt, d. h. wann die Schwelle zu einem allein nach Art. 52 Abs. 1 330 Gewohnheitsrecht sowie Sitten und Gebräuche mit rechtlicher Wirkung sind mit entsprechenden Voraussetzungen auch in anderen europäischen Rechtsordnungen bekannt; vgl. z. B. die "usi normativi" und die "usi negoziali" im italienischen Recht (dazu: Kindler, § 5, Rn. 15) oder die "coutumes" im französis~~~n Recht (dazu: HübnerlConstantinesco, S. 10). 331 Pemice in: Grabitz/Hilf, Altbd. II, Art. 164 EGV,Rn. 90; PenskilElsner, DÖV 2001, 265 (272).
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EuGRC zu rechtfertigenden Eingriff überschritten ist. Der EuGH definiert in seinen Entscheidungen grundsätzlich weder den Schutzbereich eines Grundrechts noch die Voraussetzungen eines Eingriffs, sondern geht nach der Feststellung, daß ein bestimmtes Grundrecht auch im Gemeinschaftsrecht geschützt ist, unmittelbar zur Prüfung der Rechtfertigungsgründe über. Eine Differenzierung zwischen definierenden Regelungen und Eingriffen wird insofern nicht vorgenommen. Nach gemeinschaftsrechtlichen Maßstäben läßt sich diese Frage folglich nicht beantworten. Aufschlußreich könnte in diesem Zusammenhang - bei aller Vorsicht, die bei einer solchen Parallele geboten ist - der Vergleich zu den normgeprägten Grundrechten des Grundgesetzes sein. Es bietet sich hier Art. 6 Abs. 1 GG an, der Ehe und Familie unter den Schutz der staatlichen Ordnung stellt. In der Literatur und der zu Art. 6 GG ergangenen Rechtsprechung herrscht Einigkeit darüber, daß nicht jede gesetzliche Regelung, die Ehe und Familie betrifft, einen Eingriff in dieses Grundrecht darstellt. Der Gesetzgeber ist im Gegenteil dazu verpflichtet, Ehe und Familie als rechtliche Gebilde, die immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Moralund Gerechtigkeitsvorstellungen sind, zu ordnen und fortzubilden. 332 Typische gestaltende Regelungen in diesem Sinne enthalten das Ehe- und Familienrecht, z. B. der die Ehe als Verantwortungsgemeinschaft kennzeichnende § 1353 Abs. 1 S. 2 BGB, aber auch das Scheidungsrecht. 333 Bei der Erfüllung dieser Aufgabe kommt den zuständigen staatlichen Organen zwar grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zu, sie sind aber auch nicht völlig frei. Aus dem Charakter des Art. 6 GG als wertentscheidende Grundsatznorm wird gefolgert, daß das ausgestaltende Gesetz die wesentlichen, das Grundrecht bestimmenden Strukturprinzipien beachten und sich an dessen Maßstab messen lassen muß?34 Die den Schutzbereich definierenden Regelungen sind insofern stets am verfassungsrechtlichen Ehe- und Familienbegriff zu kontrollieren. Entsprechen sie diesem nicht, liegt keine zulässige schutzbereichsgestaltende Regelung mehr vor, sondern ein Eingriff. 335 In der Rechtsprechung des BVerfG gleicht die Prüfung, ob eine gestaltende Vorschrift mit Art. 6 GG vereinbar ist, der Prüfung, ob ein gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich vorliegt. 336 Untersucht wird, ob sachliche Gründe vorliegen, die eine solche Regelung rechtfertigen. Dabei wird regelmäßig auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zurückgegriffen?3? So werden beispielsweise die zivilrechtlichen Sach- und Formvoraussetzungen für die Eheschließung grundsätzlich als 332 Kingreen, Jura 1997, 401 (403); Badura in: Maunz/Dürig, Art. 6, Rn. 4; Pierothl Schlink, Rn. 647; BVerfGE 36, 146 (161); E 76, 1 (47). 333 Pierothl Schlink, Rn. 648. 334 Badura in: Maunz/Dürig, Art. 6, Rn. 33; Hesse/berger in: Leibholz/Rinck, Art. 6, Rn. 119; BVerfGE 10,59 (66); E 24, 104 (109); E 76, 1 (42 ff.). 335 Kingreen, Jura 1997,401 (403); PierothlSchlink, Rn. 649. 336 PierothlSchlink, Rn. 649. 337 BVerfGE 10,59 (66 ff.); E 36, 146 (161 ff.); E 76, 1 (50 ff.).
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zulässige gestaltende Vorschriften angesehen. Sind diese Regelungen im Einzelfall aber so streng, daß sie zur grundgesetzlich anerkannten Eheschließungsfreiheit in keinem angemessenen Verhältnis mehr stehen, stellen sie Grundrechtseingriffe dar. 338 Generell ist eine Regelung eher als ausgestaltend anzusehen, wenn sie im Zusammenhang mit "sozialen und rechtlichen Spezifika" von Ehe und Familie steht. 339 Definierende Vorschriften sind zwar auch außerhalb des Familienrechts möglich, Regelungen aus anderen Rechtsgebieten, die auf Ehe und Familie freiheitsbeschränkend einwirken, werden jedoch in der Regel eher den Eingriffen zugeordnet. Hierzu wurden beispielsweise Zölibatsklauseln im Beamtenrecht gerechnet340 , aber auch die allgemeine Schulpflicht341 • Anhand dieser Grundgedanken können Regeln für die Abgrenzung zwischen Schutzbereichsgestaltung und Eingriff im Rahmen von Art. 16 EuGRC entwickelt werden. Die Ausübung einer unternehmerischen Tätigkeit wird vor allem durch das private Wirtschaftsrecht, z. B. das Gesellschafts- und Handelsrecht und insbesondere das Wettbewerbs- und Kartellrecht, bestimmt. Regelungen aus diesen Bereichen, die speziell die Modalitäten unternehmerischen Handeins im Wettbewerb zum Gegenstand haben, sind grundsätzlich als schutzbereichsgestaltend anzusehen. Dazu gehören auf Gemeinschaftsebene beispielsweise die Art. 81 ff. EGY. Aus dem Bereich des Sekundärrechts wäre etwa an die 1988 erlassene Markenrechts-Richtlinie oder die Gemeinschaftsmarken-Verordnung von 1993 zu denken. Als typische definierende Regelungen des nationalen Rechts können das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) oder das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) genannt werden. Diese Vorschriften sind im Regelfall als schutzbereichsgestaltende Regelungen mit Art. 16 EuGRC vereinbar. Sie müssen sich allerdings im Konfliktfall auch an diesem Grundrecht messen lassen. Für die Regelung muß ein im Hinblick auf die grundsätzlich garantierte unternehmerische Freiheit sachlich gerechtfertigter Grund vorliegen, und sie muß die Strukturprinzipien einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung mit freiem Wettbewerb beachten. 342 Vorschriften aus anderen Bereichen, die nicht die Ausgestaltung unternehmerischer Handlungsmöglichkeiten oder des Wettbewerbs zum Gegenstand haben, sind dagegen, wenn sie freiheitsbeschränkend auf diese einwirken, als Grundrechtseingriffe zu qualifizieren. Hierzu sind beispielsweise die Regelungen im Rahmen der Agrarmarktordnungen zu zählen, die durch die Festsetzung von 338 Hesse/berger in: Leibholz/Rinck, Art. 6, Rn. 119; BVerfGE 36, 146 (162). Derartige Regelungen sind gerade wegen ihrer Unverhältnismäßigkeit dann auch nicht gerechtfertigt. 339 Kingreen, Jura 1997,401 (403). 340 BAG, NJW 1957, 1688. 341 Pieroth/Schlink, Rn. 648. 342 Ähnliches gilt im Rahmen der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit gern. Art. 2 Abs. 1 GG. So sind z. B. die Kartellverbote des GWB"einerseits als institutioneller Schutz verfassungsrechtlich geboten, als Einschränkungen der Vertragsfreiheit müssen sie sich aber trotzdem an Art. 2 Abs. 1 GG messen lassen; vgl. Di Fabio in: Maunz I Dürig, Art. 2, Rn. 117.
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Quotensystemen und Preisbindungen die Möglichkeiten eigenverantwortlicher unternehmerischer Entscheidungen einschränken. Ziel dieser Regelungen ist nicht die Definition und Ausformung der in der Gemeinschaft zulässigen wirtschaftlichen Betätigungsmöglichkeiten. Diese sollen im Gegenteil gerade zur Erreichung von Zielen, die gegenüber dem freien Wettbewerb als höherrangig angesehen werden, beschränkt werden. Solche Maßnahmen sind nicht mehr als ohne weiteres zulässige schutzbereichsgestaltende Regelungen anzusehen, sondern als Eingriffe in die unternehmerische Freiheit, die gern. Art. 52 Abs. 1 EuGRC gerechtfertigt werden müssen. bb) Teleologische Auslegung Bei der Auslegung der Formulierung, die unternehmerische Freiheit werde "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" anerkannt, müssen schließlich auch die mit Art. 16 EuGRC und der Charta insgesamt verfolgten Ziele berücksichtigt werden. Durch die Katalogisierung der Gemeinschaftsgrundrechte sollte der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene sichtbar und vorhersehbar gemacht werden. Orientiert an der Grundrechtsrechtsprechung des EuGH sollten nicht bloße Absichtserklärungen, sondern echte subjektive Rechte geschaffen werden. Aus dieser Zielsetzung läßt sich schließen, daß das bisherige Schutzniveau, wie es sich aus der Rechtsprechung der EuGH ergibt, jedenfalls nicht unterschritten werden sollte. Einzelne Äußerungsformen der unternehmerischen Freiheit waren nach Ansicht des EuGH jedoch bereits als Bestandteile der Berufsfreiheit grundrechtlich geschützt [s.o. c.l.l.a)cc)(l)]. Die Eröffnung der Möglichkeit willkürlicher Beschränkungen für Gemeinschaft und Mitgliedstaaten wäre gegenüber diesem bereits erreichten Standard als Rückschritt anzusehen. Überdies setzt ein Eingriff in ein Gemeinschaftsgrundrecht nach ständiger Rechtsprechung des EuGH stets eine Rechtsgrundlage voraus. 343 Auch dieses Erfordernis darf nicht durch eine zu weite Interpretation der mitgliedstaatlichen Gestaltungsmöglichkeiten nach Art. 16 EuGRC umgangen werden können. Aus diesen Gründen sollte der Begriff der "Gepflogenheiten" eng ausgelegt und die Schwelle zwischen Schutzbereichsgestaltung und gern. Art. 52 Abs. 1 EuGRC zu rechtfertigendem Eingriff nicht zu hoch angesetzt werden. Die teleologische Auslegung unterstützt insofern die im Rahmen der systematischen Auslegung gefundenen Ergebnisse. ce) Ergebnis Durch die Formulierung, die unternehmerische Freiheit werde "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einze1staatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" anerkannt, wird Gemeinschaft und Mitgliedstaaten die Möglichkeit zur 343 Vgl. z. B. EuGH. Rs. 46/87 und 227/88, 21. 09. 1989. Slg. 1989.2859, Rn. 19; PenskilElsner; DÖV 2001. 265 (272).
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Definition und Ausgestaltung des Schutzbereichs der unternehmerischen Freiheit eingeräumt. Mittel der Schutzbereichsgestaltung sind auf Gemeinschaftsebene Primärrecht, Rechtsverordnung und Richtlinie; als "einzelstaatliche Rechtsvorschriften" sind alle materiellen Gesetze anzusehen. Der Begriff der einzelstaatlichen Gepflogenheiten ist aus Gründen der Rechtssicherheit eng auszulegen. Eine staatliche Praxis, die geeignet ist, den Schutzbereich eines Grundrechts zu definieren und u.U. auch zu verkürzen, muß von den jeweils zuständigen staatlichen Organen aus Verwaltung und Rechtsprechung über einen längeren Zeitraum hinweg in gleichgelagerten Einzelfällen kontinuierlich an den Tag gelegt worden sein. Erforderlich ist eine Handlungsweise, die aus der Sicht der betroffenen Grundrechtsträger eine ständige Übung bzw. ständige Rechtsprechung darstellt. Schutzbereichsgestaltende Maßnahmen i.S. des Art. 16 EuGRC sind Regelungen, die die Definition und Ausgestaltung der in der Gemeinschaft zulässigen unternehmerischen Betätigungsformen und Verhaltensweisen zum Ziel haben. Paradebeispiel ist das gemeinschaftliche und nationale Wettbewerbs- und Kartellrecht, dessen Vorschriften in der Regel als mit der unternehmerischen Freiheit vereinbar anzusehen sind. Auch diese Regelungen müssen sich aber im Einzelfall an der in Art. 16 EuGRC zum Ausdruck gekommenen Grundentscheidung für eine marktwirtschaftliche Wirtschaftsordnung mit freiem Wettbewerb messen lassen. Ergibt sich danach, daß sie zur Ausgestaltung des Schutzbereichs nicht erforderlich oder unangemessen sind, handelt es sich nicht mehr um gestaltende Regelungen, sondern um Eingriffe. Letztlich ermöglicht also auch die Formulierung, die unternehmerische Freiheit werde "nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten" anerkannt, keine so weitreichenden Beschränkungen des Grundrechts, wie es auf den ersten Blick scheint. Es ist daher zu erwarten, daß die praktische Bedeutung dieser Konstruktion - insbesondere im Verhältnis zu Art. 52 Abs. 1 EuGRC - relativ gering sein wird. Die Nachteile, die eine solche Ausgestaltung eines Grundrechts mit sich bringt, sind dagegen beträchtlich. Zum einen dürfte die Abgrenzung, ob eine staatliche Praxis als Gepflogenheit i.S. von Art. 16 EuGRC anzusehen ist, im Einzelfall sehr schwierig durchzuführen sein. Insbesondere für die betroffenen Grundrechtsträger wird anband der Lektüre des Grundrechtstextes nicht annähernd erkennbar sein, in welchem Umfang die unternehmerische Freiheit durch mitgliedstaatliche Maßnahmen eingeschränkt werden kann. Auf diese Weise wird eines der wesentlichen Ziele der Katalogisierung der Grundrechte, die Erhöhung von Transparenz und Vorhersehbarkeit im Bereich des Grundrechtsschutzes, verfehlt. Dies gilt erst recht für das Ziel der Schaffung eines einheitlichen Schutzniveaus in der EU. Schließlich wird auch die Abgrenzung zwischen Schutzbereichsgestaltung und Eingriff in der Praxis Probleme verursachen. Die Grenzen sind dort ohnehin fließend, und es ist nicht zu erwarten, daß sich der EuGH in Zukunft mit dogmatischen. Fragen häufiger und, nach deutschen Maßstäben, weniger oberflächlich auseinandersetzen-wlf