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German Pages 111 [116] Year 1927
ALOIS D E M P F ETHIK D E S MITTELALTERS
ALOIS DEMPF
ETHIK DES MITTELALTERS
1971
WISSENSCHAFTLICHE
BUCHGESELLSCHAFT
DARMSTADT
Sonderausgabe fttr die M i t g l i e d e r der W i s s e n s c h a f t l i c h e n Darmstadt
Buchgesellschaft,
Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe München und Berlin 1931 (aus dem Handbuch der Philosophie. Abteilung I I I , Beitrag C)
Bestellnummer : 5581
© 1971 R. Oldenbourg, München Druck und Einband: Wissenschaftliche Buohgesellschaft, Darmstadt Printed in Germany
INHALTSÜBERSICHT Einführung I . Die Grundlagen der mittelalterlichen E t h i k 1. Die E t h i k des Evangeliums A. Die Ethik der synoptischen Evangelien B . Die E t h i k des Johannesevangeliums C. Die E t h i k der Paulusbriefe 2. Die intellektualietischen Systemversuche 3. Die kirchlichen Systeme der Ethik Augustinus (353—430) 4. Die asketischen u n d mystischen Systeme I I . Das eigentliche Mittelalter 1. Die objektive Lebensordnung des Mittelalters 2. Die symbolisch-kirchlichen Systeme 3. Dte teleologischen Systeme Thomas von Aquin I I I . Die Auflösung des Mittelalters u n d die Anfange der Neuzeit Meister E c k h a r t (1260—1327)
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ie im Rahmen dieses Handbuchs durchzuführende Verbindung histoD rischer und systematischer Darstellung findet wohl kaum noch einen so sehr hierfür geeigneten Gegenstand als die mittelalterliche Ethik.
Ist doch deren Wesen historisch nichts anderes als eine stattliche Reihe immer erneuter Versuche, die christliche Lebensordnung in ein System zu bringen. Dieser architektonische Systemwille, anfänglich kindlich genug zufrieden mit mechanischen Memoriersystemen für den Schulgebrauch, steigt an zu den kühnsten Konstruktionen spekulativer Bewältigung des sittlichen Lebens und seiner metaphysischen Hintergründe. Deutlich zeichnet sich eine klare Entwicklungslinie ab, auf der ein immer größerer Reichtum sittlicher Erfahrung, mystischer und metaphysischer Schau harmonisch sich zusammenfügt zu einem Ganzen, das innerlich ein fast lebendiger Organismus ist, ein untrennbares Ineinander von Seelenform, Weltordnung und Gotteslehre. Aber zuletzt stehen dann noch mindestens drei große Gattungen ethischer Systematik vor uns, die s y m b o l i s c h e S i t t e n l e h r e , die die Seele als mikrokosmisches Abbild des gesamten Universums sieht, dann die t e l e o l o g i s c h e S y s t e m a t i k , die eine lebendige Einheit der natürlichen und übernatürlichen Seelenkräfte und Lebensordnungen unter den aristotelischen Vollendungsbegriff sucht und zuletzt die m e t a p h y s i s c h e E t h i k der deutschen Mystik, besonders Meister Eckharts, die die ethische Selbstvollendung als Gottesgeburt in der Seele mit dem gesamten zeitlosen Weltprozeß verbindet. Wenn nun jedoch die Frage beantwortet werden soll, was ist denn die auferweckJbare Bedeutsamkeit, was ist der e i n h e i t l i c h e S i n n dieser Ethik, was ist das systematisch Wertvolle für unsere Zeit an diesen mannigfaltigen Systemen, dann wird freilich zu einer dem Mittelalter selbst fremden Überschau, zu einer eigenen Sinngebung wenigstens für die ersten Arten gegriffen werden. Einen einheitlichen Sinn für alle drei zu suchen hieße das entscheidende Neue der deutschen Mystik verwischen und bedeutete ein Übersehen der schweren Krisis, aus der es hervorgegangen ist. Infolge dieser Krisis konnte j a auch die mittelalterliche Ethik selber am Ende des 13. Jahrhunderts nicht zu einem einheitlichen Abschlüsse kommen. Die große Epoche des Mittelalters hat sich nicht rund und fertig in sich geschlossen, ihre Lebenselemente waren zu mannigfach, zu zukunftsträchtig, um nicht notwendig von einem ganz bestimmten Augenblick an, von dem kritischen Augenblick der ei»
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Scheidung von Mittelalter und Neuzeit, neue Entwicklungslinien aus sich gebären zu müssen, wobei nur eine Gattung, die symbolische, nach einer schönen spätherbstlichen Nachblüte bis zu Gerson und Nikolaus von Kues hin, zurückblieb, um gerade damit sich als die wesentlich mittelalterliche zu erweisen. Der hohe Reiz der Darstellung dieses überaus steilen Entwicklungsganges von kaum zwei Jahrhunderten wird nun freilich getrübt durch die gefährliche Einsamkeit des Forschers auf diesem Wege. Die innere Systemkraft der christlichen Ethik ist kaum untersucht. Die Moraltheologie hat sich historisch notwendig zu sehr auf das gewaltige System der Aquinaten konzentriert. Der Altmeister der deutschen Scholastikforschung, Clemens Baeumker, dem vor allem die stattliche Reihe der Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters zu danken ist, war auffallend wenig für die Geschichte der Ethik interessiert. Die verschiedenen Darstellungen der allgemeinen Geschichte der Ethik sind wohl teilweise, so besonders die von Theobald Ziegler, weitblickend genug auch auf die Kulturwelt und ihren Einfluß auf die Ethik eingestellt, aber doch niemals scharf genug auf den entscheidenden Kern der mittelalterlichen Ethik, nämlich ihre Systematik. Erst kurz vor Abschluß dieser Arbeit ist der dritte Band der Geschichte der Ethik von Ottmar Dittrich erschienen, der nun gleichfalls ganz entschieden und mit größter Zuverlässigkeit auf die Systeme eingestellt ist, von dem sich diese Darstellung aber durch eine andere, primär sozialethische Beurteilung der Kulturumwelt unterscheidet.
Die Eigenart der mittelalterlichen Ethik tritt besonders deutlich durch den Vergleich mit der altchristlichen zutage, die ohnehin notwendig als die Grundlage der gesamten Entwicklung mit in die Darstellung einzubeziehen ist. Während die mittelalterliche Ethik immer irgendwie systematisch ist, ist die altchristliche Ethik mit nur wenigen, nicht ihr Wesen treffenden Ausnahmen, unsystematisch in ihrer äußeren Form. Aber wie im Mittelalter hinter dem äußerlichen System doch auch immer erst der einheitliche Stil des ethischen Lebens und Denkens gesucht werden muß, d. i. die Einheit der sittlichen Lebensordnung, die sich dann schließlich in drei verschiedene Sittenlehren aufspaltet, so steht auch hinter der noch viel größeren Mannigfaltigkeit der altchristlichen Ethik ein einziges Quellprinzip, eine wirkende Einheitskraft der sittlichen Lebensordnung. Soweit auch die Hauptformen der altchristlichen Ethik auseinander zu liegen scheinen, ein Wesenszug ist ihnen allen gemeinsam, ist ihr substantieller Kern. Man kann diesen Kern bei jedem einzelnen herausschälen, aber auch der Überblick über die Erscheinungsformen zusammen zeigt ihn als ihr wesentliches einheitliches Band. Es ist anfänglich für den Forscher, der von der antiken oder modernen Ethik her an diese Zeit herantritt, gar nicht leicht, auch nur zu sehen, was alles in ihr Ethik ist. Man muß dafür erst den wichtigen Schritt von der wissenschaftlichen systematischen Darstellung der Sittlichkeit zu den unreflektierten naiven Gestaltungen des Sittenlebens tun, um zu sehen, daß Mystik, Gnadenlehre, ethische Metaphysik, Allegorese, Askese und Kirchenrecht, alle insgesamt kernhaft ethische Versuche der Lebensgestaltung sind, die erst in die eigentliche T i e f e n -
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S c h i c h t d e s E t h o s hinabführen. Dort erst wird der Einheitspunkt der ganzen E t h i k dieser Zeit sichtbar. Dieser Einheitspunkt ist dann nicht mehr autonome, allein willentliche Lebensgestaltung, sondern die Gewinnung eines neuen Lebens, eines substanzhaften n e u e n g e i s t i g e n S e i n s , m a g dies nun Kindschaft oder Wiedergeburt, Gerechtigkeit oder Gnadenstand, Gnosis oder Yergottung heißen. Diese substantiellen Urkategorien der altchristlichen E t h i k , alle eins in der wesentlichen Verbindung von willentlicher Lebensgestaltung mit einer gottgegebenen Neuformung des geistigen Seins, also alle eins in der w e s e n t l i c h e n V e r b i n d u n g v o n S i t t l i c h k e i t u n d R e l i g i o n , gestatten allein eine historische Darstellung der Eigenart der altchristlichen E t h i k . Die Möglichkeit und das klare Ergebnis ihrer einheitlichen Darstellung sind d a n n im großen der wissenschaftliche Erweis, d a ß der K e r n der altchristlichen Lebensordnung gefunden ist. Die E t h i k der synoptischen Evangelien, des Johannesevangeliums, der paulinischen Briefe, also petrinisches, johanneisches und paulinisches Christentum, die ethische Metaphysik der griechischen Theologen u n d Mystiker v o n Origenes bis zu Dionysius u n d Johannes Damascenus, j a fast noch ein Jahrtausend weiter, die ethische Metaphysik und Gnadenlehre Augustins, die Mönchsaskese und das Sakramentsrecht der K i r c h e , was für eine bunte Mannigfaltigkeit sittlicher Lebensgestaltung! Sie ist eins in dem Streben nach dem geistig-sittlich-religiösenSein derSeele. Die Mannigfaltigkeit der altchristlichen E t h i k in ihren produktiven Einzelgestaltungen ist nirgends ein allseitiges wissenschaftliches System geworden. Selbst bei Augustinus, der irgendwie v o n allen ihren Elementen bewegt ist und sie innerlich einheitlich verarbeitet hat, so daß man sehr wohl v o n einer Organik seines ethischen Denkens reden kann, liegt doch nirgends ein ausgeführtes System vor. A b e r all diese Elemente sind zusammengeflossen in der komplexen Lebensordnung der altchristlichen Kirche. D a s ist zugleich mehr und weniger als ein System. Die B e w a h r u n g aller ethischen Bewegungen i n der Praxis der Kirche und in ihrem traditionellen Schrifttum ist ein viel größerer Reichtum, als ihn irgendein noch so vollkommenes, aber doch immer individuell eingeengtes S y s t e m bieten könnte. Potentiell, wenn auch latent, ist so immer die ganze Fülle des christlichen Ethos da. A b e r es ist nicht immer in seiner ganzen Fülle lebendig. Es müssen immer erst die Teilstücke aktualisiert werden, es müssen von mehreren Seiten her die wichtigsten Konstituenten immer neu erlebt werden, das Erbe m u ß immer wieder neuer E r w e r b geworden sein, bis sich wieder einmal ein organisches Ganzes zusammenfügt. E r s t müssen wieder Persönlichkeiten da sein, die den ganzen Reichtum des christlichen Ethos in sich verwirklichen, u n d danach erst kann wieder Systematik auftreten. Ist schon die Signatur des mittelalterlichen Denkens überhaupt Bewältigung der Tradition, so gilt dies ganz besonders v o n der E t h i k ,
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in der j a i m m e r N e u s c h ö p f u n g besonders eng a n das Überlieferte geb u n d e n ist. I h r e N o r m e n weit gilt j a i m m e r als ewig gegeben, als i m m e r u n d allgemein v e r p f l i c h t e n d , und n e u e N o r m e n g e b u n g scheint n u r Erfüllung u n d Verbesserung, bessere u n d einfachere E r f a s s u n g des längst Gegebenen sein zu k ö n n e n . J e reicher ausgebildet die sittliche W e l t u n d gesetzliche O r d n u n g der vorliegenden K u l t u r w a r , u m so schwerer setzt sich die selbständige Sittengestaltung der n e u e n K u l t u r d u r c h , wenn a u c h schließlich i m m e r wieder R ä u m genug f ü r die s u b j e k t i v e E i g e n a r t der Aneignung u n d Verwertung der T r a d i t i o n bleibt. Nach d e m H a l b j a h r t a u s e n d der abendländischen, romanisch-germanischen K u l t u r a n f ä n g e u n d ihrer unvermeidlichen geistigen Stagn a t i o n — n e b e n bewegtester E n t w i c k l u n g in der praktischen Lebensgestaltung — ist gerade die unsystematische lebendige Fülle der ethischen T r a d i t i o n in der kirchlichen Lebensordnung f ü r die A r t der mittelalterlichen E t h i k b e s t i m m e n d geworden. Die f l u k t u i e r e n d e Traditionsmasse, in i h r e m U m f a n g d u r c h a u s abhängig v o n der persönlichen Verlebendigung des christlichen E t h o s , sobald m e h r in F r a g e k a m als das ä u ß e r e kanonische Sittengesetz der Bußpraxis u n d der kirchenrechtlichen Bes t i m m u n g e n , h a t ganz entscheidend die h ö h e r e s p i r i t u e l l e E t h i k d e s M i t t e l a l t e r s b e s t i m m t . Sie h a t R a u m gelassen f ü r das Schöpferische bei aller R e z e p t i v i t ä t u n d h a t i m m e r wieder n e u gereizt zur u m f a s s e n d e n S y s t e m a t i k der ganzen Traditionsmasse. D a s gilt f ü r die christliche wie f ü r die a n t i k e E t h i k , die j a schon weitgehend, n a m e n t lich in die lateinische patristische E t h i k eingebaut w a r , aber v o n 1200 a n doch wieder n e u als G a n z e s erworben werden m u ß t e . So ergab sich fast notwendig s c h ö p f e r i s c h e S y s t e m a t i k a l s W e s e n d e r m i t t e l a l t e r l i c h e n E t h i k . Gerade aus i h r e m systematischen Trieb h e r a u s s t a n d sie freilich n i c h t isoliert, sondern war selber wieder eingefügt in das größere S y s t e m , in das T o t a l i t ä t s s y s t e m des kosmischen, geschichtlichen u n d liturgischen Weltbildes, in die S u m m a als G e s a m t h e i t der christlichen Lehre u n d Sitte. Diese S y s t e m a t i k f i n g n a i v genug m i t vollzähligen T u g e n d - u n d Lasterkatalogen an, m i t sieben H a u p t t u g e n d e n u n d D u t z e n d e n v o n U n t e r t u g e n d e n u n d 8 H a u p t l a s t e r n m i t ebenso zahlreichem Gefolge. Aber sobald n a c h der kluniazensischen Reformbewegung u n d ihrer E r n e u e r u n g der liturgischen F r ö m m i g k e i t , dieser einzigartigen V e r m i t t l u n g v o n Schrifterlebnis, große Persönlichkeiten wie Anselm v o n C a n t e r b u r y , B e r n h a r d v o n Clairvaux, H u g o v o n St. Viktor, die innere Fülle des Augustinismus j e v o n anderer Seite her wiedergewonnen h a t t e n , w u r d e die bloß mechanische Rezeptivität zu einer schöpferischen F o r m k r a f t m i t den gegebenen E l e m e n t e n , die geistig mindestens e b e n b ü r t i g n e b e n der u r s p r ü n g l i c h e n altchristlichen S c h ö p f u n g s t e h t . Sieht m a n n u r die historischen Beziehungen u n d Abhängigkeiten, so k o m m t m a n freilich leicht z u d e m üblichen Fehlurteil, es läge n u r R e z e p t i v i t ä t u n d über-
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h a u p t nichts Neues u n d Schöpferisches vor. Ganz anders aber m u ß das Urteil l a u t e n , wenn m a n wirklich den k o n k r e t e n historischen Augenblick e r k e n n t . D a n n offenbart sich ein v ö l l i g n e u e r G e i s t . Seine G r u n d h a l t u n g b e s t e h t darin, d a ß sogleich m i t dem A u f t r e t e n der n e u e n großen Persönlichkeiten die gesamte christliche Lebensordnung als ein wohlgefügter Makrokosmos voll der w u n d e r b a r s t e n Harmonien e m p f u n den wird. Der Z a u b e r s t a b des s y m b o l i s c h e n V e r s t ä n d n i s s e s erschließt diese H a r m o n i e n u n d E n t s p r e c h u n g e n der übersinnlichen Welt u n d der Heilsgeschichte, der Urbilder des Natürlichen, Geistigen u n d des Sittlichen, die es in der Seele nachzubilden gilt, bis auch sie eine creatura nobilis, eine anima hierarchizata, ein v o l l e n d e t e r M i k r o k o s m o s ist. Dieser f ü r unser modernes E m p f i n d e n ü b e r a u s hochgespannte sittliche O p t i m i s m u s m i t seiner naiven Gläubigkeit u n d dem festen Glauben, i m psychologisch-natürlichen Aufstieg v o n der einfacheren zur höchsten mystischen Sittlichkeit, höchste Vollendung sicher erreichen zu k ö n n e n , wenn n u r richtig alle Heils- u n d Hilfsmittel angewendet werden, wird sehr o f t v e r k a n n t . Man vergißt, d a ß er ein durchaus ethischer ist, d u r c h a u s als A u f g a b e f ü r den einzelnen u n d die Gemeinschaft gestellt ist u n d i h m d a r u m das Untersittliche u n d Unsittliche k r a ß n a i v schwarz m a l e n d in den vielen Schriften de contemptu mundi möglichst düster entgegengestellt wird. Der vielberufene mittelalterliche D u a l i s m u s , der das vielzitierte W e r k v o n E i c k e n s : Geschichte u n d S y s t e m der mittelalterlichen W e l t a n s c h a u u n g f ü r den Kenner völlig wertlos m a c h t , ist ü b e r h a u p t kein metaphysischer, j a auch b a l d in der Geschichtsphilosophie kein historiologischer m e h r , wenn m a n n i c h t gerade an die endzeitliche Antichristlehre d e n k t , n a c h d e m schon die altchristliche Welt den bösen W e l t g r u n d u n d das substantiell Böse in der W e l t o r d n u n g ü b e r w u n d e n h a t t e u n d n u r m e h r den freiwillig bösen Geist der Teufel u n d V e r d a m m t e n h a t t e bestehen lassen. E s ist wesentlich f ü r das Verständnis der mittelalterlichen E t h i k , d a ß auch sie z w a r d u r c h a u s wie die altchristliche die religiöse Hilfe zur Heilsgewinnung u n d Selbstvollendung f ü r unerläßlich h ä l t , also f a s t a u s s c h l i e ß l i c h r e l i g i ö s e E t h i k ist u n d auch d u r c h a u s die V e r f ü h r u n g durch W e l t u n d Teufel so e r n s t h a f t als möglich n i m m t , aber dennoch in ihrer ges a m t e n S y s t e m a t i k n u r optimistisch u n d willensautonom mit der f r e i e n sittlich-religiösen Selbstvollendung ohne P r ä d e s t i n a t i o n s a n g s t u n d o h n e naturalistischen Determinismus r e c h n e t . D e r charakteristische Unterschied gegenüber der indeterministischen idealistischen E t h i k der Neuzeit als völlig geist- u n d willensautonomer individualistischer Persönlichkeitsethik, b e s t e h t keineswegs in einem ontologischen Dualismus der sittlichen u n d nicht sittlichen K r ä f t e , sondern in einem noch viel strengeren O b j e k t i v i s m u s d e s s i t t l i c h e n I d e a l s , als es selbst der altchristliche gewesen w a r . D e n n n u n war j a
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außer der Zugehörigkeit zur Heilsgemeinschaft um der Gnadenwirkung willen erforderlich auch noch die Zugehörigkeit zur universitas Christi, zur C h r i s t e - n h e i t a l s K u l t u r v o l k . Nicht nur die transzendente Wirklichkeit makrokosmischer Ordnung, die himmlische Hierarchie, soll in der sittlichen Seele abgebildet werden, auch die Heilsgeschichte muß die christusförmige Seele wiederholen, und endlich muß sie eingegliedert sein in die soziale Gemeinschaft der Christenheit. Deren Organismus kann sich freilich nicht direkt als Ganzes abbilden, es muß also eine organische Aufteilung des sozialen Ganzen erfolgen. Die S t a n d e s e t h i k kommt notwendig zum kosmischen Objektivismus der Lebensordnung hinzu, nicht mehr nur in sporadischen Ansätzen wie in der altchristlichen Zeit, sondern immer systematisch mit dem Blick auf das organische Ganze, in den Sittlichkeitsstufen, deren jeder aber nach der richtigen Theorie sittlicher Vollwert zukommt, und deren sittliches Neben- und Mitein ander wirken die V o l l e n d u n g d e s G e m e i n s c h a f t s l e b e n s bildet. Nur weil in der mittelalterlichen Ethik von Anfang an zwar nicht rein ethische Autonomie individueller Selbstvollendungsmöglichkeit, aber ethisch-religiöse W i l l e n s a u t o n o m i e der Selbstvollendung bei richtiger freier Benutzung der Heilsmittel herrscht, kann ihre Entwicklung so bald schon zu der so stark humanistischen Ethik des Aquinaten führen. Sie ist dabei freilich unterstützt durch die Aufnahme der antiken Ethik, aber wesentlicher ist doch die Grundlage der c h r i s t l i c h e n E i n h e i t s k u l t u r . Nur darum kann dem natürlichen Leben, dem menschlich Wesensgemäßen nach dem Naturgesetz, die übernatürliche Weihe und Kraft auch für die innerweltlichen Aufgaben und die natürlichen Menschenzwecke verliehen werden. Schon in der nächsten Generation aber dringt bei Meister Eckhart die rein ethische Geist- und Willensautonomie der i n d i v i d u e l l e n P e r s ö n l i c h k e i t durch, die nur mehr durch die mystische Terminologie verschleiert ist. Man darf freilich nicht den Begriff Autonomie auf den aprioristisch-idealistischen Autonomismus Kants, also auf Selbstgesetzgebung und volle Selbstmächtigkeit einengen, um zu sehen, daß der richtige Sinn sittlicher Autonomie als sittliche Freiheit der Selbstvollendung ohne prädestinatianischen oder naturalistischen Determinismus durchaus auch in der theonomen Ethik wie auch in jeder anderen Ethik geltender, nicht idealistisch gesetzter, sittlicher Werte erfüllt sein kann. Autonomie ist dann in den beiden Fällen der gottgesetzten und der ideell geltenden Werte freie willentliche Verwirklichung dieser transzendenten Normen. Auch innerhalb der ethischen Normen selbst ist wiederum eine Auswahl des zunächst zu Verwirklichenden möglich. Der Kosmos der sittlichen Normen konkretisiert sich zum h i s t o r i s c h - s u b j e k t i v e n L e b e n s i d e a l . Das heißt anthropologisch gesprochen, das zeitbedingte Lebensideal macht einen bestimmten Ausschnitt der Normen und Wertewelt sichtbar.
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I n der Abfolge solcher Lebensideale ist der eigentliche E n t w i c k l u n g s g a n g der mittelalterlichen Ethik zu sehen, wie ja auch in der altchristlichen Ethik ganz deutlich das gnostische, das kirchliche, mönchische und mystische Lebensideal in natürlicher und zeitgeschichtlicher Abhängigkeit aufeinander folgen. Bei keiner dieser Entwicklungen wird nun freilich unmittelbar ein bestimmter Zielpunkt sichtbar, wie dies etwa die volle Innerweltlichkeit des Lebensideals oder der rein ethische Subjektivismus wäre. Dafür reicht die Entwicklungsspanne des Mittelalters nicht aus. Darum steht auch nicht am Ende ein einziges Ethos als das allein herrschende. Gleichwohl ist die Entwicklung durchaus „logisch" und verständlich. Auf das symbolisch-geistige Lebensideal der mikrokosmischen Abbildung des Makrokosmos, das natürlich keineswegs auf die Mönchs- und Mystikerkreise beschränkt ist, sondern auch die weltlichen Stände durch Kaiserkrönung und Ritterweihe, durch die Ritterorden und das Parzivalideal, und auch noch die dienenden Stände in seine Lebensordnung mit einbezieht, folgt das ausgewogen natürlich-übernatürliche, humanistisch-theonome Lebensideal des Aquinaten. An Stelle der ausschließlich religiös-sittlichen liturgischen Dienstauffassung des ganzen Lebens werden nun die natürlichen Anlagen des Menschenwesens und seine innerweltlichen Zwecke normgebend und in ein eigenartiges Gleichgewicht mit dem übernatürlichen Menschenziel gesetzt. I n der Mystik Meister Eckharts ist dann, freilich versteckt unter theologischer Terminologie, das rein natürliche Lebensideal das vorherrschende, wenn auch der radikale sittliche Subjektivismus und die ethische Geist- und Willensautonomie als unio mystica verstanden wird und durch die Forderung sozialethischer Praxis gemildert erscheint. Dieser Entwicklungstatbestand verrät als sein Wesen eine s t e i g e n d e I n t e l l e k t u a l i s i e r u n g . Ihr entsprechen genau die Definitionen und Beziehungsverhältnisse von Geist und Wille, bis dann im Nominalismus ein fideistischer und voluntaristischer Rückschlag erfolgt. Damit ist aber das ethische Gesamtsystem des Mittelalters gesprengt. Damit ist zugleich auch ihr äußeres Zeichen, die Summa als wesentliche Geistesform, zu Ende. Mit der Befreiung der Einzelkräfte ethischen Wollens bricht eine in der ganzen Geistesgeschichte unerhörte Fülle s c h ö p f e r i s c h e r P e r s ö n l i c h k e i t e n hervor, die in kühnstem Ansturm von einer Generation alle wichtigen geistigen Positionen der Neuzeit stürmt. Das Jahrhundert von 1250—1350 ist wohl eine Zeit der Krisis, in der sich die eigentlich mittelalterliche Lebensordnung auflöst, aber wahrlich nichts weniger als eine Verfallszeit, als die sie gewöhnlich charakterisiert wird. Dies Jahrhundert ist geistesgeschichtlich viel wichtiger als die Renaissance, denn hier liegen wirklich die wesentlichen Ansatzpunkte des neuzeitlichen Denkens und Wollens. Die frühen Renaissancemenschen sind nur Sonderfälle in einem Kreise von Denkern, die viel zahlreichere Probleme entdeckt haben und zu bewältigen suchten,
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als dann wirklich in der Renaissance durchgearbeitet werden konnten. Soll die Ethik des Mittelalters in ihrer systematischen Bedeutsamkeit dargestellt werden, so gehören die Denker des 14. und frühen 15. Jahrhunderts nicht mehr so recht in den Rahmen der Darstellung. Aber da die Systematik des Mittelalters wohl der historischen Wirksamkeit nach in dem System des Aquinaten gipfelt, nicht aber für die historischwissenschaftliche Betrachtung, für die mit der Auflösung und in der Auflösung selbst eine unerhörte Fülle des Neuen beginnt, so müssen die vielfältigen Verzweigungen dieser Deltamündung doch mit in die Darstellung einbezogen werden. Ihre schöpferische und geistesgeschichtliehe Bedeutsamkeit rechtfertigt dies völlig, denn hier liegen die Anfänge der m o d e r n e n P e r s ö n l i c h k e i t . Der H a u p t t o n der Darstellung muß freilich auf die großen Systeme gelegt werden. Ihre Arten und Voraussetzungen sind so mannigfach, daß eine kurze T e r m i n o l o g i e der Darstellung gegeben werden muß. Die verschiedenen Sphären der Systematik sind dabei voneinander abzugrenzen. Als E t h i k ist dabei die wissenschaftliche Behandlung des ganzen, und zwar, was gleich zu rechtfertigen sein wird, des komplexen sittlichen Lebens zu bezeichnen. Der Begriff M o r a l t h e o l o g i e ist hier f ü r die theologische Behandlung der christlichen Sittenlehre nach ihrem Offenbarungscharakter zu reservieren. S i t t e n l e h r e ist das jeweilige, historische konkrete System des sittlichen Lebens, der konkreten Normfindung und Normenauswahl und der verschiedenen Arten von Sitte. S i t t l i c h e L e b e n s o r d n u n g ist endlich die naive unreflektierte Struktur des konkreten sittlichen Gesamtlebens, dessen innere Gesetzlichkeit organisches Wachstum u n d ein geistiger Organismus noch vor allen Systemversuchen ist. Der E t h i k ist aber noch ein I d e a l s y s t e m aller möglichen sittlichen Ordnungen u n d Werte zugeordnet, das in ungeschichtlicher Abstraktheit n u r ein ideeller Maßstab f ü r die Beurteilung der konkreten Sittenlehre sein kann. Die konkrete Sittenlehre ist immer reproduktiver Systembau auf Grund der personalistischen produktiven Schöpf u n g oder Nachschöpfung der organischen sittlichen Lebensordnung. Die Sittenlehre k e n n t bloße A n o r d n u n g s s y s t e m e , die die Fülle der sittlichen Elemente meist in zahlenmäßiger Vollständigkeit schulgerecht anzuordnen suchen, und E n t w i c k l u n g s s y s t e m e , die ein einheitliches Prinzip, einen organischen Zusammenhang des sittlichen Lebens zu zeigen versuchen. Natürlich kommen auch Mischformen vor, die nur an ihrer Stelle erörtert werden sollen. Weitaus die reichsten Strukturmöglichkeilen besitzt aber die Organik der sittlichen Lebensordnung selbst. Die Schwierigkeit, sie zu finden und zu formulieren, da sie ja immer unausgesprochen ist, wird noch dadurch erhöht, d a ß die mannigfaltigen Sittenlehren meist unbewußt auf der primären Struktur der Lebensordnung a u f b a u e n und fast nie alle ihre Strukturmöglichkeiten erschöpfen. Der gesamte Voraussetzungskomplex d e r zeitbedingten sittlichen Weltanschauung ist insbesondere in der mittelalterlichen E t h i k überaus kompliziert, da er die kosmologischen, anthropologischen, soziologischen, historiologischen und soteriologischen Ordnungsbereiche in unlöslicher Verflechtung enthält. Die E i n l a g e r u n g d e s S i t t l i c h e n i n d a s g e s a m t e W e l t b i l d ist von höchster Bedeutung f ü r die S t r u k t u r der Lebensordnung selbst und f ü r die Bestimmung des ganzen Weltbildes. Endlich ist der Ausgangspunkt f ü r den A u f b a u der sittlichen Lebensordnung von entscheidender Wichtigkeit. E r ist die Basis des Sittichen Weltsystems und k a n n z. B . religiös oder ethisch sein. I m m e r aber ist die sittliche Lebensordnung ein in sich geschlossenes Ganzes in ihrer naiven Lebensentfaltung, während die Sittenlehre niemals diese Totalität völlig erfaßt u n d auch das ethische Idealsystem niemals als abgeschlossen gelten kann.
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Igt nun aber die Beachtung dieser mannigfachen Schichten des sittlichen Lebens noch E t h i k ? Wenn E t h i k wirklich nur die Lehre von der freiwillentlichen, selbstherrlichen, unabhängigen und individuellen Lebensgestaltung m i t dem Ziel des Glücks oder der Würde oder der Gesinnung wäre, nur Trieb-, Pflicht- oder Gesinnungsethik der freien Einzelpersönlichkeit, dann müßte m a n etwa mit T r o e l t s c h nur den r a d i k a l e n e t h i s c h e n I n d i v i d u a l i s m u s des Evangeliums aus dem Gesamtkomplex der christlichen Heilslehre als die ethische Komponente herausschälen. Eine dermaßen eingeengte Geschichte der christlichen E t h i k wäre etwa als Vorgeschichte der neuzeitlichen Individualethik durchaus möglich und bedeutsam und ist j a teilweise auch in manchen Geschichten der Ethik, wenn auch selten eng genug an den historischen Gegenstand heranreichend, geleistet. Ebenso ist eine andere Komponente der christlichen Lebensordnung, der r a d i k a l e U n i v e r s a l i s m u s des Evangeliums als Sozialethik schon einheitlich dargestellt, wenn freilich auch hier die Isolierung einer Komponente oft recht beträchtlich vom eigentlichen Kern und der wesenhaften Einheit der christlichen E t h i k abgelenkt h a t . Wenn auch hier viel zu sehr die sozialethischen Einzelfragen nur mechanisch nebeneinander stehen bleiben, so ist doch damit das Thema E t h i k schon weit über die bloße Individualethik der autonomen Persönlichkeit hinaus erweitert. Man wird, ohne auf die Terminologie „ E t h i k " verzichten zu müssen, noch einen weiteren Schritt t u n und die naiven Gestaltungskräfte der Sittlichkeit, die Sitte im weitesten Sinne einschließlich der religiösen Normen und Motive, in die Geschichte der E t h i k aufnehmen müssen. Es ist dies einfach eine Forderung der historischen Darstellung, u m den mannigfaltigen Schichten der Systematik gerecht werden zu können. Entscheidend ist aber der letzte Schritt, wie ihn n u n etwa schon Nikolai H a r t m a n n s E t h i k methodisch getan h a t , der Schritt zur M e t a p h y s i k d e r E t h i k , der der Einordnung der Sittenlehre in das gesamte Weltbild entspricht. D a m i t ist zunächst nicht etwa die platonische Metaphysik der E t h i k gemeint m i t ihrer Idee des Guten, an der teilnehmend alles Gute gut ist, wenn freilich auch dieser Gedanke in der mittelalterlichen Ethik, insbesondere bei Meister E c k h a r t eine wichtig Rolle spielt. Gemeint ist die Metaphysik der F r e i h e i t als rtoumenon, die Lehre von der freiwirkenden K r a f t des Willens oder des innersten Kerns der Persönlichkeit überh a u p t , die der Grundgedanke der praktischen Metaphysik K a n t s ist. Wenn man etwa die aristotelische Lehre v o n der dem habitus als einem Gewöhnungs-, Übungsund Einstellungszustand der Seele, die platonische „Gerechtigkeit" als ein irgendwie reales Gleichgewicht der Tugenden und Seelenkräfte, die antike Lehre vom Bios als einer dauernden Lebensform, die verschiedenen Lehren v o m bleibenden sittlichen Charakter, von einer irgendwie seinsmäßig festgewordenen, verfestigten Gesinnung, von der „schönen Seele" und vom sittlichen Idealismus insgesamt u n t e r dem Gesichtsp u n k t einer bleibenden geformten Wirklichkeit oder Wirkeinheit der Seele oder in der Seele betrachtet, so müßten all diese Lehren auch irgendwie eine M e t a p h y s i k d e s s i t t l i c h e n S e i n s enthalten, das tiefer liegt als die bloße assoziationspsychologische Einübung, Einstellung und Willensrichtung. Es versteht sich, d a ß die Assoziationspsychologie, die j a die Seele selber schon in ein bloßes Spiel von Eindrücken und Reaktionen aufgelöst hat, f ü r dies sittliche Sein kein Verständnis haben konnte. Allein sie ist neu, und in der hier zu behandelnden Zeit h a t es immer nur eine Lehre der substantiellen Seele gegeben und konnte d a r u m auch das Charakterproblem in seine substantielle Tiefe verfolgt werden. Die Metaphysik des sittlichen Seins, die die Grundfragen der Willensfreiheit und ihrer Wirkmöglichkeit und Wirkungsart, j a die begriffliche Fassung des Willens selber erörtert, wird n u n wieder als das abschließende H a u p t t h e m a der E t h i k erkannt. So t r i t t denn wieder neben die Norm-, Motiv-, Sanktionund Zielfragen der E t h i k , neben die D y n a m i k der Lebensgestaltung die Frage nach der Statik des sittlichen Lebens. Neben die inteUektualistische Trieb- und Weisheitsethik der Antike und die voluntaristische neuzeitliche Gesinnungsethik t r i t t wieder die Lehre vom sittlichen Sein, in dem es keine Sonderung von Geist u n d Wille gibt, sondern das ganze Wesen des sittlichen Menschen in seiner Lebenseinheit erfaßt werden soll.
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Von diesem S t a n d p u n k t aus b r a u c h t m a n kein B e d e n k e n zu t r a g e n , die m i t t l e r e Periode der abendländischen E t h i k in d e n a n d e r t h a l b J a h r t a u s e n d e n v o n Christus bis zur R e f o r m a t i o n m i t d e m ganz vorwiegend b e t o n t e n Suchen n a c h d e m sittlichen Lebensprinzip in seiner komplexen u n d k o n k r e t e n Fülle der Geschichte d e r E t h i k zuzuzählen. Vielleicht w ä r e a u c h eine historische Darstellung dieser Periode möglich, die n u r die eine K o m p o n e n t e , die rein ethische, ohne die v o n der ü b e r n a t ü r lichen Seinsgestaltung ausgehende religiöse aussonderte. Aber die system a t i s c h e D a r s t e l l u n g i m Sinne der B e d e u t s a m k e i t f ü r die Gegenwart wäre g e r a d e diesem Gegenstand gegenüber zur völligen Sprengung der historischen S y s t e m a t i k u n d geschichtlichen Lebensordnung gezwungen, sie m ü ß t e die S t r u k t u r der mittelalterlichen E t h i k völlig zerreißen u n d doch z u m Verständnis des geschichtlich Vorliegenden i m m e r wieder auf die religiöse K o m p o n e n t e zurückgreifen. Unsere Darstellung wird also völlig u n b e k ü m m e r t die religiöse K o m p o n e n t e miteinbeziehen. Gerade die rein ethische B e d e u t s a m k e i t der mittelalterlichen S y s t e m a t i k kann n u r in ihrer geschichtlichen K o n k r e t h e i t i m größeren Z u s a m m e n h a n g des G e s a m t s y s t e m s aufgezeigt werden. W a s sie der Gegenwartset hik zu geben h a t , ist eben diese E i n o r d n u n g des E t h i s c h e n in die religiöse u n d soziale Gemeinschaft, die A u f h e l l u n g der g e s a m t e n P r o b l e m a t i k v o n Religion u n d E t h i k u n d die E i n f ü g u n g des E t h i s c h e n in die gesamte geistige W e l t . W e n n es das H a u p t p r o b l e m der m o d e r n e n E t h i k ist, aus der individualistischen, intellektualistischen oder v o l u n t a r i s t i s c h e n Isolierung wieder e i n z u m ü n d e n in eine Lehre v o n d e n sittlichen K ö r p e r s c h a f t e n u n d ihrer geistigen W e l t , d a n n k a n n ihr gerade die mittelalterliche E t h i k vorbildlich sein. L i t e r a t u r : O t t m a r D i t t r i c h , Geschichte der Ethik, II. Bd.: Vom Hellenismus bis zum Ausgang des Altertums, III. Bd.: Mittelalter bis zur Kirchenreformation. Für die allgemeine Systematik vgl. M. G r a b m a n n , Die Geschichte der scholastischen Methode, I., II., Freiburg 1911. Ferner die verschiedenen Dogmengeschichten, A d o l f H a r n a c k , Dogmengeschichte, 5., Tübingen 1914, und I. S c h w a n e , Dogmengeschichte II. und II. Bd., Freiburg. Für die Sozialethik E r n s t T r o e l t s c h , Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, und O t t o S c h i l l i n g , Die christlichen Soziallehren, 1925.
I. DIE GRUNDLAGEN DER MITTELALTERLICHEN ETHIK. 1. D I E E T H I K D E S
EVANGELIUMS.
A) D I E E T H I K D E R SYNOPTISCHEN EVANGELIEN.
Die edle E i n f a l t u n d stille Größe der E t h i k Christi ist so weit v o n einem ethischen S y s t e m entfernt, wie das schlichte Leben selbst v o n der P r o b l e m a t i k jeder Philosophie, wie Poesie von wissenschaftlicher P r o s a . Neues L e b e n ist i h r Sinn. E s h a t gezündet, stärker, reiner u n d d a u e r n d e r
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als jede andere neue Religion, aber es h a t sich nicht entzündet an der immer unzulänglichen Übersetzung eines Lebensideals in abstrakte Normen u n d Ziele, Gebote u n d Verbote. Eine solche Übersetzung ist niemals rein geglückt u n d wird auch niemals völlig glücken. Die Wirksamkeit dieses neuen Lebens war viel besser gesichert durch die persönliche Nachfolge der persönlichen Verkörperung dieses Lebens durch seinen Lehrer u n d Meister selbst. Die Geschichte der christlichen Sittlichkeit m ü ß t e d a r u m , wenn sie ganz konkret sein wollte, eine Geschichte des christlichen Heiligkeitsideals u n d seiner zeitgebundenen Abwandlungen sein. Allein es ist doch auch eine Geschichte der christlichen E t h i k möglich, weil in der langen Reihe der Umsetzungs- u n d Übersetzungsversuche des evangelischen Lebens in christliche Sittenlehre lebendiger Geist wirksam war und auch in ihnen das L e b e n z w e i e r g r o ß e r Z e i t a l t e r , des altchristlichen und mittelalterlichen u m Gestaltung u n d Form r a n g u n d hinter der Form und den Formeln spürbar bleibt. Die Aufgabe der rationalen Bewältigung des christlichen Lebensideals war vor allem deswegen so schwierig, weil sie sich in ihrer Umwelt nicht schlicht und naiv mit den eigenen Begriffen und Prägungen entwickeln konnte, weil schon mannigfache Versuche rationaler Lebenslehre und sittlicher Reflexion vorlagen. Man mußte in dieser Umwelt fast unvermeidlich zu den Formen der spätantiken Ethik greifen, wollte man die christliche Lebenslehre in gemeinverständliche Begriffe fassen. Insbesondere mußte man nach dem einzigen persönlichen Lebensideal des Hellenismus greifen, dem des Weisen, des Philosophen. Das war aber ein wesentlich intellektualistisches Ideal, das des Gnostikers, der die Lebensfrage durch Geist zu lösen verstand, in intellektueller Autonomie sein Leben gestaltete. Das christliche Lebensideal dagegen war unreflektierte persönliche Gottförmigkeit, deiformitas, ja von Anfang an jüngerhafte Nachfolge des Meisters selbst, also Christusförmigkeit. So zeigen denn die ersten großen Sittenlehren der christlichen Geistesgeschichte, besonders die der Alexandriner, ein Nebeneinander und Übereinander von gnostischen und christlichen Lebensidealen, da die beiden Ideale sich als nicht innerlich vereinbar erwiesen. Diese ersten halb griechischen Sittenlehren wurden nun zwar ziemlich rasch in erbitterten Kämpfen, die um die christliche Gesamtlehre und letzte Weltanschauungsgrundlage gingen, überwunden, aber die Geschichte der christlichen Ethik darf doch nicht mit den nun folgenden reinen Ausprägungen des christlichen Ethos beginnen, sondern muß den Versuch wagen, schon die ursprüngliche christliche Sittlichkeit annähernd in einer Sittenlehre zu fassen.
Die E t h i k Jesu nach den Synoptikern, die hier der Kürze wegen als Einheit genommen werden, ist vor allem p e r s o n a l i s t i s c h e E t h i k . Das Gute ist allein in Gott lebendig, die Norm ist Gottes Wille, das Vorbild des sittlichen Lebens 1 ist Gottes Vollkommenheit, er ist das persönliche sittliche Prinzip der Vaterliebe, u n d Gottes- und Menschenliebe m u ß d a r u m das Prinzip auch eines innerlich freien Menschenlebens sein. Nur einer ist der Lehrer u n d Meister, n u r einer ist gut, gerecht u n d vollkommen, n u r nach der absoluten Vollkommenheit des persönlichen u n d geistigen Gottes h a t sich das Vollkommenheitsstreben seiner wahren Kinder, seiner geistigen Söhne zu richten. Der ungeheure Vorteil der konkret persönlichen Fassung des Lebensideals durch den sittlich geistigen
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Gottesbegriff ist klar. E r ist der besten wissenschaftlichen Symbolsprache, d e n Begriffen der E u d ä m o n i e , der W ü r d e u n d P f l i c h t weit überlegen, d a er sie alle implizite u n d doch anschaulich e n t h ä l t . E r bringt a b e r sofort a u c h eine E i g e n a r t der sittlichen S p a n n u n g zwischen Ideal u n d Verwirklichung m i t sich, weil das Ideal zur schlechthin absoluten H ö h e gesteigert i s t , die der Mensch v o n sich aus n i c h t erreichen k a n n . N i e m a n d ist gut als G o t t allein. Die e t h i s c h e S p a n n u n g wird sofort zur absoluten r e l i g i ö s e n gesteigert. So liegt schon in der ersten Grundlage der christlichen Sittlichkeit in ihrem Personalismus die bleibende S p a n n u n g zwischen Selbstvollendung u n d Gotteshilfe b e g r ü n d e t . Die G n a d e n l e h r e m u ß irgendwie f ü r die gesamte christliche E t h i k konstitutionell sein. N u r bei G o t t ist alles möglich, n u r er k a n n neues höheres Leben schaffen. Der Personalismus m a c h t aber zugleich die sittliche A u f g a b e der N a c h a h m u n g u n d Nachfolge zur p r i m ä r e n Sphäre der evangelischen Sittlichkeit. A k t i v e N a c h a h m u n g s e t h i k s t e h t v o r a n . D a s ist ihr „ r a d i k a l e r I n d i v i d u a l i s m u s " (Troeltsch), ihr unverlierbarer C h a r a k t e r als Persönlichkeitsethik. Obwohl d a s absolute Ideal unerreichbar ist, bleibt die sittliche H ö c h s t f o r d e r u n g gottförmiger Vollkommenheit b e s t e h e n . „ W e r d e t vollkommen, wie euer V a t e r i m H i m m e l ! " D a s H i m melreich in u n s b r a u c h t Gewalt. Die Vollkommenheit wird n i c h t m i t einem Male erreicht. Sie ist ein innerer W a c h s t u m s v o r g a n g . So f ü h r t a u c h v o n der sittlichen H ö c h s t f o r d e r u n g der N a c h a h m u n g s e t h i k ein n o t wendiger Ü b e r g a n g zur zweiten Sphäre der evangelischen Sittlichkeit, d e r G e d a n k e des organischen W a c h s t u m s . Die evangelische Sittlichkeit i s t aber auch u n t e r diesem zweiten G e s i c h t s p u n k t p r i m ä r ein n e u e r Sinn, U m b e s i n n u n g , fieidvoia, ein neuer Geist, der E i n g a n g in ein neues L e b e n . Sie ist Lebenslehre eines n e u e n substantiellen Seins, Seinsethik weit ü b e r das n u r assoziationspsychologisch gedachte Übungs- u n d Erziehungsgebilde einer Gesinnung, eines H a b i t u s , eines Charakters u n d g u t e n Willens h i n a u s . D a s ewige L e b e n s t e h t wohl a u c h in Bez i e h u n g zu d e m religiösen metaphysischen Begriff der Unsterblichkeit, a b e r es h a t p r i m ä r einen rein ethischen Sinn. E s ist sittlich-geistiges L e b e n . D a s Gegenstück ist der geistige Tod schon innerhalb des n a t ü r lichen Lebens. N i c h t die Sünde ist eine S u b s t a n z , wohl aber ist der innerliche S ü n d e n z u s t a n d eine substantielle Seinsbestimmtheit. I n der n a t ü r lichen vorsittlichen Welt herrscht eine a l l g e m e i n e S ü n d h a f t i g k e i t — d. i. die evangelische Grundlage der s p ä t e r e n Erbsündelehre —, d e n n d a s Lebensprinzip des neuen Lebens ist noch nicht in W i r k s a m k e i t . U n t e r der L e b e n s o r d n u n g des F ü r s t e n dieser Welt herrscht nicht die E r f ü l l u n g des Gotteswillens, sondern die Selbstsucht. Das Herz ist auf die äußeren G ü t e r , den M a m m o n gerichtet, auf sinnliche Begierden u n d V e r f ü h r u n g , auf Ärgernisse, denen als seelenmörderisch die ärgste S t r a f e g e d r o h t wird. E s gibt widersittliche böse Geister und Menschen als K i n d e r
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des Teufels, des Bösen schlechthin. Die Knechtschaft dieser allgemeinen Sündhaftigkeit ist aber nicht unentrinnbar, denn allgemein ist auch das Sündenbewußtsein schon vor der Offenbarung der neuen Lehensordnung im natürlichen sittlichen Bewußtsein. Wenn auch nicht ausdrücklich vom Gewissen gesprochen wird, so ist es doch als Prüfstein der neuen Lehre statt der Wunder vorausgesetzt. „Beurteilt aus euch selbst, was recht ist" (Lk. X I I , 57). Auch die Entstehung und das Wachstum des neuen Lebens ist subjektiv und objektiv, sittlich und religiös, willensautonom und theonom gesehen. Die subjektiv-ethische Aufgabe besteht in der Gewinnung eines neuen Geistes, eines neuen Herzens. Das Herz ist das Lebensprinzip dieser Seinsethik. Unbedingte I n n e r l i c h k e i t ist darum das Kernstück der Bergpredigt. Aus dem innersten Lebensgrunde selbst muß die Sittlichkeit hervorgehen. Dann erst ist sie wahr und echt. Das ist höchste Steigerung der Ethik zum vollen Liebesidealismus der Reinheit, Wahrhaftigkeit und Güte, der das alttestamentliche Gesetz erst vervollkommnet und auf die neue Stufe der Innerlichkeit hebt. Nicht nur der Mord ist verboten, sondern auch das Zürnen und Schelten. Man muß immer wieder versöhnungsbereit sein bis zur höchsten Liebe, der Feindesliebe. Nicht bloß der Ehebruch ist verboten, man muß auch frei sein von jeder Lüsternheit und jeder Habgier. Nicht bloß der falsche Schwur ist verboten, man muß im Innersten wahrhaftig sein. Nur unbedingte Vollkommenheit gleich dem himmlischen Vater ist die neue Lebensordnung, die besser sein muß als die der Pharisäer und die der natürlichen Gutwilligkeit auf Gegenseitigkeit (Mt. V, 3). Auch die religiösen Übungen, Almosengeben, Beten und Fasten müssen mit dem Geist der Innerlichkeit erfüllt werden und aus freiem Herzen kommen (Mt. VI, 1 —18). Dieses Selbstvervollkommnungsstreben erwirkt uns im Gottvertrauen die g ö t t l i c h e H i l f e . Wer das Ideal der Armut im Geiste, der Sanftmut und Friedfertigkeit, der Reinheit und Gerechtigkeit erfüllt, ist selig und besitzt das Himmelreich (Mt. V, 3—10), das in der Erfüllung des Gotteswillens auf Erden wie im Himmel besteht (Mt. VI, 10). Diesen Kindern Gottes wird durch die Vatergüte alles hinzugegeben, sie werden gerichtet nach ihrer eigenen Aufrichtigkeit, sie empfangen, wenn sie bitten, und gehen ins Himmelreich ein, wenn sie den Willen des Vaters tun (Mt. VII). Dieser s i t t l i c h e S e i n s z u s t a n d wird nun in schlichten Bildern erläutert. Nur ein guter Baum bringt gute Früchte, der gute Mensch bringt aus dem Schatze eines Herzens Gutes hervor; wenn das Herz übervoll ist, dann redet der Mund; wo der Schatz ist, ist das Herz. Die Innerlichkeit ist wie ein Haus auf festem Grund (Lk. VI), wie ein inneres Licht (Mt. VI, 22), Unreines kommt nicht ins Herz, sondern geht aus dem Herzen hervor (Mk. VII, 18), wie auch aus dem Innern, dem Herzen die bösen Gedanken, Sünden und Laster kommen (Mt. VII, 21—25). Gut und Böse sind also nicht nur äußerliche Handlungen, alles sittliche Han-
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dein ist v e r b u n d e n m i t der d a u e r n d e n Willens- u n d Gesinnungsrichtung, u n d zwar n i c h t als bloßem Ü b u n g s z u s t a n d oder H a b i t u s , sondern als einem sittlichen Seinszustand. D a s große Symbol der evangelischen E t h i k f ü r den sittlichen Seinsgedanken ist der Begriff des H i m m e l r e i c h s . E r i s t das entscheidend N e u e der V e r k ü n d i g u n g Christi. Die politische, messianische Reichsh o f f n u n g , die n u r auf eine äußere w u n d e r b a r e Gotteshilfe f ü r ein auserwähltes Volk u n d seine H e r r s c h a f t u n d Verherrlichung b a u t , wird u m g e w a n d e l t in die sittliche Autonomie des i m Vollkommenheitsstreben u n d in der G o t t e s k i n d s c h a f t schon gegenwärtigen Himmelreiches. „ D a s Reich Gottes ist in e u c h " ( L k . X V I I , 21), es k o m m t nicht äußerlich, es ist freie geistige E r f ü l l u n g des Gotteswillens. Der neue sittliche Äon i s t schon d a u n d k a n n v o n j e d e m einzelnen als sittlicher Z u s t a n d jederzeit erreicht w e r d e n . Dieser Begriff des Himmelreichs t r ä g t eine doppelte S p a n n u n g i n sich, die weltumgestaltende Gewalt des sittlich geistigen Messianismus ist so groß, d a ß sie nicht Menschenwerk sein k a n n . Der Verkündiger u n d H e r r des neuen Äon h a n d e l t in Gottes Wille u n d Sendung, ist der w a h r e wesenhafte Sohn des V a t e r g o t t e s u n d h a t die Gewalt, S ü n d e n zu vergeben und d a m i t neues, höheres Leben in den Seelen zu schaffen. D a s Gotteshewußtsein Christi ist ein notwendiges Glied auch seiner sittlichen Verkündigung. Diese Verkündigung wird sicher die ganze Welt erobern, d a r u m i s t das Himmelreich auch ein s o z i a l e t h i s c h e r B e g r i f f . E s ist wesenhaft Gemeinschaft aller individuell V o l l k o m m e n e n . Das ist der dialektisch notwendige Systemübergang z u m d r i t t e n Pfeiler der evangelischen Sittenlehre, zum sozialethischen Seinszustand ü b e r alle Volksgrenzen hinweg, wie j a auch schon die u n b e d i n g t e Liebesforderung unterschiedslos f ü r die ganze Menschheit gilt u n d der ganzen Menschheit v e r k ü n d e t werden m u ß . Die sittlich religiöse Spannung des Himmelreichsbegriffs wirkt sich zunächst in der individuellen Sphäre aus. Zusammen mit dem ethischen Himmelreichsbegriff, wird in großartiger Steigerung das Gottessohnbewußtsein und die Messiasoffenbarung Jesu entwickelt. Die Bewährung der Gotteskraft durch Wundertaten in der äußeren Welt soll nur ein Beweis sein für die unvergleichlich höhere Kraft der Sündenvergebung, die das neue Leben in der unvergleichlich wichtigeren Welt des sittlichen Lebens schafft (Mt. I X , 6). Seit der Bußpredigt Johannes des Täufers wirkt sich schon die Kraft und Gewalt des Gottesreiches aus (Mt. XI, XII). Von da an spricht Jesus seine Kenntnis des Gotteswillens als höchste Gesetzesnorm aus, ist darum der einzige Sohn Gottes und der Herr der neuen sittlichen Offenbarung (Mt. X I , 27), der Herr über das geistig zu verstehende Kultgesetz (der Herr des Sabbats, Mt. XII, 8). Er bringt die Wahrheit und die Krisis, das Gericht den Völkern, die seiner Lehre harren (Mt. X I I , 18), er treibt «V nvtificni ov die Dämonen aus, und so ist durch den Gottesgeist und die Auswirkung des Geistes im Menschen das Himmelreich bereits da (Mt. XII, 28). Und nun beginnt auch sein äußeres sozialethisches Wirken und Wachstum gleich einem Sauerteig, der die ganze Menschheit durchsäuert, und einem Senfbaum, der aus dem kleinsten Samenkorn zum weltüberschattenden Baume wird (Mt. XIII), bis es endlich der ganzen Welt verkündigt ist (Mt. XXIV, 14). Nun offenbart sich die Gewalt der Kirchenbegründung. Christus überträgt die Schlüsselgewalt des Himmelreichs (Mt.
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X V I , 18, 19). Die Verklärung auf dem Berge erweist ihn als den einzigen Sohn Gottes. Alle Mitglieder des Himmelreiches aber sind freie Söhne Gottes (Mt. X I I I , 34, und X V I I , 26). I s t also zunächst das Himmelreich eine aktiv ethische Aufgabe der Selbstvervollkommnung, Nachahmung des vollkommenen Vaters in sittlicher G o t t f ö r m i g k e i t (Mt. V I I , 7—10), so wird es n u n auch gewissermaßen indirekt durch den Glauben an den Gottessohn und treue Nachfolgeschaft persönlich konkret, d. h. C h r i s t u s f ö r m i g k e i t . Der Glaube als innigster Anschluß an den Verkünder des sittlichen Himmelreichs wirkt schon das neue Leben, weil er die innerliche Bereitschaft zur Vollkommenheit voraussetzt, weil alles Irdische um seinetwillen verlassen werden m u ß (Mt. X I X , 29), weil m i t i h m die große Umwertung der Lebenshaltung zum Dienst und Selbstopfer f ü r alle vollzogen werden muß. Zugleich aber ist dieser Glaube ein sittlich bewußter durch die Erkenntnis vom ethischen Sinn der Botschaft und der Willen zur Erfüllung der Gebote. Auch diese Vereinfachung der persönlichen E t h i k zur Christusförmigkeit h a t sich in der Geschichte der christlichen E t h i k höchst folgenreich entwickelt. I n der s o z i a l e t h i s c h e n O r d n u n g ist das Himmelreich wiederum zunächst subjektiv und aktiv, völlige Umkehrung der n a t u r h a f t e n Selbstsucht und irdischen Lebensordnung. Nur die unbedingte Nächstenliebe macht seiner teilhaftig, unbedingte Bereitschaft zum Verzeihen, Hingabe des Vermögens, zinslose Aushilfe f ü r den Bedürftigen, unbedingte Reinheit in den Familienbeziehungen. Das Liebesideal steigert sich i m sozialen Bereich bis zum höchsten Heroismus, der Hingabe des Lebens zum Dienst f ü r den Nächsten (Mt. X X , 28). Eine neue Gruppe von Gleichnissen erläutert diese unbedingte Liebesgesinnung, so das vom Schuldennachlaß nach der Barmherzigkeit des höchsten Herrn, das von der neidlosen Freude an der Teilnahme aller am Himmelreich, ähnlich das vom verlorenen Sohn und vom verlorenen Schaf. I m Himmelreich herrscht eine wesentliche Umwertung der n a t u r h a f t e n Ordnung: wer von euch als groß gelten will, sei euer Diener, und wer von euch der Erste sein will, der sei euer Diener (Mt. X X , 26), anders als bei den Heiden, deren Herrscher tyrannisch sind und doch ciegyhai heißen (Lk. X X I I , 25). Die Rangordnung i m Himmelreich ist an die Dienstbereitschaft geknüpft, steht aber völlig im Urteil Gottes. Wohl aber gilt hier die Lohnverheißung ewigen Lebens als sittlicher Würdigkeit, die hundertfach höher ist als aller irdischer Gewinn (Mt. X I X , 29). Das Himmelreich ist aber auch ein s o z i a l e r S e i n s z u s t a n d einer Gemeinschaft der Guten und Auserwählten (Mt. X X , 16). Wohl setzt es die heroische sittliche Anstrengung seiner Mitglieder voraus, aber die seinsmäßige Lebenskraft des neuen und übernatürlichen Lebens in i h m m u ß von Gott übertragen sein (Mt. X X , 23). Der weltgeschichtliche Anfang eines neuen Äon steht nicht in Menschenmacht, aber nachdem mit dem Gottessohn der neue Äon begonnen h a t , versichert er seinen Nachfolgern, daß bei der nahyyeveaia, dem Beginn der verklärten Gemeinschaftswiedergeburt, wenn der Menschensohn sich auf seinen herrlichen messianischen Thron setzt, sie gleichfalls auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf S t ä m m e Israels richten werden (Mt. X I X , 28). Seine eigene Gewalt der Sündenvergebung und Schaffung neuen Lebens wird ihnen als « p / o n f i des Himmelreiches übertragen, das so zu einer irdischen sakramentalen Lebensordnung, zur ecclesia wird (Mt. XVI, 9, und X V I I I , 17). I m weltgeschichtlichen Verlauf aber wird es vom jüdischen Volke genommen und auf ein Volk übertragen werden, das seine Früchte bringt (Mt. X X I , 43). Dieser Begriff der Übertragung des Königtums, der translatio regni, h a t dann im Mittelalter eine außerordentlich bedeutsame Rolle gespielt.
Dies wundervoll ausgewogene Gleichgewicht der evangelischen Lebensordnung ist niemals wieder in der Geschichte der christlichen Ethik mit solcher Vollkommenheit erreicht worden. Auch rein historisch betrachtet, leuchtet hier die Erhabenheit der reinsten sittlichen VerHandb. d. Phil. I I I .
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k ü n d i g u n g in unvergänglichem Glänze auf. Aber n u r stückweise ist dieser s t r e n g geschlossene Organismus zur Grundlage der christlichen E t h i k geworden. Vor allem m u ß j e d e Darstellung ihrer S y s t e m a t i k scheitern, die den Dualismus zwischen den subjektiven u n d o b j e k t i v e n E l e m e n t e n dieser Sittenlehre m i t d e n Begriffen u n d Symbolen der a n t i k e n ethischen R e f l e x i o n zu bewältigen s u c h t u n d nicht gerade diese innere D y n a m i k d e r ursprünglichen evangelischen L e b e n s o r d n u n g z u m A u s g a n g s p u n k t f ü r die i n n e r e n S p a n n u n g e n aller folgenden Systemversuche n i m m t . D a s ist selten genug geschehen. Diese Darstellung sieht hierin ihr eigentliches T h e m a , dessen D u r c h f ü h r u n g freilich mangels hinreichender Vorarbeiten f ü r m a n c h e Z e i t a b s c h n i t t e n u r t a s t e n d u n d unzulänglich bleiben wird. B) DIE ETHIK DES JOHANNESEVANGELIUMS.
Das J o h a n n e s e v a n g e l i u m ist nicht m e h r n u r schlichter Bericht v o m L e b e n u n d der Lehre J e s u , es erzählt i m größeren A b s t a n d als die S y n o p t i k e r v o n i h m , e t w a v o m J a h r e 90 aus, j a es h a t ein P r o g r a m m seiner E r z ä h l u n g u n d d a m i t unwillkürlich selber ein gewisses S y s t e m der christlichen Lehre. Der G e h a l t des n e u e n christlichen Lebens ist schon r e f l e k t i e r t u n d so wird es zu einer L e b e n s l e h r e i m ausgesprochenen Sinn. D e r I n h a l t des n e u e n Lebens wird geschaut in der Fülle der P e r sönlichkeit Christi u n d i h r e r metaphysischen B e d e u t s a m k e i t zwischen G o t t u n d den Menschen. Christus ist selber das Leben. Dies höhere, sittlich religiöse Sein zerlegt sich n u n aber in die ganze Fülle der v e r t a u s c h b a r e n substantiellen B e s t i m m u n g e n , W a h r h e i t , Liebe, Gnade (xdpic), L i c h t , Herrlichkeit (d6£a), Geist u n d W o r t . D a s W o r t , der Logos als substantielles Lebensprinzip u n d persönliche geistige L e b e n s k r a f t wird z u m bezeichnenden S y m b o l dieses h ö h e r e n Lebens, das vor u n d ü b e r aller Zeit u n d Vergänglichkeit in G o t t selber g r ü n d e t , wie in G o t t a u c h d a s 7tvei)(ia als heiliger persönlicher Geist lebt. Die i n n e r e Fülle des Gotteslebens ist k u n d geworden durch seine menschliche V e r k ö r p e r u n g i n Christus. Die sittlichen B e s t i m m u n g e n des vollendeten persönlichen Lebens: äktf&eia, W a h r h a f t i g k e i t , T r e u e u n d höchste sittliche W a h r h e i t der Lehre, Liebe, %&qk;, G ü t e u n d G n a d e , Licht als E r l e u c h t u n g d e r finsteren, sittlich unwissenden Welt, 6