Die Entdeckung des Mittelalters: Geschichte einer Illusion 3805349769, 9783805349765

Der Historiker Peter Raedts bietet hier einen fesselnden Überblick über das sich immer wieder wandelnde Bild vom Mittela

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German Pages 431 [428] Year 2016

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Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Der Tod der Kathedralen
Zuschauen oder mitspielen
Ist das Mittelalter anders?
Kapitel 1 Erste Erkundung
Petrarca am Abgrund
Protestanten und Katholiken
Patriotisches Gefühl
Kaiser und Papst
Römer, Gallier und Franken
Kirche, König und Parlament
Heute und Gestern
Kapitel 2 Entdeckung
Eine deutsche Kathedrale
Fortschritt der Zivilisation
Die Unvergleichbarkeit der Kulturen
Verlangen nach einer besseren Zeit
Von der Antike zum Mittelalter
Der Vater der Christenheit
Verantwortung und Gegenseitigkeit
Ritter oder Bürger
Ivanhoe
Der reine Quell
Kapitel 3 Echtheit
Gotische Sitten
Der gute Wilde
Barden und Troubadoure
Ossian und die Stimme des Nordens
Der schottische und der englische Norden
Echtheit und Eigenart
Das Nibelungenlied als Urquell
Balladen und Märchen
Einheit und Trennung
Kapitel 4 Eigenart
Das Wartburgfest
Nation und Staat
England: Patriotismus oder Nationalismus
David Hume: der Zufall in der Geschichte
Edmund Burke: das Erbe der Vorväter
Henry Hallam: die alte englische Freiheit
Deutschland: Reich und Nation
Politik und Wissenschaft
Friedrich von Raumer: Einheit in Vielfalt
Heinrich Luden: Deutschland und seine Könige
Frankreich: die Revolution als Bruch
Frankreich: die Revolution als Klimax
Augustin Thierry: König und Volk
Jules Michelet: von der Ethnie zum Volk
Die Nation als neue Gemeinschaft
Kapitel 5 Gemeinschaft
Das verlorene Paradies
Katholizismus: das Mittelalter als Blaupause
Katholizismus: Liturgie und Einheit
Katholizismus: Solidarität und Zusammenarbeit
Sozialismus: Würde und Ausbeutung
Sozialismus: das neue Christentum
Sozialismus: Gilden und Handwerkszünfte
Nationalismus: demokratischer Teutonismus
Nationalismus: die nordische Rasse
Nationalismus: Ausgrenzung
Nationalismus: Expansion
Eine neue Gemeinschaft
Schlussbetrachtung
Der Jesuit und der Humanist
Das Mittelalter als Mutterschoß
Das Ende des Mittelalters
Möglichkeiten einer neuen Periodisierung
Möglichkeiten für eine neue Geschichte
Anmerkungen
Quellen und Literatur
Sachregister
Über den Inhalt
Über den Autor
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Die Entdeckung des Mittelalters: Geschichte einer Illusion
 3805349769, 9783805349765

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Peter Raedts

Die Entdeckung des Mittelalters Geschichte einer Illusion Aus dem Niederländischen von Klaus Jöken und Stefanie Schäfer

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Für die Originalausgabe: © 2011 Peter Raedts en Uitgeverij Wereldbibliotheek bv Published by agreement with Antas Bindermann Listau GbR, Berlin.

Für die gekürzte deutschsprachige Ausgabe: Der Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischen Stiftung für Literatur gefördert. Übersetzung: Klaus Jöken und Stefanie Schäfer Lektorat: Claudia Weingartner Satz: primustype Hurler GmbH, Notzingen Einbandabbildung: akg-images Einbandgestaltung: Harald Braun, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-4976-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-5042-6 eBook (epub): 978-3-8053-5043-3

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tod der Kathedralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zuschauen oder mitspielen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist das Mittelalter anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1 Erste Erkundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petrarca am Abgrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Protestanten und Katholiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patriotisches Gefühl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kaiser und Papst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Römer, Gallier und Franken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kirche, König und Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heute und Gestern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 37 44 52 54 61 71 82

Kapitel 2 Entdeckung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine deutsche Kathedrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fortschritt der Zivilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Unvergleichbarkeit der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlangen nach einer besseren Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Antike zum Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Vater der Christenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verantwortung und Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ritter oder Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ivanhoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der reine Quell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 89 93 99 108 112 118 126 131 138 143

Kapitel 3 Echtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gotische Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der gute Wilde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barden und Troubadoure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ossian und die Stimme des Nordens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der schottische und der englische Norden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Echtheit und Eigenart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Nibelungenlied als Urquell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Balladen und Märchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einheit und Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 147 153 156 160 165 171 176 182 187

5

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4 Eigenart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Wartburgfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nation und Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . England: Patriotismus oder Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . David Hume: der Zufall in der Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Edmund Burke: das Erbe der Vorväter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Henry Hallam: die alte englische Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschland: Reich und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politik und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich von Raumer: Einheit in Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinrich Luden: Deutschland und seine Könige. . . . . . . . . . . . . . . . . Frankreich: die Revolution als Bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frankreich: die Revolution als Klimax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustin Thierry: König und Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jules Michelet: von der Ethnie zum Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Nation als neue Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195 195 197 202 209 215 218 222 226 229 233 239 244 248 254 260

Kapitel 5 Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das verlorene Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katholizismus: das Mittelalter als Blaupause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katholizismus: Liturgie und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katholizismus: Solidarität und Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialismus: Würde und Ausbeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialismus: das neue Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sozialismus: Gilden und Handwerkszünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalismus: demokratischer Teutonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalismus: die nordische Rasse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalismus: Ausgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nationalismus: Expansion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine neue Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

267 267 276 282 288 294 298 302 308 313 318 327 338

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Jesuit und der Humanist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Mittelalter als Mutterschoß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten einer neuen Periodisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten für eine neue Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

344 344 349 354 360 363

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

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Vorwort

D

er Ursprung dieses Buches liegt in Oxford. Hier begann ich im Herbst 1978 mit meinem Promotionsstudium. Für Oxford hatte ich mich nicht etwa deshalb entschieden, weil diese Universität als Centre of excellence hoch oben in den internationalen Ranglisten stand, falls es solche Listen damals überhaupt schon gab. Der Grund für diese Wahl bestand nicht einmal darin, dass der große Richard Southern mein Doktorvater werden wollte, auch wenn er sich später als der inspirierendste Lehrer erweisen sollte, den sich ein Student nur wünschen kann. Der wahre Grund war, dass ich an einer Universität studieren wollte, die auf eine jahrhundertealte Tradition verweisen konnte und die, was mir noch wichtiger erschien, diese Tradition sorgfältig kultivierte. Ich wähnte mich in einer Welt, die ich in einem etwas hochtrabenden Brief an die „Heimatfront“ folgendermaßen beschrieb: „Am meisten berührt mich, dass Oxford kein Museum ist, in dem Kultur sicher verwahrt und unschädlich in Glasvitrinen verstaut wird, um nur noch angegafft zu werden, sondern dass Tradition hier von Generation zu Generation weitergegeben und dabei zugleich erneuert wird. [...] So wird man sich bewusst, dass man mitten im großen Strom der Geschichte treibt, in dem wir als Zwerge auf den Schultern von Riesen stehen.“ Ich war mächtig stolz darauf, nun selbst in diese lange Tradition aufgenommen zu werden, indem ich in derselben Stadt und denselben Gebäuden studieren durfte, in denen Johannes Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Edward Gibbon und John Henry Newman studiert und gelehrt haben. Sie hatten die Fackel entzündet, und nun war es an mir, das Feuer lebendig zu halten und an die nächste Generation weiterzureichen. Schließlich kam der Moment, an dem ich mit einem Freund durch den Kreuzgang des 1458 gestifteten Magdalen College schlenderte. Wir plauderten über dies und das. Plötzlich erwähnte er beiläufig, dass 7

Vorwort

kein einziger Stein dieses Gebäudes aus dem Mittelalter stamme, sondern frühestens irgendwann aus dem 19. Jahrhundert. Es dauerte eine Weile bis mir bewusst wurde, was er da eigentlich sagte. Wenn seine Behauptung stimmte – und dass dies der Fall war, fand ich rasch bestätigt –, dann war meine ganze Vorstellung von Oxford als einem der wenigen auserwählten Orte, an dem ich in den lebendigen Strom der Geschichte eintauchen konnte, weil hier eine ununterbrochene Kontinuität vom Mittelalter bis in die Gegenwart bestand, ein absolutes Hirngespinst. Was ich für mittelalterlich gehalten hatte, war nicht mehr als ein Versuch des 19. Jahrhunderts, den Faden der mittelalterlichen Kultur wieder aufzugreifen und diese der modernen Gesellschaft als Spiegel vorzuhalten. Das Mittelalter Oxfords war lediglich eine Attrappe, wobei während meines fünfjährigen Aufenthalts dort alle mitspielten und so taten, als ob sie alles für echt hielten. Zugleich war ihnen irgendwie bewusst, dass hier nur ein Theaterstück aufgeführt wurde, vielleicht auf einem etwas höheren Niveau als auf einem Mittelaltermarkt oder einer nachgestellten Schlacht, doch im Wesentlichen nicht viel anders. Alles war nur Erfindung. Heute ist das allgemein bekannt, doch damals beschäftigten sich die Historiker noch wenig mit den Fragen der Repräsentation, Invention und Konstruktion. Die Bombe platzte erst 1983, dem Jahr, in dem ich meine Dissertation abschloss. Damals erschien nämlich Invention of tradition von Eric Hobsbawm, eine brilliante Essaysammlung. Alle Gefühle und Gedanken, die ich nach der achtlosen Bemerkung meines Freundes seit drei Jahren zwar in mir brodeln fühlte, jedoch nicht recht zu fassen bekam, wurden darin klar beschrieben und geordnet. Vor allem die Beiträge über die englische Königskrönung und die Schottenröcke habe ich bestimmt zehnmal gelesen. Es war eine ernüchternde, zugleich aber auch erhellende Lektüre, die auf die Dauer zu neuen und reiferen Einsichten in meinem Umgang mit der Vergangenheit führte. Die neuen Erkenntnisse führten zu neuen Fragen, in erster Linie natürlich der, woher eigentlich dieses Bedürfnis stammt, das Mittelalter wieder zum Leben zu erwecken und darauf so viel Geld und Energie zu verschwenden. Außerdem fragte ich mich, wie das bewerkstel8

Vorwort

ligt wurde. Und warum war es so wichtig zu tun, als hätte es seit dem Mittelalter nie einen Bruch in der Entwicklung gegeben? Schließlich war da noch die Frage, warum die Konstruktion des Mittelalters immer umstritten blieb und anscheinend nicht dem Zahn der Zeit widerstehen konnte, wohingegen das Bild der Antike, obwohl es schon aus der Renaissance datiert, alle Angriffe viel besser überstanden hat und immer noch als unentbehrlich für das Verständnis der Gegenwart gilt. Dies sind die Fragen, die dieses Buch behandelt, und auf die ich eine Antwort geben will. Dies geschieht in fünf Schritten nach einer Einleitung, in der die aktuellen Formen des Interesses am Mittelalter besprochen werden. In einer ersten Erkundung versuche ich aufzuzeigen, warum in der Epoche von Renaissance und Humanismus trotz aller Verklärung der klassischen Antike das Interesse an dem Zeitraum zwischen Rom und Renaissance gewachsen ist, obwohl die Humanisten ihn so verachteten. Dies änderte sich Ende des 17. Jahrhunderts, als ein heftiger Streit über die Autorität der antiken Überlieferung aufkam, der zu der wichtigen Entdeckung führte, dass Europa außer der römischen und mediterranen noch eine andere Vergangenheit besaß, nämlich die des Nordens und des Mittelalters. Die Hauptrolle in dieser Entdeckungsphase spielt in meinem Buch Johann Gottfried Herder, meiner Ansicht nach der Vater des Mediävalismus und des damit eng zusammenhängenden Multikulturalismus. Die darauffolgenden drei Kapitel beschreiben, was die Generationen vom Sturm und Drang bis zum Ende des 19. Jahrhunderts so alles dem Mittelalter zugeschrieben haben. Sie fanden darin jene Ursprünglichkeit und Authentizität, nach der sie sich sehnten. Im Mittelalter erkannten sie den Ursprung der Nation, zu der sie gehören wollten, und sie entdeckten dort ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Eintracht, an dem es der modernen aufgeklärten Gesellschaft in ihren Augen so sehr fehlte. Dies fasse ich zusammen in den Begriffen Echtheit, Eigenart und Gemeinschaft. In der Schlussbetrachtung gehe ich darauf ein, warum dieses Geschichtsverständnis vom Mittelalter nicht mehr funktioniert, und ob eine neue Geschichte möglich ist.

9

Vorwort

Nach dem Kapitel über „Eigenart“, über die Entstehung eines nationalen Bewusstseins, unterbreche ich meinen Bericht, weil es in Europa ein Land gab, das seine Eigenart nicht durch den Rückgriff auf seine mittelalterliche Vergangenheit herausbildete, nämlich die Niederlande. Natürlich war hier jedem bewusst, dass es eine mittelalterliche Vergangenheit gab, und dass sie in mancher Hinsicht sogar bewundernswert war. Schließlich war dies die Zeit von Jan van Schaffelaar und Graf Florens V., „dem Gott der armen Leute“, beide Paradebeispiele vaterländischer Tugend. Dennoch schuf die mittelalterliche Vergangenheit in den Niederlanden keine Einheit, sondern vergrößerte nur die Zwietracht zwischen den Protestanten, von denen sich viele eine zweite Reformation wünschten, und den Katholiken, die sich als alleinige Hüter der mittelalterlichen Vergangenheit betrachteten. Der Aufstand gegen die Spanier und das 17. „Goldene“ Jahrhundert schienen weitaus besser geeignet, um alle Niederländer auf einen Nenner zu bringen, vor allem durch den Hinweis auf die religiöse Toleranz dieser Jahrhunderte. Dieses Buch handelt von Invention und Konstruktion sowie dem historischen Kontext, in dem dies stattfand. Dennoch habe ich es nicht „Die Erfindung des Mittelalters“ genannt, sondern „Die Entdeckung des Mittelalters“. Im Laufe meiner Forschungsarbeit beeindruckte mich besonders die stets wachsende Begeisterung, mit der Dichter und Schriftsteller, Historiker und Philosophen über das Mittelalter erzählten. Sie sprachen davon, als hätten sie ihre eigene mühselige Welt mit ihren erdrückenden Konventionen überwunden und nach einer langen Reise ein neues jungfräuliches Land entdeckt, in dem alles noch unberührt scheint, in dem alles noch möglich ist, in dem ein Mensch endlich zur Ruhe kommen und er selbst sein kann. Invention und Konstruktion, das klingt nach einer Werbeagentur, in der Spindoktoren raffinierte Pläne schmieden, um ihr Publikum hinters Licht zu führen. Doch so darf man sich das nicht vorstellen. Wir wissen heute, dass die großartige Vision von einer besseren Welt in der fernen Vergangenheit nur eine Illusion war, neue Gebäude, zwar aus alten Steinen errichtet, aber dennoch funkelnagelneu. Die Menschen glaubten, eine Alternative entdeckt zu haben für eine Welt, in 10

Vorwort

der sie sich nicht länger heimisch fühlten und die sie hinter sich lassen wollten. Sie hatten nicht das Gefühl, etwas Neues zu schaffen, sondern etwas zu finden. Genau das möchte ich ernst nehmen, auch wenn mir klar ist, dass sie damals von Dingen schrieben, die größtenteils nur in ihrer Phantasie existierten und oft die Grenze zur Mythologie und Utopie überschritten. Die wichtigste thematische Einschränkung dieses Buches besteht darin, dass die Entwicklung der bildenden Kunst und der Architektur ausgeklammert wird. Man hat schon so viel geschrieben über Gothic Revival, die Nazarener und die Prärafaeliten, über die Arts-and-CraftsBewegung sowie andere Bemühungen, eine neue, vom Mittelalter geprägte Ästhetik zu schaffen, dass Laien ohne Vorbildung in Kunstgeschichte in dieser Fülle sofort den Überblick verlieren. Wenigstens kommen die Ideen, die dieser Wiederbelebung der mittelalterlichen Kunst zugrunde lagen, in diesem Buch zur Sprache, obwohl ich nur in einigen wenigen Fällen, wie zum Beispiel bei William Morris, näher auf die enge Verbindung mit der bildenden Kunst eingehe. Außerdem behandelt dieses Buch nur einen geographisch begrenzten Bereich. Zunächst beschränkt es sich auf Europa. Obwohl die Mittelalterforschung in den Vereinigten Staaten blüht und gedeiht, hat diese Nation nun einmal keine mittelalterliche Vergangenheit. Dadurch erhält der Rückblick auf das Mittelalter dort eine völlig andere gesellschaftliche und politische Funktion als in Europa. Er stand dort praktisch immer im Zeichen des Andersseins, obwohl sich Charles Homer Haskins und seine Schüler eifrig bemüht haben zu beweisen, dass das Mittelalter auch für das moderne Amerika unmittelbar relevant war. Weil ich alle Quellen in ihrer Originalsprache studieren wollte und vieles nicht übersetzt ist, hat sich meine Auswahl innerhalb Europas notgedrungen auf den niederländischen, englischen, deutschen und französischen Sprachraum beschränkt, weil ich nur diese vier Sprachen beherrsche. Die intellektuelle Entwicklung in diesen Sprachgebieten erachte ich für ausreichend repräsentativ, um fundierte Aussagen über die Entwicklung des Mittelalterbildes in ganz Europa treffen zu können.

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Vorwort

Eine dritte Beschränkung besteht darin, dass dieses Buch nur auf einer Auswahl von Autoren beruht und keine vollständige Übersicht darüber bietet, was in den letzten 500 Jahren über das Mittelalter geschrieben wurde. Immerhin habe ich versucht, Autoren auszuwählen, die entweder eine größere Strömung repräsentieren oder besonders einflussreich waren. Um nur drei Beispiele zu nennen: Heinrich Luden ist heute vergessen, doch Anfang des 19. Jahrhunderts war er der erste, der eine Geschichte Deutschlands schrieb, in der das Volk die Hauptrolle spielt. Sein Buch hat später vielen – und weitaus besseren – Historikern als Vorbild gedient, vor allem in Osteuropa. Der Philosoph David Hume verfasste eine Geschichte Englands, die so umstritten war, dass man die englische Geschichtsschreibung bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als Reaktion auf sein Werk verstehen muss. Jules Michelet beeinflusst die französischen Historiker bis auf den heutigen Tag und seine Arbeit ist noch immer grundlegend für das Selbstverständnis der französischen Republik. Ich hätte noch viele andere Autoren besprechen können, glaube jedoch, anhand der getroffenen Auswahl verlässliche Aussagen über Europas Umgang mit seiner mittelalterlichen Vergangenheit treffen zu können. Eine letzte Beschränkung besteht darin, dass die Gegner des Mittelalters – und das waren viele – kaum zu Worte kommen. Ich behandle Goethe, der nach einem kurzen Anflug der Bewunderung für den Architekten des Straßburger Münsters einer klassizistischen Weltanschauung fest verhaftet blieb. Es wäre auch interessant gewesen zu ergründen, warum Heinrich Heine die Entdeckung des Mittelalters als ein katholisches Komplott betrachtet hat. Auf solche Fragen gehe ich nicht ein, obwohl ich mir bewusst bin, dass die Bewunderung für das Mittelalter keineswegs universell war. Dies zeigt schon allein die Tatsache, dass selbst nach allen Bildungsreformen des 19. Jahrhunderts und entgegen Herders Wunsch die antike Literatur weiterhin in ganz Europa die Grundlage für die Ausbildung der Elite blieb, während die Jugend lediglich im Geschichtsunterricht und in den modernen Sprachen ein wenig über das Mittelalter erfuhr. Im Laufe der Jahre habe ich von den Ratschlägen vieler profitiert. Als ich in der Flut an Literatur fast unterzugehen drohte und Niek van 12

Vorwort

Sas mein Leid klagte, erwiderte sie einfach, ich solle die ursprünglichen Quellen lesen, dagegen bei der Auswahl der Sekundärliteratur äußerst selektiv zu Werke gehen. Das habe ich beherzigt und war überrascht, wie geistreich und lesbar Autoren wie Gibbon, Hume, Voltaire, die Gebrüder Schlegel, Michelet, Thierry und Burckhardt sind, wenn man sie nur zur Hand nimmt. Die Lektüre all dieser Autoren war lehrreich und erfrischend, obwohl mir persönlich die ironische, distanzierte Prosa Voltaires, Humes und Gibbons besser gefällt als der involvierende Stil von Romantikern wie Thierry und Michelet, die mir einen Hauch zu schwülstig sind. Ich hoffe, etwas davon kommt in meinem Buch zum Ausdruck. Viel habe ich von meinem ehemaligen Doktoranden Ronald van Kesteren gelernt. Er hat in seiner wunderbaren Dissertation eine Reihe origineller Ideen formuliert, von denen ich hier dankbar Gebrauch mache. Großen Dank schulde ich auch Ed Jonker, Bert Roest, Hendrik Spiering, Ineke van´t Spijker und Jaap Verheul, die mein Manuskript kritisch durchgesehen und mich vor Ausrutschern und Unstimmigkeiten bewahrt haben. Ben de Bock und Jaap van Zaane haben Auszüge des Manuskripts gelesen, um zu prüfen, ob es auch für Nichthistoriker verständlich ist. Teile dieses Buches wurden erstmals auf Kongressen und Versammlungen in Den Haag, Löwen, Leeds, Utrecht, Amsterdam, Nimwegen, Budapest, Oxford, Gent und Groningen vorgestellt. Die Diskussionen nach den dortigen Vorträgen waren für mich sehr aufschlussreich. Natürlich bin ich allein für den letztendlichen Text verantwortlich. Dank eines Freistellungsstipendiums der Niederländischen Organisation für Wissenschaftliche Forschung (NWO) und eines von der Radboud Universität in Nimwegen finanzierten Sabbaticals konnte ich zwei Jahre lang ungestört an einem Buch arbeiten, das viel umfangreicher geworden ist als ursprünglich geplant. Vor einiger Zeit fragte mich Koos Hageraats von der Uitgeverij Wereldbibliotheek, ob ich meine Antrittsrede Toerisme in de tijd (Tourismus im Wandel der Zeiten, 1995) nicht zu einer kurzen Geschichte über das Mittelalter in der Moderne ausarbeiten wolle. Begeistert sagte ich zu, doch nachdem ich einmal angefangen hatte, mich in die vielen Geschichten über das Mittel13

Vorwort

alter zu vertiefen, schlug mich das Thema so in seinen Bann, dass das Resultat den Rahmen eines kurzen Überblicks sprengte und auch weitaus mehr Zeit in Anspruch nahm. Längere Passagen dieses Vortrags wurden übrigens in der Einleitung und der Schlussbetrachtung verarbeitet. Ich danke Koos für seine unendliche Geduld und die vielen hilfreichen Ratschläge. Sjoerd de Jong danke ich für seine wertvollen redaktionellen Anmerkungen zum fertigen Text. Vor kurzem schrieb der englische Historiker Keith Thomas in einem besorgten Artikel über die Zukunft der Universitäten, dass sich geisteswissenschaftliche Forscher von ihren naturwissenschaftlichen Kollegen dadurch unterscheiden, dass ihre Arbeit weniger darauf abzielt, neue Erkenntnisse zu erhalten, als ein besseres Verständnis zu ermöglichen.1 Ich weiß nicht, ob dieser Unterschied wirklich so krass ist. Die Arbeiten vieler Autoren in diesem Buch sind allgemein bekannt, doch für gewöhnlich finden ihre Betrachtungen über das Mittelalter kaum Beachtung. In diesem Sinne bietet das vorliegende Werk durchaus neue Erkenntnisse. Dennoch stimme ich Thomas in mancher Hinsicht auch zu. Ziel meines Buches ist es zu betrachten, wie die Europäer mit ihrer mittelalterlichen Vergangenheit umgegangen sind, um dadurch das moderne Europa besser zu verstehen. Dass hierdurch auch ein ganz neuer Blick auf die Vergangenheit ermöglicht wird, ist ein schöner Nebeneffekt, doch nicht der eigentliche Grund, aus dem ich das Buch geschrieben habe. Ob es mir gelungen ist, überlasse ich dem Urteil der Leser. Utrecht, September 2011

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Einleitung Der Tod der Kathedralen

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m Sommer 1904 fasste die französische Regierung nach langem Zaudern den Beschluss, eine Trennung von Kirche und Staat durchzuführen. Im Vorfeld dieser Entscheidung war es zu diversen Zwischenfällen gekommen. Als Präsident Émile Loubet im April auf Staatsbesuch beim italienischen König in Rom weilte, hatte Papst Pius X. ihn nicht zur Audienz empfangen.2* Im Juli hatte die Regierung ohne Rücksprache mit der Kurie alle diplomatischen Beziehungen zum Vatikan abgebrochen und ihren Botschafter am päpstlichen Hof nach Paris zurückbeordert. Anschließend war die totale Säkularisierung des französischen Staates nur noch eine Zeitfrage. Am 16. August 1904 reagierte Marcel Proust in der Zeitung Le Figaro auf den Regierungsbeschluss. Als echter Freidenker vertrat Proust keine radikalen Ansichten zur Säkularisierung. Seiner Meinung nach übertrieben die Antiklerikalen fürchterlich, und ein bisschen Toleranz von beiden Seiten könnte eine Menge Ärger verhindern. Allerdings machte er sich in seinem Artikel Sorgen wegen der möglichen Folgen dieser Säkularisierung für die französischen Kirchen, und zwar vor allem für die Kathedralen: „dem höchsten und ursprünglichsten Ausdruck von Frankreichs Genius“. Proust rechnete damit, dass die Kathedralen in Staatsbesitz übergehen und damit dem Gottesdienst entzogen würden. Ersteres geschah tatsächlich, Letzteres nicht. Er sah eine kulturelle Katastrophe kommen, wenn die französischen Kathedralen nicht länger als Gotteshäuser dienten. Sie würden sich dann rasch in Sehenswürdigkeiten verwandeln, von denen bald niemand mehr wüsste, welchen Zweck sie früher erfüllt hatten: „unverständlich gewordene Überreste eines vergessenen Glaubens“. 15

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Was würde dann weiter mit den Kathedralen geschehen? Proust dachte, dass vielleicht Gelehrte in einigen hundert Jahren untersuchen würden, welche Rituale man eigentlich früher darin abgehalten hatte und welche Gesänge dabei angestimmt wurden, um herauszufinden, was diese verlassenen Gebäude früher so lebendig gemacht hatte. Und anhand dieser Rekonstruktionen würden Künstler vielleicht Theaterstücke und Musikdramen schreiben und in den Ruinen aufführen, um die schweigenden Gebäude wieder zum Sprechen zu bringen. Wir denken dabei sofort an etwas wie living history oder son et lumière, doch Proust meinte, dass solche Aufführungen des katholischen Gottesdienstes so herrlich und prächtig sein könnten, dass sie leicht Wagners Parsival übertreffen, eine Oper, die, wie er hämisch hinzufügte, nichts weiter sei als ein Abklatsch des katholischen Rituals. Doch zu solchen Rekonstruktionen musste es in der Zukunft gar nicht erst kommen, weil es solche perfekten Aufführungen, wie Proust sagte, schon jetzt im heutigen Frankreich gab, in jeder Stadt, in der eine Kathedrale stand. Die katholische Kirche sei nicht tot, sondern quicklebendig. Und das bedeutete, dass diese herrlichen Aufführungen täglich stattfanden. Ihre Darsteller waren die Priester, die in den Kathedralen Messen hielten und das Brevier beteten, die Kirchenchöre und Organisten, die der Liturgie Glanz verliehen, sowie die Küster und andere Statisten, die alles vorbereiteten und bereitlegten. Sie könnten das Schauspiel der katholischen Liturgie weitaus besser aufführen als die besten Schauspieler, weil ihr Auftritt keinem ästhetischen Gefühl entsprang, sondern einem aufrechten Glauben, der garantierte, dass ihre Darbietungen viel ästhetischer und authentischer waren, als ein perfekt inszeniertes Theaterstück. Proust versuchte seinen Landsleuten bewusst zu machen, dass sie mit den Kathedralen etwas völlig Einzigartiges besitzen. In Frankreich seien sie die einzigen historischen Baudenkmäler, die noch für den Zweck genutzt werden, für den sie ursprünglich errichtet wurden, und in denen die Vergangenheit noch intakt weiterlebte. Sollte die französische Regierung tatsächlich beschließen, mit Rom zu brechen, so dass die Kathedralen geschlossen beziehungsweise zu Museen, Konferenzzentren oder Kasinos umgebaut würden, würde Frankreich zugleich 16

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die letzte Verbindung zu seiner ruhmreichen Vergangenheit unterbrechen. Die Kathedralen seien nämlich die einzigen Orte in Frankreich, wo die Vergangenheit noch lebendige Gegenwart sei.3 Kathedralen, die in Museen verwandelt würden, seien lediglich leere Muscheln, in denen man nur das „vage Rauschen früherer Zeiten“ vernimmt, wenn man sie ans Ohr hält. Wer das Ewige Licht im Chor lösche, rieche nur noch den Gräbergeruch des Museums.4

Zuschauen oder mitspielen Proust war nicht der erste, der zutiefst beunruhigt war, weil das Band der Menschen zu ihrer Vergangenheit immer lockerer wurde. Schon 1874 hatte Friedrich Nietzsche in seinem polemischen Traktat Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben darauf hingewiesen, dass die Vergangenheit für den modernen Menschen anscheinend keinerlei Bedeutung mehr im Alltag habe. Nietzsche meinte, dass der Mensch in seinem Umgang mit der Vergangenheit „zum genießenden und herumwandelnden Zuschauer geworden und in einen Zustand versetzt [ist], an dem selbst große Kriege, große Revolutionen kaum einen Augenblick lang etwas zu ändern vermögen. Noch ist der Krieg nicht beendet, und schon ist er in bedrucktes Papier hunderttausendfach umgesetzt, schon wird er als neuestes Reizmittel dem ermüdeten Gaumen der nach Historie Gierigen vorgesetzt.“5 Den modernen Historiker verglich Nietzsche mit Polybius, der sich mit politischer Geschichte beschäftigt hat, um seine Schüler auf das Regieren des Staates vorzubereiten. Heutige Gelehrte seien dagegen nur neugierige Reisende oder Flöhe suchende Haarspalter auf den Pyramiden großer historischer Ereignisse, Müßiggänger, die begierig nach Zerstreuung und Sensation zwischen den angehäuften Kunstschätzen eines Museums herumstrichen.6 Sie sammelten alles, könnten jedoch keinem Gegenstand Bedeutung verleihen. Was die unmittelbare Zukunft anging, sollte Nietzsche nicht Recht behalten. Gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchten totalitäre Ideologen von links wie von rechts mit einer sehr voreinge17

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nommenen Interpretation der Vergangenheit sowohl der Gegenwart als auch der Zukunft wieder Form zu verleihen.7 Aber nachdem in der Folge des Zweiten Weltkriegs nicht nur Faschismus und Kommunismus sondern auch weniger totalitäre Systeme wie der demokratische Sozialismus, der politische Katholizismus und der Nationalismus mitsamt ihrer dazugehörigen Geschichtsschreibung in einer Dekonstruktionswelle entlarvt wurden, scheinen Proust und Nietzsche nun doch noch Recht zu bekommen. Mit dem Verlust einer Zukunftsperspektive ist schließlich auch die Vergangenheit in Scherben gefallen. Die Reste sind noch da, nur wozu dienen sie eigentlich? Auf die Dauer führt das zu der unhaltbaren Situation, dass alles, was alt ist, gleich wichtig erscheint und zugleich bedeutsam genug, um aufgehoben und in einem Museum, einer Bibliothek oder einem Archiv ausgestellt zu werden, egal ob es sich nun um Bettpfannen, Hellebarden oder das Utrechter Psalter und Die Nachtwache handelt. In den letzten 20 Jahren hat so ziemlich jedes niederländische Dorf mindestens einen Raum eingerichtet, in dem irgendwelche alte Sachen gehortet werden. Auch die Restaurierung von Gebäuden oder ganzer Städte, wie Heusden in Brabant, hat einen nie zuvor gekannten Grad an Perfektion erreicht. Selbst Kirchen, die aufgegeben wurden, dürfen oft nicht abgerissen werden, um die Dorf- oder Stadtansicht nicht zu beeinträchtigen. So entsteht die paradoxe Situation, dass alle Überreste der Vergangenheit sorgfältiger denn je zuvor erhalten werden, obwohl sie völlig fremd geworden sind und für die Gestaltung des jetzigen Lebens weniger Bedeutung haben denn je. Uns bleibt nur noch übrig, die Relikte zu sammeln, aufzupolieren, in Vitrinen zu präsentieren und ihre Schönheit zu bewundern. Jede andere Verbindung mit der Vergangenheit ist fraglich geworden. Nicht umsonst spricht man oft von einer Musealisierung der Kultur, ein treffender Ausdruck, der hervorragend vermittelt, dass jenes Band, das den heutigen Menschen noch mit der Vergangenheit verbindet, lediglich im Zuschauen besteht und nicht länger im Mitspielen. In einem Museum werden nur Gegenstände aufgehoben, die dem täglichen Gebrauch entzogen wurden und eine Welt verkörpern, die, wie interessant auch immer, nicht mehr unsere eigene ist.8 Wie 18

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Proust sagt, riecht das alles nach Grab. Um ein Beispiel zu nennen: Einen Kelch in der Kirche während der Messe zu benutzen, ist eine grundsätzlich andere Form mit der Vergangenheit umzugehen, als in einem Museum zu erklären, dass man in einer Messe Kelche benutzt hat. Interesse an der Vergangenheit kann man anscheinend nur noch wecken, wenn diese Vergangenheit in Form eines kunstreichen Gegenstands präsentiert wird, den man aus sicherer Entfernung als hübsch anzusehendes Schauspiel bewundern kann. Nicht umsonst hat der englische Historiker Raphael Samuel für diese Form der Vergegenwärtigung den Begriff des „Gedächtnistheaters“ geprägt und bezeichnet die so präsentierte Vergangenheit als „Spielchen für das Heute“.9 Wie wesentlich bei solchen Präsentationen der Vergangenheit das Ästhetische, der Genuss sind, zeigt sich unter anderem daran, dass die Repliken alter Gegenstände und Gebäude häufig höher geschätzt werden als die Spuren der Vergangenheit selbst. Die berühmte Kopie von Da Vincis Letztem Abendmahl als Glasmalerei im Forest Lawn Memorial Park in Glendale (Kalifornien) ist für viele Besucher „eine Nachbildung, die besser ist als das Original, ein Fetisch, der uns den Verlust des ursprünglichen Werkes vergessen lässt“. Die frischen, grellen Farben der Glasmalerei blenden den Besucher so sehr, dass es ihm fortan unmöglich ist, „die abblätternde Bemalung an der Wand eines Klosterrefektoriums im fernen Mailand noch zu würdigen“.10 Dass man dies nicht als typisch amerikanische Überspanntheit abtun kann, beweist die Tatsache, dass das 1869 bis 1886 im Auftrag von Ludwig II. von Bayern gebaute Traumschloss Neuschwanstein für viele den Prototyp dessen darstellt, wie ein mittelalterliches Schloss eigentlich sein sollte, es aber leider nicht ist. Selbst die Konzentrationslager aus dem Zweiten Weltkrieg fallen bereits dieser Erscheinung einer Musealisierung zum Opfer. In vielen Lagern unternimmt man Bemühungen, das Elend zu ästhetisieren, indem man die Baracken abreißt und stattdessen pietätvolle Kunstwerke zum Andenken an die Opfer aufstellt. Hier offenbart sich eine Haltung gegenüber der Vergangenheit, die perfekt durch die in diesem Zusammenhang oft zitierte Anekdote von dem Kölner Prälaten illustriert wird, dem auf dem Sterbebett ein Kreuz gereicht wird, auf das er jedoch nur einen Blick wirft und sagt: 19

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„Schlampige Arbeit, achtzehntes Jahrhundert!“11 Jegliche Bindung an alles, was das Kreuz einmal repräsentiert hat, ist verflogen, geblieben ist nur die distanzierte Bewunderung eines fremd gewordenen, aber kuriosen und amüsanten Gegenstandes. Die Behauptung, diese Haltung sei unter der heutigen Generation von Historikern oder auch nur unter ihren Lesern vorherrschend, würde dennoch zu weit gehen. Niemand bezweifelt, dass es mehr als nur ästhetischer Genuss ist, Bücher über den Zweiten Weltkrieg zu schreiben und zu lesen, eher das Gegenteil ist der Fall. In Westeuropa und Amerika wurde die Vernichtung der europäischen Juden seit den 1960er-Jahren zum historischen Fundament unserer moralischen und politischen Überzeugung.12 Historiker wie Jacques Presser und Loe de Jong haben mit ihren Standardwerken über den Krieg nicht nur beschrieben, was während der Besatzung geschehen ist, für viele wurden sie in den Niederlanden, mehr als alle Priester, Pfarrer und Philosophen zusammen, zu den Hütern all dessen, wofür unser Land steht. In ihren Werken findet der Leser keinen unverbindlichen Postmodernismus, sondern einen drängenden Aufruf, heute ethisch einwandfrei zu handeln. Und dass ein solcher Aufruf beim Publikum ankommen kann, zeigt die Tatsache, dass alle Versuche, ihr Werk zu nuancieren, bis jetzt wenig Erfolg hatten. Die Niederlande wollen moralische Klarheit, keine Zweideutigkeit einer grauen Vergangenheit.13 Demnach hat sich immer ein eher engagiertes Interesse an der Vergangenheit erhalten. Es erhielt wieder neuen Auftrieb durch die seit zehn Jahren dramatisch verschlechterten Beziehungen zwischen der westlichen und der islamischen Welt, für die 9/11 zum Symbol wurde. In erster Linie führten die Anschläge in New York und Washington zusammen mit den Reaktionen darauf zu einer Unmenge von Fragen über das Verhältnis zwischen dem Westen und dem Nahen Osten im Laufe der Jahrhunderte. In Bezug auf die Politik gegenüber dem Irak und Afghanistan konnte der umstrittene Arabist Bernard Lewis, ursprünglich Spezialist für die Geschichte des syrischen Mittelalters, so zu einem der wichtigsten Berater der amerikanischen Regierung aufsteigen. Doch viel weitreichendere Folgen für die Beschäftigung mit Geschichte hat die Tatsache, dass dieses "Aufeinanderprallen der Zivi20

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lisationen“ der Auslöser für eine Welle des Zweifels war hinsichtlich der bis dahin für selbstverständlich gehaltenen – und daher kaum betonten – Überlegenheit der westlichen Kultur. Die Postmodernisten spielten zwar gerne mit dem Ausgestoßenen, dem Marginalen und dem Unterdrückten, doch wie sich jetzt zeigt, taten sie dies immer vor dem Hintergrund einer nie angezweifelten Hegemonie des Westens. Der unumstößliche Beweis dafür war die allgemeine Überzeugung, nur westliche Intellektuelle seien zu einem derart ironischen und spielerischen Umgang mit der Vergangenheit imstande. Damit ist es nun vorbei. Die Ironie weicht ängstlichen und darum oft schrill klingenden Betrachtungen über die Identität des Westens, über die Werte, auf denen die westliche Kultur aufbaut, und über die Stellung, die sie in Zukunft zwischen anderen Kulturen einnehmen wird. Nicht nur der Islam wird jetzt als Bedrohung erfahren, plötzlich tauchen am Horizont auch Brasilien, (das wiedererstarkte) Russland, Indien und China als mögliche Rivalen des Westens auf. Dies alles zwingt zu einer neuen Auslegung der Geschichte, die nicht unverbindlich und ironisch ist, sondern Antworten auf drängende Fragen geben soll, wie zum Beispiel zur Stellung der Religion, die man bisher eigentlich für ein Auslaufmodell gehalten hat. In diesem neuen Klima erreichen Bücher, wie das von Jonathan Israel über den Ursprung der Aufklärung, fast Kultstatus.14 Die Einsicht, dass Geschichte kein Hobby ist, sondern wesentlich für die Positionierung der Menschen in der heutigen Gesellschaft, hat sich wieder durchgesetzt. Vor kurzem schrieb der deutsche Sozialhistoriker Dieter Langewiesche, dass die historische Wissenschaft absolut nicht von der Vergangenheit handelt, sondern ein ständiger Dialog zwischen Heute und Gestern ist, wobei das Heute die Tagesordnung bestimmt. Dadurch läuft die Geschichte Gefahr, wieder zu einer Legitimierungswissenschaft zu werden, wie sie es früher allzu oft war. Dennoch kann die Aufgabe der Geschichtsschreibung nicht nur mit wissenschaftlichen Kriterien umschrieben werden, die Historiker müssen auch ständig gesellschaftliche Erwartungen berücksichtigen.15 In seiner Abschlussrede als Dozent drückte der niederländische Historiker Willem Frijhoff dasselbe Gefühl etwas persönlicher aus: „Die Ge21

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schichte, die ich vertrete, ist [...] existenziell. Sie sucht, was mich an der Vergangenheit berührt und zum Handeln anregt. Meine Identität liegt im Hier und Jetzt, und in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit.“16 Bis jetzt scheint diese Wendung zu einem persönlicheren Umgang mit der Vergangenheit an den Historikern des Mittelalters größtenteils vorbeigegangen zu sein. Das ist nicht allein ihre Schuld. Viele Mediävisten bemühen sich redlich, ihre Leser davon zu überzeugen, dass Reflexionen über die mittelalterliche Geschichte in den heutigen Zeiten unabdingbar sind, um allen neuen Herausforderungen die Stirn zu bieten. Das zeigen die zahlreichen, in den letzten Jahren erschienenen Bücher über einen weit zurückliegenden Konflikt zwischen Ost und West: die Kreuzzüge.17 Trotzdem gelingt den Autoren nicht ganz der Beleg, dass mehr Wissen über die Kreuzzüge zu einem besseren Verständnis der Probleme zwischen der westlichen und der islamischen Welt im 21. Jahrhundert beitragen könnte. Im heutigen Westen ist das intellektuelle und kulturelle Klima nun einmal so, dass man die Kreuzfahrer immer als eine Bande christlicher Terroristen sehen wird, aus einer uns fremd gewordenen Vergangenheit, an die wir lieber nicht erinnert werden. Sowohl Christentum als auch Terrorismus sind im Westen nicht besonders populär. Ganz im Gegensatz zum Nahen Osten, wo die Geschichte der Kreuzzüge in den letzten 100 Jahren in den Mittelpunkt des Interesses gerückt wurde, weil sie in den Augen vieler Muslime einen überraschenden Erklärungsansatz für die Aggressionen der westlichen Länder bietet, denen sie seit den letzten Tagen des Osmanischen Reiches ausgesetzt sind.18 Dass das Territorium der Republik Israel ungefähr mit dem des mittelalterlichen Königreichs Jerusalem übereinstimmt, macht die Parallele zwischen Mittelalter und Gegenwart in ihren Augen nur einleuchtender. Darum machen andere Mediävisten aus der Not eine Tugend. Sie geben unumwunden zu, dass uns das Mittelalter endgültig fremd geworden ist, und dass gerade dies den Reiz dieser Zeit ausmacht. In einer aktuellen Einführung zum Studium der mittelalterlichen Geschichte erläutert Marcus Bull, dass die Kreuzzüge anders waren und nicht mit den heutigen Konflikten zwischen Ost und West verglichen werden 22

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können. Dasselbe gilt, nach Ansicht dieses Autors, für die ganze Mittelalterforschung: Sie bezieht sich nicht unmittelbar auf das Heute, macht uns aber bewusst, welchen Reichtum an fremden Gebräuchen, Traditionen und Kulturen es auf der Welt gibt.19 Die Kreuzzüge könnte man mit dem ganzen übrigen Mittelalter in einem völkerkundlichen Museum unterbringen, in dem das Publikum exotische Objekte wie Penisköcher und Schrumpfköpfe angafft, doch ansonsten trägt dies nicht zu einem besseren Verständnis des heutigen Weltgeschehens bei. In meiner Antrittsrede habe ich das als „Tourismus in der Zeit“ bezeichnet. Die Botschaft, dass fremde Kulturen interessant sind und dass Verschiedenartigkeit wundervoll ist, mochte vor zehn Jahren noch ankommen, im Augenblick genügt sie einfach nicht mehr den Erwartungen einer Leserschaft, die inzwischen ernsthaft anfängt, an der Vitalität ihrer eigenen Kultur zu zweifeln und deshalb wieder ernsthaft Fragen zur eigenen jüngeren oder älteren Vergangenheit stellt. Es ist schade, aber auch typisch, dass die Historiker so große Mühe haben, eine persönlichere Geschichtsschreibung des Mittelalters zu entwickeln. Schon immer wurde die mittelalterliche Geschichte, mehr als andere Epochen, von „Kräuterfrauen“ beiderlei Geschlechts heimgesucht sowie von Menschen, die nach Höherem strebten, denen der Druck der modernen Zeit zu viel geworden war und die sich darum in den Ursprung des Grals vergruben, in das Komplott der Templer, in die Lage von Camelot, in das Weiterleben der Druiden und andere esoterische Fragen.20 Es werden zwar mehr gelehrte Studien über das Mittelalter veröffentlicht denn je zuvor, doch das beeinflusst kaum die zunehmende Tendenz im breiten Publikum, verstärkt sie sogar eher noch, die mittelalterliche Vergangenheit allein im Rahmen der Freizeitindustrie zur Sprache zu bringen. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit nur auf jene Aspekte des Mittelalters, die Vergnügungspotential besitzen: Auf Bauerntänze, bei denen viel getrommelt und geklimpert wird, lustige Rituale, schöne Geschichten über Ritter und Jungfrauen, Spanferkel, grob gewebte, aber solide Stoffe; und nicht zuletzt findet diese Aufmerksamkeit in Computerspielen Ausdruck. In ernsthaften Betrachtungen über den Zustand von Gesellschaft und Kultur nimmt man das Wort „Mittelalter“ dagegen nur noch in den Mund, 23

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wenn man sich fragt, ob die moderne Welt mit dem Ende der großen Geschichten am Beginn einer neuen Periode des Chaos und eines Rückfalls in die Barbarei steht.21 Man kann sich fragen, was eigentlich dagegenspricht, die mittelalterliche Vergangenheit auf so vergnügliche Weise kennenzulernen. Der heutige Mensch, für den die Vergangenheit praktisch unzugänglich geworden ist, erhält so zumindest noch eine kleine Chance, sie kennenzulernen.22 Diese Einstellung einer ästhetischen Distanz gewährt nur dem Anschein nach Zugang zur Vergangenheit, ist tatsächlich jedoch weit davon entfernt. Ein gewisses persönliches Interesse, das Bewusstsein eines gemeinsamen Schicksals oder von Kontinuität ist erforderlich, um richtige und präzise Fragen an die Vergangenheit zu stellen.23 Ein Ästhet engagiert sich nicht, wie Søren Kierkegaard schon bemerkt hat, er hält inne bei jenen Aspekten und Überbleibseln der Vergangenheit, die schön sind oder ein angenehmes Gefühl vermitteln, beziehungsweise über die er staunen kann, die für die Menschen dieser Vergangenheit selbst jedoch gar nicht existiert haben oder die, wenn es sie gab, auf jeden Fall unwichtig waren.24 Doch Schicksalsverbundenheit, die Überzeugung, dass der Forscher wesentliche Aspekte des Lebens mit dem Gegenstand seiner Forschung teilt, erlaubt es, tiefer in jene Bereiche der Vergangenheit vorzudringen, die für die Menschen damals selbst wichtig waren, und macht diese Vergangenheit zugleich relevanter für das Heute. Wer die kommunistische Bewegung untersucht, muss irgendwie die soziale Begeisterung, die alle Anhänger dieser Strömung angetrieben hat, mitfühlen können, um den Kommunismus zu begreifen und seine Folgen für die heutige Welt beschreiben zu können.25 Weil in unserer Kultur die Schicksalsverbundenheit hinsichtlich der mittelalterlichen Geschichte eigentlich nie eine Selbstverständlichkeit war, müssen sich Mediävisten mehr als andere Historiker immer wieder fragen, ob und wie sie zwischen unserer Gegenwart und der fernen Vergangenheit Brücken bauen können.

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Ist das Mittelalter anders? Um solche Brücken zu bauen, ist es zunächst nötig, den Abgrund, der überbrückt werden soll, auszuloten. Aus zwei Gründen ist aus dem Mittelalter, mehr als aus jeder anderen Epoche unserer Vergangenheit, ein fremdes Land geworden. Wie oft gesagt wurde, aber nicht oft genug wiederholt werden kann, besteht die erste und größte Hürde darin, dass wir auch jetzt noch – nach den Worten des Mittelniederlandisten Wim Gerritsen – im Schlagschatten des Deiches leben, den die Humanisten zwischen dem Mittelalter und der Zeit danach aufgeworfen haben. Gemeint ist der Mythos des Mittelalters als Nicht-Kultur.26 Trotz der Romantik und der ganzen aus ihr hervorgegangenen Verklärung des Mittelalters, trotz des Endes aller großen Geschichten, gibt es eine große Geschichte über die Entstehung Europas, die jede Dekonstruktion überlebt hat, nämlich dass die Menschheit nach dem Fall Roms 1000 Jahre lang in Finsternis umhergeirrt ist, bis die Humanisten die Lampe der antiken Zivilisation wieder angezündet haben. Mit dieser und anderen ebenso tödlichen Metaphern bleibt das Mittelalter das Gegenstück zur Moderne, eine Zeit mit einer Kultur, die anthropologisch gesehen zwar interessant ist, an die wir im Grunde aber kaum Gedanken verschwenden müssen.27 Die Humanisten haben das Mittelalter aus der Erzählung der westlichen Zivilisation gestrichen und das konnte nie ganz ungeschehen gemacht werden. Obwohl die jüngere Generation unserer Kulturträger kaum noch in den altklassischen Sprachen unterrichtet wurde, herrscht weiterhin die unterschwellige Überzeugung, dass man die moderne westliche Kultur ohne die Antike nicht verstehen kann, weshalb die Antike im Rahmen moderner Probleme und Entwicklungen ganz selbstverständlich immer wieder zur Sprache kommt. Schließlich liegt dort das Fundament der politischen Demokratie, dort liegen die Ursprünge der Philosophie und des Christentums, aber auch des Humanismus, dort liegen die Grundlagen des modernen Rechtsstaates und des modernen Erziehungssystems. Bei ihren Überlegungen zur Zukunft des Hochschulunterrichts in den Vereinigten Staaten fängt die liberale Philosophin Martha Nussbaum mit Sokrates und der Stoa an und schließt mit 25

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Seneca, ohne irgendwie näher auf die durchaus legitime Frage einzugehen, warum gut 2000 Jahre alte Aussagen zur Erziehung auch jetzt noch Gültigkeit besitzen sollen.28 In einer jüngeren populärwissenschaftlichen Geschichte der Philosophie wird das Mittelalter nach 300 Seiten über die Antike in 40 Seiten abgehandelt, eingeleitet mit der Bemerkung: „Weil Zeit und Platz beschränkt sind, lassen wir die mittelalterliche Philosophie lieber weiter in ihrem nachweislich dunklen und zweifellos dornigen Gestrüpp schlummern.“29 Dies gilt anscheinend auch für Juristen. In den letzten 20 Jahren sind an den juristischen Fakultäten der Niederlande im Zuge der vielen Bildungsreformen alle Seminare zum Thema Altvaterländisches (mittelalterliches) Recht aus dem Kerncurriculum verschwunden, doch Seminare zum Thema Römisches Recht sind noch überall verpflichtend. Plato und Aristoteles gelten in weiten Kreisen als Zeitgenossen und Gesprächspartner, während Thomas von Aquin und Marsilius von Padua nur noch Namen sind, die man ausschließlich in einem esoterischen Kreis hochspezialisierter Fachleute kennt und schätzt. Das Mittelalter ist also nicht fremd geworden, weil es so lange zurückliegt, sondern weil es einfach nicht ins Selbstverständnis und in die Geschichte der modernen westlichen Kultur passt. Die sowieso schon prekäre Stellung des Mittelalters in der kollektiven Erinnerung des Westens wird noch durch den großen Einfluss verstärkt, den die kulturelle Anthropologie nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Ausübung der Geschichte gewonnen hat. Weil gerade die mittelalterliche Gesellschaft in vieler Hinsicht an die meist nichtwestlichen Kulturen erinnert, die weiterhin bevorzugte Studienobjekte der Anthropologen sind, erzielten deren Methoden unter den Mediävisten großen Erfolg, haben jedoch auch dazu beigetragen, das Mittelalter in eine noch exotischere Ferne zu rücken. Dabei gibt es durchaus gute Gründe, die Anwendung von Modellen aus der kulturellen Anthropologie in der Geschichte zu begrüßen. In mancher Hinsicht haben sie den Historikern des Mittelalters geholfen, eine allzu simple Identifizierung mit der mittelalterlichen Vergangenheit, zu der sie unter dem Einfluss gewisser Vorstellungen aus der Romantik neigten, zu entlarven. Bahnbrechend war hier das Werk von 26

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Marc Bloch, der bereits 1924 aufgezeigt hat, dass die Autorität mittelalterlicher Könige weniger auf ihrer Armee oder auf ihrer Verwaltung beruhte, als vielmehr auf ihrem Ruf als Wundertäter, weshalb sich die Forschung zu den Herrschaftsformen im Mittelalter nicht irgendwelcher rechtshistorischer Konstruktionen bedienen sollte, sondern zunächst die Sakralität des Königsamtes untersuchen müsse.30 Anthropologische Erkenntnisse über die Machtausübung und Legitimation der Macht lieferten auch einen wesentlichen Beitrag zur Demaskierung des Ritters als Beschützer der Armen und Wehrlosen oder des Mythos der feudalen Treue und des mittelalterlichen Landesherrn als väterlichem Schirmherr aller ihm anvertrauten Bauern. In einem erschütternden Buch, das alle romantischen Vorstellungen vom Mittelalter zerpflückt, zeigt der amerikanische Mediävist Thomas Bisson, dass das Aufkommen der Ritterklasse im 10. und 11. Jahrhundert zu einer so erbarmungslos habgierigen Kultur führte, dass selbst heutige Topmanager noch viel davon lernen könnten. Die Bauern wurden Opfer eines Systems, das ganz auf effiziente Betriebsführung und wirtschaftlichen Gewinn ausgerichtet war und in dem menschliche Skrupel als Zeichen von Schwäche galten. Die Burgen, die ab 950 alle Dörfer überragten, sollten die Dorfbewohner nicht beschützen, sondern sie in Schach halten und zu möglichst hohen Produktionszahlen aufpeitschen. Das neue Europa wurde in einer Orgie der Gewalt und Gesetzlosigkeit geboren, die erst im 13. Jahrhundert ein Ende nahm, als wieder eine Art zentrale Obrigkeit entstand, die Adel und Ritterschaft besser unter Kontrolle bekam.31 Die Anthropologen haben auch dazu beigetragen, die mittelalterliche Geschichte zu entchristianisieren, indem sie darauf hinwiesen, dass die Kirche im Mittelalter keine Institution war, die das Leben der Gläubigen bis ins letzte Detail geregelt hat, wie die Kirchen dies – mit beachtlichem Erfolg – im 19. Jahrhundert geschafft haben, sondern dass damals viele Formen von Religiosität und religiöser Bindung nebeneinander existiert haben. Wenn man überhaupt von einem Ganzen sprechen konnte, muss es zumindest chaotisch und absolut widersprüchlich gewesen sein.32 Das hat sogar zu der Frage geführt, ob man überhaupt von einem „christlichen Mittelalter“ sprechen kann. So ver27

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kündete Jean Delumeau vor über 30 Jahren, dass die eigentliche Christianisierung Europas erst im 16. Jahrhundert stattgefunden habe, als Reformatoren und Gegenreformatoren eine Überzeugungsoffensive entfesselten, durch die der Inhalt der christlichen Botschaft bis in den letzten Winkel Europas vordringen konnte.33 Auffallend ist jedoch, dass unter Historikern vor allem diejenige Richtung in der Anthropologie populär wurde, die sich auf die Beschreibung kleiner Gemeinschaften und Randerscheinungen spezialisiert.34 Diesen Ansatz charakterisieren zwei Punkte. Erstens versucht der Historiker nicht länger nach größeren sinnstiftenden Zusammenhängen in der Geschichte zu suchen, stattdessen konzentriert er sich lieber auf kleine Ereignisse in winzigen Gemeinschaften: etwa auf die Verehrung eines heiligen Windhundes, die religiösen Ansichten eines italienischen Müllers oder die Rückkehr eines verloren geglaubten Bauern, ohne dabei die Schicksale dieser Menschen in einen größeren sozialen und politischen Kontext zu stellen oder auch nur daraufhin zu untersuchen, ob sie repräsentativ für ein größeres Ganzes sind.35 Zweitens fällt auf, dass bei solchen Rekonstruktionen davon ausgegangen wird, dass zwischen unserer Kultur und der ihren ein Abgrund klafft, den nur die Übersetzungsarbeit des Historikers überbrücken kann. Man sucht nicht nach möglichen Übereinstimmungen oder einer zumindest teilweisen Überlappung der Erfahrungswelt. Das Seltsame und Exotische ist der selbstverständliche Ausgangspunkt und wahrscheinlich auch der Grund dafür, warum sich diese Bücher wie warme Semmeln verkaufen, schließlich ist der Markt für Eskapismus gewaltig.36 Dadurch ist in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, was Trevor-Roper 1967 – vielleicht zum letzten Mal – noch mutig als „dämlichen Unsinn eines bäuerlichen Aberglaubens“ bezeichnet hat.37 Eigentlich wird nie die Frage gestellt, welchen Nutzen man aus solchen Erkenntnissen ziehen soll, außer dass sie vielleicht Material liefern, um am Wochenende Touristen mit neofolkloristischen Festen anzulocken. Außerdem schält sich immer deutlicher heraus, dass solche marginalen Gemeinschaften oder Erscheinungen für die mittelalterliche Gesellschaft als Ganzes längst nicht so charakteristisch waren und dass sie nur den Eindruck erwecken, uns einen privilegierten Einblick in das 28

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Leben einfacher Menschen zu bieten. Genau das, was der moderne Mensch heute daran so seltsam findet, hat man anscheinend auch damals oft schon seltsam gefunden. Van Engen weist sogar darauf hin, dass die Erforschung des Alltagslebens der einfachen Leute im Mittelalter eigentlich noch gar nicht angefangen hat.38 Wie schließlich noch betont werden muss, berufen sich die Historiker ganz zu Unrecht auf die Anthropologie als solche, wenn sie sagen, dass die einzige Art und Weise, andere Kulturen zu rekonstruieren, darin bestehe, sie als seltsam und exotisch zu beschreiben. Unter Anthropologen gibt es schon seit 100 Jahren eine heftige Diskussion darüber, ob der Unterschied zwischen zwei Kulturen tatsächlich so grundlegend ist, dass ein Anthropologe eine andere Kultur erst nach mühsamer Interpretation verstehen könne, oder dass er im Gegenteil davon ausgehen müsse, dass es letztendlich eine gemeinschaftliche Basis an gesundem Menschenverstand, Rationalität und Gefühlsleben gebe, die allen Kulturen eigen ist.39 Mit der Anthropologie gibt es jedoch noch ein anderes Problem. Erst in den letzten Jahren zeigt sich immer deutlicher, dass die Mediävisten durch ihre Entscheidung für einen anthropologischeren Ansatz nicht den Klauen der Ideologie entronnen sind und sich endlich einer reinen Wissenschaft zugewandt haben. Anscheinend haben auch Anthropologen verborgene Agenden. Zur Zeit tritt nämlich die interessante Erscheinung auf, dass diejenigen, die seit Generationen nur Studienobjekte der westlichen Wissenschaft waren, nun selbst den Mund aufmachen und ihre Meinung zu dem äußern, was sie unserer Ansicht nach immer dachten. Die Lawine wurde von Edward Said durch sein immer noch umstrittenes Standardwerk Orientalism aus dem Jahre 1978 losgetreten. Darin zeigt der Autor, dass praktisch alle Wissenschaften, die sich mit nichtwestlichen Kulturen beschäftigen, eine verborgene Agenda besitzen. Was auf den ersten Blick nach einem neutralen, kritischen Ansatz aussieht, erweist sich bei näherer Betrachtung als Gemeinplatz, der darauf abzielt, durch einen Vergleich mit den östlichen Nichtkulturen die Überlegenheit der westlichen Kultur zu bestätigen und so unterschiedliche Machtverhältnisse zu schaffen und aufrechtzuerhalten.40 Der 29

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Ausgangspunkt für jede wissenschaftliche Abhandlung über nichtwestliche, fremde Kulturen ist, nach Saids Meinung, dass „diese Menschen“ außerstande seien, ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen zusammenhängend und vernünftig zu formulieren, weswegen ein westlicher Wissenschaftler das für sie tun müsse. Said zitiert in diesem Zusammenhang einen Ausspruch von Karl Marx: „Sie können nicht für sich selbst sprechen, es muss für sie gesprochen werden.“ Mit anderen Worten: Sie liefern das Material, wir schreiben das Drehbuch.41 Talal Asad nennt dies in seinem Buch Genealogies of Religion den JagoKomplex der europäischen Kultur, die Fähigkeit, alles und jeden nach Bedarf zu formen und für die eigenen Ziele zu benutzen.42 Asad erklärt auch, wie das in der Anthropologie oft vor sich geht. Der Anthropologe reist zu einem Eingeborenenstamm auf Samoa, Bali oder einer anderen Insel. Hier pickt er sich mehrere Gebräuche und Rituale heraus, zwischen denen der Einheimische keinen Zusammenhang vermutet, im Gegensatz zum Anthropologen. Letzterer erklärt dann, dass alles, was auf den ersten Blick nach einer Reihe unzusammenhängender Handlungen aussieht, tatsächlich Teil eines komplizierten Netzes an Bedeutungen ist, die zusammen das bilden, was wir Kultur nennen. Der Anthropologe ist der alles sehende, alles wissende Beobachter, der viel besser als die Einheimischen selbst die Bedeutung ihrer Handlungen ergründen kann. Indem er sie untersucht, erlangt er Macht über sie.43 Viele Begriffspaare, die bei der Erforschung fremder Kulturen bevorzugt verwendet werden und die man zur Zeit auch in der Geschichtsschreibung gerne als Beschreibungs- und Erklärungsmodelle einsetzt, finden ihren Ursprung offenbar in dieser Fachsprache.44 Die bekanntesten sind: magisch – religiös, irrational – rational, assoziativ – kausal, oral – schriftlich, ritualistisch – ethisch, kollektiv – individuell, zügellos – diszipliniert, volkstümlich – elitär, kindhaft – erwachsen. Vor allem die radikalen Veränderungen im 12. Jahrhundert werden meistens in der Terminologie dieser Begriffspaare erklärt.45 Das klassische Beispiel für den von Asad abgelehnten Ansatz in der mittelalterlichen Geschichtsforschung ist Emmanuel Le Roy Laduries Buch über die Sitten und Gebräuche des Katharerdorfes Montaillou. Darin führt der Autor seine Leser meisterhaft durch dieses abgelegene 30

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Dorf in den Pyrenäen. Jeder Aspekt im Alltagsleben der Dorfbewohner wird besprochen, ihre geheimsten Gedanken werden offengelegt, und noch viel besser als der Inquisitor Jacques Fournier aus dessen Aufzeichnungen er sein Material entnommen hat, bekommt Le Roy Ladurie das Dorf so in den Griff, dass ihm nichts und niemand entrinnen kann. Er weiß, was die Bauern wirklich beschäftigt, und kennt ihre verborgensten Phantasien und Träume.46 Auf den ersten Blick lässt Le Roy Ladurie anscheinend eine Bevölkerungsgruppe zu Worte kommen, die gewöhnlich zum Schweigen verdammt ist: Die einfachen Leute, die so oft aus der Geschichtsschreibung verschwinden, denen der moderne französische Historiker aber nun das Wort erteilt. In einer Kritik der Arbeit von Geertz erklärt Asad hierzu, dass „Wissen über die lokale Bevölkerung nicht dasselbe ist wie lokales Wissen“.47 In praktisch allen Werken über Folklore, Volksreligiosität und Feste im Mittelalter wird diese Form von Besserwisserei angewandt. Wenn Miri Rubin in ihrem Buch über die Verehrung des Heiligen Sakraments im späten Mittelalter die Bedeutung der Sakramentsprozession behandelt, vermag sie uns zu erzählen, dass die Menschen zwar dachten, mit ihrem feierlichen Umzug durch die Stadt Christus in seinem Sakrament zu ehren, obwohl sie tatsächlich ein Ritual vollzogen, das die Machtverhältnisse innerhalb der Stadt widerspiegelte und zugleich legitimierte. Die Prozession war eigentlich eine „Ikonographie der Macht“.48 Mit dem Erfolg der Anthropologie drang fast unmerklich auch ihre Ausdrucksweise in die Geschichtsschreibung über das Mittelalter ein. So entstand der merkwürdige Kontrast, dass in einer Zeit, in der die Anthropologen zunehmend die Voreingenommenheit ihrer Ausdrucksweise erkennen und sich bemühen, ihr Fach zu entkolonisieren, die Historiker das Mittelalter unbekümmert kolonisieren und auf den Status einer nichtwestlichen, fremden Gesellschaft reduzieren. Damit ist die Mediävistik wieder an dem Punkt angelangt, an dem die Humanisten angefangen haben: Die eigene Zivilisation verherrlichen, indem man sie von der Barbarei der vorangegangenen Jahrhunderte abhebt. Was der Anthropologe im Raum tut, macht der Mediävist in der Zeit: kein geographischer, sondern ein chronologischer Orientalismus.49 31

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Die Welt, die in Abhandlungen wie der oben genannten heraufbeschworen wird, steht zwar im vollkommenen Gegensatz zu unserer Welt, doch in mancher Hinsicht kann das ein ästhetisches Vergnügen sein, es kann sogar eine Art Heimweh nach Zeiten wecken, in denen die Menschen direkter, einfacher und ungezügelter waren: der mittelalterliche Mensch als edler Wilder. Vor allem amerikanische Mediävisten haben in den vergangenen 20 Jahren unermüdlich versucht, das völlige Anderssein des Mittelalters zum interessantesten und relevantesten Aspekt dieser Epoche zu machen. Wenn der moderne Mensch die Konfrontation mit dem völligen Anderssein des Mittelalters sucht, wäre er besser in der Lage zu erkennen, was in der eigenen Kultur verdrängt und ausgegrenzt wird. Zugleich könne er so die Machtmechanismen, die in der modernen westlichen Kultur die Erinnerung bestimmten, besser erkennen.50 Dies ist an sich nicht unrichtig, doch es ist nicht genug. Auf diese Weise bleibt das Mittelalter schließlich die Zeit, von der wir nichts lernen können, die uns nichts zu sagen hat und die uns keinen Stoff für eine Reflexion über die Herausforderungen liefert, vor denen die Gesellschaft heute steht. Eine solche Beschäftigung mit Geschichte erhält so in einer Zeit, die sich gerade von der postmodernen Ironie und Distanziertheit distanziert, etwas Frivoles und sogar Irritierendes. Anders gesagt: Die Strategie des modernen Menschen, das Andere, das Nichtmoderne im Mittelalter anzusiedeln, um dadurch die eigene Identität schärfer in den Blick zu bekommen, funktioniert nicht mehr.51 Bedeutet dies, dass nun die Stunde der reinen Wissenschaft geschlagen hat?52 Nein, diese Stunde hat schon vor 200 Jahren geschlagen. Seitdem lehrt uns die Erfahrung, dass wissenschaftlicher Scharfsinn entbehrlich ist, wenn es darum geht, ein lebendiges Band zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu knüpfen. Darüber hinaus lehrt die Erfahrung, dass selbst Historiker trotz ihres kritischen Verstandes nicht gegen große mitreißende Geschichten gefeit sind, die nicht immer einer kritischen Prüfung standhalten. Und in manchen Fällen – hier drängen sich die Namen Edward Gibbon, Jules Michelet und Jacob Burckhardt auf – haben sie diese Geschichten selbst geschrieben. Das Beste, was man von der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung 32

Ist das Mittelalter anders?

erwarten kann – und das ist eine Menge und durchaus wichtig –, ist, dass sie all diese dummen Interpretationen der Vergangenheit korrigiert, entlarvt und durch eine schlichtere Version ersetzt.53 Ungefähr so wie Theologen allzu verrückte Formen der Marienverehrung oder eines biblischen Fundamentalismus an den Pranger stellen und hoffen, dass ihre Kritik zu einer zurückhaltenderen Frömmigkeit der Gläubigen führt. Dieser Vergleich mit der Theologie geschieht nicht zufällig. Geschichte ist ein Fach mit lebensanschaulichen Aspekten: Die Menschen suchen in der Vergangenheit nach Sinn, Bedeutung, Zusammenhang und Deutungen, was bedeutet, dass man Geschichten erzählen muss, Geschichten, die manchmal von Historikern, meistens aber von anderen geschrieben werden. Der große, mit Blick auf die Greuel des 20. Jahrhunderts jedoch verständliche Irrtum der Postmodernisten besteht in der Annahme, dass Fragmente von Wissen, die keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit, Allgemeingültigkeit oder gar Wahrheit erheben, ausreichen, dem Leben einen Sinn zu geben. Die Menschen brauchen große Geschichten, sie fühlen sich betrogen, wenn man durch die vielen täglichen widersprüchlichen und chaotischen Erfahrungen nicht irgendwie einen roten Faden ziehen kann. Das zeigt sich auch wieder in den letzten Jahren; erklärende Geschichten über „die“ Vergangenheit, um „die“ Gegenwart zu verstehen, tauchen allenthalben auf. Die häufigste Form solcher vereinfachenden Geschichten sind Verschwörungstheorien, die alles Unglück der Welt den Machenschaften einer einzigen Gruppe zuschreiben. Früher waren das die Juden oder der Kapitalismus, jetzt sind es die islamistischen Fundamentalisten. Doch auch die plötzliche Angst vor dem Multikulturalismus mit der daraus entspringenden Popularität der Geschichte der Aufklärung als jener Zeit, in der die universellen menschlichen Werte, die für alle Zeiten und alle Kulturen gelten, zum ersten Mal formuliert wurden, verweist darauf, dass die Menschen nicht ohne große Geschichten leben können. Die existierenden Geschichten über das Mittelalter sind überholt, im Gegensatz zu denen über die Antike. Wenn die mittelalterliche Vergangenheit bei der Reflexion Europas über seine eigene Kultur noch 33

Einleitung

eine Rolle spielen soll, müssen wir versuchen, das Mittelalter innerhalb der weiter gefassten Geschichte der westlichen Kultur wieder zur Sprache zu bringen, damit diese Epoche neben der Antike ihren Platz als eines der beiden Fundamente erhält, auf denen sich die heutige westliche Kultur gründet. Schon Ende des 16. Jahrhunderts zeigte sich zum ersten Mal, dass antike Autoren nicht länger alle Fragen beantworten konnten. In den Werken Herodots und aller anderen antiken Geographen kam Amerika nicht vor. Kopernikus und Galilei hatten bewiesen, dass sich die Erde um die Sonne dreht und damit die antike Kosmologie ins Reich der Fabeln verwiesen. Und ob die antike Literatur wirklich immer als Vorbild für jede spätere Poesie und Prosa dienen soll, erschien auch immer fraglicher. Über diese Fragen entbrannte ein Streit, der dem Monopol des klassischen Altertums als Inspiration und Vorbild für jede spätere Literatur und Wissenschaft ein Ende bereitete. Von dieser Zeit an wurde versucht, das Mittelalter neben der Antike in die Geschichte der westlichen Kultur aufzunehmen, meistens als Gegensatz zur Antike. Ende des 19. Jahrhunderts gab es zwei große Betrachtungsweisen der europäischen Vergangenheit, die gleichwertig nebeneinanderstanden, die klassizistische und die gotische, beide mit eigenen Assoziationen (und nicht zu vergessen mit ihrer eigenen Architektur), die aber gemeinsam Europas Vergangenheit umfassten. Beide Begriffe bezeichneten um 1900 viel mehr als nur bestimmte, fest umschriebene historische Zeitalter. Sie repräsentierten eine ganze Palette an philosophischen, politischen und gesellschaftlichen Ansichten und hatten sich zu Symbolen einer Lebensanschauung entwickelt. Durch den Vergleich und die Konfrontation der Antike mit dem Mittelalter führten Generationen von Europäern heftige Debatten über wesentliche Fragen, die sie im Moment beschäftigten, zum Beispiel über das Verhältnis zwischen Vernunft und Gefühl, über Kosmopolitismus und Nationalismus, über Individuum und Gemeinschaft, Universalität und Partikularismus, Tradition und Moderne. Konflikte, die nirgends schöner charakterisiert wurden als in der Debatte zwischen dem Humanisten Settembrini und dem Jesuiten Naphta in Der Zauberberg von Thomas Mann. Natürlich war die Verwendung von Ge34

Ist das Mittelalter anders?

schichte in diesen Debatten in hohem Maße mythisch, doch die Frage ist, ob nicht jede Verwendung von Geschichte, die über das Antiquarische hinausgeht, mythische Züge enthält und allein in dieser Form für eine heutige Debatte relevant sein kann. Mythen sind lebensgefährlich, wie die jüngere Vergangenheit bewiesen hat, doch Walter Benjamin meinte, dass jemand, der sich dieser Gefahren bewusst ist, den Mythos weiter als Mittel zur Deutung des Leben heranziehen kann.54 Bevor wir über Möglichkeiten nachdenken, dem Mittelalter wieder einen Platz in der Geschichte Europas einzuräumen, ist es darum dienlich, in allen Einzelheiten zu verfolgen, wie das in den vergangenen Jahrhunderten geschehen ist, was das Mittelalter früher so relevant, so mythisch gemacht und so unmittelbar mit dem Geschehen im modernen Europa verbunden hat. Warum hat sich die Vorstellung vom Mittelalter nach dem Zweiten Weltkrieg in Nichts aufgelöst, während die von der Antike unangefochten ist? Man muss sich auch fragen, warum sich niemand mehr wie Proust darüber Sorgen macht, dass die Kathedralen leer stehen, dass sie nur noch stumme Denkmäler einer verschwundenen Kultur sind, deren Bedeutung sich in der Erhaltung des Stadtbildes erschöpft.

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Kapitel 1

Erste Erkundung Petrarca am Abgrund

A

m 8. April 1341, einem Ostersonntag, wurde der Poet Francesco Petrarca vom Vorsitzenden des römischen Senats, Orso dell’Anguillara, auf dem Kapitol in Rom mit einem Lorbeerkranz zum Dichter gekrönt. In seiner Dankesrede verkündete Petrarca, diese Feierlichkeit sei darum so besonders, als sie an „etwas aus legendären Zeiten erinnert, was schon seit über zwölfhundert Jahren außer Gebrauch geraten ist, denn der letzte, von dem wir lesen, dass er diese Ehrung empfangen hat, war der berühmte Dichter Statius, der zur Zeit Domitians gelebt hat“.1 Publius Papinius Statius (um 45–96) wurde vor allem durch seine Heldengedichte Thebais und Achilleis bekannt. Im späten Mittelalter und in der Renaissance zählte er zu den angesehensten römischen Autoren. Bei der Betrachtung seiner eigenen Zeit und der unmittelbaren Vergangenheit sah Petrarca einen tiefen, dunklen Abgrund, der sich über gut 1000 Jahre erstreckte, eine hoffnungslose Zeit, die nur „Narrenkünstler“ hervorgebracht hatte. Als der Laureat noch weiter zurückblickte, sah er in der fernen, fast legendären Vergangenheit eine Epoche, „die für Dichter glücklicher war, weil sie damals in hohem Ansehen standen, zuerst in Griechenland, später in Italien, dort vor allem unter Kaiser Cäsar Augustus, denn während seiner Regierung gediehen brillante Dichter: Vergil, Varius, Ovid, Horaz und viele andere“.2 Das war die goldene Zeit der klassischen Literatur, der jeder kultivierte Mann seine Aufmerksamkeit widmen sollte, um sie wieder zu Ehren zu bringen. Die jüngere Vergangenheit könnte man hingegen ruhigen Gewissens der Vergessenheit anheimgeben. Hiermit fasste Petrarca eine ganz neue Haltung gegenüber der Vergangenheit in Worte. Bis dahin hatte man die Vergangenheit immer als 37

Erste Erkundung

ein großes, undifferenziertes Ganzes gesehen, in dem alles zueinander in Beziehung stand und alles zusammenpasste. Alle Zeiten waren gleich wichtig und jede Zeit leistete auf ihre Weise ihren Beitrag zum Heilsplan Gottes für die Menschheit, der von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht reichte. Es war Aufgabe der Historiker zu zeigen, wie sich dieser Heilsplan entwickelte und wie Gottes leitende Hand in jedem Zeitalter von neuem sichtbar wurde. In dieser Vergangenheit gab es kein Näher und kein Ferner oder Epochen, mit denen man sich mehr oder eben weniger verwandt fühlte. Alles war gleich alt, gleich weit weg und zugleich nicht wirklich anders als das Heute, weil die Menschen immer und überall gleich sind. Darum existierte auch kein Bedürfnis, alte Dinge zu erhalten oder zu betrachten, es sei denn, sie besaßen einen religiösen oder einen anderen Wert. Ihr Alter war jedenfalls kein Grund. Mit Petrarca begann sich das zu ändern. Zunächst einmal interessierte sich Petrarca nur wenig für Geschichte als dem Bericht von Gottes Handeln gegenüber der Menschheit, auch wenn er ein gläubiger Christ war. Viel wichtiger war, dass er die Vergangenheit untergliederte und in ihr eine Perspektive schuf.3 Nicht alle Zeiten waren demnach gleich, sondern einige sind denkwürdiger gewesen als andere. Dunkle Zeiten wie die 1000 Jahre seit dem Untergang Roms – das heißt seit dem Fall des Weströmischen Reiches im Jahre 476 – könne man demnach ruhig vergessen; andere, wie die klassische Antike, sollten wieder in Erinnerung gerufen und zu neuem Leben erweckt werden. Petrarca war einer der ersten, dem bewusst wurde, dass sich Gegenwart und Vergangenheit voneinander unterscheiden können, und dass ein Abgrund zwischen der eigenen Zeit und der klassischen Antike gähnte. Genau deswegen war er der erste, der dazu aufrief, zur verlorenen Zeit der Antike zurückzukehren. Diesen Standpunkt gegenüber der Vergangenheit beschrieb Petrarca am schönsten in einem Brief an den Franziskaner Giovanni Colonna. Mit diesem guten Freund hatte er 1341 einen Spaziergang durch Rom unternommen, als er sich anlässlich seiner Ehrung in der Stadt aufhielt. Mit jedem Schritt, den sie taten, erinnerten sie sich an eine Episode aus der Geschichte des alten Roms: die Höhle, in der die Wöl38

Petrarca am Abgrund

fin Romulus und Remus gesäugt hatte; der Ort, an dem Cäsar seinen Triumphzug gehalten hatte; die Engelsburg, die ursprünglich das Mausoleum für Kaiser Hadrian gewesen war. Auf ihrer Wanderung kamen sie auch an christlichen Monumenten vorbei, allerdings waren das nur wenige. Petrarca war nämlich auf der Suche nach dem anderen Rom, der verlorenen Stadt, von der nur noch Ruinen zeugten. Als sie ermüdet vom langen Spaziergang auf dem Dach der ehemaligen Diokletiansthermen Rast machten, erläuterte Petrarca seinem Freund, dass die Geschichte Roms aus zwei unterschiedlichen Schichten bestünde: der modernen Zeit, für die sich Colonna besonders interessierte, und der Antike, für die Petrarca schwärmte. Und unter „Antike“ verstand Petrarca „alles, was stattgefunden hat, bevor Christi Name in Rom von den römischen Kaisern gepriesen und angebetet wurde“. So groß sei der Verfall gewesen, dem Rom seit langem ausgesetzt war, dass sogar die Bürger der Stadt nichts mehr vom Ruhm des alten Roms wüssten. Erst müsste ihnen bewusst werden, wie großartig diese Vergangenheit gewesen war, damit wieder Hoffnung auf eine Wiederauferstehung Roms aufkeimen könnte.4 Nach Petrarcas Meinung hatte Roms Verfall schon sehr früh eingesetzt. In einem seiner Gedichte ruft der römische Held Scipio Africanus aus, dass er nicht mehr über Roms Geschichte reden will, seit die Kaiser nicht länger echte Römer sind, sondern Spanier und Afrikaner. Zum ersten Mal geschah dies im Jahre 98 mit der Thronbesteigung des Spaniers Trajan, die für Petrarca das Ende der klassischen römischen Kultur bedeutete.5 Besonders spottete er über Fürsten aus noch späterer Zeit, die glaubten, Nachfolger der römischen Kaiser zu sein. Als er 1333 Aachen besuchte, betrachtete er mit eigenen Augen das Grab Kaiser Karls, eines Mannes, „der die Barbarenvölker noch immer mit Angst und Schrecken erfüllt“ und völlig zu Unrecht den Namen „der Große“ trug, als ob er mit Pompeius oder Alexander auf einer Stufe stünde.6 Auch wenn Karl der Große und seine Nachfolger den Kaisertitel besaßen, mit dem Glanz des alten Roms hätte das alles wenig zu tun: Sie waren nur Barbaren, die sich völlig zu Unrecht für die Erben Roms hielten. In dieser Frage können wir Petrarca mit seinem Landsmann Dante Alighieri vergleichen, der knapp 40 Jahre vorher in der Abhandlung 39

Erste Erkundung

Die Monarchie ebenfalls seine Ansichten über das Römische Reich erläutert hatte. Auch Dante war fasziniert von Roms Ansehen und Macht. Die Tatsache, dass Christus in dem Moment geboren wurde, in dem Kaiser Augustus die ganze Welt unter seiner Herrschaft vereinigt hatte, war für Dante der beste Beweis dafür, dass es schon immer Gottes Willen gewesen war, der gesamten Welt unter der Alleinherrschaft der römischen Kaiser Einheit und Frieden zu schenken.7 Für Dante existierte dieses Reich noch immer, und zwar in demselben Glanz und mit denselben Zielen wie zu seiner Gründung. Die zeitgenössischen Kaiser, wie Heinrich VII. von Luxemburg und Ludwig der Bayer, hätten dieselbe Aufgabe wie Augustus und seien ihm ebenbürtig. Auch Petrarca musste zugeben, dass immer noch so etwas wie ein Römisches Reich existierte und dass es noch einen Deutschen gab, der sich Kaiser nannte. Doch in seinen Augen war das Reich geschwächt und praktisch aufgezehrt von den Barbaren, denen es in die Hände gefallen war.8 Das echte Rom existiere längst nicht mehr. Wo Dante ungestörte Kontinuität sah, eröffnete sich für Petrarca ein tiefer Abgrund zwischen Rom und der Gegenwart, und er konnte nur auf eine Wiederbelebung hoffen. Im Gegensatz zu allen vorangegangenen Generationen, und auch zu Dante, glaubte Petrarca, die Wiedergeburt von Zivilisation und Glück sei hier auf Erden möglich, so dass die Menschen nicht bis nach ihrem Tod im Himmel darauf warten müssten. In dieser Hinsicht war er pessimistischer als die späteren Humanisten, die überzeugt waren, dass Rom durch ihr Dazutun in Ehren wiederauferstanden sei. Er fand, die Welt seiner Tage befinde sich in einem Zustand finsterster Unwissenheit und Barbarei, dürfe allerdings auf glücklichere Zeiten hoffen. Nur müsste zuvor noch eine Menge passieren. Bevor eine Wiedergeburt möglich wäre, müssten die Römer erst selbst ihre eigene Vergangenheit wieder kennenlernen. An erster Stelle wollte Petrarca eine Wiederbelebung der wahren Kultur, träumte jedoch auch von einer politischen Wiedergeburt. Aus seinen Schriften geht nicht klar hervor, welche Form diese politische Erneuerung annehmen sollte. Hierüber hat er in Briefen an Papst Urban V., Kaiser Karl IV. und Cola di Rienzo geschrieben, drei sehr ver40

Petrarca am Abgrund

schiedenartige Personen mit völlig unterschiedlichen Ansichten und Idealen. Beim Papst plädierte er für eine schnelle Rückkehr des päpstlichen Hofes aus Avignon nach Rom, um so die Grundvoraussetzung für ein neues goldenes Zeitalter zu schaffen.9 Den Kaiser rief er dazu auf, Deutschland zu vergessen und so schnell wie möglich nach Italien zu kommen, um in die Fußstapfen des Augustus zu treten. Bezeichnenderweise leitete er seine Hoffnung auf Karl nicht davon ab, dass dieser das Amt des Kaisers bekleidete, sondern von seiner energischen Persönlichkeit und seiner Erziehung als Kind in Italien.10 Der Brief an Cola di Rienzo ist besonders interessant, weil er an einen Mann geschrieben wurde, der nicht nur von der Vergangenheit träumte, sondern 1347 auch einen ernsthaften Versuch unternahm, die römische Republik wiederherzustellen. Petrarca unterstützte ihn bedingungslos und pries ihn als den Mann, der Italien wieder groß machen und allen Skeptikern zeigen könnte, was auch jetzt noch in Rom stecke.11 Petrarca wollte die Wiederherstellung Roms als politischen Mittelpunkt Europas und richtete sich an alle, die ihn dabei unterstützen konnten, ob dies nun der Papst war, der Kaiser oder sogar ein ungebärdiger Idealist wie Cola di Rienzo. Darüber hinaus sollte im Anschluss an Roms Wiederaufbau auch das italienische Vaterland neu erblühen. Diese beiden Dinge gehörten für Petrarca eindeutig zusammen. Es war mit Rom abwärtsgegangen, seit die Kaiser nicht länger Italiener waren. Petrarca hielt Karl IV. für fähig, Rom wieder groß zu machen, weil er eine italienische Erziehung genossen hatte und man ihn deshalb nicht als ausländischen Herrscher bezeichnen konnte: „Selbst wenn die Deutschen Euch für sich beanspruchen, wir betrachten Euch als Italiener.“12 Auch in dieser Hinsicht schlug Petrarca neue Töne an. Seine Sorge galt nicht länger der universellen Christenheit, wie dies noch bei Dante der Fall gewesen war, sondern nur einem kleinen Teil davon: dem italienischen Vaterland. Hier zeigt sich zum ersten Mal so etwas wie ein patriotisches Gefühl, das im späteren Humanismus, und vor allem in dessen Geschichtsauffassung, gewaltigen Einfluss ausgeübt hat. Petrarca ist einer der Begründer dieser neuen Geschichtsauffassung. Seiner Meinung nach wurde das Drama der Geschichte nicht länger von Gott geschrieben, sondern von den Menschen selbst, und 41

Erste Erkundung

zugleich wurden die Epochen der Geschichte nicht länger von Gottes Eingreifen, wie Jesu Geburt, bestimmt, sondern von den Handlungen der Menschen. Demzufolge sah Petrarca im klassischen Rom bis zur Regierung Trajans ein goldenes Zeitalter und anschließend eine Periode der Finsternis, die bis in seine eigene Zeit reichte. Doch er gewahrte Licht am Horizont, auch wenn er nicht richtig erklärte, woher dieses Licht kommen sollte. Zum ersten Mal erkennt man hier die Umrisse einer Dreiteilung der Geschichte in alt, mittel und neu, die seit der Renaissance bis heute die Grundlage der europäischen Geschichtsschreibung bildet.13 Petrarca erläuterte diese Dreiteilung sogar, als er in einem seiner gereimten Briefe seiner Hoffnung auf Wiedererneuerung Ausdruck verlieh: „Es gab eine glücklichere Zeit und irgendwann wird wieder eine kommen. Doch in der Mitte, in unserer Zeit, sieht man, wie Niedrigkeit und Schmutz verschmolzen sind.“14 Hier geschah noch etwas anderes, was sich für die Bewertung der Zeit zwischen Roms Untergang und der Wiederbelebung der antiken Kultur als wesentlich erweisen sollte: Die Mitte wurde von Petrarca gleichgesetzt mit Finsternis und Schmutz, eine Assoziation, die sich so tief ins kollektive Gedächtnis Europas eingeprägt hat, dass sie durch alle späteren Jahrhunderte hindurch bis heute in hohem Maße unseren Blick auf die mittlere Periode bestimmt. Obwohl man sich später, vor allem in der Romantik, bemüht hat, die mittlere Periode zwischen Rom und Renaissance neu zu bewerten, ist Petrarcas Urteil noch immer fest in unser Gedächtnis eingebrannt: Das Mittelalter ist finster, schmutzig und barbarisch. Die Auffassungen Petrarcas über den Lauf der Geschichte haben die späteren italienischen Humanisten aufgegriffen. Auch sie verherrlichten das alte Rom und sahen in der Zeit danach nur tiefe Finsternis. Allerdings waren sie viel optimistischer in Bezug auf ihre eigene Epoche, überall sahen sie Anzeichen von Erneuerung. Giovanni Boccaccio schrieb 1372 in einem Brief an Jacopo delle Pizinghe, man erkenne an Dantes und Petrarcas Poesie, dass die Musen aus ihrer Verbannung nach Italien zurückgekehrt seien. Petrarcas Dichterkrönung im Jahr 1341 interpretierte er als den Beginn dieser neuen Blütezeit und zögerte nicht, in diesem Zusammenhang Vergils berühmte vierte Ecloga zu 42

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zitieren. Darin prophezeite dieser, die Stunde sei nahe, in der „das Kind geboren wird, vor dem das Geschlecht aus Eisen verschwindet und überall das goldene Geschlecht entsteht“.15 Traditionell hatte man dieses Gedicht immer als einen Verweis auf Christi Geburt interpretiert. Wie sehr sich die Geschichtsauffassung Boccaccios und die der Humanisten verschob, zeigt sich daran, dass nicht länger die Geburt des Heilands die neue Zeit einläutete, sondern Petrarcas Erneuerung der klassischen Antike. Im 15. Jahrhundert verstärkte sich dieses Vertrauen sogar noch, vor allem als man 1421 in Lodi ein Manuskript mit drei bislang unbekannten Werken Ciceros entdeckte, der unter allen lateinischen Autoren der Antike allgemein als der beste Stilist galt. Großen Einfluss hatte auch der Zustrom griechischer Gelehrter und griechischer Handschriften aus Konstantinopel, nachdem die Stadt 1453 den Türken in die Hände gefallen war.16 Es schien tatsächlich so, als würde die Antike im Italien des 15. Jahrhunderts wiederauferstehen. In einem Punkt waren die späteren Humanisten zurückhaltender als Petrarca. Den politischen Aspekten der neuen Zeit widmeten sie nämlich kaum Beachtung. Ein Autor wie Leonardo Bruni sah noch einen gewissen Zusammenhang zwischen der Blüte der Literatur und der politischen Freiheit, wie sie in der römischen Republik geherrscht hatte, aber in diesem Punkt fanden seine Ideen wenig Resonanz. Alle Erwartungen einer politischen Wiedergeburt Italiens lösten sich endgültig in Luft auf, als der französische König Karl VIII. 1494 auf der Halbinsel einmarschierte und dort die politische Landkarte gründlich neu ordnete, sehr zum Nachteil der kollegial regierten Stadtstaaten, doch zugunsten fürstlicher Regierungsformen. Selbst Florenz, das Zentrum der antiken Wiedergeburt, verwandelte sich im Laufe des 16. Jahrhunderts von einer von Patriziern gelenkten Stadt in ein Großherzogtum unter der straffen Führung der Medici. Niccolò Machiavelli war der letzte Humanist, der sich dem Strom der Zeit entgegenstemmte und in der Istorie Fiorentine (1520-1525) aufrief, jeden fremden Einfluss aus Italien zu vertreiben. Nach ihm wurde es still: Die Wiederherstellung der republikanischen Freiheit und die Vereinigung aller italienischen Regionen war eine Vision, die in Italien erst im 19. Jahrhundert wieder aufkommen sollte.17 Von der Bewegung der Renaissance 43

Erste Erkundung

blieb lediglich der kulturelle Aspekt übrig, die Wiedergeburt der antiken Literatur und Kunst. In dieser Form gelangte die Renaissance nach Nordeuropa.

Protestanten und Katholiken Nördlich der Alpen wurde die Renaissance in den Jahren um 1500 begeistert aufgenommen. Auch in Nordeuropa manifestierte sich in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts allmählich in immer größeren Kreisen ein Gefühl des Verdrusses und der Unzufriedenheit mit der bestehenden intellektuellen Bildung, so dass es auch hier zur Ablehnung der unmittelbaren Vergangenheit kam. Obwohl die Forschung in den letzten 20 Jahren herausgearbeitet hat, dass die Kontinuität in Unterricht und Erziehung zwischen Mittelalter und Renaissance tatsächlich viel größer war, als früher angenommen worden war, und die Renaissance nicht länger als Beginn der Moderne gelten kann, steht dennoch fest, dass sich damals viele talentierte, originelle Denker und Dichter nicht länger in der scheinbar steril und nichtssagend gewordenen Weisheit ihrer Vorfahren wiedererkannten.18 Mit dem Aufkommen der Schulen und Universitäten im 12. Jahrhundert hatte man eine Methode aus Frage und Antwort zwischen Lehrer und Schüler entwickelt, mit der man die Schüler in kurzer Zeit in komplizierte wissenschaftliche Probleme einführen konnte. Sie wurde unter dem Namen Scholastik bekannt. Um 1500 hatte diese Methode für viele ihren Glanz verloren, obwohl sie an den Universitäten noch einige hundert Jahre lang in Gebrauch blieb. Allerdings schien sie keine neuen Erkenntnisse mehr hervorzubringen und hatte ihren Wert für die Bildung der Jugend anscheinend verloren. Humanisten wie Desiderius Erasmus ließen kein gutes Haar an den Methoden, mit denen man sie unterrichtet hatte. Die italienische Erneuerungsbewegung verlieh diesem Gefühl der Unzufriedenheit Ausdruck und gab ihm einen historischen Rahmen: Die unmittelbare Vergangenheit war tatsächlich finster und barbarisch. Darüber hinaus boten die Italiener eine klare pädagogische Alternati44

Protestanten und Katholiken

ve: Rückkehr zu den Klassikern. Junge Menschen bräuchten lediglich eine Ausbildung in den bonae litterae (der guten Literatur), in der Sprache Vergils und Ciceros. Dort könnten sie lernen, sich in klarem, reinen Latein auszudrücken, und wer sich hierzu befleißigt hatte, halte alle Instrumente in Händen, um sich zu einem zivilisierten, moralisch hochstehenden Menschen zu entwickeln. Die italienische Renaissance mit ihrer Verehrung der klassischen Antike und ihrer Abwendung von der Mittelperiode wurde darum im Norden begeistert aufgenommen, allerdings beeinflussten zwei Faktoren ihre Rezeption, durch die sich auch die Einschätzung des Mittelalters beträchtlich veränderte.19 Der erste war die Reformation und der zweite ein erwachendes patriotisches Gefühl, das von allen Humanisten im Norden wie im Süden angefacht wurde. Obwohl man auch in Italien mit der Funktionsweise der Kirche unzufrieden war und sogar heftige Reformbemühungen unternahm, wie von 1494 bis 1498 in Florenz unter Führung des Dominikaners Girolamo Savonarola, mündete dies nicht in einer Abspaltungsbewegung, sondern lediglich in Reformen im Rahmen der alten Kirche. In Italien wurde die Reformation im Keim erstickt; das Land blieb katholisch und die Religion war dort nie ein ernsthafter politischer Streitpunkt. Im Norden dagegen rückten Kirche und Glaube in den Brennpunkt des Interesses, als sich nach 1517 herausstellte, dass Luthers scharfe Kritik an der Kirche für die Einheit der mittelalterlichen Christenheit das Ende bedeutete. Zwischen Befürwortern und Gegnern der Reformation entbrannte ein heftiger Streit, in dem auch die mittelalterliche Vergangenheit als Argument hinzugezogen wurde. Daraus resultierte keineswegs eine Bewunderung des Mittelalters, man schätzte es ungefähr so wie Petrarca und die anderen italienischen Humanisten dies taten, doch man benutzte diese Epoche, um in der Debatte die eigene Position zu untermauern. Gewöhnlich geht man davon aus, dass die Reformatoren in der Geschichte dieselbe Dynamik sahen wie die Humanisten, eine Dreiteilung, in der auf die goldene Zeit der ersten christlichen Gemeinde ein 1000-jähriger tiefer Verfall folgte, während dem Priester und Päpste nach der Macht griffen, Aberglaube und Zauberei die Oberhand beka45

Erste Erkundung

men und der wahre Glaube praktisch vom Erdboden verschwand, um erst durch die Predigten der Reformatoren wieder zum Leben erweckt zu werden. Die Renaissance wäre demnach nicht nur ein Wiederaufleben der klassischen antiken Literatur, sondern zugleich auch eine Wiedergeburt der wahren Religion. Das klingt sehr reizvoll, trifft auf die Anfangszeit der Reformation aber nicht zu. Das historische Bewusstsein der Reformatoren unterschied sich kaum von dem des Mittelalters. Seit der Geburt von Christus und der Blüte der ersten christlichen Gemeinde war es demnach nur bergab gegangen. Luther sah seine eigene Epoche nicht als Neuanfang, sondern als Ende aller Zeiten. In einem Brief aus dem Jahre 1530 schrieb er, dass alles vorbei sei, weil das Heilige Römische Reich auf dem letzten Loch pfeife und das Papsttum drauf und dran sei zusammenzubrechen. Unter Karl dem Großen habe es zwar noch ein Aufflackern gegeben, doch das sei von kurzer Dauer gewesen, etwa so wie eine Flamme noch einmal auflodert, bevor sie erlischt. Luther hoffte nur darauf, dass der jüngste Tag schnell kommen möge.20 Gerade dass er und seine Anhänger das unverfälschte Wort Gottes predigten, war für Luther ein klares Zeichen dafür, dass das Ende nahe ist. Schließlich hatte Christus prophezeit, dass kurz vor dem Ende zunächst eine Periode totalen Verfalls kommen sollte, gefolgt von einer kurzen Zeit, in der das Evangelium des Königreiches in der ganzen Welt gepredigt würde. Danach würde das Letzte Gericht abgehalten. Auch in der ersten reformatorischen Geschichtsschreibung stach dieses Bewusstsein eines nahe bevorstehenden Endes hervor. Die Chronik Chronicon Carionis von Johannes Carion, die später von Philipp Melanchthon und Caspar Peucer vollendet wurde, stand noch ganz im Rahmen der traditionellen christlichen Geschichtsschreibung. In ihrem Werk wurde die Geschichte der Menschheit eingeteilt in den Aufstieg und den Niedergang der vier großen Reiche, die Gott nach der Prophezeiung Daniels (Dan. 2) gewollt hat. Den Kirchenvätern Hieronymus und Orosius zufolge waren das nacheinander Babylon, Persien, das Reich Alexanders des Großen und als letztes und größtes das Römische Reich. Im selben Moment, in dem Rom die Herrschaft über die Welt erlangte, wurde auch Christus geboren; und nun, da das Rö46

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mische Reich seinem Ende zugehe, würde Er zurückkehren. Anzeichen dafür seien die gewaltig zugenommene Macht der Osmanen, unter der das Reich fast zusammenbreche, und, wie bei Luther, die Predigt des wahren Evangeliums nach jahrhundertelangem Abfall vom Glauben und Aberglauben.21 Das Mittelalter war bei Carion keine mittlerweile abgeschlossene Periode der Barbarei, sondern erst der Anfang einer Epoche des Verfalls, die jetzt ihren Tiefpunkt erreicht hatte. Nach der festen Überzeugung der ersten Protestanten war die eigene Zeit eine Fortsetzung des Mittelalters, nur eine Stufe schlimmer. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verstärkte sich diese Überzeugung sogar noch, als sich herausstellte, dass die Kirche Roms keineswegs auf dem letzten Loch pfiff, sondern sich von den eingesteckten Schlägen erholte und mit der Gegenreformation sogar einer neuen Blüte entgegenging. Die Art, wie die Katholiken nun wieder Gott herausforderten, bewies um so deutlicher, dass es mit der Welt so nicht länger weitergehen konnte, und ein fürchterliches Gericht bevorstehen musste.22 Eine solche Beurteilung der eigenen Zeit ließ wenig Raum für Interesse an der Vergangenheit, trotzdem empfanden die Reformatoren, insbesondere in der zweiten und dritten Generation, ein immer stärkeres Bedürfnis, ihr Vorgehen historisch zu rechtfertigen. Vor allem wollten sie sich gegen den Vorwurf verteidigen, ihre Interpretation des christlichen Glaubens sei neu und gründe sich nicht auf einer jahrhundertealten Tradition. Ebenso wie in den vorangegangenen Jahrhunderten blieb „neu“ im 16. Jahrhundert ein Schimpfwort. Auch Humanisten wie Petrarca und Erasmus wollten ja nichts Neues, sondern nur die Erneuerung des in Vergessenheit geratenen Erbe Roms. In derselben Richtung argumentierten auch die reformatorischen Geschichtsschreiber: Sie wollten nachweisen, dass in der Reformation nichts anderes geschehen war, als eine Erneuerung der reinen Predigt von Gottes Wort, ein Rückgriff auf das, was Christus selbst, seine ersten Jünger und die Kirchenväter gepredigt hatten. Obwohl das Studium der Bibel theoretisch ausreichen sollte, um das wahre Wort Gottes zu finden, verletzte es die Protestanten, dass die Katholiken ihnen vorwarfen, ihre Lehre sei neu und müsse allein des47

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halb schon ketzerisch sein. Um die Haltlosigkeit dieser Anschuldigungen zu beweisen, taten die protestantischen Historiker etwas Merkwürdiges: Sie übernahmen die Beweisführung ihrer katholischen Gegner, um sie anschließend umzudrehen. Meisterhaft geschah dies in der ersten protestantischen Kirchengeschichte, den dreizehnbändigen Magdeburger Centurien (1559–1574), zusammengestellt von einer Kommission unter der Leitung von Matthias Flacius Illyricus. Nach der katholischen Argumentation – in der Einleitung der Centurien fasste Flacius sie selbst zusammen – war die Kontinuität der Kirche, und zwar hier die ununterbrochene Folge von Päpsten und Bischöfen, die sogenannte apostolische Sukzession, der beste Beweis dafür, dass im 16. Jahrhundert dieselbe Wahrheit verkündet wurde wie zur Zeit Christi und seiner Apostel.23 Diese Kontinuität konnten Flacius und andere Protestanten nicht leugnen, sie konnten hier nur ansetzen. Zunächst wiesen sie nach, dass diese Kontinuität nur eine Aneinanderreihung von Lug und Trug war, eine sich unaufhaltsam verschlimmernde Entartung von Kirche und Papsttum. Doch unter dieser ganzen Verdorbenheit erkannten sie auch eine Kontinuität der Wahrheit. Nie war das Licht des Evangeliums ganz erloschen: Immer wieder hat es in jeder Generation einige gegeben, die die Fackel weitergereicht haben, bis die Wahrheit in Luthers Zeit wieder öffentlich gepredigt werden konnte.24 Flacius meinte, es sei Aufgabe des Historikers nachzuweisen, dass Gott sein Volk in all den Jahren nie verworfen habe. Stattdessen habe es immer eine kleine Gruppe Getreuer gegeben, die dem schändlichen Wucher nicht nur in Wort und Schrift widerstanden, sondern auch bereit waren, mit ihrem Blut von der Wahrheit Zeugnis abzulegen.25 Diese Zeugen waren eben diejenigen, die von der katholischen Kirche als Ketzer verurteilt worden waren: Im 11. Jahrhundert Berengar von Tours mit seiner Auslegung des Abendmahls, im 12. Jahrhundert Pierre Valdès und seine „Armen von Lyon“, die die Priesterkirche verworfen und ihr Leben der Predigt geweiht hatten, sowie um 1400 als unmittelbare Vorläufer der Reformation John Wycliffe, der die Bibel ins Englische übersetzt hatte, und Jan Hus aus Böhmen, der 1415 auf dem Scheiterhaufen für die Wahrheit starb. In dieser Polemik war die 48

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Geschichte des Mittelalters also von großem Interesse, weil sie zeigte, dass es zwischen den Tagen der Urgemeinde und der Reformation einen stetigen Strom an Wahrheitssuchenden gegeben hat, die sich gegen die herrschende Kirche zur Wehr gesetzt haben. Darum verkündete Luther nun gar nichts Neues, sondern predigte lediglich öffentlich, was bereits seit Jahrhunderten im Verborgenen überliefert worden war. Interesse am Mittelalter gab es, wie gesagt, auch in katholischen Kreisen. Auch hier ging es darum, die Kontinuität zwischen der Urkirche und der zeitgenössischen Kirche zu belegen, und dafür war es nötig, das Mittelalter unter die Lupe zu nehmen. Doch während die Protestanten die Kontinuität der wahren Lehre hervorhoben, betonten die Katholiken die Kontinuität des apostolischen Amtes, vor allem das des Papstes als Nachfolger von Petrus.26 Das zeigte sich zunächst im zwölfbändigen Wälzer des Kardinals Cesare Baronio, den Annales Ecclesiastici (1588–1607), die ausdrücklich als Antwort auf Flacius und die Centurien gedacht waren. Mit der Lehre beschäftigte sich Baronio erst gar nicht, sondern beschränkte sich darauf, institutionelle Dokumente aus der Antike und dem Mittelalter zu sammeln und über die Kirchenstruktur zu polemisieren.27 Das Neue an Baronios Werk war, dass er sich als echter Humanist nicht mehr mit überlieferten Geschichten begnügte, sondern die Archive des Vatikans durchforstete, um anhand authentischer Dokumente den Rechtsanspruch des Papstes und der katholische Kirche zu beweisen. Derselbe Respekt vor Dokumenten beseelte auch die kleine Gruppe von Jesuiten, die 20 Jahre später unter der Führung von Jean Bolland und Godefridus Henschenius (Henschen) die Initiative ergriff, eine kritische Ausgabe der Heiligenleben herauszubringen. Das Ergebnis war die berühmte Quellenreihe Acta Sanctorum, deren erste vier Bände 1643 erschienen, und in der alle Heiligen in der Reihenfolge ihrer Gedenktage im Kalender behandelt wurden.28 Diese Ausgabe verursachte einige Unruhe, weil sich rasch herausstellte, dass die meisten alten Heiligengeschichten keiner historischen Kritik standhielten und manche liebgewordenen Heiligen sogar nie existiert hatten. Zum Beispiel gab es den ehrwürdigen Orden der Karmeliten, den der Prophet Elija der Sage nach im 8. Jahrhundert vor Christus auf dem Berg Kar49

Erste Erkundung

mel in Palästina gegründet hatte. Die Bollandisten bewiesen eindeutig, dass der Ursprung des Ordens in Wirklichkeit ziemlich obskur war und in die Zeit der Kreuzüge verwiesen werden musste. Das einzige, was die Bettelmönche mit Elija verband, war die Tatsache, dass beide irgendwann etwas mit dem Berg Karmel zu tun gehabt hatten, allerdings mit einem zeitlichen Abstand von etwa 2000 Jahren. Dies führte zu großem Ärger mit der Inquisition und es dauerte 20 Jahre, bis eine Lösung gefunden worden war.29 In Frankreich bildete sich im 17. Jahrhundert eine ganz ähnliche Initiative. In Paris versammelte sich eine Gruppe gelehrter Benediktiner in der Abtei Saint-Germain-des-Prés und begann, Dokumente zu sammeln, anfangs vor allem solche mit einem Bezug zur Geschichte ihres eigenen Ordens, später aber auch solche zur religiösen wie weltlichen Geschichte ganz Frankreichs. Der angesehenste Gelehrte dieser Gruppe war Jean Mabillon, berühmt vor allem durch seine Abhandlung De re diplomatica aus dem Jahre 1681, in der er die Grundlagen für eine wissenschaftliche Quellenkritik gelegt hatte.30 Viele Quellenausgaben dieser Gruppe sind so hervorragend, dass auch heute kaum Anlass besteht, sie zu überprüfen, und deshalb sind sie immer noch unersetzlich für jeden, der sich mit mittelalterlicher Geschichte beschäftigt. Sowohl die Arbeit dieser Benediktiner als auch die der Bollandisten hat viel zu unserem Wissen über das Mittelalter beigesteuert, vor allem durch die Erschließung neuer Quellen. Ihre Publikationen gaben diese gelehrten Mönche jedoch nicht heraus, weil das Mittelalter sie als Epoche faszinierte oder weil sie darin ein Vorbild für ihre eigene Zeit sahen. Sie wollten die katholische Vergangenheit von frommen Geschichten und Legenden befreien, um so die Wahrheit des Glaubens noch triumphierender erstrahlen zu lassen. Auf diese Weise konnten sie unablässig darauf pochen, dass sich einzig und allein die römischkatholische Kirche durch all die Jahrhunderte seit Christus nie verändert hatte. Jacques-Bénigne Bossuet, Bischof von Meaux, Vertrauter Ludwigs XIV. und Erzieher des französischen Thronfolgers Ludwig, besser bekannt als Le Grand Dauphin, hat diese Einstellung eindringlich beschrieben. Mit Interesse verfolgte Bossuet die Arbeit der Bene50

Protestanten und Katholiken

diktiner von Saint-Germain. Viele ihrer Veröffentlichungen standen in seiner Bibliothek und er verwendete ihre Ergebnisse wiederholt in seinen eigenen Büchern, wenn auch meist ohne Quellenangaben.31 In seiner Studie über die neuere Geschichte der protestantischen Kirchen, Histoire des variations des églises protestantes (1688), widmete er so einen ganzen Band den Waldensern und den Katharern. Dies waren zwei mittelalterliche Sekten, die die Protestanten als ihre Vorläufer betrachteten. Genüsslich veranschaulichte Bossuet, dass diese beiden Gruppen Lehren verkündet hatten, die den Ansichten des Protestantismus widersprechen. Ebenso wie die Manichäer, die schon Augustinus von Hippo bekämpft hatte, glaubten die Katharer an eine vollkommene Trennung von Körper und Geist, während die Waldenser, die Anhänger von Valdès, zum Sakrament der Eucharistie dieselben Ansichten vertraten wie die Katholiken.32 Die Protestanten mussten die Geschichte dieser beiden Gruppen verfälschen, um behaupten zu können, es handele sich dabei um Vorläufer. Anscheinend brauchten sie diesen mageren Trost.33 Die katholische Kirche kam ohne solche Verdrehungen der Wahrheit aus, weil sie immer nur lehrte, was sie empfangen hatte, ohne daran je etwas zu verändern.34 Dies war tatsächlich das einzige, was Bossuet am Mittelalter interessant fand, nämlich dass sich in diesen 1000 Jahren an den Überlieferungen der alten Kirche nichts verändert hatte. Ansonsten verachtete er diese Epoche, so wie jeder humanistisch Gebildete. Obwohl die Kirche ihre Lehre rein bewahrt hatte, hatten die Christen im Mittelalter nicht nach ihr gelebt, und dadurch waren sie mitverantwortlich für die Katastrophe der Reformation. Auch die mittelalterlichen Päpste schätzte Bossuet nicht besonders: Sie hatten sich viel zu sehr mit Politik beschäftigt, statt sich weise auf ihre geistliche Aufgabe zu beschränken, ein Vorwurf, den Voltaire 100 Jahre später übernahm.35 Auf der Suche nach inspirierenden Vorbildern sollten die Katholiken lieber das Zeitalter der Kirchenväter studieren und sich in die Schriften des Augustinus oder des Ambrosius von Mailand vertiefen, statt sich mit dem Mittelalter zu beschäftigen. Bossuets Haltung war typisch für die Mehrheit der gebildeten Katholiken: Das Mittelalter bildete unbestreitbar einen 51

Erste Erkundung

Teil der Kirchengeschichte, allerdings keinen, mit dem man sich gern beschäftigte. Im Gegenteil, ein wichtiger Teil im Programm der Gegenreformation bestand ja gerade darin, alle Missbräuche, die sich im Laufe des Mittelalters ins Kirchenleben eingeschlichen hatten, wieder auszumerzen und zur Reinheit des christlichen Altertums zurückzukehren. In diesem Sinne stimmte die Einschätzung des Mittelalters sowohl bei den Katholiken als auch bei den Protestanten ziemlich genau überein, nur dass die Protestanten daraus viel radikalere Schlüsse zogen.

Patriotisches Gefühl Es gibt noch einen zweiten Grund dafür, warum die Renaissance im Norden zu einer anderen Bewertung des Mittelalters kam als in Italien. Das Aufkommen territorialer Staaten und das damit verbundene Aufkommen eines ersten patriotischen Bewusstseins nördlich der Alpen warf nämlich ganz andere Fragen und Probleme auf, sowohl politischer als auch kultureller Art.36 Das 16. und 17. Jahrhundert waren die Zeit, in der die Fürsten versuchten, die Unabhängigkeit des Adels, der Kirche und der Städte zu beschneiden, um mächtige, zentral regierte Staaten zu etablieren, beispielsweise in England unter Führung der Tudors und Stuarts, oder in Frankreich unter den Valois und Bourbonen. Dies führte nicht nur zu Gewaltexzessen und Krieg, sondern auch zu heftigen Debatten über die Legitimität dieser Veränderungen in der Regierungsstruktur. Adel, Kirche und Städte beriefen sich auf alte, ihnen verliehene Privilegien, die Fürsten auf den heiligen Charakter ihres Amtes, das sie verpflichtete, die für alle Untertanen bestmögliche Regierungsform zu schaffen. Alle Parteien verteidigten ihren Standpunkt dadurch, dass sie ihn mit endlosen Stapeln historischer Dokumente untermauerten. Und diese Dokumente stammten alle aus dem Mittelalter, als Fürsten, Adel, Kirche und Bürgertum genau die politische und gesellschaftliche Stellung erworben hatten, die sie nun zu verteidigen oder eben zu vergrößern versuchten.37 Für solche Aufgaben brauchte man Historiker einer ganz neuen Art, nämlich den Forscher und Sammler, der sich in die Archive ver52

Patriotisches Gefühl

grub, um anhand von Originalquellen zu belegen, wo das historische Recht lag und wo man dafür Präzedenzfälle finden konnte. Diese Generation gelehrter Forscher, darunter Etienne Pasquier in Frankreich sowie Henry Spelman und Edward Coke in England, hat sehr viel Material aus dem Mittelalter gerettet, erhalten und publiziert. Dennoch muss man betonen, dass diese Forscher zwar ihr Bestes getan haben, die mittelalterlichen Quellen zu erschließen, dies jedoch keineswegs in der Absicht taten, sie zu benutzen, um eine Geschichte des Mittelalters zu erzählen. Sie waren keine Historiker, sondern Juristen, die sich bemühten, eine möglichst zuverlässige Dokumentation zusammenzustellen, um zu verhindern, dass öffentliche Institutionen und Gerichtshöfe aufgrund mangelhafter Unterlagen Fehler begingen. Die Dokumente, die sie zusammentrugen, waren für sie keine historischen Objekte, sondern Teile des gültigen Rechtssystems, das bis zur Französischen Revolution, und in England sogar bis heute, in Kraft blieb. Ihre Veröffentlichungen verfolgten das Ziel, die Stellung des Königs, die Vorrechte des Parlaments oder die Privilegien der Kirche zu verteidigen. Hier erkennen wir also denselben Umgang mit dem Mittelalter wie bei den Bollandisten oder den Benediktinern von Saint-Germaindes-Prés, die mittelalterliche Quellen ja nur publiziert hatten, um die Wahrheit des Glaubens zu verteidigen. Die Zentralisierung der Regierungsgewalt besaß auch eine emotionalere Seite. Die zentralisierenden Staaten stützten sich nicht nur auf politische Macht und auf Rechtsansprüche, sondern auch auf ein erwachendes patriotisches Gefühl. Was hier zuerst kam, Zentralisierung oder patriotisches Bewusstsein, ist kaum noch nachzuvollziehen. Tatsache ist, dass die Loyalität vieler Menschen seit dem späten Mittelalter nicht mehr nur der eigenen Stadt, dem eigenen Dorf oder dem eigenen Kloster galt, auch nicht mehr nur der universellen Christenheit, selbst wenn beide wichtig blieben, sondern einer dazwischen liegenden Ebene, die man am besten als die des Territorialstaates umschreiben kann. Die Humanisten haben das patriotische Gefühl stark angefacht, für sie war der Stolz auf das eigene Vaterland mindestens ebenso wichtig wie die Bewunderung der klassischen Antike.

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Erste Erkundung

Auch in diesem Punkt traten im Norden größere Probleme auf als in Italien. Italienische Humanisten konnten in einem Atemzug sowohl die Antike als auch das Vaterland rühmen. Die Antike war zugleich Italiens glorreiche Zeit, und sie zurückzuholen würde Italien wieder den ersten Platz unter den Völkern einräumen. Hier hatte Petrarca den Italienern den Weg gewiesen. Das Mittelalter hatte Italiens Ruhm nicht gemehrt, ihm eher geschadet, zumindest sahen die Italiener des 16. Jahrhunderts das so. Dagegen waren die Länder des Nordens in der Antike völlig unbedeutend. In den Schriften der antiken Autoren tauchten die nördlichen Länder und Völker kaum auf, es sei denn als Barbaren, die Rom Beute und Sklaven lieferten. So gut es irgend ging, bemühten sich die Humanisten aus dem Norden, die Geschichte der Antike auch für ihre Länder relevant zu machen, was eine Reihe recht komischer Rekonstruktionen der Vergangenheit ergab.

Kaiser und Papst In Deutschland und den Niederlanden gab es nur eine Möglichkeit, die eigene Geschichte mit der klassischen Antike anfangen zu lassen, nämlich die Auswertung der äußerst spärlichen Angaben, die sich in den römischen Quellen über die Germanen fanden. Schließlich bewohnten sie in der Antike jenes Gebiet, das später die Niederlande und Deutschland umfassen sollte. Tacitus war der einzige antike Autor, der sich etwas ausführlicher mit den alten Germanen beschäftigt hatte. In den Annales hatte er dem germanischen Anführer Arminius (in Deutschland später irrtümlich Hermann genannt) breiten Raum gewidmet. Dieser hatte im Jahre 9 völlig unerwartet ein großes römisches, von Varus geführtes Heer vernichtend geschlagen. Nach den Angaben von Tacitus geschah dies im Teutoburger Wald. In den Historiae berichtete er ausführlich vom gefährlichen Aufstand des Häuptlings der Bataver, Julius Civilis, während der politischen Wirren nach Neros Tod im Jahre 68. Und in seinem Aufsatz Germania, der die Geschichte und Sitten der Germanen behandelte, verglich er die Reinheit und Einfachheit dieser Naturvölker mit der überzivilisierten Dekadenz Roms. 54

Kaiser und Papst

Für die Humanisten im Norden waren das drei schöne Punkte, mit denen sie auftrumpfen und ihren italienischen Kollegen vorhalten konnten, dass die Germanen den Römern in mancher Hinsicht weit überlegen gewesen sind. Ein hübsches Beispiel für diesen Standpunkt ist die Monographie des deutschen Humanisten Ulrich von Hutten über Arminius, 1529 postum veröffentlicht. In diesem Buch besang er Arminius als großen Kriegshelden der Germanen und als den ersten Retter des deutschen Vaterlandes.38 Sein Lobgesang wurde zum Ausgangspunkt eines Personenkultes um diesen Häuptling, der seinen Höhepunkt 1875 erreichte, als Kaiser Wilhelm I. am – vermeintlichen – Ort der Schlacht das gewaltige Hermannsdenkmal einweihte. In den Niederlanden konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Humanisten auf das Volk der Bataver, das Tacitus zufolge eine Insel in der Rheinmündung bewohnt hatte. Obwohl unter niederländischen Humanisten wie Erasmus von Rotterdam und dem Gelehrten Gerhard Geldenhauer aus Nimwegen ein heftiger Streit über die Frage ausbrach, wo diese Insel nun genau lag, ob damit Holland gemeint war oder die Betuwe, waren sich alle darin einig, dass diese von Tacitus für ihre Tapferkeit und Treue gerühmten Bataver die Vorfahren der heutigen Bewohner der Niederlande sein mussten.39 Als sich die niederländischen Provinzen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegen den König von Spanien erhoben, erhielt der Aufstand des batavischen Anführers Julius Civilis gegen die Römer eine besondere Bedeutung. Zeigte sich daran nicht, wie sehr Unabhängigkeitsbestreben und Widerstand gegen fremde Tyrannei das niederländische Volk schon von jeher ausgezeichnet hatten? Damit war der Grundstein für einen historischen Mythos gelegt, der sich in den niederländischen Schulbüchern bis ins 20. Jahrhundert hinein erhalten hat. Doch egal wie sehr sich die Humanisten des Nordens bemühten, alle spärlichen Angaben über die Germanen und Bataver in der antiken Literatur auszuwalzen, unbestreitbar blieb, dass über diese alten Völker kaum etwas bekannt war. Darum mussten Gelehrte, die sich mit der Vergangenheit des Vaterlandes beschäftigten, auch die Geschichte der eigenen Provinzen nach der Antike unter die Lupe nehmen. Das war unvermeidlich. In dieser Zeit waren die Provinzen ja entstanden, 55

Erste Erkundung

und damals hatte das eigene Volk bewunderungs- und nachahmenswerte Taten vollbracht, über die man unbedingt schreiben musste. In den deutschen Ländern konnte man ziemlich leicht eine Verbindung zwischen der antiken und der mittelalterlichen Vergangenheit herstellen. Außerdem empfand man den Übergang auch kaum als schmerzhaft. Schließlich besaß der deutsche König seit der Kaiserkrönung Ottos I. im Jahre 962 – nach Ansicht vieler schon seit Karl dem Großen – gesetzmäßig Anspruch auf das Amt des römischen Kaisers. Er war der Nachfolger von Augustus und Konstantin dem Großen, und dadurch war Deutschland der direkte Erbe des Römischen Reiches, nicht Italien oder die Stadt Rom. Seit dem Tod Friedrichs II. im Jahre 1250 besaß die Macht des Kaisers zwar nur noch wenig Einfluss auf das politische Spiel im Deutschen Reich, dennoch blieb das Prestige des Kaisertums gewaltig, auch im 16. und 17. Jahrhundert unter Kaisern wie Karl V. oder später Rudolf II. Die Deutschen jeder Konfession und Strömung waren stolz darauf, dass ihr Fürst der Kaiser war, und dass sie dadurch am Ruhme Roms teilhaben konnten. Darum empfand man auch das Mittelalter in Deutschland viel weniger als in Italien als einen Bruch mit der Antike, so dass die Deutschen die Geschichte des Mittelalters als Verlängerung der Antike behandeln konnten. Dieses Bewusstsein einer Kontinuität zeigt sich unter anderem daran, dass die deutsche Geschichtsschreibung die mittelalterliche Vier-Reiche-Lehre noch in der Renaissance und sogar bis ins 18. Jahrhundert hinein als historisches Schema benutzte, während diese Einteilung im übrigen Europa schon längst außer Gebrauch war. Nach der mittelalterlichen Auffassung war das Römische Reich überhaupt nicht untergegangen, sondern hatte sich behauptet: Im Osten war die Herrschaft auf die Kaiser des Neuen Roms, Konstantinopel, übergegangen, während sich im Westen zunächst die Franken mit der Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahre 800 zu den Erben der alten Kaiser erklärt hatten. Später waren es dann die Deutschen, seit Otto I. 962 vom Papst in Rom zum Kaiser gekrönt wurde. Im Mittelalter sprach man von der translatio imperii, der Übertragung des Reiches.40 Solange ein deutscher König zum Kaiser gekrönt wurde, existierte das Römische Reich einfach weiter.

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Kaiser und Papst

Diese Sicht auf die deutsche Vergangenheit war eng mit der alten Kirche verwoben. Schließlich waren seit Karl dem Großen alle Kaiser vom Papst gekrönt worden. Darüber hinaus galt der Kaiser neben – oder unter – dem Papst als Oberhaupt der Kirche, eine Funktion, die vor allem Karl V. sehr ernst genommen hat, wie sein hartnäckiger Kampf gegen Protestanten und Türken zeigt. Darum überrascht es auf den ersten Blick, dass sich auch Luthers Anhänger zu dieser Ideologie der Vier-Reiche-Lehre bekannten und sie nicht zusammen mit dem Papsttum auf den Müllhaufen der Geschichte warfen. Dafür kann man einige Gründe nennen. Zunächst waren Luther und seine ersten Anhänger, wie bereits erwähnt, fest davon überzeugt, dass die ganze Geschichte ihrem Ende entgegenging und dass damit natürlich auch das Römische Reich untergehen würde. Darum hatten sie keinen besonderen Bedarf an einem anderen Modell, um die Vergangenheit zu verstehen.41 Der zweite Grund war, dass sie die Reichsideologie auch als historische Waffe gegen den Papst benutzen konnten. Gerade im Mittelalter ist der Kaiser oft der große Gegenspieler des Papstes gewesen, daran erinnerten sich die Reformatoren noch gut. Vor allem auf den Titanenkampf zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. verwiesen die Reformatoren gern, um zu schildern, wie die Päpste schon immer ihre geistliche Autorität missbraucht hatten, um auf Kosten christlicher Fürsten politische Macht zu erwerben. Die Reformatoren machten sich auch auf die Suche nach Dokumenten, die ihren Standpunkt untermauern konnten. Der aufsehenerregendste Fund war das Liber de unitate ecclesiae conservanda (Das Buch über den Erhalt der Einheit der Kirche), ein Pamphlet, das ein Mönch der Abtei Hersfeld 1085 zusammengestellt hatte. Es enthielt einen äußerst scharfen Angriff auf Gregor VII. als den Mann, der die Einheit der Christen zerstört hat. Ulrich von Hutten entdeckte 1519 eine Handschrift dieses Pamphlets in der Abteibibliothek in Fulda (seitdem verloren). 1520 gab er dieses Werk in gedruckter Form heraus und sorgte dafür, dass ein Exemplar dieses Buches auch an Erzherzog Ferdinand von Österreich, einen Bruder Karls V., geschickt wurde, zweifellos um den Kaiser auf diese Weise daran zu erinnern, wo seine Pflicht lag im Konflikt der protestantischen Reichsfürsten mit dem Papst.42 57

Erste Erkundung

Auch in der protestantischen Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts wurde betont, was für eine heilsame Rolle die Kaiser innerhalb der Kirche gespielt hatten. Dies geschah immer im Rahmen der Vier-Reiche-Lehre. Oben wurde bereits erwähnt, dass die Abfolge der vier Reiche in der Chronik von Johannes Carion als deutliches Zeichen für die wohltätige Wirkung von Gottes mächtiger Hand in der Geschichte gedeutet wurde. Ein einflussreicher protestantischer Historiker wie Johannes Sleidanus gab seiner Gesamtdarstellung der Geschichte den Titel De quattuor summis imperiis (Über die vier größten Reiche; 1580), was bereits alles über die Einteilung seines Buches sagt. Unter den Kaisern schätzten die protestantischen Historiker besonders Karl den Großen, Otto I. und Heinrich IV., denen wir bereits begegnet sind, dazu Friedrich II., der als Ideal eines christlichen Fürsten geschildert wurde, weil er sich unermüdlich für Wissenschaft und Kunst eingesetzt hat, vor allem aber wegen seines Kampfes gegen den Papst.43 Für die Protestanten war es ein großes Problem, dass seit Karl dem Großen alle Kaiser vom Papst gekrönt worden waren. Dies war eine unumstößliche Tatsache, aus der die Päpste den Anspruch ableiteten, im Besitz der kaiserlichen Macht zu sein und diese mit der Kaiserkrönung nur auf den deutschen König zu übertragen. Diesen Anspruch unterstützte die berüchtigte Donatio Constantini (Konstantinische Schenkung), eine Proklamation Kaiser Konstantins des Großen, in der dieser verkündete, er habe zum Dank für seine Genesung von einer schweren Krankheit, die er dem Gebet Papst Silvesters verdanke, die weltliche Macht über den Westen des Reiches Silvester und seinen Nachfolgern übertragen.44 Zwar hatte der italienische Humanist Lorenzo Valla schon um 1440 nachgewiesen, dass diese Proklamation lediglich eine Fälschung aus dem 8. Jahrhundert war, trotzdem blieb die Tatsache, dass die Kaiserkrönung durch den Papst nun einmal üblich war und der Papst daraus weiterhin den Anspruch ableitete, über dem Kaiser zu stehen. Dass der Papst den deutschen Fürsten zum Kaiser krönte, war für Luther so problematisch, dass er anfangs dazu neigte, die Bedeutung des Kaisertums zu leugnen und als leere Hülle zu bezeichnen. Später gelangte er zum Schluss, Karl der Große habe das Kaisertum nicht vom 58

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Papst erhalten, sondern man habe es ihm geradewegs aus Griechenland übertragen.45 In seinem Teil von Carions Chronik äußerte Melanchthon die These, bei Karls Krönung sei der Papst lediglich als Vertreter des römischen Volkes aufgetreten, und folgerte daraus, dass es ganz egal sei, wie der Kaiser gekrönt werde, weil letztendlich nicht der Papst, sondern Gott allein, alle Königreiche übertrage und bestätige.46 Mit solchen Kniffen konnten auch die Protestanten künftig das Kaisertum ehren und glauben, das antike Rom, das letzte der vier Weltreiche, würde mittels der translatio imperii sowohl im Mittelalter als auch im zeitgenössischen Deutschen Reich fortleben.47 Erst im 18. Jahrhundert begannen deutsche Historiker und Juristen daran zu zweifeln, ob das antike Rom und das spätere Deutsche Reich tatsächlich so selbstverständlich miteinander verbunden sind, wie man immer vorausgesetzt hatte. Als einer der ersten in Deutschland stellte der Jurist Christian Thomasius fest, dass diese Kontinuität nur eine Fiktion war, und zwischen Antike und Mittelalter in Wirklichkeit eine tiefe Kluft gähnte. Bei seinen Forschungsarbeiten zur Gesetzgebung des Reiches im 18. Jahrhundert stieß er auf das Problem, dass die tatsächliche Staatsstruktur der deutschen Länder kaum etwas mit der antiken römischen Gesetzgebung, wie sie im Codex Kaiser Justinians I. überliefert war, zu tun hatte. Das alte Rom war ein sehr zentral gelenkter Staat, während es sich beim Römisch-Deutschen Reich des 18. Jahrhunderts um eine völlig zersplitterte Ansammlung kleiner Territorien handelte, nur locker zusammengehalten von der Reichsgesetzgebung und den letzten Resten einer kaiserlichen Autorität. Der Ursprung dieser Ordnung konnte nicht im antiken Rom liegen, sondern musste in der deutschen Gesetzgebung und der späteren deutschen Geschichte gesucht werden. Nachdem er sich das einmal bewusst gemacht hatte, war Thomasius gezwungen, die Fiktion einer Kontinuität zwischen dem alten Rom und dem Deutschen Reich aufzugeben: Das waren zwei völlig verschiedene historische Staatsformen, die man unabhängig voneinander sehen musste.48 Die Zäsur zwischen beiden datierte Thomasius um das Jahr 500. Sowohl für die Geschichtsschreibung als auch für das Geschichtsbewusstsein in Deutschland hatte Thomasius’ Entdeckung einschnei59

Erste Erkundung

dende Folgen. Als man erst einmal die Fiktion aufgegeben hatte, die deutsche Gesetzgebung sei eine Fortführung der römischen, stellte sich heraus, dass man über den mittelalterlichen Ursprung der gültigen Gesetzgebung des Reiches praktisch nichts wusste. Dies hatte zur Folge, dass die Geschichtsschreibung völlig neue Methoden entwickelte. Alle existierenden Geschichtswerke konnte man beiseitelegen, weil sie auf der Fiktion einer Kontinuität aufbauten. Doch um eine neue Geschichte zu schreiben, mussten die Historiker erst einmal nach neuen Quellen suchen. Ab 1750 begann man in Deutschland, alle Archive nach Urkunden, Bullen, Privilegien und anderen Dokumenten zu durchforschen, die ein Bild von der Struktur und den Institutionen des mittelalterlichen Deutschen Reiches zeichnen konnten. Dieser Aufbruch der Mediävistik zur Quellenforschung und zur genauen Untersuchung aller Institutionen ist für die deutsche Mittelalterforschung bis heute prägend geblieben. Für das historische Bewusstsein bedeutete dies, dass sich in Deutschland um 1750 eine vorsichtige Neubewertung des Mittelalters vollzog als einer Epoche, die sich grundlegend von der Antike unterschied. Nach und nach dämmerte die Erkenntnis, dass sich die Größe der deutschen Vergangenheit nicht auf der Verbindung mit Rom gründete, sondern auf der Einheit und Macht aller um den Kaiser gescharten deutschen Länder in den Jahrhunderten nach Rom. Deutschland musste sein Selbstbewusstsein gar nicht von Rom ableiten, sondern konnte stolz auf die eigene deutsche Vergangenheit verweisen, um hieraus Inspiration für die Zukunft zu schöpfen. Der Untergang des alten Reiches im Gefolge der Französischen Revolution stärkte dieses Selbstbewusstsein. Der letzte Kaiser, Franz II., wurde am 14. Juli 1792 gekrönt, ein Datum, das der Berliner Zeitung den Kommentar entlockte: „Es ist ein merkwürdiger Umstand, dass die Krönung just am 14. Juli stattfand, an dem Tag, an dem 1789 die Bastille erstürmt wurde.“49 Das war tatsächlich merkwürdig, und 1806 beschloss der letzte römisch-deutsche Kaiser dann auch, die Krone des 1000 Jahre alten Reiches niederzulegen, bevor Napoleon sie für sich beanspruchen konnte.

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Römer, Gallier und Franken

Römer, Gallier und Franken In Frankreich war es im 16. Jahrhundert nicht einfach, die Spannung zwischen der Bewunderung der Antike und dem Stolz auf das eigene Vaterland zu überbrücken. Selbst die eingefleischtesten Verfechter der Monarchie konnten schwer behaupten, dass die Herrschaft der französischen Könige auf die der römischen Kaiser zurückgehe. Auch wenn einige schlaue Juristen gerade dies versuchten und dazu das Argument heranzogen, der französische König sei Kaiser in seinem eigenen Reich. Damit das auch Hand und Fuß hatte, wurde Karl der Große in Frankreich verehrt, und zwar mindestens ebenso sehr wie in Deutschland. Charlemagne, wie sein französischer Name lautet, galt als der größte aller französischen (eigentlich fränkischen) Könige. Und weil in ihm das Kaisertum wiedererstanden war, strahlte etwas von diesem Ruhm auch auf die französischen Könige der folgenden Generationen ab. Natürlich hielt das den Vergleich mit dem Anspruch des heiligen römischen Kaisers in Deutschland nicht stand, auch wenn Jean Bodin in seiner Methodus ad facilem historiarum cognitionem (Methode zum leichten Verständnis der Geschichte; 1566) unumstößlich bewies, dass die Lehre von den vier Weltreichen historischer Unsinn war.50 Eine andere Methode, die französische Monarchie in der klassischen Antike zu verankern, war die Behauptung, dass die französischen Könige von den Trojanern abstammen. Doch auch diesem Versuch wurde im 16. Jahrhundert jede Grundlage entzogen, obwohl diese Legende unter einigen unkritischen Anhängern der Monarchie noch bis ins 17. Jahrhundert hinein die Runde machte.51 Die übliche Methode, die Kontinuität und das hohe Alter des französischen Königtums zu belegen, bestand darin, die Antike beiseite zu schieben und mit dem Einfall der Franken Ende des 5. Jahrhunderts zu beginnen. Der Überlieferung nach hatten von dieser Zeit an drei Geschlechter über Frankreich regiert: Angefangen mit Chlodwig, dem Stammvater der Merowinger, getauft um 496 in der Kathedrale von Reims, in der später alle französischen Könige gekrönt wurden, gefolgt von den Karolingern seit der Machtergreifung Pippins des Kurzen im Jahre 751 und schließlich den Kapetingern, die seit der Thronbesteigung von Hugo Capet im Jahre 987 regierten.52 61

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Dies war natürlich keine befriedigende Lösung in einer Zeit, in der man das Heute vor allem in der antiken Vergangenheit verankern wollte. Darum nahmen die französischen Humanisten Zuflucht zur selben List, die ihre deutschen Kollegen bereits angewandt hatten: Sie suchten in der antiken Literatur nach möglichen Vorfahren der heutigen Franzosen und fanden sie auch in De Bello Gallico (Über den Gallischen Krieg) von Julius Cäsar. Gallier, keltische Stämme, hatten zur Zeit der römischen Eroberung das Gebiet des heutigen Frankreichs bewohnt. Diese Entdeckung brachte einige Probleme mit sich. Im Gegensatz zu den Germanen, die Tacitus wegen ihrer Tapferkeit und Tugend in den Himmel gelobt hatte, gehörten die Gallier zweifelsfrei zu den Verlierern der Geschichte. Jeder kannte die Beschreibung der Niederlage des Vercingetorix. Dieser Anführer des gallischen Widerstandes gegen die Römer musste seine Waffen nach der Belagerung von Alesia im Jahre 52 v. Chr. dem triumphierenden Cäsar zu Füßen legen. Darüber hinaus hatten die Gallier 500 Jahre später auch noch eine schmähliche Niederlage gegen die Franken erlitten, durch die sie endgültig zu Hörigen auf den Landgütern ihrer germanischen Herren wurden. Wie Guillaume du Bellay in seiner Épitome de l’antiquité des Gaules et de France (1556) zugeben musste, hatten die Gallier tatsächlich gegen die Römer verloren, zugleich verwies du Bellay jedoch auf ihre Freiheitsliebe, die so groß war, dass viele von ihnen lieber Selbstmord begingen, als sich unter das römische Joch zu beugen. Dadurch konnten sie ihren heutigen, freiheitsliebenden Nachfahren immer noch als Vorbild dienen.53 Mit der Niederlage gegen die Franken verhielt es sich weitaus schwieriger. Die französischen Könige galten als Nachfolger des Frankenkönigs Chlodwig. Musste man hieraus schließen, dass 1000 Jahre lang fremde Tyrannen das französische Volk regiert hatten? Zu dieser Schlussfolgerung kam man tatsächlich im späten 18. Jahrhundert, doch im 16. Jahrhundert war sie noch undenkbar. Der furchtbare Religionskrieg, der Frankreich nach 1560 erfasste, ließ eine so aufwieglerische Formulierung nicht zu. Ganz im Gegenteil suchten überall in Frankreich gerade die engagiertesten Intellektuellen, les politiques, nach einem Weg, die kämpfenden Parteien miteinander zu versöhnen, und vermieden es, die Autorität des Königs in ein schlechtes Licht zu 62

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stellen, weil das die Unruhe nur vergrößert hätte. Sie bemühten sich also, den Gegensatz zwischen Franken und Galliern möglichst zu verringern, am besten ganz aufzuheben, und stattdessen zu belegen, dass Frankreich in der Vergangenheit eine Einheit gewesen sei und nun wieder eine werden solle. Hierzu ging Jean Bodin davon aus, dass die Franken Kelten waren, die in einer früheren Phase der Geschichte nach Osten ausgewandert und im 5. Jahrhundert zurückgekehrt waren, um ihren gallischen Brüdern nach dem Abzug der Römer militärischen Beistand zu leisten. Der Calvinist François Hotman, dessen Bild von der französischen Vergangenheit vom Massaker an den Protestanten in der Bartholomäusnacht vom 23. auf den 24. August 1572 geprägt war, wollte in seiner Franco-Gallia (1574) belegen, dass Frankreich im Laufe seiner langen Geschichte nur in Zeiten mit einer eingeschränkten Monarchie einig und stark gewesen sei. Bis zur römischen Eroberung hatten die alten gallischen Stämme ihre Könige gewählt und sie jedes Jahr im Stammesrat zur Verantwortung gezogen. Unter der römischen Zwangsherrschaft verschwand diese Freiheit, wurde aber von den Franken wieder eingeführt, die sich ebenfalls von jeher als freie Männer um ihren gewählten König geschart hatten. In ihrer Freiheitsliebe und ihrer Ablehnung der römischen Tyrannei fanden diese beiden Gruppen zusammen.54 Leider gelangte Frankreich im 16. Jahrhundert wieder unter den Einfluss des römischen Rechts und verlor dadurch seine Neigung zur gallisch-fränkischen Freiheit. Hotmans Meinung nach hieß es also Barbaren gegen Römer, nicht Germanen gegen Kelten. Der letztere Gegensatz wurde erst im 18. Jahrhundert wieder aufgegriffen, als sich die Franken gegen die absolute Monarchie erhoben. In seinem Buch sprach Hotman noch ein weitaus größeres Problem an, das in Frankreich im Laufe des 16. Jahrhunderts sehr viele Menschen beschäftigt hat. Nämlich ob die klassische Antike wirklich in jeder Beziehung als Vorbild für die Gegenwart dienen kann, eine Frage, die sich die Deutschen erst im 18. Jahrhundert stellten. Es sah sogar so aus, als sei eine Rückkehr zur Antike unvereinbar mit den tatsächlichen Interessen des französischen Staates. Die absolute Monarchie, die dem römischen Kaisertum nachgebildet war, führte zur Ermordung 63

Erste Erkundung

aller, die nicht der Konfession des Königs anhingen. Doch auch das vielgepriesene römische Verwaltungsrecht schien in immer größerem Widerspruch zur juristischen Wirklichkeit zu stehen. Die französischen Rechtshistoriker des 16. Jahrhunderts waren mit dem praktischen Problem konfrontiert, dass in Südfrankreich das geschriebene Recht galt, im Norden hingegen das mittelalterliche Gewohnheitsrecht. Allein schon dieser Unterschied zwang sie, beide zu untersuchen. Als wahre Humanisten zogen sie das römische Recht vor und wollten bis zu seinen Quellen vordringen, in der festen Überzeugung, man müsse nur die reinen Texte freilegen, dann würde sich die Relevanz dieses Rechts für die Gegenwart und zugleich die Rückständigkeit des Gewohnheitsrechts von selbst ergeben. Stattdessen entdeckten sie jedoch, dass der Codex Justinianus, die Grundlage für jedes Studium der Rechte, überhaupt nicht der juristische Blaudruck der idealen Gesellschaft war, für den man ihn immer gehalten hatte, sondern ein ziemlich buntes Sammelsurium aller möglichen Gesetze und Vorschriften aus unterschiedlichen Epochen der römischen Geschichte. Auch hier war es Hotman, der nachwies, dass Rom nicht als Vorbild dienen konnte: „Justinians Bücher enthalten weder vom demokratischen Staat, noch vom wahren Römischen Reich oder von Konstantinopel irgend eine vollständige Beschreibung, statt dessen sind sie lediglich ein Sammelsurium verschiedener Bruchstücke und Fragmente aller drei.“55 Nur durch verdrehte Interpretationen gelang es, diese Bruchstücke für die juristischen Probleme der eigenen Gesellschaft relevant zu machen. Allerdings war das eine unangemessene Methode, von den französischen Juristen abschätzig verworfen als mos italicus, die italienische Gewohnheit – mit anderen Worten schlecht. Sie selbst behandelten die römische Gesetzgebung nicht länger als großes Ganzes, sondern versuchten, die einzelnen Teile in den Kontext ihrer Entstehung zu stellen. Dadurch verlor ein großer Teil des römischen Rechts seine Relevanz; schließlich ist es ja in einer Zeit entstanden, in der Rom eine Republik oder ein heidnisches Kaiserreich war. Frankreich war hingegen eine christliche Monarchie. Die unvermeidliche Schlussfolgerung war, dass große Teile des römischen Rechts für Frankreich eher geringe Bedeutung besaßen, während das mittelalter64

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liche Gewohnheitsrecht weitaus bessere Antworten auf die reale Situation in Frankreich lieferte als das justinianische Recht.56 Ein schönes Beispiel für diesen Gesinnungswandel war die Frage nach dem Ursprung des Feudalismus. Hier handelte es sich nicht um ein rein theoretisches Problem, sondern um eine Frage von höchster politischer Tragweite: Bis 1650 war, abgesehen von der Religion, die Beziehung zwischen König und Adel das brisanteste Problem des französischen Staates. Erst unter den Regierungen der Kardinäle Richelieu und Mazarin, der Ersten Minister Ludwigs XIII., wurde der französische Adel wirksam der Kontrolle der Zentralverwaltung unterworfen. Die juristische Diskussion konzentrierte sich auf die Libri feudorum, eine Sammlung rechtlicher Regeln zum Lehnswesen, die man in Italien um 1200 in den Korpus des römischen Zivilrechts aufgenommen hatte. Die Frage war nun, ob dieses Regelwerk des Feudalismus römischen Ursprungs war oder nicht. Konnte man sie zustimmend beantworten, hatte man die Relevanz und den einzigartigen Wert des römischen Rechts für alle Zeiten bewiesen. Doch sollte sich herausstellen, dass die Römer den Feudalismus gar nicht gekannt hatten, würde dies die Bedeutung des römischen Rechts gewaltig relativieren. Guillaume Budé, einer der ersten französischen Juristen, der sich mit dieser Frage beschäftigt hat, neigte dazu, die Beziehung zwischen Patron und Klienten in der römischen Gesellschaft als eine Vorstufe des Treuebandes zwischen Lehnsherr und Lehnsmann zu betrachten.57 Andere verteidigten den römischen Ursprung der Libri feudorum mit dem philologischen Argument, das Wort feodum (Lehen) stamme direkt von den antiken Begriffen fides und fidelitas (Treue und Treuepflicht) ab. Ein oft hinzugezogener Beleg war auch der Hinweis in den Libri, dass die darin aufgenommenen Gesetze auf das allerälteste Recht (jus antiquissimum) zurückgingen. Welches sollte das sein, wenn nicht das römische? Gegen einen römischen Ursprung der Libri feudorum sprach zunächst einmal die Sprache, die so barbarisch war, dass sie nicht römisch sein konnte. Ein starkes Argument, für das alle Humanisten sehr empfänglich waren. Charles Dumoulin baute das Sprachargument weiter aus und zeigte auf, dass Wörter wie „Lehen“ oder „Vasall“ im römischen Recht nirgendwo vorkommen. So kam er zu der 65

Erste Erkundung

Schlussfolgerung, dass man den Ursprung des Lehnswesens in der Tradition der alten Franken suchen muss, von denen die heutigen Franzosen abstammen. Mit anderen Worten war das Lehnswesen rein französischen Ursprungs und konnte nur über das französische Gewohnheitsrecht untersucht werden, nicht über das römische, das nur Verwirrung gestiftet hat. Ebenso wie über den Ursprung des Feudalismus kam es zu hitzigen Debatten über die Stellung des Königs und den Rang der Kirche in Frankreich. Egal welchen politischen Standpunkt sie sonst einnahmen, als sich die Juristen mit diesen Fragen beschäftigten, wurde ihnen ebenfalls rasch klar, dass sie die Grundlagen dafür nicht im antiken römischen Recht, sondern in der mittelalterlichen Rechtspraxis auf eigenem Boden suchen mussten. Noch viel größer als das Prestige des römischen Rechts war die Bewunderung der klassischen Literatur. Im 16. Jahrhundert waren sich in Frankreich alle darin einig, dass nichts und niemand an die Sprachgewalt von Cicero, Vergil, Tacitus, Livius und all der anderen antiken Autoren heranreichen kann. Auch jemand, der auf Französisch schrieb, sollte sich möglichst eng an die antiken Vorbilder halten, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Der Dichter Pierre de Ronsard, der die Leistung vollbracht hatte, die ganze Ilias in nur drei Tagen auf Griechisch zu lesen, konnte in einem seiner Gedichte erklären, dass alle Franzosen, die seine Gedichte verstehen wollten, zugleich auch Griechen und Römer sein müssten, weil sie sonst nur ein totgeborenes Kind in Händen hielten.58 Zugleich wurde die mittelalterliche französische Literatur maßlos verachtet. François Rabelais sprach von den unglücklichen, unseligen Goten, die jede gute Literatur vernichtet haben.59 Im 17. Jahrhundert änderte sich dieses Verdikt nicht. Nicolas Boileau stellte in seiner Art poétique (1674) einen Katechismus des guten Geschmacks zusammen, der bis weit über Frankreichs Grenzen hinaus großen Einfluss ausübte. Darin bestimmte er, dass sich jede gute Literatur am Vorbild der antiken Klassiker orientieren sollte. Und gemessen an diesem Kriterium könne man vor dem Dichter François Villon, der im 15. Jahrhundert zum ersten Mal Ordnung in das mittelalterliche Chaos gebrachte hat, nicht von französischer Literatur sprechen.60

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Daneben gab es in Frankreich jedoch auch eine Unterströmung, bei der die mittelalterliche französische Literatur Anklang fand, natürlich nicht in den tonangebenden Pariser Kreisen, in denen der Klassizismus übermächtig war und bis ins 18. Jahrhundert hinein auch blieb. Doch in der Provinz blieben die großen Geschichten aus dem Mittelalter auf einem etwas niedrigeren Niveau äußerst populär. Hier bildeten sie weiterhin die Grundlage für eine Weltanschauung, die vom Klassizismus der intellektuellen Oberschicht anscheinend nicht besonders beeinflusst wurde. Dies zeigt unter anderem der Erfolg der Bibliothèque bleue, einer Reihe kleiner, billiger Bücher, die seit dem späten 16. Jahrhundert von Troyes – nicht von Paris – aus über ganz Frankreich verbreitet wurden. In diesen broschierten Schriften offenbart sich eine Welt von Zwergen und Riesen, Mönchen und Einsiedlern, Rittern und Kreuzfahrern, die sich in nichts von der Vorstellungswelt des Mittelalters unterschied. Besonders beliebt waren Ausgaben alter Geschichten über Karl den Großen und seine Paladine Roland, Huon und Ganelon sowie über die Kreuzzüge als Höhepunkt im ewigen Kampf der Christenheit gegen die Heiden.61 Auch in höheren Kreisen war entgegen aller rigorosen Forderungen des Klassizismus ein erstes, zögerliches Interesse an der französischen Literatur des Mittelalters zu erkennen. Hier läge die Annahme auf der Hand, das fortbestehende Interesse des lesenden Teils der Bevölkerung an diesen fernen Jahrhunderten habe die intellektuelle Elite unwillkürlich beeinflusst, wahrscheinlicher ist jedoch, dass dies eher etwas mit dem Stolz auf König und Vaterland zu tun hatte. Dieser verlangte nämlich, dass die ganze französische Vergangenheit ruhmreich sein müsse, nicht nur ein Teil davon. Wenn die französische Literatur tatsächlich erst mit Villon angefangen hätte, wie Boileau behauptete, würde dies zugleich bedeuten, dass sich große Fürsten wie Philipp II. August und Ludwig der Heilige in einem barbarischen Jargon ausgedrückt haben, was ihre Ehre beflecken würde. Der Jurist Etienne Pasquier, der so viel geleistet hat, um das alte französische Recht zu bewahren und zu veröffentlichen, hat sich auch mit der mittelalterlichen Literatur beschäftigt. Zwar beurteilte er sie viel zurückhaltender als das Recht, dennoch schätzte er sie in gewisser 67

Erste Erkundung

Weise. Auch er bezeichnete das mittelalterliche Latein durchweg als barbarisch und ließ als einzige Ausnahme nur Einhard, den Biographen Karls des Großen, gelten. Selbst das lag vielleicht mehr an Karls Größe als an der Reinheit von Einhards Sprache. Für das Französisch seiner eigenen Zeit, des 16. Jahrhunderts, hatte Pasquier nur Lob übrig, obwohl er zugeben musste, dass es unmöglich war, mit der Sprache der antiken Autoren gleichzuziehen. Daneben lobte er jedoch auch die französische Sprache und Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Er sprach sogar von einer Blütezeit der Literatur in den Tagen Philipp Augusts und Ludwigs des Heiligen. Trotzdem musste Pasquier zugeben, dass das Niveau damals bedeutend niedriger war als zu seiner Zeit, weshalb es ihn große Mühe gekostet hatte, diese alten Geschichten zu übersetzen.62 Im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossen betrachtete er die mittelalterliche Literatur nicht als Antithese zur modernen Dichtkunst, sondern als ihren Vorläufer. Diese schwache Strömung gegen den vorherrschenden Trend wurde im 17. Jahrhundert von Jean Chapelain fortgesetzt. Obwohl man ihn mit Boileau zu den großen Wortführern des Klassizismus rechnen muss, entwickelte Chapelain nebenbei ein überraschendes Interesse an der mittelalterlichen Literatur. In einem Brief an einen Kollegen gab er zu, er habe den großen Lancelot-Roman durchgeackert und schließlich festgestellt, dass er diese Erfahrung als nicht einmal allzu unangenehm empfunden hätte.63 Anscheinend hatte dies sein Interesse am Mittelalter so sehr geweckt, dass er eine kurze Abhandlung über alte Geschichten schrieb, De la lecture des vieux romans (Von der Lektüre alter Romane; um 1647), in der er erläuterte, wie man an alte französische Literatur herangehen sollte. Natürlich kann er nicht umhin, den alten Lancelot-Roman mit den antiken Klassikern zu vergleichen. Dieser Vergleich fällt alles andere als vorteilhaft aus: Der Autor des Romans ist ein Barbar, der die verrücktesten Wundergeschichten erzählt und anscheinend außerstande ist, eine klare Linie in seine Erzählung zu bringen. Insofern wiederholt Chapelain die üblichen Ansichten seiner Zeit. Doch dann geht er einen Schritt weiter und vergleicht den Lancelot-Roman mit Homers Werk. Dabei stellt er fest, dass zwischen Helden wie Achill und Lancelot gar kein so großer Unterschied 68

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herrscht. Ebenso wie die in der Ilias und der Odyssee aufgezeichneten Mythen, Fabeln und Göttergeschichten die Grundlage für die spätere griechisch-römische Kultur bilden, wurden die primitiven Geschichten im Lancelot-Roman zur Grundlage für die spätere Blüte der französischen Literatur. Chapelain leugnet also nicht den barbarischen Charakter der mittelalterlichen Literatur und stößt sich dabei vor allem an der Sprache. Doch durch den Hinweis darauf, dass auch die antike Kultur ein ähnlich primitives Stadium durchlaufen habe, rechtfertigt er sein Interesse an dieser frühesten Epoche von Frankreichs Größe, die er keineswegs ausklammert, sondern auf die er sich beruft, indem er sie unsere moderne Antike nennt.64 Dadurch wird die mittelalterliche französische Literatur zu einem unumstößlichen Bestandteil von Frankreichs Erbe, ebenso wie die antike Kultur ohne Homer undenkbar wäre. Im 18. Jahrhundert sollte Thomas Blackwell denselben Kunstgriff auch in England anwenden. Dennoch bildeten Pasquier und Chapelain selbst mit ihrer sehr zurückhaltenden Würdigung der mittelalterlichen Literatur eine Ausnahme. Ein ästhetisches Interesse an der mittelalterlichen Literatur konnte erst entstehen, als die selbstverständliche Überlegenheit des Klassizismus in den Jahren um 1700 zum ersten Mal vorsichtig in Frage gestellt wurde. Dass dies geschehen konnte, hatte zwei Ursachen. Zunächst hatte man im 17. Jahrhundert auf dem Gebiet der Naturwissenschaften gewaltige Fortschritte erzielt. Die revolutionären Forschungsergebnisse großer Gelehrter wie Galileo Galilei und Isaac Newton hatten die Vorherrschaft von Aristoteles und Claudius Ptolemäus auf dem Gebiet der Naturphilosophie und Astronomie abrupt beendet. Und dadurch stellte sich gleich die Frage, ob die antiken Autoren auch in anderen Punkten die ihnen bis dahin eingeräumte Autorität und Bewunderung eigentlich verdienten. Darüber entbrannte vor allem unter französischen Intellektuellen ein heftiger Streit, der als die Querelle des Anciens et des Modernes (Streit der Alten und der Modernen) in die Geschichte einging. Obwohl der Ausgang dieses Streits keineswegs bedeutete, dass die antiken Autoren von nun an ihre Autorität verloren hatten – die Lektüreliste in den Schulen änderte sich nicht –

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wurde es in der Folge möglich, andere Epochen und Kulturen zu betrachten, ohne die Messlatte der Antike anzulegen.65 Darüber hinaus entstand Anfang des 18. Jahrhunderts allmählich ein kulturelles Unbehagen, das an den 200 Jahre zurückliegenden Zwist der Humanisten mit der mittelalterlichen Scholastik erinnert. Nach Ansicht vieler war die Kultur mittlerweile zu kompliziert und künstlich geworden, sowohl in ihren Sitten und Umgangsformen als auch in der Literatur. Die Menschen sollten sich von diesen Konventionen befreien und zu einer einfacheren, spontaneren literarischen Gestaltung zurückkehren, die dem Gefühl größere Aufmerksamkeit zollt und von den vielen Regeln des Klassizismus unbelastet ist. Dafür konnte die mittelalterliche Literatur als Vorbild dienen, weil sie längst nicht so vielen Regeln unterworfen war und dadurch viel unkonventioneller wirkte. Ein Gelehrter wie der Abbé Claude Goujet, der sich eingehend mit dem Mittelalter, und zwar vor allem mit der angeblich finstersten Zeit, dem 10. Jahrhundert, beschäftigt hatte, kam zu der Ansicht, dass man die Literatur dieser Zeit schon immer unterschätzt hätte und bei näherer Betrachtung viel Wertvolles darin entdecken könnte. In seiner Bibliothèque Française (1745) schreibt er, dass er in der altfranzösischen Poesie „eine Zärtlichkeit der Gefühle“ und „eine Feinfühligkeit des Denkens“ fand, die man vor allem der Naivität und Schlichtheit der damaligen Menschen zu verdanken habe. Hierin war Etienne de Barbazan einer Meinung mit Goujet: Das Mittelalter verdiene unsere große Bewunderung, weil, wie er es in den Fabliaux et contes françois (1756) ausdrückt, die Menschen damals einfacher und nicht so schlecht wie jetzt waren.66 Sich in die mittelalterliche Literatur zu vertiefen war nützlich, darum musste man sie veröffentlichen. Am meisten hat Jean-Baptiste de la Curne de Sainte-Palaye dazu beigetragen, der vor allem durch seine aktive Mitgliedschaft in der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres einen gewaltigen Anstoß zum Studium der altfranzösischen Sprache und Literatur gegeben hat. Bekanntheit erlangte er beim großen Publikum vor allem durch seine Bücher über Ritter und Rittertum sowie über die provenzalischen Troubadoure, den beiden Milieus, die die meiste altfranzösische Literatur hervorgebracht hatten.67 Beide Werke 70

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waren im 18. Jahrhundert enorm erfolgreich und trugen erheblich dazu bei, dass man begann, das Ideal der Ritterschaft zu kultivieren. Dennoch unterschied sich dieses wachsende Interesse am Mittelalter grundlegend von dem in der späteren Romantik. Es war völlig unverbindlich und spielerisch, ohne die tiefe Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit, die für die romantische Verherrlichung des Mittelalters so typisch werden sollte. Darüber hinaus stand es im weiter gefassten Rahmen der Bewunderung für alles Primitive und Einfache, die einerseits als Kritik an den herrschenden Sitten und Gebräuchen fungierte, andererseits aber auch nicht allzu ernst genommen wurde. So wie Königin Marie-Antoinette im Park von Versailles einen Bauernhof errichten ließ, in dem sie mit ihren Hofdamen Hirtin spielte, um für kurze Zeit den vielen Konventionen des Hoflebens zu entrinnen, so ergötzten sich ihre weniger privilegierten Untertanen zur Entspannung an der Schlichtheit und Unmittelbarkeit des mittelalterlichen Lebens und der mittelalterlichen Literatur. Wie locker man letztere nahm, erkennt man unter anderem daran, dass man es für die normalste Sache der Welt hielt, die mittelalterlichen Geschichten zu bearbeiten und nachzuerzählen, weil die Originale als viel zu schwierig und praktisch unlesbar galten. Auf derselben Ebene spielte sich das Interesse an exotischen Ländern wie China oder dem Orient ab. Man las viel darüber und benutzte sie auch, um die eigene Kultur ein wenig zu relativieren und leichten Spott damit zu treiben (Montesquieus Lettres persanes aus dem Jahre 1721 ist dafür ein gutes Beispiel), doch letztendlich blieb davon kaum mehr übrig als hier und da ein chinesischer Salon oder eine Oper wie Mozarts Entführung aus dem Serail.68

Kirche, König und Parlament In der englischen Geschichte war die Reformation nicht dieselbe radikale Abrechnung mit der katholischen Vergangenheit, zu der sie in Deutschland unter Luther wurde. Für Luther und seine ersten Anhänger war die Reformation der alten Kirche ein direkter Eingriff Gottes, der das Ende aller Zeiten einleiten sollte. Dadurch wurde die Vergan71

Erste Erkundung

genheit sinnlos, weil nur noch Gottes Zukunft zählte. Erst später setzte sich bei den Lutheranern das Bewusstsein durch, dass das Ende doch noch ein bisschen auf sich warten ließ, und man die Vergangenheit darum nicht einfach vergessen konnte, sondern studieren musste. In England war die Reformation kein spontanes Ereignis, keine Vision einiger gläubiger Theologen, sondern erfolgte auf Befehl der Regierung und, was noch wichtiger war, blieb immer unter der Kontrolle der Regierung. Die Geschichte ist bekannt: Weil König Heinrich VIII. vom Papst nicht die Zustimmung erhielt, seine Frau Katharina von Aragón zu verlassen, beschloss er 1534, das Band mit Rom zu lösen und sich selbst an die Spitze der englischen Kirche zu stellen. Um diesen Schritt zu rechtfertigen, berief man sich schon in den ersten Gesetzen, in denen die neue Stellung der Kirche vorbereitet wurde, auf „verschiedene alte und wahrhaftige Geschichten und Chroniken“, die eindeutig belegen sollten, dass die englischen Könige von jeher Kaiser in ihrem eigenen Reich gewesen seien und darum auch schon immer an der Spitze der nationalen Kirche gestanden hätten. Im selben Gesetz benannte man ansonsten noch die Parlamentssitzungen unter den Königen Eduard I., Eduard III., Richard II. und insbesondere Heinrich IV. als Momente, in denen die englische Krone ihre Unabhängigkeit erkämpft hätte, „um sie zu bewahren vor allen Einmischungen des römischen Stuhles“.69 Das gab den Ton an, dem alle späteren Anhänger Heinrichs VIII. folgten. Sie verteidigten die Reformation der englischen Kirche durch Verweise auf zahlreiche historische Präzedenzfälle, die belegen sollten, dass nicht England einen neuen Weg eingeschlagen hatte, sondern dass Rom mit den großen Traditionen der christlichen Kirche gebrochen hatte. Darüber hinaus wurde es Heinrichs Anhängern leicht gemacht, dieses Argument zu benutzen, weil in England die Kontinuität mit der mittelalterlichen Kirche faktisch sehr groß blieb. Die einzig wirklich radikale Maßnahme war die Aufhebung der Klöster zwischen 1536 und 1539, doch ansonsten blieben alle alten, ehrwürdigen Institutionen wie Kathedralen und Kapitel sowie die traditionellen Ämter wie Bischof oder Dechant mit ihrem ganzen Besitz und allen Privilegien bestehen, so dass das mittelalterliche Kirchenrecht in England weitge72

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hend in Kraft blieb. Auch als man unter Eduard VI. und Elisabeth I. in der Lehre immer häufiger protestantische Ideen übernahm, blieb die mittelalterliche Kirchenorganisation unverändert, obwohl das von den wirklich überzeugten Protestanten, den Puritanern, zunehmend kritisiert wurde. Mit mittelalterlichen Präzedenzfällen belegten die Juristen, dass Heinrich VIII. mit seinen Maßnahmen nichts anderes getan hatte, als auf dem Weg voranzuschreiten, den die englischen Könige schon lange vor ihm eingeschlagen hatten. Die Historiker machten daraus eine Geschichte. Einer der einflussreichsten von ihnen war der ehemalige Mönch John Bale. Sein größter Verdienst war eine Bestandsaufnahme mittelalterlicher Schriften, die nach der Aufhebung der Klöster verlorenzugehen drohten.70 Außerdem interpretierte er die Entwicklung der englischen Kirche neu, vor allem in seiner Illustrium majoris Britanniae scriptorum [...] Summarium (1548–1549). Nach Bales Ansicht hatte das Christentum in England einen sehr reinen Ursprung. Zum ersten Mal wurde es nämlich von Josef von Arimathäa gepredigt, einem Jünger Jesu und zugleich dem Eigentümer des Grabes, in dem Jesus bestattet wurde (Mt. 27, 57-60). Diese Geschichte vom Ursprung des Christentums in England übernahm Bale aus der Anglica Historia (1512–1513), die der italienische Humanist Polydor Vergil wahrscheinlich im Auftrag Heinrichs VII. geschrieben hatte.71 In den darauffolgenden Jahrhunderten wurde ganz England christianisiert und hat seitdem an der Lehre der Urkirche festgehalten. Die Leitung der Kirche blieb hier immer in den Händen von Laien. Der Niedergang der englischen Kirche setzte ein, als Papst Gregor der Große im Jahr 596 veranlasste, eine Schar von Missionaren unter der Leitung des Mönches Augustinus nach England zu schicken, durchweg „Mönche und Italiener“, die viel über Logik und Philosophie wussten, aber nichts über die Heilige Schrift. Sie hatten die Aufgabe, statt den christlichen den römischen Glauben zu predigen und England dadurch der Macht des Papstes und des Klerus zu unterwerfen. Im 11. Jahrhundert wurde ihr Werk von Anselmus fortgesetzt, der ebenfalls ein italienischer Mönch war. Als Erzbischof von Canterbury setzte dieser die verderbliche Politik von Papst Gregor VII. um, die 73

Erste Erkundung

darauf abzielte alle weltlichen Fürsten unter die Herrschaft des Papstes zu bringen. Dadurch wurde auch in England die legitime Macht des Königs über die Kirche erheblich beschnitten. Wie schlimm das alles war, zeigte sich 1171, als die klerikale Arroganz so groß wurde, dass Heinrich II., um seine Macht zu retten, nichts anderes übrig blieb, als den Erzbischof Thomas Becket in der Kathedrale von Canterbury ermorden zu lassen. Zum Glück gab es in der englischen Geschichte auch Gegenkräfte wie den Theologen John Wycliffe, der im 14. Jahrhundert die erste Bibelübersetzung auf Englisch verfasste, oder die Bewegung der Lollarden im 15. Jahrhundert, die ein einfaches evangelisches Christentum ohne Klerus, jedoch auch Treue zur Autorität des Königs befürworteten.72 Diese und andere fromme Christen haben die Wende zum Guten unter Heinrich VIII. vorbereitet. In den großen Linien übernahmen alle späteren Apologeten der englischen Kirche Bales Ansichten von der Entwicklung des Christentums. Doch während Bale den Akzent besonders auf die christliche Antike Englands legte, verschob er sich bei John Foxe und Matthew Parker eher ins Mittelalter. John Foxe verdankt seinen Ruhm einem Buch, das unter dem Titel Foxe’s Book of Martyrs (1554) bekannt wurde, eine herzzerreißende Beschreibung des Schicksals der protestantischen Märtyrer unter der Regierung der katholischen Königin Maria Tudor. Allerdings stellte er die Glaubensbeweise dieser Helden des Protestantismus in einen größeren historischen Zusammenhang, indem er betonte, in England habe die Kirche sehr viel länger die ursprüngliche Reinheit des Glaubens bewahrt und sich viel früher als anderswo, schon seit Wycliffes Wirken im späten 14. Jahrhundert, gegen Roms Tyrannei erhoben. Foxe machte im Mittelalter viel mehr Lichtpunkte aus als Bale. Er verehrte den legendären König Artus als Ideal eines frommen christlichen Fürsten und vertrat die Ansicht, auch in der angelsächsischen Zeit habe sich viel Gutes erhalten. Mit den Mönchen, die Papst Gregor der Große entsandt hatte, war demnach natürlich Verderbnis eingedrungen, dennoch gelang es den Engländern in den folgenden Jahrhunderten, vor allem durch die weise Gesetzgebung guter Könige, wie Alfred dem Großen Ende des 9. Jahrhunderts, die Lehre des wah74

Kirche, König und Parlament

ren Glaubens größtenteils zu bewahren, während sie anderswo in Europa längst verdorben war. Erst nach der Eroberung Englands durch die Normannen 1066 sei alles schiefgegangen. Doch selbst damals hätte es noch weise Fürsten wie Heinrich II. gegeben, der sich nicht von Becket schikanieren ließ, und vor allem Johann I. Ohneland, der nach Ansicht von Foxe das tragische Opfer päpstlichen Machtmissbrauchs wurde. Der Aufstand der Barone unter seiner Herrschaft, der 1215 in der Ausstellung der Magna Charta gipfelte, war nach Foxes Meinung vom Papst angestiftet, um die Stellung des Königs zu schwächen und ihn der päpstlichen Macht zu unterwerfen.73 Wie die meisten europäischen Protestanten waren Bale und Foxe also davon überzeugt, dass die Kirche nach der Zeit der Apostel immer weiter in Verfall geraten war. Doch nach ihrer Darstellung spielte England in dieser traurigen Geschichte eine ganz besondere Rolle, erstens weil der christliche Glaube in England apostolischen Ursprungs war und England diesbezüglich als einziges europäisches Land auf einer Stufe mit Rom stand, zweitens aber auch weil die englische Kirche diesen apostolischen Glauben in den folgenden Jahrhunderten viel reiner bewahrt hatte als die Kirche Roms. Dass es trotzdem zu Auflösungserscheinungen kam, hatten die Engländer den Schurkereien des Papstes zu verdanken; was von der ursprünglichen Inspiration erhalten blieb, verdankten sie der Weisheit des Königs. Unter der harten Herrschaft Elisabeths I. wurde die Gefahr einer Rückkehr der englischen Kirche in den Schoß Roms endgültig gebannt, doch dafür hörte man von streng protestantischer Seite her immer lautere Kritik: Die Reformation sei nicht weit genug gegangen und die anglikanische Kirche halte noch viel zu sehr an ihren mittelalterlichen Institutionen fest, zum Beispiel am Bischofsamt, das in der Urgemeinde überhaupt nicht existiert habe. Den Angriff der radikalen Reformatoren parierte Matthew Parker, der 1559 zum Erzbischof von Canterbury ernannte wurde. Parker verteidigte die von der anglikanischen Kirche gewählte Stellung zwischen Katholizismus und Protestantismus (bekannt als via media oder Mittelweg) und legte dazu eine gewaltige Sammlung mittelalterlicher Dokumente an, die im damaligen England ihresgleichen suchte.74 Mit diesen Quellen gewappnet zog 75

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er in den Kampf gegen seine protestantischen Gegner. Zunächst machte er kurzen Prozess mit der Anschuldigung, das Bischofsamt sei erst 597 mit der Ankunft der Mönche aus Rom in England eingeführt worden. Seit der allerersten Predigt des Evangeliums durch Josef von Arimathäa habe es in England Bischöfe gegeben, darum bildeten sie ein unwiderrufliches Erbe der englischen Kirche, das man nicht einfach abschaffen könne. Das eigentliche historische Fundament für die Kirche seiner Zeit fand Parker in der angelsächsischen Epoche. Damals habe ein glückliches Gleichgewicht existiert, das nach der normannischen Eroberung brutal gestört worden sei, um erst jetzt unter Elisabeth I. wiederhergestellt zu werden. Die angelsächsische Kirche war in starke Bistümer organisiert, doch der Klerus war verheiratet, wie sich das gehörte. Die Messe wurde nicht als ein Opfer betrachtet, in dem Christus wirklich zugegen war, sondern als eine Gedächtnisfeier. Darüber hinaus benutzte man im Gottesdienst nicht Latein, sondern die Sprache des Volkes, das Angelsächsische. Parker war geradezu besessen von der alten englischen Sprache. Er scheute weder Kosten noch Mühe, um aus ganz England angelsächsische Manuskripte zusammenzutragen. Als wichtigstes Ergebnis seiner Forschung veröffentlichte er 1574 die von Asser um 890 geschriebene Biographie Alfred des Großen. In der Einleitung empfahl Parker allen wärmstens, Altenglisch zu lernen. Doch vor allem wollte er mit dieser Ausgabe zeigen, dass Alfreds Regierung der Höhepunkt der alten englischen Geschichte war. Alfred war nicht nur ein großer militärischer Anführer und Gesetzgeber, er hatte auch die Kirche vorbildlich geführt. Seine größte Sorge galt dem Ausbildungsstand des Klerus, wie unter anderem die Tatsache zeigt, dass er die Cura pastoralis, eine Abhandlung Gregor des Großen über die pastoralen Pflichten des Klerus, eigenhändig ins Angelsächsische übersetzt hat.75 Die Einheit von König und Kirche, von katholischer Struktur und protestantischer Lehre, das Glaubensbekenntnis sowie den Gottesdienst übersetzt in die Volkssprache, das alles fand Parker im 9. Jahrhundert und hoffte, es unter Alfreds ferner Nachfolgerin Elisabeth I. wieder einführen zu können.76

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Obwohl Parker für eine Kirche plädierte, die zwischen den katholischen und protestantischen Extremen die Mitte hielt, gelang es ihm nicht, einen Großteil der engagiertesten englischen Christen zu überzeugen. Der Ruf nach einer radikalen Reformation erhielt immer größere Zustimmung. Die Puritaner wollten nicht die Kirche Alfreds des Großen, sondern die Kirche Jesu Christi und seiner ersten Jünger. Und für sie bedeutete das eine Kirche ohne Kathedralen, ohne Bischöfe und – das vielleicht radikalste von allem – ohne König. Diesen letzten Schritt hätten die Puritaner vielleicht nie unternommen, wenn die Könige Jakob I. und Karl I. nicht in einer Kirche mit Bischöfen das beste Instrument gesehen hätten, ihre königliche Macht auf Kosten des Parlaments zu vergrößern. Sie glaubten, dass eine hierarchisch organisierte Kirche die beste Garantie für einen hierarchisch aufgebauten Staat mit dem König als absolutem Fürsten an der Spitze bietet. Was im 16. Jahrhundert als religiöser Streit begonnen hatte, verwandelte sich dadurch im 17. Jahrhundert in einen politischen Kampf um die Beziehungen zwischen König und Parlament. In diesem Kampf wurde die richtige Interpretation der mittelalterlichen Vergangenheit Englands zu einer der wichtigsten Waffen in den Händen beider Parteien. Zweifellos hatten die Befürworter einer starken königlichen Macht die besseren historischen Argumente. In ihrem Lager befand sich einer der größten Historiker des 17. Jahrhunderts, Henry Spelman, der seinen Ruhm vor allem seinem Buch The Original, Growth, Propagation and Condition of Feuds and Tenures by Knight-service in England (1639) verdankte. Diese Abhandlung über Ursprung und Art des Feudalismus, einschließlich der Rolle des Königs, war ein bedeutender Durchbruch bei der Erforschung der konstitutionellen Geschichte des Mittelalters. Im Gegensatz zu den französischen Juristen des 16. Jahrhunderts, die wie besessen waren vom römischen Ursprung des Feudalismus, gelang es Spelman, dem feudalen System auf den Grund zu gehen. Er zeigte nämlich, dass es eine Form des Landbesitzes war und zugleich eine Art Kriegsdienst, beides gestützt auf ein Band persönlicher Treue zwischen König und Lehnsmann. Spelman konnte auch belegen, dass der Feudalismus in angelsächsischen Zeiten gar nicht existiert hatte, sondern erst von Wilhelm dem Eroberer in England eingeführt worden war. 77

Erste Erkundung

Je schärfer er die Konturen des Feudalismus ins Visier nahm, desto klarer erkannte er, dass sich das ganze System um die Macht des Königs drehte: Der war nämlich der Besitzer des ganzen Landes, er schenkte seine Gunst, wem er wollte, und der Vertrag, den er mit einem Lehnsmann schloss, schuf zwar gegenseitige Verpflichtungen, war jedoch von Seiten des Königs eine reine Gunst. Das bedeutete, dass der Feudalismus gar nicht die Grundlage für die Machtverteilung zwischen König und Untertanen war. Diese These verfeinerte Spelman noch in einer Abhandlung über den Ursprung des Parlaments. Darin erläuterte er, dass die Einberufung der Bürgerschaft auf Initiative des Königs erfolgte, wenn dieser das Bedürfnis verspürte, zusätzlich zu den Ratschlägen seiner Barone und Bischöfe auch noch die Meinung anderer Bewohner seines Königreiches zu hören. Spelman vermutete eine erste Versammlung dieser Art im Jahre 1258 unter der Regierung Heinrichs III. Wichtiger als die Frage, wann wohl zum ersten Mal eine Parlamentssitzung stattgefunden hat, waren die beiden unvermeidlichen Schlussfolgerungen, dass es in England zwar immer einen König gegeben hat, aber kein Parlament, und dass die Einberufung des Parlaments auf Initiative des Königs erfolgte. Demnach besaß das Parlament nicht das geringste Recht, sich dem König zu widersetzen oder ihn gar abzusetzen.77 Ganz gleich wie historisch korrekt Spelmans Erklärung auch sein mochte, in der politisch erregten Situation unter den Stuart-Königen war sie für die meisten Engländer inakzeptabel.78 Die radikalste Attacke gegen die Stellung der Monarchie führte der Anwalt Edward Coke, der verschiedene Ämter bekleidete, unter anderem ab 1593 den Vorsitz des Unterhauses. Coke war heilig davon überzeugt, dass „Englands Gesetze viel, viel älter sind als die Regeln und Gesetze der römischen Kaiser“.79 Hieraus zog er den Schluss, dass der König in England schon immer dem Gesetz unterworfen war, während das Parlament seit Urzeiten als Wachhund des gemeinen Rechts fungiert hat, eine Überzeugung, die in der Theorie der Ancient Constitution Gestalt annahm. Nach ihr lag der Ursprung des Parlaments irgendwo in grauer Vorzeit. Eine erste historisch nachweisbare Form des Parlaments war der Witenagemot, der Rat der Barone, die sich in angelsächsischen Zeiten um 78

Kirche, König und Parlament

den König scharten und ihn bei der Regierung unterstützten. Die normannische Eroberung bedeutete einen Bruch, doch schon 1116 versammelte Heinrich I. wieder seine Getreuen um sich. Und beginnend mit diesem Moment konstruierte Coke eine Kontinuität mit dem ersten Parlament des Jahres 1295 unter der Regierung Eduards I. Coke war sich nicht nur sicher, dass das Parlament uralt war, seiner Meinung nach hatte es auch immer die gesamte Bevölkerung Englands vertreten, nicht nur den Adel.80 Dabei stützte er sich auf das Werk des Juristen und Historikers William Lambarde, der in seinem Archeion (1591) behauptet hatte, das Wort baro bezeichne in mittelalterlichen Dokumenten nicht nur Baron, sondern auch Bürger.81 Der schönste Beleg für die hohe Stellung des Rechts in der englischen Gesellschaft und die eingeschränkte Macht des Königs war nach Cokes Meinung die Magna Carta, 1215 von Johann Ohneland ausgestellt, um seinen Konflikt mit den Baronen beizulegen. Darin ging es Coke vor allem um die Bestimmung, dass man in England keinen freien Mann verhaften darf, es sei denn, er wurde von seinesgleichen oder nach dem Gesetz des Landes rechtmäßig verurteilt. Man kann es Ironie nennen, dass der Aufstand der Barone, den die Tudor-Historiker als deutlichsten Beweis für ein päpstliches Komplott gegen England betrachtet hatten, unter den veränderten politischen Umständen des 17. Jahrhunderts auf einmal als heiliges Fundament des englischen Staates galt. Nach dem endgültigen Triumph des Parlaments über den katholischen König Jakob II. im Jahre 1688 stieg der Status der Magna Carta in nahezu mythische Höhen.82 Seit diesem Jahr der Glorious Revolution war das Bild der englischen Geschichte für Jahrhunderte festgeschrieben. England war demnach die „mother of the free“, es war das Land, wo die Freiheit des Bürgers respektiert wurde, wo man Ehrfurcht vor dem Gesetz hatte, und wo die Regierung dies alles durch ein weises Gleichgewicht zwischen Fürst und Parlament garantierte. Die Grundlage dazu wurde schon in angelsächsischen Zeiten gelegt, zum ersten Mal ausdrücklich formuliert wurde das in der Magna Carta, und die letztendliche Bestätigung bildete die Bill of Rights des Jahres 1688. Die Anhänger der absoluten Monarchie mochten zwar die besseren historischen Argumen79

Erste Erkundung

te haben, doch im großen Kampf um die Freiheit siegte der Mythos über die Geschichte, weder zum ersten, noch zum letzten Mal. Mit dem Ende der konstitutionellen Krise des 17. Jahrhunderts hörte auch das ernsthafte Interesse an der mittelalterlichen englischen Geschichte abrupt auf. Das letzte große Werk auf diesem Gebiet war der Linguarum veterum septentrionalium thesaurus (1703–1705) von Georges Hickes, ein Werk mit Grammatiken und Vokabellisten der wichtigsten nordgermanischen Sprachen. Anschließend blieb es 100 Jahre lang still. Im 18. Jahrhundert wandten sich sowohl die Welt der Gelehrten als auch das gebildete Bürgertum wieder ganz dem Studium jener Epoche zu, mit der sie sich seit 1500 eigentlich am liebsten beschäftigt hatten, der klassischen Antike. Durch die großen archäologischen Entdeckungen in Pompeji und Herculaneum nach 1740 nahm dieses Interesse sogar noch lebhaftere Formen an. Alle kulturellen Wunderwerke, die hier ausgegraben wurden, die Villen, Badehäuser und Tempel, die Fresken und Skulpturen offenbarten einmal mehr, wie tief der Verfall in der Zeit danach gewesen war. Es war eine Bestätigung für das, was alle schon immer gewusst hatten, selbst diejenigen, die sich kurz davor noch so begeistert auf die Erforschung des Mittelalters gestürzt hatten. William Camden, ein Schüler von Matthew Parker und einer der größten Kenner des englischen Mittelalters, musste zugeben, dass es um die Zivilisation damals schlecht bestellt gewesen ist, sie war „gehüllt in dunkle Wolken, oder besser noch in dichte Nebelschwaden der Unwissenheit, so dass jeder Funke kritischer Wissenschaft einem Wunder gleichkam“. John Selden, der 1618 mit seiner History of tithes ein kontroverses und noch immer wichtiges Buch über die Kirchensteuern im Mittelalter geschrieben hatte, glaubte, sich dafür bei seinen Freunden entschuldigen zu müssen: Es handele zwar von einer „kahlen und sterilen Vergangenheit“, aber er habe es doch getan, weil es etwas Licht auf heutige Probleme werfen könne.83 Das tat es und zwar so deutlich, dass sich Selden deswegen vor dem Richter verantworten musste, weil die Kirchenleitung Anklage gegen ihn erhoben hatte. Dieselbe Tendenz gab es in Frankreich: In dieser Zeit studierte man das Mittelalter nicht aus historischen Gründen, sondern aus juristischen. 80

Kirche, König und Parlament

Wer seinem Herzen folgte, beschäftigte sich mit der Antike, nur die Pflicht zwang einige, sich in seltenen Fällen um die Zeit danach zu kümmern. Zum Glück war das nach 1700 nicht mehr nötig, doch das Ende der trockenen Diskussion über die Beschaffenheit der englischen Verfassung machte den Weg für ein spielerisches Interesse am Mittelalter frei, wie es zur gleichen Zeit ganz ähnlich auch in Frankreich aufkam. Niemand nahm diese Epoche ernst, doch es war amüsant und entspannend, von keuschen Jungfrauen und wollüstigen Mönchen zu lesen, ganz zu schweigen von der gruseligen Dunkelheit, die alle katholischen Traditionen umgab. Zeitweise musste sich jeder englische Aristokrat, der auf der Höhe der Zeit sein wollte, mindestens eine gotische Abteiruine in seinen Schlosspark stellen. Der Staatsmann und Schriftsteller Horace Walpole ging sogar noch weiter und ließ sein Landgut in Twickenham in ein komplettes gotisches Schloss umbauen. Hier schrieb er eine phantastische mittelalterliche Novelle, The Castle of Otranto (1764), eine wahre Schauergeschichte voll finsterer Leidenschaft, Morden bei Mondenschein und unerklärlichen übernatürlichen Erscheinungen. Das Buch hatte sofort Erfolg und begründete die Mode der Gothic novel, ein Genre, das so populär wurde, dass Jane Austen es 40 Jahre später in ihrer Northanger Abbey aufs Korn nahm.84 Doch derselbe Walpole hatte für die mittelalterliche Literatur nur Verachtung übrig. Selbst ein Dichter wie Chaucer fand sie lediglich in den Bearbeitungen von Dryden und Pope erträglich, ansonsten seien mittelalterliche Dichter völlig unlesbar: „Kein Schimmer Poesie in ihren Werken“.85 Als der Historiker und Philosoph David Hume in seiner Geschichte Englands beim Jahr 1485 anlangte, vermerkte er erleichtert, er könne ab jetzt endlich über die „Morgenröte der Zivilisation und der Wissenschaft“ schreiben.86 Nichts illustriert die zögerliche Aufwertung des Mittelalters besser als die 1730 nach einem Entwurf von Nicholas Hawksmoor vollendete Bibliothek des All Souls College in Oxford. Von außen ist das Gebäude ein Spiel mit gotischen Formen und Spitzbogenfenstern, doch innen ist die Bibliothek streng klassizistisch, selbst die gotischen Formen der Fenster sind kaschiert. Die Gotik bleibt draußen, lediglich eine amü81

Erste Erkundung

sante Spielerei in einer Kultur, die die klassische Antike auch weiter als letzte, endgültige Norm ansah. Edward Gibbon sprach im Namen aller kultivierten Engländer, als er das Römische Reich des Antoninus Pius eine Blaupause für eine ideale Gesellschaft und die anschließenden Jahrhunderte einen „Sieg der Barbarei und Religion“ nannte.87

Heute und Gestern Die Art, wie die Humanisten und ihre Nachfolger mit der mittelalterlichen Geschichte umgingen, war in den letzten 30 Jahren Gegenstand einer Diskussion über den Umgang mit der Vergangenheit in der Frühmoderne. Diese Diskussion spitzte sich auf die Frage zu, ob man in dieser Epoche den ersten Ansatz eines modernen historischen Bewusstseins erkennen kann, mit der Fähigkeit, die Vergangenheit als etwas wahrzunehmen, was sich von der Gegenwart unterscheidet.88 Allgemein war man immer der Auffassung, dass bis Mitte des 18. Jahrhunderts von einem solchen historischen Bewusstsein nicht die Rede sein konnte, weil die Vergangenheit bis dahin nur als Verlängerung der Gegenwart gesehen wurde.89 In den letzten Jahren hat man das in Frage gestellt, in machen Punkten zu Recht. Man kann nicht abstreiten, dass die Humanisten die Vergangenheit ganz anders betrachtet haben als die mittelalterlichen Historiker. Für das Mittelalter gilt zweifelsfrei, dass Gegenwart und Vergangenheit nicht als grundlegend verschieden betrachtet wurden. Man sah die Vergangenheit als ein einziges großes, undifferenziertes Ganzes, in dem alles zueinander in Beziehung stand und alles ineinander passte. In dieser Vergangenheit gab es kein Näher und kein Ferner, keine Epochen, mit denen man sich enger oder im Gegenteil weniger verwandt fühlte, alles war gleich alt, gleich weit entfernt, und unterschied sich zugleich nicht vom Heute, weil die Menschen immer und überall gleich waren. Eigentlich gab es gar keine Vergangenheit, sondern nur eine ewig dauernde Gegenwart. Alle Ereignisse wurden ihrer Zeitgebundenheit entkleidet.90

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Heute und Gestern

Doch die Humanisten isolierten die klassische Antike von der übrigen Geschichte als eine Epoche vorbildlicher Zivilisation, die verlorengegangen war. Und gerade durch dieses Bewusstsein einer Kluft, die sich zwischen ihrer eigenen barbarischen Zeit und der zivilisierten Antike auftat, erkannten sie, dass sich Gegenwart und Vergangenheit tatsächlich voneinander unterscheiden konnten. Die mittelalterlichen Reisenden betrachteten Rom als ein einziges großes Ganzes von alten Gebäuden, doch als Petrarca Rom besuchte, sah er zwei Städte: die heutige Stadt, in der Kirchen und Klöster dominierten, und die alte Hauptstadt des Römischen Reiches, von der nur noch Ruinen zeugten.91 Dieses schmerzliche Bewusstsein eines Verlustes veranlasste ihn, zur Erneuerung des alten Roms aufzurufen. Man kann sich sogar fragen, ob eine Bewegung wie die Renaissance überhaupt möglich gewesen wäre, ohne ein zuvor gewachsenes Bewusstsein, dass sich die barbarische Gegenwart schmerzlich von der antiken Vergangenheit unterschied. Erst wenn etwas endgültig verloren ist, kann der Ruf nach Erneuerung erklingen. In ihrem Streben nach einem Wiederaufbau der antiken Welt drangen die Humanisten tief in den Charakter des griechischen und römischen Altertums ein, vor allem in seine Literatur. In diesem Sinne kann man bei den Humanisten sehr wohl von einer ersten Form eines historischen Bewusstseins sprechen. Nur muss man hier auf zwei Gebieten große Einschränkungen machen. An erster Stelle fanden die Humanisten keine Erklärung für die Tatsache, dass die Antike so anders war als ihre eigene Zeit; das Konzept einer Entwicklung war ihnen fremd. Petrarca konnte sich nur einen Grund denken, warum sich seine Epoche so sehr von der des Livius unterschied, nämlich den, dass alle Zeitgenossen gewissenlose Schurken seien, „die nur Wert auf Gold, Silber und körperlichen Genuss legen“. Die Humanisten konnten Veränderung nur als moralischen Verfall, als Degeneration verstehen.92 Außerdem waren die Humanisten überzeugt davon, dass es genüge die antike Geschichte und Literatur zu studieren, um dazu beizutragen, den Verfall aufzuhalten und die antike Zivilisation zu neuen Ehren zu bringen. Auch die Reformatoren glaubten, es sei möglich, zur Reinheit der christlichen Urgemeinde zurückzukehren, wenn man sich nur auf 83

Erste Erkundung

das Wort der Bibel konzentriere. Hierdurch erhielt die Geschichte vor allem eine pädagogische Funktion, weil sie der Jugend nachahmenswerte Beispiele für Tugend aus einer besseren Zeit lieferte. Der Ruf nach einer Wiederherstellung der Antike und des christlichen Altertums war schließlich nur möglich, weil die Humanisten, ebenso wie ihre mittelalterlichen Vorgänger, überzeugt waren, dass es neben allen Varianten menschlichen Verhaltens, denen man in der Geschichte begegnete, eine universelle menschliche Natur gäbe, mit daran gekoppelten Werte, die für alle Menschen zu allen Zeiten gleich seien.93 Bis 1650 zweifelte niemand daran, dass diese Universalität in der Bibel, im Christentum und in der Kultur der klassischen Antike konkrete historische Gestalt angenommen hat. Erst als sich die Einsicht durchsetzte, dass selbst die klassische Kultur und das Christentum keine universellen Ideale sind, auf die man letztendlich jede Menschlichkeit zurückführen kann, sondern rein zufällige Gestaltungen der menschlichen Existenz, drang auch die Erkenntnis durch, dass durch den unerbittlichen Lauf der Zeit nur Entwicklung, jedoch nie Erneuerung möglich ist. Dennoch glaubten manche Forscher, schon im 16. Jahrhundert den Ansatz eines historischen Bewusstseins erkennen zu können. Französische Juristen wie Budé und Pasquier sowie englische antiquarians wie Spelman wären demnach schon durch ihr Studium des mittelalterlichen Rechts und der mittelalterlichen Institutionen zur Erkenntnis gelangt, dass sich das Mittelalter radikal von der Antike unterscheidet. Dadurch soll ihnen die Relativität alles Menschlichen, die gewöhnlich erst mit dem späten 18. und vor allem mit dem 19. Jahrhundert assoziiert wird, bereits bewusst geworden sein.94 Zweifellos haben schon diese Gelehrten die Grundlagen zu einer wissenschaftlichen Erforschung des Mittelalters gelegt. Allerdings ist es eine ganz andere Frage, ob sie auch imstande waren, den kulturellen Rahmen ihrer Zeit zu durchbrechen und in den Charakter einer anderen Zeit Einblick zu erhalten. Das ist ihnen nicht gelungen. Alle diese Gelehrten haben sich für ihr Interesse an einer so barbarischen Zeit ausgiebig entschuldigt und darauf hingewiesen, dass das Mittelalter in keiner Beziehung den Vergleich mit der Antike oder der 84

Heute und Gestern

eigenen Epoche aufnehmen könne. Pasquier spricht von einer Blüte der französischen Literatur in der Zeit Ludwigs IX., genannt Ludwig der Heilige. Er gibt jedoch sofort zu, dass ihre Erzeugnisse unlesbar und nur nach mühsamer Übersetzung einigermaßen zu genießen sind. Das mittelalterliche Latein verurteilte er pauschal als barbarisch. Trotz ihrer mittelalterlichen Studien bewegten sich diese Männer weiter im Rahmen des Klassizismus und waren nicht imstande, in ihren Werken dem Mittelalter einen eigenen Platz einzuräumen. Auch in einem anderen wesentlichen Punkt gelang den Rechtsgelehrten des 16. Jahrhunderts nicht der Durchbruch zu einem historischen Bewusstsein. Ein Jurist wie Hotman war durchaus imstande, das römische Recht in seinen historischen Kontext zu stellen und seine universelle Gültigkeit anzuzweifeln. Er zeigte auf, dass das französische Gewohnheitsrecht in einer völlig anderen historischen Umgebung entstanden ist und besser an die reale Rechtssituation im Frankreich des 16. Jahrhunderts angepasst war, doch weder er noch irgendein anderer Jurist seiner Zeit konnte beschreiben, wie sich dieses Recht entwickelt hatte: Es existierte als Ganzes bereits seit Urzeiten und war von Generation zu Generation weitergegeben worden. Wer etwas daran veränderte, wie zum Beispiel Ludwig XI., beging einen moralischen Frevel: Er wich von der Norm ab, die die Vorfahren geschaffen hatten.95 Genauso behauptete Hugo de Groot später, die staatlichen Institutionen der niederländischen Republik seien seit den Zeiten der Bataver unverändert geblieben, 1477 im Großen Privileg schriftlich fixiert worden, und nun durch die Zentralisierungspolitik Karls V. und Philipps II. bedroht. Durch ihren Aufstand sei es den Holländern gelungen, die alte Freiheit wiederherzustellen. „Diese kurze Geschichte [...] zeigt, dass sich die Bataver, jetzt Holländer genannt, über 1700 Jahre lang derselben Regierung bedient haben, wobei die höchste Macht bei den Staaten lag und immer noch liegt.“96 Weder Hotman noch De Groot konnten sich vorstellen, dass sich eine Kultur wirklich verändert: Was jetzt war, musste schon immer so gewesen sein. Ebenso wie bei Petrarca war Entwicklung für sie gleichbedeutend mit moralischem Verfall. Trotzdem beschäftigten sich im 16. und 17. Jahrhundert zahllose Gelehrte mit dieser Zeit moralischen Verfalls, und das sogar sehr in85

Erste Erkundung

tensiv. Sie legten die Grundlagen für die spätere wissenschaftliche Erforschung des Mittelalters, wovon die Geschichtswissenschaft bis heute profitiert. Dies wirft sofort die Frage auf, warum Gelehrte, die allenthalben beteuerten, wie sehr sie diese schauderhafte Zeit verabscheuten, sich dennoch die Mühe machten, ihre Überreste zusammenzutragen und in dicken Folianten aufzuzeichnen, die oft heute noch den Ausgangspunkt der Forschungsarbeit bilden. Es gab zwei Gründe, warum sich die Humanisten trotz ihres Widerwillens mit der mittelalterlichen Vergangenheit beschäftigt haben. Ungeachtet des ganzen exaltierten Geredes über eine Wiedergeburt der Antike bestand das Mittelalter einfach weiter. Auch wenn das römische Recht große Bewunderung erregte, beruhte das ganze Rechtssystem in allen europäischen Ländern bis zur französischen Revolution, in England sogar bis heute, zum größten Teil auf der mittelalterlichen Gesetzgebung. Wichtige staatliche Körperschaften wie der oberste Gerichtshof in Frankreich (das Pariser Parlament), der deutsche Reichstag und der Maggior Consiglio in Venedig, sind im Mittelalter eingeführt worden. Die Privilegien der Kirche und die Freiheiten der Städte wurden im Mittelalter erlassen. Und gerade weil die Fürsten im 16. und 17. Jahrhundert ständig versuchten, an den einstmals gewährten Vorrechten, Freiheiten und Privilegien zu rütteln, wurden die mittelalterlichen Dokumente, in denen sie verzeichnet waren, so wichtig. Die französischen Juristen des 16. Jahrhunderts hätten sich nie mit dem Mittelalter beschäftigt, wenn die verworrene politische Situation ihrer eigenen Zeit und die Undurchsichtigkeit der französischen Gesetzgebung sie nicht dazu gezwungen hätten. Der Engländer John Selden sagte offen, dass sein Interesse der Antike galt, dennoch habe er sich in die Geschichte der Kirchenabgaben im Mittelalter vertieft, um im Kampf um die Vorrechte der englischen Kirche Klarheit zu schaffen.97 Kurzum, mittelalterliche Dokumente wurden nicht gesammelt, um Stoff für eine Geschichte des Mittelalters zu liefern, sondern um im Gerichtshof oder im Ratssaal benutzt zu werden. Es gibt noch einen zweiten Grund, warum das Mittelalter erforscht wurde, und der hatte sehr wohl etwas mit Geschichtsschreibung und historischen Überlieferungen zu tun. Die humanistischen Gelehrten 86

Heute und Gestern

und Autoren waren nicht nur Bewunderer der Antike, sondern auch stolz auf Vaterland und Fürst, und diesen Stolz brachten sie unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass sie die ruhmreichen Taten der Ahnen besangen.98 Für sie war es ein großes Problem, dass in den antiken Quellen wenig oder gar nichts über diese illustren Vorväter stand. Julius Cäsar und vor allem Tacitus waren die einzigen antiken Autoren, die etwas über die Völker des Nordens erzählt hatten, doch obwohl sie viele interessante Fakten über Kelten und Germanen berichteten, war das insgesamt viel zu wenig, um dem Ruhm der Stammväter ausreichend Relief zu verleihen. Es gab keine andere Lösung, als die mittelalterliche Vergangenheit mit einzubeziehen, um mit den Taten von großen Fürsten wie Karl dem Großen, Ludwig dem Heiligen, Otto dem Großen, Friedrich Barbarossa oder Alfred dem Großen zu belegen, wie bewundernswert die Vergangenheit des Vaterlandes gewesen war. William Shakespeare steht hier einsam an der Spitze mit seinen unvergesslichen Königsdramen, in denen er die Monarchie der Tudors besang, die Erinnerung an die mittelalterlichen englischen Könige auf der Bühne wachrief und hierdurch lebendig hielt. Die frühmodernen Sammlungen mittelalterlicher Dokumente haben ungewollt das Fundament für die Mediävistik gelegt, und die Geschichten der Historiker und Dichter dieser Zeit wurden zur Grundlage des späteren Mittelalterbildes. Widerwillig gaben die Humanisten zu, dass es trotz allem so etwas wie eine mittelalterliche Vergangenheit gab und diese sogar eine gewisse Inspiration liefern konnte. Selbstverständlich würde das Mittelalter nie den Vergleich mit der klassischen Antike aufnehmen können. Die Antike war der gemeinsame Besitz aller kultivierten Menschen, sie war das einzige allgemeingültige Modell und zugleich die universell gültige Norm für Regierung, Literatur, Bildung, Wissenschaft und Kunst. Dagegen fanden die Humanisten im Mittelalter, was ihr jeweils eigenes Volk von allen anderen unterschied, und warum ihr Volk unter Führung seiner Fürsten im Laufe der Zeit solche Gipfel erklommen hatte. Mit anderen Worten verkörperte die Antike das Universelle, das Verbindende zwischen allen Europäern, während das Mittelalter von Anfang an im Zeichen des Partikularen stand, das heißt der Eigenheiten jeden einzelnen Volkes. 87

Erste Erkundung

Bis ins 18. Jahrhundert hinein dominierte die klassische Kultur, sie war die Grundlage einer ganz Europa umspannenden Republik der Gelehrten, zu der die gesamte politische und intellektuelle Elite gehörte, und in der Latein die Sprache der Wissenschaft, Französisch aber die Umgangssprache war. Doch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts keimte auch bei den wohlhabenden Bürgern, die bis dahin von der Elite ausgeschlossen waren, ein zartes Gefühl der Verantwortung für alle Staatsangelegenheiten auf und sie begannen zu fordern, dass auch ihre Interessen berücksichtigt werden sollten. Schließlich waren sie ja die Vertreter des Volkes und konnten die Belange der Nation besser wahrnehmen als die alte Elite, die sich in Sprache und Kultur dem eigenen Volk entfremdet hatte. Im Rahmen dieser Politisierung des patriotischen Gefühls wurde das Studium der eigenen Geschichte immer wichtiger, und deshalb nahm auch das Mittelalter in der Darstellung der europäischen Vergangenheit breiteren Raum ein. Die Welt, die im Mittelalter entstanden war, ging erst im Laufe des 18. Jahrhunderts zu Ende, so dass es nun zum ersten Mal möglich wurde, auf diese vergangene Epoche zurückzublicken, und zwar mit derselben Wehmut und Verwunderung, mit der Petrarca die Antike betrachtet hatte.

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Kapitel 2

Entdeckung Eine deutsche Kathedrale

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nfang April 1770 traf der junge Goethe in Straßburg ein, um an der dortigen Universität sein Jurastudium abzuschließen. Der Lehrstoff war nicht schwierig und ließ ihm genug Zeit, die Stadt mitsamt Umgebung gründlich zu erkunden und neue Freundschaften zu schließen. Entscheidend für Goethes Zukunft war seine Begegnung mit Johann Gottfried Herder, der einige Monate später zu einer Augenoperation nach Straßburg kam. Obwohl Herder nur ein paar Jahre älter war als Goethe, begann er in Deutschland schon berühmt zu werden, vor allem durch seine Bemühungen, die deutsche Kultur zu erneuern dank einer Rückbesinnung auf ihren Ursprung, das heißt auf die mittelalterliche Poesie und alte Volksüberlieferungen. Als Goethe den neuen Freund während seiner Genesung pflegte, konnte Herder ihn davon überzeugen, sein Leben der Wiederbelebung der deutschen Sprache und Literatur zu widmen. Um gleich damit anzufangen, schickte Herder den jungen Goethe in die Dörfer rings um Straßburg, um dort traditionelle Balladen und Volkslieder zu sammeln und aufzuzeichnen, ehe sie endgültig verlorengehen konnten.1 Viel mehr als die Volksliteratur war es jedoch das Straßburger Münster, das Goethe die Schaffenskraft deutscher Meister und damit die großartige, einzigartige Vergangenheit Deutschlands ins Bewusstsein rief. Die Schönheit der Kirche überwältigte Goethe: „Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, [...] wie oft bin ich zurückgekehrt, diese himmlisch-irdische Freude zu genießen, den Riesengeist unsrer älteren Brüder in ihren Werken zu umfassen.“ Dies überraschte ihn um so mehr, als, nach eigener Aussage, noch die Vorurteile seiner Zeit in ihm steckten, wonach Gotik gleichzusetzen war mit Unordnung und Unnatürlichkeit, ja mit allem, was ein Mensch mit gutem Geschmack 89

Entdeckung

verabscheuen sollte.2 Und jetzt sah er mit eigenen Augen, wozu der Genius eines mittelalterlichen Werkmeisters wie Erwin von Steinbach imstande gewesen war. Dem Architekten des Münsters war es gelungen, aus den einzelnen Elementen der Gotik ein lebendiges Ganzes zu schaffen, ein Monument, das jeden, der es in sich aufnahm, erfüllen musste mit dem „tiefste[n] Gefühl von Wahrheit und Schönheit der Verhältnisse, würkend aus starker, rauher, deutscher Seele auf dem eingeschränkten düstern Pfaffenschauplatz des medii aevi, der Mittelzeit“.3 Im Baumeister des Straßburger Münsters verherrlichte Goethe den Genius des Künstlers, der in seinen Kunstwerken alle Beschränkungen von Raum und Zeit überwindet und uns einen flüchtigen Einblick gewährt in die Welt des einzig Wahren und Schönen.4 Wie man aus dem letzten Zitat erkennt, war es nicht Goethes Absicht, das Mittelalter als Epoche zu verherrlichen. Er konfrontierte nicht, wie spätere Generationen, einen verbrauchten Klassizismus mit einer erfrischenden Gotik. Goethe suchte nach einer Kunst, die sich freimachte von Konventionen und Regeln, die ihre Quelle in Ursprünglichkeit und Ungebundenheit fand. Hierin war er typisch für seine Generation deutscher Dichter und Schriftsteller, den Männern des Sturm und Drang, die sich einer Hofkultur, die Frankreich als großes Vorbild sah, heftig widersetzten, um die Originalität des deutschen Geistes neu zu entdecken. Doch während Herder diese Ursprünglichkeit vor allem in der traditionellen Volkskultur fand, war die für Goethe nicht so wichtig wie das geniale Individuum, das sich von ewiger Schönheit durchdringen lässt und ihr mit den Mitteln seiner Zeit Form verleiht. Ein solcher Künstler war für Goethe wie ein Gesalbter des Herrn, vor dem jeder niederknien muss.5 Obwohl Goethe in seiner Ode an das Straßburger Münster nur den Künstler verherrlichen wollte und nicht die Zeit, in der dieser gelebt hatte, war sein Aufsatz Von deutscher Baukunst von entscheidender Bedeutung für den Wandel, den das Bild der mittelalterlichen Vergangenheit im späten 18. Jahrhundert erfuhr. Noch nie hatte jemand, der zu den führenden Intellektuellen seiner Zeit gehörte, ein Monument aus dem Mittelalter so rückhaltlos gepriesen und gezeigt, dass auch mittelalterliche Künstler zu einer Originalität imstande waren, die den Ver90

Eine deutsche Kathedrale

gleich mit den Griechen und Römern nicht im geringsten scheuen musste. Erwin von Steinbach stand für Goethe auf einer Stufe mit allen Künstlern aus allen Epochen, denen es gelungen war, dem zeitlosen Schönheitsideal in der Zeit Gestalt zu verleihen. Goethe verabschiedete sich von der Überzeugung, dass Schönheit (und Wahrheit) nur in der Antike zu finden war (waren). Ein echter Liebhaber der mittelalterlichen Kultur ist Goethe nie geworden, das zeigt allein die Tatsache, dass er Erwin von Steinbach vor allem für seine erfolgreichen Bemühungen lobte, sich über den „Pfaffenschauplatz des medii aevi“ zu erheben.6 Dennoch hat es Goethe als einer der ersten geschafft, einem großen Publikum zu zeigen, dass das Mittelalter im großen Ganzen der europäischen Kultur einen nicht wegzudenkenden Platz einnimmt.7 Dass Goethe die Schönheit des Straßburger Münsters so tief empfand, ist ein sprechender Beweis dafür, dass er selbst zu dieser höchsten Kategorie von Künstlern zählte, die er mit Erwin von Steinbach verherrlicht hat. Doch selbst die kreativsten Künstler sind Kinder ihrer Zeit, was die Frage aufwirft, wie es möglich war, dass Goethe alle Vorurteile seiner Zeit über die Gotik und das Mittelalter für einen Moment beiseite schieben konnte, um diese Zeit mit ihrer Kunst unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Goethes Plädoyer für eine ursprüngliche und unkonventionelle Kunst folgte den kulturkritischen Tönen, die seit dem frühen 18. Jahrhundert zu hören waren. Schon damals herrschte allgemein der Eindruck vor, Kunst und Literatur seien viel zu gekünstelt geworden, überladen mit einengenden Regeln, die jede Kreativität im Keime erstickten. Um dem zu entrinnen, rühmte man die Literatur des Mittelalters wegen ihrer Schlichtheit, Ungezwungenheit und Originalität als eine Alternative zur Tyrannei des Klassizismus (siehe S. 81). Hier knüpfte Goethe an, ging jedoch in Von deutscher Baukunst viel weiter als La Curne de Sainte-Palaye oder Walpole oder irgendein anderer Autor des Gothic revival. Die wollten ihre Leserschaft nur mit Geschichten über Ritter, Strauchdiebe und Jungfrauen in unterirdischen Gängen unterhalten. Goethe und seine Generation verabscheuten diesen Umgang mit dem Mittelalter zutiefst. Der Dichter Ludwig Tieck verhöhnte den Me91

Entdeckung

diävalismus der vorangegangenen Generation, denn der handle nur von „Riesen, Zwergen, Gespenstern, Hexen, etwas Mord und Totschlag, Mondschein und Sonnenuntergang, dies mit Liebe und Empfindsamkeit versüßlicht“.8 Die Generation des Sturm und Drang wollte einen kulturellen Umschwung erzwingen und benutzte dafür das Mittelalter als Brechstange. Was lediglich ein Gesellschaftsspiel war, verwandelte sich bei ihnen in blutigen Ernst. Den europäischen Dichtern und Denkern reichten nach 1750 die antiken Autoren nicht länger aus, um die Gegenwart zu begreifen und ihren Platz in der Geschichte Europas und der Welt zu bestimmen. Die antiken Klassiker blieben zwar wichtig und faszinierend – schließlich waren das die Jahre der großen Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum – doch es wurde immer offensichtlicher, dass man die Gegenwart erst wirklich verstehen kann, wenn man auch die dunklen Jahre von 500 bis 1500 in die Betrachtungen mit einbezieht und ernsthaft erforscht. Die Entdeckung des Mittelalters hatte begonnen. Die Entdeckung des Mittelalters ging also der Bewegung der Romantik voraus. Vor allem aufgrund von Standardwerken wie Meineckes Entstehung des Historismus (1936) hat man lange allgemein angenommen, dass die aufgeklärten Denker rationalistisch und ahistorisch waren, während die Romantiker von Gefühlen und Geschichte angetrieben wurden.9 Dieser Standpunkt erwies sich als unhaltbar. Mittlerweile steht fest, dass im 18. Jahrhundert ein gewaltiges Interesse an Geschichte bestand und auch das Studium des Mittelalters dazugehörte.10 Dennoch war dieses Interesse völlig anders als später in der Romantik geartet. Die aufgeklärten Historiker sahen in der mittelalterlichen Gesellschaft noch immer viel Negatives, doch sie suchten und fanden darin auch erste Anzeichen für den Fortschritt, durch den Europa zum Mittelpunkt der Welt geworden ist, während die Romantiker in einem späteren Stadium, abgeschreckt durch die Gewalt der Französischen Revolution, das Mittelalter vor allem als eine Zeit der Ordnung und Autorität darstellten, die eine verlockende Alternative zur chaotischen und gewaltsamen revolutionären Gesellschaft bieten konnte. Aufgeklärte Historiker suchten im Mittelalter eher nach den Quellen der modernen Gesellschaft, sie erkannten Kontinuität, wo Romantiker 92

Fortschritt der Zivilisation

Diskontinuität sahen und den Kontrast zwischen dem Mittelalter und der modernen Epoche betonten. Für beide Strömungen war die Geschichte Europas unverständlich, wenn man nicht das Mittelalter darin einbezog. Aufklärung und Romantik bildeten gemeinsam die Grundlage für das moderne Europa; darum blieb seitdem in jeder Abhandlung über das immer noch umstrittene Mittelalter die Spannung zwischen einem reservierten, aufgeklärten Respekt und einer begeisterten romantischen Bewunderung eine Konstante.

Fortschritt der Zivilisation Das neue Interesse am Mittelalter beruhte auf einer grundlegenden Veränderung bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit. Dies begann sich bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts abzuzeichnen. Die Reformation hatte schon die Selbstverständlichkeit der christlichen Vergangenheit problematisiert, und die naturwissenschaftlichen Entdeckungen einiger Gelehrter wie Kopernikus, Galilei und Newton hatten die Autorität der antiken Naturphilosophen untergraben. Durch die großen Entdeckungsfahrten mit der anschließenden Kolonisation kam Europa zudem in Kontakt mit Völkern und Kulturen, die weder in der traditionellen Geschichtsdarstellung der Bibel noch bei den antiken Autoren vorkamen. Vor allem die Entdeckung der amerikanischen Indianervölker verursachte einen enormen Schock, weil man sie, im Gegensatz zu den Indern und Chinesen, in kein bekanntes Schema pressen konnte. Das Faszinierende an den Indianern war, dass sie – in den Augen europäischer Gelehrten – ein primitives Kulturstadium repräsentierten, das nirgendwo sonst auf der Welt vorkam: Sie waren nicht sesshaft und betrieben keine Landwirtschaft, sondern lebten von dem, was die Urwälder und Prärien, in denen sie lagerten, an Früchten und Wild hergaben. Man ließ nichts unversucht, ihnen doch noch einen Platz im vertrauten Rahmen zuzuweisen: Glichen sie vielleicht den Germanen, wie Tacitus sie beschrieben hat, oder den bei Herodot erwähnten Skythen? Alles wurde versucht, doch letztendlich schien es 93

Entdeckung

unmöglich, in alte Schemata zurückzufallen. Diese Indianer stellten das primitivste Stadium einer menschlichen Gemeinschaft dar, das der Jäger und Sammler. Dieser Schluss warf zwei neue Fragen auf: Erstens, ob nicht vielleicht alle Kulturen, auch die europäische, ein vergleichbar primitives Stadium durchgemacht hätten, und zweitens, ob nicht der einzige Unterschied zwischen dem hochzivilisierten Europa und den amerikanischen Wilden in einer zeitlich verschobenen Entwicklung bestünde. Schon bald waren das keine Fragen mehr, sondern feststehende Tatsachen: Dort, wo die Indianer jetzt noch standen, ist Europa in ferner Vergangenheit einmal gewesen.11 Es wurde Aufgabe der Geschichtswissenschaft, diese Entwicklung des Zivilisationsprozesses zu analysieren, um aufzuzeigen, dass jede Kultur ein sich stetig entwickelndes Ganzes ist, in dem logischerweise das Höhere aus dem Niedrigeren hervorgeht. In diesem Prozess sollte demnach jede Kultur drei Stadien durchlaufen: Das primitivste Stadium wäre das der Wilden, der Jäger und Sammler, heute noch in Amerika zu sehen, dann folge die Phase der (nomadisierenden) Viehzucht und des (sesshaften) Ackerbaus, oft zusammengefasst unter dem Etikett barbarisch. Diese münde im Laufe der Zeit in die Phase einer kommerziellen Zivilisation, die alle Philosophen des 18. Jahrhunderts als höchste Stufe der menschlichen Gesellschaft betrachteten, und die sich bisher nur in Europa voll entwickelt hatte. Vor allem die schottischen Aufklärer verherrlichten die Kommerzialisierung der Gesellschaft als ein entscheidendes Stadium im Zivilisationsprozess.12 In einer solchen Beschreibung des historischen Ablaufs erhielt das Mittelalter eine ganz andere Stellung als in der christlich-humanistischen Geschichtsbetrachtung der Renaissance. Sobald man den Lauf der Geschichte als Fortschritt auslegte, fiel die Vorbildfunktion der klassischen Antike zum großen Teil weg. Egal, wie beeindruckend die Leistungen der Griechen und Römer gewesen sein mochten, sie repräsentierten ein überholtes Stadium der Menschheitsentwicklung. Noch viel wichtiger war, dass man in einem genetischen Geschichtsmodell, wie die Schotten es konstruierten, das Mittelalter nicht länger als störendes Intermezzo zwischen Rom und der Renaissance abtun konnte. In einem solchen Schema war kein Raum für Unterbrechungen in der 94

Fortschritt der Zivilisation

Entwicklung, weil die Evolution der Menschheit stetig voranschritt, und das bedeutete, dass man darin auch den Platz des Mittelalters neu überdenken musste. Dies war ein notwendiges Stadium auf dem Weg zu Europas Entfaltung in Aufklärung und Freiheit. In den historischen Werken schottischer und englischer Historiker des 18. Jahrhunderts wie David Hume, Richard Hurd und William Robertson können wir verfolgen, wie sich dieses Bewusstsein von der Bedeutung des Mittelalters in der Entwicklung Europas langsam und widerwillig, aber dennoch unaufhaltsam durchgesetzt hat. Der schottische Historiker William Robertson wurde unter anderem durch seine Geschichte der Regierung Kaiser Karls V. aus dem Jahre 1769 berühmt, eines der meistgelesenen historischen Bücher des 18. Jahrhunderts. In der Einleitung dieses Werkes skizzierte er kurz die Geschichte Europas im Mittelalter. Hier erwies sich Robertson als würdiger Erbe der Humanisten, da er von der mittelalterlichen Kultur mit größtmöglicher Geringschätzigkeit sprach, doch zugleich großartig veranschaulichte, dass das Mittelalter einen nicht wegzudenkenden Teil der europäischen Geschichte bildete. Schließlich war es die Zeit, in der die Nationen Nordeuropas jene großen Schritte unternahmen, die sie von der Barbarei zur Zivilisation führen sollten.13 Wie doppeldeutig Robertson das Mittelalter beurteilt hat, zeigt sich unter anderem in seinen Aussagen zur Scholastik. Er nannte sie eine „vain philosophy“, die versucht hat, den Fragen zu den Geheimnissen des christlichen Glaubens auf die Spur zu kommen, die das begrenzte Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes weit überstiegen. Doch allein die Tatsache, dass die scholastischen Gelehrten scharfe Fragen gestellt haben, zeugt von einem Forschergeist, der in die Zukunft wies, der jedoch, um fruchtbar zu werden, ein anderes Betätigungsfeld jenseits der Theologie finden musste.14 Wie alle seine Zeitgenossen im 18. Jahrhundert hielt Robertson den Handel für eines der wichtigsten Instrumente der Zivilisation. Darum war für ihn der Aufschwung des Handels ab dem 12. Jahrhundert der bedeutendste Beitrag des Mittelalters zu Europas Zukunft. Als Triebfedern hierzu bezeichnete er die italienischen Städte und den wichtigen Kontakt zwischen Italien und Flandern. Gleichzeitig sprach er mit 95

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Hochachtung von den Kaufleuten der Hanse, die „das erste systematische Handelskonzept im Mittelalter“ entworfen hätten. Dass es damals nicht leicht war, seine Zeitgenossen für den Handel zu interessieren, zeigen die Schwierigkeiten, auf die der englische König Eduard III. stieß, als er erste Projekte in Angriff nahm, um seine Untertanen an den Reichtümern Flanderns und Italiens teilhaben zu lassen. Er musste erst flämische Kaufleute und Handwerker nach England holen, um ein Klima zu schaffen, in dem Handel und Gewerbe gedeihen konnten. Damit schuf er die Grundlage für Englands Stellung als größte unter allen Handelsnationen. Ähnlich wie Hume mochte Robertson das Mittelalter nicht, doch für beide war diese Epoche die Basis für Europas Größe und Macht.15 In Voltaires historischen Schriften verhielt es sich nicht anders. Es wäre einfach – und ist auch schon oft gemacht worden – eine Liste aller hässlichen Dinge zusammenzustellen, die Voltaire über das Mittelalter gesagt hat. So beschrieb er die Geschichte der karolingischen Fürsten als einen außer Kontrolle geratenen Streit zwischen barbarischen Bandenführern und Bischöfen um die Frage, wer den Gebieter über einen Haufen debiler Höriger spielen darf. Und natürlich kritisierte Voltaire die mittelalterliche Kirche. Abgesehen davon, dass sie Unwissenheit und Aberglauben verbreitet habe, warf er der Kirche vor allem vor, dass sie auch die weltliche Herrschaft über Europa erringen wollte und dabei den Fürsten in die Quere gekommen wäre, so dass sich die Entstehung moderner, souveräner Staaten um Jahrhunderte verzögert habe. Die später von allen französischen Historikern, sowohl den linken als auch den rechten, hochgepriesene Jeanne d’Arc hat Voltaire als Schankmädchen beschrieben, das vom Thronanwärter Karl (dem späteren König Karl VII.) und seinem Hof in Bourges schamlos ausgenutzt worden sei.16 Allerdings lästerte er nicht nur, sondern schrieb auch einiges mit Hand und Fuß. Erstens knüpfte Voltaire an die Tradition der Modernes aus der Zeit um 1700 an und entmythologisierte die Antike gründlich. Er bewunderte die Kultur Griechenlands und Roms zwar, war jedoch davon überzeugt, dass die moderne Zivilisation die klassische Antike weit hinter sich gelassen habe. Die Schönheit der Gedichte von Ariost 96

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und Torquato Tasso überstieg, nach Voltaires Meinung, bei weitem die der Ilias und der Odyssee. Ein Wissenschaftler wie Galilei war demnach ebenso sprachgewaltig wie Plato, hatte jedoch den großen Vorteil, dass seine Aussagen überprüfbar und verständlich waren.17 Viel wichtiger als die Relativierung der klassischen Kultur war, dass auch Voltaire mit der humanistischen Geschichtsauffassung brach. Zum Prozess der Jeanne d’Arc in Rouen meinte er, dass so ein grausiges Beispiel von Unwissenheit und Aberglauben im Mittelalter zwar keine Ausnahme gewesen wäre, dass allerdings solche Dummheiten in jedem Jahrhundert vorkämen, von der Antike bis heute. Das sieht nach einer banalen Feststellung aus, bedeutete jedoch, dass die klassische Antike nicht länger als Vorbild gelten konnte. Voltaire beschrieb die mittelalterliche Kultur nicht als finsteres Gegenstück zur antiken oder modernen Kultur, sondern erläuterte, dass das Mittelalter das gleiche Gemisch aus Licht und Finsternis aufwies wie jede andere Epoche der Geschichte und dass keine einzige Zeit mustergültig sei.18 Voltaires Behandlung des Mittelalters zeigte dieselbe Doppeldeutigkeit wie bei Hume und Robertson: Verärgerung über die Dummheit der damaligen Menschheit wechselte sich ab mit Bewunderung für ihre Leistungen und Initiativen. Die Bewunderung siegte über die Abneigung, als Voltaire versuchte aufzuzeigen, wie in Europa nach den chaotischen Jahrhunderten der Völkerwanderung allmählich staatliche Macht und bürgerliche Freiheit Form annahmen. Voltaire war Verfechter einer starken, souveränen Autorität und bewunderte Monarchen wie Friedrich II. von Preußen und Katharina II. von Russland. Doch genauso war er davon überzeugt, dass das Recht die Grundlage aller Staaten bilden müsse, weil Freiheit nur dort existieren könne, wo das Gesetz alle gleichermaßen vor Willkür schütze. Die mittelalterliche Geschichte besaß für ihn eine doppelte Dynamik: Die Fürsten kämpften für eine Vergrößerung ihrer Macht und die Bürger für den Erhalt ihrer Rechte. Ihre Gegner waren Adel und Klerus. In allen europäischen Länder habe der Adel immer nur ein Ziel verfolgt: Den eigenen Grundbesitz sicherzustellen, und dazu einerseits seine absolute Macht über alle darauf wohnenden Menschen durchzusetzen, und andererseits jede Einmischung von höherer Seite abzulehnen oder zu sabotieren. 500 Jahre lang sei Eu97

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ropa von diesem feudalen System geknechtet worden, Städte wären dadurch untergegangen und Handel wie Kultur erstickt worden.19 Für Voltaire bestand die wichtigste Aufgabe der mittelalterlichen Fürsten darin, den Adel unter Kontrolle zu bekommen und der feudalen Anarchie ein Ende zu setzen. Der englische König Alfred der Große war der erste, der dies mit Erfolg versucht hat, obwohl er vor einer schier unmöglichen Aufgabe stand. Die Engländer waren nicht nur hoffnungslos entzweit, darüber hinaus bedrohte auch noch eine Normanneninvasion ihre Unabhängigkeit. Dennoch gelang es Alfred, Frieden und Einheit zu stiften sowie Normannen und Engländer unter einer Herrschaft zu vereinen. Das schaffte er erstens dadurch, dass er London zur Hauptstadt machte, doch viel wichtiger war nach Voltaires Meinung, dass er England eine weise Gesetzgebung geschenkt habe. Er war der Begründer der Juryrechtsprechung, er unterteilte das Land auch in übersichtliche Verwaltungseinheiten, die shires (Grafschaften), und er war der erste, der den Handel gefördert hat. Hier erkennt man Voltaires Ideal: ein starker Fürst, der seine Macht einsetzt, um das Recht und das Wachstum der Wirtschaft zu unterstützen. In dieser Hinsicht hat England mit seinen Fürsten immer Glück gehabt. Fürsten wie Heinrich II. setzten im 11. und 12. Jahrhundert Alfreds Werk fort und brachen die Macht des Feudaladels, indem sie eine Zentralverwaltung schufen und die Städte förderten.20 In ihrem Kampf gegen Adel und Kirche waren die Städte von Anfang an Verbündete der Könige. Die Fürsten konnten sich nur an die Städte wenden, wenn sie Geld für eine bessere Zentralverwaltung oder ein unabhängiges Heer brauchten. Die Städte ihrerseits brauchten den König, um ihre Freiheit gegen die Willkür von Adel und Kirche zu schützen. Die italienischen Städte waren die ersten, denen es gelang, sich der deprimierenden feudalen Herrschaft zu entziehen und sich so zu reichen Handelsrepubliken zu entwickeln. In Italien setzte die Blüte von Kunst und Kultur im 12. und 13. Jahrhundert ein und erreichte hier ihren ersten Höhepunkt. Leider begingen die Bürger der italienischen Republiken, vor allem in Venedig, einen fatalen politischen Fehler und ließen zu, dass die Macht des Patriziats erblich wurde, ohne dass sie dabei auf ein Gegengewicht mit einer gesetzgebenden Körper98

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schaft bestanden, in der verdienstvolle Bürger Gehör finden konnten. Dadurch kam die politische und wirtschaftliche Entwicklung Italiens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Erliegen.21 Was möglich gewesen wäre, wenn der Zugang zu Regierungskreisen offen geblieben wäre, zeigt England, das Land, das Voltaire ganz besonders bewundert hat. Im 13. Jahrhundert erhielt die stark entwickelte Zentralregierung mit der Institution des Parlaments ein Gegengewicht. Dadurch blieb der Zugang zur gesetzgebenden Gewalt immer für diejenigen offen, die sich nicht aufgrund ihrer Abstammung sondern durch eigene Anstrengungen einen Weg nach oben gebahnt hatten. In keinem anderen Land entwickelte sich im Mittelalter eine so glückliche Kombination zwischen den beiden Elementen, auf die sich jeder Staat stützen sollte: eine starke souveräne Macht, die Adel und Kirche bändigen kann, und ein freies, wohlhabendes Bürgertum, das durch seine Teilnahme am Gesetzgebungsprozess die Herrschaft des Rechts garantiert. Für Voltaire war es darum selbstverständlich, dass England die Fackel von Italien übernommen hatte und zur wohlhabendsten und kultiviertesten Nation Europas aufgestiegen war.22 Das abschließende Urteil Voltaires über die mittelalterliche Geschichte Europas war längst nicht so negativ, wie seine spöttischen Bemerkungen über Barone und Priester vermuten ließen. Er fasste es in einem Bild zusammen: Während sich im Mittelalter oben am Himmel ein abscheuliches Schauspiel von einander zerfetzenden Geiern und Adlern abspielte, gruben die Bürger auf der Erde wie fleißige Ameisen unbemerkt ihre Höhlen, um in ihnen Reichtümer zu stapeln.23 Das Mittelalter wirkte demnach barbarisch, doch wer richtig hinschaute, sah, dass es eine Zeit stillen, doch unaufhaltsamen Fortschritts war, den man erst jetzt richtig erkannte.

Die Unvergleichbarkeit der Kulturen Eine noch radikalere Veränderung des historischen Bewusstseins fand währenddessen in den deutschen Ländern statt. Im Zeitalter der Aufklärung waren die schottischen, englischen und französischen Gelehr99

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ten für historische Veränderungen und für die Entwicklung der Kulturen empfänglich. Dennoch gingen sie davon aus, dass sich alle Kulturen nach ein und demselben Schema entwickelten, von Jägern zu Bauern und dann weiter zu Händlern, und dass zwischen den Kulturen höchstens zeitlich ein größerer Unterschied bestünde. So hat Bischof Richard Hurd in seinen Letters on chivalry and romance (1762) die Ritterzeit mit Homers Griechenland verglichen, um sie zu verstehen. So wie sich Griechenland von einem Urstadium der Mythen und Legenden zur Hochkultur des klassischen Athen entwickelt habe, so habe dies auf ganz ähnliche Weise auch Westeuropa getan.24 Das war ein optimistischer Ansatz, gegründet auf der festen Überzeugung der aufklärerischen Philosophen, dass die menschliche Natur in allen Kulturen gleich sei, in allen Zeiten immer dieselbe gewesen sei, und sich, solange die Umstände günstig sind, auch immer auf dieselbe Weise weiterentwickeln werde.25 Die deutschen Gelehrten der Aufklärung hegten hier ihre Zweifel. Warum die deutsche Aufklärung in dieser Frage einen eigenen Kurs eingeschlagen hat, ist umstritten. Anfang des 18. Jahrhunderts hatten deutsche Juristen entdeckt, dass die Struktur des Reiches nicht im geringsten der des klassischen Römischen Reiches glich, übrigens auch nicht irgendeiner anderen Staatsform: Sie war keine Monarchie, keine Aristokratie und keine Demokratie, sie besaß eine völlig einzigartige – ziemlich bizarre – Verwaltungsstruktur, die man nur durch empirische historische Forschung analysieren konnte.26 Möglicherweise hat der Zerfall Deutschlands in hunderte kleine Staaten die deutschen Aufklärer für Unterschiede zwischen Ländern und Regionen einfach empfänglicher gemacht, als die Gelehrten in homogenen Staaten wie Frankreich und England.27 Andere Forscher verweisen auf den Einfluss des deutschen Pietismus, eine Strömung der lutherischen Kirche, die besonders viel Wert auf Innerlichkeit und individuelle Verantwortung legt. Dadurch entstand in Deutschland angeblich mehr Gefühl für alles, was Menschen und Kulturen voneinander trennt, und weniger für das, was sie verbindet.28 Fest steht, dass die erste Generation aufklärerischer Denker in Deutschland zum großen Teil aus pietistischen Kreisen kam und sich 100

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auch dauerhaft mit ihnen verbunden fühlte, ganz im Gegensatz zu Frankreich, wo sich die Aufklärung ganz von Kirche und Religion abwandte.29 Dabei spielte auch eine Rolle, dass die deutsche Aufklärung vom aufkommenden Bildungsbürgertum getragen wurde, das sich klar von der Vorherrschaft der klassizistischen, französischen Kultur an den deutschen Fürstenhöfen abgrenzte. Ein gefeierter deutscher Fürst wie Friedrich der Große von Preußen sprach kaum ein Wort deutsch. Aus Protest gegen diese Aristokratenkultur begannen aufgeklärte Bürger, nach dem Besonderen der deutschen Volkskultur zu suchen.30 Tatsache ist, dass die Verwunderung über die enorme Verschiedenartigkeit der einzelnen Völker und Kulturen, sowohl in der eigenen Zeit als auch in der Vergangenheit, in Deutschland die Frage aufwarf, ob die Unterschiede zwischen all diesen Kulturen nicht doch wesentlich fundamentaler sein könnten, also mehr als nur eine zeitliche Verschiebung in der Entwicklung. Kann man Kulturen überhaupt miteinander vergleichen, und kann man eine Kultur in der Terminologie einer anderen beurteilen? Es sah eher so aus, als ob jede Kultur und jedes Volk einen völlig einzigartigen Charakter besitzt, dass es also nicht nur eine einzige menschliche Kultur gibt, die sich in einer Reihe miteinander vergleichbarer, weil im wesentlichen übereinstimmenden Kulturen äußert. So wie jeder Mensch ein einzigartiges Individuum bildet, müsste es demnach auch mit Völkern und Kulturen sein: Jedes Volk besitzt seine Eigenart, die sich auf eigene Weise entwickelt, die man durch Vergleiche nie begreifen wird, sondern nur, indem man sich in sie hineinlebt. Den Anfang jeder Wissenschaft, die sich mit dem Menschen und seinen geistigen Produkten beschäftigt, sollte nicht Erkennen, sondern Verwunderung bilden. In seiner radikalsten Form führt diese Theorie zur Leugnung aller universellen menschlichen Werte und zu einem totalen Relativismus. Diese Konsequenz wurde erst im 20. Jahrhundert gezogen, und zwar vor allem in der Postmoderne. Im 18. Jahrhundert war der Glaube an die fundamentale Einheit der menschlichen Natur noch viel zu groß dazu. In seinem Aufsatz über das Straßburger Münster wollte Goethe zwar den deutschen Genius des Mittelalters rühmen, zugleich aber auch zeigen, dass sich gerade in der Besonderheit des Mittelalterlichen 101

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und des Deutschen die universelle Kraft der Schönheit und Wahrheit offenbart hat. Doch auch ohne die letzten Konsequenzen zu ziehen war diese neue Erkenntnis einer Einmaligkeit von Zeiten und Völkern schon radikal genug. Natürlich bedeutete dies, dass die klassische Antike nicht länger als Norm für jede Kultur gelten konnte. Deutsche Theologen wie Johann Semler und Johann Michaelis zogen sogar die noch viel schockierendere, aber unvermeidliche Schlussfolgerung, auch die Bibel würde keine zeitlosen und allgemein gültigen Wahrheiten und Normen enthalten, sondern wäre das Produkt einer asiatischen Viehzüchterkultur, bei dem man nur nach sorgfältiger kritischer Forschung die göttliche Frucht aus der historischen Schale pulen könnte.31 Deutsche Theologen und Historiker waren im Allgemeinen besser in der konkreten, detaillierten Forschung als darin, grundlegende Prinzipien zu formulieren. Der erste, der versucht hat, eine zusammenfassende Philosophie der Geschichte zu entwickeln, die den einzigartigen Charakter jeder Kultur zum Ausgangspunkt nimmt, war Johann Gottfried Herder, der Mann, mit dem sich Goethe in Straßburg angefreundet hatte.32 Weltgeschichte ist nach Herder die Bündelung der Geschichten aller verschiedenen Völker und ihrer Kulturen. Jedes Volk habe seine angeborenen Eigenarten und entwickele sich nach eigenen, besonderen Gesetzen.33 Darum verdiene jedes Volk gleich viel Respekt und müsse nach seinen eigenen Grundsätzen beurteilt werden, nicht nach unseren. Herder bezweifelt, dass es sinnvoll ist, das Christentum auf anderen Kontinenten zu predigen, und fragt sich ehrlich, ob die Missionare und Bekehrer mit ihrer Botschaft nicht mehr Schaden anrichteten als Heil zu bringen.34 So wie jedes Volk, besitzt demnach auch jede historische Epoche ihre einzigartige Eigenheit. Herder warf seinen Zeitgenossen vor, dass sie unbegründet davon ausgingen, selbst die glücklichsten und besten Menschen von allen zu sein, und dies an andere weitergeben zu wollen. Das ist nach Herders Ansicht völliger Unsinn; Glück und Tugend sind ihm zufolge gleichmäßig über alle Erdteile und alle Jahrhunderte verteilt. Er verspottete den „allgemeinen, philosophischen und menschenfreundlichen Ton unsres Jahrhunderts“, das so großmütig „gönnet, jeder entfernten Nation, jedem ältesten Zeitalter der Welt, an Tugend und Glückseligkeit 102

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so gern ‚unser eigen Ideal‘.“35 Dies bedeutet nicht, dass Herder keinen Fortschritt sah, im Gegenteil, er war fest davon überzeugt, und blieb hierin ein Philosoph der Aufklärung, dass das letztendliche Ziel der Geschichte in der Verwirklichung dessen liege, was er Humanität nannte, nur dass der Weg zum Endziel keine gerade Linie wäre. Jedes Volk kenne Perioden der Blüte und des Niedergangs, doch das vergrößere nur die Notwendigkeit, jedes Zeitalter allein für sich zu untersuchen, ohne es mit dem, was davor oder danach komme, zu vergleichen.36 Bei einer solchen Auffassung von Geschichte liegt es auf der Hand, dass Herder einen anderen Blickwinkel auf das Mittelalter erhielt, doch dies gilt nur teilweise. Er versuchte wirklich sein Bestes, hatte jedoch größte Mühe, über das Mittelalter ein günstigeres Urteil zu fällen. Die gotische Architektur fand er immer schrecklich. Als er 1773 Goethes Abhandlung über das Straßburger Münster in den Band Von deutscher Art und Kunst aufnahm, setzte er gleich dahinter den Beitrag eines obskuren Italieners, der darin alle traditionellen Vorurteile gegen die Gotik noch einmal haarklein aufgelistet hatte.37 Ein einzelner Mann, und mochte seine philosophische Bildung noch so groß sein, reichte eben nicht aus, um 300 Jahre an Vorurteilen ungeschehen zu machen. Am positivsten äußerte sich Herder zum Mittelalter in seinem ersten Entwurf zu einer neuen Geschichtsinterpretation, Auch eine Philosophie der Geschichte, aus dem Jahre 1774. Bevor er in diesem Buch anfing, das Mittelalter zu behandeln, holte er noch einmal tief Luft und erinnerte sich daran, dass man keine Zeit und keine Kultur mit einer anderen vergleichen dürfe. Die mittelalterliche Ritterzeit könne man nicht mit der griechischen Heldenzeit vergleichen, weil sie wie alle anderen Zeiten „Einzig! – nur sich selbst gleich“ wäre.38 Anschließend wandte er sich scharf gegen das Mittelalterbild, wie es in den Werken von Robertson, Hume und Voltaire erschien. Ihr Fehler bestünde darin, dass sie erst die dunkelsten Seiten des Mittelalters aufzählten – Barbarei, Dummheit, mangelhafte staatliche Institutionen, Fehlen guter Sitten – und diese Seiten konfrontierten sie dann mit der Freiheit und dem Licht ihrer eigenen Zeit, die sie für das Höchste hielten, was die Menschheit je erreicht hat. Herder wollte nicht leugnen, dass das Mit103

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telalter in vieler Hinsicht barbarisch war: „Ich will nichts weniger, als die ewigen Völkerzüge und Verwüstungen, Vasallenkriege und Befehdungen, Mönchsheere, Wallfahrten, Kreuzzüge vertheidigen: nur erklären möchte ich sie: wie in allem doch Geist hauchet!“39 Herder malte darum zuerst ein desolates Bild von der spätrömischen Zeit. Es war eine ausgelaugte, entkräftete, zerrüttete Welt, die tot war wie eine in ihrem eigenen Blut liegende Leiche. Europa wurde vor dem Untergang bewahrt, weil im Norden ein neuer Mensch geboren wurde, der einen neuen Frühling ankündigte. Die Einfälle der germanischen Stämme ins römische Reich erweckte die alte Welt zu neuem Leben. In den anschließenden Jahrhunderten verschmolzen die Vitalität des Nordens und die Weisheit des Südens nach und nach zu einem harmonischen Ganzen, verstärkt durch den Nährboden des Christentums.40 Natürlich war es eine Epoche voller Gewalt, aber auch eine Zeit der Gärung, in der aus vielen einzelnen Elementen ein neues Ganzes geschaffen wurde. Die unterschwellige Einheit des Mittelalters wurde durch die eine Kirche mit ihrem Oberhaupt, dem Papst, gebildet sowie durch die Tatsache, dass alle neuen Völker und Königreiche „von einem deutschen Geschlechte“ waren.41 An einer Stelle seufzte Herder sogar, dass er manchmal diese raue, ungebildete Zeit dem zeitgenössischen Jahrhundert des Lichtes, Unglaubens und der philosophischen Mattigkeit vorziehen würde.42 Hier erhaschen wir zum ersten Mal einen Hauch von der Sehnsucht, die 20 Jahre später eine treibende Kraft der damals aufkommenden maßlosen Bewunderung für das Mittelalter werden sollte: die Abkehr von der eigenen Zeit, die Gestalt annahm in einer Glorifizierung der verlorenen Harmonie und Schlichtheit dieser Jahrhunderte. Bei Herder war das kaum mehr als ein Aufblitzen. In seinem späteren Werk, vor allem in Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–1791), kehrte er zum Geschichtsbild seiner aufgeklärten Zeitgenossen zurück und äußerte sich viel kritischer über das Mittelalter, wodurch er sein eigenes Prinzip aufgab, dass man jede Zeit nach ihren eigenen Werten beurteilen müsse.43 Seine Vorwürfe gegen die mittelalterliche Gesellschaft standen in den Ideen in direktem Zusammenhang mit seiner heftigen Kritik am Römischen Reich. Diese Kritik 104

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entsprang Herders Theorien von der Einzigartigkeit aller Völker und Kulturen. Rom habe seine Größe nur dadurch erreicht, dass es diese Einzigartigkeit geleugnet, zahllose Völker und Kulturen unterworfen und den besonderen Charakter dieser Nationen zerstört habe. Überall rings um das Mittelmeer wurden alle unter das römische Recht gezwungen und dadurch weitaus humanere Institutionen, die aus dem Naturell der unterworfenen Völker hervorgegangen waren, unterdrückt und durch den römischen Adler ersetzt. Noch schlimmer war, dass Rom die einheimischen Sprachen überall durch Latein ersetzt hat, sehr zum Nachteil beider. Vor allem nahm Herder den Römern übel, dass sie verantwortlich waren für die Vernichtung der griechischen Kultur, die er maßlos bewunderte und die er – auch hier ganz im Widerspruch zu seinen eigenen philosophischen Ansichten – dem zeitgenössischen Deutschland als Vorbild anempfehlen wollte. In seinen Augen war es keiner anderen Nation so gut gelungen, ihrem eigenen Charakter Gestalt zu verleihen, wie dem klassischen Griechenland. Der einzige Nutzen Roms bestünde darin, als Brücke zwischen dem alten Griechenland und dem modernen Westen zu fungieren, allerdings war es die schlechtest denkbare Brücke, weil durch ihren Bau das kostbarste von diesem Erbe vernichtet wurde.44 Für Europa ergab sich eine neue Chance, als Rom von den Germanenvölkern überrannt wurde, die, nach Herders Meinung, alle heutigen europäischen Königreiche gegründet und ihnen ihre Gesetze gegeben haben. Wie in seinem früheren Werk pries er die jugendliche Lebenskraft der Germanen. Leider konnte diese Chance, ganz von vorne anzufangen, nur zum Teil genutzt werden, weil die Germanen von den geistigen Erben Roms – nämlich Kaiser, Kirche und Papst – ständig daran gehindert wurden, ihre eigene Natur zu entwickeln. Vom alten Rom hatte die Kirche den Trick abgeschaut, sich alles und jeden zu unterwerfen und für ihre eigenen Zwecke zu manipulieren. Die Verleihung der Kaiserkrone an den deutschen König war für Herder ein herausragendes Beispiel dieser Manipulation. Dadurch, dass der König zur Marionette der römischen Kurie wurde, diente er nicht mehr dem deutschen Volk, sondern nur der päpstlichen Machtpolitik.45 Dieses

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Urteil haben in den folgenden Jahrhunderten so ziemlich alle deutschen Historiker übernommen. Am schlimmsten war es demnach, dass die Kirche überall in Westeuropa das Latein als gemeinsame Sprache eingeführt hatte. Denn dadurch hätte sie die neuen Völker ihrer eigenen Sprache beraubt und damit zugleich des wichtigsten Teils ihres nationalen Charakters. Als Folge davon dauerten die barbarischen Zeiten viel länger als nötig, denn nur wenn ein Volk seine eigene Sprache pflege, könne es sich aus der Barbarei erheben. Nun dauerte es über 1000 Jahre, bis die europäischen Völker ihre eigene Sprache und Kultur wiederentdeckten. Wie anders wäre das Mittelalter verlaufen, seufzte Herder, wenn die Germanenvölker ein klassisches literarisches Werk besessen hätten, so wie die Araber ihren Koran hatten. Dann hätten sie ein Zeugnis von der ursprünglichen Reinheit ihrer Sprache gehabt und sich gegen die Vorherrschaft des Latein zur Wehr setzen können. Anscheinend hielt Herder das Nibelungenlied noch nicht für ein solches nationales Heldenepos, während die späteren national gesinnten deutschen Denker dies ganz selbstverständlich tun sollten.46 Trotz aller Kritik sah Herder auch in seinen Ideen das Mittelalter noch als notwendiges Entwicklungsstadium in der Geschichte Europas. Voller Hochachtung sprach er von der Gründung der Universitäten, den Bollwerken der Wissenschaft gegen die barbarische Tyrannei der Kirche. Ebenso wie Robertson bewertete er die Scholastik und die Entwicklung der Städte positiv. In den mittelalterlichen Städten begann der wirtschaftliche Aufschwung, der Europa so wohlhabend gemacht hat. Hätte es ihn nicht gegeben, wäre Europa heute noch ein armer, landwirtschaftlich geprägter Weltteil. Darüber geriet Herder so ins Schwärmen, dass er im Fazit sogar sein Urteil über die Kirche etwas abmilderte. Vielleicht hätte das Joch der römischen Hierarchie so doch noch etwas Gutes, weil die Rohheit der Germanen sonst wahrscheinlich zu permanenten Kriegen geführt und Europa in eine mongolische Wüste verwandelt hätte. Die römische Kirche und der germanische Adel hielten sich gegenseitig im Gleichgewicht. Viel wichtiger war, dass aus ihrem Streit ein dritter Stand aus Bürgern, Künstlern und Wissenschaftlern geboren wurde, der das Herz einer neuen Gesellschaft bilde106

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te, in der sowohl die Ritterschaft als auch der Klerus überflüssig waren. Herder schloss mit dem Wunsch, dass eine solche Gesellschaft rasch Wirklichkeit werden möge. Die Zukunft gehöre dem Bürgertum, dessen war er sich sicher, wie alle aufgeklärten Zeitgenossen.47 Robertson, Voltaire und Herder gehörten zu den meistgelesenen Autoren ihrer Zeit. Darum waren ihre Ansichten vom Mittelalter von größter Bedeutung für den Umschwung, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Vorstellungen von dieser bis dahin so geschmähten Zeit eintrat. Keiner der drei wurde je zu einem Freund des Mittelalters, doch immerhin haben sie mit ihrer Arbeit so viel erreicht, dass nach ihnen niemand mehr das Mittelalter einfach als bedauernswertes Intermezzo zwischen Rom und der Renaissance abtun konnte, das man lieber gleich wieder vergessen sollte. Von den dreien hat jeder auf seine Weise aufgezeigt, dass diese 1000 Jahre ein integraler und notwendiger Bestandteil in der Entwicklung Europas waren, und dass niemand die Gegenwart verstehen kann, ohne sich in die mittelalterliche Vergangenheit zu vertiefen. Nach Robertsons Meinung konnte man die Politik zur Zeit Karls V. nur verstehen, wenn man die Entwicklungen im Mittelalter gründlich kannte, und Voltaire sah im Mittelalter zwar eine Menge Dummheit und Machtmissbrauch, darüber hinaus aber auch den Ursprung moderner Konzepte wie der fürstlichen Souveränität und der bürgerlichen Freiheit. Für Herder war dieses Band zwischen Gegenwart und mittelalterlicher Vergangenheit noch zwingender. Der Philosoph war nicht nur davon überzeugt, dass jede Kultur und jede Epoche einen völlig eigenen, einzigartigen Charakter besitzt, sondern auch davon, dass sich dieser Charakter am deutlichsten in der ersten Phase dieser Kultur äußert. Darum wollte er bis auf das Mittelalter und die Germanen zurückgehen, um hier den reinsten Quellen der deutschen Kultur auf die Spur zu kommen. Und was für Deutschland galt, sollte auch für alle anderen Länder nördlich der Alpen gelten. Die Völker Nordeuropas würden ihre mittelalterliche Vergangenheit ausgraben und erforschen müssen, um zu entdecken, wer sie ursprünglich gewesen sind und wer sie wieder werden sollten. Die Verknüpfung des Mittelalters mit dem reinen Ursprung der Nation war einer der wichtigsten Gründe dafür, 107

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dass man im 19. Jahrhundert das Mittelalter als Herz der nationalen Geschichte verherrlicht hat. Herder selbst hat diesen Weg nie eingeschlagen; bei ihm handelte es sich dabei um eine zwar wichtige, jedoch endgültig abgeschlossene Vergangenheit. Ebenso wie Robertson und Voltaire blieb er jemand, der seine Augen fest auf die eigene Zeit gerichtet hielt. Den Ausbruch der Französischen Revolution begrüßte er als entscheidenden Schritt auf dem Weg zu Freiheit und Glück für alle Menschen. Weder fühlte er nostalgische Sehnsucht nach dem Mittelalter, noch sah er es als Alternative zur modernen Zeit, wie das in der Romantik üblich wurde.48 Aber schließlich war die Romantik ja auch die Epoche, in der die schrecklichen Folgen einer Herrschaft der reinen Vernunft und des zügellosen Fortschrittsdenkens zum ersten Mal sichtbar wurden.

Verlangen nach einer besseren Zeit Am frühen Morgen des 29. August 1799 starb in der französischen Provinzstadt Valence ein alter Mann, der in der Sterbeurkunde als „Bürger Giovanni Angelo Braschi, Beruf: Hoherpriester“ bezeichnet wurde. Zu Lebzeiten hatte man ihn vor allem als Papst Pius VI. gekannt. Seit dem 10. Jahrhundert war nie ein Papst unter so erniedrigenden Umständen gestorben. Zum Zeitpunkt seines Todes war Pius VI. Gefangener der revolutionären französischen Regierung, die ihn in Paris festhielt, um ihn unschädlich zu machen. Doch mit seinem Tod waren die Demütigungen noch lange nicht vorbei: Da die Behörden keine Erlaubnis erteilten, ihn zu bestatten, blieb die Leiche sechs Monate lang unbeerdigt, bis Napoleon, der sich inzwischen zum Ersten Konsul aufgeschwungen hatte, endlich seine Zustimmung zum Begräbnis gab. Der schmähliche Tod von Pius VI., dem 1783 die Enthauptung eines ebenso sakralen Monarchen, Ludwigs XVI. von Frankreich, vorausgegangen war, besiegelte zehn Jahre voller Umwälzungen, die selbst die radikalsten Reformer des 18. Jahrhunderts für unmöglich gehalten hätten.

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Als in Frankreich nach 1789 die Herrschaft von Kirche und König gestürzt wurde, erwarteten die Propheten des Fortschritts vertrauensvoll den Anbruch eines Zeitalters voller Licht und Vernunft, doch vor ihren entsetzten Augen verwandelte es sich in eine Orgie voller Blut und Gewalt. Vor allem Robespierres Schreckensherrschaft von 1793 bis 1794, der Terreur, der mit der Hinrichtung des Königs begann und mit dem Massenmord am königstreuen Volk in der Vendée endete, hinterließ einen Eindruck, den man nur mit der Erinnerung an die Shoah nach 1945 vergleichen kann. Einen so tiefen, blutigen Bruch mit der Vergangenheit und einen solchen Zusammenbruch aller moralischen Werte, die bis dahin als ewig und unveränderlich galten, hatte Europa in seiner langen Geschichte noch nie erlebt. Nicht nur alte Gewissheiten wurden endgültig zerstört, selbst die Reformer schreckten allmählich vor den entsetzlichen Konsequenzen zurück, die ihre Ideen anscheinend auslösen konnten.49 Und in vielen Fällen verabschiedeten sie sich endgültig von den Fortschrittsidealen, die sie noch kurz zuvor so begeistert verfochten hatten. Darüber hinaus kam um 1800 eine junge Generation zu Wort, für die allein schon das Wort „Aufklärung“ tabu war. Der erste, der mit allem gründlich abrechnete, was nach Aufklärung und Revolution roch, war der deutsche Dichter Friedrich von Hardenberg, ein junger Protestant, der sein Werk unter dem Pseudonym Novalis veröffentlichte. Im Herbst 1799, einen Monat nach dem Tod von Pius VI., begann Novalis, ein Manifest für die Zukunft Europas zu schreiben, das eine Alternative zum Optimismus und Fortschrittsglauben der aufgeklärten Generation bilden sollte.50 In Christenheit oder Europa konfrontierte Novalis die abscheulichen Ereignisse seiner eigenen Epoche mit den „schönen, glänzenden Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; [...] Ohne große weltliche Besitztümer lenkte und vereinigte ein Oberhaupt die großen politischen Kräfte“. Dass Novalis mit diesem Oberhaupt den Papst meint, erläutert er einige Seiten weiter: „An seinem Hofe versammelten sich alle klugen und ehrwürdigen Menschen aus Europa. [...] Fürsten legten ihre Streitigkeiten dem Vater der Christenheit vor, willig ihm ihre Kro109

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nen und ihre Herrlichkeit zu Füßen“. Der Autorität des Papstes unterstanden die Priester, eine hochgeachtete, zahlenmäßig starke Zunft, mit denen die Menschen in kindlichem Vertrauen eng verbunden waren: „Sie waren die erfahrenen Steuerleute auf dem großen unbekannten Meere, in deren Obhut man alle Stürme gering schätzen und zuversichtlich auf eine sichere Gelangung und Landung an der Küste der eigentlichen vaterländischen Welt rechnen durfte.“ Es war eine Zeit der Gemeinschaft und Eintracht, in der alle menschlichen Möglichkeiten und Kräfte zu einem harmonischen Ganzen gebündelt wurden, unter der Obhut der katholischen Kirche und ihres Klerus.51 Dieses goldene Zeitalter fand ein Ende durch das aufkommende Geschäftsleben und ein Verlangen nach Wissen, das sich nicht mehr durch die Religion einschränken ließ. An die Stelle von Glaube und Liebe traten Habsucht und Wissen. Novalis sagte es nicht ausdrücklich, doch er verwies hier auf den Aufstieg der Städte und Universitäten, gerade auf die beiden Institutionen, die für Robertson und Herder das Licht in der Finsternis waren. In den Jahrhunderten nach der Reformation artete die Trennung zwischen Glaube und Wissenschaft zu einem Kampf auf Leben und Tod aus. Der Hass auf den Katholizismus degenerierte zum Hass auf alles, was christlich war und sogar zum „Haß [...] auf alle Gegenstände des Enthusiasmus [...], verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit“. Diese Geschichte des wachsenden Unglaubens seit dem späten Mittelalter, die nun in Frankreich ihren Tiefpunkt erreicht hatte, war für Novalis der „Schlüssel zu allen ungeheuren Phänomenen der neueren Zeit“. Für die Zukunft sah er nur eine Möglichkeit: eine Wiederauferstehung des christlichen Glaubens. So lange werde in Europa Blut strömen, bis die Staaten wieder „zu ehemaligen Altären [...] treten. [...] Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken [...] und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedenstiftendes Amt installiren“. Nur das Mittelalter konnte die Inspiration zu einer neuen Vision von der Zukunft Europas liefern.52 Dieses Manifest über Europas Zukunft trug Novalis zum ersten Mal in Jena vor, und zwar in dem berühmten Kreis junger deutscher Romantiker, zu denen unter anderen die Gebrüder August Wilhelm und 110

Verlangen nach einer besseren Zeit

Friedrich Schlegel, der Dichter Ludwig Tieck und der Philosoph Friedrich Schelling gehörten. Obwohl es zum Teil ihre Abneigung gegen Aufklärung und Revolution war, die diese Gruppe zusammenhielt, war ihnen diese Proklamation doch zu viel des Guten. Nach Rücksprache mit Goethe beschlossen sie, den Aufsatz nicht in ihrer Zeitschrift Athenäum zu veröffentlichen.53 Das war auch nicht verwunderlich, weil Novalis das traditionelle Bild von der Vergangenheit sehr raffiniert auf den Kopf gestellt hatte. Seine Beschreibung vom Verlauf der europäischen Geschichte besaß die allgemein anerkannte Dynamik von großer Vergangenheit, dunkler Gegenwart und Hoffnung auf Wiedergeburt. So hatte Petrarca Vergangenheit und Zukunft miteinander verbunden, und nach ihm waren ihm alle Humanisten hierin gefolgt. Doch wo bislang die Antike als Erinnerung und Hoffnung im Zentrum der Geschichte gestanden hatte, stellte Novalis nun das Mittelalter ins Herz der europäischen Geschichte. Er verherrlichte alles, was die Humanisten, Reformatoren und Philosophen, jeder auf seine Art, verabscheut hatten: die Kirche mit ihrer Hierarchie, den blinden Gehorsam der Gläubigen gegenüber ihren Priestern, die Marienverehrung, den Heiligenkult und sogar die Inquisition.54 Kein Wunder, dass dieser Ausbruch selbst bei seinen engsten Freunden Verwirrung stiftete. Die Dichter und Philosophen des Jenaer Kreises waren zwar ebenso wie Novalis geneigt, das Mittelalter wirklich ernst zu nehmen, doch an eine so blinde Verherrlichung dieser Epoche mussten selbst sie sich noch gewöhnen. Mehr als sie selbst gewollt hätten, blieben sie Erben der Aufklärung und jener Vorstellungen vom Mittelalter, die Goethe und Herder vertreten hatten. Erst 1826 wurde Christenheit oder Europa zum ersten Mal veröffentlicht, was jedoch nicht heißt, dass dieser Aufsatz bis dahin ohne Wirkung geblieben wäre. Friedrich Schlegel wurde durch ihn von seiner „Graecomanie“ geheilt und begann künftig zu predigen, dass die mittelalterliche Poesie die Grundlage für eine Wiederbelebung der zeitgenössischen Literatur bilden sollte.55 Trotz anfänglichen Zögerns schien die Zeit für eine radikale Reaktion auf die schrecklichen Ereignisse der vergangenen zehn Jahre reif zu sein. Schließlich wurde Novalis‘ Schrei in ganz Europa von einer jungen Generation weitergetragen. 111

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In dem von der Revolution verursachten intellektuellen und moralischen Vakuum konnte die mittelalterliche Vergangenheit für alle Gegner der Revolution dieselbe Funktion erfüllen, die die Antike für die Humanisten hatte: Abbild und Mythos einer besseren Welt.

Von der Antike zum Mittelalter Die Frage ist, warum die Generation um 1800 vom Mittelalter so fasziniert war. Bestimmt spielte es dabei eine Rolle, dass die Revolution dem vor allem in Deutschland verhassten französischen Klassizismus kein Ende bereitet hat, sondern ihm sogar neue Ausdrucksformen verlieh. Mit Kaisern konnten die französischen Revolutionäre nicht viel anfangen, dafür waren sie aber von den großen Persönlichkeiten der römischen Republik fasziniert, wie zum Beispiel von Lucius Junius Brutus, der ohne zu zögern seine eigenen Söhne getötet hat als Strafe für ihre Teilnahme an einem royalistischen Komplott, oder von Cato dem Jüngeren, der lieber Selbstmord beging, als sich dem Diktator Julius Cäsar zu unterwerfen. Tugenden wie Integrität, Schlichtheit, Freiheitsliebe und Patriotismus, die diese Helden kultiviert hatten, sollten zum inspirierenden Vorbild für den freien, politisch selbstbestimmten französischen Bürger werden. Die rhetorische Tradition der römischen Republik, wie sie sich in Ciceros Werken erhalten hat, erinnerte an eine Zeit, in der große politische Fragen nicht in Hinterzimmern besprochen wurden, sondern auf dem Forum der Nation, so wie dies nun wieder in der Nationalversammlung geschah.56 Diese Rekonstruktion der antiken Geschichte als Vorbild für das neue, republikanische Frankreich, hätte man natürlich mit einer eigenen deutschen oder englischen Darstellung der antiken Vergangenheit beantworten können, und das ist auch geschehen. Vor allem in Deutschland galt das Athen des Perikles als Modell für das, was aus dem deutschen Volk werden könnte.57 Doch für Leute, die wie Novalis in Deutschland und zwei Jahre später Chateaubriand in Frankreich die Revolution rundweg verwarfen, war es wirkungsvoller, ihre Ablehnung, um sie zu legitimieren, in das historische Kleid einer Epoche zu 112

Von der Antike zum Mittelalter

hüllen, die man schon immer in jeder Beziehung als Gegenteil der klassischen Antike gesehen hatte. Hinzu kam, dass es erst jetzt wirklich möglich wurde, das Mittelalter als Ideal hinzustellen, weil man nun mal einen gewissen Abstand braucht, um eine historische Epoche auf ein Podest heben zu können. Etwas Selbstverständliches kann weder Ideal noch Vorbild sein. Petrarca und die Humanisten konnten die Antike verherrlichen, weil ihnen, im Gegensatz zu den Scholastikern, die trennende Kluft zwischen ihrer eigenen Zeit und der klassischen Antike deutlich bewusst war, auch wenn sie sich diese Kluft nur durch moralischen Verfall erklären konnten. Auf das Mittelalter bezogen verschwand die selbstverständliche Kontinuität tatsächlich erst in den Jahren zwischen 1789 und 1799. Um nur ein Beispiel zu nennen: Am 5. November 1794 kapitulierte die Festung Maastricht vor den französischen Truppen. Mit der Besatzung endete die 500 Jahre alte und einzigartige Regierungsstruktur der Stadt, die Doppelherrschaft, bei der sich Lüttich und die niederländische Republik die Souveränität teilten. Die ehrwürdigen, steinreichen Kapitel der St.-Servatius-Basilika und der Liebfrauenbasilika wurden abgeschafft und die vielen Klöster aufgelöst, wodurch Arbeitsplätze und die Armenfürsorge verlorengingen. Die Abschaffung der Zünfte veränderte die Wirtschaftsstruktur der Stadt so sehr, dass sie nicht wiederzuerkennen war. Damit endete in Maastricht mit einem Schlag ein politisch-gesellschaftliches System, das in allen wesentlichen Zügen direkt aus dem Mittelalter stammte.58 Und was für Maastricht galt, galt auch für ganz Europa. Weil die Humanisten die Renaissance so lautstark von den vorangegangenen dunklen Jahrhunderten abgegrenzt hatten, erkannten die Zeitgenossen nicht – machen sich aber auch die Historiker, die sich heute mit Renaissance und Humanismus beschäftigen, oft noch viel zu wenig klar – wie sehr Europa bis zur Französischen Revolution eine vom Mittelalter geprägte Gesellschaft geblieben ist. Dies bezieht sich nicht auf die großen politischen Figuren wie den Papst, den Kaiser oder die Könige von Frankreich und England, sondern vor allem auf das normale Leben in den Städten und Dörfern, das auch im 18. Jahrhundert immer noch von direkt aus dem Mittelalter stammenden Gemeinschaften, 113

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Gebräuchen und Gesetzen beherrscht wurde. Das alles war so selbstverständlich, dass niemand wirklich darüber nachdachte, ob man es weiter hegen und pflegen oder sich gar dafür einsetzen sollte. Erst als das Mittelalter nicht mehr so selbstverständlich war, konnte es als Ideal zurückkehren. Sehr schön erkennen wir diesen Umschwung daran, wie anders Nürnberg, eine der besterhaltenen mittelalterlichen Städte Europas, auf einmal von den Reisenden beurteilt wurde. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein galt die Innenstadt als Schulbeispiel dafür, wie eine große Stadt nicht sein sollte: zu enge Straßen, zu wenig Licht und Luft, zu viele hässliche Kirchen, kurzum totaler Verfall. Doch als der romantische Schriftsteller Wilhelm Wackenroder die Stadt 1793 besuchte, waren es gerade die dunklen Gassen und bizarren mittelalterlichen Gebäude, die ihn mit Bewunderung erfüllten und an die alte Größe Deutschlands erinnerten.59 Auf die Generation um 1800 wirkte das eben erst entdeckte Mittelalter wie das genaue Gegenteil von der chaotischen Welt ihrer eigenen Epoche. Die Ideale von Freiheit und Gleichheit hatten viel von ihrem Glanz verloren. Der revolutionäre Bruch mit der Tradition hatte Kräfte freigesetzt, die man nicht mehr bezwingen konnte. Davor hatte der Engländer Edmund Burke schon 1790 gewarnt: Weil die Autorität des Königs angezweifelt wurde, würde Frankreich in wüste Sittenlosigkeit und schamlose Irreligiosität sowohl im Glauben als auch in seiner Ausübung verfallen.60 Drei Jahre später übertraf Robespierres Schreckensherrschaft alles, was Burke auf diesem Gebiet prophezeit hatte. Allmählich sehnte sich ganz Europa nach dem zurück, was zehn Jahre zuvor noch selbstverständlich erschienen war: Einheit, Gemeinschaft und Autorität. Selbst in Frankreich kam 1799 mit Napoleon ein Mann an die Macht, der sich keinen Deut um Freiheit und Gleichheit scherte, sondern zuerst die Ordnung wiederherstellen wollte. Und dafür waren ihm praktisch alle Franzosen dankbar. Das Mittelalter wurde zum historischen Ansatzpunkt für dieses Verlangen nach Wiederherstellung von Autorität und Ordnung. Die Vision vom Mittelalter als einer Epoche idealer Machtverhältnisse und enger Gemeinschaften, wie von Novalis zum ersten Mal so eindringlich beschrieben, wurde im 19. Jahrhundert zu einem der großen The114

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men in jeder Abhandlung über mittelalterliche Geschichte. Sie war auch die wichtigste Ursache für die Sehnsucht, die diese Vergangenheit in zunehmendem Maße bei allen erweckte, die sich in die kalte, durch die Französische Revolution hervorgerufene neue Welt verbannt fühlten. Trotzdem bleibt es rätselhaft, warum auf einmal das Mittelalter dieses nostalgische Verlangen nach Einheit, Autorität, Ordnung und Gemeinschaft hervorrufen konnte. Bis dahin galt in Krisensituationen immer das Römische Kaiserreich automatisch als Vorbild für eine harmonische Welt, geordnet durch eine gemäßigte, humane Gesetzgebung, die im römischen Recht festgehalten war. Kurz bevor der Sturm losbrach, hatte Gibbon dieses Bild noch einmal in einem unvergesslichen Meisterwerk geschildert. Darin beschrieb er mit großer Sehnsucht das Römische Reich unter den Kaisern Hadrian und Antoninus Pius im 2. Jahrhundert als Höhepunkt einer milden, weisen Regierung. In diesem Reich existierte, nach Gibbons Meinung, eine perfekte Ausgewogenheit zwischen Einheit und Verschiedenartigkeit, zwischen zentraler Autorität und Respekt vor lokalen Traditionen. Letzterer zeigte sich in der religiösen Politik des Reiches, in dem alle Religionen toleriert wurden, solange sie sich der Autorität Roms unterwarfen. Dadurch wichen Groll und Verbitterung rasch einem freiwilligen Gehorsam: „Die besiegten Nationen verschmolzen zu einem großen Volk und gaben die Hoffnung, oder sogar den Wunsch, auf, wieder unabhängig zu werden. Sie konnten kaum noch unterscheiden zwischen ihrer eigenen Existenz und der Roms.“61 Napoleon betrachtete dieses Bild von Rom zugleich als Vorbild für sein eigenes Reich. Die Kaiserkrone, die er sich 1804 aufsetzte, war ein römischer Lorbeerkranz, der Baustil in seinem Reich war klassizistisch und die Mode inspiriert von den Fresken in Pompeji und Herculaneum. Doch vielleicht gerade weil Napoleon seine Inspiration daraus schöpfte, verlor Rom um 1800 für die meisten Zeitgenossen seinen Charme und seine Vorbildfunktion. In seinen Vorlesungen über die Geschichte Europas, die er im Frühjahr 1810 mit gewaltigem öffentlichen Interesse in Wien hielt, kam Friedrich Schlegel zu Schlussfolgerungen, die denen von Gibbon völlig entgegengesetzt waren. Er erläuterte, dass es dem Römischen Reich nie 115

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gelungen war, die verschiedenen unabhängigen Einzelteile zu einer echten Einheit zusammenzuschmieden. Dem Reich fehlten eine richtige Verfassung, die Loyalität der Untertanen, aber vor allem eine religiöse Überzeugung, die in der Lage gewesen wäre, alle Unterschiede zu einer höheren Einheit zusammenzufassen. Wegen ihrer Vielgötterlehre war die römische Religion zu zusammenhanglos, um im Reich eine tiefere Einheit stiften zu können. Nur ein Glaube, der auf dem Bekenntnis zu einem einzigen Gott beruht, hätte das vermocht. Doch als man endlich im Christentum einen solchen Glauben entdeckte, war es schon zu spät: Zumindest im Westen kam es nicht mehr zur Verschmelzung des römischen Staates mit der christlichen Kirche.62 Erst im Mittelalter entstand mit Hilfe der Kirche und ihres Oberhauptes, des Papstes, eine echte Einheit, weil es der Kirche damals gelang, eine homogene, geistliche Macht zu bilden, die von allen Fürsten als Stimme des Rechts anerkannt und respektiert wurde. So entstand damals „das Ideal, welches dem europäischen Staaten- und Völker-Systeme zum Grunde liegt; das Ideal eines rechtlichen Bandes [...], ohne daß sie die Einheit, die freie und eigenthümliche National-Entwicklung jeder einzelnen Nation aufgeopfert würde“.63 Kein säkularer Staat, nicht einmal der ruhmreichste von allen wie das Römische Reich, war in der Lage, wirklich Einheit unter den Menschen zu stiften, das konnte nur ein geteilter Glaube. Nach Gibbons Meinung musste der Staat die Religion kurz halten, weil sie die Entfaltung der persönlichen Freiheit behinderte, dagegen glaubte Schlegel, dass es gerade der Staat wäre, der die Freiheit des Menschen bedrohte, weshalb ihn ein einmütiger Glaube, der alle Staaten überspannt, im Zaum halten müsste. Der Umschwung in der politischen Lage erklärt hinlänglich diese völlige Kehrtwende in der Bewertung des Verhältnisses zwischen Staat und Religion. Die Revolutionsjahre hatten vor allem eines gezeigt, nämlich wie despotisch ein Staat werden konnte, wenn er keine höhere Macht mehr über sich anerkannte. Aus der Sicht des Jahres 1800 musste Gibbons sonniger Blick auf Rom hoffnungslos naiv erscheinen. Nicht die Religion hatte Europa verwüstet, sondern ein durchgedrehter Staat, der in seinem trunkenen Freiheitsdrang keine moralischen oder traditionellen Grenzen mehr anerkannte. Kein Wun116

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der, dass sich Schlegel, Novalis und viele andere vom alten Rom abwandten und stattdessen bei der katholischen Christenheit des Mittelalters landeten, als dem Ideal einer freien, friedlichen und geordneten Gesellschaft unter der Obhut der Kirche. Der Rechtsgelehrte Adam Müller, zu Beginn des 19. Jahrhunderts einer der Mitbegründer des Konservatismus als politischer Ideologie, versuchte zu beweisen, dass nur das Christentum imstande sei, eine überstaatliche Rechtsgemeinschaft aufrechtzuerhalten. Es war das Drama des modernen Europas, dass es diese Lektion aus dem Mittelalter vergessen hatte. Müllers Ausgangspunkt war, dass man Staaten durch zwei Bestrebungen charakterisieren könne: Selbsterhaltung und Erhaltung der anderen Staaten. Verantwortungsvolle Staatsoberhäupter bemühten sich natürlich ständig, die Interessen ihrer Untertanen so gut wie möglich zu beherzigen, darum verlören sie meistens ihre unerlässliche Pflicht, anderen Staaten beizustehen, aus den Augen. Das erklärte die Notwendigkeit einer Rechtsgemeinschaft, die über allen individuellen Staaten steht. Die jüngsten Ereignisse hatten, nach Müllers Meinung, bewiesen, dass sich so eine Rechtsgemeinschaft nicht auf abstrakten, modischen Begriffen wie Freiheit und Unabhängigkeit gründen konnte. Doch wenn das tatsächlich unmöglich war, müsste man sie vielleicht mit einer Person verbinden, einem großen Menschen, der über allen Einzelinteressen stand und das große Ganze im Auge behielt? Auch dies hielt Müller für unmöglich, weil kein Mensch imstande wäre, sich dem Milieu zu entziehen, in das er zufällig hineingeboren und in dem er erzogen worden war. Die einzig mögliche Tragfläche für eine internationale Rechtsgemeinschaft war nach Müllers Meinung der Glaube an Christus, wie er in der katholischen Kirche zum Ausdruck kommt.64 Dass Christus der einzige universelle Monarch der Menschheit sei, und allein sein Gesetz die Grundlage für alle Verträge und Abkommen bilden konnte, betrachtete Müller nicht als eigene Entdeckung, sondern als Wahrheit, die viele hundert Jahre lang selbstverständlich gewesen war und erst nach dem Mittelalter in Vergessenheit geraten war.65 Obwohl Müller mit großem Respekt vom Protestantismus sprach, machte er trotzdem die Reformation für diese traurige Entwicklung verantwortlich. Die 117

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Reformatoren hätten die Religion auf eine Privatangelegenheit reduziert und damit den öffentlichen Bereich zu einem neuen, egoistischen Heidentum verfallen lassen, in dem nur noch die Selbstbehauptung der Staaten zählte, aber nicht länger der Einsatz für die Interessen anderer.66 Doch Christus wollte durch seinen Tod nicht nur Individuen erlösen, sondern auch Staaten. Die Institutionen der mittelalterlichen Gesellschaft waren die Verkörperung dieses Willens.67 Die einzige Möglichkeit, die Müller sah, um den aktuellen Verfall aufzuhalten, bestand darin, dass sich Europa wieder der politischen Konstellation des Mittelalters bewusst würde, die er verherrlichte als „das erweiterte Heiligthum der christlichen Religion, als den politischen Ausbau der herrlichen Persönlichkeit des Mittlers [Christus]“.68 Dass solche Gedanken nicht auf die Studierzimmer von Historikern und Juristen beschränkt blieben, zeigen die zahlreichen, vor allem nach Napoleons Niederlage unternommenen Versuche, den Frieden in Europa dadurch zu sichern, dass der gemeinschaftliche christliche Charakter der europäischen Nationen zum Ausgangspunkt für gegenseitige Abmachungen und Verträge genommen wurde. Das berühmteste Beispiel dafür ist die Initiative Zar Alexanders I., eine heilige Allianz europäischer Fürsten zu schaffen. Selbst ein höchst unromantischer Fürst wie der niederländische König Wilhelm I. spielte mit dem Gedanken einer Aréopage européen, einer Arbeitsgemeinschaft aller europäischen Staaten, die unter dem Vorsitz des Papstes stehen sollte. Damit käme zum Ausdruck, dass letztendlich ganz Europa im gemeinsamen Bekenntnis zum christlichen Glauben vereinigt wäre.69 Wer solche Ideale für die Zukunft hegte, fand im Mittelalter eine viel stärkere historische Präzedens als in der römischen oder griechischen Antike, in der das Christentum keine oder höchstens eine marginale Rolle gespielt hat.

Der Vater der Christenheit Weitaus rascher als in Deutschland zeigte sich in Frankreich, dass die Vernichtung der Kirche verhängnisvolle Folgen hatte. Napoleon erkannte das genau. Obwohl ihm die Religion gleichgültig war, knüpfte 118

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er sofort nach seiner Machtergreifung Verhandlungen mit dem Papst und der römischen Kurie an, um Frankreich zum alten Glauben zurückzuführen. 1801 führten diese Gespräche zu einem Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Frankreich, in dem die französische Regierung anerkennen musste, dass der Katholizismus selbst nach zwölf Jahren Revolution immer noch die Religion „der übergroßen Mehrheit der Franzosen“ war. Das war ein gewaltiger Sieg für die Kirche, ein Sieg, der im darauffolgenden Jahr noch einmal unterstrichen wurde, als einer der herausragendsten französischen Intellektuellen, François-René de Chateaubriand, 1802 Le Génie du christianisme veröffentlichte. Darin erläuterte er, dass Europa seine Zivilisation, Gelehrtheit und Schönheit dem Christentum zu verdanken habe.70 Der eklatante Erfolg dieses Buches, zunächst in Frankreich selbst, in den folgenden Jahren auch in ganz Europa, zeigte deutlich, dass die katholische Kirche nicht nur einen politischen, sondern auch einen moralischen und ästhetischen Sieg über das revolutionäre Frankreich errungen hatte. Zuerst Frankreich und später dann das übrige Europa besannen sich auf die christlichen Wurzeln ihrer Kultur. Selbst das Papsttum, dessen Prestige Ende des 18. Jahrhunderts noch tiefer gesunken war als das der katholischen Kirche insgesamt, erschien so auf einmal in einem völlig neuen Licht. Dies zeigte sich, als Napoleon 1809 nach einer Meinungsverschiedenheit wegen der Interpretation des Konkordats den Fehler beging, den Papst aus Rom entführen zu lassen und in Fontainebleau einzusperren. Damit erreichte er nur, dass er aus Pius VII. einen Märtyrer machte und das ernsthaft angeschlagene moralische Prestige des Papsttums mit einem Schlag wiederherstellte. In den Augen aller Zeitgenossen hatte Pius VII. durch seine unerschütterliche Weigerung, weiter mit Napoleon zu verhandeln, beispielhaft gezeigt, dass Recht und Moral selbst in chaotischen Zeiten immer über Macht und Gewalt triumphieren. Eine Generation, die alle Folgen von Aufklärung und der Revolution miterleben musste, sah die unbeugsame Haltung der Päpste gegenüber dieser Weltanschauung nicht länger als starrsinnige Weigerung, die modernen Zeiten zu akzeptieren, wie ihre Väter das noch im 18. Jahrhundert getan hatten, sondern als Beweis für Standfestigkeit und 119

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moralisches Rückgrat, als gleichsam einen Leuchtturm in einem Meer der Finsternis. Mit seiner Courage rief Pius VII. Erinnerungen an die großen Taten seiner mittelalterlichen Vorgänger wach. So wie Gregor VII. in seinem Konflikt mit dem deutschen König Heinrich IV. keinen Zoll nachgegeben hatte, war Pius VII. nun lieber in die Verbannung gegangen, als sich den Launen eines tyrannischen Fürsten zu beugen. Deshalb gingen einige Denker in ihren Ansichten zur Rolle des Christentums in der postrevolutionären Gesellschaft nun sogar noch viel weiter als Novalis und Müller. Europa würde weniger das Christentum oder die Kirche brauchen, als in erster Linie die Person des Papstes, so wie es sich schon König Wilhelm I. gedacht hatte. Die Päpste sollten wieder das werden, was sie im Mittelalter einmal gewesen waren: die höchsten Hüter des Rechts gegenüber der brutalen Willkür der Macht. Die großen Vorbilder waren Gregor VII. und noch mehr vielleicht Innozenz III., dessen Pontifikat als Höhepunkt der päpstlichen Machtentfaltung im Mittelalter galt. Die radikalste und einflussreichste Theorie zur Rolle des Papstes in der Politik formulierte der französische Diplomat und Philosoph Joseph de Maistre in seinem 1819 erschienenen Buch Du pape, einer Abhandlung, die im 19. Jahrhundert für alle Katholiken richtungsweisend beim Wiederaufbau der Kirche wurde. Höchstens mit Ausnahme von Thomas Hobbes hat niemand je so eindringlich über die blinde Vernichtungswut der entfesselten Massen geschrieben wie de Maistre.71 Seiner Überzeugung nach entsprang sie der Tatsache, dass die ganze Natur von der Gewalt und dem Blutvergießen beherrscht wird, das die Tiere untereinander, die Menschen unter den Tieren und die Menschen untereinander anrichten. „Die ganze Erde“, so seine Überzeugung im Wortlaut, „ist auf ewig mit Blut getränkt, sie ist nichts anderes als ein riesiger Altar, auf dem ständig Opfer dargebracht werden, ohne Ende, ohne Maß, pausenlos, bis zur Vollendung aller Dinge, der Ausrottung des Bösen und dem Tod des Todes.“72 Wegen dieser grundlegenden Gesetzmäßigkeit in der Natur wäre es verrückt gewesen zu denken, dass die Menschen rationale Wesen seien, die aufgrund ihrer Vernunft gemeinsam eine humane Gesellschaft aufbauen könnten. Die Menschen würden von Instinkten geleitet, darum wäre die Mensch120

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heit, falls sie sich selbst überlassen wäre, zu Gewalt, Leid und Krieg verurteilt, wie der satanische Charakter der Revolution nur allzu deutlich bewiesen hat.73 Bis zum Aufkommen des Christentums habe man die Sklaverei darum immer als notwendiges Instrument zur Aufrechterhaltung der staatlichen Autorität gesehen.74 Die einzige Möglichkeit, dieser gewalttätigen Regierungsform zu entrinnen, war nach de Maistres Meinung, dass der Staat von einer göttlichen Kraft gelenkt werde, die in den Bürgern einen totalen Wandel bewirkt, der alle natürlichen Neigungen auslöscht und durch den Willen ersetzt, gemeinsam zu handeln, ohne sich gegenseitig zu schaden. So einen Wandel könnte höchstens der christliche Glaube bewirken, wenn auch nur unter strengen Voraussetzungen. Weil die Menschen in erster Linie Autorität bräuchten, bestand die wichtigste Voraussetzung darin, dass auch der christliche Glaube Gestalt in einer Respektsperson annähme, die Gottes Souveränität über die Welt verkörpere, und die aus diesem Grund auch von jedem absoluten Gehorsam verlangen konnte. Nur der Papst konnte sich in einem langen Kampf, der den größten Teil des Mittelalters gedauert hat, eine solche Autorität erwerben.75 Die Geschichte des Mittelalters war demnach der Kampf zwischen der von der Natur diktierten Sklaverei und der nur von Gott und seinem Stellvertreter auf Erden garantierten Möglichkeit zur Freiheit. Um diese Freiheit zu verwirklichen, mussten die Päpste dem Feudalismus den Kampf ansagen, und zwar vor allem ihrem verhängnisvollsten Aspekt, nämlich der Investitur der Bischöfe durch den König.76 Der entscheidende Moment kam, als Gregor VII. im Jahre 1075 Heinrich IV. verbot, weiter Bischöfe zu ernennen und sie mit Ring und Stab zu bekleiden. Der Kniefall des Königs vor dem Papst am Tor der Burg von Canossa bildet für de Maistre den Höhepunkt der mittelalterlichen Geschichte, weil mit dieser Geste endlich die absolute Souveränität des Papstes über alle Staaten und Fürsten anerkannt wurde.77 Die Bestätigung, dass nur die Autorität des Papstes absolut bindend ist, ermöglichte es zum ersten Mal in der Geschichte, eine andere Regierungsform als die der Sklaverei zu schaffen. Da nun alle den Papst als höchsten Herrn anerkannten, konnten die Fürsten ihren Untertanen 121

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politische Freiheit gewähren, ohne dass dies zum Chaos führte.78 Die glücklichen Jahrhunderte von 1100 bis 1300 waren ein einzigartiges Beispiel für diese, im Gehorsam gegenüber dem Papst verankerte Freiheit. Als es diesen Gehorsam noch nicht gab, wie vor dem Investiturstreit, oder nicht mehr gab, wie nach der Reformation, herrschten und herrschen zu diesem Zeitpunkt immer noch Sklaverei oder Gewalt. Das Los aller Staaten, die den Papst nicht anerkannten, bestand, nach de Maistres Meinung, in Despotismus, wie in Russland, oder Revolution, wie in Frankreich.79 Unter den deutschen Romantikern waren Italien, das mittelalterliche Rom und der Papst genauso populär wie in Frankreich. Nach Ansicht des Dichters Clemens Brentano war die Stadt Rom so sehr vom christlichen Geist durchdrungen, dass dort sogar die Tiere friedlicher waren als anderswo.80 Deshalb bekehrte er sich zum Katholizismus. Eine Gruppe einflussreicher deutscher Maler, später bekannt geworden unter der ursprünglich als Spottname gedachten Bezeichnung Nazarener, bezog 1810 Quartier im römischen Kloster San Isidoro, um sich dort vom Geist des reinen Christentums inspirieren zu lassen. In Deutschland war die Erinnerung an die Rolle der mittelalterlichen Päpste allerdings anders gefärbt als in Frankreich. Obwohl sich Frankreich gerne darauf berief, die älteste Monarchie Europas und die älteste Tochter der Kirche zu sein, war der französische König trotzdem immer nur ein Fürst unter vielen, im Prinzip nicht mehr als der König von England oder Aragón, Herrscher über ein beschränktes Gebiet, ohne irgendwelche Verantwortung für die gesamte Christenheit, wie der Papst sie besaß. Aus französischer Sicht lag es darum näher, ein Bild vom Papst als einzigem Mittler zwischen den Fürsten heraufzubeschwören. Im Falle des deutschen Königs lag das anders. Seit der Krönung Ottos I. im Jahre 962 sind praktisch alle deutschen Könige zugleich auch zum Kaiser gekrönt worden. Durch diese Auserwähltheit übernahmen sie eine Verantwortung, die man mit der des Papstes vergleichen konnte. Durch seine Erhebung zum Kaiser war der deutsche König, nach Friedrich Schlegels Meinung, künftig neben dem Papst zum hohen Amt eines „Schirmherrn der ganzen Christenheit, und allgemeinen 122

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Beschützers der Gerechtigkeit und der Freiheit“ berufen.81 Den mittelalterlichen Kaisern gelang es nie, dieses große Ideal in die Wirklichkeit umzusetzen, trotzdem bedeutete es, dass Deutschland seitdem eine besondere Verantwortung für Europa als Ganzes besaß, und zwar weitaus mehr als alle anderen Staaten.82 Napoleons Usurpation des Kaisertitels im Jahre 1804 und die Abdankung des letzten Kaisers des Heiligen Römischen Reiches, Franz II., zwei Jahre später, machten die Erinnerung an das mittelalterliche Deutsche Reich nur um so schöner und größer. Während das alte Deutsche Reich auf Gerechtigkeit und Freiheit gegründet war, beruhte die napoleonische Travestie davon, nach Schlegels Ansicht, nur auf Unrecht und Gewalt. Eine solche Interpretation von den Segnungen des Kaisertums der deutschen Könige musste die Rolle des Papstes als Oberhaupt der Christenheit in Frage stellen. Und dies insbesondere angesichts der unwiderlegbaren Tatsache, dass die mittelalterliche Geschichte mehrere große Konflikte zwischen Papst und Kaiser erlebt hatte, nicht nur zwischen Heinrich IV. und Gregor VII., sondern auch zwischen Friedrich Barbarossa und Alexander III. oder zwischen Friedrich II. und Innozenz IV., um nur einige zu nennen. Der Ausgang dieser Konfrontationen rechtfertigte anscheinend den Schluss, dass beide Parteien ihre Autorität als Oberhaupt der Christenheit verspielt hatten, während das deutsche Volk diesem Streit zum Opfer gefallen war. Das Verhältnis zwischen Papst und Kaiser war ein großer Streitpunkt in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, der zu heftigen Konflikten führte, weil mit der mittelalterlichen Vergangenheit auch die Zukunft der deutschen Länder zur Diskussion stand. Radikale Nationalisten wie Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig „Turnvater“ Jahn, die einen homogenen deutschen Nationalstaat anstrebten, schlossen sich Herders vernichtendem Urteil an und räumten ein, dass das Kaisertum im Mittelalter zwar eine übernationale Bedeutung gespielt habe, doch gerade das habe sich für Deutschland als Katastrophe erwiesen, weil das Land dadurch in den italienischen Sumpf geriet. Für das deutsche Volk wäre es besser gewesen, wenn seine Könige nie die Alpen überquert und sich nie um den Papst gekümmert hätten. Stattdessen hätten sie sich lieber für die Expansion in Osteuropa einsetzen 123

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sollen, um dort eine reine deutsche Kultur zu etablieren, frei von päpstlichem Aberglauben und italienischem Krämergeist.83 Dieser nationalistischen Interpretation des mittelalterlichen Kaisertums stand Friedrich Schlegels universalistische Sichtweise gegenüber, die im alten Kaisertum ein Symbol für Deutschlands universelle Berufung, damals wie heute, sah. Das ist gar nicht so verwunderlich, schließlich entwickelte sich Schlegel in seinen Wiener Jahren zu einem immer größeren Befürworter der Politik des österreichischen Kanzlers Metternich, der alles tat, um einen starken deutschen Nationalstaat zu verhindern. Schlegels Beschreibung des mittelalterlichen Kaisertums zeigte Übereinstimmungen mit der Regierung der Habsburger in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Kaiser waren zwar deutscher Abstammung, und das war auch gut, schließlich besaß das deutsche Volk wie kein anderes ein Gespür für das Universelle, doch gerade durch ihr Kaiseramt waren sie dazu berufen, alle Nationen Europas in ihrer Eigenart und Unabhängigkeit zu bestätigen und Einheit zwischen den Völkern zu stiften, sozusagen als Hüter der europäischen res publica.84 Das mittelalterliche deutsche Reich selbst war nach Schlegels Meinung ein glänzendes Beispiel für diese Ausgewogenheit zwischen Autorität und Freiheit; es war eine Einheit, die aus vielen Völkern bestand, wobei jedes seine eigenen Rechte und Traditionen besaß. Darüber hinaus war es das einzige europäische Land, in dem die beiden großen kulturellen Kräfte, die gemeinsam Europa geformt hatten, nämlich der germanische und der romanische Geist, glücklich miteinander verschmolzen waren.85 Dass das mittelalterliche deutsche Reich ein multikultureller Vielvölkerstaat war, bildete keine Bedrohung für den deutschen Geist, sondern war eine gewaltige Bereicherung. Denn egal wie wichtig die Nationen in Schlegels Augen waren, jede Nation für sich repräsentierte lediglich einen Aspekt des menschlichen Geistes, nie den ganzen.86 Die nicht ausgesprochene, doch auf der Hand liegende Schlussfolgerung wäre, dass das mittelalterliche deutsche Reich, gerade weil sich auf seinem Gebiet immer eine Vielfalt an Völkern und Kulturen gegenseitig befruchten konnte, mehr zur Verwirklichung des menschlichen Geistes beigetragen hat, als homogene Nationalstaaten wie England oder Frankreich. 124

Der Vater der Christenheit

Nach Schlegels Ansicht war auch erfreulich, dass es in Europa, abgesehen vom Kaiser, mit der Person des Papstes noch ein zweites Oberhaupt gab. Beide stützten ihre Autorität auf den Volkswillen, nur vertrat der Kaiser vor allem die Macht, der Papst dagegen das Recht. Nur durch die Kombination von Macht und Recht konnte die Einheit in der Verschiedenartigkeit entstehen, die Schlegel als Grundlage des mittelalterlichen politischen Systems ansah. Im Gegensatz zu de Maistre betonte er darum ständig die Ebenbürtigkeit von Papst und Kaiser in ihrer Verantwortung für das Wohl der Christenheit.87 Es hat Zeiten gegeben, in denen der Kaiser den Papst ernannte, und dann wieder Zeiten, in denen der Papst den Kaiser bestimmte. Eines war nicht besser als das andere, es hing lediglich von den Umständen ab, wer von beiden den Vorrang übernehmen sollte. Doch so lange beide mit der Stimmung im Volk Fühlung hielten und sich nicht auf ihre Rechte beriefen, war die Harmonie von geistlicher und weltlicher Macht garantiert und die europäische Republik lag in sicheren Händen. Diese glückliche Situation wurde durch den Investiturstreit abrupt beendet, weil niemand die Autorität besaß, zwischen Papst und Kaiser zu vermitteln. Dadurch endete der Konflikt in einer schmachvollen Niederlage für beide, und Europa verlor endgültig seinen gemeinsamen ethischen Mittelpunkt. Solange die Zusammenarbeit zwischen Kaiser und Papst funktioniert hatte, existierte ein Gleichgewicht zwischen Macht und Recht, zwischen Einheit und Verschiedenheit, zwischen Gebundenheit und Entfaltung, was echte Freiheit erst möglich gemacht hatte. Während für de Maistre die Herrschaft von Recht und Freiheit mit Canossa begann, endete sie hier für Schlegel.88 Doch nach der festen Überzeugung beider Denker war es nur der katholischen Kirche und ihrem Papst zu verdanken, dass Europa in ferner Vergangenheit einmal so etwas wie Freiheit genossen hatte, und um dies wieder zu ermöglichen, musste man den Päpsten ihre frühere Größe zurückgeben. Rom müsste wieder werden, was es im Mittelalter gewesen war, das neue Jerusalem, „die heilige Residenz auf Erden“.89

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Verantwortung und Gegenseitigkeit Aufgrund der Erfahrung, die die Welt im 20. Jahrhundert mit autoritären Regimen gemacht hat, liegt es auf der Hand, Romantiker wie Novalis, Schlegel und de Maistre als unkritische Fürsprecher von Obrigkeit, Gehorsam und Hierarchie, vor allem aber als gefährliche Vorläufer von Hitler und Stalin zu bezeichnen. Damit würde man ihren Theorien jedoch zutiefst Unrecht tun.90 Allein schon Schlegels Beschreibung des mittelalterlichen deutschen Staates zeigt, dass die romantischen Antirevolutionäre ganz besonders die Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Die Erfahrung der Revolution hatte ihr Vertrauen darauf, wie die Menschen von ihrer Freiheit Gebrauch machen, nur so erschüttert, dass die Berufung auf Freiheit ihrer Überzeugung nach nie das letzte Wort sein konnte. Stattdessen müssten Menschen und Staaten der Freiheit klare Grenzen setzen, weil Freiheit ohne Autorität unmöglich sei. Eine solche höhere Autorität könnten in zwischenstaatlichen Beziehungen die christliche Kirche oder der Papst bilden, doch das wäre nicht genug. Auch in allen zwischenmenschlichen Beziehungen wäre es von grundlegender Bedeutung, dass Freiheit in die Verantwortung für ein größeres Ganzes eingebettet bleibt. Dieses Bewusstsein war, nach Ansicht der Romantiker, in der Reformation leider verlorengegangen. Für die Reformatoren war nämlich vor allem die persönliche Beziehung des Menschen zu Gott wichtig. Weil sie die soziale Rolle der Kirche geleugnet haben, ging durch ihre Schuld das Bewusstsein verloren, dass Freiheit ohne soziale Einbindung verhängnisvoll ist. Die Philosophen des 18. Jahrhunderts waren die Erben dieses Freiheitsbegriffs der Reformation; die einzige Änderung, die sie vornahmen, bestand darin, Gott zu streichen. Um die „wahre“ Freiheit wiederherzustellen, sollte man darum die jüngste Geschichte vergessen und stattdessen die Erinnerung an die Jahrhunderte vor Reformation und Aufklärung wecken, um herauszufinden, wie die menschliche Freiheit damals im sozialen Leben Form angenommen hatte. Weil Friedrich Schlegel wie schon Herder vor ihm davon überzeugt war, dass man die wichtigsten Merkmale einer Kultur am reinsten in 126

Verantwortung und Gegenseitigkeit

ihrem Ursprung finden könne, kehrte er zu den alten Germanen zu Beginn unserer Zeitrechnung zurück, um dort die wahre Freiheit zu finden.91 Tacitus war sein Führer, wie bei jedem, der über die Germanen schrieb. Nach Schlegels Meinung bestanden die germanischen Stämme aus freien Männern, die berechtigt waren, Waffen zu tragen. Mit dem Schwert gegürtet erschienen sie auf allgemeinen Versammlungen, um dort gemeinsam alle Angelegenheiten des ganzen Stammes zu beraten. In Friedenszeiten wurden auf diesen Versammlungen die Grafen und Richter gewählt, in Kriegszeiten die Herzöge, die an der Spitze in den Kampf ziehen mussten. Dennoch gab es Unterschiede zwischen den Stammesmitgliedern. Grafen und Herzöge wurden immer nur aus bestimmten Familien gewählt, woran man nach Schlegel erkennen konnte, dass damals schon Unterschiede zwischen den gewöhnlichen freien Männern und dem Adel bestanden. In der Stammesversammlung durften Adelige zuerst das Wort ergreifen, obwohl alle gehört wurden. Schlegel sah darin den Ursprung des Zweikammersystems, das später im Mittelalter typisch für repräsentative Körperschaften wie das englische Parlament werden sollte. Bei den Germanen erkannte man also schon die beiden Fundamente, auf denen ein gut organisierter Staat aufgebaut war: die Aristokratie und die Freiheit. Der Adel war für Schlegel wichtig. Echte Freiheit, Freiheit, die nicht in Zügellosigkeit ausarte, wäre nämlich nur in Staaten mit einer verantwortungsvollen Aristokratie möglich, die das Wohl aller Bürger im Auge hat. Auch für den Adel lautete die Devise: Einer für alle und alle für einen, auf Leben und Tod. Nach Schlegels Meinung hatte der Adel die besondere Aufgabe, die Grenzen der Freiheit zu bewachen. Um das zu illustrieren, verglich er das glückliche Gleichgewicht zwischen adeliger Autorität und bürgerlicher Freiheit bei den Germanen mit dem alten Rom, wo ein despotischer, habgieriger Adel seine Autorität missbraucht hatte, oder mit den griechischen Stadtstaaten, die ihr ungezügelter Freiheitsdrang in den Untergang getrieben hatte.92 Besonders begeistert war Schlegel von der Sitte germanischer Jünglinge, irreguläre Heere zu bilden und unter der Leitung eines charismatischen Anführers Kriegszüge zu unternehmen, eine Institution, die in 127

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der späteren Forschung als Gefolgschaft oder comitatus bekannt wurde.93 Der Anführer eines solchen Heeres sorgte wie ein Vater für seine Soldaten, überließ ihnen nach der Schlacht die Beute und achtete darauf, dass alles gerecht verteilt wurde. Sie wiederum verteidigten ihn mit bedingungsloser Treue und standen mit ihrem Leben für seine Sicherheit ein. Nirgendwo sah Schlegel verantwortungsbewusste Autorität auf der einen und freudigen Gehorsam auf der anderen Seite so vollkommen verwirklicht wie in diesen Trupps treuer Kameraden. Hier lag seiner Meinung nach der Ursprung der beiden edelsten Institutionen, die die mittelalterliche Kultur hervorgebracht hatte: das Feudalwesen und die Ritterschaft. Das Feudalwesen formalisierte und stärkte zugleich das Band persönlicher Treue zwischen Herr und Gefolgsmann als Fundament des Staates, während in der Ritterschaft die Tradition des Kriegs als edles Abenteuer gepflegt wurde.94 Adam Müller fasste das Charakteristische der Machtverhältnisse, wie sie im Mittelalter bestanden hatten, in einem Wort zusammen: Gegenseitigkeit.95 Müllers Ausgangspunkt war, dass sowohl die wechselseitigen Verhältnisse zwischen Staaten, als auch die zwischen Personen durch gegenseitige Verantwortung charakterisiert sein sollten, wobei das Gemeinwohl über dem Eigeninteresse steht. Im Mittelalter war dies selbstverständlich: Jeder Besitz wurde nur als Nießbrauch aufgefasst, als Unterpfand, das dem Benutzer nur zeitweise anvertraut, das ihm als Lehen gegeben wurde, und mit dem er darum auch respektvoll umgehen musste. Das feudale System war die konkrete Umsetzung des tief christlichen Gedankens, dass ein Mensch hier auf Erden keinen bleibenden Wohnsitz hat und deshalb eigentlich nichts sein Eigen nennen darf. Jeden Besitz, vor allem Grundbesitz, konnte man nur rechtfertigen, wenn er genutzt wurde, um anderen zu helfen. Im Mittelalter waren darum an jeden Besitz Bedingungen geknüpft, zum Beispiel mussten Arbeiter dem Herrn Waffendienste leisten, während der Herr gegenüber seinen Arbeitern eine Fürsorgepflicht hatte. Mit der Wiederbelebung des heidnischen römischen Rechts während der Renaissance wurde das christliche Bewusstsein der Gegenseitigkeit unterdrückt, vor allem als das römische Konzept eines uneingeschränkten Privateigentums entwickelt wurde. Alle Traditionen und 128

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Institutionen, in denen die gegenseitige Verantwortung im Laufe der Jahrhunderte Gestalt angenommen hatte, verschwanden, zugleich mit allen feudalen Verpflichtungen und persönlichen Dienstverhältnissen auf dem Lande oder in den städtischen Handels- und Handwerkerzünften. Der Staat war nicht länger eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, die bereit waren, sich füreinander aufzuopfern, sondern nur noch eine Organisation, an die ein Bürger Geld zahlte, damit sie sein Eigentum schützt, mit der er ansonsten aber nichts zu tun haben wollte. Weil sich in so einem Staat niemand mehr um den anderen kümmerte, konnte man die Ordnung nur noch mit Mitteln grober Gewalt aufrechterhalten, so dass der Rechtsstaat zum Polizeistaat verkümmerte.96 Müllers Sorge galt auch der wirtschaftlichen Entwicklung seit dem Mittelalter. Er war ein erklärter Gegner jeder Aufhebung von Handelsbeschränkungen, denn die sozialen Folgen eines ungezügelten Kapitalismus waren für ihn inakzeptabel. Das Vorbild der freien deutschen Reichsstädte im Mittelalter zeigte, dass es auch anders ging. Hier zeichnete sich das Bürgertum durch Unternehmergeist aus – als Beispiel nennt Müller die Fugger in Augsburg –, der durch den Einfluss des feudalen Geistes der Gegenseitigkeit allerdings abgemildert wurde. Statt ihre Konkurrenten in den Ruin zu treiben, bildeten die Kaufleute Korporationen, um die größten Handelsrisiken aufzufangen, während sich im Handwerk Meister und Lehrlinge zu Zünften zusammenschlossen, um übermäßige Konkurrenz zu verhindern und sich gegenseitig zu helfen. Alle Bürger fühlten sich für das Wohlergehen der Stadt als Ganzes verantwortlich und stellten ihre eigenen Interessen in den Dienst von Stadt und Staat.97 Durch den Zustrom von Gold aus Amerika und Gewürzen aus Indien nahm diese Einigkeit im 16. Jahrhundert ein Ende. Der Stand der Kaufleute verlor seinen Sinn für Verantwortung und sorgte sich nur noch um den eigenen Gewinn. Was damals begann, fand seinen Abschluss in der Industrialisierung der Produktion, durch die auch das alte Handwerk zugrunde ging. In bitteren Worten schilderte Müller den Gegensatz zwischen der alten Werkstatt, in der Meister und Lehrling Seite an Seite gearbeitet und ihr Los miteinander geteilt hatten, und der modernen Fabrik, in der ein berechnender Unternehmer Tau129

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sende von Lohnsklaven beschäftigte, deren persönliches Wohlergehen ihm völlig gleichgültig war.98 Der moderne Staat und die Fabrik waren demnach zwei Seiten ein und derselben Medaille, Produkte einer entarteten Gesellschaft, in der alle sozialen Bande zerstört waren und nur noch das Individuum zählte. Mit diesem vernichtenden Urteil über die sozialen Entwicklungen seiner eigenen Epoche war Müller auf dem europäischen Kontinent einer der ersten, die erkannten, dass nicht nur eine politische Revolution vor sich ging, die alle bestehenden Machtverhältnisse umkrempelte, sondern dass zugleich auch eine wirtschaftliche Revolution stattfand, die katastrophale soziale Folgen haben könnte, wenn sie nicht unter Kontrolle gebracht würde. In England konnte man die Folgen der Industrialisierung schon früher erkennen, und darum ist es verständlich, dass sie dort eine Reaktion hervorgerufen haben, die das Mittelalterbild mindestens genauso bestimmten wie die Ereignisse in Frankreich. In seiner populären Hymne Jerusalem verglich der Dichter William Blake die „finsteren, teuflischen Fabriken“ im modernen England mit dem „freien und behaglichen Land“, das verlorengegangen war, das er jedoch irgendwann wiederzufinden hoffte. Der Dichter Robert Southey ließ keinen Zweifel daran, wo dieses „behagliche Land“ zu finden sei: im englischen Mittelalter. 1812 schrieb Southey einen harschen Aufsatz gegen Thomas Robert Malthus, in dem er erläuterte, dass die menschenunwürdige Armut, in der ein großer Teil der englischen Bevölkerung leben musste, nicht Folge eines Naturgesetzes war, wie Malthus behauptet hatte, sondern das Ergebnis rein menschlichen Scheiterns. Am Beispiel der englischen Geschichte zeigte Southey, dass die Obrigkeit den Dingen einfach ihren Lauf gelassen hatte. Dadurch war nun die beschämende Situation entstanden, dass im reichsten Land der Welt ein Großteil der Bevölkerung Hunger litt. Für die Befürworter des mittelalterlichen Feudalismus hatte Southey nur Häme übrig. Edle Herren und treue Bauern zu verherrlichen war demnach bestenfalls romantisches Geschwätz, doch wahrscheinlicher war es, dass diese Art von Geschichtsverfälschung die Abschaffung der Sklaverei im Britischen Reich verhindern sollte.99 Anschließend vollzog Southey eine merkwürdige Kehrtwende. Er zeigte, dass es in der englischen Geschichte zwei Momente gegeben 130

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hatte, in denen die Armen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen zum Opfer gefallen waren: die Reformation und die industrielle Revolution. Durch die Auflösung der Klöster verschwand ein vorzüglich funktionierendes System der Armenfürsorge. Darüber hinaus beschleunigte die Säkularisation des kirchlichen Grundbesitzes den Prozess einer immer geschäftlicher werdenden Beziehung zwischen Landbesitzern und Bauern. Während die Klöster milde Herren waren, verfolgten die neuen Eigentümer eine unbarmherzig kapitalistische Politik. Dass es im 17. Jahrhundert für die englischen Bauern noch relativ glimpflich ausgegangen war, käme allein daher, dass die feudalen Tugenden das System überlebt hätten.100 Mit dem Aufkommen des industriellen Produktionsprozesses nach 1760 wäre aber alles ganz schiefgegangen. Die Landwirtschaft wurde mechanisiert, und damit verschwanden die letzten Überreste einer persönlichen Bindung zwischen Herr und Bauer. Die überflüssigen Bauern zogen in die Städte, wo sie ein entwurzeltes, unzufriedenes und vaterlandsloses Proletariat bildeten, kaum noch Menschen sondern eher produzierendes Vieh. Southey schloss seine Abhandlung mit einem Plädoyer für eine verbesserte Sozialfürsorge, für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und eine bessere Ausbildung der arbeitenden Klasse. Er wollte nicht zurück ins Mittelalter, obwohl er die ganze englische Geschichte seit dem Mittelalter für eine einzige große menschliche Katastrophe hielt. Von einer dörflichen, einträchtigen und rechtschaffenen Gesellschaft sei England entartet zu einem reichen, aber auch harten und erbarmungslosen Land, in dem die Menschen nicht mehr nach ihrer Seele, sondern nach ihrem Produktionspotential beurteilt würden, eine Sklaverei, die viel schlimmer wäre, als die Hörigkeit des Mittelalters es je war.101 Karl Marx sollte das alles 50 Jahre später genau so wiederholen.

Ritter oder Bürger Die mittelalterliche Vergangenheit lieferte allen Gegnern von Aufklärung und Revolution die Blaupause für eine bessere Gesellschaft. Vor allem gab es in ihr eine Figur, die alles auszudrücken schien, was die 131

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Romantiker von den Menschen in einer besseren Gesellschaft erwarteten, nämlich den Ritter.102 Es ist nicht einfach, über Ritter und Rittertum zu schreiben, denn wie schon Chateaubriand erläutert hat, ist bei Themen, die die Phantasie so ansprechen wie die der Ritter, die Phantasie der Leser den Worten des Schriftstellers immer schon weit vorausgeeilt. „Allein das Wort Ritterschaft, der einzige Name für einen ruhmreichen Ritter, ist eigentlich ein Wunder. Es ist ein Wort, dem selbst das interessanteste Detail nichts hinzufügen kann; alles ist darin enthalten.“103 Dennoch muss ein Versuch dazu gewagt werden, weil in unserer Kultur kein einziger Archetyp die Vorstellung vom Mittelalter so sehr bestimmt hat wie der Ritter. Dem kalkulierenden Bürger, für den nur Gewinn zählte und der sich weder um seine Mitmenschen, noch um den Staat scherte, stellten die Romantiker ein Ideal von Mut, Ehre und selbstloser Pflichterfüllung gegenüber, das seine Verkörperung im Ritter ohne Furcht und Tadel fand. Damit knüpften sie an eine Tradition an, die in den Jahrhunderten des Humanismus und Klassizismus verschüttet wurde, aber nie ganz verschwunden ist. Die großen Geschichten aus dem 12. und 13. Jahrhundert über Kaiser Karl und seine Paladine, über Artus und Lancelot, Parceval und den Gral, auch über Siegfrieds Rache wurden immer wieder erzählt und sind in vielerlei Form im Gedächtnis Europas hängen geblieben. An der Schwelle vom Mittelalter zur Renaissance hat Ludovico Ariost den Karlsroman gerettet, weil er ihn in seinem Orlando furioso (Der rasende Roland; 1516–1532) in eine Form goss, die für den humanistischen Geschmack akzeptabel war. Den spanischen Soldaten Iñigo (Ignatius) von Loyola inspirierte die Lektüre von Ritterromanen dazu, eine Ritterarmee im Dienste von Jesu um sich zu scharen, die Geburtsstunde des 1540 offiziell gestifteten Jesuitenordens. Torquato Tasso sang in seinem Gerusalemme liberata (1575) das Lob des großen Gottfried von Bouillon, der sein Schwert in den Dienst von Glauben und Kirche gestellt hat und zum Helden des ersten Kreuzzuges wurde. Mittelalterliche Romane wurden auch im 17. Jahrhundert in zahlreichen populären Versionen gedruckt und gelesen. Sogar am Hofe Ludwigs XIV. gab man regelmäßig Feste mit dem Thema der chevalerie.104 Als erste Reaktion auf die Künstlichkeit der klassizistischen Literatur 132

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präsentierten Hurd und La Curne de Sainte-Palaye im 18. Jahrhundert Ritterromane und die mittelalterliche Minnedichtung als Beispiele für eine neue, einfachere Form der Literatur. Das schlug ein, auch wenn La Curne mit seinen berühmten Mémoires sur l’ancienne chevalerie (1759), einem Buch, das in ganz Frankreich verschlungen wurde, gar nicht die Absicht hatte, der französischen Aristokratie einen Spiegel vorzuhalten, sondern sie durch die Erinnerung an ihre eigene, farbenfrohe Vergangenheit eher ermutigen und amüsieren wollte.105 Edmund Burke war einer der ersten, für den die Figur des Ritters zum Mythos wurde, zum Symbol einer besseren Welt, die vom Bürger tödlich bedroht war. Als ihm zu Ohren kam, dass kein einziger französischer Edelmann den Mut aufgebracht hatte, für seine Königin MarieAntoinette einzutreten, als das Volk sie 1790 als Gefangene von Versailles nach Paris geschleppt hat, rief er aus: Aber das Zeitalter der Ritterlichkeit ist vorbei . Ihm folgt das der Besserwisser, Ökonomen und Pfennigfuchser . Europas Ruhm ist für immer erloschen . Die ehrfurchtsvolle Loyalität gegenüber Rang und Abstammung, die stolze Unterwerfung, der würdevolle Gehorsam, die Demut des Herzens, die selbst in der Sklaverei einen herrlichen freiheitsliebenden Geist lebendig erhielt, werden wir nie, nie wieder erblicken . [ . . .] Verschwunden ist das Gefühl für Prinzipien, das reine Ehrgefühl, das jeden Makel wie eine Verletzung empfand, das Mut einflößte und Grausamkeit mäßigte, das veredelte, was es berührte, und durch das selbst das Laster nur halb so schlimm wurde, weil es seine ganze Roheit verlor .106 Nach Burkes Meinung war die Ritterlichkeit in der Antike und in Asien unbekannt, da sich diese Tugend ausschließlich im postantiken Europa, also im Mittelalter, entwickelt hatte. Der Kern des Ritterkodex bestand darin, dass die Beziehung zwischen zwei Personen, die im Prinzip aus unterschiedlichen Schichten kamen, von gegenseitiger Wertschätzung und Hochachtung geprägt war und dies in einem Treueeid (fealty) ausgedrückt wurde, in dem sich beide gegenseitig verpflichten mussten. Wo eine solche Beziehung zwischen zwei Personen möglich war, verlor die Ausübung der Macht ihre scharfen Kanten. Der 133

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Herr konnte es sich erlauben, seine Macht gütig (gentle) auszuüben, weil er von seinen Untertanen keine Aufsässigkeit befürchten musste. Der Untertan seinerseits konnte in seinem Gehorsam freigebig (liberal) sein, weil er sich vor der Willkür seines Herrn geschützt wusste. Sobald der höfliche und respektvolle Umgang miteinander jedoch aufgegeben wurde und man nur noch von Rechten sprach, wie das nun in Frankreich geschah, wurden aus den Untertanen Aufständische und aus den Fürsten Tyrannen. Die unausgesprochene, doch sehr präsente Voraussetzung für diese Vorstellung von Ritterlichkeit war die Ansicht, dass die Menschen von Natur aus ungleich wären, weshalb bis in alle Ewigkeit immer einige Menschen mächtiger sein würden als andere. Im Geist des Rittertums erblickte Burke eine ideale Möglichkeit, die Folgen dieser ungleichen Machtposition erträglicher zu gestalten, weil er anstelle von brutalem Zwang einen letztendlich auf Freiwilligkeit beruhenden Ethos des Respekts und der Verantwortung schuf. Er war sich durchaus bewusst, dass es sich hier um ein prekäres Spiel handelte, weil niemand Zwang ausüben konnte. Burke sprach von „angenehmen Illusionen“ und von „allem, was passend ums Leben herum drapiert ist“, alles Dinge, die das kalte Licht der Vernunft nicht ertragen. Doch er warnte auch davor, dass eine Gesellschaft, in der Liebe, Respekt, Bewunderung und Zuneigung – Eigenschaften, wie sie in der Gestalt des Ritters personifiziert sind – nicht mehr zu den öffentlichen Tugenden gehörten, der Gewalt nackter Macht ausgeliefert würde, „den grausamen, blutigen Grundsätzen, die den politischen Kode jeder Macht ausmachen“.107 Bei aller Bewunderung für den Ritter äußerte sich Burke recht nüchtern, wenn es um den sozialen Mechanismus ging, der dahinter stand. Das Spiel, das der Ritter und sein Herr miteinander spielten, war lediglich eine leicht durchschaubare Verhüllung der Macht. Sie gestaltete das Leben zwar viel menschlicher, war jedoch nicht unbedingt notwendig. In der romantischen Begeisterung für die Ritterschaft verschwand diese Zurückhaltung völlig. Chateaubriand zog in Le Génie du christianisme einen Vergleich zwischen den Helden der homerischen Epen und den mittelalterlichen Rittern, wie sie von Tasso besungen wurden. Dabei kam er zur Schluss134

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folgerung, dass es ihr christlicher Glaube war, der die mittelalterlichen Helden zu Rittern machte. Spöttisch nannte er als Beispiele Ajax und Hektor, die laut Homer in die Flucht geschlagen wurden, sobald es wirklich hart auf hart ging. Ihrer Feigheit hielt er die Kühnheit der mittelalterlichen Ritter entgegen, denen es nie in den Sinn gekommen wäre zu fliehen, selbst wenn sie die schwächeren waren. Der Grund für diesen Unterschied war einfach: Die wahre Religion hatte die mittelalterlichen Ritter gelehrt, dass die Menschen nicht durch Körperkraft miteinander wetteifern sollten, sondern durch Seelengröße, die man am meisten an der Behandlung von Besiegten erkannte.108 Nach dem Sieg der Engländer über die Franzosen bei Poitiers (1356) pries Eduard, der Schwarze Prinz, den französischen König Johann II. mit dem Beinamen „der Gute“ für seine Tapferkeit und weigerte sich aus Hochachtung vor seiner Fürstenwürde, an der Tafel des Königs Platz zu nehmen.109 Die Haltung gegenüber Frauen war ein anderer Punkt, in dem sich die Ritter positiv von den griechischen Helden unterschieden. Agamemnon prahlte damit, dass er die Achilles zugesprochene Briseis ebenso liebe wie seine Frau. So hätte ein Ritter nie gesprochen, weil er sich immer vor Augen gehalten hätte, wie milde Christus Frauen behandelt hat. Ein echter Ritter war treu, er verehrte seine Geliebte aus keuscher Distanz, nie kam eine Lüge über seine Lippen, er war arm und selbstlos, und er hielt sich jederzeit bereit, Witwen und Waisen zu Hilfe zu eilen. Chateaubriand hat wiederholt betont, dass es sich hier nicht nur um dichterische Freiheit handle, vielmehr zeige die Geschichte, dass dieses hohe Ideal im Mittelalter zwar nicht immer, aber doch recht häufig Wirklichkeit geworden sei, vor allem während der Kreuzzüge. Sein höchstes Lob galt dem Anführer des ersten Kreuzzuges, Gottfried von Bouillon, dessen charismatische Führerschaft die von Aeneas oder Agamemnon weit übertraf. In seiner Phantasie sah Chateaubriand Gottfried am Morgen des entscheidenden Angriffs auf Jerusalem vor sich: „sein Haupt leuchtet, sein Gesicht strahlt einen unbekannten Glanz aus, der Engel des Sieges hüllt ihn unsichtbar in seine Flügel“. Er reitet an seinen Mannen vorbei, spricht ihnen Mut zu, weckt in ihnen die Wut des Herrn der Heerscharen, auf dass sie mit edler 135

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Kampfeslust erfüllt werden, um die Mauern der heiligen Stadt zu erstürmen und Gottes Feinde zu vernichten.110 Wie Chateaubriand war damals jeder davon überzeugt, dass christliche Ideale den Kern der Ritterlichkeit gebildet haben. In den deutschen Ländern und in England wurde auch immer stärker betont, dass das kriegerische Element im Rittertum seinen Ursprung eher in der vorchristlichen germanischen Tradition hatte. Friedrich Schlegel sah im Freundschafts- und Treueband, wie es in den germanischen Gefolgschaften zwischen jungen Kriegern und ihren Anführern bestand, einen Ursprung des Ritterideals. Auch Friedrichs Bruder, August Wilhelm Schlegel, hat sich ausführlich mit dem Rittertum beschäftigt, sowohl in seinen Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst als auch später in seinen Wiener Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, die beide zu den großen Manifesten der romantischen Bewegung gehören. Nach August Schlegels Meinung war der Ritter die erste und vollkommenste Verkörperung des romantischen Geistes.111 Ein typischer Romantiker war ein tief zerrissener Mensch, weil er sich, nach dem Unendlichen verlangend, im Endlichen verbannt weiß.112 Und niemand lebte mehr mit dieser Spannung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit als der Ritter. Der Ritter war zugleich Streiter und frommer Gläubiger, eine unmögliche Kombination. Zum einen war er der Erbe der alten germanischen Tradition, in der nur Waffen und freies Leben zählten. Er besaß ein starkes Ehrgefühl und trachtete weder nach Sold noch nach Beute, sondern begnügte sich damit, seinem Anführer in den Kampf zu folgen und zu dienen. Unter den Streitern herrschte eine starke, brüderliche Verbundenheit, getragen durch unverbrüchliche Treue zueinander: ein Mann, ein Wort. Wenn dennoch Konflikte ausbrachen, liefen Ritter nicht zum Richter und noch weniger griffen sie zu hinterhältigen Tricks, stattdessen regelten sie das im ehrlichen, offenen Zweikampf unter sich. In Friedenszeiten übte der Ritter fleißig den Umgang mit Waffen, indem er in den dichten Wäldern Europas auf die Jagd ging oder an Turnieren teilnahm. Turniere waren laut Schlegel die Olympischen Spiele der Ritterschaft, nur mit dem Unterschied, dass

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Frauen auf Turnieren einen Ehrenplatz erhielten, während sie bei den Olympischen Spielen nicht einmal anwesend sein durften.113 Diese den Frauen erwiesene Hochachtung beweist, nach Schlegels Meinung, dass der christliche Glaube das andere Ideal war, das die Ritterschaft beseelte. Der Ritter war von dem Glauben durchdrungen, dass er seine Kampflust in den Dienst der Gerechtigkeit stellen sollte. Er durfte sich nur mit Männern messen, die ebenso stark waren wie er selbst; er sollte seine Waffen vor allem in den Dienst von Frauen, Armen und anderen Wehrlosen stellen, und sein höchstes Ziel war der Kampf für Gott und Kirche im Heiligen Land. Die tiefe Frömmigkeit des Ritters zeigte sich auch darin, dass er sich nach der Schlacht nicht schämte, die Wunden seiner Kameraden zu verbinden, und dass er Heldenmut mit einem tiefen Gefühl der Reue wegen seiner Sünden und Verfehlungen kombinieren konnte. Er konnte sein Schwert im Kampf als Waffe schwingen und es im nächsten Moment umdrehen, um es als Kreuz zu benutzen, vor dem er seine Gebete sprach.114 Trotz dieser rührenden Beispiele kam Schlegel immer wieder darauf zurück, dass Ehre und christlicher Glaube für einen Ritter zwei verschiedene Ideale waren, die nebeneinander existierten und sich nie miteinander versöhnen ließen. Das Turnier war ein gutes Beispiel für so einen unlösbaren Konflikt. Turniere waren Höhepunkte im Leben eines Ritters in seiner Eigenschaft als Kämpfer. Sie boten dem Ritter die ideale Gelegenheit, die Treue zu seinem Herrn zu zelebrieren, seine Geschicklichkeit mit Waffen zu zeigen und seine Kraft in den Dienst der von ihm bewunderten Frau zu stellen. Doch genau aus diesen Gründen missbilligte der Klerus diese Turniere. Für ihn waren sie nutzlose Zurschaustellungen von Pracht und Prunk mit einem gefährlich gewalttätigen und erotischen Unterton. Doch diesen Kampf verlor die Kirche. Germanisches Ehrgefühl siegte hier über christliche Frömmigkeit.115 Die tiefe Zerrissenheit des Ritters offenbarte sich laut Schlegel nirgendwo besser als in der höfischen Liebe und der von ihr hervorgebrachten Dichtung. In ihr wurde ein mutiger Versuch unternommen, Sinnlichkeit und geistige Liebe zu vereinen. Die Frau, wie sie von den Troubadouren besungen wurde, war allem Irdischen entrückt: Sie war 137

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das Ebenbild der Maria, Jungfrau und Mutter, unerreichbar und doch Triebfeder allen erotischen Verlangens. Diese beiden unmöglich miteinander zu vereinbarenden Rollen verdeutlichen wiederum, dass die Widersprüche der menschlichen Existenz in der postantiken, zugleich germanischen und christlichen Welt unlösbar geworden waren. Darum zeigte sich laut Schlegel in der Unmöglichkeit des mittelalterlichen Ritterideals zum ersten Mal das romantische Lebensgefühl: In seiner Zerrissenheit zwischen dem Endlichen und Unendlichen wurde der mittelalterliche Ritter zum Prototyp des modernen Menschen.116

Ivanhoe Anfang des 19. Jahrhunderts konnten sicher nur wenige den theoretischen Ausführungen August Schlegels über die Ritterschaft wirklich folgen, doch das Fazit, dass der Ritter ein Musterbeispiel von Ehre und Tugend sei, dem es nachzueifern gelte, fand weite Verbreitung und beeinflusste in ganz Europa Erziehungsideale und Bildungsreformen.117 Niemand hat mehr dafür getan, dieses Ideal in Europa zu verbreiten, als Walter Scott. Die Vorstellungen dieses Schriftstellers von Rittern und dem Rittertum sind längst nicht so schlüssig, wie ihre enorme Popularität vermuten lässt. 1814 schrieb Scott eine lange Abhandlung über das Rittertum, die zwar von Schlegel inspiriert war, in der er sich zur mittelalterlichen Ritterkultur jedoch viel reservierter äußerte als sein deutsches Vorbild.118 Er war zwar überzeugt davon, dass das Ritterideal zu einer Verbesserung der wilden Sitten im alten Europa beigetragen hat, vor allem was die Einstellung gegenüber Frauen anging, doch er schloss seine Abhandlung mit der knappen Bemerkung, es sei wesentlich besser, dass diese guten Umgangsformen, die früher vom Ritterideal verkörpert wurden, jetzt von einer gerechten Gesetzgebung garantiert werden.119 Außerdem hegte Scott so seine Zweifel, wie ernst die mittelalterlichen Ritter es eigentlich mit dem christlichen Glauben meinten. Er bewunderte die Feurigkeit und uneigennützige Frömmigkeit der Ritter, fand ihren Glauben aber auch fanatisch und intolerant, wie ihre ungezügelte Begeisterung für die Kreuzzüge zeigte.120 138

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Allerdings decken sich die Ausführungen in Scotts theoretischen Schriften nicht ganz mit dem Bild des Ritters, das er in seinen Romanen skizziert hat. 1819 veröffentlichte Scott den Ritterroman Ivanhoe, den populärsten Roman des 19. Jahrhunderts, nicht nur in England, sondern vielleicht sogar noch erfolgreicher im übrigen Europa und ganz bestimmt in Amerika.121 Kein Buch hat mehr für die Rehabilitierung der mittelalterlichen Kultur getan als diese Erzählung vom edlen Verbannten Wilfried von Ivanhoe, seinem verwegenen Fürsten Richard Löwenherz und den beiden Frauen, die er liebte, die angelsächsische Prinzessin Rowena und die jüdische Bankierstochter Rebekka. Bei der Beschreibung seiner beiden Helden, Ivanhoe und Richard, scheint es, als habe Scott den idealen Ritter geschildert: Männer, die sich aufopferten und nicht selbst bereichern wollten, die Helden waren im Kampf und Frauen mit ausgesuchter Höflichkeit behandelten. So wurde das Buch auch meistens gelesen und später, im 20. Jahrhundert, sogar verfilmt. Bei genauerer Lektüre wird jedoch klar, dass Scott auch in Ivanhoe sehr viel nuancierter von den Rittern dachte, als es auf den ersten Blick scheint. In seinem Buch kommen verschiedene Ritter vor, die schlichtweg Schurken sind, vor allem der Templer Brian de BoisGuilbert. Und mit der berühmten Beschreibung des Turniers in Ashby-de-la-Zouch, wo Ivanhoe seinen ersten großen Sieg über BoisGuilbert erringt, schilderte Scott deutlich, wie abscheulich der Anblick solcher Kämpfe war.122 Vor allem bei der Charakterisierung seiner beiden großen Helden treten Scotts Zweifel am Ritterideal zutage. Ivanhoe und Richard Löwenherz fungierten wie zwei Seiten der selben Medaille. Mit der Figur des Ivanhoe porträtierte Scott die mustergültigen Seiten der Ritterschaft, doch mit der Beschreibung Richards zeigte er glasklar, wie gefährlich es werden konnte, wenn jemand unbesonnen hinter ritterlichen Idealen herjagte. Als sich Richard und Ivanhoe in einer Schlüsselszene der Geschichte zum ersten Mal unter ihren wirklichen Namen begegnen und nicht länger in der Verkleidung als Pilger und schwarzer Ritter, wirft Ivanhoe dem König vor, dass er sich eher wie ein fahrender Ritter benimmt, statt wie ein verantwortungsvoller Fürst. Als Richard antwortet, dass er lieber allein auf Abenteuer ausgehe, als ein großes 139

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Heer anzuführen, wirft Ivanhoe ihm vor, dass jetzt, wo seinem Land ein Bürgerkrieg drohe, die größte Verantwortung eines Königs darin bestünde, seinen Untertanen zu Hilfe zu eilen und nicht, diesen Konflikt durch ritterliche Eskapaden zu verschlimmern. Gleichzeitig erkennt Ivanhoe, dass er sich vergeblich aufregt, weil er Richard nie überzeugen wird, und der „wild spirit of chivalry“, der den König umtreibt, diesen auch immer zu unverantwortlichem Verhalten verleiten wird. Für Scott war dieser gereizte Gedankenaustausch zwischen den beiden Herren so wichtig, dass er noch einen ausführlichen Kommentar über die Person von Richard Löwenherz hinzufügte. Dieser beginnt mit der Bemerkung, dass in der Person des Richard „der glänzende doch nutzlose Charakter eines Ritters aus romantischen Erzählungen größtenteils zu Tage tritt“. Immer war Richard eher darauf aus, hinter Ehre und Ruhm herzujagen, als sein Königreich klug zu regieren. Das machte ihn zum idealen Stoff für Lieder und Balladen, doch als Fürst gehörte er kaum in die Reihe jener Könige, die England groß gemacht haben. Er war wie ein plötzlich am Himmel erscheinender Meteorit, der erst unnötig helles Licht verbreitet, bevor ihn die Finsternis wieder verschluckt.123 Scotts Botschaft ist klar: Wo das Ritterideal zu viel Freiheit erhält und nicht in die gesellschaftliche Ordnung eingebunden bleibt, wird es nutzlos und gefährlich.124 Aus solchen Passagen wird oft geschlossen, dass Scott eher ein Erbe der Aufklärung war als ein echter Romantiker, doch das deckt sich nicht mit seiner Charakterisierung von Ivanhoe.125 Im 18. Jahrhundert hätte niemand das Lob der edlen, obwohl überflüssigen Tugenden eines Ritters wie Ivanhoe gesungen. Als Ivanhoe auf seinem Krankenlager von Rebekka gepflegt wird, erleben sie die Belagerung der Burg, in der beide gefangen gehalten werden. Ivanhoe findet es unerträglich, machtlos im Bett zu liegen, während draußen der Kampf wütet. Rebekka redet beschwichtigend auf ihn ein, mit der Stimme der aufgeklärten Vernunft, und ermahnt ihn zur Ruhe. Sie begreift nicht, wie ein Mann seiner Gesundheit so schaden kann, nur aus einem „ungeduldigen Tatendrang“ heraus. Als Ivanhoe antwortet, dass die Liebe zum Kampf die Nahrung ist, von der ein Ritter lebt, zuckt Rebekka nur mit den 140

Ivanhoe

Achseln über diese „bizarren Ritterideale der Nazarener [Christen]“ und erklärt, kämpfen sei nur nutzloses Blutvergießen, ein Opfer auf dem Altar eines größenwahnsinnigen Dämons. Ivanhoe pariert mit einer feurigen Rechtfertigung der Ritterschaft und des Ruhmes, den ein Ritter erwerben kann. Er sagt, als Jüdin könne Rebekka nicht verstehen, dass die Ritterschaft die Verkörperung der christlichen Nächstenliebe sei: „Sie ist das Futter für tiefe Gefühle, der Halt der Unterdrückten, die Fessel für die Macht des Tyrannen, Adel wäre ein leeres Wort ohne Ritterschaft, und Freiheit wird am besten von ihrer Lanze und ihrem Schwert geschützt.“ Nach diesem Ausbruch gibt Rebekka klein bei, doch während sie bitter schweigt, denkt sie bei sich, dass sie durchaus so tapfer sein könne wie ein Christ, wenn es um die Befreiung ihres eigenen jüdischen Volkes ginge.126 Rebekka und Ivanhoe waren die beiden Figuren, die Scott im Roman am liebevollsten beschrieb, weil beide auf ihre Art beispielhafte Selbstlosigkeit zeigten. Diese Passage wirkt wie ein Selbstgespräch von Scott über den Wert des Ritterideals. War es tatsächlich nutzlos und unrealistisch, wie Rebekka sagte und wie das Verhalten von Richard Löwenherz zu bestätigen schien, oder kleidete Ivanhoe nur Scotts tiefste Gedanken über das Ritterideal in Worte? Der Verlauf des Gesprächs zeigt, dass Scott zwar seine Bedenken hatte, sich aber schließlich doch für Ivanhoe und seine Ideale entschied, also für den Ritter als Zuflucht der Schwachen und Streiter für die Freiheit. Ivanhoe und Rebekka wurden in jeder Hinsicht als gleichwertig porträtiert, beide waren mutig und weise, beide setzten sich für andere ein, doch Rebekka war nur bereit, für ihr eigenes Volk zu sterben, während Ivanhoes Selbstlosigkeit aufgrund seiner Ritterschaft alle einschloss, selbst ein in Scotts Tagen so sehr verachtetes Volk wie die Juden. In zwei zentralen Passagen der Geschichte zeigte Scott, dass Ivanhoe der einzige war, der die mit Füßen getretenen Juden als Menschen betrachtete und ihnen Hilfe anbot. In der ersten Passage begegnet der Leser Ivanhoe zum ersten Mal. Verkleidet als Pilger erscheint er als Gast im Speisesaal seines Vaters. Nach einer Weile wird Isaac, Rebekkas Vater, hereingeführt, doch niemand steht auf, um dem erschöpften alten Mann Platz zu machen. Nur Ivanhoe bekommt Mitleid, bietet 141

Entdeckung

ihm seinen Platz an und gibt ihm zu essen. Als Isaac ihn am folgenden Tag dafür belohnen will, lehnt Ivanhoe erst ab, weil er jedoch zu gerne am Turnier in Ashby teilnehmen möchte, lässt er sich von Isaac überreden, auf dessen Kosten bei einem reichen Juden in Leicester ein Pferd und eine Rüstung zu leihen. Isaac ist völlig verblüfft – im Gegensatz zu Rebekka –, als Ivanhoe nach dem Turnier nicht nur die geliehenen Sachen zurückbringt, sondern auch noch darauf besteht, mit dem Preisgeld für seinen Sieg die Leihgebühr zu bezahlen. Für Isaac ist es das erste Mal, dass er einem Christen begegnet, der einem Juden gegenüber freiwillig sein gegebenes Wort hält.127 Die Geschichte erreicht ihren Höhepunkt, als der Großmeister der Templer Rebekka als Hexe verurteilt. Nur ein Gottesurteil kann sie noch retten, doch kein einziger Ritter ist bereit, sein Leben für eine Jüdin zu wagen. In diesem Moment kommt der sterbenskranke Ivanhoe angeritten und will für sie kämpfen, obwohl er so geschwächt ist, dass sein Gegner Brian de Bois-Guilbert ihn praktisch sicher töten würde.128 Hier erinnert sich der Leser an das Streitgespräch zwischen Ivanhoe und Rebekka in der belagerten Burg. Gegenüber Rebekka hatte Ivanhoe das Ritterideal verteidigt, und nun wendet er es im Dienste von Rebekka auch praktisch an und zeigt, dass ihre damalige Skepsis fehl am Platze war: Ohne Weiteres ist er bereit, für sie zu sterben. Hier erläuterte Scott unumwunden, dass er das Ritterideal für eine hohe, nachahmenswerte Lebensanschauung hielt: Ohne die Selbstlosigkeit und christliche Nächstenliebe des Ritters wäre die Welt schon lange der Tyrannei verfallen, und die Freiheit hätte nie eine Chance gehabt.129 Desto eigenartiger ist es für den Leser, dass dieser edelmütige Ritter, der bereit ist, für Rebekka sein Leben zu opfern, nach seinem Sieg beim Gottesurteil nicht sie heiratet, sondern Rowena, obwohl Scott nicht mit Hinweisen darauf gespart hat, dass Ivanhoe viel mehr für Rebekka empfindet als für die langweilige, farblose angelsächsische Prinzessin.130 Angesichts von Ivanhoes Opfer und allem, was Scott und andere darüber erzählten, wie keusch ein Ritter seine auserkorene Frau verehrte, sollte man meinen, dass der Liebe zwischen diesen beiden edlen Menschen nichts in den Weg gelegt werden durfte. Doch hier offenbarten sich unerbittlich Scotts Ansichten über die Beziehung zwischen 142

Der reine Quell

Individuum und Gesellschaft. Durch eine Heirat mit Rebekka wäre Ivanhoe zwar seinem Herzen gefolgt, hätte aber der Gesellschaft gegenüber unverantwortlich gehandelt. In Ivanhoes Tagen brauchte England vor allem ein Ende des Bürgerkrieges zwischen Angelsachsen und Normannen. Den ersten Schritt dazu hatte Ivanhoe getan, als er seine angelsächsische Familie verließ, um dem Normannen Richard zu folgen, weshalb sein eigener Vater ihn nicht mehr sehen wollte. Durch seine Hochzeit mit der angelsächsischen Königstochter Rowena bewies Ivanhoe nun endgültig, dass eine Versöhnung zwischen dem alten und dem neuen England möglich war. Die gesellschaftliche und politische Harmonie des Königreiches war wichtiger als jedes individuelle Gefühl, wie edel auch immer. Richard Löwenherz konnte das zwar nicht begreifen, aber Ivanhoe hatte es um so besser erkannt, und war darum Scotts großer Held.

Der reine Quell Ritter wie Ivanhoe, Männer, die keine Belohnung verlangten und ihr persönliches Glück einem höheren Ideal unterordneten, waren die Antwort des 19. Jahrhunderts auf alles, was man damals als die Unzulänglichkeiten der Aufklärung ansah. Der Ritter stand für eine Gesellschaft, in der der christliche Glaube die tragende Kraft des Zusammenlebens war, in der sich die Menschen gegenseitig halfen, in der Dienen wichtiger war als Gewinn und in der die Gemeinschaft über dem Individuum stand. Der Ritter war das Muster für das, was Adam Müller Gegenseitigkeit genannt hat. Nur dort, wo gesellschaftliche Beziehungen auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit aufbauen, sind Freiheit, Friede und Gerechtigkeit möglich, artet Machtausübungen nicht in Tyrannei aus. Auch im 18. Jahrhundert wussten die Theoretiker von Staat und Gesellschaft, dass eine zu große Betonung der individuellen Autonomie zu ungezügeltem Egoismus, zu Diktatur und Ausbeutung führen kann, allerdings dachten sie, dass man diese unerwünschten Folgen verhindern könnte, indem man sich auf das Naturrecht beruft oder auf die Menschenrechte, wie sie in der Französischen Revolution for143

Entdeckung

muliert wurden. Sich auf solche abstrakten Grundrechte zu berufen, hielten sie für einen viel besseren Schutz gegen Unterdrückung, als konkreten Personen zu vertrauen oder von Institutionen abhängig zu sein. Robespierres Terror lehrte jedoch, dass abstrakte Rechte zu konkreten Gemetzeln führen können, und das Schicksal der Fabrikarbeiter zeigte, dass unbegrenzte individuelle Freiheit die Starken bevorzugt und die Schwachen einfach ihrem Schicksal überlässt. Darum plädierte die Generation um 1800 für eine Gesellschaft, in der nicht individuelle Rechte und wohlverstandenes Eigeninteresse, sondern gegenseitige Abhängigkeit und Hilfsbereitschaft untereinander die Basis für eine gerechte Gesellschaft bilden sollten. Verantwortungsgefühl sollte wieder ein Gesicht erhalten, die Menschen sollten sich wieder zu festen Gemeinschaften zusammenschließen, die von Führungspersonen getragen werden, und in denen gegenseitiges Vertrauen alle Beziehungen bestimmt. Europa sollte zu den engen, warmen Kontakten zurückkehren, die, ihrer Meinung nach, im Mittelalter alle Beziehungen bestimmt hatten, zwischen dem König und seinen Edelleuten, dem Herrn und seinen Hörigen, dem Meister und seinen Gesellen oder dem Pastor und seiner Herde. Während der Aufklärung hatte man vorsichtig das Mittelalter entdeckt, doch nur insofern es als erster Auftakt zur Moderne gelten konnte. Nach der Revolution wurde das Mittelalter verehrt und die mittelalterliche Gesellschaft galt allmählich als Blaupause für ein gerechtes, harmonisches, geordnetes und friedliches Sozialwesen. Doch in der Art, wie die Romantiker vom Mittelalter sprachen, schwang noch etwas anderes mit, das sich darin offenbarte, wie sie das Mittelalter der klassischen Antike gegenüberstellten. Herder hatte den Angriff auf Rom eröffnet, als er die vermeintliche Universalität der römischen Kultur und die römische Unterdrückung der Volkskulturen an den Pranger stellte. Weil die römische Kultur den Anspruch besaß, allen zu gehören, hatte sie für niemanden wirklich Bedeutung. Friedrich Schlegel sah in Rom ein ausgezehrtes, unzusammenhängendes Reich, nach de Maistres Erkenntnis war es ein Sklavenstaat ohne jede Freiheit, Müller verabscheute das römische Recht und nannte es mechanistisch 144

Der reine Quell

und egoistisch, Chateaubriand beschrieb Homers Helden als Feiglinge und Frauenhasser, und August Schlegel fand, dass die klassische antike Literatur so eindimensional sei, dass sie dem modernen Menschen nichts mehr zu bieten habe. Sie alle bezeichneten die antike Kultur mit Begriffen wie „ermüdet“, „alt“, „entartet“ und „oberflächlich“ und kamen zum Schluss, dass es unmöglich geworden sei, bei den antiken Autoren die richtigen Worte zu finden, die der eigenen Erfahrung einer radikalen Erneuerung Perspektive verliehen. Um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, mussten die Romantiker andere Wege beschreiten, nach neuen Quellen suchen, an denen sie sich laben konnten. Das war nicht einfach, wie allein die Tatsache zeigt, dass sich die Romantiker für die unterschiedlichsten Länder und Kulturen interessiert haben. Die Gebrüder Schlegel waren von Indien fasziniert, Chateaubriand unternahm eine lange Reise durch den Nahen Osten, de Maistre vertiefte sich während seiner langen Jahre in Sankt Petersburg in die mysteriöse russische Bauernkultur, doch letztendlich waren sich alle darin einig, dass sie an den Ursprung der eigenen westeuropäischen Kultur zurückkehren mussten, um zu finden, was sie suchten. Weder Griechenland noch Rom, auch nicht Indien oder die Levante, sondern das Christentum und die Germanen bildeten den Ursprung dieser Kultur, und um ein neues Gleichgewicht zu finden, müsste das moderne Europa an die Quellen zurückkehren, an den reinen, frühen Anfang der europäischen Kultur, ins Mittelalter. Für die Generation der Romantiker konnte die mittelalterliche Gesellschaft zum Modell werden, weil die Revolution sie vernichtet hatte und man sie deshalb als reinen Ursprung der modernen europäischen Kultur idealisieren konnte. Im Mittelalter entdeckten die Romantiker das Echte und Ursprüngliche; sie entdeckten, was jedes einzelne Volk Europas von allen anderen unterschied, und sie entdeckten eine Gesellschaft, in der die Menschen füreinander eintraten und sich füreinander verantwortlich fühlten. Sie fanden im Mittelalter, was sie in der modernen Gesellschaft verloren hatten: Echtheit, Eigenart und Gemeinschaft.

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Kapitel 3

Echtheit Gotische Sitten

G

ermaine de Staël-Holstein, die Tochter des letzten Finanzministers im Ancien Régime, Jacques Necker, wurde im Herbst 1803 vom Ersten Konsul Napoleon Bonaparte aus Paris verbannt. Nur ungern verließ sie die Stadt: Paris war für sie nicht nur das Zentrum der zivilisierten Welt, im intellektuellen und sozialen Leben dieses Zentrums nahm Germaine de Staël außerdem eine ganz besondere Stellung ein. Gute Freunde hatten sie schon lange dazu gedrängt, doch einmal nach Deutschland zu reisen, weil dort in den letzten 20 Jahren in Literatur und Kunst eine neue Bewegung aufgekommen sei, die sie als Schriftstellerin und Literaturkritikerin sicher interessieren würde. Da sie sowieso in die Verbannung ziehen musste, beschloss sie, diesem Rat zu folgen. Mit ihren beiden Kindern verließ sie Ende Oktober Paris und überquerte am 8. November in der Nähe von Mainz den Rhein. Es war ein kalter, dunkler Tag, der perfekt zu de Staëls Gefühl der Verlassenheit und Isolierung passte, da sie nun das schönste Land der Welt verließ, um die dunklen Wälder Deutschlands zu betreten. Auf dem Boot sah sie eine alte deutsche Bäuerin, die mitten im Tumult der Überfahrt ruhig auf ihrem Karren hocken blieb und sich um nichts kümmerte. Als de Staël sie fragte, wie sie so gelassen bleiben könne, antwortete die Frau nur: „Wozu so viel Lärm machen?“ Diese Bemerkung veranlasste de Staël zu einem ersten Vergleich zwischen dem hektischen sozialen Leben, das sie in der soeben verlassenen geliebten Heimat bis dahin geführt hatte, und der Schlichtheit und Frische der deutschen Länder, wo die Menschen noch in dunklen, verräucherten Häusern lebten und ihr Leben nach alten, geradezu gotischen Sitten und Gebräuchen führten.1

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Echtheit

Nach einem kurzen Aufenthalt in Frankfurt reiste sie – auf sehr schlechten Straßen, worauf sie fortgesetzt hinwies – weiter nach Weimar, wo sie drei der größten deutschen Dichter ihrer Zeit kennenlernte: Goethe, Friedrich Schiller und Christoph Wieland.2 Am 8. März 1804 kam de Staël in Berlin an, wo sie in den Salons berühmter Gastgeberinnen wie der Prinzessin Louise Radziwill und Rahel Levin Triumphe feierte.3 In ihren Häusern lernte sie auch den Philosophen Johann Gottlieb Fichte und den Theologen Friedrich Schleiermacher kennen, doch vor allem freundete sie sich mit August Wilhelm Schlegel an, der so von ihr beeindruckt war, dass er sie im April als Hauslehrer ihrer Kinder auf ihr Landgut Coppet in der Schweiz begleitete. 1807 besuchte sie noch einmal Deutschland, diesmal jedoch vor allem die südlichen Hauptstädte München und Wien. Ihre Eindrücke von diesen beiden Reisen hielt sie in De l’Allemagne fest. Man kann getrost behaupten, dass dieser Bericht in Frankreich dieselbe Wirkung hatte, wie die Germania von Tacitus im alten Rom: In ihm wurde die Dekadenz des eigenen Staates und der eigenen Kultur gnadenlos kritisiert und mit den Sitten und Gebräuchen der viel einfacheren Kultur jenseits des Rheines verglichen.4 Das Buch wurde im napoleonischen Frankreich sofort verboten und konnte erst 1813 in London erscheinen. De Staëls Reisebericht übte in Frankreich einen gewaltigen Einfluss aus, an den höchstens noch das elf Jahre zuvor erschienene Le Génie du christianisme von Chateaubriand herankam. Wo Chateaubriand 1802 den Atheismus der Revolution mit der Tradition des Christentums konfrontiert hatte, verglich de Staël das national-mittelalterliche Prinzip der deutschen Kultur mit dem universal-klassizistischen Prinzip Frankreichs. Wie die gesamte postrevolutionäre Generation war de Staël überzeugt, dass die antiken Klassiker den modernen Menschen nichts mehr zu sagen hätten: „Griechische Themen sind erschöpft.“ Die antike Literatur war schließlich nicht auf eigenem Boden gewachsen, sondern eine fremde, mediterrane Pflanze, die auf nördlichem Boden schlecht gedieh. Autoren, die sich davon inspirieren ließen, mussten sich geschmacklichen Regeln unterwerfen, die weder ihrer eigenen Natur noch ihren eigenen Erfahrungen entsprangen, und brachten darum nur kraftlose, sterile Imitationen hervor.5 148

Gotische Sitten

In diesem Zusammenhang verglich de Staël das französische Theater, das unaufhörlich die abgedroschenen Mythen der Griechen als Inspirationsquelle benutzte, mit dem historischen Theater der Engländer, das sich direkt von den Erinnerungen des eigenen Volkes und der eigenen Religion inspirieren ließ. Durch das starre Festhalten an der Einheit von Zeit, Ort und Handlung sowie am monotonen Rhythmus des Alexandriners wurde im klassizistischen Drama zudem der Inhalt der Form geopfert. Das Drama der menschlichen Geschichte und vor allem die großen politischen und psychologischen Umwälzungen, die Europa aktuell erlebte, konnte man nicht in einem Theaterstück zusammenfassen, das sich in einer Zeitspanne von 24 Stunden abspielen musste. Das Ergebnis solcher Imitationen wäre fade und täte der unverkennbaren Größe der griechischen und lateinischen Literatur Unrecht, so etwas wäre Klassizismus mit einer Puderperücke.6 Nach de Staëls Meinung war die französische Kultur verbraucht und ihrer Zeit entfremdet. Die Reise durch Deutschland empfand de Staël als unerwartete, dadurch aber nur um so größere Erleichterung. Allein schon die Landschaft mit ihren dunklen Wäldern, den von mächtigen Burgruinen gekrönten Bergen und den weiten, unbewohnten Landstrichen verliehen ihr das Gefühl, in einem Land angekommen zu sein, in dem die Natur noch unberührt und die Zivilisation jung war. Auch die Städte atmeten einen ganz anderen Geist als die französischen. Erstens gab es keine Metropole, die als politisches und soziales Zentrum fungierte wie Paris in Frankreich oder London in England. Deutsche Gelehrte und Dichter arbeiteten in der Einsamkeit ihrer Studierzimmer, und schon das allein sorgte dafür, dass die deutsche Kultur einen stark verinnerlichten Charakter besaß, der sich nicht in der modischen Oberflächlichkeit des Pariser kulturellen Lebens verlor. Die deutschen Städte waren klein und noch immer erfüllt vom Geist des ritterlichen Mittelalters. Moderne Architektur gab es kaum, und was es gab, lohnte anscheinend nicht den Besuch, dafür zogen aber zahlreiche gotische Monumente den Blick auf sich. Die Waffenarsenale standen voll mit bemalten hölzernen Ritterfiguren in Rüstungen. In Deutschland merkte man an allem, dass der Geist der Gotik, die feudalen Institutionen 149

Echtheit

und die alten Sitten der Germanen hier noch in hohem Ansehen standen. Die Deutschen hingen an ihrem alten Kaiserreich, an der reichen Geschichte ihrer Städte und winzigen Staaten, die von jahrhundertealten Privilegien und Urkunden geschützt wurden, obwohl das für die militärische Macht des Landes katastrophal war.7 Militärischer Ruhm weckte in Germaine de Staël kaum Bewunderung, weil sie so etwas zu sehr an ihren Erzfeind Napoleon erinnerte. An den Deutschen fand sie sympathisch, dass sie ihre Kraft nicht in Äußerlichkeiten und Kraftmeierei suchten, sondern sich in der Stille ihrer Studierstuben über ihr eigenes Erbe beugten und nach den Quellen ihrer eigenen Kultur suchten. Einer der ersten, der damit angefangen hatte, war ihrer Aussage nach Friedrich Klopstock. Er wollte die deutsche Literatur von antiken Vorbildern unabhängig machen und durchforschte darum die mittelalterliche skandinavische Mythologie, seiner Meinung nach das älteste Zeugnis des germanischen, deutschen Geistes. Besonders große Aufmerksamkeit widmete sie Goethe, der, wie sie erklärte, die französischen Imitationen antiker Dramen so satt hatte, dass er 1771 ein historisches Drama über einen deutschen Ritter, Götz von Berlichingen, schrieb. Darin wollte er den Deutschen bewusst machen, was für ein unabhängiger, freier Rittergeist sie im Mittelalter beseelt hatte. Das Stück war ein glänzender Erfolg und hatte dazu geführt, dass die Deutschen die Ideale der Ritterschaft wieder in Ehren hielten. Gleichzeitig hatte Herder die Schönheit und Schlichtheit der alten deutschen Volkspoesie entdeckt. Entstanden in langen, nordischen Winternächten war sie so natürlich, dass sie für jede Kultur, die die Welt und sich selbst zu sehr analysierte, zur Inspirationsquelle werden konnte.8 Ein noch bedeutenderer Moment in der deutschen Reflektion über die eigene Vergangenheit war die Wiederentdeckung des Nibelungenepos, das am Ursprung der deutschen Literatur gestanden hat. Es gab kein herrlicheres Zeugnis vom Heldenmut, von der Treue der deutschen Vorväter und von der Zeit, in der sie gelebt hatten, als alles noch stark, wahr und hell wie die Primärfarben der Natur war. Der Wert des Nibelungenliedes wurde sogar noch dadurch gesteigert, dass es, nach de Staëls Meinung, nicht das Werk eines einzigen Mannes war, sondern 150

Gotische Sitten

das eines ganzen Volkes durch die Jahrhunderte. Erst dadurch kam in Helden wie Siegfried der ursprüngliche Charakter der deutschen Kultur in seiner ganzen Fülle zum Ausdruck. So hatte die deutsche Kultur das eigene Erbe kultiviert, nach den mittelalterlichen Quellen der modernen Literatur gesucht, und dadurch ihre Kräfte erneuert. Sie hatte eine Ursprünglichkeit und Gefühlstiefe erreicht, die nun allmählich in der romantischen Poesie, in der idealistischen Philosophie und in einer neuen christlichen Mystik zu voller Blüte kam.9 Diese Blüte wollte Germaine de Staël mit ihrem Reisebericht allen Franzosen als Vorbild ans Herz legen. In dem berühmten Kapitel über antike und romantische Poesie, zugleich das Herzstück von de Staëls Buch, legte sie das alles noch einmal deutlich dar. Eine Kultur wie die französische, die sich von der klassischen Antike inspirieren ließ, war durchaus möglich. Sie hatte jedoch zwei große Nachteile: Die antike Kultur war oberflächlich, sinnlich und hatte keine Ahnung von den tiefsten Seelenregungen des Menschen.10 Viel schlimmer noch war, dass die antike Kultur eine fremde Kultur war, die ihre Wurzeln weder in Frankreich noch in einem anderen europäischen Land hatte. Dadurch war die französische Kultur zu Oberflächlichkeit, Gefühlsarmut und sklavischer Nachahmung antiker Vorbilder verkommen. In diesem Zusammenhang wies de Staël darauf hin, dass Frankreich das einzige europäische Land war, in dem die Literatur wegen ihres ausländischen, klassizistischen Charakters eine Angelegenheit der Elite geblieben ist und unter dem Volk nie Verbreitung gefunden hat, ganz im Gegensatz zu England, wo Shakespeare von Hoch- und Niedriggestellten bewundert wurde, oder zu Venedig, wo alle Gondoliere Tassos Stanzen sangen.11 Aber am meisten konnten die Franzosen von Deutschland lernen. Gerade weil die Deutschen so rückständig waren, hatten sie immer viel enger mit der eigenen mittelalterlichen Vergangenheit Kontakt gehalten, während sie in Frankreich längst vergessen war oder belächelt wurde. Mit Grauen zeigte de Staël, wie man in Frankreich mit der Erinnerung an Jeanne d’Arc umsprang. Mit dem Hinweis auf Voltaire fragte sich de Staël, wie es möglich sein konnte, dass ein Volk seine größten Helden so verspottete, statt ihr Andenken zu ehren. Die Befreiung von 151

Echtheit

Orléans 1429 war vielleicht sogar der Höhepunkt der französischen Geschichte: Kein anderes Ereignis hätte so deutlich offenbart, dass nicht die antiken Klassiker, sondern „das Wunderbarliche des Christentums“ und „der Geist des Rittertums“ letztendlich das Herz der modernen französischen Kultur bilden.12 Für Frankreich gab es deshalb nur eine Möglichkeit zur literarischen Erneuerung. Es musste mit dem Klassizismus abrechnen und ebenso wie Deutschland eine Literatur schaffen, die auf der Erinnerung an das Ritterideal und an den christlichen Glauben des Mittelalters beruhte. Nur eine Literatur, die im eigenem Boden wurzelt, die Ausdruck der eigenen Religion ist und die eigene Geschichte in Erinnerung ruft, besäße genug Lebenskraft, um sich ständig zu erneuern und zu vervollkommnen, sie wäre alt aber nicht veraltet.13 Germaine de Staël plädierte also nicht für eine Rückkehr ins Mittelalter. Die mittelalterliche Literatur und Architektur sollten der Quell des modernen Schaffensdranges sein, und der Genius des Mittelalters sollte wieder voll anerkannt werden, weil für die Entwicklung von Talenten nichts schädlicher sei, als ein in Wirklichkeit höchst originelles Zeitalter als barbarisch abzustempeln. Die Kreativität der mittelalterlichen Kultur anzuerkennen bedeutete jedoch nicht, dass man wieder Kirchen im gotischen Stil bauen musste, und schon gar nicht, dass die moderne Literatur die mittelalterliche imitieren sollte, weil sich Kunst und Natur nie wiederholen.14 Für de Staël war das Mittelalter kein politisches oder kulturelles Modell, ebenso wenig war es eine Zeit, auf die sie sehnsüchtig zurückblickte oder die sie wiederbeleben wollte. Was sie an Deutschland (und in geringerem Maße an England) so bewunderte, war der ständige Kontakt, den diese Kulturen mit ihrer mittelalterlichen Vergangenheit pflegten und der ihrer Kultur die Kraft gab, eben nicht mittelalterlich zu sein. Für sie war das Mittelalter der reine Anfang, eine Epoche ungezwungener Ursprünglichkeit, in der die Menschen noch nicht zu viel analysiert haben, nicht ihrer Gefühle entfremdet waren, sondern in der sie ihre Phantasie spielen ließen, statt sich selbst in vorgegebene Schemata des Dichtens und Denkens zu zwängen. Die mittelalterliche Vergangenheit war „der Quell aller modernen Talente“, eine primitive 152

Der gute Wilde

Epoche, an die sich die moderne Gesellschaft ständig erinnern sollte, um sich nicht sich selbst zu entfremden.15 Letzteres war in Frankreich geschehen, weil man dort so von der klassischen Antike besessen war, während die Deutschen durch den selbstverständlichen Kontakt, den sie in ihren gotischen Städten und ihrem alten Kaiserreich noch immer mit ihrer mittelalterlichen Vergangenheit unterhielten, in sich selbst eine Quelle ständiger Inspiration und Erneuerung fanden. De Staëls Botschaft an die Franzosen war nicht nur literarisch, sondern auch sehr politisch.16 Immer wieder betonte sie, Frankreich habe sich durch seinen Klassizismus nicht nur literarisch sondern auch politisch in die falsche Richtung bewegt. Die alberne Vorstellung, es könne eine Literatur, nämlich die antike, geben, die für alle Menschen und Kulturen die universelle Norm bietet, hatte politisch zum genauso albernen Versuch Napoleons geführt, ganz Europa Frankreich und den französischen Normen zu unterwerfen, statt allen europäischen Völkern die Freiheit zu lassen, in einem gemeinsamen Bestreben ihre Eigenarten zu suchen.17 Die Suche nach den unverfälschten Anfängen der eigenen Literatur, die Thema dieses Kapitels ist, wurde damit zugleich zum Kampf für die Eigenart der Nation und für ihre Freiheit, was Thema des folgenden Kapitels sein wird. Und am Ursprung sowohl der Literatur als auch der Nation stand das Mittelalter.

Der gute Wilde Die Entdeckung des Mittelalters hatte viele Gesichter. Um die Revolution zu bannen, zeichneten Romantiker wie Novalis, de Maistre und Müller ein Bild von einem Mittelalter, das wie das absolute Gegenteil der modernen Gesellschaft wirkte. Germaine de Staël betonte die Kontinuität zwischen dem Mittelalter und der modernen Epoche, da sie das Mittelalter als die Zeit beschrieb, in der Europa noch jung und unschuldig war, eine Kultur, die erst erwachsen werden musste. Damit knüpfte sie an eine Tendenz an, die man schon im frühen 18. Jahrhundert erkennt. Einige von den Streithähnen in der Querelle des anciens et des modernes hatten schon damals vorsichtig angedeutet, dass die mit153

Echtheit

telalterliche volkssprachliche Literatur eventuell eine erfrischende Alternative zu den erstickenden Konventionen des Klassizismus bilden könnte, so dass es sich lohnen würde, die „bewundernswerte Naivität“ dieser barbarischen Epoche einmal näher zu betrachten.18 Anfangs blieb es bei dieser kurzen Anregung. Wenn der aufgeklärte Bürger mit Voltaire, Hume und Robertson einen Blick auf das Mittelalter warf, dann hauptsächlich nur, um sich die eigene Vorgeschichte in Erinnerung zu rufen und sich noch deutlicher bewusst zu machen, welche Fortschritte die Welt seitdem gemacht hatte. Der englische Literaturhistoriker Thomas Warton beschrieb das selbstbewusst in seiner Einleitung zur History of English Poetry (1774–1781): Vom Sieg unserer überlegenen Kultur aus betrachten wir die primitiven Umstände, unter denen unsere Vorfahren gelebt haben . Zufrieden markieren wir die Stufen, die wir hinangestiegen sind auf dem Weg von der Grobheit zur Verfeinerung . Und unsere Überlegungen zu diesem Vorgang werden begleitet von einem bewussten Stolz, der hauptsächlich einem stillen Vergleich des gewaltigen Missverhältnisses zwischen den schwachen Anstrengungen früherer Jahrhunderte und unserer heutigen Zunahme an Wissen entspringt .19 Als er dies niederschrieb, bekam die aufklärerische Selbstzufriedenheit bereits Risse. Seit der Mitte des Jahrhunderts kamen Stimmen auf, die in Zweifel zogen, ob die Geschichte tatsächlich nichts anderes als ein Triumphzug der Vernunft sei. Herders Einwände wurden bereits erwähnt und werden weiter unten näher behandelt; aber 20 Jahre bevor Herder seine Ideen zum Lauf der Geschichte zu Papier brachte, hatte bereits mit Jean-Jacques Rousseau der Angriff auf den Optimismus der Aufklärung eingesetzt. 1749 schrieb die Akademie von Dijon eine Preisfrage aus, die lautete, ob der Aufschwung der Künste und Wissenschaften die Moral geläutert oder korrumpiert habe. In der Beantwortung dieser Frage stellte Rousseau das optimistische Geschichtsbild der Aufklärung auf den Kopf. Er begann mit einigen Beispielen aus der Geschichte. Das hochzivilisierte Athen war der rohen Soldatenrepublik Sparta unterlegen. 154

Der gute Wilde

Die Chinesen hatten gegenüber den Tartaren den Kürzeren gezogen. Dies alles wies darauf hin, dass Völker in einem frühen kulturellen Stadium kräftiger und vitaler sind als hochzivilisierte Gesellschaften. Doch das deutlichste Beispiel dafür, wieviel Unheil der Fortschritt verursachen kann, war die Eroberung Amerikas durch die Spanier. Im 18. Jahrhundert galten die Indianer allgemein als bester Beweis für die gewaltigen Fortschritte, die die Zivilisation seit dem Anbeginn der Menschheit gemacht hatte, schrieb Rousseau, doch gerade die primitive Lebensweise der Indianer zeige uns, wie glücklich und unschuldig die Menschen waren, bevor sie sich in den Konventionen der Kultur verstrickten.20 Rousseaus Schlussfolgerung lautete, dass die Moderne nicht den Höhepunkt, sondern den Tiefpunkt in der Entwicklung der Menschheit bildet. Das würden auch die bestürzenden Ungleichheiten in der modernen Gesellschaft zeigen, mit ihren gewaltigen Unterschieden zwischen arm und reich, die sowohl die Herren als auch die Knechte in Sklaverei gekettet hielten.21 Wie andere Gelehrte der Aufklärung war Rousseau überzeugt, dass die Menschheit eine lange Entwicklung von einem zuerst primitiven Stadium als Jäger und Sammler zu einer komplizierteren Handelsgesellschaft durchgemacht hatte, doch im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen wertete er das nicht als Fortschritt, sondern als einen Sündenfall, als Entfremdung des Menschen von sich selbst. Nach Rousseaus Überzeugung waren die ersten Menschen so glücklich, weil sie voneinander unabhängig waren, kein soziales Leben und kein Privateigentum besaßen. Sie hatten von dem gelebt, was die Natur ihnen schenkte. Wenn sie hungrig waren, hatten sie sich von den Früchten der Bäume und Sträucher ernährt, und wenn sie durstig waren, aus einem Bach getrunken. Dem Naturmenschen war die Meinung anderer egal, im Leben folgte er nur seinen eigenen, natürlichen Instinkten. Nicht die Vernunft war es, die sein Handeln bestimmte, sondern zwei Triebe, die sich gegenseitig verstärkten: der Instinkt zur Selbsterhaltung und ein tiefes Gefühl des Mitleids mit anderen, ein Urgefühl, das Gesetze, Moral und Tugend überflüssig machte. Der Fall der Menschheit hatte in dem Augenblick begonnen, in dem der erste Mensch ein Stück Land eingezäunt und als sein Eigentum betrachtet hatte. Mit dem Privatei155

Echtheit

gentum des Bodens kamen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die Reichen erfanden den Staat, angeblich um allen Sicherheit zu bieten, doch in Wirklichkeit um ihren eigenen Besitz zu schützen. Damit hatte die Unterdrückung des einen Menschen durch den anderen angefangen.22 Über das Mittelalter hatte Rousseau wenig zu berichten. Es begann erst lange nach dem Sündenfall der Menschheit und war darum für ihn uninteressant. Wichtig war jedoch, dass es Rousseau gelang, sehr scharfsinnig ein unterschwelliges Gefühl zu beschreiben, wonach die Menschheit trotz des ganzen Schwadronierens über Fortschritt bei ihrer Entwicklung etwas Wesentliches verloren habe. Ist die Menschheit nicht viel zu zivilisiert geworden und war es nicht gerade das, was sie zerrissen hat, während sie in weniger komplizierten Zeiten eine viel natürlichere Integration erlebt hat? Vielleicht stellte das Unentwickelte, Primitive und Undifferenzierte ja weniger einen Mangel dar, als vielmehr eine Fülle, eine Einheit, eine Ursprünglichkeit, die seitdem verlorengegangen sind? Wenn es tatsächlich stimmt, dass Barbarei und Primitivität viel natürlicher und menschlicher sind als Verfeinerung und Zivilisation, würde das auch die Möglichkeit eröffnen, das Mittelalter anders zu bewerten. Den gewalttätigen, barbarischen Charakter dieser Epoche müsste man nicht länger leugnen, und statt ihn zu verachten, könnte man ihn als Zeichen für die Vitalität und Kreativität der Kultur in den Jahrhunderten von Europas Jugend schätzen.

Barden und Troubadoure Wie diese Neubewertung zustande kam, kann man anhand der Erklärungsversuche des 18. Jahrhunderts zur Entwicklung von Sprache und Literatur belegen. Rousseau glaubte, der allererste Mensch habe keine Sprache gebraucht; schließlich hat er ganz für sich gelebt und musste sich nicht mit anderen verständigen. Sobald die Menschen jedoch anfingen, in Familien zusammenzuleben, entstand ein Bedarf an Sprache. Die ersten sprachlichen Äußerungen waren nach Rousseaus Meinung von einer Direktheit, die später nie wieder übertroffen wurde, einerseits, weil sie geradewegs aus dem Herzen kam als Ausdruck noch un156

Barden und Troubadoure

verdorbener Leidenschaften, vor allem der Liebe, andererseits, weil die ersten sprechenden Menschen noch nicht imstande waren, klare, abstrakte Begriffe zu bilden. Es war eine Sprache, die zugleich poetisch, musikalisch und bildhaft war. Ursprünglich war der sprechende Mensch zugleich Dichter und Sänger. Es war ein Anzeichen des Niedergangs, als Sprache und Musik, Prosa und Poesie voneinander getrennt wurden, als die Sprache in Schrift umgesetzt und dadurch aus dem unmittelbaren Kontext, in dem die sprachliche Äußerung erfolgt, herausgelöst wurde. Darüber hinaus waren Sprechen, Dichten, Singen und Schreiben nun voneinander unabhängige Tätigkeiten, so dass die Sprache blutleer und verarmt zu einem Instrument des kalten, analytischen Verstandes wurde.23 Niemand war mehr imstande, in einem Gesang die Fülle menschlicher Emotionen in Worte zu fassen, wie die Dichter-Sänger, die Barden der Vorzeit das in ihren rohen Meisterwerken vermocht hatten. Die Überzeugung, dass es früher einmal Dichter-Sänger gegeben hat, die genial zusammenfassen konnten, was in ihrem Volk vorging, die ihre Gesänge spontan noch während des Vortrags schufen, und die viel besser als spätere, verfeinerte Dichter imstande waren, Leidenschaft und Gefühl in Worte zu fassen, beeinflusste das 18. Jahrhundert gewaltig und trug zu einer Wende in der ganzen Sprach- und Literaturforschung bei, vor allem in Bezug auf das Mittelalter. Die klassisch-antike Bildung war jedoch noch so in Europa verankert, dass man eine Neubewertung primitiver Literatur erst anhand der vertrauten antiken Überlieferung versucht hat. Schon 1735, lange vor Rousseaus Betrachtungen zum Ursprung der Sprache, veröffentlichte der Engländer Thomas Blackwell eine bahnbrechende Studie über den ersten und größten aller Dichter, Homer. Darin versuchte er, die einzigartige Qualität seiner epischen Dichtung aus dem historischen Kontext ihrer Entstehung heraus zu erklären. Laut Blackwell kann große Poesie nur in einer Gesellschaft blühen, die noch eng mit der Natur verbunden lebt und schwach organisiert ist. Nur in einer solchen Gesellschaft geschehen noch wundersame und unerwartete Dinge, die das Gemüt unmittelbar berühren, und nur hier ist die Sprache noch in einem ungeformten Stadium, was ihr einen na157

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türlichen, leidenschaftlichen und stark bildhaften Charakter verleiht.24 Weil in diesem Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung noch praktisch niemand lesen und schreiben konnte, spielten Barden und Dichter, die, wie Orpheus, zugleich auch Sänger, Gesetzgeber und Philosophen waren, eine zentrale Rolle.25 Blackwell schilderte diese Barden als starke, unabhängige Männer, die von Stadt zu Stadt zogen, ohne sich an jemanden oder etwas zu binden. Auf direkte, natürliche Weise besangen sie, was im Herzen des Volkes lebte, wie Geschichten über die Götter und die großen Taten ihrer Helden und Könige im Kampfe.26 Ihre einzige Inspiration war die Muse, die ihnen im selben Moment, in dem sie die Harfe in die Hand nahmen, eingab, was sie singen sollten: „Homers blinder Barde singt nur aus der Inspiration heraus: Und er besingt Dinge, die er auf keine andere Art erfahren haben kann.“27 Homers Blindheit war ein Zeichen, dass er seine Inspiration nicht von außen erhielt, sondern aus seinem von den Göttern erleuchteten Inneren heraus. Wenn die Muse sie packte, konnten Barden sogar in Ekstase geraten, darum galten sie als prophetisch und göttlich. Selbst der listige, gewissenlose Odysseus traute sich nach dem Mord an Penelopes Freiern nicht, den Barden zu töten, der die jungen Leuten bei ihrer Feier musikalisch unterhalten hatte.28 Blackwells Barden, für die Homer das berühmteste Beispiel war, repräsentierten in ihrer Person die Überzeugung, dass die natürliche Kraft und der musikalische, poetische Charakter einer Sprache zu Beginn ihrer Entwicklung am größten sind. Wie revolutionär diese Schlussfolgerung war, zeigt sich am Ende von Blackwells Ausführungen. Hier vergleicht er Homer mit Vergil, den man in der ganzen europäischen Tradition vom Mittelalter bis zur Renaissance immer als größten Dichter der Antike bezeichnet hat. Blackwells Urteil über die Aeneis war höflich, aber vernichtend: Vergils Poesie wäre künstlich und folge zu vielen Regeln, darum sei er nicht länger imstande, die Menschlichkeit seiner Figuren bildhaft auszudrücken. Bei Homer dagegen kam die Natur selbst zu Wort, weshalb er menschliche Leidenschaften und Gefühle ganz unmittelbar beschreiben konnte, und sein Werk eigentlich nichts anderes sei als „das große Drama des Lebens, vor unseren Augen aufgeführt“.29 158

Barden und Troubadoure

Ebenso revolutionär war, dass Blackwell in seinem Buch mit der Möglichkeit spielte, dass aus einer Gesellschaft, die ebenso archaisch war wie das alte Griechenland, auch ein Dichter nach dem Vorbild Homers hervorgehen könnte.30 Dabei dachte er an das alte Irland oder die Provence im 12. Jahrhundert und fragte sich, ob man die Poesie der irischen und schottischen Rüners (fahrende Sänger) oder die Minnedichtung der provenzalischen Troubadoure mit Homers Gedichten vergleichen könne. Aber das ging Blackwell denn doch zu weit. Im Mittelalter finde sich kein einziger Dichter, der an Homers Talent herangekommen wäre – „die Troubadoure vollbrachten weder stilistisch noch sprachlich große Leistungen“ – und darum wären diese Bemühungen ergebnislos verlaufen.31 Blackwells Antwort war offenbar vorschnell. Das Bedürfnis nach Alternativen zu den antiken Klassikern wurde immer größer. Überall in Europa, vor allem aber in Deutschland und England, begann die Suche nach dem ersten Entwicklungsstadium der eigenen Sprache und nach nordischen Barden, die eventuell die Seele dieser Sprache in eine ebenso raue, primitive Poesie gegossen haben, wie Homer dies für das Griechische geleistet hat.32 Dem Schweizer Johann Jakob Bodmer fiel 1743 Blackwells Buch in die Hände. Es beeindruckte ihn so tief, dass er noch im selben Jahr eine Studie veröffentlichte, in der er Blackwells Thesen auf die deutsche Geschichte anwandte. Bodmer vertrat die Hypothese, die Zeit der Kaiser aus dem Hause Hohenstaufen (1137–1250) habe denselben heroischen und archaischen Charakter besessen wie das Griechenland Homers. Wenige Jahre später hatte Bodmer das größte Glück, das einem Wissenschaftler nur geschehen kann: Seine Hypothese wurde durch neue Funde bestätigt. In Paris entdeckte man die sogenannte Manesse-Handschrift, eine einzigartige Sammlung mit – damals in Vergessenheit geratenen – Dichtungen der großen deutschen Minnesänger aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Nun hielt Bodmer den Beweis in Händen, dass Deutschland nicht nur eine Heldenzeit erlebt, sondern damals mit Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide tatsächlich auch Dichter hervorgebracht hatte, die den Vergleich mit den alten griechischen Barden nicht zu scheuen brauchten. Sein Triumph war perfekt, als ihn ein Freund 1755 auf die 159

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Existenz einer Handschrift aufmerksam machte, die eine Art deutsches Epos enthielt, in dem die Heldentaten des alten germanischen Helden Siegfried besungen wurden. Wie sich herausstellte, war es das Nibelungenlied, ein mächtiges Ritterepos aus dem beginnenden 13. Jahrhundert über Siegfried, der seine großen Taten anscheinend in der Zeit der Völkerwanderung vollbracht hatte. Für Bodmer stand nun fest: Deutschland hatte seinen eigenen Homer hervorgebracht! 1757 veröffentlichte er das Lied in einer stark an den Geschmack des 18. Jahrhunderts angepassten Bearbeitung unter dem Titel Chrimhildens Rache. Im Vorwort verglich er ausdrücklich Homer und die Nibelungen miteinander. Bei diesem Vergleich schnitten die germanischen Helden besser ab, denn sie zeigten „Gefühle von Ehre, Edelmut und Rechtschaffenheit, die wir in dieser auffallenden Form nicht bei Homers Helden antreffen“.33 Doch egal wie sehr Bodmer versuchte, die deutschen Intellektuellen für die eigenen Dichter zu begeistern, die Zeit war noch nicht reif dafür. Ein größerer Impuls von außen war nötig, um in Deutschland massives Interesse an der eigenen literarischen Vergangenheit zu wecken.

Ossian und die Stimme des Nordens Zum zweiten Mal kam dieser Impuls von den britischen Inseln. 1760 veröffentlichte der schottische Gelehrte James Macpherson, der bei Blackwell in Aberdeen studiert hatte und darum seine Arbeit über Homer kannte, einen kleinen Band mit Fragmenten altschottischer oder gaelischer Poesie in englischer Übersetzung.34 Macpherson präsentierte seine Sammlung als Ergebnis langer Reisen durch die Dörfer im schottischen Hochland, wo er angeblich die mündlich überlieferten Balladen und Gesänge der letzten noch lebenden Barden aufgezeichnet hätte, die jetzt kaum mehr als vereinzelte Fragmente waren, aus denen jedoch klar hervorging, dass sie ursprünglich Teile eines epischen Gedichtes über die großen Taten des schottischen Helden Fingal aus dem 3. Jahrhundert gewesen sind. In der Einleitung schrieb Macpherson, er sei davon überzeugt, dass die Gesänge, die er selbst in den 160

Ossian und die Stimme des Nordens

Bergen vernommen hatte, getreu wiedergegebene Zeugnisse dieser epischen Poesie aus dem 3. Jahrhundert seien. Für diese These führte er zwei Argumente an: Erstens kämen die von ihm aufgezeichneten Fragmente aus einer oralen Kultur, in der das Gedächtnis gewöhnlich stark trainiert wird, und zweitens sei das Volk des schottischen Hochlands im Laufe der Jahrhunderte kaum fremden, korrumpierenden Einflüssen ausgesetzt gewesen. Darum hätten sich ihre Überlieferungen rein erhalten und nicht mit anderen vermischt.35 Aus dieser primitiven Poesie klänge die älteste Stimme des keltischen Schottlands und Nordeuropas. Diese Argumente haben die Gebrüder Grimm später im Vorwort ihrer Ausgabe deutscher Volksmärchen fast wörtlich wiederholt. In den Fragmenten trat Ossian, Fingals Sohn, oft als der Barde auf, der in seinen letzten Lebensjahren die Heldentaten seines Vaters besang. In Fragment VIII. wird er beschrieben: An der Seite eines Felsens am Hügel, unter den bejahrten Bäumen, saß der alte Ossian auf dem Moose; der letzte von Fingals Stamme . Blind sind seine alten Augen; sein Bart flattert in den Wind . Melancholisch höret er durch die entlaubten Bäume der Stimme des Nordwindes zu . Gram erwachte in seinem Herzen: Er hub an und beklagte den Toten .36 Jeder kultivierte Mensch, der diese Zeilen las, wusste sofort, an wen ihn Ossian erinnerte: Das musste natürlich Homer sein. Wie Homer wird Ossian als alter, blinder Mann dargestellt, der seine Inspiration aus der eigenen Seele schöpft. Doch Homer gehörte mit seiner Poesie in eine Landschaft voller Sonne, Wein, Hirten, Schafe und gestochen scharfen Horizonten, während Ossian in nebliger, dunkler Umgebung auf einem windigen Hügel im feuchten Moos unter kahlen Bäumen hockt. In Ossians Gedichten ist es immer Herbst oder wenigstens Nacht, die Sonne scheint nie, nur der Mond lugt manchmal zwischen den über den Himmel jagenden Wolken hervor.37 Der Kontrast ist ebenso vielsagend wie die Übereinstimmungen: Homer ist der Dichter von gleißender Helle, Licht und Lebenslust, Ossian von Dunkelheit, Finsternis und Schmerz; sein einziges Vergnügen ist „die Freude der Trauer“.38 161

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Diesen Vergleich zwischen den beiden primitiven Dichtern hat der schottische Prediger und Sprachgelehrte Hugh Blair herausgearbeitet, als er 1763 in seiner Critical Dissertation Ossian und Homer einander wie zwei gleichwertige Dichter gegenüberstellte, der eine aus dem Süden, der andere aus dem Norden kommend.39 Sowohl das keltische Schottland des 3. Jahrhunderts nach Christus als auch das homerische Griechenland des 10. Jahrhunderts vor Christus gehörten demnach zu diesen archaischen Gesellschaften, die Blackwell beschrieben hat. Anscheinend hätten beide unter denselben gesellschaftlichen Bedingungen eine ähnlich große epische Poesie hervorgebracht, die stark die Phantasie anspricht und leidenschaftliche Gefühle anfacht.40 Trotzdem gäbe es auch große Unterschiede. Homers Poesie sei lebendig und fröhlich, weil sie sich nicht auf die großen Themen beschränkt, die den Gegenstand seines Epos bilden, sondern immer wieder zu Nebensächlichkeiten abschweift, um das Gehör zu erfreuen.41 Leider mindere das die Würde seiner Gedichte, wie man besonders an seiner Beschreibung der Götterwelt erkenne. Homers Geschichten über Zänkereien zwischen den Göttern hätten etwas Ungehöriges, was den getragenen Ton und die Schilderung des Erhabenen, die jede epische Dichtkunst auszeichnen sollte, sehr beeinträchtige. Ossians Mythologie, in der keine zankenden Götter, sondern nur die Geister der Toten vorkommen, sei von einer einfachen aber feierlichen Schlichtheit, die alle Menschen in jedem Jahrhundert anspreche: Das wäre die „Mythologie der menschlichen Natur“.42 Letztendlich läuft es darauf hinaus, dass Homer in seinen Beschreibungen eher an der Oberfläche geblieben wäre. Am besten sei er gewesen, wenn er Feldschlachten und andere Handlungen beschrieb, während Ossian mehr das Innere des Lesers anspreche. Nach Blairs Ansicht lädt er zu Besinnlichkeit ein und kann tiefe menschliche Gefühle auf eine Art beschreiben, die nicht nur Homer sondern auch Vergil weit übertrifft.43 Obwohl Blair ein großes Maß an Gelehrtheit entfaltet hat, war seine Botschaft einfach: Die klassische Kultur des Südens war fröhlich aber oberflächlich, während die keltische Kultur des Nordens melancholisch und tiefsinnig war. Das war anscheinend das richtige Wort im richtigen Moment: Macphersons Gedichte wurden zu einem der größ162

Ossian und die Stimme des Nordens

ten literarischen Erfolge des Jahrhunderts. Schon 1760 erschien eine zweite Auflage der Fragments, und einige Jahre später übertraf Macpherson sich selbst durch die Veröffentlichung von Fingal (1762) und Temora (1763), zwei vollständigen epischen Gedichten aus Ossians Hand. In rascher Folge kamen Übersetzungen in nahezu allen europäischen Sprachen heraus. Zweifel an der Authentizität der Gedichte wurden weggewischt: Eine so tiefsinnige Poesie könne unmöglich eine Fälschung sein.44 Anscheinend war das Bedürfnis nach anderen Darstellungen menschlicher Erfahrungen mittlerweile so groß geworden, dass man kaum noch auf die Qualität dieser Alternativen achtete.45 Der junge Goethe hat vielleicht am besten in Worte gefasst, warum Ossian einen so durchschlagenden Erfolg haben konnte. 1774 veröffentlichte er Die Leiden des jungen Werther, die sentimentale Geschichte eines jungen Mannes, der Selbstmord beging, nachdem er von der verheirateten Lotte abgewiesen worden war. Das Buch wurde ebenso erfolgreich wie der Ossian, vielleicht sogar noch erfolgreicher. Den ganzen Roman hindurch verflocht Goethe Liebe und Literatur miteinander. Solange das Verhältnis zwischen Werther und Lotte fröhlich und unproblematisch war, bildete Homers heitere Poesie das Band zwischen ihnen. Doch sobald ihnen klar wurde, wie hoffnungslos und unkonventionell ihre Liebe war, gestand Werther: „Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt.“46 Bei seinem allerletzten Versuch, Lotte zur Seinen zu machen, bestürmt Werther sie mit Ossians Worten, doch als er zu der Passage kommt „Morgen wird der Wanderer kommen, kommen der mich sah in meiner Schönheit, ringsum wird sein Auge im Felde mich suchen und wird mich nicht finden“, da wird beiden klar, dass ihre Liebe zum Scheitern verdammt ist und dass Werther nur noch einen Ausweg hat.47 Der alte, einsame Barde, der alles verloren hatte und nur noch von den blassen Gespenstern seiner toten Liebsten umringt war, beschrieb besser als jeder antike Autor Werthers Gefühl der Verlassenheit und Verbitterung über eine Welt, die seine Liebe zu einer verheirateten Frau nicht akzeptierte.48 In Goethes Werther werden Ossians Gedichte zum Symbol der Unzufriedenheit einer jungen Generation, die sich gegen die Gefühlsarmut und den naiven Fortschrittsglauben der Aufklä163

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rung auflehnte sowie gegen die Eindimensionalität der antiken Kultur, die dem zugrunde lag. Weitaus besser als die antike Poesie mit ihren vollkommenen Formen drückten die kantigen Bardengesänge aus, dass die menschliche Existenz an sich gebrochen ist, erfüllt von Wehmut und Verlangen. Durch die Lektüre des Ossian machte Europa zwei große Entdeckungen: Erstens, dass die traditionellen Quellen seiner Kultur, das heißt die Bibel und die antiken Autoren, wenn nicht überflüssig, so doch zumindest unzureichend geworden waren, um die Empfindungen der Menschen auszudrücken; und zweitens, dass es im barbarischen Norden eine Kultur mit einer eigenen Poesie gegeben hat, die gerade in ihrer rauen Schlichtheit imstande war, Leidenschaft und Gefühle zu wecken. Was dem seriösen Bodmer nicht gelungen war, gelang dem Scharlatan Macpherson, nämlich zu belegen, dass der Norden von alters her mit einer eigenen Stimme gesprochen hat, die es in jeder Hinsicht mit der Stimme des Südens aufnehmen konnte, sie in punkto Tiefsinnigkeit sogar noch übertraf. Allerdings stritt hier nicht nur die Stimme des Nordens gegen die des Südens, es ging auch um Mittelalter gegen Altertum. Ossian hatte zwar im 3. Jahrhundert gelebt, doch die Welt, die er repräsentierte, war die jener Barbaren, die dem Römischen Reich und der antiken Kultur den Todesstoß versetzt und eine neue barbarische, nordische Kultur aufgebaut hatten.49 Was für die Humanisten und die französischen Klassizisten eine Katastrophe war, wurde nun als Segen angesehen. Aus dem hohen Norden kamen die Erneuerung und die Verjüngung, die das abgelebte Rom damals ebenso wenig schenken konnte, wie es das nun vermochte. Als Ossian einmal akzeptiert war, entdeckte man eine ganze Welt von Skalden (altnordische Hofdichter), Barden und Troubadouren, die in ihrer primitiven Poesie eine Vitalität und Ursprünglichkeit offenbarten, die Rom verloren hatte. Gemeinsam boten sie eine neue Mythologie, die viel würdevoller war als alle Geschichten Homers über zankende Götter, eine Mythologie, die Europa viel reichere Möglichkeiten zeigte, Gefühle, Phantasie und Originalität auszudrücken. Als Madame de Staël 1800 Ossian mit Homer verglich, herrschte in ihrer Vorstellung kein Zweifel. Die antiken Dichter waren zwar charmant 164

Der schottische und der englische Norden

und lebendig, doch das war alles „mehr Bewegung als Gedanke“. Die Gedichte Ossians und der anderen Barden aus dem Norden waren dagegen von Melancholie und Schwermut erfüllt, weil sie „dem schmerzlichen Gefühl einer Unerfülltheit der menschlichen Bestimmung“ entsprangen.50 Es war eine Mythologie des Nordens, eine Mythologie des Gefühls, die ein Gegengewicht gegen die antike, rationale Welt des Südens bieten konnte, und genau das symbolisierte Ossian.

Der schottische und der englische Norden Ossian repräsentierte noch etwas ganz anderes, und um das zur Sprache zu bringen, ruft man am besten noch einmal kurz Blackwells Buch über Homer in Erinnerung. Im ganzen Streit um Ossian stand Blackwell nämlich immer im Hintergrund. Blackwell hatte erklärt, eine archaische Gesellschaft sei die nötige Voraussetzung für die Entstehung großer Poesie, vorausgesetzt, es ist außerdem noch das erforderliche Talent präsent. Das war seiner Meinung nach im alten Griechenland der Fall, jedoch nicht im mittelalterlichen Nordeuropa: Aus diesem Grunde las man immer noch Homer, während die Troubadoure zu Recht vergessen waren. Ossians „Entdeckung“ zeigte, dass Blackwells These stimmte, nur was Nordeuropa anging, hatte er sich geirrt: Mit Ossian hatte der Norden ein Genie vom Kaliber Homers hervorgebracht. So weit beriefen sich Macpherson und Blair noch auf Blackwells Werk, als sie Ossian vorstellten. Doch dann trat ein großer Unterschied auf. Bei Blackwell war die Tatsache, dass Homer Grieche war, nur ein Spiel des Zufalls; er erkannte nicht den geringsten Zusammenhang zwischen Homers Talent und dem griechischen Volk oder der griechischen Kultur: Homer war den Beschränkungen des Griechischseins entstiegen und nun Eigentum der zivilisierten Menschheit. Macpherson und Blair präsentierten Ossian dagegen als archaischen Dichter, aber auch ausdrücklich als einen Dichter schottischer Herkunft, dessen Werk den einzigartigen Charakter der schottischen Kultur, sowohl der früheren als auch der zeitgenössischen, widerspie165

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gele. In seiner Einleitung zur Ausgabe des Fingal (1762) erläuterte Macpherson, er habe die mündliche Überlieferung der Hochlande vor allem aufgezeichnet, um von der alten schottischen Kultur zu retten, was noch zu retten war. Schließlich sei diese Kultur in den letzten Jahren tödlich bedroht, weil ihre jahrhundertealte Isolierung jetzt durchbrochen wurde. Er sagte es zwar nicht ausdrücklich, doch ein aufmerksamer Leser erkannte darin leicht eine Anspielung auf die bewusste Politik der Londoner Regierung, nach dem Aufstand 1745–1746 jeden weiteren Widerstand im Keime zu ersticken. Hierzu wurde das schottische Hochland erschlossen und für den Einfluss englischer Sitten und Gebräuche geöffnet. Zum Beispiel wurde das Privateigentum eingeführt, um das Clansystem und das starke Bewusstsein der Verbundenheit mit einer langen Vergangenheit zu untergraben.51 Um den Verfall des schottischen Selbstbewusstseins aufzuhalten, war jedoch mehr nötig, als nur alte Balladen aufzuzeichnen. Mit Blairs Hilfe bewies Macpherson ferner, dass Ossians Gedichte die Überlegenheit der schottischen Kultur über alle anderen im Vereinigten Königreich belegten. Ihre Methode, um das zu erreichen, erinnert an Rousseau und war vielleicht tatsächlich von ihm inspiriert.52 So wie Rousseau die Beurteilung von barbarisch und zivilisiert umgedreht hatte, geschah dies in der Einleitung zu den Fragments mit den Begriffen „marginal“ und „zentral“. Das schottische Hochland lag schon immer ganz am Rand der zivilisierten Welt und war unberührt vom Strom des Fortschritts. Gerade durch diese Randlage im Gebirge hatten die Schotten ihren reinen keltischen Ursprung bewahrt und darüber hinaus eine einzigartige mündliche Kultur lebendig erhalten. So wurde ein Genie wie Ossian von Generation zu Generation weitergegeben und konnte der Welt nun als nordischer Homer präsentiert werden. Im Gegensatz zu den meisten Bewunderern der Barden-Poesie im 18. Jahrhundert, die alles Nichtrömische in einen Topf warfen, unterschieden Macpherson und Blair scharf zwischen der keltischen und germanischen – oder wie sie das nannten, gotischen – Kultur, und zeigten, dass die keltische Poesie viel feinsinniger und gefühlvoller war als die Dichtkunst der altnordischen Skalden.53 Innerhalb der keltischen Kultur unterschieden sie zwischen Irland und Schottland. Obwohl 166

Der schottische und der englische Norden

man nicht leugnen konnte, dass die ältesten schriftlichen Zeugnisse der keltischen Literatur aus Irland stammten, hatte sich im schottischen Hochland eine viel ältere und reinere Form keltischer Poesie in mündlicher Überlieferung erhalten, wie Ossians Gedichte zeigten.54 Die schottische Kultur war der gotisch-englischen und der keltischirischen überlegen, weil sie viel näher bei ihren Wurzeln geblieben war, ihre alten Quellen viel besser gepflegt und sie getreu von Generation zu Generation weitergegeben hatte. Die Besiegten waren die eigentlichen Gewinner.55 Samuel Johnson, Englands größter Literaturkritiker des 18. Jahrhunderts, zog dagegen seine eigenen Schlüsse. 1773 unternahm er in Gesellschaft von James Boswell eine Rundreise durch das schottische Hochland, von der er in seinem Buch A journey to the Western Islands of Scotland (1775) berichtete. In diesem Buch beschuldigte er Macpherson, sich Ossians Poesie aus den Fingern gesaugt zu haben.56 Menschliche Erinnerungen, die nicht schriftlich festgehalten wurden, reichten, nach Johnsons Überzeugung, nicht viel weiter als eine Generation zurück und konnten sich unmöglich über 15 Jahrhunderte erstrecken. Darüber hinaus könnte eine mündliche Kultur kaum Dichtung hervorbringen; dafür sei ein Reflektionsniveau erforderlich, das erst durch die Einführung der Schrift ermöglicht wurde. Deshalb war allein die schriftliche Existenz von Ossians Gedichten der beste Beweis dafür, dass sie gefälscht waren.57 Egal wie einleuchtend diese Worte für moderne Ohren klingen, zu seiner Zeit fand Johnson kaum Anhänger, weil seine feste Überzeugung, die Menschheit habe das Stadium des Primitiven zu Recht überwunden, absolut nicht im Einklang mit dem Zeitgeist stand, der nach dem Ursprünglichen und Echten suchte. Weitaus erfolgreicher mit ihrer Antwort auf Ossian waren zwei Engländer, die bewiesen, dass England es im Hinblick auf primitive Dichtung durchaus mit Schottland aufnehmen konnte. 1762 veröffentlichte Richard Hurd, der spätere Bischof von Worcester, sein Buch Letters on chivalry and romance, in dem er Macphersons und Blairs Technik, Blackwells Theorie vor den nationalen Karren zu spannen, erfolgreich nachahmte. Hurd erklärte in seinem Buch, im Mittelalter habe auch in England eine archaische Gesellschaft existiert, die große Über167

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einstimmungen mit dem alten Griechenland aufwies. In Bezug auf ihre Kampfeslust standen die Barone den homerischen Helden in nichts nach. Was die Olympischen Spiele für Griechenland gewesen sind, waren die Turniere für das mittelalterliche England. Die alten Griechen hatten ihre Sänger, das englische Mittelalter hatte seine Barden, um die großen Taten der Helden zu besingen.58 Vielleicht war die mittelalterliche englische Gesellschaft sogar moralisch hochstehender und poetischer als die homerische. Aber wenn dem so war, warum wurden die antiken Autoren dann immer noch so bewundert, während die gotische Literatur in Vergessenheit geraten war? Hurd hielt das für reinen Zufall: Zufällig hatten die Griechen gleich in den ersten Anfängen ihrer Literatur ein Genie wie Homer hervorgebracht, während die mittelalterlichen Dichter von so mittelmäßiger Qualität waren, dass der Geist der Ritterzeit erst im 16. Jahrhundert wirklich literarische Form mit den Werken von Dichtern wie Edmund Spenser und Ludovico Ariost erhalten hat, obwohl das eigentliche Ideal damals schon zum größten Teil verschwunden war.59 Im Mittelalter waren die gesellschaftlichen Umstände zwar günstig für eine epische Poesie, und die Ideale gab es auch, doch durch einen unglücklichen Zufall mangelte es damals an genialen Dichtern. So lautete das etwas enttäuschende Fazit einer langen Argumentation. Immerhin hatte Hurd damit einen historischen Rahmen geschaffen, in dem die Möglichkeit eines mittelalterlichen englischen Genies denkbar wurde.60 1765 bewies Thomas Percy, dass es sich bei Weitem nicht nur um eine Möglichkeit handelte: England hatte im Mittelalter eine sehr anspruchsvolle primitive Poesie hervorgebracht. Im Vorwort zu seinen Reliques of ancient English poetry beschrieb Percy seine Gedichtsammlung zwar etwas zurückhaltend – er fragte sich, was seine Leser, die ja in einem zivilisierten Jahrhundert lebten, mit solchen Überresten einer praktisch vergessenen Vergangenheit anfangen sollten –, fügte aber sofort hinzu, dass er diese alten Gedichte mit ihrer hübschen Schlichtheit und ihrem ungekünstelten Charme doch für höchst wertvoll hielt. Sie waren die „ersten Versuche des Genius der Vorväter“.61 Was er damit meinte, verdeutlichte er in einem Aufsatz über die Erscheinung des 168

Der schottische und der englische Norden

Troubadours, den er als Anhang in seinen Sammelband aufnahm. Darin zeichnete Percy einen Stammbaum der mittelalterlichen englischen Literatur und erklärte, dass die eigentlichen Erben der alten Barden und Skalden nicht die Schotten waren, sondern die Engländer. Er zog eine ununterbrochene Linie, die geradewegs von den germanischen Skalden und keltischen Barden bis zu den englischen Troubadouren und Minnesängern aus der Zeit von Richard Löwenherz verlief. Jedes Stadium der Überlieferung belegte er mit schriftlichen Quellen, um den roten Faden sichtbar zu machen.62 In doppelter Hinsicht antwortete er damit auf Macphersons Entdeckung, ohne ein Wort über Ossian zu verlieren. Er warf die gesamte alte nordische Bardenpoesie auf einen Haufen, erklärte die Engländer zu ihren einzigen Erben und reihte dadurch Ossian und alle anderen keltischen Dichter unter die Vorväter der englischen Literatur ein. Noch viel wichtiger war, dass sich Percy in seiner Beweisführung ausschließlich auf schriftliche Quellen stützte, während sich Macpherson, um Ossians Authentizität zu garantieren, nur auf eine 1500 Jahre alte mündliche Überlieferung berufen konnte. So schuf Percy einen scharfen Gegensatz zwischen einer schottischen Kultur, die im Stadium der Mündlichkeit steckengeblieben war, und einer englischen, die zwar genauso alt war, das Stadium der mündlichen Tradition aber schon im frühen Mittelalter hinter sich gelassen und sich zu einer Schriftkultur entwickelt hatte.63 Macpherson hatte Ossian für Schottland beansprucht, Percy machte ihn zum Engländer. Beiden ging es also nicht mehr um das gemeinsame nordische Erbe, das Ossian – und die übrige mittelalterliche Literatur – repräsentierte, sondern um die Frage, inwiefern dieses Erbe kulturelle Unterschiede legitimieren kann. Mit anderen Worten benutzten sowohl die Schotten als auch die Engländer die Debatte über Ossians Stellung und Wert, um anhand der mittelalterlichen Vergangenheit ihre eigene Identität zu definieren, und beide Gruppen wurden sich dadurch ihrer Existenz als einer Nation, die sich von allen anderen unterschied, beziehungsweise allen anderen sogar überlegen war, viel stärker bewusst. Der Streit zwischen Engländern und Schotten um Ossian zeigt, dass hinter der Entdeckung der mittelalterlichen Literatur mehr als ledig169

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lich die Suche nach einer Alternative zu den antiken Autoren steckte. Das klassische Altertum war seit dem Untergang des Weströmischen Reiches das Eigentum ganz Europas; die antike Literatur machte allen Europäern bewusst, dass das Erbe Griechenlands und Roms eine ihrer gemeinsamen Wurzeln bildete. Die Entdeckung der mittelalterlichen Literatur hatte dagegen eine doppelte Wirkung: sie einte und trennte. Natürlich sollte die mittelalterliche Literatur als Alternative zur oder als Ergänzung der klassischen Überlieferung fungieren. Die alte, vergessene Mythologie des Nordens ermöglichte es den Europäern, die es im kalten Licht der Vernunft nun doch etwas fröstelte, Gefühle auszudrücken, für die die antike Literatur nicht ausreichte. Die germanische Vergangenheit des Nordens war im 18. Jahrhundert Teil eines gemeinsamen europäischen kulturellen Bewusstseins, wie der Erfolg von Ossians Poesie in allen Ländern Europas zeigte. Allerdings stiftete das mittelalterliche Literaturerbe nicht nur Gemeinsamkeit, es säte auch Uneinigkeit. Während die Schotten über Ossian phantasierten, konnten sie sich im Besitz einer alten Kultur wähnen, so rein und unverdorben wie nirgendwo sonst in Europa. Die Engländer konnten sich zufrieden sagen, dass ihre nördlichen Nachbarn noch am Herdfeuer hockten und einander Geschichten über Fingal erzählten, während sie selbst eifrig in den Schreibstuben die alten Überlieferungen schriftlich festhielten und damit die Grundlage für den gewaltigen Vorsprung schufen, den England nun gegenüber Schottland und vielleicht sogar gegenüber der ganzen übrigen Welt besaß. Während die antike Literatur, von Homer bis Vergil, jahrhundertelang in ganz Europa alle rechtschaffenen Menschen zu einer gemeinschaftlichen Republik der Gelehrten verbunden hatte, führte die Entdeckung der mittelalterlichen Dichter dazu, dass sich die Nationen Europas ihrer Eigenarten und ihrer gegenseitigen Unterschiede bewusster wurden. Das war an sich nicht neu. Bereits seit dem 16. Jahrhundert berief man sich gewöhnlich auf die mittelalterliche Vergangenheit, wenn es darum ging, die Treue zum eigenen Fürsten oder zur eigenen Stadt zu legitimieren, oder darum, das vaterländische Gefühl zu stärken, also das Eigene, das Besondere, das Einzigartige zu betonen. Schon damals hatte das Mittelalter für den Teil von Europas Erbe 170

Echtheit und Eigenart

gestanden, bei dem die Rede auf die Unterschiede zwischen Städten, Staaten und Völkern kam, jedoch weniger auf das Verbindende. Als man den Wert der volkssprachigen Literatur aus dem Mittelalter erkannte, ihre Frische und primitive Ursprünglichkeit, verstärkte das diese Gefühle in einem entscheidenden Moment der europäischen Geschichte, weil so deutlich wurde, dass diese Unterschiede nicht zufällig waren, sondern wesentlich. Die mittelalterliche Literatur zeigte, dass die verschiedenen Völker Europas vom ersten Moment ihrer Existenz an bis in die Wurzeln ihrer Kultur hinein getrennt waren, und dass jedes Eigenarten besaß, die es mit keinem anderen Volk teilen konnte. In der englisch-schottischen Debatte über Ossian wurden Ursprünglichkeit und Eigenart noch gedankenlos nebeneinandergestellt. Es war der junge Herder, der seinen ersten Arbeitsplatz als Prediger in Riga fand, wo neben einer deutsch-bürgerlichen Kultur eine lettisch-ländliche existierte. Er sollte zeigen, dass Ursprünglichkeit und Eigenart zwei Seiten derselben Medaille sind und Literatur nur vital, gefühlvoll und authentisch sein kann, wenn sie dem Eigenen eines Volkes entspringt und inmitten dieses Volkes zur Entwicklung gebracht wird.

Echtheit und Eigenart Herder blieb sein ganzes Leben lang ein großer Verehrer von Ossians Gedichten. Selbst als ihm englische Freunde vorsichtig klar machten, dass Macpherson mit seinem Material sehr frei umgesprungen war, blieb er hartnäckig dabei, dass die Bearbeitungen des Ossian, so wie sie im Druck erschienen sind, auf authentische alte Lieder basieren müssten.64 Der Ossian bestätigte Herder wie kein anderer Text in seiner Intuition, dass in der Ursprungszeit jeder Kultur Sprache und Literatur eine Vitalität besessen haben, zu der spätere Generationen zurückkehren müssten, um eine Erneuerung zu erreichen. Wie Herder in einem Brief schrieb, waren Ossians Gedichte „Volkslieder, Lieder eines ungeformten, sinnlichen Volkes“, und hierin lag ihre gewaltige Kraft, denn je freier und wilder ein Volk sei, desto natürlicher und lyrischer sei seine 171

Echtheit

Poesie.65 In der Urzeit einer Kultur würden Leben und Literatur miteinander verschmelzen. Das machte die Lieder von Dichtern wie Ossian und Homer sozusagen zu Impromptus, spontanen Eingebungen, die beim Singen entstanden sind. Dies verlieh ihnen „unvorbedachte Festigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohlstudierten Europäer allezeit haben bewundern müssen“. Darum wurden sie auch durch die Jahrhunderte hindurch überliefert und konnten dem Zahn der Zeit und allen Umwälzungen der Jahrhunderte trotzen.66 Insofern nichts Neues. In seiner Lobeshymne auf den Ossian und andere Bardenpoesie folgte Herder auf den ersten Blick Autoren wie Blackwell, Hurd und Percy, die er aufmerksam gelesen hatte, ebenso wie Rousseaus Reflektionen über den Ursprung der Sprache und Literatur. Bei Herder wurde die Ursprünglichkeit jedoch zur fixen Idee und zeigte eine Radikalisierung, die seinen Worten, trotz aller gemeinsamen Interessen, einen ganz anderen Tonfall verlieh als Hurds und Percys vorsichtigen Bemühungen, bei ihrer Leserschaft Interesse am primitiven Mittelalter zu wecken. Percy entschuldigte sich noch bei den Lesern und präsentierte seine Sammlung von Balladen und Minnegedichten als Versuche oder erste Experimente. Bei Herder herrschte in dieser Hinsicht kein Zweifel mehr: Im Ursprung einer literarischen Tradition kann man ihren eigentlichen Genius am vollkommensten erkennen, denn nur im frühesten Anfang ist jede Sprache „wie die Sprache der Kindheit und des glücklichen Wilden, monoton, aufrecht, und die Sprache der Natur“.67 So wie die Kinderjahre entscheidend sind für die Qualität des Lebens als Erwachsener, so ist demnach die Heldenzeit auch in jeder Kultur die entscheidende Periode und ist jede spätere Entwicklung in diesem Anfang enthalten: „So wie der Baum aus der Wurzel, so muß der Fortgang und die Blüte einer Kunst aus ihrem Ursprung sich herleiten lassen. Er enthält in sich das ganze Wesen seines Produktes.“ Vom Begriff „Ursprung“ konnte Herder gar nicht genug bekommen; dort, am Beginn, liege die „Wunderhöhle“, wo „der Zunder zu der Flamme liegt“.68 Dies gelte für Kulturen genauso wie für Menschen. Kein Wunder, dass sich Herder große Sorgen um die Bildung der deutschen Jugend machte. Vor allem empörte er sich darüber, dass in 172

Echtheit und Eigenart

den deutschen Schulen Latein das wichtigste Fach war. Niemand konnte diese Sprache später je gebrauchen, doch noch schlimmer war, dass junge Menschen in der entscheidendsten Phase ihres Lebens in einer Sprache erzogen wurden, die nicht die ihre war. Dadurch verloren sie das Gefühl für die eigene Sprache und die Fähigkeit, sich in Bildern auszudrücken, die ihrer eigenen Kultur und ihrem eigenen Vorstellungsvermögen entstammten. Dadurch waren die Deutschen nicht mehr in der Lage zu sehen und zu fühlen oder direkte sinnliche Eindrücke aufzunehmen und zu benennen, sondern konnten nur noch denken und sinnieren. Als Folge davon war die deutsche Poesie sich selbst entfremdet und wirkte ebenso gekünstelt wie die Schreibübungen eines Schülers.69 Die Schotten und Griechen dürften sich glücklich schätzen, weil sie sich selbst treu geblieben seien, indem sie die alten Lieder Ossians und Homers in Ehre gehalten und an ihre Kinder weitergegeben haben. Herder schloss seinen Brief über Ossian mit einem emotionsgeladenen Aufruf an seine Landsleute in allen Provinzen des Reiches, ihre eigenen alten Volkslieder zu sammeln und an ihre Kinder weiterzugeben, damit sie im späteren Leben in sich die Stimme des alten Deutschlands hörten, eine innere Stimme, die sie zur Tugend ermahne, die aber auch Trost spende.70 Auch darin war Herder viel radikaler als die englischen und schottischen Liebhaber mittelalterlicher und nordischer Dichtung. Percy und Blair wären nie auf die Idee gekommen, die alten Sprachen aus dem Schulprogramm zu werfen. Sie wollten nur darauf hinweisen, dass die Völker des Nordens noch ein anderes Erbe in ihrer eigenen barbarischen Vergangenheit besaßen, ein Erbe, das nicht schlechter war als das antike, wie Blair in seiner Critical dissertation erklärte, als er Ossians Poesie mit der von Homer verglich. Sie gingen noch ganz selbstverständlich davon aus, dass die Gemeinsamkeiten unter allen Kulturen viel größer sind als die Unterschiede, weshalb es letztendlich ziemlich egal ist, aus welcher Tradition ein Kind seine Weisheit bezieht, solange es nur zu einem Menschen wird. Vor allem war ihnen wichtig, ob es sich um authentische nordische Poesie handelte, erst in zweiter Linie, ob sie schottisch oder englisch war. Mit seiner revolutionären Geschichtsauffassung drehte Herder das alles um: Poesie kann danach 173

Echtheit

nur ursprünglich sein, wenn sie direkt aus dem eigenen Volk herauskommt, wenn sie national ist. An Ossians Überlieferung konnte man seiner Meinung nach erkennen, dass die Schotten sich dessen immer bewusst gewesen sind, während die tragische Geschichte Deutschlands und der deutschen Literatur zeigte, was mit einem Volk geschieht, das diese elementare Wahrheit aus den Augen verliert. Herder interpretierte die Geschichte des deutschen Mittelalters als Machtergreifung einer Kultur, die sich ihrer Grenzen nicht mehr bewusst war. Er verabscheute das Römische Reich und die mittelalterliche Nachfolgerin dieses Reiches, die römische Kirche. Beide hätten jahrhundertelang versucht, die ihnen unterworfenen Völker in ihrer eigenen, natürlichen Entwicklung zu blockieren. Darunter hätte das deutsche Volk am meisten gelitten, weil der Papst den deutschen Königen den fremden Titel eines Kaisers aufgedrängt und sie dadurch an sich gebunden hätte (siehe S. 105). Die Interpretation der alten deutschen Geschichte als einer Entfremdung von ihrem reinen Ursprung entsprang Herders Überzeugung, dass das Allgemein-Menschliche, das Universelle, nie als solches erfahren werden kann, sondern dass Menschlichkeit nur in Fragmenten erscheint, in der Einzigartigkeit individueller Völker und Kulturen: „In gewissem Betracht ist also jede menschliche Vollkommenheit National, Säkular und am genauesten betrachtet, Individuell.“ Jedes Volk hat seine guten und schlechten Seiten, hat sein eigenes Glück und muss seinen eigenen Mittelpunkt finden: „Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!“71 Jeder Versuch eines Volkes, seine eigene Sprache und seine Normen universell zu machen und zu behaupten, dies repräsentiere das AllgemeinMenschliche, führe darum auch zu Künstlichkeit und Entfremdung, denn eine Kultur könne sich nur an seiner eigenen Quelle laben. Herders Ansicht nach ist diese Besonderheit auch geographisch bedingt, so dass jedes Volk in dem Gebiet, in dem es entstanden ist, wohnen bleiben sollte. Auswanderung, wie die der Deutschen an die Wolga oder nach Siebenbürgen, war für ihn mit Verbannung und Identitätsverlust gleichzusetzen. Mit der jungen amerikanischen Republik konnte er aus diesen Gründen auch nicht viel anfangen.72 174

Echtheit und Eigenart

Laut Herder bildete die eigene Sprache das Herz jeder nationalen Kultur. Dies ginge zurück auf den allerersten Ursprung des menschlichen Sprechens. Laut Herder war Kommunikation zwischen Menschen nicht die Folge von Sprache, wie die meisten Linguisten seiner Zeit annahmen, stattdessen hatte das Bedürfnis nach mehr Kommunikation zum Entstehen von Sprache geführt. Von den allerersten Anfängen an waren Sprachäußerungen demnach sozial, Ausdruck einer bereits bestehenden Zusammengehörigkeit und Verbundenheit einer Gruppe Menschen, und deshalb auch an diese Gruppe gebunden. Es war menschliche Verbundenheit, die die Sprache geschaffen hatte, und umgekehrt verstärkte die Sprache die Identität der Gruppe. Von Anfang an war die Sprache verbunden mit dem Eigenen, dem Besonderen, dem Einzigartigen jeder Gemeinschaft, jeden Volkes.73 Das bedeutete, dass eine universelle Literatur in Herders Augen gar nicht existieren konnte, es gab nur nationale Literatur, Ausdruck der Eigenart jedes einzelnen Volkes. Homers Poesie war nicht groß, weil sie universell war, wie die Klassizisten behaupteten, nicht einmal, weil sie archaisch war, wie Blackwell gesagt hatte, sondern weil sie griechisch war und auf einzigartige Weise die Seele des griechischen Volkes in Worte fasste.74 Je nationaler und individueller ein Dichter war, desto authentischer war er. Darum sei es die Pflicht eines jeden Volkes, was die Schotten und Griechen, im Gegensatz zu den Deutschen, begriffen hätten, nach den Quellen des eigenen Genies zu suchen, in erster Linie die eigene Literatur und vor allem ihre ersten Anfänge zu erforschen.75 Nur wenn man sich ständig auf den Ursprung des Eigenen besinne, könne eine Nation ihren einzigartigen Beitrag zum großen Ganzen der Geschichte und dem Ideal der Menschlichkeit liefern, das darin verwirklicht werden soll. Anhand des Mittelalters erläuterte Herder, dass es keine universellen Normen gibt, sondern dass alle Epochen und Kulturen ihre eigenen Normen und Werte besitzen, die unvergleichbar und unübertragbar sind. Deshalb wäre es auch lächerlich, das Mittelalter mit den Maßstäben der Antike oder der modernen, aufgeklärten Epoche zu messen. Bei der Untersuchung anderer Zeiten und Kulturen war ein unvoreingenommener Blick wichtig. Doch wenn es tatsächlich stimmte, dass 175

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sich das Beste und Originellste einer Nation und ihrer Sprache am deutlichsten im Ursprung offenbaren, dann wurde, für Europa gesehen, das Mittelalter wesentlich mehr als nur eine Zeit, die man wie jede andere nach ihrer Eigenart beurteilen musste, es wurde zum Schlüssel für das Verständnis der ganzen späteren Geschichte unseres Kontinents, weil alle europäischen Völker im Mittelalter entstanden waren, wie man zumindest im 19. Jahrhundert glaubte. Ob sich Herder der Konsequenzen seiner Theorie wirklich bewusst war, bleibt die Frage, jedenfalls blieb seine Haltung zur mittelalterlichen Vergangenheit sein ganzes Leben lang ambivalent. Tatsache ist, dass er die Bedingungen zu einer vollkommenen Umkehrung des traditionellen historischen Bewusstseins in Europa geschaffen hat. Wenn Griechisch und Latein aufgrund ihrer Fremdheit nicht das sprachliche und kulturelle Fundament bilden konnten, auf dem Europa aufbaute, musste dieses Fundament in der Zeit liegen, in der Europas aktuelle Nationen entstanden waren.76 Nur im Mittelalter konnten die Völker Europas das Tiefste ihres eigenen Wesens finden und sich aneignen. Als Herder so nachdrücklich das Mittelalter zur Entstehungszeit der Nationen erklärte, schuf er damit auch den Rahmen für das spätere Verständnis von diesen Jahrhunderten. Diesen Rahmen kann man mit den Worten Eigenart, Ursprünglichkeit und Gemeinschaft umschreiben. Die mittelalterliche Geschichte wurde zur Erzählung eines Neuanfangs, zur Geschichte der vielen jungen Völker, enger Gemeinschaften, die in ihrer ersten Vitalität einen Schaffensdrang, eine Genialität und eine Spontaneität offenbart hatten, die auch ihre Nachfahren an die Wurzeln ihrer Existenz zurückführen und ihnen dadurch neues Leben schenken konnten.

Das Nibelungenlied als Urquell Neues Leben war etwas, was die europäischen Nationen Ende des 18. Jahrhunderts gut gebrauchen konnten. Die Begeisterung, mit der die meisten Intellektuellen die Französische Revolution begrüßt hatten, ebbte rasch ab, vor allem als sich herausstellte, dass die Ideale von 176

Das Nibelungenlied als Urquell

Gleichheit und Freiheit nur als Deckmantel für einen ungezügelten französischen Expansionsdrang dienten. Wer sich intellektuell gegen Frankreich zur Wehr setzen wollte, konnte nicht an der klassischen Antike anknüpfen, weil der französische Klassizismus sie, nur jetzt in einer völlig neuen, revolutionären Form, annektiert hatte. Ein besserer Weg zur Neubesinnung war es, Herders Rat zu folgen und sich mit dem Ursprung seiner eigenen Nation und ihrer Literatur im Mittelalter zu beschäftigen. In Deutschland geschah dies 1802, als August Wilhelm Schlegel in Berlin seine Vorlesungsreihe über die Geschichte der europäischen Literatur begann. Schlegel war nicht so radikal wie Herder: Zuerst hielt er ein volles Jahr lang Vorlesungen über antike Literatur und begann erst 1803 mit dem Mittelalter. Der Grund dafür war, dass sich Schlegel zwar auf Deutschland und die deutsche Kultur zurückbesinnen wollte, andererseits jedoch viel mehr als Herder aus einer europäischen Perspektive heraus argumentierte. Er wollte in erster Linie Europäer sein und danach erst Deutscher. Was das Mittelalter in seinen Augen so wichtig machte, war gerade die Tatsache, dass Europa in jenen Tagen wirklich ein einziges Land war.77 Fortwährend verglich er die deutsche Kultur mit der des übrigen Europas und gab ritterlich zu, dass Deutschland auf vielen Gebieten zurückgeblieben war: So konnte die deutsche Malerei trotz Cranach und Dürer in keinster Weise den Vergleich mit der italienischen aufnehmen.78 Dennoch sagte er Deutschland eine große Zukunft voraus. Er hoffte, dass der Tag kommen würde, an dem Deutsch die Sprache ganz Europas wird, allerdings immer im Dienst von Europa als Ganzem. Weil Schlegel diese weiter gefasste Perspektive anwandte, war es für ihn auch viel einfacher, der antiken Literatur eine Stelle einzuräumen: Trotz aller Mängel war und blieb sie das gemeinsame Fundament und das unveräußerliche Erbe aller europäischen Nationen. Für Schlegel stand fest, dass die Kultur in einer tiefen Krise steckte. Darum begann er seine Vorlesungen in Berlin damit, dass er eine Diagnose stellte. Am meisten sorgte sich Schlegel um das Schicksal der Literatur, die durch eine „Epidemie prosaischer Nüchternheit und sittlicher Erschlaffung“ in einer Sackgasse gelandet war.79 Die Menschen 177

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seiner Zeit kümmerten sich nur noch um Dinge, die nützlich waren, sichtbar waren und berechnet werden konnten. Phantasie und Gefühl stünden nicht länger in Ansehen. Die Philosophen suchten nicht länger nach der Wahrheit, denn das erfordere ein Verlangen nach dem Grenzenlosen, das sie mit Abscheu erfüllte. Die großen Opfer dieses Dranges, alles auf das Empirische und Nützliche zu reduzieren, wurden Religion und Dichtkunst. Die Religion wurde intellektuell und kalt, ohne Mythen, ohne Bilder und Symbole, ohne Rituale. Dadurch wären alle Quellen der Phantasie ausgetrocknet: Mythologie wurde mit Aberglauben gleichgestellt, und für den sinnbildlichen, symbolischen Charakter der Natur hatte keiner mehr Verständnis. Kein Wunder, dass es keine Poesie mehr gab. Eine neue Literatur könnte erst wieder entstehen, wenn man der Phantasie und dem Einfallsreichtum wieder die Zügel schießen ließe, um die „ursprüngliche Anlage und Richtung des menschlichen Herzens“ wieder anzusprechen. Von der antiken Literatur könnte man dazu keine Inspiration erwarten. Im alten Griechenland war sich der Mensch selbst genug gewesen: Er war gefangen in den Beschränkungen der Endlichkeit, er fühlte keinen Hang nach Höherem oder nach dem Unbekannten, und seine Religion bestand lediglich aus einer Vergötterung der Naturkräfte. Auch aus der griechischen Dichtung sprach die Zufriedenheit mit sich selbst, es war eine „Dichtkunst des Vergnügens“, die nichts wusste vom tieferen Ursprung des Menschen und seiner letztendlichen Bestimmung, so dass sie kraftlos wurde und ihre Schaffenskraft verlorenging.80 Die Verjüngung wäre von zwei Seiten gekommen: durch die Einfälle der Germanen und die Verkündung des Christentums. Aufgrund ihrer Abstammung aus dem kalten Norden Europas waren die Germanen demnach schon immer weniger sinnlich und neigten mehr zur Selbstbesinnung. Dieser Ernst, der die Germanen schon von Natur aus auszeichnete, erwies sich darüber hinaus als idealer Nährboden für den christlichen Glauben. Nirgendwo in Europa war das Christentum so tief vorgedrungen wie in den deutschen Ländern, allerdings musste dafür ein hoher Preis bezahlt werden. Nachdem der christliche Glaube erst einmal den Blick auf das Unendliche geöffnet hatte, konnten die 178

Das Nibelungenlied als Urquell

Menschen nie wieder in sich selbst zur Ruhe kommen, ihnen wurde bewusst, dass sie hier auf Erden im Schatten lebten, jeder Genuss nur eine flüchtige Illusion war und nichts auf Erden ihre Sehnsucht ganz erfüllen konnte. Während es für die Griechen möglich war, nur im Heute zu leben, wurde der Romantiker dieser Interpretation zufolge hin und her gerissen zwischen der Erinnerung an die Vergangenheit und einer bangen Ahnung von der Zukunft. Darum besaß das Romantische auch einen Unterton von Schwermut und Zerrissenheit.81 Wegen der Zerrissenheit des romantischen Geistes waren auch keine eindeutigen Ideale mehr möglich. Es war das Schicksal des romantischen Menschen, dass er fortwährend mit endlichen und unendlichen Idealen leben musste, die alle miteinander im Streit lagen und die er doch alle zugleich anstreben musste.82 Wer die Poesie zu neuer Blüte bringen wollte, müsste mit der Literatur anfangen, in der sich „der riesenhafte Geist eines lange zurückliegenden Heldenzeitalters kundtut“: nämlich die mittelalterliche Ritterpoesie in ihrer lyrischen und epischen Form.83 Die einzige Möglichkeit, wie Europa zu sich selbst zurückfinden könnte, wäre darum eine ernsthafte Besinnung auf diesen ersten Ausdruck der Zerrissenheit und des unerfüllten Verlangens, der damals in der Poesie der Troubadoure Gestalt angenommen hatte. Die gewaltige Kraft der mittelalterlichen Poesie lag nach Schlegels Meinung in der Tatsache, dass die Ritter selbst zugleich Sänger und Dichter waren: Dieselbe Hand, die im Streit die Lanze führte, konnte in freien Stunden einer Laute die bewegendsten Melodien entlocken.84 Darüber hinaus führte der Troubadour ein Wanderleben: Immer war er auf Pilgerfahrt, unterwegs zu einem Turnier, oder er zog ins Heilige Land in den Streit. Diese freie Ungebundenheit machte die Ritterpoesie so vielfältig und phantasievoll: tragisch im Nibelungenlied, mystisch im Parceval und erotisch geladen in den Geschichten von Lancelot. Genau dieselben Argumente hatte Blackwell benutzt, um die Ausdruckskraft der archaischen griechischen Poesie zu erklären, und Hurd hatte sie bereits behutsam aufs Mittelalter angewandt. Der einzige Unterschied war, dass sich die homerischen Helden von den Barden besingen ließen, während Schlegel Ritter und 179

Echtheit

Sänger zu einer Person verschmolz. So identifizierte er Objekt und Subjekt der Poesie und konnte eine noch stärkere ursprüngliche Einheit der Poesie postulieren. Doch mit der Feststellung, dass die Troubadour-Poesie der reine Ursprung aller späteren Literatur in Europa ist, war Schlegels Suche nach den Quellen noch nicht abgeschlossen. Mehr als jede andere mittelalterliche Literatur faszinierte ihn das Lied der Nibelungen. Schlegel wusste genau, dass das Lied in der Form, in der es überliefert ist, aus der Zeit um 1200 stammte und zur Troubadour-Poesie gehörte, doch es besaß zwei Besonderheiten, die es seiner Ansicht nach über jede andere mittelalterliche Dichtung erhob: Erstens gab es für das Lied in der ganzen französischen und englischen Literatur keine Entsprechung, und zweitens rief es die Erinnerung an die frühesten Jahrhunderte Europas wach, die Zeit der Völkerwanderung. Schlegels Betrachtungen zum Nibelungenlied zeigen sehr schön, zu welchen phantastischen historischen Rekonstruktionen die Suche nach Eigenart und Ursprung führen konnte, selbst bei einem Gelehrten, dessen Integrität und Fachkompetenz niemand anzweifeln konnte, was im Falle von Macpherson wieder ganz anders lag. Für Schlegel bildete das Nibelungenlied, so wie es aufgezeichnet war, die einzige erhaltene Hinterlassenschaft der Sagenwelt germanischer Heldengedichte aus der Urzeit, die ansonsten verlorengegangen sind. Er rief seinen Zuhörern in Erinnerung, dass der Philologe Fischer erst kurz zuvor ein lateinisches Gedicht aus der Zeit um 700 veröffentlicht hatte, in dem der Aufenthalt des Helden Hagen an Attilas Hof besungen wurde. Das Latein dieses Gedichtes war so eigenartig, dass ihm ein deutsches Original zugrunde gelegen haben musste. Laut Schlegel war dies ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Nibelungenzyklus schon im 7. Jahrhundert auf deutsch existiert hat.85 Darüber hinaus war allgemein bekannt, dass Karl der Große den Auftrag erteilt hatte, die alten germanischen Lieder aufzuzeichnen, um sie für die Nachwelt zu erhalten. Es war praktisch undenkbar, dass sich davon nichts erhalten haben sollte, es sei denn, das Nibelungenlied ginge tatsächlich auf diesen Versuch zurück, das alte germanische Erbgut zu retten. Wie war es außerdem möglich, dass Dichter des 12. Jahrhunderts die Welt der Völker180

Das Nibelungenlied als Urquell

wanderung so präzise beschreiben konnten, wenn sie sich dabei nicht auf eine Überlieferung aus älterer Zeit gestützt haben? Und wer sonst könnte sie aufgezeichnet haben, wenn nicht die Schreiber an Karls Hof?86 Schlegel erging sich in Vermutungen, Hypothesen und Fragen, bis er zu dem Schluss gelangte, dieses Gedicht aus dem 12. Jahrhundert müsse die getreue Wiedergabe eines Liedes aus der Zeit der germanischen Einfälle ins Römische Reich sein. Darüber hinaus wollte er beweisen, dass sich das Lied in dieser Form seit 600 Jahren kaum verändert hatte und dass es in seiner aufgezeichneten Form ein klingendes Zeugnis der ältesten deutschen Sprache ist. Wie er feststellte, wich das Versmaß des Liedes von dem jeder anderen epischen Poesie aus dem 12. Jahrhundert ab. Darüber hinaus gab es nirgendwo im Lied einen Hinweis darauf, wer die Dichter waren, während sich bei jeder anderen Dichtung aus dieser Zeit die Sänger selbst ausdrücklich als Autoren vermerkt haben. Das waren zwei deutliche Hinweise auf einen sehr alten Ursprung des Nibelungenepos. Dieses Lied, so schloss er dramatisch, hatte also eigentlich gar keinen Schriftsteller gekannt, sondern nur Abschreiber. Es war zu groß, um das Werk eines einzigen Mannes zu sein, es war die „Schöpfung der gesamten Kraft eines Zeitalters“, der nie wieder erreichte Ausdruck der deutschen Volksseele zu Beginn seiner historischen Existenz, unverändert überliefert durch die Jahrhunderte, und nun endlich als Quelle nationaler Erneuerung wiederentdeckt. Die Schotten riefen zwar, der Ossian sei noch älter, doch mit solchen Ansprüchen machte Schlegel kurzen Prozess und nannte Ossians Gedichte formlose pseudopoetische Gespenster, die sich vor dem Nibelungenlied in Dunst und Nebel auflösen.87 Am Ursprung jeder mittelalterlichen Literatur stand das deutsche Heldenepos, es war die Quelle, aus der alle Völker Europas im Mittelalter geschöpft haben. Und das machte Deutschland, nach Schlegels Meinung, zur alten Mutter Europas, die in der Blüte ihrer Jugend ihren Kindern alles geschenkt hatte, doch dadurch selbst alt und einsam in der Hoffnung zurückgeblieben war, dass ihre Kinder eines Tages zu ihr zurückkehren würden, um sich wieder um ihren Schoß zu scharen.88 Wie sehr August Schlegel sein Vaterland auch liebte, er war kein Verfechter eines bornierten, deutschen Nationalismus, sondern besaß ein 181

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liberales, kosmopolitisches Temperament. Sonst wäre Germaine de Staël bestimmt nicht so von ihm begeistert gewesen. Darüber hinaus war er einer der scharfsinnigsten Philologen seiner Zeit, mit einer unerreichten Kenntnis der mittelalterlichen Literatur aller europäischen Länder. Doch genau darum illustriert seine Rekonstruktion der Entstehung des Nibelungenliedes um so deutlicher, wie sehr zuerst Deutschland, später auch das übrige Europa, in den Bann der Vorstellung geriet, dass das Älteste und Primitivste auch das Vollkommenste darstellt, und dass jeder literarischen und künstlerischen Erneuerung eine Rückbesinnung auf den Ursprung zugrunde liegen sollte.

Balladen und Märchen Sich auf die Suche nach den ältesten Texten der nationalen Literatur zu begeben, war eine Art zum Ursprung zurückzukehren, was allerdings umfassende Kenntnisse von Handschriften, alten Sprachen und mittelalterlicher Geschichte erforderte. Um 1800 war August Schlegel einer der wenigen, der über alle diese Fähigkeiten verfügte. Doch gab es nicht einen viel einfacheren Weg, dem Ursprung der Nation und ihrer Literatur auf die Spur zu kommen? Auch wenn Macpherson von Doktor Johnson als Fälscher entlarvt wurde, hatte er doch gezeigt, dass weitab jeder Zivilisation in abgelegenen Gebirgen und undurchdringlichen Wäldern einfache Menschen wohnten, die noch im monotonen Rhythmus der Natur lebten, unberührt von der Unruhe des modernen Lebens. In Herbergen und am Herdfeuer erzählten sie sich Geschichten und sangen Lieder, von denen man annehmen konnte, dass sie, gerade weil diese Menschen unbeeinflusst waren von äußeren Ideen, von Generation zu Generation treu überliefert worden sind und deshalb Zeugnisse der ältesten Volkstraditionen bildeten. Herder war fest davon überzeugt und hatte damit angefangen, deutsche Lieder und Volksmärchen zu sammeln. Doch erst nach 1800 entstanden all die Sammlungen, die bis auf den heutigen Tag die Phantasie Europas geformt haben. Zu den wichtigsten gehören die von Walter Scott und den Gebrüdern Grimm. 182

Balladen und Märchen

Es ist spannend, Scotts Balladensammlung aus dem Jahre 1802 und Grimms Märchen, die 1812 zum ersten Mal herausgegeben wurden, miteinander zu vergleichen. Denn ihr Ausgangspunkt war zwar derselbe, nämlich dass das Älteste und Primitivste das Echte und Authentische repräsentieren, anschließend sind sie jedoch ganz unterschiedlich damit umgegangen. Jedenfalls war Scott ebenso wie Jacob und Wilhelm Grimm fest davon überzeugt, dass es beinahe zu spät war. Ein Sturm hatte sich erhoben, der nahezu die gesamte Ernte vernichtet hat. Nur unter einigen Büschen waren noch ein paar Ähren zu finden, die als Nahrung für den anbrechenden Winter und als Saatgut für die Zukunft dienen konnten.89 In Europa waren kaum noch Landstriche zu finden, über die die moderne Zeit noch nicht hinweggefegt war, darum musste man diese abgelegenen Winkel unbedingt so schnell wie möglich aufsuchen und die letzten Zeugen der sterbenden Volkskultur zu Worte kommen lassen, um ihre alten Geschichten zu erzählen und für die Zukunft zu erhalten. Scott erwähnt in seinem Vorwort zu den Minstrelsy of the Scottish Border den letzten Dudelsackspieler von Jedburgh, den er als kleiner Junge kennengelernt hatte. Damals war er schon so alt, dass er beinahe nicht mehr singen konnte, doch an die alten Balladen erinnerte er sich noch sehr gut. Ein anderer Wandermusikant seiner Zeit war John Graeme aus Sowport in Cumberland, von Beruf Uhrmacher. Seine durchdringende Stimme und sein fehlerloses Gedächtnis machten ihn zum besten Interpreten der alten Kriegslieder aus dem schottischen Grenzland, den Scott je kennengelernt hatte.90 Die Gebrüder Grimm waren schwer beeindruckt von der alten Bäuerin Viehmann, die im Gehöft Niederzwehrn bei Kassel wohnte. An dieser einfachen Frau frappierte sie vor allem, dass sie immer genau bei ihrer Geschichte blieb und nie etwas daran veränderte, selbst nach mehrmaligem Erzählen.91 Sowohl bei Scott als auch bei den Grimms konnten sich diese letzten Zeugen aus genau demselben Grund noch so gut an so vieles erinnern. Scott charakterisierte das schottische Grenzland als Gebiet, das bis vor Kurzem immer fernab der normalen Gesellschaft gelegen hatte, und in dem unter den Clans ein Ehrenkodex herrschte, an dem weder 183

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die englischen noch die schottischen Könige irgendetwas ändern konnten.92 Hinzu kam, dass dieses Gebiet nur oberflächlich christianisiert und darum auch in diesem Sinne außergewöhnlich war. Mit gewisser Ironie stellte Scott fest, dass die schottischen Borderers nach der Reformation dem Katholizismus zwar dem Anschein nach treu geblieben waren, doch das taten sie nur, weil ihnen der ganze christliche Glaube im Grunde gleichgültig war. Ihre religiöse Vorstellungswelt war erfüllt von einem vorchristlichen Glauben an Elfen, Geister und heilige Quellen.93 In einer so isolierten, rauen Gesellschaft, in der Feder und Druckpresse noch unbekannt waren, wurde alles in Gedicht und Gesang überliefert, weil dies die einzige Möglichkeit war, die Taten der Vorväter in der Erinnerung der Nachkommen zu bewahren.94 Ganz ähnlich rühmten die Gebrüder Grimm das gebirgige Hessen, woher die meisten ihrer Geschichten stammten, eine Gegend weit abseits großer Straßen, bewohnt von einem Geschlecht einfacher Bauern, die gerade wegen ihrer Unbildung an den alten Sitten und Traditionen festgehalten hatten.95 Allerdings gibt es ebenso große Unterschiede zwischen Scott und den Grimms, vor allem in Bezug auf die Zuverlässigkeit der Überlieferung und den Wert der alten Erzählungen für den modernen Leser. In beiden Fragen war Scott sehr zurückhaltend. Als er im Vorwort der Ausgabe des Jahres 1830 über Art und Wert der Volkspoesie Bilanz zog, drückte er sich vorsichtig aus. Trotz seiner Überzeugung, dass volkstümliche Balladen ein Ausdruck der Volksseele sind, glaubte er dennoch, dass es sich letztendlich um individuelle Kompositionen handelt, die von individuellen Minnesängern und Barden überliefert wurden.96 Dies schloss ein, dass sich die Balladen beim Überlieferungsprozess stark veränderten: Die Minnesänger passten sich ständig dem Geschmack ihres Publikums an, erfanden Teile dazu und ließen andere weg, oder sie wiederholten ganze Passagen, wenn sie merkten, dass ihre Zuhörer den Faden verloren hatten. Die Balladen, wie sie nun aus dem Mund der letzten noch lebenden Zeugen aufgezeichnet wurden, waren darum wie alte Münzen, deren Prägung sich im Laufe der Zeit abgeschliffen hat; ganz offensichtlich waren sie von viel schlechterer Qualität als die ursprünglichen „Erzeug184

Balladen und Märchen

nisse nationaler Schaffenskraft“, die rettungslos verlorengegangen waren.97 Trotzdem war Scott überzeugt, dass die alte Volkspoesie großen Wert besitzt, weil sie dem modernen Menschen Einblick in eine Zeit verschafft, in der die nationale Muse noch in den Windeln lag. Der Leser müsse nur die alte Literatur verschiedener Völker vergleichen, um Einblick in die unterschiedliche Geschwindigkeit zu erhalten, mit der jedes Volk auf dem Weg der Zivilisation voranschreitet.98 Scott erwies sich hier eher als Erbe von Percy und der schottischen Aufklärung, als von Rousseau und Herder. Darum war es für Scott auch kein echter Nachteil, dass uns die Volksüberlieferung in schlechtem Zustand erreicht hat, schließlich verkörpere sie ein Stadium der Geschichte, das den Charakter der Nation zwar in seiner ältesten, jedoch noch nicht in seiner reinsten Form repräsentiere. Hier bleibt die Frage, warum Scott in seiner Autobiographie zugab, die alten Balladen hätten ihn von frühester Jugend an so fasziniert, dass er sie auswendig gelernt und überall, wohin er kam, gesammelt habe.99 Hier stoßen wir auf dieselbe Ambivalenz in Scotts Bewertung des Mittelalters, die auch seine Ansichten von der Ritterschaft auszeichnete. Von einer solchen Ambivalenz war bei den Gebrüdern Grimm keine Rede. In der Einleitung zu ihrer Ausgabe deutscher Märchen erwiesen sie sich, wie August Schlegel, als Erben von Herders Überzeugung, dass die älteste Vergangenheit eines Volkes auch ihr Bestes repräsentiere. Darum war es für sie, ebenso wie für Schlegel, wichtig zu zeigen, dass die von ihnen gesammelten Geschichten durch die Jahrhunderte hindurch treu überliefert worden sind und sie sich bei diesem Vorgang kaum oder gar nicht verändert hatten. Deshalb verwiesen sie nachdrücklich darauf, dass die heutigen Hessen nicht nur so besonders waren, weil sie in einer abgelegenen Gegend lebten, sondern vor allem, weil sie noch immer auf dem Boden wohnten, den ihre Vorväter, die Chatten, während der Völkerwanderung in Besitz genommen hatten. Allein schon dadurch hätten sie, mehr als alle anderen Deutschen, die alten Sitten und Gebräuche in Ehren gehalten. Wie für die Grimms außerdem feststand, wird das Gedächtnis in einer schriftlosen Gesellschaft so trainiert, dass die alten Erzählungen unverfälscht bewahrt 185

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werden. Ihrer Meinung nach führt nämlich gerade die Einführung einer Schriftkultur zu Veränderungen und Verzerrungen bei der Überlieferung.100 Diese Auffassung wirkt seltsam, weil schon Scott erklärt hat und alle modernen Historiker seitdem wiederholen, dass alte Überlieferungen dort am besten erhalten geblieben sind, wo sie schon früh schriftlich festgehalten wurden, während im Gegenteil gerade die mündliche Überlieferung höchst unzuverlässig und ständigen Veränderungen unterworfen sei.101 Doch das entsprach nicht der von den Grimms vertretenen Theorie zur Urheberschaft, die in großen Zügen den Ansichten August Schlegels über das Nibelungenlied folgte. In ihren Augen bestand ein grundlegender Unterschied zwischen einer modernen Schriftkultur einerseits, in der jeder Autor ein kreatives Individuum ist und alte Geschichten zwar aufzeichnet, sie dabei aber nach eigenem Geschmack und Wissen verändert, und einer mündlichen Kultur andererseits, in der es eigentlich keine individuelle Urheberschaft gibt, weil alle Geschichten und Gesänge Ausdruck eines kollektiven Volksgeistes sind, der von den Sängern und Erzählern zwar zum Sprechen gebracht wird, jedoch ohne dass sie dabei selbst kreativ werden, weswegen sich die Geschichten beim Erzählen kaum verändern.102 Die Ansicht, dass Künstler in einer traditionellen Kultur keine Schöpfer seien, sondern nur Dolmetscher, zeigt sich am besten daran, wie die Grimms Dorothea Viehmann vorgestellt haben. Zunächst fällt auf, dass die Viehmännin, wie sie sie (entindividualisierend) nennen, nicht als Person beschrieben wird, sondern nur als Vertreterin einer aussterbenden Art typisiert wird, nämlich der einfachen, des Schreibens unkundigen aber zupackenden Bäuerin. Die Grimms beschreiben sie nicht als eine nach außen gerichtete Frau, die mit ihren Geschichten den Zuhörern gefallen möchte, sondern als eine, die ganz nach innen gerichtet nur einer inneren Stimme lauscht, als wäre sie die Dolmetscherin einer Sache, die ihre eigene Existenz übersteigt: der Geist des deutschen Volkes.103 Natürlich waren die Grimms zu große Gelehrte, um nicht zu erkennen, dass sich auch bei Volksüberlieferung oft einiges verändert. In der 186

Einheit und Trennung

Einleitung ihrer Ausgabe wiesen sie sogar darauf hin, dass dasselbe Märchen in verschiedenen Teilen Deutschlands in unterschiedlichen Varianten bekannt sei. Außerdem gaben sie zu, dass sich Geschichten beim Weitererzählen bisweilen auch verändern. Solche Veränderungen wären jedoch nicht die Folge bewusster Eingriffe durch einen Autor, sondern nur ein völlig natürlicher Vorgang bei einer jahrhundertelangen Überlieferung, bei der „der Volksgeist das Individuum beherrscht“. Diesen halb unbewussten Prozess könne man am besten mit dem Wachsen einer Pflanze vergleichen: Sie wird zwar größer, nährt sich jedoch weiter am Lebensquell, dem sie entsprossen ist. Egal wie sich die Geschichten in ihrer Form verändert haben mochten, im Wesen sind sie demnach immer gleich geblieben; auch in ihrer heutigen Form führen sie den Leser darum unmittelbar zurück zur Reinheit und Frische der Quelle.104

Einheit und Trennung Nach 1700 wuchs zuerst in Frankreich, danach in anderen europäischen Ländern, eine zunehmende Unzufriedenheit mit dem antiken Fundament der modernen europäischen Kultur. Die antiken Autoren wären demnach zu rationalistisch, zu oberflächlich, zu glatt, sie blieben an der Oberfläche, fassten nicht in Worte, was die Menschen im Innersten beschäftigt, sondern entfremdeten sie von sich selbst und ihren tiefsten Seelenregungen. Auf der Suche nach Alternativen entdeckten Gelehrte und Dichter die raue Literatur des Nordens, die Gesänge der Barden und Skalden, die Lieder der Troubadoure und Minnesänger, die in ihrer Form zwar viel kantiger waren, doch gerade dadurch die Zerrissenheit und den inneren Zwiespalt des modernen Menschen viel besser ausdrücken konnten als die glatte lateinische Literatur. Mit der Entdeckung der reichen Tradition der Volksmärchen schien die Suche ein Ende zu nehmen. Die geschriebene mittelalterliche Literatur, wie das Nibelungenlied oder die Geschichten um Roland und den Gral, blieb schwer zugänglich und war nur für ein kleines Publikum von Kennern bestimmt.105 187

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Märchen gehörten allen. Man kann sie Kindern erzählen, noch bevor sie lesen können, und in ihrer unkomplizierten Schlichtheit können sowohl Intellektuelle als auch einfache Bauern sie als ihr geistiges Eigentum betrachten; es sind Geschichten des Volkes für das Volk. Herders Ideal, dass sich Deutschland wieder durch die eigenen Geschichten bilden sollte, damit das deutsche Volk wieder seine eigene innere Stimme hören könnte, schien damit in Erfüllung zu gehen. Und dies galt auf keinen Fall nur für Deutschland. Alle nationalen Bewegungen in Osteuropa, angefangen mit der in Serbien nach 1804, nährten sich mit fast vergessenen Volksgeschichten, die Märchenerzähler an den Kaminfeuern abgelegener Bergbauernhöfe erzählten.106 Es gibt nur ein großes Problem, das es modernen Lesern schwermacht, sich mit der romantischen Begeisterung für Volksliteratur zu identifizieren. Spätere Untersuchungen haben ergeben, dass die wiederentdeckten Geschichten selten besonders alt waren, fast nie aus dem Mittelalter stammten und gar nicht einmal so oft aus dem Mund eines alten Bauern aufgezeichnet wurden. Grimms Märchen bilden dafür das beste Beispiel. Die von den Gebrüdern so bewunderte Viehmännin war offenbar überhaupt keine ungebildete Bäuerin, sondern eine Frau aus dem Mittelstand, die Gattin des örtlichen Schneiders. Ebenso wenig stammte sie von den alten Chatten ab, sondern kam aus einer Hugenottenfamilie, die Ende des 17. Jahrhunderts wegen ihres Glaubens nach Deutschland ausgewandert war. Sie sprach vorzüglich Französisch, was man deutlich an den französischen Elementen in ihren Geschichten erkennt.107 Darüber hinaus steht mittlerweile fest, dass sowohl die Sammlungen der Gebrüder Grimm, als auch die von Arnim und Brentano in Des Knaben Wunderhorn und vieler anderer Gelehrter in Deutschland und anderswo, weitaus mehr auf schriftliches Material als auf mündliche Überlieferungen zurückgehen.108 Alles deutet darauf hin, dass Grimms Märchen und die anderen Sammlungen von Liedern und Balladen keineswegs Zeugnisse eines fernen Mittelalters sind, sondern einer zwar volksverbundenen, aber bestimmt nicht ungebildeten Kultur aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie Scott übrigens schon vermutet hatte.

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Also sind Jacob und Wilhelm Grimm nicht viel besser als James Macpherson? Oder muss die Frage anders gestellt werden: Wirft die „Entlarvung“ der Gebrüder Grimm nicht ein völlig anderes Licht auf Macphersons „Betrug“? In der neueren Literaturkritik wird viel milder über Macpherson und seinen Ossian geurteilt als in der traditionellen Literaturgeschichte, in der man glaubte, man könne die Primärquellen und die darauf basierende Sekundärliteratur scharf trennen. Weder Ossians Gesänge noch Grimms Märchen sind getreu wiedergegebene alte Geschichten; bei beiden spielte das konstruktive Element in der Sammlung eine vorherrschende Rolle. Aus alten Bruchstücken wurde ein neues Gebäude errichtet, das zwar mittelalterlich und authentisch aussah, tatsächlich aber nur die Vorstellungen widerspiegelte, die sich die modernen Bearbeiter vom Mittelalter machten.109 Macpherson bleibt eine umstrittene Figur, doch bei Jacob und Wilhelm Grimm steht fest, dass sie erstens in gutem Glauben gehandelt haben, zweitens, dass sie mit Kollegen wie den Gebrüdern Schlegel und Barthold Niebuhr zu den größten Philologen und Historikern ihrer Zeit zählten, und drittens, dass sie, ebenso wenig wie August Schlegel, fanatische deutsche Nationalisten waren. Dennoch ging mit den Gebrüdern Grimm und den anderen romantischen Sammlern von Volksliteratur die Phantasie derart durch, dass sie die Ergebnisse ihrer sehr präzise durchgeführten Forschungen zu mythischen Proportionen aufbauschen konnten. Schon an der Beschreibung von Kaiser, Papst, Ritter, Stadt und Zunft zeigt sich, dass es sich um reine Phantasie handelt, um Träume von einer einfachen Gemeinschaft, die wenig mit der komplexen Gesellschaft des Mittelalters zu tun hat. Andere zu blamieren und als Betrüger zu entlarven hat natürlich immer etwas Befriedigendes, doch es sagt uns wenig darüber, was sie bewegt hat. Und darum geht es hier: Was veranlasste die Romantiker, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen, sobald sie sich mit der mittelalterlichen Vergangenheit beschäftigten? Auf diese Frage ist keine eindeutige Antwort möglich, doch ein erster Ansatz dazu wäre vielleicht die Erklärung von Lionel Gossman, dass ein zentrales Ziel der romantischen Generation darin bestand, eine Kultur zu schaffen, die eine totale Einheit bildet, eine Kultur in der 189

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keine Bruchflächen existieren und niemand ausgeschlossen wird.110 Jede Spaltung sollte überwunden und alle Aspekte des Lebens in einem alles beherrschenden Gesamtbild zusammengefasst werden. Die Leidenschaft dafür, eine Einheit zu stiften und die Trennung zu überwinden, war bei den Romantikern wohl tatsächlich die große Triebfeder dafür, die mittelalterliche Vergangenheit zu studieren. Das geschah zum Teil dadurch, dass sie die Zerrissenheit ihrer Welt mit der verlorenen Einheit der mittelalterlichen Gesellschaft verglichen und zur Wiederherstellung eben dieser Einheit aufriefen, wobei das Mittelalter als Modell diente. Novalis und Friedrich Schlegel waren von der politischen Einheit fasziniert, die Europa im Mittelalter unter Führung der Kirche gebildet hatte. Joseph de Maistre spitzte das sogar noch weiter zu und schilderte das mittelalterliche Papsttum als einheitsstiftenden Faktor in einer Welt, in der von Natur aus jeder jedem nach dem Leben trachtet. Adam Müller bewunderte die christliche Ethik der Gegenseitigkeit, die im Mittelalter konkrete Gestalt angenommen hatte, auf dem Lande mit dem Feudalismus und in den Städten mit den Zünften. Auffallend an diesen Visionären ist, dass ihr Horizont noch von ganz Europa gebildet wurde. Das faszinierende am Mittelalter war ihrer Meinung nach, dass damals alle Völker Europas friedlich zusammenleben konnten, weil sie zur alles umfassenden christlichen Kirche gehörten. Für sie war die Reformation das dramatische Ereignis, das eine Entwicklung in Gang gesetzt hatte, deren trauriges Ergebnis erst in der aktuellen Zeitwende klar zu erkennen ist. Sie konnten Reformation und Revolution nicht getrennt sehen. Eine Genesung der Gesellschaft und eine Wiederherstellung der Zusammengehörigkeit wäre nur durch eine Rückkehr zur Welt vor der Bruchlinie möglich, die seit 1500 quer durch die Christenheit verlief. Eine ganz andere Strategie, die Trennung abzuwenden und zur Einheit aufzurufen, bestand darin, zu suggerieren, dass es zwischen dem Heute und der Vergangenheit gar keinen Bruch gab, dass Heute und Vergangenheit auch jetzt noch eng miteinander verbunden wären, und dass die Vergangenheit im Heute gegenwärtig sei, selbst wenn sie manchmal von einer übereilten Modernisierung bedroht werde. Jedem, der wie Scott und die Grimms den Bewohnern der fernen Rand190

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gebiete Europas sein Ohr schenkte, war klar, dass in den alten Geschichten die Vergangenheit im Heute lebendig ist. In dieser Theorie erschien die mittelalterliche Vergangenheit nicht als verlorene Welt, sondern als Kraftquelle der modernen Zeit, weil die Menschen damals authentisch und echt waren und darum im Frieden mit sich selbst lebten.111 Der moderne Mensch konnte sich seine mittelalterliche Vergangenheit bewusst machen, den reinen Ursprung entdecken, in dem alles scheinbar Auseinanderstrebende und Entgegengesetzte letztendlich zusammengehalten wird, und auf diese Weise erkennen, dass sich unter der heutigen Zerrissenheit eine ursprüngliche Einheit verbirgt. Diese Bewusstwerdung hatte zum Ziel, sowohl im Individuum als auch in der Gesellschaft einen Heil- und Integrationsprozess in Gang zu setzen. Von Anfang an ist das Verlangen danach der Antrieb zur Wiederentdeckung der mittelalterlichen Literatur gewesen. Seit Blair 1763 den Ossian mit Homer verglichen hatte, erklang immer wieder derselbe Refrain, demzufolge die Poesie des Nordens formal zwar nicht so vollkommen sei wie die klassische, dass sie jedoch gerade durch ihre Sprödigkeit die vielen im Menschen lebenden widersprüchlichen Gefühle und Leidenschaften besser ausdrücke, oder, wie Germaine de Staël es kurz und knapp sagte: In der antiken Literatur drehte sich alles nur um Ereignisse, in der modernen nur um Charakter. August Schlegel sprach von den unlösbaren Widersprüchen unserer Existenz, die nur in den mittelalterlichen Liedern und Gesängen in ihrer ganzen Unversöhnlichkeit ausgedrückt und dennoch zu einer Einheit verschmolzen wurden. Diesen Gedanken spann Victor Hugo im berühmten Vorwort zu seinem romantischen Drama Cromwell (1827) weiter, vielleicht die klassischste Formulierung der romantischen Bewunderung für die unvergleichliche Kraft der mittelalterlichen Literatur. Ebenso wie Schlegel ging Hugo davon aus, dass die Verkündung des Christentums den modernen Menschen zerrissen habe. Der Glaube lockte den Menschen aus der übersichtlichen Welt des Endlichen und Materiellen heraus und forderte ihn auf, nach dem Spirituellen, dem Unendlichen, dem Maßlosen zu suchen. Er erfüllte ihn mit einem Verlangen, das durch nichts gestillt werden konnte.112

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Mit dieser Melancholie konnte die antike Literatur nichts anfangen, sie vermochte nur das Schöne, Symmetrische, Perfekte auszudrücken, sie war eindimensional und monoton. Mit dem Christentum wurde das Leben viel komplizierter, viel unvollkommener, viel gebrochener. Darum brauchte man eine Literatur, die Schönes und Hässliches, Gut und Böse, Licht und Schatten gleichzeitig umfassen konnte, die das Groteske zugleich mit dem Erhabenen wiederzugeben vermochte. Und genau das geschah in der mittelalterlichen Literatur: Das Dämonische stand hier neben dem Göttlichen, das Komische neben dem Tragischen, Teufel und Hexen neben Engeln und Heiligen, la Belle verliebte sich in la Bête. Die mittelalterliche Kathedrale, in der Ungeheuer und Zwerge neben Königen und Kirchenvätern abgebildet sind, stand bei Hugo als Symbol für die einzigartige Macht der mittelalterlichen Literatur, in all ihrer Vielfalt das Leben selbst zu Worte kommen zu lassen.113 Obwohl die Gebrochenheit des Romantikers hier geschildert wurde als sei sie charakteristisch für das Individuum, verwies sie immer auch auf die gesellschaftliche und politische Spaltung der Welt um 1800. Noch dringender als das Individuum musste die Gesellschaft geheilt werden.114 Und dabei konnte die mittelalterliche Literatur helfen. Macphersons Ausgabe von Ossians Gedichten war ausdrücklich dazu gedacht, den geschlagenen Schotten nach der blutigen Niederlage 1746 in der Schlacht bei Culloden gegen die Engländer wieder Mut zu machen. Herders Suche nach deutschen Volksliedern stand von Anfang an in der Perspektive seines Verlangens, alle Deutschen zu einer selbstbewussten Nation zusammenzuschmieden, die ihre Teilung überwindet, indem sie den unterbrochenen Kontakt zu den ältesten Quellen ihrer Kultur wiederherstellt. Grimms Märchen konnten durch ihren bewusst gepflegten, einfachen Erzählstil zum Eigentum aller Deutschen werden, egal ob von hohem oder niederem Rang. Der größte Vorwurf, den Germaine de Staël der französischen Kultur ihrer Tage machte, war, dass der Klassizismus Frankreich gespalten hatte. Das antike Erbe trieb einen Keil zwischen Elite und Volk, der das Land geschwächt und sich selbst entfremdet hatte. Das Beispiel Deutschlands lehrte sie, dass nur eine Rückkehr zu den eigenen Quellen, zur Literatur über Ritterlichkeit und Wunder, in der Lage wäre, die 192

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geteilte französische Nation wieder mit sich selbst zu versöhnen. Die Romantiker waren fest davon überzeugt, dass eine Rückkehr zu den Quellen der eigenen Kultur sowie die Herstellung einer Kontinuität in der Geschichte der eigenen Vergangenheit der einzige Weg wäre, die gefährlichen politischen und sozialen Gegensätze ihrer Tage zu überwinden und neue Formen von Gemeinschaft zu schaffen.115 Dass dadurch gleichzeitig neue Bruchstellen entstanden und sich neue Abgründe auftaten, die noch gefährlicher werden konnten als alle alten, die sie überbrücken wollten, sahen die Romantiker nicht. Ist Europa im Mittelalter nun ein einiges christliches Land gewesen, wie es von Novalis geschildert wurde, oder eine bunte Palette von Völkern und Kulturen, wie Herder und die von ihm inspirierten romantischen Nationalisten es beschrieben? Oder traf vielleicht beides zugleich zu? Friedrich Schlegel bejahte Letzteres und beschrieb das Heilige Römische Reich als eine christliche Einheit und einen Staat, in dem viele Völker friedlich miteinander leben konnten, dank des deutschen Genies, Einheit und Eigenart miteinander zu verbinden. Auch sein Bruder August Wilhelm und alle Romantiker, die Germaine de Staël auf ihrem Landgut Coppet um sich geschart hatte, waren davon überzeugt, dass gerade die Anerkennung der Eigenart aller Völker und Kulturen die Gewalt und Uneinigkeit in Europa beenden könnte und zugleich die einzige Garantie für echte Freiheit wäre. Sie sahen noch keinen Widerspruch zwischen dem europäischen Kosmopolitismus, den sie von der Aufklärung geerbt hatten, und der für die Romantik typischen Suche nach den Wurzeln der eigenen Identität. Als sich in den folgenden Generationen das Konzept der Nation von einem kulturellen Sammelbegriff zum politischen Streitruf entwickelte, wurde jedoch rasch klar, dass europäische Einheit und nationale Eigenart zwei Dinge waren, die in einem angespannten Verhältnis zueinander standen. Wenn man die Eigenarten der Nationen kultivierte, musste das letztendlich auf Kosten des Wunsches nach einer europäischen Einheit gehen. Zur Ausbildung dieses Bewusstseins hat eine umfassende Rückbesinnung auf die mittelalterliche Vergangenheit entscheidend beigetragen. Sie hat geholfen, in den Nationen selbst Einheit zu stiften, erzeugte zugleich aber auch eine scharfe Trennung zwischen den Nationen. 193

Kapitel 4

Eigenart Das Wartburgfest

A

m 17. Oktober 1817 trafen über 500 Studenten im Hotel Rautenkranz am Marktplatz von Eisenach zu einer Versammlung zum Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig zusammen. Derartige Versammlungen waren ein Novum in Deutschland. Politische Kundgebungen wurden, sofern sie überhaupt als wünschenswert erachtet wurden, von der Obrigkeit organisiert, während die Initiative zu dieser Versammlung von den Studenten selbst ausging. Obwohl sie bei Karl August, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, die Erlaubnis dafür eingeholt hatten, wurde ihre Initiative in allen deutschen Hauptstädten mit Argusaugen beobachtet1. Das Misstrauen war nicht ganz unbegründet, denn die Absicht dieser einzigartigen Kundgebung bestand keineswegs nur in der Erinnerung an den Jahrestag der Niederlage Napoleons bei Leipzig am 18. Oktober vier Jahre zuvor, sondern sie sollte auch ein Appell an alle deutschen Regierungen sein, ihre Versprechen von einem neuen, ungeteilten deutschen Vaterland endlich wahrzumachen. Dass die Studenten vom alten deutschen Reich zu dieser Forderung inspiriert wurden, zeigte sich unter anderem darin, dass die meisten von ihnen Bärte und schulterlanges Haar sowie „altdeutsche Tracht“ nach dem Vorbild von Albrecht Dürers Selbstporträts trugen.2 Am nächsten Morgen um halb neun versammelten sich die Teilnehmer auf dem Marktplatz und zogen in einer feierlichen Prozession auf den Berg, auf dem sich die Ruinen jener Burg befanden, die die Stadt Eisenach seit Jahrhunderten überragte – der Wartburg. Die Entscheidung für diese Burgruine war sehr bewusst getroffen worden: Die Wartburg war ein Ort, an dem sich die deutsche Geschichte quasi an einem Punkt konzentrierte, denn hier hatte Luther der deutschen 195

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Sprache ihre endgültige Gestalt verliehen, indem er die Bibel ins Deutsche übersetzt hatte. In der Zurückgezogenheit seiner Zufluchtsstätte, die er mit der Verbannung des Apostels Johannes auf Patmos verglich, hatte Luther sich zu jenem Propheten entwickelt, der den Gläubigen die Vision von der neuen Freiheit der Christen verkündete.3 Schon 1802 war Friedrich Schlegel zu jenem denkwürdigen Ort gepilgert und damit den Studenten vorausgegangen. Er war durch die Überreste des Rittersaals gewandelt und hatte über die Zeit meditiert, in der sich dort der „Sängerkrieg“ unter den größten deutschen Dichtern des Mittelalters zugetragen hatte: Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide. Es rief ihm in bittere Erinnerung, „was die Deutschen früher waren, als ein Mann noch ein Vaterland hatte“.4 Für Schlegel war die Wartburg 1802 nur noch nostalgische Erinnerung an eine großartige, aber für immer verlorene Vergangenheit; die Studenten von 1817 dagegen entstammten einer Generation, die von der demütigenden Besatzung Deutschlands geprägt war. Nostalgie genügte ihnen nicht mehr – sie betrachteten die glorreiche Vergangenheit Deutschlands als Appell zum Handeln. Die Wartburg war das Symbol für die deutsche Sprache, für Vaterland und Freiheit, und all das wollten die Studenten Deutschland zurückgeben. In seiner Ansprache in den Ruinen des Rittersaals nannte der Studentenführer Heinrich Riemann die Versammlung ein Fest zur Wiedergeburt des freien Gedankens und der Wiederauferstehung des Vaterlands. Die deutsche Vergangenheit, hier greifbar anwesend, zeige, was Deutschland verloren habe. Doch Geschichte, so Riemann, dürfe niemals nur Erinnerung sein, Geschichte müsse Wirkung zeigen; das Bild der Vergangenheit müsse gepflegt werden, um Kraft daraus zu schöpfen „für die lebendige Tat in der Gegenwart“.5 Bei ihren weiteren Beratungen stellten die Studenten eine Reihe von Grundsätzen und Beschlüssen auf, in denen sie ihre Kommilitonen dazu aufriefen, die Macht der Fürsten zu beschneiden, die Freiheit der Meinungsäußerung zu fördern und sich vor allem mit ganzer Kraft für die Einheit der deutschen Länder einzusetzen: „Es gibt ein Deutschland, und es muss immer ein Deutschland sein und bleiben.“6 Bezeichnend für den Umgang mit der eigenen Vergangenheit war, dass diese Vision der Zukunft Deutsch196

Nation und Staat

lands mit einem Verweis auf das Verlorene legitimiert wurde: Die zukünftige Einheit sollte ein Ausdruck der Sehnsucht nach dem Kaiser und dem Reich sein, die in jeder deutschen Männerbrust wohne.7

Nation und Staat Das Fest auf der Wartburg erwies sich nicht als der Sturm auf die Bastille, den die deutschen Fürsten befürchtet hatten. Die Studenten strebten ebenso wenig wie ihre Herrscher eine Nachahmung der Katastrophen an, die Frankreich in den vergangenen 30 Jahren heimgesucht hatten, und blieben daher in ihren politischen Forderungen sehr gemäßigt. Das Fest symbolisierte allerdings eine fundamentale Veränderung im Umgang mit der Vergangenheit des eigenen Volkes, die sich infolge des französischen Expansionsdrangs in ganz Europa zu manifestieren begann. Im 18. Jahrhundert hatte der Begriff „Nation“ in erster Linie als kultureller Sammelbegriff fungiert; während der Französischen Revolution erhielt er eine politische Konnotation und wurde zu einem Aufruf zum Handeln. Ganz unpolitisch war der Appell an engagierte Bürger, eine Nation zu bilden, natürlich nie gewesen. Von den allerersten Anfängen im 18. Jahrhundert an schloss der Diskurs über Volk und Nation als die natürliche Einbettung jedes Menschenlebens und als tragende Kraft der Geschichte auch politische Wünsche mit ein. Die „Sprache des Vaterlands“ entstand in Kreisen, die glaubten, aufgrund ihres Reichtums, ihrer Kultur oder anderer Attribute einen Teil der Macht beanspruchen zu können, von den herrschenden Machthabern jedoch davon ausgeschlossen wurden.8 Indem sie „das Volk“ oder „die Nation“ als die erste und natürlichste Organisationsform der menschlichen Gesellschaft darstellten, konnten sich diese Ausgeschlossenen als Insider präsentieren, als rechtmäßige Teilhaber an der Macht oder sogar als die eigentlichen, aber nicht anerkannten Träger der Macht. Macphersons Versuch, anhand von Ossian zu zeigen, dass die schottische Kultur die ursprünglichste ganz Europas sei, hatte den ausdrücklichen Zweck, das durch den missglückten Aufstand von 1745 marginalisierte Schottland zurück ins 197

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Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und für die Schotten einen Platz im Commonwealth einzufordern. In Deutschland gehörte Herder zu den bedeutenden Sprechern eines aufkommenden Bildungsbürgertums, das die Einzigartigkeit der deutschen Nation betonte, um einerseits die Kultur der französisch geprägten Fürstenhöfe zu kritisieren und andererseits indirekt zu demonstrieren, dass sich die Machthaber durch ihre unkritische Bewunderung von allem Französischen von ihren Untertanen entfremdet hatten. Ihre verlorene politische Legitimierung konnten sie nur zurückgewinnen, indem sie das deutschsprechende Bürgertum günstig stimmten, das durchaus als repräsentativ für das ganze deutsche Volk gelten konnte. Dass es sich hier nicht um die Auslegungen späterer Historiker handelt, beweist die Tatsache, dass Germaine de Staëls Aufruf an das französische Volk, dem Beispiel Deutschlands zu folgen und zu den Wurzeln seiner eigenen Kultur zurückzukehren, unverzüglich von den Zensoren Napoleons unterdrückt wurde. Ihnen war die politische Brisanz dieses Aufrufs zu einer verjüngten Kultur zweifellos bewusst. Die Begriffe Wurzeln, Echtheit und Identität, die de Staël in ihrer Beschreibung Deutschlands verwendete, untergruben die universellen Machtansprüche eines entfesselten Tyrannen. Bei allen politischen Konnotationen, die der Verwendung des Begriffs Nation seit jeher anhafteten, führte dies nicht zu der Konsequenz, die im Hinblick auf die spätere Geschichte selbstverständlich erscheinen mag, dass jede Nation auch das Recht auf eine eigene politische Ausdrucksform, auf einen eigenen Staat gehabt hätte. Es gab Nationen und es gab Staaten und das waren zwei verschiedene Dinge. Weder Macpherson noch Herder wären jemals auf die Idee gekommen, Unabhängigkeit für Schottland oder die Einheit aller Deutschen zu fordern: Ihre Obsession galt der alten Kultur des Volkes, nicht seiner politischen Zukunft. Die Identifikation von Staat und Nation, die das Fundament des modernen Nationalismus werden sollte, war ein Schritt, der zum ersten Mal in Frankreich während der Revolution gegangen wurde. Sie diente dazu, alle französischen Bürger ideologisch, politisch und militärisch gegen die Feinde des neuen Regimes zu mobilisieren.9 Diese 198

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Politisierung des Begriffs Nation weckte in Frankreich unerwartete Kräfte. Sie verlieh dem französischen Staat eine neue Dynamik, wodurch das Land ganz Europa in seine Macht bringen konnte und es 20 Jahre dauerte, ehe diesem Expansionsdrang Einhalt geboten werden konnte. Kein Wunder, dass in allen Ländern Europas der französische Nationalismus gefürchtet wurde. Zugleich galt er jedoch als leuchtendes Beispiel politischer Umstrukturierung und als beispielhafte Antwort auf die Frage, wie nach dem Sturz des Ancien Régime wieder Menschen für neue gemeinschaftliche Ideale gewonnen, gesellschaftliche Kräfte erneut gebündelt und verhasste Herrscher gestürzt werden konnten. Sowohl in England als auch in den deutschen Ländern wurde im Laufe des langen Kampfes gegen das napoleonische Frankreich das Nationalgefühl immer stärker instrumentalisiert. Vor allem in Preußen wurde der Ruf nach der Einheit des deutschen Vaterlandes von den reformatorischen Kreisen um den Staatsmann Karl Freiherr vom Stein bewusst als Strategie gegen Napoleon eingesetzt.10 In Osteuropa waren es die Polen und die Serben, die sich als erste der Durchschlagskraft des politischen Nationalismus bedienten, um sich gegen Russland, Preußen und das osmanische Reich aufzulehnen. Die Politisierung des Begriffs Nation, zu deren wichtigsten Forderungen gehörte, dass Nation und Staat zusammenfallen sollten, rührte nicht aus einem erneuten Studium der Geschichte, veränderte aber die Geschichtsschreibung auf grundlegende Weise. Geschichte bedeutete bis dato die Überlieferung der Worte und Taten von Fürsten und Staaten, jetzt wurde sie zur Chronik des Schicksals eines Volkes. Der Nationalhistoriker musste zeigen, wie tief sein Volk in der Vergangenheit verwurzelt war, wie dieses Volk sein Wesen unversehrt über die langen Jahrhunderte der Prüfungen hinweggerettet hatte und wie es in der Gegenwart die Erfüllung seines tiefsten Strebens erreichen konnte. Diese Verschiebung des Gegenstands der Geschichtsschreibung vom Fürsten zum Volk veränderte den Blick auf sowohl die klassische als auch die mittelalterliche Vergangenheit. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wurde das Studium des klassischen Altertums praktisch mit dem Studium des Römischen Reiches gleichgesetzt. Dieses und seine Kaiser galten als leuchtendes Vorbild 199

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für alle modernen Fürsten und Staaten, als das Modell einer Ausgewogenheit zwischen Milde und Strenge, zwischen militärischer Expansion und Diplomatie, zwischen Einheit der Verwaltung und Vielfalt der Traditionen. Man braucht sich nur Gibbons lyrische Beschreibung des Roms des 2. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen (siehe Seite 115). In einer Zeit, in der der Ruf nach Nationenbildung durch ganz Europa hallte, konnte ein Imperium, das so viele Völker umfasste, unmöglich als Ideal für die Zukunft gelten. Eher war es ein Schreckensbild fremdländischer Tyrannei, so wie die französische, preußische, russische und osmanische, gegen die sich die Nationalisten damals auflehnten. Wer dennoch ein Modell für die Zukunft in der klassischen Geschichte suchte, und das erwies sich in ganz Europa trotz aller Kritik am klassischen Altertum als bleibendes Bedürfnis, musste das römische Vielvölkerreich vergessen und sich auf die Suche nach einer homogeneren Kultur begeben, an der man sich spiegeln konnte. Im Anschluss an die Leidenschaft für Homer im 18. Jahrhundert, der als erstes und leuchtendstes Beispiel des griechischen Genies galt, stürzten sich die Klassiker um 1800 auf Griechenland. Sie begannen, die griechische Geschichte als die der griechischen Nation zu beschreiben, die in der Blütezeit Athens und Spartas eine vollkommene Einheit von Sprache, Kultur und politischer Ausdrucksform erreicht habe, welche als beispielhaft für die zukünftige Entwicklung Europas gelten könne.11 Keine nationale Bewegung in Europa erhielt je ein größeres Echo als der Aufstand der Griechen gegen die Türken 1821. Während Shelley ausrief: „Wir sind alle Griechen“, versammelten sich Studenten aus ganz Europa, vor allem aber aus Deutschland, im Hafen von Marseille, um sich dem Kampf der noblen Nachfahren von Perikles und Plato anzuschließen.12 Dabei mündete zum ersten Mal eine idealisierte Vergangenheit in einen Appell zum Handeln. So hoch die Wellen der Emotionen in Bezug auf den griechischen Unabhängigkeitskampf auch schlugen: Es blieben abgeleitete Gefühle. Im Grunde ging es den jungen Nationalisten um die eigene Nation, um deren Vergangenheit und ihre politische Zukunft. Dann wandte sich der Blick vom Altertum zum Mittelalter. Dass der Ursprung aller europäischen Nationen mit Ausnahme Griechenlands – aber nicht Italiens 200

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– im Mittelalter lag, war nach den Studien von Percy, Herder, den Schlegels und Grimms, Madame de Staël und anderen literarischen Historikern zur allgemeinen Überzeugung geworden: Die Geschichte des Mittelalters galt als die Geschichte der jungen Völker und ihrem ersten und großartigsten Ausdruck in eigener Sprache und Literatur, vor allem, was die Deutschen betraf. Doch von nun an ging es zunehmend um die Frage, ob die mittelalterliche Vergangenheit auch ein Licht auf die politische Strukturierung der gegenwärtigen Nation werfen könne. In dieser Hinsicht gab es bei der Interpretation der mittelalterlichen Vergangenheit eklatante Unterschiede. Oft wird behauptet, der Unterschied hätte darin bestanden, dass Länder wie Frankreich und England, die sich im 18. und 19. Jahrhundert innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen zur Nation formten, eine ganz andere Beziehung zu ihrer mittelalterlichen Vergangenheit knüpften als die Deutschen oder die osteuropäischen Völker, die zwar ein immer stärkeres Bewusstsein zu entwickeln begannen, dass sie eine Nation waren, aber keinen Staat hatten, der zum Ausdruck dieses neuen Gefühls der Verbundenheit hätte werden können.13 Deutsche, polnische und serbische Historiker, so heißt es, mussten beweisen, dass ihr Volk tragisches Opfer der Launen des Schicksals geworden sei, wodurch es seinen mittelalterlichen Glanz verspielt hatte, dass aber nun die Zeit reif wäre für die Wiederherstellung der einstigen Größe. Westeuropäische Historiker dagegen konnten sich zurücklehnen und mit groben Pinselstrichen die Kontinuität und die Homogenität skizzieren, die ihre Nation von den ersten Anfängen an gekennzeichnet hatte. So einfach konnte die Trennlinie jedoch nicht gezogen werden. Es gab Deutsche im 19. Jahrhundert, etwa den Historiker Friedrich von Raumer, die überhaupt keinen Verfall seit dem Mittelalter sah, sondern die die historische Vielfalt ihres Landes priesen und weiter fortsetzen wollten. Auf der anderen Seite gab es viele Franzosen, die zutiefst über den historischen Bruch schockiert waren, den die Französische Revolution verursacht hatte, und die bis zum Äußersten gingen, um die Verwerfungen zu glätten. Die Trennungslinie verlief nicht zwischen den Bewohnern von Staatsnation und Kulturnation, sondern zwischen denjenigen, die eine Konsolidierung des Erreichten wollten und denje201

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nigen, die Veränderungen oder sogar eine Revolution anstrebten. Dies hatte Gibbon bereits bemerkt, als er über Schotten und Iren sagte: „Ein Volk, das unzufrieden über seine heutige Situation ist, klammert sich an jeden Traum seines ehemaligen oder zukünftigen Glanzes.“14 Wer zufrieden mit der modernen politischen Ordnung war, sprach über die Vollendung dessen, was im Mittelalter begonnen hatte; wer unzufrieden war, sprach über die Wiederherstellung dessen, was nach dem Mittelalter verloren gegangen war. Auf dem europäischen Festland waren überall Anhänger beider Perspektiven auf die mittelalterliche Vergangenheit zu finden, was darauf hinweist, wie uneins die europäischen Staaten im 19. Jahrhundert bezüglich ihrer politischen Zukunft waren. Nur in England bestand ein allgemeiner, über alle Parteien hinweg geteilter Glaube, die englische Freiheit sei Jahrhunderte alt und die Frucht einer langen, kontinuierlichen Entwicklung seit dem Beginn des Mittelalters. Was die Europäer gerade erst entdeckt hätten, sei schon seit Jahrhunderten im glücklichen Besitz der Engländer, so die feste Überzeugung, mit der Großbritannien gegen die französische revolutionäre Gewalt zu Felde zog.15

England: Patriotismus oder Nationalismus England hatte während der Glorious Revolution von 1688 seine definitive Gestalt erhalten, als Parlament und König zu dem historischen Vergleich gekommen waren, der seitdem das Fundament des britischen Staates bildet. Die jahrhundertealte Freiheit, die durch den Absolutismus der Stuart-Könige bedroht worden war, wurde in jenem Jahr zurückerobert. Das Parlament wurde in seiner alten Würde neu konstituiert und der protestantische Charakter der Nation durch den Ausschluss des katholischen Königs Jakob II. und seiner Nachfahren gesichert. Fortan konnte sich England auf dem stabilen Fundament, das 1688 gelegt worden war, in Ruhe weiterentwickeln – so das Bild, das englische Historiker seit dem 18. Jahrhundert gern von ihrer eigenen Geschichte zeichnen. In leuchtenden Farben beschreiben sie, wie das europäische Festland von Kriegen, Aufständen und Revolutionen 202

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zerrissen wurde, während England gleichmäßig auf dem Weg zu Wohlstand und Freiheit voranschritt, den es seit 1688, im Grunde aber schon seit dem Mittelalter und vielleicht sogar schon seit dem Römischen Reich eingeschlagen hatte.16 Schmerzliche Fragen zur eigenen Identität und deren politischer Gestaltung, die auf dem Festland für permanente Unruhe sorgten, brauchten sich die Bewohner Englands nicht zu stellen. Sie waren Bürger eines freien Landes, in dem die Wünsche des Volkes durch seine gewählten Vertreter Gehör fanden. Die Volksvertretung war nicht vollkommen; im 18. Jahrhundert war sie sogar äußerst defizitär, aber das waren Probleme, die mit einem kleinen Eingriff, wie etwa den Wahlrechtsreformen von 1832 und 1867, gelöst werden konnten. Der progressive Verlauf der englischen Geschichte wurde davon nicht wesentlich beeinflusst. Dieser Glaube an die selbstverständliche Kontinuität der englischen Geschichte bewog die englischen Historiker noch bis vor kurzer Zeit dazu, hartnäckig zu leugnen, dass es in England so etwas wie „Nationalismus“ gegeben habe. Sie assoziierten – nicht ganz zu Unrecht – Nationalismus mit Revolution und der Unterwerfung anderer Staaten, was für zahlreiche europäische Länder ja durchaus zutreffend war. Auch Diktaturen, die das Volk unterdrückten, waren die Folge. Der Freiheitskampf osteuropäischer Völker wie der Polen und Bulgaren stieß daher in England auf große Sympathie. Die Engländer selbst wollten jedoch mit all dem nichts zu tun haben, vor allem weil das nationalistische Streben in Europa für gewöhnlich mit unangenehmen Begleiterscheinungen wie Aufmärschen, landesweiten Protestkundgebungen und anderen lautstarken Proklamationen der eigenen Vortrefflichkeit einhergingen, die als geschmacklos und äußerst unenglisch betrachtet wurden.17 Die Engländer waren durchaus stolz auf ihr Land, aber in einer Art unterkühltem Patriotismus, der Respekt für andere, weniger glückliche Völker nicht ausschloss und der niemals zu solch aggressiven Auswüchsen führen sollte, wie sie sich vor allem in Deutschland und Italien immer stärker manifestierten.18 Der Nationalismus sei England erspart geblieben, so erklärten die Geschichtsschreiber, weil das Land seit ewigen Zeiten den Weg von Freiheit und bürgerlicher 203

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Verantwortlichkeit beschritten habe. Obschon unter Fachhistorikern bereits in den 1930er-Jahren fundamentale Kritik an dieser selbstherrlichen Sicht auf Englands Vergangenheit geäußert wurde, dauerte es bis in die 1980er-Jahre hinein, ehe die Debatte über die Entwicklung des Nationalismus auf den Britischen Inseln einsetzte.19 Diese Debatte dauert bis heute an, doch inzwischen steht zweifelsfrei fest, dass England in Europa keine Ausnahme bildete und dort genau wie in allen anderen europäischen Staaten eine lange und manchmal schmerzhafte Geschichte der modernen Nationsbildung stattgefunden hat. Die Deutschen wurden sich immer stärker der Tatsache bewusst, dass sie ein Volk waren und zu Unrecht über so viele Nationalstaaten verteilt lebten. Auf den Britischen Inseln war es umgekehrt. Seit 1707, als die Parlamente von Edinburgh und Westminster zusammengefügt wurden, existierte ein britischer Staat, der vier verschiedene Völker umfasste: Engländer, Schotten, Waliser und Iren. Die spannende Frage lautete, ob diese vier Völker gemeinsam eine moderne Nation bilden konnten oder ob sie sich auf Dauer in vier Nationalstaaten vereinzeln würden. Die Engländer werden das nicht gerne hören, aber es war dieselbe Frage, mit der sich zur selben Zeit Österreich, Russland und die Türkei auseinandersetzen mussten.20 Auch dort handelte es sich um Vielvölkerreiche, die, um zu überleben, einen neuen Zusammenhalt finden mussten, indem sie in ihren Völkern das Bewusstsein verankerten, dass diese Teil einer Nation werden müssten. Dass es diesen drei Reichen nicht gelungen ist – Großbritannien dagegen schon, mit Ausnahme Irlands –, beweist, dass das „Schmieden der Nation“ nicht selbstverständlich war, sondern große Anstrengungen und viel Kreativität erforderte.21 Die anfängliche Entwicklung des modernen Nationalbewusstseins führte auf den Britischen Inseln eher in Richtung Diversität als in Richtung Einheit. Früher als anderswo in Europa begannen die vier britischen Völker, ihre mittelalterlichen Wurzeln zu ergründen und sich ihres Ursprungs und ihrer Eigenart bewusst zu werden. Vor allem die Kontroverse rund um die „Entdeckung“ Ossians führte, neben einer neuen Wertschätzung für das Erbe des barbarischen Nordens, zu einem geschärften Bewusstsein der Unterschiede zwischen Schotten, 204

England: Patriotismus oder Nationalismus

Engländern und Iren. Dieser frühe Nationalismus wurde im Laufe der Zeit sogar in anderen Ländern Europas als Beispiel für die Entwicklung des Nationalbewusstseins zitiert. Herder galten die Gedichte Ossians und Percys Reliques of ancient poetry als hervorragende Beispiele, denen auch in Deutschland nachgestrebt werden sollte. Doch während in Deutschland die Entdeckung einer eigenen deutschen Kultur im Laufe der Zeit zu dem Ruf nach einem deutschen Nationalstaat führte, geschah dies in Großbritannien nicht. Die Engländer, Schotten und Waliser entwickelten durch das Studium ihrer mittelalterlichen Wurzeln zwar eine größere Liebe zu ihrer eigenen Sprache und mehr Gefühl für ihre kulturelle Eigenart, übersetzten dieses neue Gemeinschaftsgefühl aber nicht in die politische Forderung nach einem eigenen Staat. Sogar in Irland geschah dies erst nach der großen Hungersnot (1846–1848), als die katholischen Iren erkannten, dass sie im Vereinigten Königreich keine Chance haben würden.22 Die Politisierung des Nationalismus vollzog sich in Form eines britischen Nationalbewusstseins, das die vier konstituierenden Völker zu einem größeren Ganzen zusammenfasste, dessen Zentrum von der Monarchie und dem Parlament in Westminster gebildet wurde. Vor allem der über 100 Jahre dauernde Kampf gegen das anfangs katholische, später revolutionäre, aber immer despotischere Frankreich überbrückte die Gegensätze zwischen den konstituierenden Teilen Großbritanniens.23 Mit Hilfe verschiedener Elemente der mittelalterlichen Vergangenheit wurde im 18. Jahrhundert so etwas wie eine gemeinschaftliche britische Geschichte konstruiert, zwar mit starkem englischen Einschlag, aber doch so inklusiv, dass auch die drei anderen Völker sie als Teil ihrer Vergangenheit betrachten konnten. Damit wollte man beweisen, dass das englische Volk seit jeher eine bunt gemischte Gesellschaft gewesen war, dass es sich bei der englischen Nation um eine historische und keine ethnische Gemeinschaft handelte und – wobei hier doch wieder das ethnische Element hineinkommt – dass alle britischen Völker letztendlich einen gemeinschaftlichen Ursprung besaßen. In der Regel betonen nationalistische Historiker, ihr eigenes Volk sei durch die Jahrhunderte „frei von fremden Makeln“ geblieben. Dies war auch unter englischen Historikern nicht unüblich: Es gab eine star205

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ke traditionalistische Strömung, die besagte, dass die modernen Engländer die direkten Nachfahren der Angelsachsen seien, eine Hypothese, die später, im 19. Jahrhundert, erneut aufgegriffen wurde. Daneben besagte eine andere Version der englischen Geschichtsschreibung, das typisch Englische bestünde darin, dass es der Nation stets gelungen sei, Neuankömmlinge zu integrieren und das Positive zu übernehmen, das diese mitbrachten. Francis Bacon schrieb etwa über die englischen Gesetze, sie seien ebenso vielschichtig wie die englische Sprache, weil sie auf altbritischen, sächsischen, dänischen und normannischen Sitten beruhten und darin läge der Reichtum der englischen Jurisdiktion.24 Wenn also England im Mittelalter in der Lage gewesen sei, aus vielen Elementen ein Ganzes zusammenzufügen, müsse es auch in der Gegenwart wieder imstande sein, aus vier Völkern eine britische Nation zu formen. Die zugrunde liegende Botschaft, die Engländer bildeten eine offene Nation, wurde zusätzlich dadurch untermauert, dass englische Historiker die typischen Merkmale ihrer Nation üblicherweise nicht mit ethnischen, sondern politischen, institutionellen und historischen Begriffen umschrieben. Die sprichwörtliche englische Freiheitsliebe sei keine den Engländern angeborene Eigenschaft, sondern manifestiere sich konkret in der Existenz des Parlaments und in der Hartnäckigkeit, mit der die Engländer dieses im Laufe der Jahrhunderte gegen die normannischen Eroberer und später die katholischen Stuarts verteidigt hätten. Ein jeder, der sich an diesem historischen Kampf beteiligt hätte, könne als freiheitsliebender Engländer gelten. So formuliert bedeutete dies jedoch, dass die übrigen Briten sich mit der Geschichte Englands identifizieren mussten, was Widerstand hätte hervorrufen können. Deshalb war für das Entstehen eines britischen Nationalbewusstseins der historische Beweis nicht ganz unwichtig, dass alle Briten letztendlich von denselben Vorfahren abstammten, nämlich den Goten, und daher doch eine gemeinschaftliche ethnische Wurzel besaßen. Die Theorie, alle modernen europäischen Völker stammten von den Goten ab, war dabei weder neu noch exklusiv britisch. Bereits im 17. Jahrhundert war überall in Nordeuropa der Gedanke weit verbreitet, die nördlichen Völker stammten trotz ihrer zahl206

England: Patriotismus oder Nationalismus

reichen Unterschiede alle von den Goten ab und besäßen von daher auch Gemeinsamkeiten. Den Goten wiederum schrieb man allgemein eine große Freiheitsliebe zu, im Gegensatz zu ihren Feinden, den Römern, die ihren Staat auf Sklaverei und Tyrannei aufgebaut hätten. Als Quellen für diese Theorie zitierte man die Germania von Tacitus und die von Bischof Jordanes verfasste, 551 abgeschlossene Geschichte der Goten. Beide Autoren hatten ihre ganz eigenen Gründe, römischen Sittenverfall und barbarische Freiheitsliebe einander gegenüberzustellen. Zwar entwickelten sich endlose gelehrte Diskussion über die Frage, welche Völker gotischen Ursprungs seien und welche nicht, doch letztendlich lief es darauf hinaus, dass „gotisch“ als gleichbedeutend mit „nicht-römisch“ betrachtet wurde. Dadurch schürte man die Überzeugung, sowohl keltische als auch germanische Völker besäßen eine gemeinschaftliche gotische Abstammung.25 Erst Ende des 18. Jahrhunderts begann man, Kelten und Germanen ansatzweise voneinander zu unterscheiden. Der gemeinsame Ursprung bedeutete jedoch zugleich – und das war der entscheidende Punkt –, dass alle Völker auf den Britischen Inseln aufgrund ihrer Wurzeln durch dieselbe gotische Leidenschaft für Einfachheit und Freiheit geeint wurden. Alle übrigen Unterschiede waren im Vergleich dazu nachrangig.26 Der Mythos der gotischen Abstammung beinhaltete jedoch zugleich, dass es zwischen den Briten und den Kontinentalvölkern eine grundlegende Gemeinsamkeit geben musste; jedenfalls schrieb man Franzosen, Deutschen und Spaniern ebenfalls gotische Vorfahren zu. Diese Völker hätten allerdings, so der Tenor der britischen Geschichte nach Paul de Rapin-Thoyras, einem Hugenotten aus dem 18. Jahrhundert, ihre Freiheit sämtlich verspielt.27 Der Tory-Politiker Bolingbroke vertrat die Ansicht, Frankreich hätte seine gotische Freiheit bereits unter der Herrschaft des merowingischen Königs Chlodwig verloren, der seinen Staat nach dem Vorbild spätrömischer Modelle strukturiert hatte. Dadurch hätte das Volk schon damals keinerlei Mitspracherecht an der Regierung besessen. In den darauffolgenden Jahrhunderten hätte sich die Situation noch verschlimmert: Die Franzosen seien entweder von ihren Königen oder ihren Baronen tyrannisiert worden, bis Ludwig XI. schließlich im 15. Jahrhundert eine absolute Monarchie grün207

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dete, die jede Form von Freiheit, welche in Frankreich noch bestanden haben mochte, für immer zunichtegemacht habe. Die Entwicklung der anderen kontinentalen Völker sei ebenso tragisch verlaufen, und man brauchte kein Unheilsprophet zu sein, um vorherzusagen, dass das gleiche Schicksal auch die Britischen Inseln treffen könne.28 In dieser Version der Geschichtsschreibung ragte Britannien als letzte Bastion einer jahrhundertealten gotischen Freiheit heraus, einer Bastion, die von allen keltischen und germanischen Goten gegen die drohende Tyrannei der kontinentalen Staaten, in erster Linie Frankreich, verteidigt werden müsse. Den Historikern gelang es sogar, die Geschichte der britischen Freiheit mit der des englischen Parlaments zu verknüpfen. Der Kampf gegen die Stuarts war, wie bereits gesagt, mit dem Mythos legitimiert worden, dass es das englische Parlament schon zu allen Zeiten gegeben hätte. Doch bereits im Laufe des 17. Jahrhunderts war das Bewusstsein gewachsen, dass diese Theorie barer Unsinn war und damit die Idee der Freiheit schwächte. Für renommierte moderne Historiker des angelsächsischen Englands hatte das Parlament ganz klar einen konkreten Beginn und zwar im Witenagemot, dem Rat der freien Männer, der die angelsächsischen Könige in Staatsangelegenheiten unterstützte. Dies bedeutete zugleich, dass das Parlament ursprünglich eine englische Institution war, denn die Angelsachsen galten als Vorväter der Engländer, nicht aber der Schotten und Iren. Wer sich auf die Goten berief, konnte auch behaupten, im englischen Parlament hätte sich etwas viel Umfassenderes manifestiert, nämlich die gemeinsame gotische Freiheit, sodass auch andere britische Völker dieses Parlament als einen Teil der Geschichte ihrer Freiheit betrachten konnten, obwohl sie nicht an seinem Ursprung beteiligt gewesen waren. Ein gutes Beispiel für dieses Durcheinander bietet James Macpherson, der in seiner Einführung zur Ossian-Ausgabe den schottisch-keltischen Charakter seines Helden betont und die Kelten von den Germanen unterscheidet, später jedoch behauptet, Kelten und Germanen hätten sich nicht unterschieden.29 Die Geschichte des englischen Parlaments wurde zur Geschichte Großbritanniens und dessen Kampf für die Freiheit. Nichts symboli208

David Hume: der Zufall in der Geschichte

sierte die zähe Freiheitsliebe der Briten besser, als die lange, ungebrochene Kontinuität des englischen, jetzt britischen Parlaments. Die Geschichtsschreibung auf den Britischen Inseln hat sich von dem historischen Mythos, der im 17. Jahrhundert durch das Ringen zwischen König und Parlament entstanden war, auch im 18. und 19. Jahrhundert nicht befreien können. Wer daran zweifelte, wer Brüche und Zufall sah anstatt Kontinuität und Zwangsläufigkeit, wurde mundtot gemacht. Ein schlagender Beweis dafür ist die History of England von David Hume.

David Hume: der Zufall in der Geschichte 1766 bemerkte ein englisches Parlamentsmitglied während einer Debatte im Unterhaus, Geschichte sei zu wichtig, um sie den Historikern zu überlassen.30 Ob er damit auf Humes History anspielte, ist nicht überliefert, aber das Beispiel beweist, dass auch nach der Glorious Revolution von 1688 die englische Öffentlichkeit nicht etwa objektive Wissenschaftlichkeit von ihren Historikern verlangte. Ob dies Humes Absicht war, als er 1754 den ersten Teil seines Geschichtswerkes veröffentlichte, ist die Frage; fest steht jedoch, dass er die Ereignisse des 17. Jahrhunderts mit einer gewissen Distanz behandeln wollte. Mit anderen schottischen Gelehrten teilte Hume die Überzeugung, jede Kultur mache eine Entwicklung durch: Von einer primitiven Gesellschaft aus Jägern und Sammlern zu einer sozial stark differenzierten und komplizierten kommerziellen Gesellschaft; eine Entwicklung, die zwar progressiv verlaufe, bei der jedoch jedes Stadium einen ganz eigenen Charakter aufweise. Dieses Modell wandte Hume auf die englische Geschichte an und fegte damit auf einen Streich sämtliche historischen Argumente für den Aufstand gegen die Stuarts vom Tisch. Er zeigte, dass der Kampf des englischen Bürgertums im 17. Jahrhundert für Freiheit und Mitsprache an der Regierung nur möglich war und erfolgreich sein konnte, weil sich das Land damals in der Entwicklung zu einer kommerziellen Gesellschaft befand. Die bürgerliche Freiheit, wie sie 1689 in der 209

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Declaration of Rights festgeschrieben worden war, war etwas vollkommen Neues, für das es keine historischen Beispiele gab. Eine derartige Freiheit wäre in der barbarischen Agrargesellschaft Englands im Mittelalter nicht möglich gewesen.31 Als historischen Präzedenzfall genommen, hatten die Stuart-Könige gewiss das Recht auf ihrer Seite. Auf der Basis wissenschaftlicher Argumente war Hume mit den alten Propagandisten des fürstlichen Absolutismus einer Meinung: Das Parlament in seiner damaligen Form stammte frühestens aus dem 13. Jahrhundert und das Unterhaus hatte auch danach noch keine in irgendeiner Form bedeutende Rolle gespielt. England war bis ins 17. Jahrhundert hinein stets ein Land gewesen, in der die Könige die Herrschaft besaßen und das Volk nicht mehr Freiheit genossen hatte als die Untertanen des türkischen Reichs.32 Hume muss gewusst haben, dass er seine Landsleute zutiefst in ihrer freiheitsliebenden Seele kränkte, indem er ihre Vorfahren mit den Türken verglich. Dennoch beklagte er sich noch Jahre später darüber, dass sein Buch so wenig Resonanz gefunden hatte.33 Dies hielt ihn jedoch keineswegs davon ab, in den darauffolgenden Buchausgaben seine Argumente zu wiederholen und dadurch zu bekräftigen, dass er zu den ersten Anfängen der Geschichte Englands zurückging. 1759 erschien die Geschichte des 16. Jahrhunderts und 1762 die Geschichte des Mittelalters in zwei Teilen. Hume betrachtete das Mittelalter mit der gleichen Mischung aus Abscheu und widerwilliger Bewunderung wie seine aufgeklärten Zeitgenossen. Als er am Ende seines Überblicks der mittelalterlichen Geschichte schrieb, die barbarischen Jahrhunderte seien nun vorbei und die „Morgenröte der Kultur und Wissenschaft“ sei angebrochen, die „unsere Aufmerksamkeit viel mehr verdient“ habe, war dies in erster Linie ein Seitenhieb gegen das Mittelalter in der besten humanistischen und aufgeklärten Tradition, aber auch die nüchterne Feststellung, dass sich England um 1500 im Übergang von der Agrargesellschaft zur kommerziellen Gesellschaft befand.34 Humes Beschreibung von England im Mittelalter basierte auf seiner Auffassung, eine Agrargesellschaft kenne nur zwei Klassen: Landeigentümer und Pächter, Adel und Bauern. Die Bauern wüssten nicht, 210

David Hume: der Zufall in der Geschichte

was Freiheit bedeutet, weil sie all ihre Energie zum Überleben bräuchten; der Adel genösse entweder eine Art Freiheit, die mehr der Anarchie ähnlich käme, oder werde von einer tyrannischen Fürstenregierung unterdrückt.35 Die Ordnung in der Agrargesellschaft beruhe auf Gewalt und Unterdrückung. Deswegen sei Freiheit in einer derartigen Gesellschaft unmöglich, denn Freiheit kann laut Hume nur dort existieren, wo die gesellschaftliche Ordnung nicht von Gewalt, sondern mit Hilfe des Rechts gewahrt wird.36 Die große Frage bezüglich der mittelalterlichen Geschichte Englands lautet bei Hume nicht, ob damals die spätere Freiheit des Landes erkämpft wurde – die Antwort lautet nein –, sondern ob es dem Land im Mittelalter gelungen sei, einen Rechtsstaat zu bilden. Im frühen Mittelalter war das jedenfalls nicht der Fall. Die Angelsachsen, die nach dem Ende der römischen Herrschaft in England eindrangen, gehörten zu den nördlichen, barbarischen Völkern, die in einem Zustand der Bindungslosigkeit lebten und keinerlei Herrschaft duldeten. Sogar, als sich in England Königreiche zu bilden begannen, führte das nicht zu einer besseren Regierung, denn die Könige blieben der Spielball einer kleinen Elite von Großgrundbesitzern, Bischöfen und Äbten, die sich im Königlichen Rat (Curia Regis) vereinten. Nichtadelige, freie Männer waren darin nicht vertreten und deshalb ist es unsinnig, dieses Verwaltungsorgan als Wurzel des späteren Parlaments zu betrachten. Das Recht des Stärkeren regierte, das Volk wurde unterdrückt. Was in den Quellen „Freiheit“ genannt wird, ist de facto ein anderes Wort für adelige Willkür. Aus der Erforschung der angelsächsischen Zeit geht hervor, dass alles Gerede über Freiheit Unsinn ist, solange es keine starke Zentralregierung gibt, die imstande ist, dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Bürgerliche Freiheit könne nur auf dem Fundament eines starken Staates gedeihen, eine Überzeugung, die Hume mit Voltaire teilte.37 Und eine solche starke Regierung erhielt England durch einen rein historischen Zufall mit Wilhelm dem Eroberer. Die Besatzung Englands durch Herzog Wilhelm II. der Normandie im Jahre 1066 wurde in der englischen Geschichtsschreibung schon seit dem 16. Jahrhundert als der Beginn einer tyrannischen Regierung beschrieben. Trotz 211

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des „Norman Yoke“ (des normannischen Jochs) gelang es Wilhelm und seinen Nachfolgern jedoch nie, den alten angelsächsischen Freiheitssinn zu unterdrücken. Das sture englische Volk klammerte sich an seine alten Freiheiten. Die normannischen Fürsten mussten nachgeben, die freie Rechtsprechung wiederherstellen und die Repräsentanten des Bürgertums wieder an der Regierung beteiligen. In der Magna Carta (1215) wurde für alle Ewigkeit festgelegt, dass der König unter dem Gesetz stand und seine Macht durch die Vertreter des Volkes eingeschränkt wurde, wie es auch in angelsächsischen Zeiten gewesen war.38 Diese Überlieferung wischte Hume kurzerhand vom Tisch. Die Regierung Wilhelms des Eroberers und seiner Nachfolger sei so gewalttätig gewesen, dass von der angelsächsischen Vergangenheit nichts übrig geblieben sei: „Es wäre schwierig, in der ganzen Geschichte eine Revolution nachzuweisen, die noch gewalttätiger gewesen wäre oder mit einer noch vollständigeren Unterwerfung der ursprünglichen Bevölkerung einher gegangen sei.“39 Diese Worte stammen aus der Zeit vor der Französischen Revolution. Doch bei allem Elend war das große Verdienst dieser Schreckensherrschaft, dass es Wilhelm und seinen Nachfolgern gelang, der adeligen Anarchie, wie sie unter den Angelsachsen geherrscht hatte, ein Ende zu bereiten. Die Disziplinierung des Adels verlief jedoch nicht reibungslos. Die Könige hatten den Vorteil, dass sich die normannischen Edelleute in einer feindlichen Umgebung nur halten konnten, indem sie sich an den König klammerten, wodurch eine erste Zentralisierung der Regierung möglich wurde. Sobald jedoch deutlich wurde, dass die Besatzung ein Erfolg war und man vom englischen Volk nichts mehr zu befürchten hatte, meldeten die Barone erneut Ansprüche an. Der Streit zwischen Adel und König flammte wieder auf und mündete in die Verfassung der Magna Carta. Für Hume bedeutete die Magna Carta jedoch nicht die große Carta der Freiheit, sondern ein feudales Dokument, das im Kontext eines Agrarstaates das Verhältnis zwischen den beiden einzigen Mächten regelte, die es damals gab, nämlich König und Adel.40 Erst Ende des 13. Jahrhunderts schuf König Eduard I. ein Modellparlament, dem nicht nur weltliche und geistliche Würdenträger, son212

David Hume: der Zufall in der Geschichte

dern ab 1295 auch Abgeordnete aus den Städten und Grafschaften angehörten. Indem er der Versammlung das Steuerbewilligungsrecht zuerkannte, sicherte er sich dringend benötigte Einnahmen für die Staatskasse. Hume betrachtete, ebenso wie die Royalisten des 17. Jahrhunderts, diesen Entwicklungsschritt als den historischen Ursprung des Unterhauses. Mit den Ratsversammlungen der germanischen Zeit hatte das neu gegründete Gremium jedoch nichts zu tun, außerdem ging es aus einer Initiative des Königs hervor und bildete ein Instrument seiner Macht. Auch im späteren Mittelalter war das Ringen um die Macht stets eines zwischen König und Adel; die Commons blieben nichts weiter als Zuschauer bei einem Kampf, der sich über ihren Köpfen abspielte. Erst die Tudors bereiteten dem ein Ende, indem sie die Macht des Adels brachen und eine starke Monarchie gründeten. Außerdem sorgten sie dafür, dass das Recht in England endgültig über die Macht triumphierte. Nun, im 17. Jahrhundert, war das Land reif, über seine Freiheit nachzudenken.41 Hume beabsichtigte mit seiner Darstellung des mittelalterlichen Englands, seinen Zeitgenossen deutlich zu machen, wie gut das Land zu ihrer Zeit regiert wurde, und dass dieser glückliche Ausgang das Resultat reinen Zufalls war und nicht etwa eine Frage des Auserwähltseins oder der Vorherbestimmung.42 Indem er das im mittelalterlichen England herrschende Chaos schilderte, versuchte Hume seine Leser davon zu überzeugen, dass die Basis aller Freiheit eine starke Regierung sei, die sich Gerechtigkeit und Schutz der Bürger auf die Fahnen geschrieben hatte.43 Die Geschichtsauslegung der parlamentarischen Partei der Whigs war einseitig, weil sie nur von Freiheit sprach. Die Tories waren jedoch nicht besser, denn sie konzentrierten sich voll auf die Autorität des Königs. Humes Geschichte Englands zeigte, dass beide Parteien einander brauchten. Die angelsächsische Vergangenheit bewies, dass Freiheit ohne Autorität in Anarchie ausartete; die normannische Geschichte zeigte, dass Autorität ohne Freiheit in Tyrannei mündete. Indem er herausstellte, dass für eine wahrhaft legitime Regierung das eine nicht ohne das andere existieren konnte, glaubte Hume, einen Beitrag zur Versöhnung der zerstrittenen Parteien Englands liefern zu können. 213

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Das Resultat war jedoch, dass sämtliche Parteien von links bis rechts über Hume herfielen. Kein einziger aufrechter Engländer konnte akzeptieren, dass etwas so Ehrwürdiges wie die englische Konstitution eine so wirre Vorgeschichte haben sollte, in der alles auch ganz anders hätte ausgehen können. Für den wahren Engländer standen drei Dinge fest: Es gab keine Brüche in der englischen Geschichte, das moderne und das alte England standen nicht im Kontrast zueinander, und im Lauf der Jahrhunderte hatte sich nichts Wesentliches verändert, nicht einmal durch die normannische Besatzung. Wer dies anzweifelte, untergrub das Fundament, auf dem der Staat errichtet war. Darüber waren sich alle Parteien einig, wie sehr sie sich auch ansonsten in ihren Ansichten über das richtige Verhältnis zwischen König und Parlament unterscheiden mochten. Und so geschah es, dass Humes History, obwohl sie ein großer Erfolg wurde und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein mehrfach neu aufgelegt wurde, in England nie akzeptiert wurde. In den 100 Jahren nach dem Erscheinen des Werks beschäftigte sich die gesamte Geschichtsschreibung über die englische Verfassung damit, zu beweisen, warum sich Hume geirrt hatte.44 Das war jedoch gar nicht so einfach, denn in dem Maße, wie das Wissen über die Vergangenheit wuchs, konnte die Behauptung, dass sich seit den angelsächsischen Zeiten bis zur Gegenwart im Grunde nichts Wesentliches im englischen Staatssystem verändert hatte, nicht länger aufrechterhalten werden. Es schien, als müssten sich englische Historiker zwischen Wissenschaft und Mythos entscheiden. Als Wissenschaftler mussten sie zugeben, dass Geschichte Veränderung bedeutete, als treue Bürger mussten sie verteidigen, dass die Wurzeln der englischen Freiheit bis tief ins Mittelalter reichten. Dies war das Dilemma, mit dem englische Historiker zu kämpfen hatten, bis Edmund Burke eine Lösung fand, indem er zeigte, dass Kontinuität und Veränderung sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschlossen.

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Edmund Burke: das Erbe der Vorväter

Edmund Burke: das Erbe der Vorväter Es gab radikale Kreise in England, die die Revolution in Frankreich anfangs freudig begrüßten. Die neue Nationalversammlung in Paris war genau die Art von Parlament, die diese Radikalen sich auch in Westminster wünschten, anstelle des Herrenclubs im Unterhaus, in das mächtige Aristokraten ihre Schachfiguren entsandten – am liebsten aus der eigenen Familie. Stattdessen wünschten sie sich eine Versammlung weiser Männer, die vom ganzen Volk gewählt worden war und es deshalb getreu repräsentierte. Doch schon bald schlug die Stimmung um. Der französische Fuchs schien zwar sein Fell verloren zu haben, aber nicht seine Gerissenheit. Das neue Frankreich war nun nicht mehr absolutistisch und katholisch, aber noch immer genauso aggressiv und auf Expansion gerichtet wie zuvor. Und wie schon seit der Zeit Ludwigs XIV. fiel Großbritannien die Aufgabe zu, den französischen Imperialismus einzudämmen und das politische Machtgleichgewicht auf dem europäischen Kontinent wiederherzustellen. Die Französische Revolution regte die Briten nicht zu Erneuerung und Experimenten an, sondern zur Verstärkung des Selbstbildes von ihrem Land als letzter Bastion der wahren Freiheit, die nun der französischen revolutionären Gewalt entgegentreten musste, welche Europa überschwemmte. In einem derartigen Kampf war es lebenswichtig für die Moral, zu zeigen, dass nur in England seit uralten Zeiten wahre Freiheit existiert hatte, dass diese Freiheit trotz aller Bedrohungen konstant gewachsen war und dass daher nur die Engländer imstande waren, diese jüngste tyrannische Bedrohung abzuwenden, genau wie sie sich damals gegen die französischen Normannen und die katholischen Stuarts zur Wehr gesetzt hatten.45 Edmund Burke erkannte als einer der Ersten, dass der Aufstand gegen den König in Frankreich zu der radikalsten Revolution führen konnte, die Europa jemals erlebt hatte. Im Herbst 1790 publizierte er seine Reflections on the Revolution in France, ein meisterhaftes Pamphlet, das dennoch bei seinem Erscheinen nicht besonders viel Aufmerksamkeit erhielt. Erst einige Jahren später, als deutlich wurde, wie geradezu unheimlich treffsicher Burke vorhergesagt hatte, auf welche 215

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Schrecken die Revolution hinauslaufen würde, wurde Burke zur einflussreichen Inspiration für jeden in Europa, der sich gegen Frankreich und seine Revolution auflehnte. Schon aus der Besprechung seiner Betrachtungen über das Ritterideal ging hervor, dass Burkes Menschenbild zutiefst pessimistisch war: Menschen seien von Natur aus ungleich. Sie unterschieden sich unwiderruflich bezüglich Macht, Ansehen, Reichtum und Talent. Die wahnsinnige Idee, die sich jetzt in Frankreich verbreitete, dass alle Menschen gleich seien, sei lächerlich und gefährlich, nichts als ein „ungeheuerliches Hirngespinst“, das zu „falschen Ideen und eitler Hoffnung“ führen müsse. Daher erachtete es Burke auch als lebensgefährlich, allzu leichtfertig über Freiheit zu sprechen, als könne man die Menschen ohne Weiteres sich selbst überlassen. So etwas ende damit, dass die Türen der Gefängnisse und Irrenhäuser geöffnet würden. Freiheit ohne Verpflichtungen schlage um in Anarchie, in „höchste moralische Entgleisungen und empörenden Unglauben in Theorie und Praxis“, wie die Geschehnisse in Frankreich nur allzu deutlich bewiesen.46 Wahre Freiheit könne nur in einer Gesellschaft existieren, in der Menschen konkret an ein Netzwerk von Konventionen, Traditionen und Institutionen gebunden seien, die sich im Laufe der Jahrhunderte bewährt hätten, die wohldurchdacht seien und dadurch das einzige feste Fundament für eine ausgeglichene und harmonische Staatsregierung bilden könnten. Bewährte Traditionen seien eine viel bessere Basis für die Freiheit als abstrakte Erklärungen über die Menschenrechte. Daher könne echte Freiheit nur im respektvollen Umgang mit der eigenen Vergangenheit liegen: „Wenn wir stets handelten, als stünden wir unseren Vorvätern gegenüber, dann würde der Geist der Freiheit, der an sich zu Anarchie und Exzessen führt, durch respektgebietenden Ernst gemäßigt.“ Mit diesem gravitätischen Satz bestätigte Burke den Glauben seiner Landsleute – Hume einmal ausgenommen –, die englische Freiheit stamme aus einer fernen Vergangenheit und würde von Generation zu Generation überliefert. Eines sagte Burke jedoch nicht, nämlich dass die Engländer dasselbe tun müssten wie ihre Vorväter. Er sagte ausdrücklich, sie müssten handeln, als stünden sie unter Beobachtung ih216

Edmund Burke: das Erbe der Vorväter

rer Ahnen und wiederholte mehrmals: „Wir wollen alles, was wir besitzen, als ein Erbe unserer Vorväter betrachten.“ Die Engländer müssten „ihre heiligsten Rechte und Privilegien als ein Vermächtnis ansehen“. Er sagte also nicht: Die englische Freiheit ist ein Erbe der Vergangenheit, sondern die Engländer sollten ihre Freiheit als ein Erbe der Vergangenheit betrachten. Dies ist ein entscheidender Unterschied, wie aus Humes Erörterung der traditionellen Theorie hervorgeht, das Parlament habe seit jeher existiert. Er zitierte dabei ausdrücklich Edward Coke, den womöglich lautstärksten Vertreter dieser Theorie. Burke hielt es für sehr wohl vertretbar, dass Coke mit seinem Argument Recht hatte, die englische Freiheit in der Declaration of Rights, in den Artikeln der Magna Carta, im angelsächsischen Witenagemot und anderen mehr sei immer dieselbe gewesen. Das eigentlich Interessante an Coke und der parlamentarischen Partei ist jedoch nicht die Frage, ob sie Recht hatten oder nicht, sondern die Tatsache, dass sie die Vergangenheit ihres Landes als einen unverzichtbaren Teil der Gegenwart und der Zukunft betrachteten: „Von der Magna Carta bis zur Declaration of Rights hat unsere Staatsform stets die Politik verfolgt, unsere Freiheiten zu fordern und durchzusetzen als ein unveräußerliches Erbe, das uns von unseren Vorvätern überliefert wurde und das wir an unsere Nachfahren weitergeben müssen.“47 Für Coke und seine Zeitgenossen war Kontinuität in der Geschichte der englischen Freiheit nur möglich, wenn der Historiker tatsächlich beweisen konnte, dass sich in der Vergangenheit an dieser Freiheit niemals etwas geändert hatte. Für Burke dagegen lag die Kontinuität zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit in der Art und Weise, in der die heutige Generation mit der Vergangenheit umgeht: Sie besteht im Willen der Lebenden, die Autorität der Toten zu respektieren und an die nächste Generation weiterzugeben. In einer derartigen Auffassung von Kontinuität ist Veränderung sehr wohl möglich. Burke gab ohne Weiteres zu, dass die englische Konstitution verbessert werden könne. Sie sei kein totes Gewicht, sondern ein lebendiger Organismus, „ein unvergänglicher Körper, bestehend aus vergänglichen Teilen“. Die Konstitution sei ständig in der Entwicklung begriffen, während sie 217

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doch ewig dieselbe bleibt. Burke warnte seine Leser sogar vor einer zu wörtlichen Interpretation der Vergangenheit; seiner Meinung nach würden die Engländer durch das Kopieren der Vergangenheit dieser untreu. Er wollte einen fortwährenden Dialog mit der Vergangenheit, „nicht geführt durch den Aberglauben von Altertumsforschern, sondern im Geiste philosophischer Analogie“.48 Eine geordnete Gesellschaft könnte nur existieren, wenn eine Nation ihre Vergangenheit wertschätze. Wo dieses Band mit der Vergangenheit durchschnitten würde, seien Gewalt und Chaos die Folge. Im Mittelalter habe die Geschichte von Englands Freiheit begonnen, und nun, wo diese Freiheit erneut bedroht würde, müsse sich England einmal mehr auf die ferne Vergangenheit besinnen, um eine Antwort auf die französische Herausforderung zu finden. Das Mittelalter diente dabei nicht als Modell, aber durchaus als Inspiration.

Henry Hallam: die alte englische Freiheit Solange der englische Kampf gegen Napoleon währte, blieb wenig Raum zur Besinnung. Die Regierung führte eine strenge Zensur ein, Diskussionen über aktuelle Themen wurden misstrauisch verfolgt und manchmal sogar unterbunden. Studenten an der Universität von Cambridge durften nur über historische Fragen debattieren, die aktuelle politische Lage war tabu.49 Erst nach der Schlacht von Waterloo 1815 flammte die politische und gesellschaftliche Debatte in aller Heftigkeit wieder auf. Ganz oben auf der Tagesordnung stand die Reform des Unterhauses. Dass das Unterhaus nur dem Namen nach das englische Volk repräsentierte, war schon lange klar, doch erst nachdem die französische Bedrohung für immer ausgeschaltet war, konnte der Dialog darüber wieder geführt werden. Burke hatte seinen Landsleuten zur Genüge eingeimpft, dass eine derartige Reform nie auf abstrakten, modernen Prinzipien beruhen dürfe, sondern aus der langen und einzigartigen Geschichte der englischen Freiheit hervorzugehen habe. Humes ernüchternde History of England war dafür unbrauchbar. Eine neue historische Übersicht musste her, die wissenschaftlich und den218

Henry Hallam: die alte englische Freiheit

noch respektvoll war. Verschiedene Versuche wurden unternommen, um diese beiden einigermaßen gegensätzlichen Ziele in einer gemeinsamen Darstellung zu verwirklichen, und die gelungenste stammte von Henry Hallam. Seine View of the state of Europe during the Middle Ages von 1818 bietet eine kompakte Geschichte der englischen Verfassung im Mittelalter, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein als maßgeblich galt und zahlreiche Neuauflagen erfuhr. Schon im ersten Satz seines Werkes stellte Hallam klar, dass die englische Vergangenheit über jede Kritik erhaben war. Als „unparteiischer Beobachter“ betrachtete er die lange, ununterbrochene Entwicklung von Englands Wohlstand als schönstes Beispiel in der Geschichte der Menschheit. Dieses konstante Wachstum von Reichtum und Lebensqualität sei allein dem einzigartigen Regierungssystem Englands zu verdanken, das den Bürgern von Jahrhundert zu Jahrhundert durch das geltende Recht immer besseren Schutz gewährte, weil sie vor dem Gesetz mehr und mehr als gleichberechtigt behandelt wurden. Die Verfassung sei so solide, dass sie über die Jahrhunderte hinweg alle Bedrohungen von außen überstanden habe. Für Hallam bildete sie den roten Faden durch die englische Geschichte, an dem die englische und britische Identität hingen50. Nachdem Hallam sein Glaubensbekenntnis formuliert und ein Zeichen passender Ehrerbietung gesetzt hat, zeigte sich jedoch, dass er auch durchaus kritisch sein konnte. So hoch er das Wachstum der Freiheit in England auch schätzte, so wollte er doch Fakten sprechen lassen und sich nicht länger auf „frommen Betrug“ stützen.51 Im Gegensatz zu seinen Vorgängern hatte er die mittelalterlichen Archive des Parlaments durchforstet und dadurch die faktischen Fehler Humes berichtigen können. Das tat er voller Genugtuung, obwohl er sich andererseits Hume durchaus zum Vorbild nahm. Hallam machte ein für alle Mal Schluss mit dem Mythos von der ewigen Existenz des Parlaments. Ebenso wie Hume erkannte er an, dass der angelsächsische Witenagemot nichts mit dem späteren Parlament gemein hatte, dass die normannische Eroberung einen Bruch mit der angelsächsischen Vergangenheit bedeutete und dass die Magna Carta nichts weiter als eine Übereinkunft zwischen König und Adel 219

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war. Auch stellte Hallam klar, dass das Parlament in den ersten Jahrhunderten seines Bestehens als Applausmaschine für den König fungiert hatte und dies unter den Tudors sogar noch schlimmer gewesen war als im späten Mittelalter.52 Es ging ihm jedoch zu weit, um mit Hume daraus den Schluss zu ziehen, die Geschichte der englischen Freiheit hätte erst im 17. Jahrhundert begonnen. Entschlossen machte sich Hallam auf die Suche nach Kontinuität, die es trotz aller Brüche doch gegeben haben musste. In drei verschiedenen Ansätzen zeigte er, dass die englische Geschichte ab dem 6. Jahrhundert durchaus eine stetige Entwicklung der Kräfte von Recht und Freiheit aufwies. Hauptsächlich beschuldigte er Hume, bei der Beschreibung der mittelalterlichen Freiheit moderne Maßstäbe anzulegen. Dies musste zwangsläufig zu der anachronistischen Behauptung führen, im Mittelalter hätte es keine Freiheit gegeben, sondern nur königliche Willkür. Wer von den modernen Begriffen Recht und Freiheit Abstand nähme, sich in die mittelalterlichen Dokumente vertiefe und sich außerdem klar mache, dass die Freiheit im Mittelalter noch ein zartes Pflänzchen war, könne erkennen, dass besonders im 13. und 14. Jahrhundert der Grundstein zu einem auf dem Respekt vor den gegenseitigen Rechten und Pflichten beruhenden Verhältnis zwischen König und Untertanen gelegt worden sei.53 Auch den Bruch zwischen der angelsächsischen und normannischen Vergangenheit, den er zunächst anerkannt hatte, brachte er wieder zur Sprache. Zuerst wandte er sich einer Sammlung von Gesetzen aus dem 12. Jahrhundert zu, die als Leges Edwardi Confessoris (Gesetze Eduards des Bekenners) bekannt ist, einem Gesetzbuch, das in Diskussionen häufig als Beweis dafür angeführt wurde, dass das angelsächsische Recht die normannische Unterdrückung überlebt habe. Alle wussten, dass die Gesetze in dieser Sammlung nicht aus der Zeit von Eduard dem Bekenner stammten, der zwischen 1043 und 1066 regiert hatte, und deswegen nicht als Beweis für ein kontinuierliches Wirken des alten Rechts verwendet werden konnten. Doch als guter Schüler von Burke betonte Hallam, es sei nicht wichtig, aus welcher Zeit die Sammlung stamme, es ginge um ihren Namen, der bedeute, dass sich die Engländer des 12. Jahrhunderts in ihrem Widerstand gegen die 220

Henry Hallam: die alte englische Freiheit

Normannen an die gute alte Zeit des heiligen Königs Eduard erinnern wollten, als sie freie Menschen in ihrem eigenen Land gewesen wären. Um die Erinnerung an ihre alte Freiheit lebendig zu halten, verknüpften sie neue Gesetze mit einem alten Namen. Dadurch wurde der Bruch von 1066 geheilt und die Kontinuität zur älteren, freieren Epoche der Angelsachsen wiederhergestellt.54 Dennoch gab sich Hallam nicht mit einer Kontinuität zufrieden, die nur in einem Bewusstsein der Verbundenheit mit der angelsächsischen Vergangenheit bestand. Er blieb auf der Suche nach materieller Kontinuität, er wollte beweisen, dass durch die gesamte englische Geschichte hinweg irgendetwas tatsächlich unverändert geblieben war. Nun, wo man wirklich nicht mehr länger behaupten konnte, das Parlament verkörpere die Kontinuität, untersuchte Hallam, ob es nicht auf einer niedrigeren Ebene Einrichtungen gegeben hatte, die im Laufe der Zeit unverändert geblieben waren. Aus den Quellen war ihm bekannt, dass das Königreich im 10. Jahrhundert zum Zweck der Steuererhebung und der Rechtsprechung in Grafschaften (shires) aufgeteilt war, die wiederum in Hundertschaften (hundreds) gegliedert waren, alle mit ihrem eigenen Gericht. Als Richter durften nur Adelige (thanes) in diesen Gerichten einen Sitz erhalten. Alle freien Bauern (ceorls) waren jedoch verpflichtet, bei Tagungen anwesend zu sein. Und das war für Hallam sehr wichtig, denn wie primitiv die damalige Rechtsprechung auch gewesen sein mochte: In diesen freien Bauern, die für ihre eigenen Interessen vor ihren eigenen Gerichten eintraten, erkannte er den harten Kern des englischen Volkes, das sich von frühester Zeit an für seine Rechte eingesetzt hatte.55 Er gab sich große Mühe zu beweisen, dass sowohl die freien Bauern als auch die Grafschaftsgerichte die normannische Eroberung überlebt hatten und dass durch den Erhalt dieser Institutionen der Drang nach Freiheit, der die Angelsachsen seit jeher ausgezeichnet hatte, auch in der normannischen Zeit bewahrt geblieben war. Nach 1066 waren nicht alle Bauern Leibeigene geworden, sondern eine zähe Minderheit freier Bauern war übrig geblieben, die an den Traditionen ihrer freien Vorfahren festhielt.56 Im britisch-englischen Nationalismus galt Freiheit nicht als angeborene Eigenschaft, sondern als erworbene Tugend, die sich in den In221

Eigenart

stitutionen manifestierte, die das englische Volk erschaffen hatte, um der Freiheit konkrete Gestalt zu verleihen. Wenn Hallam sagte, dass nicht das Parlament, sondern die Grafschaftsgerichte dieses Verlangen nach Freiheit verkörpert hätten, verharrte er in der Tradition des zivilen Nationalismus. Dabei fand jedoch eine deutliche Akzentverschiebung statt, weil nicht länger die Institution der lokalen Gerichte als Indiz für Kontinuität betrachtet wird, sondern die Tatsache, dass freie Bauern sie nutzten. Die Grafschaftsgerichte konnten die normannische Besatzung nur überleben, weil sie von dem tapferen Geschlecht der angelsächsischen Bauern getragen wurden, die ihren angeborenen Freiheitssinn trotz allen Drucks der Besatzer lebendig halten wollten. Dies war eine erste Verschiebung vom zivilen zum ethnischen Nationalismus, an der radikale Demokraten in England im späteren 19. Jahrhundert weiter feilen würden.

Deutschland: Reich und Nation Im Gegensatz zu England reagierte man in Deutschland zunächst gelassen auf den französischen Expansionsdrang. Der rohen Gewalt der französischen Volksarmee hatten die Deutschen nichts entgegenzusetzen; das zersplitterte Land war dafür politisch zu schwach. Viele Deutsche erachteten dies sogar als Vorteil. In ihren Augen bestand die Größe Deutschlands darin, dass sich das Volk nicht von dem Spiel der Macht mitreißen ließ, sondern sich diesem entzog, um sich den wichtigeren Dingen des Lebens zu widmen. Schiller formulierte dieses Gefühl mit den Worten: „Die deutsche Würde wohnt als sittliche Größe in der Kultur und im Charakter der Nation und ist von den politischen Schicksalen unabhängig.“57 August Schlegels Bild von Deutschland als alter Mutter Europas, die in der mittelalterlichen Vergangenheit alles ihren Kindern geschenkt hatte, um danach selbst geschwächt und vereinsamt zurückzubleiben, ist Ausdruck dieses zwiespältigen Gefühls, dass Deutschlands politische Schwäche zugleich seine moralische Stärke war.

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Deutschland: Reich und Nation

Noch ambivalenter wurde die deutsche Reaktion dadurch, dass viele Deutsche die Revolution in Frankreich als Befreiung begrüßt hatten. In den Städten am Rhein wurden die französischen Armeen 1792 und 1794 jubelnd empfangen. Erst nach den schlimmen Niederlagen der preußischen Armeen bei Jena und Auerstadt im Jahr 1806 empörten sich die Deutschen und entwickelten einen politischen Nationalismus. Zwischen 1807 und 1808 rief Johann Gottlieb Fichte in Berlin in seinen Reden an die deutsche Nation das deutsche Volk dazu auf, sich wieder seiner Urkraft bewusst zu werden, das französische Joch abzuwerfen und sich zu einer größeren Einheit zu bekennen. Der Reformer von Preußen, Karl vom Stein, sagte es noch unumwundener: „Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland.“58 Dennoch gab es in den Jahren des erstarkenden politischen Nationalismus noch immer zahlreiche Deutsche, für die nicht Preußen, sondern Napoleon eine bessere Zukunft verkörperte. Als Georg Wilhelm Friedrich Hegel am Tag nach der großen Niederlage den Kaiser durch Jena reiten sah, sah er nicht einen brutalen Tyrannen, sondern die „Weltseele“, die, „auf einem Pferd sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht“.59 Diese Ansicht hat er nie revidiert. Der deutsche Nationalismus in jenen Jahren blieb zaudernd und unsicher, vor allem in Bezug auf die Frage, ob Deutschland als Nation eine politische Form erhalten konnte und musste und welche diese dann haben sollte. Die Gedanken wanderten wie von selbst zurück zum alten Reich. Es mochte vieles falsch gewesen sein am Heiligen Römischen Reich: Es hatte verwalterisches Chaos geherrscht, militärisch war es bedeutungslos gewesen und es war von den ständigen Spannungen zwischen Kaiser und Kurfürsten, Reichsadel und freien Reichsstädten aufgerieben worden, doch es war der einzige Ausdruck von etwas wie einer deutschen Gemeinsamkeit, der je existiert hatte. Obwohl der Kaiser seine Krone 1806 abgelegt hatte, blieb die Erinnerung an das alte Reich lebendig, wurde von Historikern genährt und zum Ausgangspunkt der Überlegungen über die Möglichkeit einer neuen deutschen Einheit. Der einflussreiche Publizist Joseph Görres kann als Prototyp für die damaligen deutschen Nationalen und die Dilemmas gelten, mit denen sie konfrontiert wurden. In jungen Jahren war Görres ein begeisterter 223

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Anhänger der Französischen Revolution, wie viele andere Deutsche seiner Generation. Die Besatzung seiner Heimatstadt Koblenz begrüßte er überschwänglich. Seitenlang feierte er den Untergang des römischen Reiches, proklamierte die Französische Republik als einzige rechtmäßige Erbin des ganzen linken Rheinufers und nannte Napoleon den „Testamentsexekutor“, der das Erbe des verstorbenen Reiches verteilen sollte. Als Grabinschrift schlug er 1798 vor: „Von der Sense des Todes gemäht, atemlos und bleich, / Liegt hier das heilige römische Reich. / Wanderer schleiche dich leise vorbei, du möchtest es erwecken, / und der Erstandene uns dann von neuem mit Konklusen bedecken. / Ach! Wären die Franzosen nicht gewesen, / Es würde nicht unter diesem Steine verwesen.“60 Von einem Besuch in Paris 1799, wo er Zeuge von Napoleons Griff nach der Macht wurde, kehrte er tief enttäuscht vom revolutionären Frankreich zurück und begann seine Suche nach dem innersten Wesen des deutschen Volkes, die 1807 in die Ausgabe der Teutschen Volksbücher mündete, einer Sammlung mittelalterlicher Volkserzählungen, in denen Görres „den inneren Kern unserer Literatur“ vermutete.61 Damit schlug er den gleichen Ton an wie zur gleichen Zeit August Schlegel, Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Es war die Stimme der jungen Deutschen, die sich verbittert vom universellen Menschen als Ideal der Aufklärung abgewandt hatten, das in ihren Augen zu einem Instrument französischer Unterdrückung geworden war, und sich zur Eigenart des Volkes als einziger Möglichkeit zu Freiheit und Frieden bekannten. Görres war der erste, der aus dieser Hinwendung zum eigenen Volk politische Konsequenzen zog.62 Noch im selben Jahr wie die Volksbücher, 1807, publizierte Görres einen Artikel, in dem er die Möglichkeit beschrieb, dass nach dem Misslingen der Französischen Revolution eine zweite Revolution ausbrechen könne, in der ein vereintes Deutschland die Führung übernehmen würde.63 Etwas in dieser Art geschah 1813, als sich praktisch alle deutschen Länder einig gegen Napoleon wandten, was Görres zum Anlass nahm, in seiner Zeitung, dem Rheinischen Merkur (den Napoleon als einen seiner gefährlichsten Gegner betrachtete), eine Kampagne für die Einheit Deutschlands zu lancie224

Deutschland: Reich und Nation

ren.64 Er schrieb einen Artikel nach dem anderen, in denen er immer wieder die Frage stellte, wie die neu gefundene Einheit politisch konsolidiert werden könne. Görres wünschte sich eine „starke Einheit in freier Vielfalt“, eine politische Struktur, in der Autorität und Freiheit einander im Gleichgewicht hielten – ein hehres Ideal, das ihm zufolge nur für kurze Zeit im mittelalterlichen Deutschland umgesetzt worden war.65 Deshalb sei es absolut notwendig, dass die beiden großen staatlichen Institutionen jener Tage, der Reichstag und der Kaiser, zu neuem Leben erweckt würden und im Gegensatz zu damals die Träger eines wahrlich nationalen, deutschen Staates werden würden.66 So, wie der frühere Reichstag die Versammlung der geistlichen Fürsten, der Reichsritterschaft und der freien Städte gewesen war, so sollte auch der neue Reichstag aus den drei Ständen von Kriegern, Geistlichen und Arbeitern bestehen.67 Nicht mittelalterlich, sondern ganz modern war die Forderung, der Reichstag solle so eingerichtet werden, dass das ganze Volk an der Regierung beteiligt würde, denn nur so würde es auch die Verantwortung für ein vereintes deutsches Vaterland mittragen wollen.68 Als Krone der Einheit betrachtete Görres ein erneuertes Kaisertum, bei dem die Krone wie von alters her von den Habsburgern getragen werden sollte.69 Seit der Blütezeit des Heiligen Römischen Reiches im Mittelalter war jedoch ein wichtiger neuer Mitspieler auf der Bühne erschienen, nämlich das Königreich Preußen. Görres hatte ausreichenden Überblick über die tatsächlichen Machtverhältnisse innerhalb der deutschen Länder, um zu wissen, dass sich der König der Preußen durchaus weigern könnte, die ihm zugedachte Rolle in diesem mittelalterlichen Stück zu übernehmen, da sich Preußen mindestens als gleichwertig mit Österreich und seinem Kaiser betrachtete. Deswegen dachte sich Görres für Preußen eine neue Rolle aus: Das Land sollte für das neue Reich werden, was der Protestantismus für die katholische Kirche und die Volkstribunen in Rom für den Senat gewesen waren, nämlich Vertreter der rechtmäßigen Wünsche des Volkes und Hüter der Grundrechte der Nation.70 Dies ist ein schöner Gedanke, der allerdings Görres vollkommene Unwissenheit über die tatsächliche preußische Staatsgliederung verriet. Aber darüber brauchte er sich keine Sor225

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gen zu machen, denn Österreich und Preußen machten ihm einen Strich durch die Rechnung: In keinem der beiden Länder war die deutsche Einheit ein besonders wichtiges Thema. Deswegen entstand 1815 statt eines neuen Reiches der Deutsche Bund, und Görres wurde wegen seiner aufrührerischen Schriften ins französische Straßburg verbannt. Die Fragen über die Zukunft Deutschlands, die er gestellt hatte, gerieten jedoch nicht in Vergessenheit. Sie wurden von anderen gestellt: War die deutsche Einheit kulturell oder politisch? Welches Verhältnis bestand zwischen Einheit und Freiheit? Sollte ein föderativer oder ein zentralistischer Reichsverbund kommen, unter Leitung Österreichs oder Preußens? Sollte es ein national-deutscher oder ein Vielvölkerstaat sein, großdeutsch oder kleindeutsch? Es waren Fragen, die die Politik der deutschen Länder bis ins 20. Jahrhundert hinein beherrschten und die größtenteils durch einen Rückblick auf die mittelalterliche Vergangenheit beantwortet wurden.

Politik und Wissenschaft Minnesang, Volkslieder und Märchen brachten dem lesenden Publikum die mittelalterliche Vergangenheit nahe, doch Antworten auf politische Fragen bezüglich des deutschen Mittelalters ergaben sich daraus natürlich nicht. Zu diesem Zweck mussten andere Dokumente veröffentlicht werden, aus denen der staatliche Aufbau des deutschen Reiches, die Politik des Kaisers, die Funktion der Reichskanzlei und die Verhältnisse zwischen Bauern, Adel und Städten hervorgingen. Informationen darüber fanden sich in erzählenden Quellen wie Annalen und Chroniken, aber hauptsächlich in Gesetzbüchern, Urkunden, Bullen und Steuerlisten. Solche Dokumente lagerten in Hülle und Fülle in den deutschen Archiven, waren bis dato jedoch nur von Juristen zurate gezogen worden, die bei schwierigen Fällen nach Präzedenzfällen suchten. Historiker hatten kaum Interesse daran gezeigt, geschweige denn ein breiteres Publikum. Karl vom Stein erkannte als Erster, dass literarische Texte beim Ringen um die deutsche Einheit wenig hilfreich waren, sondern man viel226

Politik und Wissenschaft

mehr eine gründliche Kenntnis über das politische Schicksal des alten Reiches im Mittelalter brauchte. Über Jahre diskutierte der Freiherr mit befreundeten Gelehrten wie den Brüdern Grimm über die Frage, wie man die vergessenen Dokumente am besten den Gelehrten und am liebsten auch anderen Interessierten nahebringen konnte. 1819 gründete er schließlich mit einigen Mitstreitern die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“, deren einziges Ziel darin bestand, sorgfältige Editionen aller Dokumente vorzunehmen, die für die politische und institutionelle Geschichte Deutschlands von 500 bis 1500 bedeutsam waren.71 Die Reihe erhielt den etwas pompösen Namen Monumenta Germaniae Historica (MGH). Der Begriff „Deutschland“ wurde dabei sehr weit gefasst, indem praktisch alle Gebiete mit einbezogen wurden, in denen germanische Sprachen gesprochen wurden, wie es auch Herder und die Grimms schon getan hatten.72 Die gesamte fränkische Geschichte, die italienische bis 1250, aber auch die böhmische, flämische und niederländische Geschichte wurden als Arbeitsgebiet der Gesellschaft betrachtet. Der erste Teil der MGH, der 1826 erschien, waren die Annales et chronica aevi Carolini (Annalen und Chroniken der karolingischen Zeit), ein diskreter, aber vielsagender Hinweis darauf, dass Karl der Große ein deutscher Held gewesen sei. Gewiss war das anfangs nicht aggressiv gemeint, aber später wurde diese Auffassung wie selbstverständlich zu einem Element des immer weiter um sich greifenden Nationalismus. Dieser betrachtete Deutschland als Verkörperung des germanischen Geistes und aufgrund dessen dazu berechtigt, alles, was jemals germanisch gewesen war, erneut für sich zu beanspruchen.73 Moderne deutsche Historiker verweisen gerne darauf, dass die MGH das Beste seien, was die deutsche Tradition zur Erforschung des Mittelalters beigetragen hätte. Sie argumentieren, beim Umgang mit der Geschichte sei in Deutschland vieles schiefgegangen, doch mit der Herausgabe der MGH sei der Grundstein zur modernen, kritischen Quellenforschung gelegt worden. Die streng methodische Annäherung an das Mittelalter, die mit dieser Reihe zum ersten Mal verwirklicht wurde, war der Beginn eines neuen Paradigmas, das sämtliche

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nationalen und emotionalen Vorurteile im kalten Licht einer objektiven, wissenschaftlichen Methode spiegelte.74 Die Frage ist jedoch, ob kritisches Quellenstudium tatsächlich den Umgang mit der Vergangenheit beeinflusst und zu sinnvolleren Fragen führt. Die Geschichte der Entstehung der MGH beweist, dass dies nicht der Fall ist. Die hauptsächliche Motivation für die Forschungen war nicht etwa die unvoreingenommene wissenschaftliche Erforschung der Archive. Stattdessen brachte das Interesse an der nationalen Vergangenheit die deutschen Wissenschaftler dazu, ihre Quellen so sorgfältig wie möglich zu untersuchen. Der Rahmen war schon allein durch das Motto vorgegeben, das vom Stein seinem geistigen Kind in die Wiege legte: Sanctus amor patriae dat animum (Die heilige Liebe für das Vaterland verleiht Begeisterung). Doch selbst wenn man davon ausgeht, dass die Initiative zur Herausgabe der MGH von Vaterlandsliebe inspiriert wurde, was zweifellos der Fall war, hätte möglicherweise ein verantwortungsvollerer Umgang mit den Quellen auf die Dauer eher zu unvoreingenommeneren Antworten geführt als zu „besseren“ Fragen. Die Fragen wiederum blieben entscheidend für die Auswahl der Quellen und daher für die Antworten. Die Herausgeber der MGH zählten, wie gesagt, sämtliche fränkischen Quellen zu ihrem Gebiet, obwohl es doch äußerst zweifelhaft war, dass die fränkische Vergangenheit tatsächlich einen Teil der deutschen Geschichte ausmachte und es in der damaligen Zeit überhaupt so etwas wie ein deutsches Volk gegeben hatte.75 Die Anwendung einer strengen philologischen Methodik führte in manchen Fällen sogar dazu, dass nationale Vorurteile eher angefacht als gemäßigt wurden. Als Georg Heinrich Pertz, von 1821 bis 1873 wissenschaftlicher Leiter des MGH-Projekts, im Winter 1826/1827 Paris besuchte, um Archivforschung zu betreiben, stellte er zu seiner großen Zufriedenheit fest, dass sich auch die Franzosen für ihre Geschichte interessierten, aber methodisch weit hinter den deutschen Kollegen zurücklagen und es in Frankreich nichts mit der Gesellschaft Vergleichbares gab. Quellenausgaben wie die MGH bestärkten das nationalistische Bild der Vergangenheit auf zwei verschiedene Arten: Sie bekräftigten in erster Linie die bereits bestehende Überzeugung, dass 228

Friedrich von Raumer: Einheit in Vielfalt

kein anderes Volk der Welt so wissenschaftlich, unvoreingenommen und objektiv denken konnte wie das deutsche, was zweitens dazu führte, dass die deutschen Historiker so zufrieden mit ihren methodologischen Vorgehensweisen und so überzeugt von ihrer Objektivität wurden, dass sie die zugrunde liegenden Ausgangspunkte nicht mehr zur Diskussion stellten.76 Im 19. Jahrhundert gehörte Jacob Burckhardt zu den wenigen deutschsprachigen Historikern, die die Frage zu stellen wagten, ob es nun wirklich notwendig sei, absolute Gewissheit darüber zu erlangen, ob Kaiser Konrad II. am 7. Mai 1050 in Goslar auf die Toilette gegangen sei oder nicht. Seiner Meinung nach lag es an der Konzentration auf diese Art von Scheinproblemen, dass die Thesen, die auch der rigorosesten methodischen Forschung zu Grunde liegen, nicht mehr zur Diskussion gestellt wurden.77 Durch diesen Mangel an Interesse für grundlegende Fragen blieb die deutsche Mittelalterforschung bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg bei allem methodischen Scharfsinn eine unreflektierte Legitimation für die aktuelle Politik mit historischen Argumenten.78 Die wahre Triebfeder für das Interesse am Mittelalter findet man daher nicht, wenn man allzu lange bei der MGH verweilt, sondern wenn man einmal solche, heute vergessenen, Historiker wie Friedrich von Raumer und Heinrich Luden betrachtet, die ihre Werke herausbrachten, bevor der stählerne Panzer der wissenschaftlichen Quellenkritik ihre Motive verschleierte, und die gerade deswegen viel deutlicher aussprachen, warum die mittelalterliche Vergangenheit sie faszinierte und was diese Vergangenheit ihrer Meinung nach zum Wohlergehen Deutschlands in ihrer Zeit beitragen konnte.

Friedrich von Raumer: Einheit in Vielfalt Der Freiheitskrieg und der Sturz Napoleons bedeuteten keineswegs, dass nun alle Deutschen mit Görres und vom Stein einer Meinung waren, man müsse sich um eine Vereinigung der deutschen Länder bemühen. Das geht unter anderem aus den Problemen hervor, die vom Stein jahrelang mit der Finanzierung seines MGH-Projektes hatte. Die 229

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offiziellen Instanzen weigerten sich strikt, ein Unternehmen zu unterstützen, das die gefestigte Ordnung zu untergraben schien. Die deutschen Fürsten blieben allem Gerede über nationale Einheit abhold. Natürlich hatte das ganz praktische Gründe, denn, wie Heinrich Heine bereits über seine Landsleute bemerkte: „Wir tun alles, was uns von unseren Fürsten befohlen wird.“79 Es gab jedoch noch einen tiefer liegenden Grund, warum viele Deutsche der Idee von einem nationalen deutschen Staat misstrauisch gegenüberstanden. Was Deutschland schließlich so positiv von zentralistischen, bürokratischen Staaten wie Russland und Frankreich unterschied und es zum Vorbild der Freiheit für ganz Europa machte, war ja gerade die reiche Vielfalt der Stände und Staaten, aus denen sich das Reich deutscher Nation zusammensetzte. Daran zu rütteln hätte das Ende des Besten bedeutet, was die deutsche Kultur hervorgebracht hatte: die Ehrfurcht vor der Eigenart und Selbstständigkeit aller lebenden Organismen. Die gesamte Geschichte Deutschlands bewies, dass in der Diversität immer Deutschlands Größe und Kraft gelegen hatte. Niemand hat diese Sicht auf die Vergangenheit Deutschlands eloquenter ausgedrückt als der preußische Staatsrat und spätere Professor Friedrich von Raumer in seiner bahnbrechenden Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit.80 Nur wenige Kaiser haben die Fantasie Deutschlands derart beschäftigt wie die Fürsten aus dem Hause Hohenstaufen. Vor allem in der Gestalt Friedrichs I. Barbarossa und Friedrichs II. schien die deutsche Geschichte im 12. und 13. Jahrhundert einen noch nie dagewesenen, dramatischen Höhepunkt erreicht zu haben.81 Nie traten die Dilemmas des alten Reiches deutlicher hervor als während der Regierung dieser beiden größten unter den Kaisern. War ihre Regierung ein Segen oder eine Katastrophe für Deutschland gewesen? Hatten sie Einheit oder Zergliederung gebracht? War Deutschland mit ihrer Hilfe einem beklemmenden Zentralismus entgangen oder waren sie für die Schwäche und Zersplitterung des modernen Deutschlands verantwortlich?82 Raumers Schlussfolgerung war eindeutig: Er betrachtete die Regierung der Staufer als einen Sieg. Sie hätten das Land vor der „Verehrung des Gleichartigen“ und der „langweiligen Uniformität vie230

Friedrich von Raumer: Einheit in Vielfalt

ler moderner Staaten“ bewahrt, da sie mit aller Kraft nach einem Staat gestrebt hätten, der sämtliche „Elemente eines vielfältigen gesellschaftlichen Lebens“ in sich vereinte.83 Friedrich I. Barbarossa und Friedrich II. hätten zudem besser als irgendwelche anderen Fürsten im damaligen Europa verstanden, dass die Menschen sich nur in einem Staat frei bewegen könnten, in dem die Macht verteilt war und in dem allen gesellschaftlichen Gruppierungen eigene Verantwortung zugebilligt wurde. Allein schon durch seine Persönlichkeit war Friedrich I. Barbarossa laut Raumer die Verkörperung des Maßvollen und des Respekts vor Recht und Sitten gewesen.84 Seine gesamte Politik habe darauf abgezielt, die Interessen aller Individuen und Gruppierungen im Reich zu berücksichtigen ohne dabei die Rechte anderer zu beschneiden.85 Barbarossa musste in Italien deswegen hart durchgreifen, weil die Städte dort so mächtig geworden waren, dass sie alle anderen Gruppierungen unterwarfen und ihren Interessen unterordneten.86 In Deutschland wurde die Freiheit vom Egoismus des mächtigsten aller Herzöge, Heinrich dem Löwen, bedroht, dem Kopf der rivalisierenden Familie der Welfen, einem Mann, der nur seine eigenen Interessen verfolgte und stets Macht vor Recht gelten ließ. Um Deutschlands Freiheit zu retten, musste Barbarossa Heinrich stürzen, so wie er in Italien Mailand zerstört hatte. Es war bezeichnend für diesen Kaiser, dass er davon nicht profitierte, um seine eigene Macht zu vergrößern, sondern um Recht und Gesetz wiederherzustellen.87 Kein Wunder, sagte Raumer, dass Deutschland unter seiner Regierung zum glorreichsten aller europäischen Länder wurde und auch kulturell allen anderen überlegen war. Was mit Barbarossa begonnen hatte, wurde von seinem Enkel Friedrich II. vollendet. Dass dessen Auftreten in der späteren deutschen Geschichtsschreibung heftig umstritten war, war Raumer sehr wohl bewusst. Die Diskussion rankte sich vor allem um die vielen Konzessionen, die der Kaiser im Laufe seiner langen Regierung den geistlichen und weltlichen Fürsten gegenüber machte. Es begann 1220, als Friedrich seinen ältesten Sohn Heinrich, damals noch ein Kind, in Aachen zum König von Deutschland krönen ließ und selbst nach Italien reiste, um dort Ordnung zu schaffen. Um sich der Unterstützung für 231

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den jungen Heinrich zu versichern, machte er den Geistlichen wichtige Zugeständnisse, in denen er ihnen in ihrem Streben nach mehr Selbstbestimmung weit entgegenkam. War dies nun der Beginn der Freiheit oder des Verfalls von Deutschland? Für Raumer ist dies eine rhetorische Frage. Kaiser müssten die direkte Verwaltung wo immer möglich an Befugte niedrigerer Instanzen delegieren, in diesem Fall an die Bischöfe, und selbst nur eingreifen, wenn auf dieser Ebene unlösbare Konflikte entstehen. Nur so sei Freiheit möglich.88 Noch entschiedener drückte sich Raumer in seinen Überlegungen bezüglich des zweiten Besuchs Friedrichs II. in Deutschland im Jahre 1235 aus. Bei dieser Gelegenheit erließ der Kaiser den Mainzer Landfrieden, durch den unter anderem die Selbstständigkeit, die sich die Fürsten während Friedrichs Aufenthalt in Italien faktisch verschafft hatten, offiziell bestätigt wurde. Aus nichts sprach, laut Raumer, Friedrichs Weisheit deutlicher als aus diesem Beschluss. Indem er die Selbstständigkeit der Stände anerkannte, bewies Friedrich, dass er über freie Menschen regieren und nicht über Knechte befehlen wollte. Resolut hatte er jede Form bürokratischer Uniformierung zurückgewiesen und sich für Diversität entschieden, wodurch sich in Deutschland Adel, Klerus, Städte und Bauern auf ihre eigene, natürliche Weise entwickeln konnten, während sie einander innerhalb eines allumfassenden Reichsverbands im Gleichgewicht hielten. Damit hatte er den Grundstein für die volle Entfaltung des reichen, bunten deutschen Lebens gelegt, indem jeder Gruppierung ihre Freiheit innerhalb der Grenzen von Recht und Ordnung gewährt wurde.89 Zufriedenheit ist ein Wort, das in dieser Abhandlung noch nicht oft gefallen ist. Alle Bewunderer des Mittelalters, die bisher betrachtet wurden, hatten eines gemeinsam: Sie waren zutiefst unglücklich über das Leben in ihrer eigenen Zeit. Sie hassten das revolutionäre Chaos und trauerten einer Gesellschaft nach, in der jeder Mensch seinen Platz kannte. Sie hassten den dürren Rationalismus der aufgeklärten Philosophen und spuckten Gift und Galle über die lieblosen Imitationen der klassischen Vorbilder, die sich originäre Kunst schimpften. Sie waren alle davon überzeugt, dass eine Rückbesinnung auf die mittelalterliche Vergangenheit die Tür zu einer besseren Zukunft öffnen würde. Zufrie232

Heinrich Luden: Deutschland und seine Könige

denheit ist daher ein treffender Begriff, um Raumers Haltung gegenüber der Vergangenheit und der Gegenwart seines Vaterlandes zu charakterisieren. Zufrieden verglich Raumer die vielfältige, bunte Vitalität des alten deutschen Reiches mit der tödlichen Uniformität eines zentralisierten Staates wie der des Frankreichs von Ludwig XIV., in dem alle Freiheiten unter totaler Gleichschaltung zerquetscht wurden.90 An anderer Stelle verglich er Deutschland mit dem alten Griechenland. Für die Bewunderer von Dezentralisierung und Bürokratie waren Griechenland und Deutschland nichts und Frankreich und Rom alles, aber für die Freiheitsliebenden verkörperten die griechischen Stadtstaaten und das Deutsche Reich die höchste Form politischer Entwicklung: Einheit in Vielfalt. Raumer sprach es an keiner Stelle explizit aus, aber durch sein ganzes Werk zieht sich seine feste Überzeugung, dass auch die Jahre von Revolution und Krieg keinen Bruch mit jener Vergangenheit bedeutet hatten, die er beschrieb. Obwohl die Form des alten Reiches verschwunden sei, sei sein Wesen bewahrt geblieben. Durch die weise Regierung der Staufer sei in den deutschen Landen seit jeher eine bunte Vielfalt von Ständen, Städten und Staaten erhalten geblieben, die in ihrem Freiheitsdrang das Land manchmal an den Rand des Abgrunds führten, es aber zugleich vor Diktatur und Willkür bewahrten.91 Deutschland habe Vielfalt und Freiheit über Einheit und Gleichheit gestellt, das mittelalterliche Kaiserreich über den modernen Einheitsstaat und Griechenland über Rom.92 Raumer blickte der Zukunft seines Vaterlandes voll Vertrauen entgegen, solange es an dieser historischen Wahl nicht rüttelte.93

Heinrich Luden: Deutschland und seine Könige Während der französischen Besatzung Jenas, die Hegel zu seinen Überlegungen über die welthistorische Bedeutung des Phänomens Napoleon angeregt hatte, wurde das Haus Heinrich Ludens vom Keller bis zum Dach geplündert und er verlor dabei seine gesamte Bibliothek und all seine Aufzeichnungen. In den darauffolgenden Jahren entwi233

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ckelte sich Luden, womöglich unter dem Einfluss seiner Erfahrungen mit den französischen Besatzern, zu einem vehementen Verfechter der nationalen Einheit, über die er 1808 zum ersten Mal dozierte. Seine Vorlesungen wurden zu einem überwältigenden Erfolg und bildeten eine wichtige Inspirationsquelle für die studentischen Burschenschaften, die ebenfalls in diesen Jahren entstanden.94 Auch nach 1813 blieb Luden seinem Nationalismus treu. Obwohl er 1817 beim Wartburgfest nicht dabei war, stand er in engem Kontakt mit den Studentenführern und verteidigte sie später gegen die Angriffe der Obrigkeit, die den Ruf nach mehr Einheit des deutschen Vaterlandes im Keim zu ersticken versuchten.95 In der Phase, in der alle Hoffnung auf eine nationale Einheit vergeblich schien, begann Luden mit einer Geschichte des Schicksals des deutschen Volkes seit vorgeschichtlichen Zeiten. Vieles von dem, was er in seiner Geschichte des teutschen Volkes schrieb, kommt uns inzwischen mehr als vertraut vor, doch er war der erste, der eine Geschichte des Volkes zu schreiben versuchte.96 Er war ein Pionier, und sein Buch diente vielen ähnlichen Werken als Vorbild, vor allem in Osteuropa, wo die slawischen Nationen zur selben Zeit ebenfalls auf der Suche nach einer Geschichte waren, die ihren Freiheitskampf unterstützen konnte. Ludens Ausgangspunkt stand dem Raumers diametral gegenüber. Während Raumer glaubte, der Freiheit der Deutschen nutze am meisten die Zersplitterung und Vielfalt, war Luden davon überzeugt, dass nur politische Einheit wahre Freiheit bringen könne. Dies führte zu einem Paradox, das für das ganze Werk Ludens kennzeichnend ist und übrigens typisch für alle deutschen Liberalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.97 Einerseits betonte er, das deutsche Volk sei seit Urzeiten stark und einig gewesen. Es hätte stets auf seinem eigenen heiligen Grund gesiedelt und sich nie dazu verführen lassen, wegzuziehen. Die einzige Ausnahme bildeten die Franken, was laut Luden einer der Gründe dafür war, dass es ihnen schlecht ergangen sei.98 Auf der anderen Seite pochte er darauf, ein mächtiger König sei nötig, um die Einheit und Freiheit des Volkes zu bewahren. Wo ein starker, einheitsstiftender Fürst fehle, regiere die Macht und nicht das Recht, und das bedeute Zwietracht, Schwäche und das Ende aller Freiheit.99 Wie stark 234

Heinrich Luden: Deutschland und seine Könige

das Volk im Prinzip auch sein mochte, so sei es doch nicht stark genug, um ohne einen mächtigen Fürsten seine Einheit zu bewahren. Luden wiederholte mehrmals, das deutsche Volk sei politisch durch die verbrecherische Schwäche und Gleichgültigkeit seiner mittelalterlichen Könige untergegangen. Luden betrachtete die Einführung des Lehenssystems als größte Katastrophe, die Europa im frühen Mittelalter getroffen habe. Fürsten verloren dadurch ihre Autorität, Königreiche wurden geteilt, der Adel konnte machen, was er wollte, und die Bauern verkamen von stolzen freien Männern zu dummen Leibeigenen, die sich um nichts mehr kümmerten. Während es Frankreich und England gelungen sei, die katastrophalen Folgen des Feudalismus zu überwinden, indem sie unter der Führung ihrer Könige starke Nationalstaaten bildeten, sei Deutschland im feudalen Morast stecken geblieben, weil die deutschen Könige, mit Ausnahme des von Luden hochgepriesenen Heinrich I., genannt der Vogler, der 919 als erster Nicht-Karolinger den deutschen Thron bestieg, sich nicht für ihr eigenes Volk, sondern nur für ausländische Abenteuer interessiert hätten.100 Diese Ansicht über die deutsche Geschichte blieb bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland vorherrschend. Heinrichs Sohn Otto I. hatte nur ein Ziel: Er wollte es Karl dem Großen gleichtun, indem auch er Kaiser des Heiligen Römischen Reiches wurde, ein Traum, der 962 in Erfüllung ging. Damit war für Luden das Schicksal des deutschen Volkes besiegelt. Von nun an mussten alle deutschen Könige, ob sie wollten oder nicht, auch Italien verwalten. Sie wurden Fremde im eigenen Land und kannten ihr Volk nicht mehr. Ihr Volk vergaß sie, und das alles für eine Krone, die angeblich allen Völkern gehörte, aber gerade deswegen kein Volk betraf und eine Fata Morgana war, die die Könige von ihrer eigentlichen Aufgabe abhielt, nämlich die Einheit des deutschen Volkes zu bewahren. Symbolisch für die Untreue des Königs seinem Volk gegenüber war für Luden die Ehe, die Otto I. für seinen Sohn, den späteren König Otto II. mit Theophano arrangierte, der Nichte des byzantinischen Kaisers Johannes I. Tzimiskes. Er lässt kein gutes Haar an „dieser Griechin“: Sie sei ein eingebildetes Frauenzimmer gewesen, seit frühester Kindheit an 235

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tiefe Kratzfüße, höfische Tändeleien, steife Umgangsformen und leere Komplimente gewöhnt, ohne das geringste Gefühl für die Einfachheit der deutschen Sitten.101 Ihren Sohn, den armen Otto III., habe sie wie einen griechischen Prinzen erzogen, sodass er sich als Kaiser kaum in Deutschland blicken ließ und es vorzog, in Rom zu residieren. Glücklicherweise dauerte seine Regierung nicht lange und das Haus der Ottonen starb mit ihm aus.102 Luden ließ keinen Zweifel daran, dass die Ursache für die spätere Zersplitterung Deutschlands bei niemand anderem lag als bei diesen drei Königen, die eitlen römischen Ruhm über solide, vaterländische Treue gestellt hatten. Was mit den Ottonen begonnen hatte, wurde von den Staufern vollendet. Für Friedrich II. zeigte Luden noch ein gewisses Verständnis. Er sei ein Mann reicher Geistesgaben gewesen, die in Italien wahrscheinlich besser zur Entfaltung hätten kommen können als in Deutschland; doch Wurzeln geschlagen habe er nirgends. Er sei ein „ambivalenter, unzuverlässiger Charakter“ gewesen, „dessen Seele nicht war, wo sein Körper weilte“. Für Friedrich Barbarossa fand Luden kein gutes Wort, obwohl er genau wusste, dass er einen der am meisten verehrten Kaiser in der Geschichte angriff. Das Märchen, Barbarossa sei nicht gestorben, sondern läge in tiefem Schlaf in einer Höhle bis zum Tag von Deutschlands Wiederauferstehung, war ein zentraler Mythos des erwachenden Nationalismus.103 Durch Friedrich Rückerts Gedicht aus dem Jahr 1817 wurde Friedrich I. endgültig unsterblich: „Der alte Barbarossa, / der Kaiser Friedrich, / im unterirdischen Schlosse, / hält er verzaubert sich, /[…] Er hat hinab genommen, / des Reiches Herrlichkeit, / und wird einst wiederkommen, / mit ihr zu seiner Zeit.“104 Das Nationalgefühl teilte Luden, nicht aber die Bewunderung für diesen Kaiser, der in seinen Augen ein eitler, gewalttätiger, kalter und egoistischer Mann gewesen war, der seine Interessen und die seiner Familie über die des deutschen Volkes gestellt hatte.105 Am meisten verübelte Luden Barbarossa, sich ebenso wie sein Vorgänger Otto I. nicht an das Gesetz Gottes und der Natur gehalten zu haben, dass ein Fürst nur über sein eigenes Volk vernünftig regieren könne. Otto sei es bei allen überflüssigen Abenteuern in Italien dennoch gelungen, in Deutschland selbst eine gewisse Ordnung aufrecht236

Heinrich Luden: Deutschland und seine Könige

zuerhalten, da er trotz des Lehnssystems den Adel fest im Griff hatte. Doch Barbarossa musste, um sich in Italien zu halten, alle Kräfte in Deutschland mobilisieren und dazu wandte er sich wie seit jeher üblich an seine Reichsfürsten. Wenn es in diesem Moment einen König gegeben hätte, der sich mit den Städten verbündet und den Kampf gegen den feudalen Adel aufgenommen hätte, hätte das Volk bereits damals seine Einheit und Freiheit erlangt. Barbarossa setzte sich jedoch über die Städte hinweg und bestand auf seinem Bund mit dem Reichsadel. Der Krieg in Italien war in Ludens Augen an sich schon ein Fehler, denn ein deutscher König hatte in Italien nichts zu suchen, schlimmer aber war, dass Barbarossa für den Sieg in diesem Krieg sein Land und sein Volk den Launen einer unverantwortlichen Bande von Nichtsnutzen überließ, die keine nationale Einheit wünschten, sich nicht um das Volk kümmerten und sich statt auf eigene Verdienste lediglich auf ihre Herkunft berufen konnten.106 Als Barbarossa 1190 auf dem Weg ins Heilige Land ertrank, war jede Hoffnung für Deutschlands Zukunft dahin. Der König, der die Seele seines Volkes hätte sein müssen, war ein Diener der Reichsfürsten geworden; die Städte waren in ihrer Entwicklung gehemmt, die Bauern in noch tiefere Sklaverei verfallen. Fortan bestand Deutschland nur noch in der Erinnerung und der Nostalgie.107 Die Studenten auf der Wartburg hatten ihre Landsleute dazu aufgerufen, aus der Geschichte Deutschlands Kraft zu schöpfen für die „lebendige Tat in der Gegenwart“. Es scheint, als hätten Historiker wie Raumer und Luden diesen Aufruf ignoriert. In Raumers Fall ist es nicht verwunderlich: Er betrachtete Deutschland, wie es damals war, als vollkommen. Das Land war politisch gespalten, aber dadurch habe es seine Freiheit bewahrt. Dies bewies er anhand der Geschichtsschreibung, indem er die Zersplitterung seines Landes als selbstverständliches Ergebnis eines langen, kontinuierlichen historischen Prozesses schilderte, bei dem die Regierung der staufischen Kaiser einen denkwürdigen Höhepunkt gebildet und nicht den Beginn des Niedergangs eingeleitet hätte. Raumers Ton war beschwichtigend, beschwörend, gewiss nicht nostalgisch; für ihn gab es keinen Grund, der vergangenen Zeit nachzutrauern, wie es Friedrich Schlegel auf der Wartburg getan 237

Eigenart

hatte. Für ihn war Deutschland noch immer, was es seit jeher gewesen war: ein Land, das in erster Linie seine alten Freiheiten schätzte und dafür bereitwillig seine politische Stärke opferte. Und so sollte es bleiben. Luden dagegen war von dem Moment an, als die Franzosen in Deutschland einmarschiert waren, ein Fürsprecher stärkerer nationaler Einheit gewesen und hatte die aufständischen Studenten in ihren Forderungen gegenüber den deutschen Fürsten bestärkt. Doch wenn er in seinem großen Werk aus der Geschichte Schlussfolgerungen für die Zukunft zieht, dann scheint es zumindest, als käme er auf Schillers Urteil zurück, das deutsche Volk solle die große Politik lieber anderen überlassen, um sich auf kulturelle und moralische Werte konzentrieren zu können, auf Wissenschaft und Kunst. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Luden die mittelalterliche Vergangenheit heraufbeschwor, um, wenn auch verhüllt, seine Hoffnung für die Zukunft Deutschlands auszudrücken. Seine Diagnose war eindeutig: Der Adel habe den freien Bauernstand seiner alten Freiheit beraubt und die mittelalterlichen Könige hätten bei ihrer Aufgabe versagt, nationale Einheit zu bringen und in den Städten eine neue Freiheit zu fördern. Der geneigte Leser verstand, dass die Macht des Adels gebrochen und die Freiheit von Bürgern und Bauern wiederhergestellt werden musste, und dass die vielen Landesfürsten verschwinden mussten, um Platz für einen nationalen König zu machen. Doch bestand eine realistische Hoffnung, dass ein derart ehrgeiziges politisches Programm auch realisiert werden konnte? Luden sprach sehr verdeckt über eine ferne Zukunft, in der das deutsche Volk wieder seinen Platz unter den ersten der Völker einnehmen würde, aber dabei beließ er es. Und dabei konnte er es auch belassen, denn durch sein gesamtes Werk zieht sich der felsenfeste Glaube, das deutsche Volk hätte sich in seinem Wesen niemals verändert und die Stärke seines Geistes ungebrochen bewahrt, trotz allem, womit es im Laufe seiner Geschichte konfrontiert worden sei. Ludens Buch ist ein leidenschaftlicher Aufruf an das deutsche Volk, wieder zu werden, was es in der Vergangenheit gewesen war: eine freie und vereinte Nation, die

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Frankreich: die Revolution als Bruch

selbstbewusst ihren Platz in der Mitte der anderen Völker eingefordert hatte und dies wieder tun konnte und musste. Zu seiner Zeit gehörte Luden gewiss einer Minderheit an. Die meisten Deutschen, so sie überhaupt über die politische Zukunft ihres Landes nachdachten, waren mit Raumer einer Meinung, dass die deutsche Vielstaaterei ein großer Vorteil sei. Sie hingen an ihrem kleinen Vaterland und ihrem eigenen Landesfürsten und machten sich kaum Gedanken über ein zukünftiges vereintes Deutschland, wie radikale Studenten es ihnen vorspiegelten. Dies änderte sich jedoch nach 1848. Luden selbst geriet in Vergessenheit, aber seine Ideen wurden dann erst akzeptiert und sogar radikalisiert. Luden hatte für Einheit plädiert, aber auch für Freiheit und hielt das eine nicht ohne das andere für denkbar. Die deutschen Generationen nach 1848 waren gern bereit, einen Teil dieser Freiheit zu opfern, falls das Land zu einer starken nationalen Einheit zusammengeschmiedet werden würde. Im preußischen König Wilhelm I. – Barbablanca, wie er nach 1870 manchmal genannt wurde – begrüßten sie die Reinkarnation des staufischen Kaisers Friedrich I. Barbarossa.

Frankreich: die Revolution als Bruch Nirgendwo wurde die Erforschung der mittelalterlichen Vergangenheit im 17. und 18. Jahrhundert auf einem so hohen Niveau betrieben wie in Frankreich. Generationen von Benediktinern, allen voran die des Klosters von Saint-Germain-des-Prés in Paris, gruben in den französischen Archiven und Bibliotheken nach alten Dokumenten und editierten sie auf vorbildliche Weise. Jean-Baptiste de la Curne de Sainte-Palaye hatte als Mitglied der Académie des Inscriptions et belles-lettres das Studium der mittelalterlichen französischen Literatur zur Pflicht gemacht und dem Ritterideal neues Leben eingehaucht. Außerdem war die mittelalterliche Vergangenheit in Frankreich nicht nur ein Fall für die Wissenschaft, sondern auch lebendige Erinnerung. Die Krönung des Königs und sein Begräbnis im Kloster von Saint-Denis waren für jede Generation der lebendige Beweis der ununterbrochenen Kon239

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tinuität der französischen Monarchie seit Chlodwig, dem ersten Ludwig. Als der 16. Ludwig am 11. Juni 1775 in Reims nach dem jahrhundertealten Ritual gesalbt und gekrönt wurde, brachte das zwar die Intelligenzia zum Grinsen, aber das französische Volk strömte zu Tausenden herbei, um aus den Händen seines geweihten Fürsten Genesung zu empfangen.108 Umso überraschender ist es, dass sich der französische Nationsbegriff im 18. Jahrhundert ohne tiefgehende Reflexion über die mittelalterliche Vergangenheit bildete, obwohl das ganze Material vorhanden war. Während die Briten eine Nation konstruierten, indem sie über die lange Geschichte ihres Parlaments brüteten, und die Deutschen sich ihrer Einheit und Eigenart bewusst wurden, indem sie sich die tragische Geschichte des Heiligen Römischen Reiches und die Schönheit des Minnegesangs in Erinnerung riefen, führte der französische Stolz auf das Vaterland nicht zu einer Besinnung auf dessen Ursprung. Erst in den Jahren um 1800 fiel Intellektuellen wie Madame de Staël diese eigenartige französische Entwicklung auf und sie definierten sie als Rückstand, der aufgeholt werden musste. Letzteres geschah erst nach Waterloo, als auch bei den Franzosen die Sehnsucht wuchs, nach den dramatischen Geschehnissen der Revolutionsjahre wieder einmal tiefer über die eigene französische Vergangenheit nachzudenken und ihr einen Platz im Gedächtnis der Nation einzuräumen. Für die Franzosen des 18. Jahrhunderts gab es nicht den geringsten Grund, Existenzberechtigung in der eigenen Vergangenheit zu suchen. Die Größe ihres Landes war so selbstverständlich, dass sie nicht mit einer Berufung auf die französische Geschichte untermauert werden musste. Erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts war Frankreich zum unbestrittenen Zentrum Europas geworden. Französisch hatte Latein als Sprache der kultivierten Menschheit ersetzt, der Hof von Versailles war Vorbild für alle anderen Fürsten und Paris bildete den Mittelpunkt eines intellektuellen Netzwerks, das ganz Europa umspannte. Gerade um sich von dieser französischen Kulturhegemonie abzugrenzen, begannen unzufriedene Intellektuelle in anderen Ländern Europas, sich mit ihrer eigenen „nationalen“ Vergangenheit zu beschäftigen. In Frankreich war diese abgrenzende Haltung gar nicht nötig: die französische 240

Frankreich: die Revolution als Bruch

Kultur war eine universelle Kultur, an der jeder, der des Französischen mächtig war, teilhaben konnte. Diese Haltung wurde noch von dem katholischen Charakter der französischen Kultur verstärkt. In England und in den deutschen Ländern war die Religion seit der Reformation Landessache geworden und hatte sich dadurch etwas Exklusives und manchmal sogar Xenophobisches bewahrt. In Frankreich blieb bei aller Zurückhaltung des Königs und seiner Bischöfe gegenüber der Macht des Papstes ein Bewusstsein lebendig, dass im Prinzip alle Menschen ohne Unterschied einen Teil einer weltumspannenden Gemeinschaft ausmachen konnten. So war die französische Obrigkeit in Kanada davon überzeugt, dass sogar Indianer, wenn sie den katholischen Glauben annähmen, sich zu echten Franzosen entwickeln könnten.109 Bei modernen Untersuchungen hat sich immer deutlicher gezeigt, wie sehr das französische Nationalbewusstsein auf dem Fundament des Katholizismus aufbaute, ja, im Grunde eine säkulare Version davon war. Der französische Nationalismus schloss den Rest der Welt nicht aus, sondern ein, genau, wie es die katholische Kirche immer getan hatte.110 Nicht Herkunft oder Territorium, sondern der politische Wille, Franzose zu sein und gemeinsam Großes zu vollbringen, wurde zum entscheidenden Kennzeichen des französischen Nationalismus.111 Als Ernest Renan nach der großen Niederlage gegen Preußen 1800 das französische Nationalgefühl als eine „alltägliche Volksstimmung“ bezeichnete, baute er auf eine über 100 Jahre alte Tradition auf. Für den Umgang mit der französischen Vergangenheit hatte das weitreichende Folgen. Wenn Herkunft oder Wohnort keine entscheidenden Voraussetzungen waren, um das Schicksal Frankreichs zu teilen, dann bedeutete dies, dass auch die Geschichte des französischen Territoriums kein wichtiges Instrument war, um die Gemeinschaft zu binden – eher war es vielleicht ein Hindernis.112 Wer in der Vergangenheit nach einer universalen Gemeinschaft suchte, wie es die neue französische Nation sein wollte, fand anderswo viel bessere Beispiele, in erster Linie in Rom.113 Der Gedanke, nicht das deutsche, sondern das französische Königreich sei der eigentliche Nachfolger des alten Roms, hatte tiefe Wurzeln, die bis zurück ins späte Mittelalter reichten, als 241

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französische Juristen ihren König zum Kaiser im eigenen Reich ausriefen. Auch war nach Meinung vieler französischer Humanisten im Grunde nicht Italien intellektuelles Erbe Roms, sondern Frankreich, wo das Studium der Literatur schon mindestens seit Karl dem Großen auf höchstem Niveau gestanden und in der Renaissance eine neue Blüte erreicht hatte. Im 18. Jahrhundert blieb die römische Vergangenheit das leuchtende Vorbild für die Kultur, wie sie das seit jeher gewesen war, aber je lauter die Kritik am fürstlichen Absolutismus wurde, desto mehr verschob sich das Interesse vom Kaiserreich zur Republik, zu der Zeit, als die Römer noch freie Bürger waren, die im Senat und in der Volksversammlung selbst über ihr Schicksal entschieden.114 Die Tendenz, die eigene Vergangenheit zu vernachlässigen und die römische Republik zu verherrlichen, erreichte in der Revolution einen Höhepunkt und zugleich Endpunkt. Das revolutionäre Frankreich brach mit der eigenen Geschichte. Für die Revolutionäre zählte nur die Freiheit der Zukunft; die französische Vergangenheit wurde als Aneinanderreihung von Gruselgeschichten über Unterdrückung und Aberglaube betrachtet.115 Der mittelalterliche Teil der Vergangenheit wurde jetzt nicht mehr nur ignoriert, sondern vernichtet. Die Klöster wurden geschlossen, die Mönche und Nonnen auf die Straße gesetzt oder enthauptet, Kathedralen wurden abgerissen und die Gräber der Könige in der Klosterkirche von Saint-Denis von einer wütenden Menge geschändet, um allem was an Gott, Kirche und König erinnern konnte, ein Ende zu bereiten. Notre-Dame in Paris wurde zwar nicht abgerissen, aber alles wurde daraus entfernt, „was das republikanische Auge verletzen konnte“. Die leere Hülle, die übrigblieb, sollte nicht länger von einer verhassten Vergangenheit erfüllt sein, sondern laut einem Gedenkstein von 1795 vom universellen kunstsinnigen Genie des Menschen, das durch die Revolution von den Fesseln der Kirche und des Glaubens befreit worden war. Auf ähnliche Weise wurden die gotischen Kirchen von Dijon gerettet: Laut einem offiziellen Bericht sprach aus ihnen derselbe Geist wie aus den ägyptischen Pyramiden und deswegen gehörten sie nicht in eine bestimmte Zeit, sondern der Menschheit zu allen Zeiten. Indem auf diese Art und Weise mittelalterlichen Gebäuden ein Wert zugeschrieben wurde, der von ihrer konkreten Ge242

Frankreich: die Revolution als Bruch

schichte getrennt war, wurden zahlreiche Denkmäler in Frankreich vor der revolutionären Plünderung gerettet, aber das hatte nichts mit Ehrfurcht vor dem mittelalterlichen Erbe zu tun: Sie wurden trotz ihres mittelalterlichen Ursprungs gerettet.116 Nach dem Staatsstreich vom 9. Thermidor im Jahr II (27. Juli 1794), der das Ende des Terrors einläutete, ging es insgesamt etwas ruhiger zu. Das gesetzte Bürgertum ergriff wieder die Macht und der überspannte Kultus der römischen Republik wurde auf normalere Proportionen reduziert, weil er zu sehr mit dem Terror assoziiert wurde. 1795 konnte der Historiker Constantin de Volney sogar, ohne zensiert oder enthauptet zu werden, öffentlich sagen, dass die Franzosen Griechenland und Rom zu viel Aufmerksamkeit widmeten, ihren eigenen Vorfahren, den keltischen Galliern, jedoch zu wenig. Mit dieser Bemerkung knüpfte er an eine Passage aus dem berühmten Pamphlet des Abbé Sieyès über den dritten Stand an, in der dieser behauptet hatte, dass das heutige französische Bürgertum in direkter Linie von den alten Galliern, der Adel hingegen von den fränkischen Eroberern abstammte, die seit dem 5. Jahrhundert die Gallier geknechtet hatten.117 Sieyès forderte den Adel folgerichtig auf, in die germanischen Wälder zurückzukehren, von wo er gekommen sei. Es war ein erster Versuch, die Franzosen für ihre eigene Vergangenheit zu interessieren, doch er war nicht von Erfolg gekrönt: Frankreich blieb im Bann des klassischen Roms. Auch unter Napoleon änderte sich das nicht, außer dass sich das Interesse nun wieder von der Republik zum Kaiserreich verschob. Der frischgebackene Kaiser zeigte durchaus einige Bewunderung für Karl den Großen, wie aus seinem Besuch des Grabes von Karl in Aachen hervorgeht, aber dennoch blieben die römischen Cäsaren sein großes Vorbild. Dass er sich 1804 in Anwesenheit des Papstes krönte, hatte wahrscheinlich weniger mit dem Wunsch zu tun, das mittelalterliche römische Kaisertum wieder zum Leben zu erwecken, als mit der kühlen These Voltaires, dass nur Religion das gewöhnliche Volk ruhig zu halten vermag.118

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Frankreich: die Revolution als Klimax Ebenso, wie die führenden Köpfe der Revolution alles vergessen wollten, was vor dem Fall der Bastille in Frankreich geschehen war, so wollte der zurückkehrende König nichts von der Phase des Umbruchs wissen, die sich danach ereignet hatte. Ludwig XVIII. kam nach der Restauration 1814 nicht umhin, eine Art Volksvertretung einzusetzen, wie eingeschränkt auch immer sie war. Dass er das tun musste, war eine direkte Folge der Machtergreifung des französischen Volkes im Jahr 1789. Man konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen, auch wenn er der Bruder des enthaupteten Königs war. Er konnte jedoch vorgeben, die neue Volksvertretung hätte nichts mit der Assemblée nationale von 1789 zu tun. Gleich 1814 erließ er die Charte constitutionelle, in der zunächst bekräftigt wurde, dass in Frankreich alle Macht vom König ausging und es danach erst hieß, dass der König in seiner Großmut diese Macht gelegentlich in einigen Punkten mit seinen Untertanen zu teilen gedenke. Zur Bekräftigung wurden historische Beispiele, „die ehrwürdigen Monumente früherer Jahrhunderte“, erwähnt. Damit waren etwa die seit der Merowingerzeit stattfindenden Heeresversammlungen im Fränkischen Reich gemeint, bei denen auch über politische Fragen beraten wurde. Diese fanden zunächst auf dem Märzfeld (Campus Martinus), später auf dem Maifeld statt. Im 12. Jahrhundert hatte Ludwig VI. den Städten Privilegien verliehen, Philipp der Schöne hatte 1302 den dritten Stand zur Beratung nach Paris gerufen und Ludwig XI. hatte der Jurisdiktion weitreichende Befugnisse eingeräumt. Daher, so die Charta, fühle sich auch jetzt der König berufen, aus der Fülle seiner Macht dem französischen Volk diese Verfassung zuzubilligen.119 Kurzum: Das neue Grundgesetz war kein Recht des souveränen Volkes, sondern ein Geschenk des gnädigen Königs. Über die Revolution wurde kein Wort verloren. Aus diesem Schweigen heraus ertönte umso lauter die Botschaft, dass die Revolution ein beklagenswerter Zwischenfall gewesen sei, der die grundsätzliche Kontinuität der französischen Geschichte nicht angegriffen hatte. Im 19. Jahrhundert war es üblich, Modernisierungen und notwendige Anpassungen als Rückkehr zur Vergangenheit darzustellen, und 244

Frankreich: die Revolution als Klimax

das Vorwort zur französischen Verfassung von 1814 ist ein gutes Beispiel für diese „Invention der Tradition“. In der Einleitung fällt besonders die starke Betonung dessen auf, dass die Ideologien der Revolution und der Restauration zwar inhaltlich vollkommen gegensätzlich waren, sie aber dennoch einen wichtigen historischen Ausgangspunkt gemeinsam hatten: Der absolute Bruch mit der französischen Vergangenheit, den die Revolution markierte, war für die einen Anlass, diese Vergangenheit zu vergessen, für die anderen, die Revolution zu verdrängen. Es schien, als gäbe es nach 1814 zwei historische Traditionen in Frankreich, die royalistische und die revolutionäre, die klerikale und die laizistische, die gerade deswegen nicht miteinander vereinbar waren, weil sie sich über die krasse Diskontinuität zwischen Ancien Régime und Revolution einig waren. Die Erinnerung der einen Gruppe klammerte sich an Notre-Dame und den Louvre, die der anderen an das Panthéon und die Bastille. Diese unterschiedlichen Sichtweisen entzweiten die Franzosen in dem Maße, dass nur wenige europäische Länder im 19. und 20. Jahrhundert so tief gespalten waren wie Frankreich. Erst während der Fünften Republik näherten sich die Parteien einander wieder an und der historische Konflikt verlor an Schärfe. Dies wäre jedoch nicht möglich gewesen, wenn Frankreich nicht ab 1815 immer wieder politisch engagierte Historiker hervorgebracht hätte, die versuchten, die Kluft zu überbrücken, indem sie die Geschichte der französischen Nation auf eine Weise neu schrieben, dass sie die Perspektiven beider Parteien berücksichtigte. Dies war wiederum nur möglich, indem sie herausarbeiteten, dass die französische Nation vor und nach der Revolution dieselbe war und es keinen Bruch gegeben hatte, sondern dass die Spannung, die sich 1789 entlud, bis tief in die mittelalterliche Vergangenheit zurückreichte. Ihre Inspiration bezogen sie aus Deutschland, vor allem aus den historischen Betrachtungen Herders. Das Werk Herders war 1815 in Frankreich kaum bekannt, doch seine Ideen verbreiteten sich durch Germaine de Staëls Bericht über ihre Reise nach Deutschland, der in den ersten Jahren der Restauration zu einem der populärsten Bücher von ganz Paris wurde. Im Klima der 245

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Besinnung nach der großen Niederlage fand allmählich der Aufruf Gehör, vom deutschen Beispiel zu lernen und endlich einmal der eigenen französischen Literatur Aufmerksamkeit zu widmen anstatt immer wieder die Klassiker wiederzukäuen. Wobei sich diese Besinnung auf das Eigene und nicht nur auf Literatur, Philosophie und bildende Kunst beschränken sollte. Frankreich hatte von 1789 bis 1850 keine kulturelle, sondern eine politische Krise durchgemacht und es wurde Zeit, dem Rechnung zu tragen. Auch in diesem Punkt war Madame de Staël richtungsweisend. In ihrem letzten Buch, Considérations sur les principaux événements de la Révolution française, das erst nach ihrem Tod 1817 publiziert wurde, rief sie ihre Landsleute über das Grab hinaus auf, auch der Revolution einen Platz in der französischen Geschichte zu geben. Sie selbst bewies, dass die Revolution nicht aus heiterem Himmel gekommen war und keinen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit bedeutete, wie die ersten Revolutionäre behauptet hatten, sondern dass sie den Höhepunkt eines langen Kampfes um Freiheit bedeutete: „Die Freiheit ist alt, der Despotismus hingegen modern.“ Um zu illustrieren, dass Freiheit nicht von selbst kommt, sondern immer wieder erkämpft werden muss, rief de Staël in Erinnerung, dass die französische Vergangenheit eine lange Aneinanderreihung von Konflikten gewesen war, etwa die Verbrennung der Templer unter Philipp dem Schönen 1307, die Jacquerie (der Bauernaufstand) 1358 während des hundertjährigen Krieges und die Rivalität zwischen den Burgundern und den Armagnacs, die im Tod der Führer beider Parteien mündete, des Herzogs von Orléans 1407 und des Herzogs von Burgund 1419.120 Die Revolution passe in eine Tradition blutiger Konflikte, die die französische Geschichte von alters her gekennzeichnet hätten, und es sei Unsinn, zu behaupten, dass Frankreich in den 14 Jahrhunderten des Ancien Régimes stets ein Land von Ruhe, Ordnung und Frieden unter Gott und dem König gewesen sei. De Staëls Buch schlug wie eine Bombe ein. Den Verfechtern der Revolution zeigte sie einen Weg, damit ins Reine zu kommen, den Gegnern nahm sie den sicher geglaubten Anspruch auf die französische Vergangenheit.121 Der erste, der den Fehdehandschuh aufhob, war Louis de Bonald, ein Aristokrat alten Schlages, der hochheilig davon überzeugt war, die 246

Frankreich: die Revolution als Klimax

Restauration der Bourbonen 1814 hätte für alle Zeiten bewiesen, dass die Anhänger der Monarchie das historische Recht auf ihrer Seite hätten. Schließlich sei die Monarchie die natürlichste Regierungsform und die Demokratie nichts weiter als eine kurze Phase des Chaos gewesen, die den Menschen ihr natürliches Verlangen nach der Ordnung und Ruhe des Königtums nur umso bewusster gemacht hätte.122 De Bonalds Gewissheit beruhte auf einem äußerst statischen Bild der Geschichte, das er in seinen Observations sur l’ouvrage ayant pour titre: Considérations […] par Mme Baronne de Staël von 1818 kurz und bündig zusammenfasste. Nachdem er zunächst darauf hinwies, de Staël habe sich doch lieber auf ihre häuslichen Pflichten konzentrieren sollen, die die natürliche Domäne der Frau bildeten, und das Nachdenken über Politik und Geschichte den Männern überlassen sollen, kam er zur Sache. Laut de Bonald sei die Geschichte Frankreichs der beste Beweis für die These, dass Könige stets befohlen und ihre Untertanen ihnen stets gehorcht hätten. Im Grunde brauchte de Bonald die Geschichte gar nicht: Sie war ihm höchstens eine Illustration für die Richtigkeit des transzendenten Prinzips der Monarchie. In den Überblicken über die französische Geschichte, die er in den Observations und anderen Werken bot, scherte er alle großen Könige Frankreichs über einen Kamm: Chlodwig, Karl den Großen, Hugo Capet, Ludwig IX., Heinrich IV. und Ludwig XIV. Sie alle sind für ihn die Verkörperung des einen, ewig gültigen Prinzips, dass nach einer Zeit des Chaos die gesetzliche Erbfolge und die alte Religion immer wieder triumphieren; dies sei der konstante, zyklische Lauf der Geschichte. Was auch geschehen mochte: „Es gibt keine soziale Schwäche, die Religion und Monarchie, wenn sie einig auftreten, nicht genesen könnten.“123 Die Reihe der Könige von Chlodwig bis Ludwig XVIII. bildete sozusagen die Garderobe, an die die Franzosen ihre Geschichte hängen konnten. Das Mittelalter war für de Bonald von keiner besonderen Bedeutung: Die gesamte Vergangenheit, von den Merowingern bis einschließlich den Bourbonen, war geprägt von Kirche und König. Frankreich müsse nichts weiter tun, als wieder auf den rechten Pfad seiner Geschichte zurückzukehren, von dem es für kurze Zeit auf dramatische Weise abgeirrt war. 247

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Diese starre, unbewegliche Sicht auf die Vergangenheit kennzeichnete die Royalisten und die Katholiken. Das Studium der Geschichte hielten sie für nicht besonders wichtig; es reichte, zu wiederholen, was in den vorherigen Jahrhunderten schon so oft gesagt worden war.124 Erst als sie feststellten, wie kreativ ihre Gegner diese Geschichte nutzten, um zu beweisen, dass die Revolution vollkommen im Einklang mit der Entwicklung Frankreichs stand, wurde auch ihnen klar, dass sie eine Perspektive auf die Vergangenheit entwickeln mussten, die mehr war als die Bebilderung zu einem theologischen Traktat. Es waren Romantiker wie Novalis und Chateaubriand, die ihnen den Weg zur Utopie des Mittelalters als einer Epoche von Gehorsamkeit und Frömmigkeit, von Kirche und König wiesen.125

Augustin Thierry: König und Volk Royalisten wie Louis de Bonald konnten auf eine alte und wohlbekannte Überlieferung zurückgreifen, um sich zu rechtfertigen. Seit dem späten Mittelalter waren Chroniken über die ruhmreichen Taten der französischen Könige verfasst worden. Erst als sich nach 1815 das historische Interesse plötzlich auf die eigene französische Vergangenheit anstatt die römische Antike richtete, wurden diese alten Mythen neu aufgelegt und verkauften sich wie warme Semmeln. Man hatte den Eindruck, als hätte Frankreich keine andere Vergangenheit gekannt als die des Königs. Die Erben der Revolution gingen leer aus. Jetzt rächte sich der Mangel an Interesse für die eigene Historie, der so bezeichnend für die revolutionären Jahre gewesen war. Dadurch verpasste Frankreich zwei wichtige Entwicklungen in der historischen Wissenschaft. Zunächst hatte paradoxerweise das Land mit dem stärksten Nationalbewusstsein keinen Mythos über die Entstehung der Nation im Laufe der Geschichte entwickelt, wie es in Deutschland durch Herder und spätere Historiker geschehen war. Außerdem war die französische Geschichtsschreibung methodisch veraltet. Französische Historiker schrieben noch wie Chronisten und kannten sich kaum mit dem deut248

Augustin Thierry: König und Volk

schen Historismus aus. Daher fehlte ihnen die Erkenntnis, dass die Vergangenheit wesentlich anders war als die Gegenwart und man das eine nicht in Begriffen des anderen beschreiben konnte.126 De Bonalds Sicht des französischen Königtums ist ein gutes Beispiel: Er sah keinen wesentlichen Unterschied zwischen Chlodwig und Ludwig XVI. Beide waren Roi de France gewesen, die zufälligen Verkörperungen des unveränderlichen Prinzips der Monarchie. Deswegen ist seine Perspektive so statisch, denn nur, wer anerkennt, dass die Vergangenheit anders ist als die Gegenwart, kann Geschichte als Entwicklungsprozess beschreiben und die Vergangenheit historisieren.127 Der erste, der die Rückständigkeit der französischen Geschichtsschreibung erkannte und sich daraufhin sein Leben lang dafür einsetzte, daran etwas zu ändern, war Augustin Thierry. Er historisierte die französische Vergangenheit und nationalisierte sie; Ersteres im Dienste des Zweiten. So schrieb er in Dix ans d’études historiques (1835): „Mithilfe der Wissenschaft in Verbindung mit Patriotismus ist es möglich, aus unseren alten Chroniken Geschichten zu destillieren, die eine Saite im Volk zum Schwingen zu bringen.“128 Doch Thierry musste einen so großen Rückstand aufholen, dass er selbst nie einen zusammenhängenden Text über die Geschichte Frankreichs geschrieben hat. Dennoch waren die Ideen, die er in seinen vielen Artikeln entwickelte, entscheidend für eine ganze Generation französischer Historiker, die versuchten, Vergangenheit und Gegenwart wieder aneinander zu knüpfen, um eine neue Geschichte präsentieren zu können. Thierry trieb hauptsächlich die Frage um, wer die Vergangenheit den Realisten entreißen und zeigen könnte, dass nicht der König, sondern das Volk Gegenstand der französischen Geschichte war. Dazu musste er erst den bestehenden Mythos über die Könige demaskieren.129 Er musste aufzeigen, dass es unsinnig war, von einer langen, kontinuierlichen Linie zu sprechen, die mit Chlodwig begonnen hatte und mit dem regierenden Fürsten endete. Thierry betonte immer wieder, dass die Royalisten den fundamentalen historischen Fehler begingen, die Vergangenheit in den Begriffen der Gegenwart darzustellen und sie nicht in ihrer Fremdheit zu belassen. Es fehlte ihnen ein Gefühl für die Eigenart der Vergangenheit, die 249

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Thierry als „die Wahrheit des Lokalkolorits“ bezeichnete.130 Es sei lächerlich, Chlodwig oder Karl den Großen als „Könige von Frankreich“ zu bezeichnen: Sie seien germanische Warlords gewesen, die das französische Volk unterdrückten und kein Wort Französisch, sondern einen barbarischen, germanischen Dialekt gesprochen hätten. Um seinen Lesern dies zu verdeutlichen, gab Thierry allen Königen von 496 bis 987 ihre germanischen Namen, anstatt die späteren französischen Versionen: Clovis wurde zu Chlodowig und Charlemagne zu Karl dem Großen, was natürlich zu dem Verfremdungseffekt beitrug, den er beabsichtigte.131 Mit der Thronbesteigung Hugo Capets 987 endete zwar die fränkisch-germanische Besatzung der gallischen Länder, doch auch Hugo konnte unter keinen Umständen als König von Frankreich betrachtet werden, da er nur über ein kleines Gebiet rund um Paris regierte. Die mächtige französische Monarchie, auf die die Bezeichnung Rois de France verweist, entstand erst Ende des Mittelalters unter Königen wie Ludwig XI. und Franz I.132 Das Königtum konnte unmöglich der rote Faden durch die französische Geschichte sein. Mit dem Abtreten des Königs war der Weg frei, den wahren Helden der französischen Geschichte ins Scheinwerferlicht zu rücken. Thierry nannte ihn Jacques Bonhomme, den einfachen französischen Bauern, der Jahrhundert um Jahrhundert das Land beackert hatte, der von Römern und Franken, von Baronen und Bischöfen ausgebeutet worden war und der zum ersten Mal eine Prise Freiheit geschnuppert hatte, als 1789 die Feudalrechte abgeschafft wurden. Der Kampf von Jacques Bonhomme gegen seine Unterdrücker war für Thierry die wahre Geschichte Frankreichs.133 Es war eine Geschichte von Eroberern und Eroberten, von harten Konflikten und von einem Kampf, der Thierry zufolge erst mit der Julirevolution von 1830 geendet hatte. Diese Revolution sei kein Bruch mit der französischen Vergangenheit gewesen, denn es sei nur ein etwas liberalerer Fürst auf den Thron gehoben worden, aber dennoch habe sie die Endphase einer langen Auseinandersetzung zwischen Unterdrückern und Unterdrückten eingeläutet, die schon seit dem Beginn des Mittelalters andauerte. Zu demselben Schluss war Madame de Staël bereits 1817 gekommen.

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Augustin Thierry: König und Volk

Thierry zufolge war die Geschichte von zwei großen Konflikten geprägt: dem Kampf zwischen Kelten und Franken im frühen Mittelalter und dem Kampf zwischen den Städten auf der einen und Adel und König auf der anderen Seite im späteren Mittelalter.134 Dass auf französischem Boden ein heftiger Streit zwischen Kelten und Franken getobt hatte, war keine neue Erkenntnis. Bereits im 16. Jahrhundert hatten Historiker die Meinung geäußert, dass die meisten modernen Franzosen nicht von den Franken, sondern von den alten Galliern abstammten. Die Konfrontationen zwischen diesen beiden Parteien war damals allerdings nicht als ein Kampf gegeneinander dargestellt worden, sondern als ein gemeinsamer Kampf gegen die römischen Besatzer (siehe Seite 62–63). Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden die Gallier erneut auf den Plan gerufen, und zwar von Henry de Boulainvilliers, einem unzufriedenen Adeligen, der glaubte, dass die französischen Könige dem Adel zu Unrecht Privilegien entzogen hätten. Der Tod Ludwigs XIV. 1715 und die Reaktion der Aristokraten darauf schienen ihm ein günstiger Zeitpunkt zu sein, dieses Unrecht anzuprangern. Er verbreitete unter seinen Freunden allerlei handgeschriebene historische Traktate, die nach seinem Tod als Histoire de l’ancien gouvernement de la France zusammengefasst und 1727 in Den Haag herausgegeben wurden. Ein immer wiederkehrendes Thema in seinen Betrachtungen war, dass er und seinesgleichen die direkten Nachfahren der fränkischen Besatzer seien und sie seit jeher das Fundament Frankreichs gebildet hätten. Boulainvilliers behauptete, das Land sei nach der Eroberung Galliens nicht Eigentum des Königs geworden, sondern unter allen Stammesmitgliedern aufgeteilt worden. Die weitere Geschichte Frankreichs sei die Geschichte des Verfalls der ursprünglichen Macht des fränkischen, später französischen Adels.135 Ausgangspunkt von Boulainvilliers’ kuriosen Betrachtungen war die absolute Gegensätzlichkeit zwischen Eroberern und Eroberten, zwischen Franken und Galliern. Der Status des französischen Adels war seiner Meinung nach durch das Recht des Eroberers legitimiert, sich Land und Volk zu unterwerfen. Umgekehrt konnte natürlich genauso gut auch nach den Rechten der Eroberten geforscht werden. Ge251

Eigenart

nau das tat Sieyès 1789, als er die Adeligen aufforderte, in die Wälder zurückzukehren, wo sie hergekommen seien, und das Land den ursprünglichen Eigentümern zurückzugeben. Auch Thierry schlug sich auf die Seite der alten Gallier und schilderte in lebhaften Farben die Schrecken der fränkischen Besatzung Galliens. Die freien keltischen Bauern seien damals entrechtet worden, weil sie in den Augen der Franken keine Menschen, sondern pecunia viva (lebendes Geld) gewesen wären, für immer an Grund und Boden gebunden, Sklaven, die nicht einmal ihre Kleidung ihr Eigentum nennen konnten.136 Thierry bezweifelte, dass solche geknechteten Wesen jemals wieder einen Sinn für Freiheit entwickeln konnten. Der Bauernaufstand von 1358 hatte zu heftigen Kämpfen geführt, war aber schon nach einer Woche blutig niedergeschlagen worden. Seitdem hatten die Bauern wieder getan, was von ihnen erwartet wurde, nämlich das Land bebauen und Steuern zahlen. Sogar, als ihnen 1789 die Freiheit in den Schoß geworfen wurde, tauschten sie sie sofort wieder gegen die Sklaverei unter einem neuen Cäsar ein, der sie zu seinem eigenen Ruhm auf die Schlachtfelder Europas trieb.137 Thierrys eigentliche Hoffnung ruhte darum nicht auf den Bauern, sondern auf den Städten und dem Bürgertum. Die Art, in der Thierry den Kampf der Städte beschreibt, macht ihn einzigartig unter den Historikern seiner Zeit. Romantische Historiker waren, wie wir gesehen haben, Erben des Mythos der gotischen Freiheit. Sie spielten gern mit dem Gegensatz zwischen Rom und den Barbaren, zwischen der verweichlichten Kultur des Südens und der sprudelnden Vitalität des Nordens, zwischen der Tyrannei der römischen Kaiser und der Freiheit der germanischen Stämme. Thierry blies nicht in das gleiche Horn. Er gehörte zu den wenigen Romantikern, die eine Kontinuität zwischen dem klassischen Altertum und dem Mittelalter konstruierten.138 Er glaubte, in den Städten der Provence hätte die Tradition der römischen städtischen Selbstverwaltung den Untergang des Reiches überlebt und auch die Franken hätten sie nicht zerstören können. Während die Bauern auf dem Land grausamer, barbarischer Ausbeutung unterworfen worden seien, seien die alten Städte im Süden „Orte der Freundschaft, der Unabhängigkeit und des Friedens“ geblieben.139 252

Augustin Thierry: König und Volk

Als die neuen nordfranzösischen Städte im 11. Jahrhundert in einem harten Kampf gegen die Bischöfe und den Adel um ihre Freiheit fochten, wurden sie vom Beispiel der Städte im Süden inspiriert, die seit der römischen Zeit an ihren Rechten und Freiheiten festgehalten hatten. Thierry betonte diese Kontinuität, weil er die Geschichte des Bürgertums klar von der des Königs trennen wollte.140 Die Royalisten taten, als sei die städtische Freiheit eine Gunst des Königs, eine These, die in der Charta von 1814 noch einmal deutlich unterstrichen wurde. Thierry zufolge hatten die Könige jedoch nie die geringste Initiative unternommen, den Städten ihre Freiheit zu schenken. Wohl hatten nordfranzösische Städte im 12. Jahrhundert königliche Urkunden erhalten, aber dies waren Bestätigungen eines Sieges, den sie schon längst errungen hatten. Nach dem Mittelalter verfolgten die Könige eine straffe Zentralisierungspolitik und unterwarfen die Städte wieder ihrer direkten Autorität. Das Bürgertum jedoch kultivierte die Erinnerung an die Freiheit, die es von den Römern geerbt und um die es im Mittelalter gekämpft hatte, bis es eine zweite Chance erhielt, sie erneut zu realisieren. Dies geschah in der Nacht des 4. August 1789, als die Vertreter der drei Stände zu einer Nationalversammlung zusammengeschmiedet wurden, wodurch das Bürgertum zum Sprachrohr der Nation erhoben wurde.141 In Thierrys Frankreich gab es drei Akteure: König, Bauern und Bürger. Der König hatte sich wie eine Diva mitten auf die Bühne gestellt und die anderen Spieler in die Kulissen gedrängt. Doch die Geschichte Frankreichs war nicht allein die seine, er spielte darin nur eine Rolle. Thierry hatte großes Mitgefühl mit den Bauern, mit Jaques Bonhomme, und er gönnte ihnen Freiheit und Bürgerrechte, doch er hielt diese Ausgestoßenen für nicht in der Lage, um diese Rechte zu kämpfen. Sein Fokus auf die Verlierer in der Geschichte ist bis heute eines der sympathischsten Merkmale seines Werkes. Die Hebamme der Freiheit war das Bürgertum; nur sie konnte für die ganze Nation sprechen, sie verkörperte die Nation in ihrem Kampf um Freiheit.142 Thierry wurde nicht müde zu betonen, dass der Kampf um die Freiheit der Städte eine autonome Bewegung des Bürgertums war, das niemandem etwas zu verdanken hatte, vor allem nicht der Gunst des Königs. Wäre 253

Eigenart

die Bewegung des Bürgertums nicht autonom gewesen, hätte sich nicht erklären lassen, warum gerade diese Klasse das Ancien Régime stürzte und eine nationale Einheit gründete, die auf gleichen Rechten für alle basierte.143 Der Umsturz der Bourbonen-Monarchie und die Thronbesteigung des liberalen Herzogs von Orléans, Louis-Philippe, im Juli 1830 bedeutete für Thierry das, was für moderne Liberale der Fall des Kommunismus 1989 bedeutete: das Ende der Geschichte. Die Revolution von 1789 hatte gut angefangen, war jedoch in Terror ausgeartet, und die Regierung Napoleons und die Restauration der Bourbonen waren die direkte Folge davon. 1830 bewies das Bürgertum gleichfalls seine historische Kraft, indem es den Prätentionen gottgeweihter Könige definitiv ein Ende bereitete und selbst das Heft in die Hand nahm. Der dritte Stand war zur Nation geworden, die Wahrheit hatte triumphiert, der lange Kampf des französischen Volkes gegen seine Unterdrücker war zu Ende. Für Thierry bedeutete das den historischen Sieg des städtischen Bürgertums, das durch alle Jahrhunderte hinweg die Rechte des Volkes verteidigt hatte, welche nun zum Grundgesetz Frankreichs erhoben worden waren. Doch wie alle Endzeitpropheten musste auch Thierry erleben, dass die Geschichte einfach weiterging. 1848 lehnte sich das Volk wieder auf, diesmal jedoch gegen das Bürgertum. Thierrys Wahrheit erwies sich doch nicht als unumstößlich. Am Ende seines Lebens war er ein gebrochener Mann, der die Gegenwart nicht mehr verstand, und er musste zugeben, dass er dadurch auch keinen roten Faden mehr in der französischen Vergangenheit erkennen konnte.144

Jules Michelet: von der Ethnie zum Volk Nicht nur für Thierry, sondern für eine ganze Generation französischer Historiker waren die Geschehnisse von 1830 die Bestätigung ihrer Überzeugung, dass die große Revolution von 1789 kein historisches Missverständnis, sondern die logische Folge der gesamten französischen Geschichte gewesen war. Dies galt allen voran für Jules Michelet, als er in den Jahren nach 1830 mit seiner Histoire de France begann. 254

Jules Michelet: von der Ethnie zum Volk

Später kamen ihm Zweifel, aber bis in die 1840er-Jahre hinein war er zutiefst davon überzeugt, dass sich in den Julitagen von 1830 der lange Prozess der Nationsbildung vollendet hatte. Laut Michelet hatte Frankreich seine Geschichte selbst geformt, indem es alle negativen, einzelnen und lokalen Einflüsse überwand und zu einem lebendigen Ganzen heranwuchs.145 Das Volk hatte jeden Rückschlag dank seiner vitalen Urkraft überwunden und alle Einflüsse von außen in seinem eigenen Wesen verinnerlicht. Kelten, Basken, Griechen und Römer hatten in der Antike das gallische Land erobert und sich dort niedergelassen, aber es war Frankreich selbst gewesen, das „durch einen inneren Prozess, durch mysteriöse Geburtswehen, in der Determination und Freiheit verknüpft waren“, eine Einheit geschmiedet hatte: „unser Frankreich“.146 Determination und Freiheit waren Kernbegriffe Michelets. Die Zivilisationsgeschichte bestand in einem Sieg der Kultur über die Natur, des Allgemeinen über das Einzelne, des Abstrakten über das Konkrete, der Einheit über die Zersplitterung, des Männlichen über das Weibliche. Zivilisation war der Triumph des Willens über das Schicksal. Zu Anfang dieses Prozesses gab es nur Notwendigkeit, Gebundenheit an die Natur, die Geographie und die Ethnie. Aufgabe jedes Volkes war es, diese Grenzen zu sprengen und den Determinismus von ethnischer Zugehörigkeit und materiellen Umständen durch politische und soziale Aktionen zu besiegen, anders ausgedrückt: indem man die Geographie überwand und Geschichte machte.147 Dies war eine Kritik an Thierry, der Michelet zufolge viel zu fatalistisch war in seiner starren Auffassung, die Geschichte sei ein ewiger Kampf der Ethnien gegeneinander.148 Doch es war ebenso eine fundamentale Kritik an den Ideen Herders, für den Nation und Volk Naturgegebenheiten waren, denen sich kein Mensch entziehen konnte und innerhalb derer er sich arrangieren musste. Michelet stellte dem gegenüber, dass jeder freie Mensch, egal welcher Herkunft, selbst beschließen konnte, Franzose zu sein, und dass Frankreich als Nation das Ergebnis all dieser freien, individuellen Entscheidungen sei, dem Vorgegebenen zu entfliehen und selbst eine gemeinschaftliche Zukunft mit Gleichgesinnten in Freiheit zu bil-

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Eigenart

den. Das französische Volk sei eine Schöpfung des Willens und der Geschichte, nicht der Notwendigkeit und der Geographie.149 Einfach sei dieser Prozess der Nationsbildung nicht gewesen. Kaum ein anderes Land war von Natur aus so zergliedert wie Frankreich. Außer zu Spanien besaß das Land keine natürlichen Grenzen, sodass es offen für verschiedene einfallende Völker und Stämme war. Erst kamen die Kelten und die Basken, dann kamen die Römer und zum Schluss die Germanen. Außerdem war das Land geographisch in so viele vollkommen unterschiedliche Gebiete geteilt, dass eine Einheit unmöglich schien. Michelet war davon überzeugt, dass eine Nation erst dann ihre Bestimmung erreicht habe, wenn sie die beiden Beschränkungen von Ethnie und Geographie überwunden habe. Frankreich sei dies als Erstes gelungen. Michelets Mythos von Frankreich ist der Mythos einer Nation, die mit dem größtmöglichen Handikap gestartet ist und doch als erste die Ziellinie erreicht hatte und dadurch ein Vorbild für alle anderen Völker werden konnte. In der Antike und im frühen Mittelalter fand eine Integration der Ethnien statt und erst im späten Mittelalter die der verschiedenen Regionen.150 Der schwierigste Moment bei der Integration jener Ethnien, die zusammen Frankreich bilden sollten, war laut Michelet die Konfrontation mit den Germanen nach dem Untergang des römischen Reiches gewesen. Mit den Germanen wusste Michelet nichts anzufangen; er verachtete die alte germanische Kultur. Dennoch hatten die fränkischen Könige im 5. und 6. Jahrhundert das alte Gallien besetzt, und deshalb musste er irgendwie die Franken in seine Version der Geschichte integrieren, nach der alle Ethnien und Völker etwas Wesentliches zu dem beigetragen hätten, was später Frankreich werden sollte. Die Tatsache, dass sowohl Gallier als auch Franken Christen waren, war für Michelet keine Basis für Integration, weil beide Gruppen eine grundlegend verschiedene Art des Christentums lebten. Die Gallier hatten eine keltische Form des Christentums angenommen, welche die Freiheit jedes Gläubigen betonte, wie es der Brite Pelagius betont hatte. Die Germanen hatten den christlichen Glauben in der Auslegung des Augustinus von Hippo angenommen, der die Vorstellung von der moralischen Freiheit des Menschen praktisch zunichtegemacht hatte, in256

Jules Michelet: von der Ethnie zum Volk

dem er sie unter der Übermacht der göttlichen Gnade begrub. Der Kampf im Mittelalter wurde zwischen diesen beiden Gruppen ausgefochten. Erst in der Moderne sollte der Sieg der Kelten offensichtlich werden, der Sieg von Pelagius über Augustinus, von Descartes über Luther, von Willen über Schicksal.151 Die Germanen verherrlichten Ethnie und Stamm, das Lokale und Einzelne, sie waren Fatalisten, die weder ihr eigenes Schicksal in die Hände nehmen noch Geschichte schreiben wollten. Für Michelet verkörperten sie die Art von Gemeinschaft, die wenig Chancen hatte, zu einer Nation heranzuwachsen. Daher musste er sich sehr verbiegen, um ihnen in seiner Interpretation der französischen Geschichte einen Platz einzuräumen, und es gelingt ihm nur mit knapper Not. Ihm fiel nichts Besseres ein, als dass die alten Bewohner der französischen Gebiete trotz der römischen Besatzung noch zu sehr an ihrer regionalen und ethnischen Determiniertheit hingen und eine neue menschliche Einheit bilden mussten, bevor sie wirklich einen Teil eines Volkes ausmachen konnten. Laut Michelet sei es Aufgabe der Franken gewesen, den Beginn einer Einheit zu schaffen. Sie seien dazu besonders geeignet gewesen, weil sie so lange Zeit regierten und willfährige Instrumente der Kirche waren, die ebenfalls Einheit zwischen den Völkern hervorbringen wollte, wenn auch eine Einheit auf einem bedauernswert niedrigen Niveau.152 Sobald sich ein starker Feind in Form der Normannen ankündigte, war das Reich nicht in der Lage, sich zu verteidigen, weil die aufgezwungene Einheit nicht aus dem Innersten des Volkes kam.153 Nationale Identität verlange ein nationales Königtum, getragen von einem Geschlecht von eigenem Boden, das in der Mitte Frankreichs angesiedelt sei. Diese Voraussetzung erfüllte nur ein Mann, der Graf von Paris, Hugo Capet. Seine Thronbesteigung 987 markierte das Ende der ersten großen Periode, in der Frankreich den ersten Teil seiner historischen Berufung vollbracht hatte: Aus den verschiedenen Ethnien war eine erste Einheit erwachsen. In der nächsten Periode musste die geographische Zergliederung Frankreichs überwunden werden, sodass Frankreich von einer physischen Gegebenheit zu einer „sozialen

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Eigenart

Welt“ heranreifen konnte.154 Dieser Prozess begann mit dem Aufruf der Kirche zum Kreuzzug. Frankreich hatte ab 987 seine eigenen Könige, doch diese waren bis 1200 noch zu schwach, um die Bevölkerung der verschiedenen Regionen aus ihrer lokalen Verwurzelung zu reißen und zu einem Ganzen zusammenzuschweißen. Nur die Kirche hatte in jenen Jahren die Kraft und die Vision, die Menschen für ein spirituelles Ideal zu begeistern, das sie zu einer höheren Einheit zusammenfügte.155 Im 11. Jahrhundert konnte das nichts anderes sein als der große Kampf des Westens gegen den Osten: der Kreuzzug, ein Kampf, in dem Frankreich die Vorreiterrolle übernahm. Der französische Papst Gerbert von Aurillac, Silvester II., war der erste, der diese Idee äußerte; der französische Papst Odon de Lagery, Urban II., verkündete auf dem Konzil von Clermont (1095) den ersten Aufruf und es waren vor allem Franzosen, die ihm folgten. Durch den Entschluss, auf Kreuzzug zu gehen, löste sich das Volk erstmals aus den lokalen Fesseln der Hörigkeit, um sich in den gemeinsamen Kampf um Jerusalem zu stürzen. Es war der erste Schritt aus der Gebundenheit der Geographie hin zur Freiheit der Geschichte: „Sie suchten Jerusalem und sie fanden die Freiheit.“ Den Aufstand der nordfranzösischen Städte gegen ihre Bischöfe, den Thierry so bedeutsam fand, betrachtete Michelet als Folge jener neuen Freiheit, an der die Franzosen während des Kreuzzugs geschnuppert hatten.156 Erst im 100-jährigen Krieg gegen England konnte Frankreich jedoch diese Freiheit nutzen und zu sich selbst finden. Die vernichtenden Niederlagen der französischen Ritterarmeen gegen die englischen Söldner bei Crécy (1346) und Poitiers (1356) waren laut Michelet ein Segen, weil sie den Untergang des Adels als politische Macht in Frankreich besiegelten. Das französische Volk, befreit von seinen Unterdrückern, konnte sich endlich entwickeln. Das Pariser Bürgertum, unter der Führung des Schneiders Étienne Marcel, zwang dem Hof 1357 die Grande Ordonnance ab, in dem Versuch, die Macht des Königs zu beschneiden; für Michelet war dies der „erste politische Akt Frankreichs“. 1358 erhoben sich dann die Bauern in Nordfrankreich. Beide Bewegungen wurden blutig niedergeschlagen, doch es war das erste Mal, 258

Jules Michelet: von der Ethnie zum Volk

dass das Volk in Aktion trat und sich mit dem Schicksal Frankreichs identifizierte. Was die Könige im 12. und 13. Jahrhundert als Reform von oben begonnen hatten, wurde im Krieg gegen England vom Volk übernommen und getragen. Michelet: „Der Wilde wird Mensch […]. Es sind Franzosen, keine Bauern mehr, errötet nicht darob, es ist von jetzt an das französische Volk, Ihr seid es, oh Frankreich.“157 An anderer Stelle heißt es: „Es [Frankreich] hat die Engländer auf sich selbst zurückgeworfen, es hat sie gezwungen, nach Hause zurückzukehren. Frankreich hat gesucht, […] es ist durchgedrungen bis an die Fundamente des Lebens des Volkes, und was hat es gefunden? Frankreich. Es verdankt seinem Feind, sich als Nation erkannt zu haben.“158 Wie vollkommen sich das Volk mit Frankreich identifizierte, zeigte sich laut Michelet, als das Land die größte Krise seiner Existenz erlebte: die zweite Invasion der Engländer 1415. Die französische Armee erlitt eine vernichtende Niederlage bei Azincourt, Paris wurde besetzt und der Hof flüchtete nach Bourges. Frankreich war dem Untergang nahe, aber dann vollzog sich das große Wunder seiner Wiederauferstehung in der Person der Jeanne d’Arc. Für Michelet verkörperte Jeanne das französische Volk, hauptsächlich in seiner Reinheit und Weiblichkeit, aber auch in seinem Leiden und der letztendlichen Auferstehung vom Tod. Das Bemerkenswerte an Jeanne waren nicht ihre Heiligkeit oder ihre Visionen, sondern ihre volksnahe Einfachheit und ihr robuster, gesunder Menschenverstand, in dem sich das französische Volk – „Frankreich selbst war eine Frau“ – wiedererkannte, wodurch es ihr durch dick und dünn folgte.159 Als sie in Vaucouleurs eintraf, zweifelte der Pastor, nicht aber das Volk; die Bürger von Orléans begrüßten sie wie einen Engel vom Himmel, und als der Dauphin Karl VII. daran zweifelte, ob er sich tatsächlich in Reims krönen lassen sollte, waren es Jeanne und das Volk, die ihn mit ihrer Begeisterung dazu bewegten. In diesem entscheidenden Moment waren es nicht der König und die Kirche, sondern Jeanne und das Volk, durch die Frankreich gerettet wurde und zu Frankreich wurde: „Bei uns wurde das Vaterland geboren aus dem Herzen einer Frau“.160 Mit Jeanne d’Arc überwand Frankreich endgültig seine geographische und rassische Diversität und wurde zu dem starken, aber volksnahen Einheitsstaat, der 300 Jahre später seine 259

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universelle Berufung gänzlich verwirklichen sollte, indem er zum Herold der Freiheit für alle Völker wurde.

Die Nation als neue Gemeinschaft Im Vorwort zur endgültigen Ausgabe seiner Histoire de France von 1869 berief Michelet sich darauf, dass er der erste Historiker Frankreichs gewesen sei, der in die Archive abgetaucht und mit einem wahrheitsgetreuen Bild der französischen Geschichte wieder zum Vorschein gekommen sei.161 Beim Lesen fragt man sich unwillkürlich, ob dieser Mann mit Blindheit geschlagen oder ein ordinärer Betrüger war. Es kann nämlich keinen Zweifel daran geben, dass er alle Antworten schon parat hatte, noch bevor er mit seinen Studien begonnen hatte, und dass keine Urkunde oder Rechnung etwas an seinem Mythos hätte verändern können, dass Frankreich seit aller Ewigkeit unter allen Völkern auserwählt war, um der Menschheit Freiheit zu schenken. Wenn er der Einzige gewesen wäre, der seinen eigenen Mythos für die Wahrheit gehalten hat, könnten wir seinen Bluff als die Egomanie eines kranken Geistes abtun. Aber er war nicht der Einzige. Augustin Thierry war seinerseits genauso fest davon überzeugt gewesen, als Erster vorurteilsfrei die französische Geschichte betrachtet und gezeigt zu haben, dass nicht der König, sondern das Bürgertum Träger des französischen Schicksals war. In England behauptete Henry Hallam, anhand der Dokumentenlage beweisen zu können, dass die Freiheit Englands im Unabhängigkeitssinn der angelsächsischen freien Bauern verwurzelt sei und dass Hume Unrecht mit seiner Behauptung hatte, die englische Freiheit sei kaum 100 Jahre alt. Noch typischer ist das deutsche Beispiel. Aufgrund genau derselben Dokumente kommen Raumer und Luden zu einer diametral entgegengesetzten Perspektive auf die deutsche Vergangenheit. Von diesen beiden ist Luden zweifellos der Mythischere. Nichts in den Dokumenten rechtfertigt seine Überzeugung, dass von alters her in den deutschen Ländern ein Volk mit einer Sprache und einer gemeinschaftlichen Geschichte gewohnt habe und dass die Zergliederung Deutschlands daher etwas Un260

Die Nation als neue Gemeinschaft

natürliches sei. Nach dem, was wir heute über das deutsche Mittelalter wissen, wird deutlich, dass Raumers Bild jener Zeit in all seiner Naivität viel realistischer war, gerade weil er eine Ancien-Régime-artige Auffassung von Freiheit hatte, die nicht so stark vom mittelalterlichen Freiheitsideal abwich, und weil er aufgrund seiner eigenen konservativen Vorlieben ein viel größeres Augenmerk für die Buntheit und Diversität der mittelalterlichen Gesellschaft hatte. Man hätte erwarten können, dass Ludens Auffassungen über die Einheit des deutschen Volkes in dem Maße entkräftet worden wären, wie die deutsche Geschichtsschreibung wissenschaftlicher wurde, und dass damit Raumers Ansichten über die Varietät der Geschichte bestätigt worden wäre. Doch das Gegenteil geschah. Der vorwissenschaftliche Historiker Luden war ein ethnischer Nationalist, seine wissenschaftlich geschulten Nachfolger waren Sozialdarwinisten und im 20. Jahrhundert Rassisten.162 Nicht wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern politische Überzeugungen prägten die Perspektive auf die mittelalterliche Vergangenheit. Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung verstärkte die Ideologisierung der Vergangenheit anstatt sie zu schwächen. Der Widerstand, der Hume in England entgegenschlug, zeigt, warum das so war. Hume hatte eine englische Vergangenheit geschildert, in der alles hätte anders kommen können, als es in der Realität geschehen war. Vor allem die rein zufällige Tatsache der normannischen Eroberung war auf einen vollständigen Bruch mit der angelsächsischen Geschichte hinausgelaufen. Doch wie damals durch einen Zufall der Lauf der Geschichte so stark verändert worden war, so könnte es jederzeit wieder geschehen. Diese Schlussfolgerung war für die Engländer moralisch unannehmbar in einer Zeit, in der alle Kräfte gebündelt werden mussten, um den französischen Erzfeind zu besiegen. Dazu gehörte ein geradliniger Mythos, eine Geschichte über ein England, das durch die Jahrhunderte hinweg immer dasselbe geblieben war, ein Land, dem es immer wieder gelungen war, seine jahrhundertealte Freiheit gegen all seine Feinde zu verteidigen. Aufgrund dieser nie versagenden Standhaftigkeit durfte England auch jetzt die feste Hoffnung auf neue Siege hegen. Hallam sah ein langes, ununterbrochenes Wachstum der Freiheit und des Wohlstands in England seit ewigen Zeiten, 261

Eigenart

und dies war für ihn der schlagende Beweis, dass sein Land dadurch in seiner Zeit „nicht ein einziges Symptom irreparablen Verfalls zeigt, sondern eine noch expansivere Kraft“.163 Nur wenn die Gegenwart als logische Folge eines langen historischen Prozesses aufgefasst wurde, konnte dieser Geschichtsmythos als Quelle der Hoffnung für die Zukunft dienen. Dies gilt für alle Historiker, die in diesem Kapitel besprochen wurden: Ihre Erwartungen für die Zukunft bestimmten ihren Blick auf die Vergangenheit. Sie waren rückwärtsblickende Propheten, wie Friedrich Schlegel es ausdrückte. Mit ihren Büchern wollten sie ihre Leser aufrufen, aktiv zu dem zu schreiten, was der Studentenführer Heinrich Riemann die „lebende Tat in der Gegenwart“ nannte. Aus seiner Hoffnung auf ein starkes, einiges Deutschland heraus beschrieb Heinrich Luden die Vergangenheit als einen Kampf des zähen deutschen Volkes gegen Kräfte, die seine ursprüngliche Einheit zerstört hatten. Michelet beschreibt ein Frankreich, das von alters her fest entschlossen war, seine schicksalhafte geographische und ethnische Zersplitterung zu überwinden und es im 15. Jahrhundert auch schaffte, als Jeanne d´Arc alle Kräfte Frankreichs im Kampf gegen die englische Übermacht bündelte. Indem er dieses Ideal als bereits realisiert darstellte, trug er dazu bei, es Wirklichkeit werden zu lassen. Die Fassungslosigkeit, mit der Augustin Thierry nach 1848 rang, zeigt wiederum auf eine ganz andere Art und Weise, wie sehr die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft in den Augen dieser Historiker miteinander verknüpft waren. Thierry konnte die Vergangenheit begreifen, solange er eine deutliche Vision davon hatte, wie die Zukunft Frankreichs aussehen musste. Als diese Erwartung eine Illusion blieb, verlor auch Frankreichs Vergangenheit für ihn ihre Bedeutung und ihren Zusammenhang. Das Bedürfnis tiefer Verwurzelung der Vergangenheit in der Gegenwart ist auch ein Grund, warum gerade die mittelalterliche Vergangenheit so wichtig für diese Generation war, aber es war gewiss nicht der einzige Grund. Nationale Historiker wollten beweisen, dass jede Nation eine Eigenart besaß, die mit keinem anderen Volk vergleichbar war, und dass die Nation über die Jahrhunderte hinweg stets eine enge Schicksalsgemeinschaft gebildet hatte, die sich ohne Brüche entwickel262

Die Nation als neue Gemeinschaft

te. Die Diskussion über Einzigartigkeit und Eigenart führte unwiderruflich zum Mittelalter. Das klassische Erbe stand für dasjenige, was alle kultivierten Europäer miteinander verband, und das mittelalterliche für jenes, das sie voneinander unterschied. Die Antike stand für das Universale, das Mittelalter für das Einzelne. Bereits im 16. und 17. Jahrhundert hatten Humanisten in Nordeuropa ihr Vaterlandsgefühl und ihren Widerstand gegen die italienische Dominanz zur Verherrlichung der Geschichte ihrer eigenen Ahnen sublimiert. Gern durften sie über die Barbaren aus dem Norden schreiben, die Goten, die Germanen, die Kelten, die das Römische Reich vernichtet und auf dem Trümmerhaufen neue, freie Gemeinschaften aufgebaut hatten: die Anfänge der modernen Staaten, deren Loblied die Humanisten sangen. Soliden Historikern war es natürlich nicht entgangen, dass auch im Mittelalter universelle Kräfte in Form von Kirche und Papst regiert hatten, doch dies wurde als obsoletes Überbleibsel der Antike abgetan; das wahre Leben des Mittelalters wurde in den jungen, vitalen Nationen gesehen. Im 18. Jahrhundert entstand ein viel umfassenderer Widerstand gegen die klassische Kultur, ein Gefühl, dass sie oberflächlich und ausgehöhlt war, dass sie den modernen Menschen nichts mehr lehren konnte, und dass die klassische Literatur nicht länger ausdrückte, was in den Menschen vorging, gerade weil sie vorgab, für alle zu gelten. Wenn sie für jeden gut war, konnte es doch durchaus sein, dass sie für niemanden gut war. Echte Literatur musste in der Kultur des Volkes verankert sein, vom Volk gesungen werden, in der Sprache des Volkes geschrieben sein. Und wenn dies so war, führte die Suche zwangsläufig zum Mittelalter, zu der Zeit, in der alle Völker und Sprachen Europas ihren Ursprung hatten, in der alle modernen europäischen Kulturen ihre Eigenart entwickelt und ihr Gestalt verliehen hatten. Herder hatte den Weg aufgezeigt und die nationalistische Geschichtsschreibung folgte. So stark war diese Überzeugung, dass sogar in Italien der Nationalismus nicht in der römischen Vergangenheit, sondern in den Stadtrepubliken des Mittelalters seine Anknüpfungspunkte fand.164 Bei den in diesem Kapitel erwähnten Autoren sehen wir, dass für sie alle wesentlichen Momente der nationalen Geschichte im Mittelalter 263

Eigenart

liegen, als sich die Identität der Nation herauskristallisierte, und dass sie den Lauf der Geschichte danach nur als logische Konsequenz der damals einsetzenden Entwicklung betrachteten. Besonders deutlich wird dies bei Hallam, Luden und Raumer. Das Entscheidende für Hallam war das Ringen um die englische Verfassung, um das Machtverhältnis zwischen König und Parlament. Diese Entwicklung war gegen Ende des 15. Jahrhunderts im Wesentlichen abgeschlossen. Die Tudors und die Stuarts konnten zwar versuchen, das Parlament zu umgehen, aber das konstitutionelle Fundament, das im Mittelalter gelegt worden war, war so tragfähig, dass die Glorious Revolution, in deren Verlauf sich König und Parlament wieder zueinander bekannten, quasi eine logische Folge war. Luden und Raumer wiederum sind sich bei all ihrer Gegensätzlichkeit in ihrer Interpretation der deutschen Geschichte darüber einig, dass die fundamentale Entscheidung in der Geschichte Deutschlands, die zwischen Einheit und Diversität, vor dem Tod Friedrichs II. 1250 gefallen war. Danach war nichts Entscheidendes mehr geschehen, zur Freude Raumers und zur Frustration Ludens. Für Thierry und Michelet lag die Sache etwas komplizierter. Kein Land in Europa hatte so gründlich mit seiner Vergangenheit gebrochen wie das revolutionäre Frankreich. Wenn irgendwo ein Neuanfang gemacht worden war, dann doch wohl in Frankreich. Die erste Generation der französischen Nationalhistoriker setzte jedoch alles daran, zu leugnen, dass die Revolution ein Bruch gewesen war. Es kostete sie daher etwas mehr Mühe, den Lauf der Dinge zurechtzubiegen, aber letztendlich strukturierten auch Thierry und Michelet ihre Werke so, dass die Geschehnisse von 1789 als Folge der mittelalterlichen Vergangenheit erschienen. Thierry tat dies, indem er die Blüte der nordfranzösischen Städte im 11. Jahrhundert als einen Sieg des Bürgertums darstellt, der seine logische Fortsetzung in der Revolution von 1789 fand. Michelet erreichte denselben Effekt, indem er zeigte, dass im Kampf zwischen Notwendigkeit und Freiheit, zwischen Geographie und Geschichte das französische Volk im 15. Jahrhundert seinen größten Sieg erreichte, indem es sich von seiner geographischen und ethnischen Beschränktheit befreite. In der Person der Jeanne d’Arc formierte es sich neu zu einer auf Freiwilligkeit basierenden Einheit, die so mächtig war, 264

Die Nation als neue Gemeinschaft

dass sie zwangsläufig zu der Freiheit führen musste, die während der Revolution erkämpft wurde. Jede nationale Geschichtsschreibung war und ist per definitionem auf Gemeinschaftsbildung ausgerichtet. Durch das ständige Pochen auf die Eigenart und die Kontinuität der Nation wollten nationale Historiker ihren Landsleuten bewusst machen, dass sie Teil einer Schicksalsgesellschaft sind, die über das Individuum hinausgeht und nur zur Blüte gelangen kann, wenn sich jeder Bürger der höheren Verantwortung für das Ganze bewusst ist. Doch das Reden über Gemeinschaft und gemeinschaftliche Verantwortlichkeit führte Anfang des 19. Jahrhunderts ziemlich schnell in die idealisierte, christliche Epoche des Mittelalters zurück: die Bauerndörfchen mit der Allmende, die Städte mit ihren Gilden, die von treuen Rittern umgebenen Könige. Für Konservative wie Burke, Hallam, Raumer und de Bonald war das kein Problem, im Gegenteil, für sie war es selbstverständlich, dass die Gemeinschaft Priorität vor dem Individuum hatte. Sie bauten auf das unterschwellige Gefühl so vieler in jener Zeit, dass die mittelalterliche, ritterlich-feudale Gesellschaft in gewisser Art und Weise geordneter und organischer war und dadurch eher einer wahren Gemeinschaft glich als die moderne Gesellschaft, die als Konsequenz der Revolution entstanden war. Für sie war die mittelalterliche Vergangenheit das selbstverständliche Vorbild für die Nation ihrer eigenen Zeit. Weniger selbstverständlich ist, dass auch Liberale wie Luden, Thierry und Michelet eine so tiefe Bewunderung für das Mittelalter hegten und ihm einen so wichtigen Platz in ihrem Mythos der Nationsbildung einräumten. Sie schwärmten nicht für Adel, Feudalwesen und Hierarchie, sondern glaubten an die Gleichheit aller Menschen. Sie erkannten sehr genau, dass die moderne Freiheit einen krassen Kontrast zur mittelalterlichen Gebundenheit an Grund und Stand bildete, aber dennoch waren sie genauso tief davon überzeugt wie ihre konservativen Gegner, dass der Mensch nur innerhalb der nationalen Gemeinschaft auch als Individuum geachtet wird. Dass eine große Verantwortung für das Ganze gelegentlich mit der eigenen, genauso leidenschaftlich erkämpften Freiheit des Einzelnen in Konflikt geriet, war ein Dilemma, das ihnen entging. Deswegen ist es vielleicht doch nicht so erstaunlich, 265

Eigenart

dass sich auch liberale Historiker für das Mittelalter begeisterten. Auch bei ihnen bestand die Vermutung, dass es im Mittelalter trotz aller damaligen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppen enge Formen von Gemeinschaft gegeben habe, die als Vorbild für den modernen Bürger dienen konnten. Die Art und Weise, in der Luden über die starken deutschen Dorfgemeinschaften schreibt, in der Thierry die Bürger der nordfranzösischen Städte für ihre Standhaftigkeit preist und Michelet die Einheit des französischen Volkes rund um Jeanne d’Arc lobt, beweist, dass sie ebenso wie ihre konservativen Zeitgenossen davon überzeugt waren, dass mittelalterliche Menschen ein Talent für Gemeinschaft besaßen, selbstverständlich auf andere Rücksicht nahmen und ihr eigenes Interesse höheren Zielen unterordneten. Sie besaßen nicht die Freiheit, dafür aber die übrigen Tugenden, mit Hilfe derer die Nation aufgebaut werden konnte. Nach 1848 trat eine Veränderung ein. Der nationale Kampf wurde heftiger, vor allem in Deutschland und Italien, der moderne Einheitsstaat begann sich zu formen und die Industrialisierung, die in England bereits im 18. Jahrhundert eingesetzt hatte, entwickelte sich jetzt auch auf dem europäischen Festland. Ein Prozess der Modernisierung wurde in Gang gesetzt, bei dem es zumindest so schien, als gerieten Freiheit und Gemeinschaft miteinander in Konflikt. In diesem Dilemma wurde die mittelalterliche Vergangenheit mehr und mehr zum Eigentum von jenen, die sich gegen die individualisierenden und rationalisierenden Tendenzen der modernen Gesellschaft auflehnten und zurück zu Formen der Gemeinschaft wollten, die für immer verloren zu gehen drohten. Damit begann die Suche nach einer Wiederherstellung von Autorität und Gemeinschaft.

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Kapitel 5

Gemeinschaft Das verlorene Paradies

A

ls der junge Jakob Burckhardt im April 1841 zum ersten Mal den Dom zu Köln betrat, „den Triumph der ganzen […] Architektur“, ergriff ihn eine Rührung, die in jeder Hinsicht der von Goethe glich, als er 70 Jahre zuvor Straßburg besuchte. Burckhardt beschrieb es so: „Mich erfüllt ganz das Eine Gefühl: Du bist es nicht wert, diesen Boden zu betreten, denn es ist heiliges Land! – Drückender als je liegt auf meiner Seele die Schuld, in der ich gegen Deutschland stehe.“1 Wie Moses vor dem unbekannten Gott stand, der ihn warnte, dass er sich auf heiligem Boden befand (Exodus 3, 5), so stand der knapp 23-jährige Burckhardt, ein Spross aus einem der großen Regentengeschlechter der Freien Stadt Basel, Deutschland gegenüber. Später in demselben Jahr drückte er sich noch dramatischer und religiöser aus. Er fühle sich, schrieb er, zutiefst glücklich in den mütterlichen Armen des großen, einen deutschen Vaterlandes und in der Gewissheit, dass auch er zu dem Stamm gehöre, den die Vorsehung auserwählt habe, um der Welt eine goldene Zukunft zu bieten.2 Der Dom und Deutschland: Das war ein Thema, das nicht nur Burckhardt, sondern alle national gesinnten Deutschen beschäftigte. Am 12. Januar 1841 hatte die preußische Regierung beschlossen, die Bauarbeiten am Dom zu Köln, die seit dem 16. Jahrhundert geruht hatten, wieder aufzunehmen, was in allen deutschen Ländern weit und breit mit Jubel begrüßt wurde. Am Ufer des Rheins stand hier eine Kathedrale, die wie keine andere von der glanzvollen mittelalterlichen Vergangenheit Deutschlands zeugte. Dadurch, dass sie nie fertiggestellt und ein Torso geblieben war, erinnerte sie an die Zergliederung und Schwäche Deutschlands seit damals. Indem man sie jetzt vollendete, würde sie möglicherweise zum bleibenden Symbol des Willens 267

Gemeinschaft

des deutschen Volkes werden, diese Vergangenheit zu neuem Leben zu erwecken, ein Gefühl, das Burckhardt teilte. Auch für ihn waren die Liebe zum Mittelalter und die zu Deutschland in jenen Jahren untrennbar miteinander verbunden.3 Burckhardts Abschlussarbeit zeugte in wohlgesetzten Worten von der romantischen Schwärmerei, der sich der junge Gelehrte wie so viele andere seiner Generation hingab. In seinem Text bewunderte er das deutsche 13. Jahrhundert als die Zeit, in der Kunst und Literatur eine Blüte erreicht hatten, die erst jetzt, im 19. Jahrhundert, wieder erreicht würde. Es war die Zeit des Minnesangs und des Nibelungenlieds gewesen, eine Periode, in der die deutsche Architektur und Bildhauerkunst eine klassische, zeitlose Ausdrucksform gefunden hatten, die weit über die Werke zeitgenössischer italienischer Künstler wie Nicola Pisano herausragte, obwohl diese Künstler anhand klassischer Beispiele arbeiten konnten, an denen es den deutschen Künstlern fehlte. Köln war der glänzende Mittelpunkt des „edelsten künstlerischen Verlangens des germanischen Nordens“.4 Burckhardt hatte nicht nur Augen für die Kunst. Auch politisch gesehen betrachtete er das 13. Jahrhundert als einen Höhepunkt in Deutschlands Entwicklung. Ebenso wie Friedrich von Raumer war er davon überzeugt, dass die Zersplitterung des Reiches nach dem Tod Friedrichs II. im Jahr 1250, zu dem Erzbischof Konrad entscheidend beigetragen hatte, letztendlich ein Segen für die deutsche Kultur gewesen war. Gerade durch seine politische Vielfalt habe sich Deutschland kulturell umso vielseitiger entwickeln können, wodurch es sich jetzt stärker als je zuvor seiner geistigen Einheit bewusst werden könne.5 In den meisten Ländern Europas dagegen sei die reiche Vielfalt des Mittelalters verschwunden und einem zentralisierten Staat gewichen, der alle unabhängigen Institutionen zerstört habe, um sein finsteres Ziel zu erreichen.6 Welches das genau sein sollte, führte Burckhardt nicht weiter aus, aber es ist unmissverständlich, dass er nicht viel vom modernen Einheitsstaat hielt. In seiner auf Masse ausgerichteten Einförmigkeit hielt er diesen Staat für ein Hemmnis der geistigen Entwicklung. Bereits 1843 wies er auf den Kontrast zwischen der Buntheit des Mittelalters und der grauen Eintönigkeit der modernen Zeit hin, aber da268

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mals hoffte er noch, dass wenigstens die deutschen Länder diesem Grau entkommen könnten, indem sie ihr mittelalterliches Erbe übernahmen und weiterentwickelten.7 Die politischen Entwicklungen in der Schweiz und in Deutschland raubten ihm jedoch schnell diese Illusion. Als Burckhardt Ende 1800 nach drei Jahren Deutschlandaufenthalt nach Basel zurückkehrte, herrschte in der Schweiz große Aufregung. Zwischen den katholischen und den protestantischen Kantonen war ein Religionsstreit entflammt, doch dem zugrunde lag die viel wichtigere Frage, inwiefern die Kantone eine eigene, unabhängige Politik betreiben durften und inwieweit sie sich der Zentralregierung in Bern unterordnen mussten. 1845 eskalierte der Konflikt: Die sieben katholischen Kantone schlossen sich zum Sonderbund zusammen. Diese Entscheidung führte zu einem Bürgerkrieg, der mit einem eklatanten Sieg der Protestanten und damit der Vertreter eines starken, nationalen und liberalen Staates endete. Burckhardt war entsetzt. Genau das, wovor er schon 1843 gewarnt hatte, würde nun in seinem eigenen Land geschehen: Der uralten kantonalen Unabhängigkeit würde zugunsten des Ideals von Einheit, Uniformität und Massendemokratie ein Ende bereitet werden. Burckhardt flüchtete nach Italien, wo er sich vor der bewegten Geschichte seiner Zeit zu verstecken hoffte, in der Stille eines Landes, das ihm zufolge keine Geschichte mehr hatte. Doch auch dort holten ihn die Geschehnisse ein. In Rom musste er erleben, wie das liberale Bürgertum, gestärkt durch das Ergebnis in der Schweiz, vom Papst ein Grundgesetz und eine Vertretung in der Regierung des Kirchenstaats forderte. Als ihn im Frühjahr 1848 in der Ewigen Stadt auch noch die ersten Berichte von der Revolution in Paris und Wien erreichten, beschloss er, nach Basel zurückzukehren, um dort die weiteren Entwicklungen abzuwarten.8 Am meisten schmerzten Burckhardt im Jahr der Revolution die Entwicklungen in den deutschen Ländern. Er hoffte, Deutschland könne sich unter der Führung einer kultivierten Elite wieder der geistigen Einheit seiner Kultur bewusst werden und damit zu einem leuchtenden Beispiel geistigen Reichtums und kultureller Vielseitigkeit für ganz 269

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Europa werden. Dass Deutschland in viele kleine Fürstentümer zergliedert war, war für ihn die beste Garantie für die Authentizität dieser Wiedergeburt. 1848 stellte sich jedoch heraus, dass die deutschen Nationalisten eine politische Einheit wollten, ein großes und starkes Deutschland, das zu den mächtigen Staaten Europas gehörte. Damit war Burckhardt ganz und gar nicht einverstanden. Eine vereinigte Schweiz war bereits eine Gefahr, doch ein vereinigtes Deutschland wäre eine echte Katastrophe für die Zivilisation. 1848 gelang es den deutschen Nationalisten nicht, einen deutschen Staat zu bilden; die Revolution endete mit der Bestätigung des Status quo, aber die Zeichen für die Zukunft waren gesetzt. Große Nationalstaaten, in denen die Masse regierte, sollten die Zukunft Europas bestimmen. Kleine, übersichtliche Staaten, wie das Basel, in dem Burckhardt aufgewachsen war, Staaten, in denen das gebildete Patriziat politisch und kulturell den Ton angab, konnten in einer Welt nicht mehr bestehen, die durch die Industrialisierung und Massenproduktion ein großer Markt wurde, auf dem sogar die Kultur als Massenprodukt gehandelt wurde. In den Jahren nach 1848 fand Burckhardt Trost im Lesen der Biografie des Severinus, eines Klostergründers aus dem 5. Jahrhundert, der auch dann weiterhin stur das Evangelium predigte, als das Römische Reich rings um ihn zusammenbrach. Burckhardt mochte sich zwar als Fremder in dieser neuen Welt fühlen, er blieb aber unverrückbar in seiner Überzeugung, dass die Kultur des alten Europas der jetzigen überlegen gewesen sei.9 Viele Intellektuelle, die der neuen Massengesellschaft kritisch gegenüberstanden, zogen sich nach 1848 immer mehr in die Betrachtung einer idealisierten mittelalterlichen Vergangenheit zurück, in der das Überschaubare und der Gemeinschaftssinn noch die Gestaltung eines Menschenlebens bestimmt hatten. Angesichts seines tiefen Misstrauens gegen die Moderne war Burckhardt auch nicht unsensibel für diese verführerische Haltung und gab ihr später in seinem Leben auch nach, aber anfangs war seine Neugier stärker als die Nostalgie. Er wollte wissen, wie und wann diese moderne Welt, die jetzt die wahre Zivilisation zu überwältigen drohte, zu Stande gekommen war. Diese Untersuchung mündete in seinem berühmtesten Buch, Die Kultur der Renais270

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sance in Italien, das 1860 erschien und sofort ein Erfolg wurde, auch beim breiten Publikum, das Burckhardt so sehr verachtete. Die zentrale These des Buches erscheint heutzutage ganz simpel, weil sie allgemein akzeptiert ist, doch damals war sie revolutionär: Burckhardt sagte, im 15. Jahrhundert sei in Italien die moderne Welt geboren worden, in der wir heute noch leben. Laut Burckhardt war in diesem Jahrhundert viel mehr geschehen, als bis dato angenommen worden war. Das 15. Jahrhundert erlebte die Geburt des allmächtigen, unmoralischen Staates, der Mensch entdeckte sich selbst als Individuum und erkundete die Welt als Möglichkeit zur Entfaltung aller menschlichen Talente. Die Wiedergeburt der Menschheit hob Burckhardt in den leuchtendsten Farben gegen die Dunkelheit der Jahrhunderte davor ab, als der Mensch weder sich selbst noch der Welt bewusst war, als er lebte wie in einem Traum, halb schlafend, und die Welt durch einen Schleier der Religion, des Wahns und der kindlichen Befangenheit sah. Der mittelalterliche Mensch konnte sich selbst nicht als Individuum begreifen, sondern nur als Teil einer Ethnie, einer Familie, eines Volkes oder eines anderen Kollektivs. Die Renaissance war die Geburt des modernen Bewusstseins.10 Die mittelalterliche und die moderne Welt stehen sich hier diametral gegenüber. Mittelalterlich ist per definitionem nicht modern. Dies war nur eine kurze Passage, aber es wurden wahrscheinlich wenige Sätze geschrieben, die so schädlich für die Erinnerung an das Mittelalter waren wie diese. Mit einem Schlag schien Burckhardt die romantische Bewunderung für das Mittelalter auszulöschen und den Humanisten im Nachhinein doch noch recht zu geben: Erst war Dunkelheit, dann war Licht. So wurde das Buch gewiss auch gelesen und rezipiert, umso mehr, weil infolge der Ereignisse von 1848 noch zahlreiche andere einflussreiche Historiker ihre frühere Bewunderung für das Mittelalter als romantische Jugendsünde abtaten, für die sie sich jetzt schämten. Als Jules Michelet 1855 seine Histoire de France durch eine Ausgabe über das 16. Jahrhundert ergänzte, widerrief er in der Einleitung alles, was er zuvor über das Mittelalter behauptet hatte. In früheren Jahren habe er das Mittelalter als Ideal dargestellt, behauptete er, nun wolle er diese grimmige Zeit in „ihrer Objektivität beschuldigt durch sich selbst“ be271

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schreiben.11 Michelet nannte das Mittelalter jetzt eine bizarre, monströse Zeit, in der es keine Freiheit gegeben habe und der menschliche Geist kastriert gewesen sei. Wohlwollend zitiert er den Juristen Étienne de la Boétie aus dem 16. Jahrhundert, der gesagt hatte, seit den Römern sei die Zeit leer gewesen.12 Wo Michelet früher Wachstum und Entwicklung gesehen hatte, erkannte er jetzt nur noch Verfall, eine Welt voller Feiglinge und Verrückter, ein Volk, das nicht imstande war zu lieben und deswegen den Tod wählte. Die Umwälzungen des 16. Jahrhunderts begannen mit „einem unvorstellbaren Tod, einem Nichts, sie fingen bei null an“.13 Bei Michelet hatte dieser Umschwung hauptsächlich damit zu tun, dass er in den 1840er-Jahren feststellte, dass die katholische Kirche in Frankreich keineswegs jenes romantische Überbleibsel aus dem Mittelalter war, wofür er sie immer gehalten hatte, sondern dass sie eine politische Macht darstellte, die es zu fürchten galt. Und dies wurde nach der misslungenen Revolution von 1848 nur noch schlimmer. Unter Napoleon III. standen alle Schulen wieder vollkommen unter Kontrolle der Kirche und Michelet musste das Collège de France verlassen. Kein Wunder, dass er 1855 zu dem finsteren Schluss kam, dass das Mittelalter einfach kein Ende nähme und jene schreckliche Zeit nicht einmal getötet werden könne, weil sie bereits tot sei. Das katastrophalste Erbe des Mittelalters sei die Religion: „Getroffen durch die Zeit, die Kritik und den Fortschritt des Geisteslebens, kehrt sie durch die Kraft der Erziehung und der Gewohnheit immer wieder zurück.“14 Das ist eine etwas seltsame Schlussfolgerung, aber sie zeigt auch, dass selbst bei den größten Historikern Wunschträume über die Vergangenheit meist ihren Studien vorausgingen. Auch von Burckhardt wurde häufig angenommen, er hätte nach 1848 durch seine Enttäuschung über die Geschehnisse in Deutschland sein Interesse für das Mittelalter verloren und schäme sich nun für seinen jugendlichen Enthusiasmus. Deswegen hätte er sich auf Italien und die Renaissance verlegt.15 Dies beruht allerdings auf einer falschen Lesart seines Meisterwerks. Burckhardt sah in der italienischen Renaissance vieles, was er bewunderte: Es war eine Zeit wachsender Freiheit und Toleranz, eine Zeit, die vor Energie und Kreativität brodelte, 272

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eine Zeit, in der Menschen lernten, über ihre engen Grenzen hinwegzublicken und begannen, sich die Welt untertan zu machen. Dem stand jedoch vieles gegenüber, was er verabscheute: der ungezügelte Individualismus, der zu Egoismus, Grausamkeit und Gewissenlosigkeit führte. Werte und Normen wurden mit Füßen getreten; das Einzige, was noch zählte, war die Rationalität des Ziels, das das Individuum und der Staat anstrebten. Im 15. Jahrhundert wurde dies noch von der ungeheuren kulturellen Originalität aufgewogen, doch im 19. Jahrhundert wurden die schrecklichen Folgen des übertriebenen Individualismus von Tag zu Tag sichtbarer. Die Kultur der Renaissance in Italien war nicht so sehr eine Verherrlichung des Quattrocento als vielmehr eine Suche nach den Wurzeln der modernen Ratlosigkeit und zunehmenden Oberflächlichkeit.16 Burckhardt und Michelet sind diejenigen unter den Historikern, die das moderne Konzept der Renaissance als Beginn der Moderne formuliert haben. Sie taten dies, indem sie die Neuzeit gegen das Mittelalter als Zeit der Anti-Moderne abgrenzten, aber hier hört die Übereinstimmung auf. Der radikale Michelet war ein leidenschaftlicher Verfechter des modernen, demokratischen Einheitsstaats, in dem das französische Volk seine Bestimmung verwirklichen und in der Welt realisieren konnte. Was in der Renaissance begonnen hatte, erreichte nun seinen Höhepunkt; was im Mittelalter geschehen war, konnte und musste der Vergessenheit anheimgegeben werden. Burckhardt war sich mit Michelet einig, dass das Mittelalter für immer vorüber war: Nichts konnte den Vormarsch der Neuzeit noch aufhalten. Aber dies war für ihn kein Grund zur Freude, sondern eher ein Anlass zu der melancholischen Feststellung, dass zu jeder Zeit das Böse über das Gute triumphierte und dass es keine historischen Utopien gab, früher nicht und heute schon gar nicht.17 Das Mittelalter war für ihn nicht besser oder schlechter als die moderne Zeit; es war einfach anders und verdiente es darum, ebenso gut in unserer Erinnerung bewahrt zu bleiben, wie die klassische und die jüngere Geschichte. Nach 1860 hat Burckhardt nie mehr ein Buch oder einen Artikel geschrieben. Auch in diesem Punkt nahm er Abschied von einer Welt, in der sich sogar die Wissenschaft immer mehr zu einer Industrie ent273

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wickelte und in der gebildete Unternehmer (viri eruditissimi) den Ton angaben. Bis ans Ende seines Lebens konzentrierte er sich auf seinen Unterricht und machte sich nur noch persönliche Notizen. Deswegen ist es nicht einfach nachzuvollziehen, wie sich seine weiteren Gedanken entwickelt haben, aber aufgrund seiner Notizen scheint es, dass er immer nostalgischer über das Mittelalter dachte, je mehr sein Misstrauen gegen die moderne Zeit wuchs, und dass er den früheren Jahrhunderten allmählich den Vorzug gegenüber der Gegenwart gab. 1884 konstatierte er, dass den Menschen im Mittelalter wenigstens nationale Kriege erspart geblieben seien und sie auch die Waffenindustrie, die rücksichtslose Konkurrenz zwischen Massenbetrieben und die Gefahren von Kreditwesen und Kapitalismus nicht gekannt hätten. Und er stellte sich die höchst aktuelle Frage, was für uns noch an Bodenschätzen übrig geblieben wäre, wenn die Menschen im Mittelalter derart die Steinkohlereserven geplündert hätten, wie es zu seiner Zeit der Fall war. Damals habe es noch echte, selbstverständliche Autorität gegeben; die Menschen seien noch nicht von den wechselnden Mehrheiten abhängig gewesen, die die moderne Gesellschaft richtungslos und zum hilflosen Opfer einer alles nivellierenden Gleichheit machten. Es musste seiner Meinung nach eine schöne Zeit gewesen sein, eine Zeit jugendlicher Ursprünglichkeit, und alles, was heutzutage noch das Leben lebenswert mache, wurzle in diesen Jahrhunderten. Burckhardt war in seinen späteren Jahren viel zu realistisch, oder vielleicht zu pessimistisch, um zu glauben, dass diese Zeit jemals zurückkehren würde: „Mit Idealen ist es nun einmal so, dass sie nicht ewig leben.“ Es war ein für immer verlorenes Paradies, von dem nur noch einige wenige Reste übrig geblieben waren, und auch die waren im Verschwinden begriffen.18 Burckhardt brauchte nicht weit zu reisen, um mitzuerleben, wie schnell sich die Welt veränderte; er brauchte quasi nur mal aus dem Fenster zu schauen. 1872 schrieb er, Basel sei inzwischen umschlossen von einem Netz der Bahngleise, die ein Gefühl der Leere und der Traurigkeit in ihm hervorriefen. Die Landschaft sei von Gleisbetten verschandelt und die Luft vom Lärm der pfeifenden Dampflokomotiven verschmutzt.19 Bei Burckhardts Geburt im Jahr 1818 war Basel eine kleine, geschäftige Provinzstadt mit 16.000 Einwohnern, eine Stadt, in 274

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der eine kleine Elite reicher Kaufmannsfamilien, darunter die Burckhardts, die Zügel straff in den Händen hielt. Die Stadt lag noch innerhalb ihrer mittelalterlichen Mauern und hatte kaum mehr Einwohner als 400 Jahre zuvor. Das Bürgerrecht galt als großes Privileg und die Zuwanderung aus dem Umland wurde streng begrenzt. Die alten Gilden beherrschten das Wirtschaftsleben und garantierten, dass ihre Mitglieder vor dem freien Markt geschützt blieben und dass keinem Arbeiter sein rechtmäßiger Lohn vorenthalten wurde. Es waren dann auch die Handwerksgilden, die sich in den 1840er-Jahren heftig gegen den Bau einer Eisenbahnlinie zur Wehr setzten, die Basel mit dem französischen Hinterland verbinden sollte. Ihre Niederlage in diesem Konflikt war das erste Zeichen dafür, dass die moderne Zeit an Basel nicht vorüberging. Trotz weiterer Versuche zur Beschränkung der Immigration, begann die Bevölkerung zu wachsen. Bis 1860 hatte sie sich mehr als verdoppelt und die Stadtmauern, Symbol der Selbstständigkeit und des Bürgerstolzes der Stadt, mussten abgerissen werden, um den Zustrom der Immigranten bewältigen zu können. 1874 machte der Schweizer Staatenbund der jahrhundertealten Unabhängigkeit der Stadt definitiv ein Ende. Die Gilden wurden abgeschafft und alle Einwohner der Stadt erhielten das Bürgerrecht, wodurch die alte Elite ihren Einfluss auf die Politik verlor. Die Industrie wuchs explosionsartig – in jener Phase wurde Basel zum Zentrum der chemischen Industrie – und um die Zeit, als Burckhardt 1897 starb, war Basel zu einer Stadt von über 100.000 Einwohnern geworden, mit einer steinreichen Klasse von Unternehmern an der Spitze und einem elenden Proletariat am unteren Ende der Gesellschaft.20 Burckhardt fand sich mit dem ab, was er für unvermeidlich hielt: Die Modernisierung konnte nicht mehr aufgehalten werden, die schöne Zeit des Mittelalters würde nie mehr zurückkehren. Die Menschen waren zu vereinsamten, umherirrenden Individuen geworden, manipuliert von gewissenlosen Politikern, die nur in die eigenen Taschen wirtschafteten. Armut, soziales Elend und Orientierungslosigkeit waren die Folge. Nicht jeder fand sich mit dieser Situation ab. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden drei mächtige Bewegungen, die den 275

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Liberalismus und den Kapitalismus auf den Prüfstand stellten: der politische Katholizismus, der Sozialismus und der integrale oder ethnische Nationalismus. Diese Bewegungen schienen in fast jeder Hinsicht das Gegenteil voneinander zu sein, doch sie hatten gemein, dass sie Alternativen dafür formulieren wollten, was sie als ungezügelten Individualismus betrachteten. Sie suchten nach neuen Formen von Gemeinschaft, die die Menschen wieder organisch zusammenschweißen und ihnen das Gefühl geben konnten, nicht allein auf der Welt, sondern Teil eines größeren, zusammenhängenden Ganzen zu sein, so wie es ihrer Meinung nach im Mittelalter der Fall gewesen war.

Katholizismus: das Mittelalter als Blaupause Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten sich viele Gegner der revolutionären Ideale von Freiheit und Gleichheit durch den Traum von einer mittelalterlichen Kirche inspirieren lassen. Novalis war davon überzeugt, dass nur die Religion Europa wieder wachrütteln, die Völker beruhigen und die Christenheit in ihrer alten friedensstiftenden Funktion in neuer Herrlichkeit auf Erden sichtbar verwurzeln könne. Friedrich Schlegel skizzierte die Konturen einer Gesellschaft, in der die Autorität des Papstes und des Kaisers die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung wieder garantieren sollte. Außerdem hatte die junge Generation von 1800 die Nase voll von der Verherrlichung von Vernunft und Verstand. Was sie suchte, waren Gefühl und Mysterium. Sie wollte nicht argumentieren, sondern schwärmen, den Gefühlen freien Lauf lassen. „Nichts ist so schön, so süß und so großartig im Leben wie die geheimnisvollen Dinge“, verkündete Chateaubriand 1801 in seiner Verteidigung des Genies des Christentums gegen die aufgeklärten Bürger des 18. Jahrhunderts.21 Nirgendwo fand man ein größeres Mysterium als in den Ritualen und Gebräuchen der katholischen Kirche. Die Kirchen waren dunkel, die Handlungen der Priester seit ewigen Zeiten unverändert, die heiligen Mysterien wurden in einer unverständlichen Sprache gefeiert. Gerade dadurch sahen die Romantiker in den katholischen Ritualen den Aus276

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druck tiefer Gefühle und Erfahrungen. Im Kielwasser der romantischen Generation entdeckten auch katholische Erneuerer das Mittelalter wieder, nicht nur als Höhepunkt in der langen Geschichte der Kirche, sondern auch als Ideal für die Zukunft. Es wäre falsch, zu unterstellen, dass innerhalb katholischer Kreise das Interesse für das Mittelalter nur eine Reaktion auf die Verwüstungen darstellte, die die aufeinanderfolgenden revolutionären Regierungen Frankreichs der Kirche in ganz Europa zugefügt hatten. Dies spielte natürlich auch eine Rolle, doch ein viel wichtigeres Motiv war, dass viele begeisterte junge Katholiken enttäuscht über die Art und Weise waren, in der die kirchlichen Autoritäten nach den Revolutionsjahren den Wiederaufbau der Kirche angingen. Sie sahen darin eine Rückkehr zu dem, was sie als schlimmste Missbräuche des alten Regimes betrachteten und hatten damit nicht ganz Unrecht. Die römische Kurie versuchte in der Tat, genau da weiterzumachen, wo sie 1789 aufgehört hatte: Sie wünschte sich die Wiederherstellung des Bundes zwischen Thron und Altar und ein gutes Verhältnis zu den Fürsten, vor allem zu den katholischen, aber nicht nur zu ihnen.22 Um dieses gute Verhältnis zu wahren, waren die römischen Autoritäten bereit, sehr weit zu gehen. So verurteilte Papst Gregor XVI. gleich nach seinem Amtsantritt 1831, und zur Bekräftigung auch noch einmal 1832, den Aufstand der katholischen Polen gegen die russische Regierung. Der Zar war zwar nicht katholisch, aber der rechtmäßige Fürst Polens. Mit Abscheu reagierten Katholiken in ganz Europa auf diese Verurteilung: Die feige Haltung Gregors XVI. bildete einen zu großen Kontrast zu dem Mut von Gregor VII. und Innozenz III., die vor niemandem Angst gehabt hatten und vor denen alle Fürsten in ganz Europa gezittert hatten. In diesem Rahmen der Enttäuschung über die Art und Weise der katholischen Reform wurde die Utopie der mittelalterlichen Kirche als Alternative präsentiert, als Blaupause für eine bessere Zukunft der Kirche, falls der Papst und die Kurie nur den Mut hätten, wieder das zu werden, was sie früher gewesen waren: Schiedsrichter der Völker und Mittelpunkt Europas. Nirgendwo ist dies deutlicher geworden als im damals bedeutendsten katholischen Land: Frankreich. Hier hatte der Wiederaufbau der 277

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kirchlichen Position mit dem Konkordat von 1801 eingesetzt, einem Vertrag, der alle Kennzeichen eines politischen Kompromisses und der Politik der Kurie trug, die prärevolutionären Verhältnisse so weit wie möglich wiederherzustellen. Die Kurie zwang die französische Regierung zwar, anzuerkennen, dass ihre antiklerikale Politik fehlgeleitet gewesen war, aber dem gegenüber stand, dass genau wie früher das Ernennungsrecht für die Bischöfe in die Hände der Regierung gelegt wurde.23 Die Kirche wurde damit wieder Teil des Staates, oder, wie ein Jurist es 1859 ausdrückte: Die Kirche war das Departement des Staates, das darauf achtete, dass in Frankreich alle Bürger ausreichend geistliche Nahrung erhielten.24 Die Verfügungsgewalt über den Klerus und den Unterricht erhielt das Kultusministerium, das auch die Beziehungen zwischen den Bischöfen und dem Papst an straffe Richtlinien band. Die französische Kirche und ihr Klerus waren jetzt, viel mehr als vor 1789, mit Händen und Füßen an den Staat gebunden, weil alle alten Freiheiten und Privilegien, die bis zur Revolution wacker gegen den Einfluss des Königs und der Bischöfe verteidigt worden waren, abgeschafft wurden. Der Klerus wurde einem Beamtenreglement unterworfen, in dem vor allem die niedere Geistlichkeit kaum noch Rechte besaß.25 Pastor und Kaplan waren der Willkür ihrer Bischöfe ausgeliefert.26 Kein Wunder, dass ihre Blicke immer mehr über die Grenzen ihres eigenen Bistums und des französischen Staates hinaus schweiften und sich auf den Papst in Rom richteten, der ihnen womöglich als Einziger Schutz gegen die Launen ihrer direkten kirchlichen und weltlichen Vorgesetzten bieten konnte.27 Die reformierte französische Kirche stand im Dienst des Staates und sollte hauptsächlich Ruhe und Frieden innerhalb Frankreichs garantieren und religiös legitimieren. Die Religionspolitik Napoleons und der darauffolgenden französischen Regierungen wurde daher auch begeistert vom liberalen Bürgertum unterstützt, das zwar selbst zu einem großen Teil unreligiös war, aber sehr wohl begriff, dass die Kirche eine große Rolle in der Wahrung der öffentlichen Ordnung und des sozialen Friedens unter dem Volk spielte. Eine derartige Kirche, auf der so schwer die Hand des Staates lastete, konnte den Träumen junger Romantiker vom Wiederaufleben von 278

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Gefühl und Religion nicht entsprechen. Sie träumten von einer Kirche, die über allen Fürsten stand, die durch ihre Widerstandskraft die Verwirrung der modernen Zeit bannen konnte und wieder wie im Mittelalter das pochende Herz Europas bilden würde. In Frankreich kristallisierte sich der Widerstand der jüngeren Generation gegen die fantasielose Politik der kirchlichen Obrigkeit heraus, rund um die Person des jungen Priesters Félicité Robert de Lamennais, der in den Jahren zwischen 1820 und 1830 zu einem der einflussreichsten Denker in der katholischen Kirche des 19. Jahrhunderts wurde, erst in Frankreich, später auch im übrigen Europa. Lamennais arbeitete die verträumten Fantasien über die Restauration des Mittelalters zum ersten Mal zu einem politischen Programm aus, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Katholiken in Europa richtungsweisend wurde. In die Niederlande gelangten seine Ideen vor allem über den bereits genannten Publizisten Le Sage ten Broek und bestimmten den Kurs, den die katholische Emanzipation in den Niederlanden nach 1850 einschlug. Lamennais betrachtete die Kirche des Mittelalters als eine spirituelle, aber zugleich sichtbare Gemeinschaft, die auf den unveränderlichen und allzeit gültigen Gesetzen Gottes basierte. Die alles überragende Autorität des Papstes garantierte, dass diese Gesetze auch befolgt wurden und sich alle Fürsten ihnen unterordneten. So entstand eine Gesellschaft, die durch die allgemeine Anerkennung der päpstlichen Autorität nicht auf der Macht der Gewalt gründete, sondern auf der Macht des Rechts, wie es von den Päpsten beherzigt wurde.28 Lamennais sah in der Verwirrung seiner eigenen Zeit die Folge des Niedergangs der sozialen und politischen Autorität der katholischen Kirche seit dem Mittelalter. Dies sei nicht nur infolge der Reformation und der Revolution geschehen, sondern mindestens ebenso sehr durch die Art und Weise, in der die katholischen Fürsten selbst sich seit dem späten Mittelalter die Autorität, die in den Glanzjahren 1000 bis 1300 dem Papst allein gehört hatte, angeeignet hatten. Frankreich hatte dabei immer eine Vorreiterrolle gespielt. Mehr als in anderen katholischen Ländern hatte sich hier eine Kirche entwickelt, die praktisch mit dem Staat verschmolzen war und dadurch jede 279

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Unabhängigkeit und prophetische Kraft verloren hatte. Die größte Katastrophe in den Augen Lamennais‘ bestand darin, dass die Chancen, die es nach der Revolution gegeben hatte, nach Rom und zur Kirche des Hochmittelalters zurückzukehren, ungenutzt geblieben waren und stattdessen die Situation im alten Regime einfach wiederhergestellt worden war.29 Als die schlimmsten Feinde der Kirche betrachtete Lamennais denn auch die Bourbonenkönige Ludwig XVIII. sowie den in der Julirevolution von 1830 zur Abdankung gezwungenen Karl X., die durch ihre reaktionäre religiöse Politik einer Rückkehr zu den Tagen von Innozenz III. und Gregor VII. im Weg gestanden hatten.30 Der Grund, warum sich Lamennais ins Hochmittelalter zurücksehnte, war sein ernsthafter Glaube daran, dass die Menschen damals wirklich frei gewesen seien, weil die Kirche und der Papst so hoch über den Fürsten und Nationen gestanden hatten, dass sie mit den Waffen des Rechts gegen die Willkür und die Tyrannei der weltlichen Fürsten kämpfen konnten. Lamennais betrachtete eine unabhängige katholische Kirche, die dieselbe Freiheit genösse, wie sie sie nach langem Kampf im Hochmittelalter genossen hatte, als einzige Garantie für die Freiheit des Menschen.31 Obwohl Lamennais zu demselben Schluss kam wie seine liberalen Zeitgenossen – Kirche und Staat sollten voneinander getrennt werden –, war der Grund für diese politische Entscheidung ein ganz anderer. Während die Liberalen die Kirche als den großen Feind der Freiheit betrachteten und in der Trennung von Kirche und Staat eine Voraussetzung sahen, um den politischen Einfluss der Kirche einzudämmen, glaubte Lamennais, die Trennung sei nötig, um die Bürger gegen die Einmischung des Staates zu schützen, sodass sie in Freiheit ihrem Gewissen folgen konnten. Wenn Staat und Kirche getrennt würden, könnten sich Katholiken außerdem wahrhaft von den Prätentionen der Staaten und Fürsten befreien, wieder über die Berge hinwegblicken (ultra montes) und sich an den Mann wenden, der das einzig wahre Oberhaupt und überhaupt der Einzige war, der sich wirklich für Gerechtigkeit und Freiheit einsetzte, nämlich der Papst in Rom. Indem sie ungehindert und in Freiheit den Kampf aufnahmen, um die Autorität des Papstes wieder ins Zentrum der politischen und sozialen Ordnung 280

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zu rücken, würden sie den Verwüstungen der Revolution ein Ende bereiten und es wäre wieder möglich, eine freie und rechtschaffene Gesellschaft aufzubauen. In der Kirche des Hochmittelalters sah Lamennais den besten Beweis für die Umsetzbarkeit seiner Ideen.32 Zu der Zeit, als Lamennais seine Ideale formulierte, waren sie äußerst utopisch. Vor allem in Rom selbst konnte man nichts mit dieser begeisterten Unterstützung für die päpstliche Autorität anfangen. Dies zeigte sich, als Lamennais 1831 die Vermessenheit besaß, Gregor XVI. für dessen Verurteilung des polnischen Aufstands zu maßregeln, ein Akt, der keineswegs zu dem Bild des Papstes passte, das Lamennais vorschwebte. Der Papst reagierte, indem er den Kirchenbann über Lamennais aussprach und dessen Kritik in zwei Enzykliken kritisierte, erst 1832 und dann nochmals 1834. Offenbar machte Gregor XVI. gern alles zweimal. Lamennais weigerte sich, sich mit dem Bannfluch abzufinden und setzte seinen Kampf außerhalb der katholischen Kirche in zunehmender Vereinsamung fort. Viele seiner Schüler, obwohl von der Ausstoßung ihres Lehrers geschockt, blieben innerhalb der Kirche und begannen von da aus, die ultramontanistischen Ideale ihres Lehrmeisters in einigermaßen angepasster Form zu verbreiten. Vor allem bei den jüngeren Geistlichen, die unter dem staatskirchlichen System als Laufburschen der Bischöfe und des Bürgertums missbraucht wurden, fanden sie zunehmend Gehör. Die Wiederherstellung der mittelalterlichen Kirche in ihrer Macht und Glorie hätte bedeutet, dass die Priester nicht länger am Rand der Gesellschaft gestanden hätten, sondern dass sie wieder respektierte, angesehene Männer werden würden, auf deren Ratschläge man hörte. Während Lamennais isoliert wurde, wuchs der Einfluss seiner Schüler und durch ihr Zutun veränderte sich der Ultramontanismus innerhalb von 30 Jahren von der Utopie einiger realitätsferner Träumer zur offiziellen Politik der katholischen Kirche in ihrem Verhältnis zur umgebenden Welt.

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Katholizismus: Liturgie und Einheit Nicht nur die Bestimmung des Platzes der Kirche in der Welt wurde von mittelalterlichen Beispielen inspiriert, sondern auch innerhalb der Kirche selbst galt das Mittelalter zunehmend als leuchtendes Beispiel für Reformen und Erneuerung. Vor allem glaubte man voller Bewunderung, die mittelalterliche Kirche sei eine Gemeinschaft gewesen, die mit einigem Herzen und einigem Glauben zum Papst gestanden hätte und dadurch Feinden von innen und von außen gegenüber stark gewesen sei. Durch die Reformation und den Ungehorsam der katholischen Fürsten sei diese Einheit verloren gegangen; die Kirche sei zerbrochen und geschwächt worden, wodurch sie eine leichte Beute der revolutionären Aggression geworden sei. Doch wollte die katholische Kirche zu neuer Blüte kommen, musste sie die Disziplin und Einheit von damals so schnell wie möglich wiederherstellen. Wollten die Katholiken wirklich eins sein, dann mussten sie über eine gemeinschaftliche, homogene Kultur verfügen, so wie sie angeblich im Mittelalter existiert hatte. Der erste Anstoß zur Entwicklung einer gemeinschaftlichen Kultur kam von dem französischen Mönch Prosper Louis Pascal Guéranger, der in seiner Jugend ein begeisterter Schüler Lamennais‘ gewesen war. Als einer der wenigen seiner Zeit war Guéranger am Ritual der katholischen Kirche, der Liturgie, interessiert. Er war der Erste und lange Zeit der Einzige, der erkannte, dass die Liturgie eine ausgezeichnete Möglichkeit bot, die Einheit und Autorität Roms bis in die abgelegensten Ecken der katholischen Welt hinein sichtbar und spürbar zu machen – unter der Voraussetzung, dass im Gottesdienst überall dieselbe Liturgie gefeiert wurde, genau wie im Mittelalter. Vor allem in Frankreich hatte damals jedes Bistum seine eigenen Gebräuche und Traditionen, die sorgfältig gehütet wurden. Auch in Deutschland gab es viele Bistümer, die sich nicht an die römischen Rituale hielten. Guéranger plädierte für die Einführung der römischen Liturgie in der gesamten katholischen Welt, ohne Ausnahme. Nur so würden die Herzen der Gläubigen wieder auf das wahre Zentrum – auf Rom und den Papst – gerichtet werden können.

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Katholizismus: Liturgie und Einheit

Guérangers Überzeugung, die Liturgie müsse im Wiederaufbau der Kirche eine zentrale Rolle einnehmen, wurde in den 1830er-Jahren noch gestärkt, weil er damals sein zweites großes Ziel im Leben umsetzte: eine Reform des Klosterlebens in Frankreich. 1863 ließ er sich mit einigen Freunden in der Ruine des Klosters von Solesmes nieder und begann dort mit dem Wiederaufbau des Benediktinerordens, der in Frankreich seit der Revolution ganz verschwunden war. Als Vorbild hatte Guéranger das Kloster von Cluny vor Augen, jene mittelalterliche Abtei, in der der Tagesrhythmus von einer praktisch ununterbrochenen Reihe liturgischer Feierlichkeiten beherrscht wurde.33 1837 war die Gemeinschaft derart gewachsen, dass Solesmes offiziell zum Kloster und Guéranger zum ersten Abt ernannt wurde. Anschließend begann er mit seinem erfolgreichsten und einflussreichsten Werk: den Institutions liturgiques, von denen 1840 der erste Teil erschien. Oft wird behauptet, dass Guéranger mit den Institutions, deren letzter Teil 1851 publiziert wurde, ein Monument der romantischen Sehnsucht nach dem Mittelalter erschaffen hätte.34 Das ist nicht ganz aus der Luft gegriffen, doch es ist sinnvoll, Mittel und Ziel dieses Werkes voneinander zu trennen. Das einzige Ziel des Buchs war es, die Kirche Roms in den Mittelpunkt der katholischen Kirche zu stellen, indem man ihre Liturgie allen Katholiken vorschrieb.35 Der Rückblick auf die Geschichte der Liturgie, vor allem im Mittelalter, war für Guéranger das Mittel, die Einheit, die er seitdem als verloren erachtete, wiederherzustellen. Als wichtigstes Argument für die allgemeine Einführung der römischen Liturgie führte Guéranger an, sie sei die einzige, die frei von allen schädlichen Einflüssen der Ketzerei sei.36 Nur die römische Liturgie habe alle Elemente der Liturgie aus der Zeit der Apostel bewahrt und sie müsse als Tradition wieder fest verankert werden, da die Ketzer zu allen Zeiten versucht hätten, neue Gebräuche einzuführen. Als „Beweis“ nannte Guéranger die Position des Priesters in den großen Basiliken Roms: Dort stand er während der Messe hinter dem Altar und nicht davor, und zwar mit dem Gesicht zu den Gläubigen gewandt. Dies entspreche der Sitte der ersten Christen, sich mit ihrem Priester rund um den Altar zu scharen. Spätere Forschungen haben ergeben, 283

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dass die Position des Priesters nichts mit den Gebräuchen der Urchristen zu tun hatte, sondern damit, dass die Kirchen nach Westen ausgerichtet waren und sich der Priester während der Messe stets in Richtung der aufgehenden Sonne, also nach Osten, wenden sollte. Dennoch schlussfolgerte Guéranger messerscharf, dass im Gegensatz zu allen anderen Westkirchen nur Rom allein die Reinheit der Liturgie und ihre Beziehung zu den Ursprüngen bewahrt habe.37 Nur die Kirche Roms vermittle zwischen der Kirche der Apostel und der Kirche von heute. Bei der ganzen Argumentation, die Liturgie Roms sei allen anderen überlegen, weil sie die Verbindung zum Ursprung am besten bewahrt habe, spielt das Mittelalter keine andere Rolle als im Werk der katholischen Apologeten der Gegenreformation, wie zum Beispiel bei Bossuet (siehe Seite 51). Das Studium der liturgischen Entwicklung im Mittelalter war notwendig, weil dadurch bewiesen werden sollte, dass es nie einen Bruch in der Entwicklung gegeben habe und dass der Status quo eine logische Folge dessen sei, was in der apostolischen Zeit bereits dagewesen war. Das Mittelalter bildete quasi die Durchreiche zwischen der alten und modernen Christenheit. Was Guéranger an der römischen Liturgie bewunderte, war allerdings nicht ihr mittelalterlicher Charakter, sondern die Tatsache, dass sie seiner Meinung nach noch immer den Geist der ältesten christlichen Kirche atmete, die sich um Petrus und dessen Nachfolger in Rom gruppiert hatte. Im Mittelalter bekannte sich nach und nach die gesamte Westkirche zur alten Liturgie Roms und damit zu einer sichtbaren Einheit rund um den Papst. An diesem Punkt stimmt Guérangers Sicht mit der anderer katholischer Romantiker überein, nämlich, dass das Mittelalter eine vorbildliche Epoche der Ordnung, Einheit und einer gut organisierten und durch und durch christlichen Gesellschaft gewesen sei. Die wichtigsten Perioden, in denen diese Einheit entstanden war, waren laut Guéranger die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts sowie das 11. Jahrhundert. Die erste Gelegenheit, die westliche Kirche unter Rom zu vereinigen, war die Allianz zwischen den Päpsten und den Franken gewesen, die 751 mit dem Briefwechsel zwischen Pippin dem Kurzen und Papst Zacharias zustande gekommen war. Laut Guéranger war dies ein durch die Vorsehung gesandter Moment, weil nach Jahrhunderten der Ver284

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wirrung die karolingischen Fürsten wieder einen Einheitsstaat aufbauen wollten und dabei das Prestige der Päpste bitter nötig hatten. Die Franken hatten es zwar geschafft, eine gewisse politische Einheit zu bilden, aber die wirkliche Einheit sollte aus Rom kommen. Papst Stephan II. schloss 754 mit Pippin einen Pakt zur Vereinigung des ganzen Westens unter dem Papst in Rom. Er beinhaltete unter anderem die Einführung der römischen Liturgie im gesamten Frankenreich. Dies war von seinen Vorgängern im Prinzip bereits beschlossen worden, und da die Liturgie „die größte Triebfeder beim Aufbau der Kultur eines Volkes“ sei, bedeutete Einheit in diesem wesentlichen Punkt im Grunde die Erschaffung einer neuen christlichen Kultur. Es waren die Päpste, die am Anfang dieser Kultur standen, und es war die Kirche in Rom, die deren Herz bildete. Die Einheit in Europa war das Werk der Päpste, da war sich Guéranger ganz sicher.38 Was im 8. Jahrhundert begonnen hatte, wurde im 11. Jahrhundert vollendet. Da Spanien außerhalb der karolingischen Einheit geblieben war, hatten sich die Christen dort gewiss an andere Gebräuche halten können, zusammengefasst im sogenannten mozarabischen Ritus. Obwohl dieser ebenso wie die römische Liturgie auf die Riten im frühen christlichen Altertum zurückging, konnte er jedoch nicht frei von Spuren der Ketzerei geblieben sein, weil die Autorität, von der er ausging, nicht unfehlbar gewesen sei. Als im 11. Jahrhundert die Wiedereroberung Spaniens unter den Arabern begann, ergriff Papst Gregor VII. die Gelegenheit, um den zurückeroberten Gebieten die römische Liturgie aufzuerlegen und sie so in die liturgische Einheit aufzunehmen, die bereits den übrigen Westen umspannte. Mit dem Anschluss Spaniens an die römische Liturgie war für Guéranger das große Werk vollendet: Durch das nie versagende Drängen der Päpste war die „katholische, soziale Einheit“ zustande gekommen.39 Für das späte Mittelalter konnte sich Guéranger wesentlich weniger begeistern. Lokale Sitten drohten wieder die Oberhand zu gewinnen und die römische Liturgie zu überwuchern. Im 16. Jahrhundert war die Situation derart aus dem Ruder gelaufen, dass eine gründliche Reform der liturgischen Gebräuche notwendig wurde. Leider gab es zahlreiche Versuche, diese Reform außerhalb Roms durchzuführen, wo285

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durch sie laut Guéranger in einen Morast von Ketzerei und Aberglauben geriet. Glücklicherweise griffen die Päpste ein und begannen nach dem Konzil von Trient mit der einzig wahren Reform: Sie säuberten die Liturgie vom spätmittelalterlichen Aberglauben und führten die alten Sitten Roms und der Einheit der Christenheit wieder ein.40 1570 erschien in Rom ein neues Missale, das von da an die Norm für die ganze westliche Kirche werden sollte. In Frankreich und großen Teilen Deutschlands wurde es jedoch nicht akzeptiert. Nun musste wieder so etwas wie in der Zeit Karls des Großen und Gregors geschehen, als für einen Moment sichtbar geworden war, dass alle Christen im lateinischen Europa mit Gott und miteinander durch ein gemeinschaftliches Ritual in einer gemeinschaftlichen Sprache verbunden waren, wodurch sie „eine nationale Gemeinschaft im Westen“ bildeten, die die Grenzen aller Völker und Nationen überschritt. Konnte diese Einheit der Kultur wiederhergestellt werden, so würde auch wieder deutlich werden, dass ein Christ kein anderes Vaterland besaß als die Kirche und keinen anderen Fürsten als den Papst.41 Jede andere Form des Nationalgefühls hatte sich diesem unterzuordnen. Kein Wunder, dass der ultramontanistische Katholizismus Misstrauen bei den Verfechtern des Nationalstaats weckte. Der Erfolg der Institutions liturgiques war überwältigend. Vor allem das Erscheinen der ersten beiden Bände 1840 und 1841 rief in ganz Frankreich Reaktionen hervor. Obwohl diese anfangs vor allem negativ waren und sich über 60 Bischöfe gegen die Vorschläge Guérangers wandten, läutete sein Werk das Ende der lokalen Traditionen in den französischen Bistümern ein.42 Innerhalb von weniger als 40 Jahren wurde überall in Frankreich die römische Liturgie eingeführt; das letzte Bistum, das nachgab, war 1875 Orléans. Deutschland folgte diesem Beispiel. In seinem eigenen Kloster Solesmes schuf Guéranger eine Arbeitsstätte, an der nicht nur die Liturgie Roms im Gottesdienst kultiviert wurde, sondern wo auch unter Leitung von Joseph Pothier und André Mocquereau wissenschaftliche Studien betrieben wurden, um die reinste Form der Liturgie und die dazugehörigen Lieder aufzuspüren und wiederzubeleben.43 Durch diese Studien stand Solesmes an der Wiege einer zweiten Einheitsbewegung, die darauf ausgerichtet 286

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war, jegliche moderne Musik aus den Kirchen zu verbannen und stattdessen eigene kirchliche Gesänge, nämlich die gregorianischen, basierend auf mittelalterlichen Quellen, überall einzuführen. Auch diese Bewegung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Liturgie noch von der Musik Mozarts, Haydns, Rossinis und Gounods aufgelockert, hatten 50 Jahre später die gregorianischen Gesänge in ganz Europa die moderne Musik verdrängt. Wenn neue Kompositionen vorgestellt wurden, mussten sich die Komponisten an der gregorianischen Musik messen lassen. 1903 schrieb Papst Pius X. sogar die gregorianische Musik nach Art von Solesmes als Modell für jegliche Kirchenmusik vor. Guéranger war ein Mann mit feinem Gespür für Publicity. Er hatte nicht nur Ideen, sondern konnte sie auch verkaufen. Sein wichtigster Bundesgenosse war der lautstarke Journalist Louis Veuillot, der in seiner äußerst einflussreichen Tageszeitung L‘Univers den Kampf Guérangers mit allen Mitteln unterstützte.44 Doch seinen Erfolg verdankte Guéranger nicht zuletzt auch der Tatsache, dass er als erster den sozialen Charakter von Ritualen aufgezeigt und erkannt hatte, dass Gruppen von symbolischen Gesten gebildet und zusammengehalten wurden. Lange bevor Anthropologen sich systematisch mit Religion zu beschäftigen begannen, sah er praktisch intuitiv, dass ein Gottesdienst ein kulturelles Gefüge ist, das nicht von Organisation oder von Worten, sondern von Riten aufrechterhalten wird, von symbolischen Handlungen, die Menschen tiefgreifend beeinflussen, weil sie den Kosmos ordnen und repräsentieren.45 Schon in der Einleitung seines Buches wies Guéranger auf diesen verbindenden Charakter des Rituals hin. Die Liturgie sei nicht einfach ein gemeinsames Gebet, sondern „die soziale Form des Gebets“.46 Wo dieselben Worte gebraucht und dieselben Riten vollführt würden, dort entstehe eine Einheit des Herzens. Es ging Guéranger um die inhaltliche Einigkeit der Christen, aber er erkannte zudem außergewöhnlich scharf, dass das eine ohne das andere nicht existieren kann. Er argumentierte, die Kirche sei keine Gemeinschaft von Geistern, sondern von Menschen. Und wie beim Menschen der Körper die Gestalt der Seele sei, so sei in der Kirche die Liturgie die konkrete Äußerung der Wahrheit des 287

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Glaubens in Zeichen und Bildern. Deswegen würden die Glaubenswahrheiten des Christentums nicht durch Worte, sondern durch die Liturgie am tiefsten eindringen, durch das Zusammenwirken von Riten und Zeremonien, in denen die abstrakten Dogmen konkrete Formen annehmen.47 Guéranger zeigte in seinem Buch einen Weg auf, wie man eine religiöse Gruppe bilden und zusammenhalten konnte. Er sah, bewusst oder unbewusst, dass die Zeit der kleinen, lokalen Gemeinschaften vorbei war und dass die katholische Kirche, ebenso wie die gesamte Gesellschaft seiner Zeit, zu einer größeren Gemeinschaft mit einer Sprache und einer Kultur umgeschmiedet werden musste. Er spürte, dass es die Fantasie ist, vielmehr als die Organisation, die die Menschen verbindet. An einem kritischen Moment in der Geschichte zeigte er, wie die Kirche die großen Veränderungen, die im 19. Jahrhundert notwendig waren, um zu überleben, durchführen konnte und wie die Kirche, genau wie die neuen Nationalstaaten, eine „imaginäre Gemeinschaft“ bilden konnte, deren Grenzen nicht länger die Gemeinde und auch nicht das Bistum, sondern die universale Kirche Roms war. Mit seinem Plädoyer für eine Rückkehr zu der Zeit, in der die Päpste zusammen mit Karl dem Großen „eine nationale Gemeinschaft im Westen“ erschaffen hatten, zeigte Guéranger der katholischen Kirche einen Weg, um sich im Jahrhundert des Nationalismus nicht nur zu erhalten, sondern zu neuer Blüte zu gelangen.

Katholizismus: Solidarität und Zusammenarbeit Wie wichtig die Schöpfung einer homogenen katholischen Kultur, inspiriert durch mittelalterliche Beispiele, auch gewesen sein mochte, reichte diese allein jedoch nicht, um alle Katholiken zu mobilisieren und in einer neuen Einheit zusammenzufassen. Wenn die Kirche tatsächlich alle einschließen wollte, wie das angeblich im Mittelalter der Fall gewesen war, dann beinhaltete dies, dass auch die untersten Schichten der Gesellschaft für den Katholizismus gewonnen werden mussten. Die Katholiken des 19. Jahrhunderts erkannten, dass dies 288

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eine gewaltige Aufgabe war und obendrein eine, die die Kirche kaum oder gar nicht bewältigen konnte. Schon seit jeher waren die Armen und Kranken für die Kirche viel eher Gegenstand der Sorge gewesen, als dass sie als aktive Mitglieder wahrgenommen wurden. Bis zur Französischen Revolution hatten die Katholiken ein weitverzweigtes karitatives Netzwerk unterhalten, um die schlimmste Not zu lindern. Krankenhäuser, Waisenhäuser, Armenschulen, Garküchen: Das waren Versuche, um sowohl den am meisten Benachteiligten zu helfen, als auch die christliche Pflicht der Nächstenliebe auszuüben. Dies geschah auf freiwilliger Basis, und dennoch war es ein beeindruckendes Auffangnetz, durch das vielen geholfen werden konnte. Daneben gab es auch Vereinigungen wie Gilden und Bruderschaften, die darauf achteten, dass ihre Mitglieder zumindest ein erträgliches Auskommen hatten und die in Zeiten von Not Hilfe bieten konnten, um den Kopf über Wasser zu halten. Mit der ideologisch motivierten Enteignung allen kirchlichen Besitzes während der Revolution und dem wirtschaftlich motivierten Verbot von Standesorganisationen wie den Gilden stürzte diese ganze Konstruktion in sich zusammen. Selten sind die Armen so im Stich gelassen worden wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Problem wurde durch die beginnende industrielle Revolution noch akuter. Wie Adam Müller bereits zu Beginn des Jahrhunderts aufgezeigt hatte – noch bevor die Industrie das europäische Festland erreicht hatte –, galten Arbeiter in der industriellen Gesellschaft nicht länger als Menschen, sondern als Ware. Sie besaßen keinerlei Rechte, keinerlei Schutz und konnten gehandelt werden wie Vieh. Das einzige, was für den Unternehmer zählte, war, sie so viel Arbeit wie möglich für so wenig Geld wie möglich verrichten zu lassen. Frauen und Kinder wurden eingesetzt, weil sie billiger waren, was den sozialen Niedergang der arbeitenden Klasse absolut machte. Es entging den Katholiken nicht, dass sich die neue Arbeiterklasse fundamental von den früheren Armen unterschied, aber die Lösung des Problems konnte für sie keine andere als die altbewährte sein: Man erhöhte also die wohltätigen Anstrengungen. Mitte des 19. Jahrhunderts stellte sich jedoch heraus, dass Nächstenliebe und Wohltätigkeit 289

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nicht genügten und dass mehr strukturelle Lösungen nötig waren. In den katholischen Industriegebieten von Frankreich und Wallonien entstanden Initiativen, um die Arbeiter zu organisieren und Vereinigungen auf die Beine zu stellen, die ihre Interessen vertreten konnten, etwa die 1833 in Paris gegründete Vincentiusgemeinschaft von Frédéric Ozanam, die auch in anderen Ländern aktiv wurde.48 Wilhelm Emanuel von Ketteler, ab 1850 Bischof von Mainz, erkannte, dass gute Absichten und wohltätige Anstrengungen nicht ausreichten und dass die Arbeiterfrage nach Lösungen schrie, zu denen auch der Staat einen Beitrag liefern musste. In einem Idealbild des Mittelalters fand er die Inspiration, die ihn befähigte, dringende Fragen seiner eigenen Zeit anzugehen. Ketteler erwarb zum ersten Mal nationale Bekanntheit als er, damals noch einfacher Pastor, 1848 zum Abgeordneten in der Nationalversammlung von Frankfurt gewählt wurde, wo er sich an den Aktivitäten des katholischen Clubs beteiligte. Im Herbst 1848 hielt er eine beeindruckende Rede, in der er seinem Publikum vorhielt, dass nicht die neue Verfassung, sondern die soziale Frage das wichtigste gesellschaftliche Problem darstelle, eine Ansicht, die für viele reformbereite Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert typisch wurde: Politisch waren sie konservativ, sozial aber modern. Kurz vor Weihnachten desselben Jahres hielt Ketteler sechs Predigten im Dom von Mainz, in denen er seine Überzeugung verdeutlichte. Am Beispiel des Thomas von Aquin, des berühmten Theologen aus dem 13. Jahrhundert, fand er theologische Argumente für die These, dass die himmelschreiende Armut unter den Arbeitern vor allem eine Folge der falschen Auffassung von Eigentum sei. Dabei zitierte er unter anderem den französischen Sozialisten Pierre-Joseph Proudhon: „Eigentum ist Diebstahl.“ Die Liberalen seien davon überzeugt, das Eigentumsrecht sei unantastbar und überließen deswegen die Arbeiter ihrem Schicksal; Kommunisten meinten, alles müsse gemeinschaftliches Eigentum werden, aber dies führe zu gesellschaftlichem Chaos. Für einen Christen dagegen gälte, dass er seinen ganzen Besitz als ein gottgegebenes Pfand betrachten müsse, das so zu verwalten sei, dass die Allgemeinheit davon profitieren könne („Sozialpflichtigkeit des Ei290

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gentums“). Echte soziale Gerechtigkeit könne es von daher nur in einer gläubigen Gesellschaft geben, die sich von Gott abhängig weiß.49 1848 ging Ketteler noch davon aus, es würde für die Lösung der sozialen Frage reichen, wohlhabende Katholiken darauf hinzuweisen, dass sie ihren Besitz großherzig verwalten müssten. Die Arbeiter selbst betrachtete er als Objekt der Sorge und nicht als Menschen, die ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen konnten. Er änderte seine Auffassung in beiden Punkten erst später, als er als Bischof von Mainz näher mit der Not der Arbeiterklasse im Industriegebiet rund um Frankfurt in Berührung kam.50 Erneut fand er seine Inspiration im Mittelalter, der Zeit, in der die Notwendigkeit eines vielgestaltigen Gilden- und Zunftwesens eingesehen wurde. Das gesamte gesellschaftliche Leben war damals in kooperativen Formen organisiert. Jeder gesellschaftliche Stand, jede menschliche Aktivität besaß eine eigene Organisationsform, wodurch die Menschen vor Willkür geschützt, ihre Interessen beherzigt und ihre persönliche Freiheit garantiert wurden. Diese Gesellschaft, in der alle Organisationen in einer organischen Verbindung zueinander und zum Staat standen, wurde erst vom fürstlichen Absolutismus und später vom Liberalismus zerstört. Die individuelle Freiheit, die die Liberalen vertraten, sei eine abstrakte Freiheit, die Menschen machtlos mache und sie dem Monopol des Staates ausliefere.51 Für die Arbeiter seien die Konsequenzen am weitreichendsten: Theoretisch seien sie frei, doch in Wirklichkeit Sklaven des Kapitals. Als einzigen Lichtblick sah Ketteler, dass überall in Deutschland, während noch gegen die Rückständigkeit des Mittelalters gewettert wurde, nun doch wieder nach Arten und Weisen gesucht wurde, die Menschen erneut in kooperativen Verbänden zu organisieren, die die Interessen ihrer Mitglieder vertreten konnten.52 1864 stellte Ketteler fest, alles Elend komme nur daher, dass die gesetzlichen Beschränkungen in Handel und Industrie aufgehoben worden waren, wodurch menschliche Arbeit zur reinen Handelsware verkommen war. In der Zeit, als es noch den Gildenzwang gab, sei das ganz anders gewesen, da Zunftmitglieder gegen rücksichtslose Konkurrenz geschützt wurden. Das habe auch zu Missbrauch geführt, aber dieser sei weniger gravierend gewesen als das, was nun im Namen der individuellen Freiheit geschah. Die 291

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einzige Methode, dem ein Ende zu bereiten, sei es, neue Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln. Das könne in Deutschland nicht schwer sein, denn die Deutschen hätten seit jeher am liebsten in kooperativen Organisationen gearbeitet, deren bestes Beispiel die mittelalterlichen Gilden seien. Derartige Organisationen wollte Ketteler erneut entwickeln, indem mehr Handwerkervereinigungen und Produktionskollektive gegründet werden sollten, bei denen die Arbeiter Miteigentümer und aktiv an der Verwaltung des Unternehmens beteiligt waren.53 Von derartigen Formen der Verbundenheit und Solidarität erhoffte er sich, dass die sozialen Verhältnisse wieder werden könnten wie früher, als Meister und Gesellen noch einträchtig miteinander an einem Produkt gearbeitet und dieses als ihre gemeinsame Verantwortung betrachtet hatten.54 Ketteler war zu seiner Zeit der einflussreichste Sprecher der deutschen Katholiken. Dies beweist schon allein die Tatsache, dass er 1871 nach der Vereinigung Deutschlands in den ersten Reichstag gewählt wurde. Im Gegensatz zu vielen seiner katholischen Zeitgenossen, die der sozialen Frage mit einer Rückkehr zur mittelalterlichen Ständegesellschaft begegnen wollten und dies als Lösung aller Probleme betrachteten, entwickelte sich Ketteler zu einem Verfechter der Facharbeiterbewegung, des Streikrechts und des Verbots der Kinderarbeit. Er hatte eine große Vorliebe für das Harmoniemodell, verabscheute den Klassenkampf und vertraute eher dem gesellschaftlichen Mittelfeld als dem Staat, doch er erkannte an, dass in der modernen Industriegesellschaft Arbeiter eigene und unabhängige Organisationen brauchten, um bestehen zu können.55 Mit diesen Ideen hat Ketteler wesentlich dazu beigetragen, dass das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Deutschland stets viel mehr im Zeichen der Diskussion gestanden hat – das „rheinländische Modell“ – als von Streit und Konfrontation, wie es so typisch für die angelsächsische Welt ist. Umso verwunderlicher ist es, dass sogar dieser praktische, moderne Mann glaubte, sich in das Gewand des Mittelalters hüllen zu müssen. Während er einerseits mahnte, die Katholiken sollten nicht glauben, die sozialen und politischen Institutionen der Vergangenheit seien in der Gegenwart nicht mehr zu verbessern und die Rückkehr zur 292

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Vergangenheit böte die einzige Möglichkeit für eine bessere Zukunft, erhob er andererseits das Mittelalter zur einzigen Epoche in der Geschichte, in der die Gesellschaft eine so reiche Vielfalt organisch miteinander verbundener Organisationen aufgewiesen habe, dass die persönliche Freiheit eines jeden dadurch garantiert worden sei.56 Vielleicht konnte er als Katholik nicht anders. Eine Institution mit einer so langen Geschichte wie die katholische Kirche kann sich ihre Zukunft womöglich nur als eine Wiederholung der Vergangenheit vorstellen. Das Aufleben der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert wird oft als „Restauration“ beschrieben, aber das ist ein äußerst irreführender Terminus. Um sich eine neue Zukunft zu schaffen, nahmen kirchliche Reformer im 19. Jahrhundert Abstand von der unmittelbaren Vergangenheit, dem Ancien Régime, und beriefen sich auf eine fernere, bis dato von den Katholiken verachtete Vergangenheit, das Mittelalter, und daraus wählten sie sorgfältig aus, was ihnen nutzen konnte. Das hatte nichts mit Nostalgie wegen eines verlorenen Traums zu tun; wofür sie standen, war die Zukunft. Lamennais wollte eine freie, nicht von Fürsten beherrschte Kirche, Guéranger wollte eine einige, zentral verwaltete Kirche und Ketteler eine sozial verantwortliche Kirche, die auch den Ärmsten eine menschenwürdige Existenz bieten konnte. Gemeinsam stehen diese drei für die revolutionäre Erneuerung, die die katholische Kirche im 19. Jahrhundert erlebte. Auf dieselbe Art und Weise wie die neuen Nationalstaaten und mit allen Mitteln, die die moderne Gesellschaft dafür zur Verfügung stellte, löste sich die Kirche von alten Bindungen, verstärkte die Einheit und begann mit einer einmaligen Missionierungsoffensive. Mit harter Hand wurde die gesamte Kirche von oben nach unten reorganisiert, und zum ersten Mal wurden große Gruppen von Menschen, deren Kontakt mit dem offiziellen Christentum in den vorherigen Jahrhunderten gering gewesen war, mit der Botschaft der Kirche konfrontiert. Was Reform hieß, war im Grunde eine sehr bewusste Modernisierung, gehüllt in das Gewand des Mittelalters.57 Die Kirche des 19. Jahrhunderts kann man am ehesten mit den großen Bahnhöfen vergleichen, die in jener Zeit gebaut wurden: Der Giebel war gotisch, aber dahinter verbargen sich Konstruktionen aus Stahl und Gusseisen. Die Katholiken präsentierten sich 293

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gerne als Überlebende aus der Vorzeit, aber dahinter verbarg sich eine höchst moderne, effiziente und einflussreiche Organisation, die noch in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts amerikanischen Geschäftsleuten als die am besten strukturierte Organisation der Welt präsentiert werden sollte.

Sozialismus: Würde und Ausbeutung Im Gegensatz zur katholischen Kirche konnten sich die sozialistischen Bewegungen nicht auf eine ruhmreiche Vergangenheit berufen und daraus die Kraft schöpfen, ihre Ideen in der Gegenwart durchzusetzen, aber dennoch waren die Sozialisten durchaus an der Vergangenheit interessiert. Sie waren davon überzeugt, beweisen zu können, dass ihre Visionen einer gerechteren Zukunft auf der Geschichte Europas gründeten, ja, wenn nicht sogar auf der der ganzen Welt. Am berühmtesten ist der Versuch von Karl Marx, zu beweisen, dass die gesamte Weltgeschichte unwiderruflich auf den Sieg des Proletariats und die Gründung einer klassenlosen Gesellschaft hinauslaufen muss, in der jeder seinen Bedürfnissen gemäß ein Auskommen findet. Für die Katholiken galt das Mittelalter als die Zeit, in der die Kirche die gesamte Gesellschaft gebildet und geformt hatte; für die Nationalisten war das Mittelalter die Zeit, in der die Nation in ihrer ursprünglichen Reinheit bestanden hatte. Aber konnten auch Sozialisten, Leute mit radikalen Ideen über die Umverteilung von Besitz und die Priorität der Gemeinschaft vor dem Individuum, etwas im Mittelalter finden, was ihnen in der Gegenwart Unterstützung im Kampf für eine bessere Welt bieten konnte?58 Zeigten auch sie sich empfänglich für die Sehnsucht des 19. Jahrhunderts nach jener Zeit der Autorität, der engen Gemeinschaften und Harmonie, die einen so mächtigen Einfluss auf all ihre Zeitgenossen ausübte? Auf den ersten Blick scheint das nicht der Fall zu sein. Das berühmteste sozialistische Dokument aller Zeiten, das Manifest der kommunistischen Partei (1848), äußerte sich mit tiefer Verachtung über die Bewunderer des Mittelalters, die „feudalen Sozialisten“, die sich zwar ge294

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gen den modernen Kapitalismus wehrten, aber dafür zu einem gesellschaftlichen System zurückkehren wollten, das auf der Ungleichheit zwischen Grundbesitzern und Grundbearbeitern beruhte, ein System, das nichts weiter gewesen war als eine ältere Version der Ausbeutung der arbeitenden Klasse. Zu dem Kampf des revolutionären Proletariats konnten diese reaktionären Aristokraten nichts beitragen. Wer ihnen hinterherliefe, könne auf ihrem Allerwertesten die alten feudalen Wappen erkennen und müsse zwangsläufig unter Hohngelächter davonlaufen.59 Das Mittelalter sei eine Zeit der Ausbeutung gewesen, die mit religiösen Argumenten gerechtfertigt worden wäre. Gerade in der gesellschaftlichen Ordnung des Mittelalters sei die Entstehung des Kapitalismus und die Herrschaft der Bourgeoisie vorbereitet worden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt hätten sich Handel und Industrie so stark entwickelt, dass die feudalen Eigentumsverhältnisse, ausgedrückt in Hörigkeit und Gilden, nicht mehr mit den neu entstandenen Produktionskräften übereinstimmten und alte Beschränkungen daher fallen mussten. Der freie Markt ersetzte die geschützte Produktion. Wer also ins Mittelalter zurückkehren wollte, wie die feudalen Sozialisten, müsste sich klarmachen, dass die moderne Bourgeoisie, die sie so sehr hassten, ein zwangsläufiger Auswuchs der von ihnen gewünschten gesellschaftlichen Ordnung sei.60 Marx sagte über die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie im historischen Prozess, diese Klasse habe „wo sie zur Herrschaft gekommen, alle feudalen, patriarchalen und idyllischen Verhältnisse zerstört“. Es habe im Mittelalter zwar Klassenkampf und Ausbeutung gegeben, aber es sei auch eine Zeit gewesen, in der persönliche Würde, das Ritterideal und die vielfältigen feudalen Bindungen, die den unteren Klassen einen gewissen Schutz gegen die Willkür ihrer Herren boten, in hohem Ansehen standen. Dies alles habe die Bourgeoisie „im eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“.61 Die unabhängigen Kleinbauern und der kleine Mittelstand seien untergegangen und Teil eines Proletariats geworden, das nur noch seine Arbeitskraft auf dem freien Markt habe anbieten können. Ausgehend von seiner Theorie, die ganze Geschichte sei vom Klassenkampf geprägt, konnte Marx nichts anderes sagen, als dass auch das Mittelalter von diesem Kampf gezeichnet war, 295

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und dass damals, ebenso wie davor und danach, Ausbeuter und Ausgebeutete einander gegenüberstanden. Es sei aber durchaus eine Zeit gewesen, die viel Gutes gehabt habe und die mit dem Aufkommen des Kapitalismus gegen Ende des 15. Jahrhunderts verloren gegangen sei. An dieser Stelle wird ein Widerspruch in Marx‘ Werk erkennbar, auf den Edmund Wilson in seiner klassischen Studie über die Geschichte, To the Finland Station, hingewiesen hat. Einerseits versucht Marx so objektiv wie möglich, eine Theorie der Geschichte zu entwerfen, in der noch das schlimmste Übel anhand der Gesetze der Dialektik erklärt werden kann, andererseits kann er seine moralische Empörung über das Unrecht, das machtlosen Menschen angetan wurde, nicht unterdrücken und wendet sich gegen die gewissenlosen Kapitalisten, die dem kleinen Mann nicht nur das Wenige gestohlen haben, was er an Hab und Gut besaß, sondern auch seine menschliche Würde.62 Dieser Widerspruch zwischen Wissenschaftler und Prophet tritt in Das Kapital noch deutlicher zutage, wenn Marx die mittelalterliche Feudalgesellschaft der modernen kapitalistischen Gesellschaft gegenüberstellt. Auf den ersten Blick erschien die mittelalterliche Gesellschaft demnach als Form des Zusammenlebens, in der Zwang und Ausbeutung die menschlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmten. Der wichtigste Wirtschaftsfaktor war die Landwirtschaft und diese war in Form von großen Landgütern organisiert, auf denen Hörige und Leibeigene gezwungen wurden, für ihre Herren zu produzieren.63 Die Bauern auf dem Landgut hatten ein Häuschen und ein Stück Land, um alles, was sie für ihren Lebensunterhalt brauchten, darauf anzubauen. Der Herrendienst nahm nur einen kleinen Teil ihrer Arbeitszeit in Beschlag, im Übrigen arbeiteten sie für sich selbst. Außerdem waren die Bauern zwar keine Besitzer der Produktionsmittel, andererseits verfügten sie aber durchaus darüber, und dieses Recht war ihnen durch verschiedene schützende Regelungen garantiert. Außerdem konnten sie von der alten germanischen Tradition profitieren, Teile des Grund und Bodens gemeinschaftlich zu nutzen, zum Beispiel für das Weiden ihres Viehs, das Holzsammeln und die Jagd auf Kleinwild.64 Der Bauer im Mittelalter war ein größtenteils unabhängiger Produzent, der einen bescheidenen, aber ausreichenden Besitz erwerben und eine Existenz296

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sicherung aufbauen konnte, die der spätere, sogenannte freie Tagelöhner, der der Unsicherheit des Marktes ausgeliefert war, nicht besaß. Weil er alles unmittelbar für den Eigenbedarf produzierte, ohne Einfluss des Marktes, sei der Bauer im Mittelalter den Früchten seiner Arbeit viel weniger entfremdet gewesen als die späteren „freien“ Arbeiter. Dasselbe galt, mutatis mutandis, für den Handwerker in der Stadt.65 Alles in allem bewertete Karl Marx das Leben im Mittelalter zwar als ziemlich schlecht, aber als nicht ganz so schlecht im Vergleich zu den Verhältnissen in der Gegenwart. Laut Marx geriet das feudale Produktionssystem vor allem durch den florierenden Handel auf Dauer in eine Sackgasse und musste dem Kapitalismus weichen.66 Diese Entwicklung begann im 15. Jahrhundert in England, als Grundbesitzer entdeckten, dass sie ihre Einkünfte bis ins Unendliche steigern konnten, wenn sie mit dem Ackerbau aufhörten und sich stattdessen auf die Schafzucht konzentrierten, um in großem Maßstab Wolle für die flämische Stoffindustrie zu produzieren. Dies bedeutete auch, dass sie die Bauern von ihrem Land vertreiben mussten, um für Schafherden Platz zu machen. Die Grundbesitzer interpretierten zu diesem Zweck die Eigentumsrechte, die bis dahin im feudalistischen System als ein kompliziertes Ganzes von Rechten und Pflichten gegolten hatten, als ein Recht auf freie und absolute Verfügung über ihr Eigentum. So gesehen konnten sie mit ihrem Land machen, was sie wollten und es nutzen wie sie wollten. Außerdem konnten sie Anspruch auf die gemeinsam genutzten Flächen erheben, die Almende. Millionen Bauern mussten ihr Land verlassen, ihre Häuser wurden hinter ihnen abgerissen, sie verloren alle ihre alten Rechte und konnten nur noch überleben, indem sie ihre Arbeitskraft auf dem Markt feilboten.67 Bürgerliche Geschichtsschreiber schilderten diese Entwicklung als Gewinn von mehr Freiheit, doch sie mündete de facto in eine Sklaverei, die um ein Vielfaches schlimmer war als die feudale Hörigkeit. Bitter verurteilte Marx das Verschwinden des Gildezwangs in den Städten, der zwar für die industriellen Kapitalisten ein Sieg war, da ihrem Drang, unbeschränkt zu produzieren, keine Grenzen mehr gesetzt waren, doch die einstmals so stolzen Gildenbrüder zu geknechteten Pro297

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letariern degradierte. „Und die Geschichte dieser ihrer Enteignung ist in die Annalen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer.“68 Die einfühlsame Art, in der Marx das Leben der mittelalterlichen Bauern und Handwerker skizzierte, erinnert an die Bilder, die er an anderer Stelle vom Leben nach der proletarischen Revolution heraufbeschwört. Dies erklärt vielleicht auch, warum sein Ton so empört wird, wenn er den Untergang dieser einfachen, aber würdevollen Existenz des arbeitenden Mannes nach 1400 beschreibt. An der mittelalterlichen Gesellschaft, wie er sie sah, bewunderte Marx das Gefühl der Gemeinschaft und Solidarität, das zur Zusammenarbeit und Verantwortung füreinander anstatt zu Egoismus und Konkurrenz führte. Dennoch bedeutete dies bei Marx nie, dass die Menschheit aus diesem Grund versuchen sollte, in diese Zeit zurückzukehren. Der Lauf der Geschichte sei unwiderruflich, was geschehen sei, sei geschehen und könne nur dadurch überwunden werden, dass man auf die Rache vorausblicke, die das Proletariat an seinen Ausbeutern nehmen werde.

Sozialismus: das neue Christentum Der Einfluss von Karl Marx auf die Entwicklung des Sozialismus als politischer Strömung ist so dominant geworden, dass jede Betrachtung über den Sozialismus und das Mittelalter sicherlich mit ihm beginnen muss, doch es gab im 19. Jahrhundert auch andere Denker, die sich das Schicksal des Industrieproletariats zu Herzen nahmen und oft mit noch viel größerer Sympathie auf die mittelalterliche Vergangenheit zurückblickten als Marx. Dies gilt vor allem für einen der ersten Sozialisten, den französischen Aristokraten Claude Henri de Rouvroy de Saint-Simon. Er war nicht nur fest davon überzeugt, dass er von Karl dem Großen abstammte, sondern er beschrieb 1810 in einem Brief an seinen Neffen Victor auch, dass Karl der Große ihm in einem Traum erschienen sei, als er während der Revolution im Gefängnis saß. Der große Kaiser habe ihm versichert, dass sein Ruhm als Philosoph jenem von Karl als Feldherr gleichkommen würde.69 Dieser Traum zeugt 298

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nicht nur von Saint-Simons Faszination für das Mittelalter, sondern auch von seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Und das brauchte er auch, denn zu Lebzeiten wurden seine Ideen kaum aufgegriffen, wovon er sich jedoch nicht beirren ließ. Erst nach seinem Tod 1825 entstand so etwas wie eine Schule unter seinen Gefolgsleuten und seine Ideen fanden, vor allem in Frankreich, weite Verbreitung. Laut Saint-Simon wurde das moderne Europa durch den hohen Entwicklungsstand von Handwerk und Industrie einerseits und vom gleichzeitigen Fortschritt in der Wissenschaft andererseits gekennzeichnet. Savants und industriels bildeten die beiden wichtigsten Gruppen in der Gesellschaft. Es sei ihre Berufung, der alten Kirche und dem Adel die Führung aus den Händen zu nehmen, in einem Prozess des Fortschritts, der notwendigerweise auf ein neues Paradies hinauslaufen müsse, in dem auch das Leben der Ärmsten ein annehmbares physisches und moralisches Niveau erreichen würde.70 Unterstützt würden sie dabei von den Künstlern, die dazu bestimmt seien, die neue Gesellschaft mit ihren Mitteln darzustellen und sie so dem Rest der Menschheit leichter zugänglich zu machen. Der Beginn dieser heilsamen Entwicklung läge im Mittelalter. Bereits in seinen ersten Schriften hielt Saint-Simon seinen Lesern vor, das Mittelalter sei kein Zeitalter der Unwissenheit und Barbarei gewesen, sondern damals sei die Basis für jene bessere Welt von Frieden und Gerechtigkeit gelegt worden, die in der Gegenwart Gestalt annehme.71 Diese Meinung vertrat er in seinem späteren Werk noch sehr viel deutlicher. Zum Teil schätzte er das Mittelalter deswegen, weil er ein überzeugter Historist war, dessen These lautete: „Jedes Jahrhundert besitzt seinen eigenen Charakter, jede Institution ihre eigene Lebenspraxis.“72 In einem seiner letzten Werke, Quelques opinions philosophiques (Einige philosophische Meinungen, 1825), polemisierte er heftig gegen moderne Gelehrte, die zwar über Lykurg und Solon schwadronierten, aber kein Wort über Karl den Großen und Gregor VII. verlören. Anhand von vier Kriterien bewies er, dass die mittelalterliche Gesellschaft auf einem viel höheren Niveau gestanden habe als die griechische und römische. Erstens seien die Menschen im Mittelalter glücklicher gewesen als die Menschen in der Antike, weil sie mehr Freiheiten genossen 299

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hätten. In der Antike habe immerhin der größte Teil der Bevölkerung aus Sklaven bestanden. Zweitens sei die mittelalterliche Gesellschaft sozial viel mobiler gewesen. Die Führung habe nicht in den Händen einer hermetischen Klasse von Patriziern gelegen, die die Posten durch Vetternwirtschaft verteilten, sondern in den Händen des katholischen Klerus, der nicht aufgrund von Geburt, sondern aufgrund von Verdienst ausgewählt worden sei. Diese talentierten Männer hätten es geschafft, den ständigen Kriegen ein Ende zu bereiten, indem sie den weltlichen Mächten einen Gottesfrieden auferlegten. Das dritte Kriterium war das Bevölkerungswachstum. Durch ihre Exklusivität und ihre Abneigung gegen barbarische Ausländer wäre es den Griechen und Römern nicht gelungen, ein ausreichendes Bevölkerungswachstum zu erzielen, was letztendlich ihren Untergang herbeigeführt hätte. Die mittelalterlichen Christen hätten dagegen praktisch jeden aufgenommen und wären dadurch so schnell in ihrer Zahl gewachsen, dass sie imstande waren, ihre Erzfeinde, die Sarazenen, zu schlagen und die Stabilität der europäischen Bevölkerung für immer zu sichern.73 Und zu guter Letzt: Zwar gäbe es in jeder Zivilisation Fortschritte in Wissenschaft und Kunst und er müsse zugeben, dass die Griechen und Römer in den Künsten unübertroffen waren, doch in der Ausübung der Wissenschaft – vor allem Physik und Mathematik – könnten sie den mittelalterlichen Gelehrten nicht das Wasser reichen. Außerdem hätten sie nie erkannt, dass eine Gesellschaft die Natur nur unterwerfen und gestalten kann, wenn sie ihre Kräfte bündelt und sich in einer gemeinschaftlichen Moral von Herzen eins weiß.74 Dieser Punkt spielt in allen Schriften Saint-Simons eine zentrale Rolle: Gemeinschaft und Einigkeit sind demnach absolut notwendig für eine optimal funktionierende Gesellschaft. Und in diesem wesentlichen Punkt habe die mittelalterlich-christliche Gesellschaft ein Maß von Integration erreicht, das danach verloren gegangen sei. Zur Aufgabe aller europäischen Nationen gehöre es, sich nach Jahrhunderten der Unruhe und Zersplitterung auf die Suche nach einem neuen, alles und jeden umspannenden Einheitsgedanken zu machen, der stärker und bleibender sein sollte als der mittelalterliche, denn „es ist die Einheit, die Kraft gibt“.75 300

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In den Jahren nach der Niederlage Napoleons war Saint-Simon vor allem an den politischen Aspekten einer neuen europäischen Einheit interessiert. Schließlich waren es die Jahre, in denen eine tiefgreifende politische Umstrukturierung Europas Gestalt annahm, doch schon bald wurde er sich bewusst, dass Politik nicht ausreichte, um Menschen zueinander zu bringen und sie beieinander zu halten und dass es keine wahre menschliche Gemeinschaft ohne gesellschaftlich-moralische Werte geben konnte.76 Politische Einheit könne erst aufgrund moralischer Einheit entstehen. Bereits Sokrates hatte die These formuliert, dass es nur einen Gott gebe und der Polytheismus Unsinn sei. Die Christen hatten diesen Gedanken im römischen Reich verbreitet, aber es war Karl der Große, der die moralische Einheit in eine politische verwandelte, indem er Europa auf der Basis des Christentums vereinigte.77 Erst mussten die Menschen für ein neues moralisches Ideal gewonnen werden, dann erst folgte die politische Konsolidierung. In den letzten Jahren seines Lebens trat bei Saint-Simon der Gedanke, dass moralische Einheit die Basis jeder gut funktionierenden Gesellschaft bilde, immer mehr in den Vordergrund; wahrscheinlich, weil er sich immer größere Sorgen um das Schicksal der Allerärmsten machte und erkannte, dass man ein starkes Gefühl sozialer Verantwortung und moralischer Einheit braucht, um eine Gesellschaft dazu zu bringen, sich kollektiv des Schicksals der Benachteiligten anzunehmen.78 In seinem berühmtesten Werk, Le nouveau christianisme, behauptet er, dass man so etwas wie eine neue Religion brauche, um den tiefverwurzelten Egoismus und Individualismus zu überwinden, den er genau wie andere Kritiker der Moderne als typisch für seine Zeit betrachtete. Diese neue Religion müsse sich auf das Christentum des Mittelalters stützen, weil damals die Menschen erstmalig gelernt hätten, sich wie Brüder umeinander und um die Armen zu kümmern. Der Klerus, der selbst aus dem gemeinen Volk stammte, habe sich mit allen Mitteln für das Erreichen dieses Ziels eingesetzt. Wo er nur konnte, bekämpfte er den Geburtsadel und versuchte, diesen durch Verdienstadel zu ersetzen. Die Kluft zwischen feudalem Adel und der übrigen Bevölkerung sowie zwischen der geistlichen Macht der Kirche und der weltlichen Macht von Fürsten und Adel sei im Mittelalter ein Fakt ge301

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wesen. Dies bedeutete, dass sich der Klerus nicht darauf beschränken konnte, die reine Moral der Nächstenliebe zu predigen, sondern dass er diese in eine Religion mit Kultus und Dogma, mit himmlischer Belohnung und höllischen Strafen verpacken musste, weil nur so die Mächtigen dieser Welt dazu gebracht werden konnten, ihre Pflicht der Nächstenliebe zu erfüllen.79 Dadurch sei es Kirche und Klerus im Mittelalter gelungen, ein eng verflochtenes religiöses und moralisches System aufzubauen und in den Begüterten edelste philanthropische Gefühle wachzurufen. Mehr sei in dieser Zeit nicht machbar gewesen, aber dies habe sich im 15. und 16. Jahrhundert mit dem Erblühen der Wissenschaft und der stärkeren Position der Klasse von fleißigen Handwerkern und Industriearbeitern verändert. Der katholische Klerus habe den Blick weiterhin gen Himmel gerichtet und sich zunehmend zum Handlanger der Reichen und Mächtigen entwickelt, wodurch er seine Rolle beim Fortschritt der Menschheit verloren habe.80 Gelehrte, Arbeiter und Künstler hätten seine Stelle eingenommen und die Menschheit weiter auf dem Weg zu irdischer Moral und irdischem Glück geführt. Was Jesus gepredigt habe – liebe deinen Nächsten –, habe unvermindert gegolten, aber diese Lehre musste in ein Schlagwort dieser Zeit übersetzt werden: Verbesserung des moralischen und physischen Schicksals der Klasse der Ärmsten. Dass dies in Kürze auch geschehen würde, davon war Saint-Simon überzeugt. Europa stehe an der Grenze zu einer neuen Epoche, „einem neuen messianischen Zeitalter“, in dem das Beste aus dem Mittelalter übernommen und noch übertroffen werden würde.81

Sozialismus: Gilden und Handwerkszünfte Saint-Simon war ein Sozialist, der die Zukunft durch die Brille des Mittelalters sah, und in noch viel höherem Maße gilt dies für den Engländer William Morris. Ausgehend von seiner tiefen Bewunderung für die mittelalterliche Gesellschaft übte er erbarmungslose Kritik an der industriellen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Vor allem die Beschäfti302

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gung mit den mittelalterlichen Handwerkskünsten machte Morris bewusst, wie geisttötend Industriearbeit im Vergleich dazu war. 1894, zwei Jahre vor seinem Tod, schrieb er: „Kurzum: Das Studium der Geschichte und die Ausübung der Künste haben in mir einen Hass gegen unsere Kultur geweckt, die, wenn sich die Dinge nicht verändern, die Geschichte zu irrelevantem Unsinn machen wird.“82 Die Abneigung gegen die moderne Kultur, die aus diesen Worten spricht, teilte Morris mit anderen englischen Bewunderern des Mittelalters, etwa Rupert Southey und dem Kunstkritiker John Ruskin. Als Student in Oxford schmiedete er in den Jahren 1853 bis 1856 sogar den Plan, zusammen mit dem präraffaelitischen Maler Edward Burne-Jones, einem lebenslangen Freund, ein Kloster zu gründen, um dort gemeinsam Kunst und Wissenschaft auszuüben. Obwohl dieser fromme Plan weit von Morris’ späteren gesellschaftlichen Idealen entfernt war, spricht daraus doch bereits etwas, was ihn immer am Mittelalter faszinierte: das Bedürfnis jener Zeit, Aufgaben in der Gemeinschaft und in brüderlicher Eintracht anzugehen sowie die Verantwortung füreinander zu übernehmen, wie es vor allem in den mittelalterlichen Handwerksgilden und Zünften der Fall gewesen war. An der modernen Zeit störte ihn, dass jeder seinem eigenen Schicksal überlassen wurde und die Ärmsten dafür den höchsten Preis bezahlen mussten.83 Später, 1861, nahm der Traum einer religiösen Gemeinschaft die praktische Form einer Arbeitsgemeinschaft an, in der nach dem Beispiel der mittelalterlichen Gilde gemeinschaftlich künstlerisch hochwertige Produkte angefertigt wurden: Morris & Company, das Unternehmen, das die Arts-and-Crafts-Bewegung maßgeblich mitinitiierte. Dies geschah jedoch erst, nachdem Morris seine eigentliche Berufung entdeckt hatte. Nach einer Reise durch Nordfrankreich, während der er die gotischen Kathedralen besucht hatte, schien es, als wolle er Architekt werden, doch schon bald entdeckte er, dass seine eigentliche Faszination der mittelalterlichen Handwerkskunst galt. Bleiglasfenster, Chorgestühle, Miniaturen, zierlich bestickte Stoffe und Holzschnitzereien waren die Kunstprodukte, durch die sich die mittelalterlichen

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Handwerker ausgezeichnet hatten und bei deren Fertigung sie eine Qualität erreicht hatten, die später nie mehr erzielt wurde.84 Morris beschäftigte sich in zunehmendem Maße mit Fragen wie jener, warum die Handwerkskunst seit dem Mittelalter einen solchen Niedergang erlebt hatte und warum in der Gegenwart, die doch als so fortschrittlich galt, niemand mehr in großem Maßstab derart hochwertige, künstlerische Produkte anfertigen konnte wie damals, sondern nur noch hässliche Einheitsmassenware. Morris fand nach eigener Aussage die Antwort auf diese Frage im Werk von John Ruskin. Von ihm hatte er gelernt, dass in jeder Epoche die Kunst der Ausdruck des sozialen Lebens dieser Zeit sei. Wo der Handwerker die Freiheit des individuellen Ausdrucks genießt, wie im Mittelalter, entstehe große Kunst; wo der Arbeiter geknechtet und ausgebeutet wird, wie in der Gegenwart, würde nichts als Schund produziert.85 Daher wurde für Morris der Kampf für soziale Gerechtigkeit identisch mit dem Kampf für authentischen künstlerischen Ausdruck. Das eine war für ihn nicht ohne das andere möglich. Morris hat viele Male beschrieben, wie seine Liebe zum Mittelalter ihn zum Kampf für ein besseres Schicksal des modernen Arbeiters geführt hatte, aber an keiner Stelle hat er diesen Weg besser formuliert als in seinem Werk Art and industry in the fourteenth century (1890). Darin erklärt er unter anderem, bestimmte Denkmäler aus der Vergangenheit könnten uns derart beeindrucken, dass sie uns aus dem Trott des Alltags reißen und uns dazu bringen würden, uns von der Vergangenheit überwältigen zu lassen. Einen solchen Moment erlebte Morris beim Besuch der Stadt Peterborough, einem Eisenbahnknotenpunkt voller hässlicher Arbeiterwohnungen, schäbiger Läden und den verächtlichen Häusern des Bürgertums, zwischen denen er plötzlich die große alte Klosterkirche entdeckte, ein Monument aus den dunklen Jahrhunderten, das einst die Hoffnung der Erbauer verkörpert hatte und nun dort wie ein Menetekel für die Zukunft aufragte.86 In einem Satz verknüpft Morris hier die ästhetische Betrachtung der Vergangenheit mit dem kritischen Blick auf die Gegenwart und die Sorge um die Zukunft. Der Kontrast zwischen der Schönheit dessen, was war, und der Banalität dessen, was ist, mache deutlich, dass nur 304

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eine Revolution der Menschheit noch Rettung bringen könne. Die bezaubernde Pracht der Kirche erinnerte Morris nicht an die Mönche, die hier einst ihre Gebete gesprochen hatten, denn nach seinen jugendlichen Träumen von einem Kloster für Künstler hatte er der Religion endgültig abgeschworen. Zwar spricht er sich in seinen Schriften nicht gegen die Religion aus und schätzt die soziale Arbeit, die die Kirche im Mittelalter übernommen hatte, doch ansonsten erwähnt er sie nicht.87 Für ihn war die Kirche in Peterborough ein Zeugnis der kreativen Arbeit von Baumeistern und Bildhauern, die dabei ihr Bestes gegeben hatten. Ihre Geschichte sollte den Menschen der Gegenwart als Vorbild dienen. Morris wiederholt wieder und wieder, der mittelalterliche Handwerker sei ein Künstler gewesen, weil er frei war, zu erschaffen, was er wollte, und dadurch eine immense Freude an seiner Arbeit hatte. Alles, was er fertigte, ob Kathedrale oder ein Breitopf, sprach von Hoffnung und Freude. Anderswo schreibt er in Großbuchstaben: IN DER KUNST DRÜCKT DER MENSCH SEINE FREUDE AN DER ARBEIT AUS.88 Doch war der mittelalterliche Arbeiter wirklich so frei und ungebunden? Im Prinzip nicht: Er lebte als Höriger und musste nach der Pfeife seines Meisters tanzen, auch wenn seine Rechte und Pflichten sorgfältig umrissen waren. Er musste Herrendienste verrichten, auch wenn er sein eigenes Stück Land bebauen und den Überschuss seiner Produktion selbst verkaufen durfte.89 Dieses Argument unterscheidet sich nicht von dem, was Marx im Kapital sagt, und es gibt Grund zu der Annahme, dass Morris es dorther hatte.90 Dennoch ist damit nicht alles gesagt. Bei Marx steht die Ausbeutung des gewöhnlichen Mannes zentral; Morris dagegen konzentriert sich auf die Arbeit, die die Menschen verrichteten und auf die Frage, ob sie kreativ und künstlerisch gewesen sei und Freude und Erfüllung geschenkt habe. Er konzentriert sich zudem stärker auf den städtischen Handwerker als auf den hörigen Bauern. Der außergewöhnliche Stellenwert des Handwerks war es, was ihn am England des 14. Jahrhunderts besonders faszinierte. Der mittelalterliche Handwerker besaß seine eigenen Produktionsmittel: seinen 305

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Hammer, seine Schaufel, seine Säge. Er fertigte, was er für sich selbst und seine Familie brauchte und nur das, was übrig blieb, verkaufte er zu einem angemessenen Preis, genau wie die Bauern ihre landwirtschaftlichen Produkte. Das Produkt stand im Mittelpunkt und nicht das Geld, das dafür bezahlt wurde. Die Maximierung des Gewinns war eine Triebfeder, die dem mittelalterlichen Handwerker fremd gewesen sei. Der Grund dieser Uneigennützigkeit sei gewesen, dass das Mittelalter durch einen Gemeinsinn gekennzeichnet war, der tief in der europäischen Vergangenheit wurzelte.91 Lange bevor Europa ein christlicher Erdteil wurde, gab es bereits die Gewohnheit, beieinander Schutz zu suchen, gemeinschaftlich zu opfern, zu essen und zu feiern, und sich in Gesellschaften zusammenzuschließen, die schon damals Gilden genannt wurden (angeblich vom altnordischen gildi: Bezahlung, Abgeltung, Vereinigung). So wurde jeder von dem Bewusstsein durchdrungen, dass ein sich selbst überlassener Mensch hilflos war und nur durch gemeinschaftliche Arbeit und brüderliches Teilen gefährliche und riskante Unternehmungen zu einem guten Ende gebracht werden konnten. Der Geist der Brüderlichkeit sei der germanischen Natur eigen gewesen. Bis im 11. Jahrhundert der Handel und das Handwerk wieder auflebten, war es selbstverständlich, dass die Händler und Arbeiter sich in Gilden zusammenschlossen, um gemeinsam der feudalen Tyrannei die Stirn bieten zu können. Diese Handwerkergilden waren jedoch nicht nur dazu da, ihre Mitglieder vor Gefahren von außen zu schützen, sondern noch wichtiger war, dass sie Beziehungen untereinander vernünftig regelten, sodass jeder Gildenbruder gewiss sein konnte, ein ausreichendes Einkommen und ein angenehmes Leben zu haben. Löhne und Länge der Arbeitstage wurden festgelegt, an Feiertagen durfte niemand arbeiten. Die Menge der Arbeit musste gleichmäßig unter allen verteilt werden, Konkurrenz war verpönt. Die Gildenbewegung sei die mittelalterliche Form des Klassenkampfs gewesen. Die Handwerksgilden hätten im 14. Jahrhundert bereits an der Grenze zum gelobten Land des Sozialismus gestanden. Darum seien Kirchen, wie die Klosterkirche von Peterborough, Symbole für die Hoffnung, dass der erbarmungslose Wettbewerb und die Vergötterung des Kommerzes ein 306

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Ende haben könnten und der Tag kommen würde, da die alte Kathedrale nicht länger isoliert zwischen den schmutzigen Auswürfen der Stadt stehen, sondern von hübschen Häusern und würdevollen öffentlichen Gebäuden umringt würde, die einmal mehr von der Freude zeugen würden, die die Menschen an ihrer Arbeit haben, wenn sie einander die Hände reichen und nicht länger in Konkurrenz zueinander stehen.92 Wie überall in Morris’ Schriften sind auch hier ästhetischer Anspruch und Zukunftsvision eng verwoben. Es gibt nur wenige Sozialisten, für die das Mittelalter ein so inspirierendes Beispiel war wie für Morris. Dabei besteht eine merkwürdige Parallele zwischen der Art, in der Sozialisten und Katholiken die Vergangenheit betrachteten. Beide Gruppen verabscheuten die jüngere Vergangenheit. Für die Katholiken des 19. Jahrhunderts war dies die Zeit des Ancien Régime, als die Kirche von Fürsten geknechtet wurde, die nicht das seelische Wohlbefinden der Menschen im Sinn hatten, sondern nur ihre eigene Macht und ihren Ruhm. Für die Sozialisten war es die Zeit, in der Menschen in ihrer Individualität isoliert wurden und dadurch leichtes Opfer verheerender Ausbeutung werden konnten, von der einige Wenige profitierten, die aber die große Masse an den Bettelstab brachte. Katholiken und Sozialisten hofften auf eine Zukunft, in der Gemeinschaft und Zusammenarbeit zu neuer Blüte und größerer Gerechtigkeit führen würden. Beide Gruppen waren davon überzeugt, die mittelalterliche Gesellschaft beweise, dass ein derartiges Miteinander unter Menschen möglich sei und dass deswegen die Erinnerung an die Vergangenheit Hoffnung und Durchhaltevermögen im Kampf gegen Liberalismus, Individualismus und Kommerz bieten könne. Ganz konkret zeigt sich das in der immensen Bewunderung, mit der in beiden Lagern die mittelalterlichen Gilden betrachtet wurden, nämlich als der vollkommenste Ausdruck einer Gesellschaft, in der Solidarität und freiwillige Zusammenarbeit über Krämergeist und Eigeninteresse gestellt wurden. Der katholische Bischof Ketteler ließ sich bei seinen Vorstellungen von Produktionszünften sogar durch den Sozialisten Lassalle inspirieren. Es gab natürlich auch Unterschiede. Bei den Katholiken lag das Hauptaugenmerk auf der gesellschaftlichen Harmonie, bei den Sozia307

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listen auf dem Klassenkampf. Die Katholiken waren erklärte Gegner jeder Form von Revolution, die Sozialisten blieben in ihrem Vertrauen auf die menschliche Rationalität Erben der Revolution und des Liberalismus. Die Katholiken meinten, dass wahre Gemeinschaft nach Hierarchie und paternalistischen Formen der Autoritätsausübung verlange, während die Sozialisten eher an die Gleichheit und Solidarität glaubten, obwohl sie später, als sie an die Macht kamen, dem Paternalismus nicht ganz abgeneigt waren. Sowohl Sozialisten als auch Katholiken waren davon überzeugt, dass die mittelalterliche Vergangenheit einerseits zeige, wie verkommen die moderne Gesellschaft war, und andererseits, dass eine andere, verantwortungsbewusste Gesellschaft möglich sei, die unter Aufbietung aller Kräfte in die Realität umgesetzt werden könne.

Nationalismus: demokratischer Teutonismus Nationalgefühle blieben bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Privileg einer kleinen Minderheit liberaler Intellektueller, der Bildungsbürger. Sie waren diejenigen, die die Bücher Ludens und Michelets lasen und sie als Auftrag begriffen, Staat und Nation zueinander zu bringen.93 Der Adel blieb eine europäische Klasse, die sich eher mit dem Hof und dem Fürsten verbunden fühlte als mit so etwas wie der Nation. Der Horizont des kleinen Mannes wiederum beschränkte sich auf die Stadt oder die Gegend, in der er wohnte und arbeitete. Das Wachstum der Industrie und die Landflucht sind bereits zur Sprache gekommen; die Stadt Basel veränderte sich dadurch bis zur Unkenntlichkeit. Doch was für Basel galt, galt in noch viel stärkerem Maße für zahlreiche Städte in Ost- und Mitteleuropa. Bis 1850 waren Städte wie Riga, Prag und Budapest kleine Inseln städtischer Kultur mit einem deutschsprachigen Bürgertum. Später wurden sie von Bauern überschwemmt, die nicht nur verschiedene unverständliche Dialekte sprachen, sondern sich überdies weigerten, die Sprache des Bürgertums, nämlich Deutsch, zu erlernen. In der Verwirrung, die dadurch entstand, wurden auf beiden Seiten Nationalgefühle angefacht 308

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und es kam zu einem erbitterten Ringen zwischen den sich ausschließenden Ansprüchen der verschiedenen neuen Nationen. In diesem Gefecht wurde der Nationalismus zu einer Sache, die jeden anging und der sich keiner noch länger entziehen konnte. Auch in Deutschland und Italien erhielt das Nationalgefühl einen neuen Impuls, da Bismarck, ab 1862 Ministerpräsident von Preußen und von 1871 an Reichskanzler, und Cavour, von 1852 bis zu seinem Tod 1861 Ministerpräsident von Piemont, im Nationalismus eine politische Kraft entdeckten, die sie als Instrument für die Expansion Preußens und Piemonts nützen konnten. Den Kampf gewannen sie; die deutsche und italienische Einheit wurden umgesetzt, aber dies bedeutete nicht, dass alle Einwohner der beiden neuen Staaten sich von nun an als Deutsche oder Italiener fühlten. Sowohl in Deutschland als auch in Italien kam der Kampf um das Herz des Volkes nach 1870 erst richtig in Gang. Bismarck versuchte, das Volk zusammenzuschweißen, indem er sich erst gegen die Katholiken und später gegen die Sozialisten wandte. In Italien bot die dauerhafte und irritierende Anwesenheit des Papstes einen ausgezeichneten Anlass, alle Italiener im Kampf gegen die Macht von Kirche und Klerus zu vereinen. In Frankreich kam der nationale Moment 1870 durch die vernichtende Niederlage im Krieg gegen Preußen. Elsass-Lothringen ging verloren und der preußische König Wilhelm I. ließ sich im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser ernennen. Frankreich war in der Scham über diese Niederlage vereint, obwohl die Republikaner und Royalisten sich weiterhin über die Frage stritten, wie dieser Schandfleck auf der nationalen Ehre am besten getilgt werden könne. In ganz Europa entwickelte sich der Nationalismus zu einer Massenbewegung. In allen Ländern wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt, die es ermöglichte, den Kindern von klein auf Nationalgefühl einzutrichtern. Vielleicht noch wichtiger war die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die Treue gegenüber der Nation, die schon in der Schule gelehrt worden war, nahm für junge Männer beim Militär konkrete Formen an. Indem man alle Männer zu den Waffen rief, wurde Krieg eine Angelegenheit des ganzen Volkes, der ganzen Nation, ein blutiges Opfer, das der Soldat auf dem Altar des Vaterlandes brachte. 309

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Fortan wurden die gefallenen Soldaten als Märtyrer verehrt, gestorben pour la patrie, für das deutsche Vaterland, for King and Country.94 In dieser Fähigkeit, Menschen durch und durch zu mobilisieren, unterscheidet sich der reife Nationalismus von anderen politischen Philosophien der beiden vorherigen Jahrhunderte und wird daher auch zu Recht „integraler Nationalismus“ genannt. Zu einer derartigen allgemeinen Mobilisierung der Bevölkerung passte auch eine Ideologie der Nation, die fundierter war als der zivile Nationalismus, der in der ersten Hälfte des Jahrhunderts vorgeherrscht hatte. Reichte es aus, um mit Renan zu sagen, die Nation sei „eine tägliche Volksstimmung“ und alle Staatsbürger könnten sich, egal welcher Herkunft, Sprache oder Religion, gleichermaßen dem nationalen Projekt anschließen? Im Osten Europas war das seit jeher problematisch gewesen, weil die Grenzen der bestehenden Staaten in keinster Weise mit denen der neuen nationalen Gruppen korrespondierten. Die Polen sind hierfür das beste Beispiel. Als sie sich als eine Nation mit einem gemeinsamen Schicksal zu identifizieren begannen, stießen sie sich an der harten Wirklichkeit, dass sie zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt waren. Dasselbe galt für die Deutschen. Kein Wunder, dass sich in Deutschland und Osteuropa die Entstehung des Nationalismus an Herders Ideen von der Nation als einer Sprach- und Kulturgemeinschaft orientierte, in der nicht die Bürgerschaft, sondern die Herkunft entscheidend war. Auch in Westeuropa wurde nach 1850 die Nation zunehmend als eine ethnische Gemeinschaft definiert, die so rein wie möglich sein sollte, um sich effektiv gegen all ihre Feinde zur Wehr zu setzen.95 Die Dreyfus-Affäre in Frankreich konnte nur deswegen so eskalieren, weil ein bedeutender Anteil der Franzosen die Juden als unerwünschte Fremdlinge betrachtete, die der französischen Nation nur Schande bereiten konnten. Die Affäre beweist außerdem, dass sich der ethnische Nationalismus allmählich radikalisierte; nicht länger waren gemeinschaftliche Sprache und Kultur für die nationalen Gemeinschaften bestimmend, sondern diese galten zunehmend eher als Zeichen einer noch tieferen Verbundenheit, jener von Blut und Rasse. Schon bald war das Wort „Rasse“ nicht mehr aus dem nationa-

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listischen Diskurs wegzudenken, selbst wenn die Konnotation dieses Konzeptes überall unterschiedlich war. England kommt in diesem Zusammenhang nur selten zur Sprache. Dies beruht zum Teil darauf, dass die Engländer stets hartnäckig geleugnet haben, in Großbritannien hätte es so etwas wie Nationalismus gegeben (siehe Seite 203). Wahr ist, dass nationale Gefühle in England oft weniger heftig geäußert wurden. Der Grund für diese Bescheidenheit liegt auf der Hand: Das britische Reich war im 19. Jahrhundert bei Weitem der mächtigste Staat der Erde und in dieser glücklichen Situation wäre es für ihn wenig ratsam gewesen, gegenüber den unterworfenen Staaten und Völkern lautstark die eigene Vortrefflichkeit und Auserwähltheit zu preisen. Es war also mehr eine Frage der Höflichkeit als der Überzeugung, dass die Engländer sich nicht auf die nationale Brust klopften.96 Das taten sie erst, als sie allmählich unsicher in Bezug auf das Fortbestehen des britischen Reiches wurden und sich fragten, ob Britannien möglicherweise dasselbe Schicksal bevorstand wie dem alten Rom, jenem Reich, mit dem sich die Briten im 19. Jahrhundert gerne identifizierten.97 Nachdem diese Frage einmal aufgeworfen worden war und an den Engländern zu nagen begann, entwickelte sich auch in England ein expliziterer Nationalismus, der sich in zwei Punkten von der bis dahin beliebten vaterländischen Gesinnung unterschied. An erster Stelle wurde nun ein Unterschied zwischen britisch und englisch gemacht. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Engländer mit dem Schicksal Großbritanniens und der Überseegebiete identifiziert, während zugleich in Irland, Schottland und Wales bereits eine Nationalbewegung entstand, die das Eigene der keltischen Kultur betonte, ohne übrigens antibritisch zu sein. Nur in Irland entfernten sich die beiden Positionen nach der Katastrophe der großen Hungersnot immer weiter voneinander. Zweitens unterschied sich der neue englische Nationalismus vom alten britischen, weil er deutlich ethnische Züge anzunehmen begann. Er war nicht so extrem wie in Frankreich und Deutschland, aber allmählich wurden – inspiriert von deutschen Beispielen – der unglaublichen Schönheit der englischen Sprache, den Volksliedern und der 311

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Folklore sowie den jahrhundertealten Traditionen des Volkes mehr Aufmerksamkeit geschenkt.98 Verherrlicht wurden nun auch die englische Landschaft mit ihren Hohlwegen und Hecken, das englische Dorf, gebaut zwischen den sanft geschwungenen Hügeln unter dem Schutz des Landesherrn im Schloss, des Pastors in der Dorfkirche und des Wirtes im Pub.99 Während England zur fortschrittlichsten industriellen und der am meisten verstädterten Nation Europas wurde, klammerte sich die Fantasie an das schnell aussterbende Dorfleben auf dem Lande. Das Forschen nach den Wurzeln der englischen Geschichte war nichts Neues im 19. Jahrhundert. Erzbischof Matthew Parker war schon 300 Jahre zuvor von den Angelsachsen und ihrer prächtigen Sprache fasziniert gewesen. Auch danach erfreute sich die Geschichtsschreibung über die Angelsachsen einer weit verbreiteten, stark politisch gefärbten Beliebtheit. Die beiden Parteien im Streit zwischen König und Parlament suchten in der ältesten Vergangenheit nach Argumenten für ihren Standpunkt. Dies machte die angelsächsische Periode zu einem Objekt politischer Kontroversen und deswegen konnte sie nicht zu einem Symbol nationaler Einheit werden.100 Letzteres konnte erst geschehen, nachdem der Kampf vorbei war. Von diesem Moment an hatte die angelsächsische Vergangenheit keine politische Bedeutung mehr und konnte gerade deswegen als die Vergangenheit des gesamten englischen Volkes gelten. In der alten Geschichte von König und Parlament spielten nur die höheren Klassen und ausschließlich Männer eine Rolle. Indem man die Geschichte in der angelsächsischen Periode verankerte, konnte ein neuer Mythos entstehen, in dem sich alle Engländer wiedererkennen konnten, egal welcher Klasse und egal ob Mann oder Frau.101 Was die Engländer zutiefst verband, war ihre Abstammung von den Angeln und Sachsen; sie waren es, die die altgermanische Freiheit in England eingeführt hatten.102 Von daher wird diese Strömung, die nach 1850 sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in literarischen Werken sichtbar wurde, als demokratischer Teutonismus bezeichnet.103 Die Anhänger dieser Strömung waren demokratisch in dem Sinne, dass sie die Teilnahme des gewöhnlichen Mannes am politischen Prozess fördern wollten und für die Ausweitung des 312

Nationalismus: die nordische Rasse

Wahlrechts waren, doch diese Überzeugung beruhte auf einem ethnisch gefärbten Nationalismus.104

Nationalismus: die nordische Rasse Den Anstoß gab Charles Kingsley, Dozent für moderne (gleichbedeutend mit: nicht-klassische) Geschichte in Cambridge, der 1864 eine Reihe seiner Vorlesungen zusammenfasste und unter dem Titel The Roman and the Teuton herausgab. In diesem Buch behandelt Kingsley die Geschichte des Kampfes zwischen den Römern und den Goten im 5. und 6. Jahrhundert, den er als Prototyp des ewigen Kampfes der Teutonen gegen ihre dekadenten Feinde betrachtete.105 Damit spinnt er das alte Thema der gotischen Freiheit fort, verleiht ihr aber einen rassischen Dreh, der neu ist. Zwischen den Teutonen in den germanischen Wäldern und den modernen Teutonen Englands entdeckt Kingsley eine Blutlinie. Das welfische Haus von Hannover, aus dem Königin Victoria stammte, gehe unmittelbar auf die königlichen Geschlechter zurück, die früher über die Goten regierten. Der rassische Unterton wird noch schärfer, als Kingsley sich auf eine Diskussion mit Gibbon einlässt, der in seinem Decline and Fall of the Roman Empire behauptet hatte, die alten Goten und die Indianer Amerikas hätten auf der gleichen Kulturstufe von Jägern und Sammlern gestanden. Diese Aussage impliziert die Unterstellung, die in der Zeit der Aufklärung selbstverständlich war, dass alle Völker und Kulturen, falls die Umstände dafür günstig seien, dieselbe Entwicklung durchmachten, weil die menschliche Natur schließlich überall dieselbe sei. Doch davon wollte Kingsley nichts wissen. Die Teutonen hatten ihm zufolge ihren Erfolg der Tatsache zu verdanken, dass sie stets eine vitale, dynamische Rasse gewesen seien, die von alters her so hehren Prinzipien von Recht und Gerechtigkeit huldigten, dass diese bis heute das Fundament der englischen Gesetzgebung bildeten. Die Indianer seien eine schwache, aussterbende Rasse mit zweifelhafter Moral und lächerlichen Mythen gewesen, wie sich aus dem Lied des Hiawatha von Henry Wadsworth Longfellow

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ableiten ließe.106 Die Herkunft und nicht die Umstände bestimmten laut Kingsley zukünftiges Gelingen. Der phänomenale Erfolg der Teutonen sei außerdem ihrer ruhelosen Natur zu verdanken. Stets seien sie auf der Suche nach neuem, besserem Land gewesen. Die Wanderung von Skandinavien nach Rom, die Überfälle der Normannen, die Kreuzzüge ins Heilige Land und die Kolonisation neuer Erdteile nach 1500 sind für Kingsley durchweg auf die Beweglichkeit der teutonischen Rasse zurückzuführen. Der Kampf zwischen England und Indien in der Gegenwart unterscheide sich im Grunde wenig vom Kampf zwischen Goten und Römern. Die indischen Fürsten verhielten sich ebenso dekadent wie die Kaiser von damals und deswegen könne der brave englische Soldat sich ebenso wenig mit den überkultivierten, hinterhältigen und ausschweifenden Brahmanen mischen, wie sich die Goten mit den Römern vermischt hätten: Unterwerfung sei die einzige Möglichkeit.107 Wenn man bedenkt, dass in Indien der nur mit Mühe niedergeschlagene, große Aufstand gegen die britische Regierung in den Jahren, in denen Kingsley dies niederschrieb, noch nicht lange her war, kann man aus diesen Bemerkungen die ersten Anzeichen der Unsicherheit bezüglich der Zukunft des britischen Empires ablesen. Übrigens gaben sich die Römer im 6. Jahrhundert nicht so leicht geschlagen: In der mittelalterlichen Kirche lebte das Römische Reich fort. Kingsley äußerte sich darüber weniger negativ als Herder. Indem sie Christen wurden und sich der Autorität der Priester unterwarfen, wurden die Teutonen eine disziplinierte Rasse und lernten für die Zukunft wesentliche Fertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Zu echter Vermischung konnte es niemals kommen, denn die Priester blieben Römer, die niemals die Autorität eines teutonischen Fürsten anerkannt hätten. Aus diesem Grund ging in späteren Jahrhunderten in den meisten europäischen Nationen die teutonische Freiheit verloren: „Rom eroberte seine Eroberer.“108 Ebenso wie seine Vorgänger im 18. Jahrhundert war Kingsley davon überzeugt, dass England die einzige Ausnahme dieser Regel sei, da die englischen Bischöfe seit der Verfassung der Magna Carta einen nationaleren Kurs eingeschlagen und die Interessen des englischen Volkes zunehmend über die der römi314

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schen Kirche gestellt hätten; eine Entwicklung, die ihre glückliche Vollendung in der Reformation fand. Von dieser Zeit an konnte das teutonisch gebliebene englische Volk auf der ganzen Welt seinen Einfluss ausüben. Nur wenige spätere Historiker haben den Gegensatz zwischen römisch und teutonisch derart auf die Spitze getrieben wie Kingsley, doch im Werk englischer Historiker wie William Stubbs, Edward Freeman und John Richard Green spielt er eine permanente Nebenrolle.109 Von diesen drei Historikern war Green der populärste, hauptsächlich wegen seines Buches A short history of the English people, das erstmals 1874 erschien und mehrmals neu aufgelegt wurde. Der Titel des Buches ist Programm. Was Luden 40 Jahre zuvor für Deutschland getan hatte, tat Green 1874 für England: Er schrieb die Geschichte einer Nation, in der das Volk die handelnde Person war. Und wer zu diesem Volk gehörte, klärte er gleich im ersten Satz: Der Ursprung der englischen Rasse liege nicht in England, sondern in Schleswig, an der Grenze von Deutschland und Dänemark. Dort wohnten die Angeln im 5. Jahrhundert und bildeten zusammen mit den Juten auf der dänischen Halbinsel und den Sachsen in der norddeutschen Tiefebene den niedergermanischen Zweig der teutonischen Familie. Nicht, wer auf englischem Boden wohne, sondern wer von englischer Herkunft sei, gehöre zum englischen Volk: Schleswig sei „dieses ältere England“.110 Hier lägen die Wurzeln des englischen Volkes, hier habe es gelernt, dass Freiheit nur in der gemeinsamen Beratung läge, hier befände sich der Ursprung des späteren Parlaments in Westminster. Green erklärte, dieses Parlament sei keine Institution von Adeligen, Bischöfen und Bürgern, sondern sei aus dem gesamten Volk hervorgegangen. Es sei einst vom ganzen Volk getragen worden und so müsse es auch wieder werden.111 Die Ausweitung des Wahlrechts 1867 sei eine folgerichtige Wiedereinführung der besten Traditionen des englischen Volkes. Der Grund, warum diese ursprüngliche Freiheit nach der Ankunft in England erhalten geblieben sei und im neuen Land noch erweitert werden konnte, sei darin zu sehen, dass die Angeln, Juten und Sachsen die römische Kultur in Britannien vollkommen vernichtet hätten und ihre eigenen germanischen Institutionen an die Stelle der römischen 315

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getreten seien. Erst die Eroberung durch die englische Rasse habe aus Britannien England gemacht. In dieser Hinsicht blieb Green, ebenso wie Kingsley, der zählebigen Überlieferung verhaftet, dass nur die Engländer der römischen Dekadenz widerstanden und dadurch ihre germanische und gotische Freiheit bewahrt hätten. Auch für die besiegten Briten hatte Green kein gutes Wort übrig. Er beschreibt die keltischen Völker als einen Haufen treuloser, rachsüchtiger Barbaren, die keine höhere politische Regierungsform entwickelt hätten als den Stamm und die deswegen zu Recht in die unbewohnbaren Gebiete der Britischen Inseln verdrängt worden seien.112 Die Kelten seien die Feinde der germanischen Rasse und ihres Drangs nach Freiheit gewesen. Wie man sich denken kann, wurde Greens Charakterisierung der alten Bewohner Britanniens von der irischen Frage beeinflusst, die in den Jahren der Entstehung seines Buches akut war. Wesentlich positiver äußerte sich Green über die Raubüberfälle der Normannen im 9. Jahrhundert. Die Normannen hätten zu derselben teutonischen Rasse wie die Angeln und die Sachsen gehört und seien von derselben Freiheitsliebe besessen gewesen. Dadurch sei es möglich gewesen, dass diese germanischen Rassen im 10. Jahrhundert gemeinsam ein Vereinigtes Königreich aufbauten, das auf den traditionellen Prinzipien der Germanen basierte.113 Bemerkenswert und neu ist, dass Green sich in seiner Beschreibung der normannischen Eroberung gegen die lange, praktisch einmütige historiographische Tradition Englands stellte, die in diesem Überfall eine der größten Bedrohungen der alten englischen Freiheit gesehen hatte, eine Bedrohung, die erst nach zwei Jahrhunderten heftiger Gegenwehr abgewendet werden konnte. Green dagegen sah in Wilhelm dem Eroberer den Mann, der dafür sorgte, dass das englische Volk seine politische Zersplitterung überwand und zu einer festen nationalen Einheit zusammenwuchs, vor allem, weil er auf dem Fundament aufbaute, das bereits vor Jahrhunderten gelegt worden war. Wilhelm ehrte die alte Rechtsorganisation des englischen Volkes, in der jeder freie Mann eine Stimme hatte, aber er sorgte für königliche Überwachung, indem er in jeder Grafschaft einen Sheriff ernannte, der die Gesetze des Königs wahrte. Für Green war Wilhelm der Eroberer ein germanischer 316

Nationalismus: die nordische Rasse

Stammesverwandter, ein Mann, der inmitten eines Volkes aufgewachsen war, in dem die Erinnerung an den germanischen Norden noch lebendig war und der als „der letzte Spross der nördlichen Rasse“ betrachtet werden müsse.114 Den größten Schub habe die teutonische Freiheit nach 1066 in den neuen Städten erfahren, in denen die Bürger wieder das Recht der Selbstverwaltung und der freien Meinungsäußerung hatten und zugleich das Recht wiederauflebte, dass jeder Bürger bei einem Prozess von seinesgleichen abgeurteilt wurde. Ohne diesen Neubeginn in den Städten sei die Verfassung der Magna Charta 1215 unmöglich gewesen. Die Vollendung kam 1295, als Eduard I. zum ersten Mal neben dem Adel und den Bischöfen auch die Bürger der Städte und die Männer aus den Grafschaften zusammenrief, um sich mit ihnen in regierungspolitischen Angelegenheiten zu beraten. Der Rat der freien Männer, wie er in Schleswig unter der Dorfeiche stattgefunden hätte, sei in dem Moment auf die Ebene der Nation erhoben und in den Versammlungssaal von Westminster getragen worden. Das englische Volk habe seine endgültige Regierungsform gefunden.115 Mit dieser Schlussfolgerung schließt sich der Kreis. Es ist, als kehrten wir ins 17. Jahrhundert zurück, als Edward Coke die These verteidigt hatte, das Parlament sei in längst vergangenen Zeiten entstanden und hätte seitdem eine lange, ununterbrochene Entwicklung zum Wohle Englands und der Welt genommen. Doch es gibt einen wichtigen Unterschied. Coke war Jurist, der die Autorität des Parlaments bestätigen wollte, indem er nach juristischen und politischen Präzedenzfällen für das unabhängige Bestehen einer derartigen Einstellung suchte, die so weit wie möglich in der Geschichte zurücklagen. Für ihn war es die Institution, die zählte, und nicht die Qualitäten oder die Charakteristika ihrer Mitglieder. Bei Green war die Institution sekundär: Das englische Parlament war für ihn die zufällige Formgebung des ewigen Willens der teutonischen Rasse, frei und unabhängig zu sein. Es war eine Fügung des Schicksals, dass nur in England diese Rasse in der Lage war, ihre natürliche Bestimmung zu erreichen, indem sie erst die Römer und dann die Kelten besiegte und später mithilfe germanischer

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Brüdervölker aus dem Norden ihrem uralten Freiheitsdrang im Parlament konkret Gestalt verlieh.

Nationalismus: Ausgrenzung Der Nationalismus von Green und anderen Teutonisten mochte rassistische Züge haben, blieb aber gemäßigt. Eine viel aggressivere Form des integralen Nationalismus entwickelte sich nach 1870 auf dem europäischen Kontinent. Diese Aggression richtete sich sowohl nach innen als auch nach außen. Nach innen entstand eine obsessive Sorge vor fremden Elementen, die die Reinheit der Nation besudeln und ihre Kräfte schwächen könnten und die deswegen, wenn sie sich nicht anpassten, entfernt oder vernichtet werden mussten. Das katholische Frankreich regte sich über Protestanten und Freimaurer auf, in Deutschland hatten es die Polen, die Sozialisten und die Katholiken schwer und die russische Regierung setzte einen Prozess der gründlichen Russifikation in Gang, um die vielen Völker im Reich zu einer festen Einheit zusammenzuschmieden. Doch in allen drei Ländern galt ohne Frage, dass die Juden als die größte Bedrohung der nationalen Identität betrachtet wurden und die Ansicht galt, dass in ihrem Fall eine Anpassung wahrscheinlich nicht möglich sein würde. Zugleich entwickelten viele Nationen ein immer stärkeres Bewusstsein der eigenen Auserwähltheit, was dazu führte, dass sie einen imperialistischen Sendungsdrang zu zeigen begannen. Dies musste vor allem im Osten Europas zu Schwierigkeiten führen, da in dem ganzen Gebiet zwischen St. Petersburg und Konstantinopel so viele Sprachgemeinschaften, Kulturen und Religionen miteinander vermischt waren, dass jeder nationale Anspruch einer Gruppe wie von selbst ein Akt der Aggression gegen alle anderen wurde, die im selben Gebiet siedelten und dieses mit ebenso viel Berechtigung für sich beanspruchen konnten. Die beiden Balkankriege von 1912 bis 1913 führten zu blutigen Auseinandersetzungen, wie sie Europa seit den napoleonischen Kriegen nicht mehr erlebt hatte.

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Letztendlich machte sich Deutschland am erfolgreichsten die Tatsache zunutze, dass seit dem Mittelalter überall in Mittel- und Osteuropa deutschsprachige Gemeinschaften entstanden waren, die durch den Nationalismus in ihrer Existenz bedroht zu sein schienen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurden Stimmen laut, Deutschland habe die Pflicht, dem „bedrohten Deutschtum im Osten“ zu Hilfe zu eilen. Doch erst nach 1918, vor allem nach der Wahl Hitlers zum Reichskanzler 1933, führte diese Sorge zu einer aggressiven, nationalistischen Außenpolitik, die auf den Versuch hinauslief, ganz Osteuropa zum Lebensraum für das Deutsche Reich zu machen. Auf den ersten Blick ist es schwer zu verstehen, dass Frankreich nach 1870 so anfällig für verschiedene Formen des ethnischen und rassistischen Nationalismus blieb. Es gab dort keine Minderheiten, die einen eigenen Staat forderten oder sich einem anderen Staat anschließen wollten. Die Grenzen von Staat und Nation fielen praktisch zusammen. Seit der französischen Revolution war der Nationalismus eine Angelegenheit der Linken, eine Bewegung von Liberalen und Freidenkern, der sich alle Bürger anschließen konnten, wenn sie das wollten. Die rechte, katholische Opposition war nicht nationalistisch, sondern realistisch: Sie betrachtete die Person des Königs als die Verkörperung Frankreichs. Es gab keine nationalistische Strömung, die sich auf Volk und Herkunft berief.116 Auch die Niederlage gegen Preußen 1870 verursachte nicht unmittelbar eine Welle des revanchistischen Nationalismus. Die Franzosen litten unter den Folgen des Krieges, zu denen unter anderem der Verlust Elsass-Lothringens gehörte, doch noch mehr sorgten sie sich wegen der Anarchie, die danach herrschte und 1871 im Aufstand der Pariser Kommune kulminierte. Infolgedessen war die Stimmung in den ersten Jahren nach 1870 unter den meisten Franzosen äußerst konservativ und eine große Mehrheit des Volkes wünschte keine Experimente mehr, sondern die Wiederherstellung der Bourbonen-Monarchie. Für einen Augenblick sah es danach aus, dass der Enkel Karls X., Henri, Graf von Chambord, den Thron als Heinrich V. besteigen würde. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch im letzten Moment deshalb, weil der Thronanwärter darauf bestand, dass die revolutionäre Trikolore durch 319

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die Lilienflagge des alten Frankreichs ersetzt würde, und das ging einen Schritt zu weit. So blieb die Republik wie durch einen Zufall erhalten und um 1880 stellte sich heraus, dass weitaus die meisten Franzosen sich damit mehr oder weniger widerwillig abgefunden hatten. Als der Graf von Chambord 1883 kinderlos starb, bedeutete dies das definitive Ende des alten Realismus als politischer Kraft. Das bedeutete jedoch nicht, dass sich nun ganz Frankreich einig hinter das republikanische Regime stellte. In weiten Kreisen blieb die Unzufriedenheit bestehen; die neuen Machthaber waren für zahlreiche Franzosen zu antiklerikal, zu liberal und zu wenig sozial. Die Katholiken waren empört, als die Regierung 1880 fast 6000 Geistliche, oft mit roher Gewalt, aus ihren Klöstern verjagte und sie des Landes verwies. Diese Vertreibung sollte der Auftakt zu einer vollkommenen Laisierung des Unterrichts werden, die in den Jahren danach von dem Freimaurer Jules Ferry durchgeführt wurde.117 Auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums wurde eine breite Opposition im Kleinbürgertum sichtbar, das traditionell links gewesen war, sich aber durch den Mangel an sozialer Einstellung der neuen Machthaber im Stich gelassen fühlte.118 Leider gab es kein Thema, das beide Gruppen auf einen Nenner bringen konnte. Wie uneins die Opposition war, zeigte sich 1889, als eine Gruppe von Anhängern des Generals George Boulanger einen Staatsstreich von rechts plante, der gründlich misslang.119 Als jedoch 1894 der jüdische ArtillerieHauptmann Alfred Dreyfus wegen Landesverrats angeklagt wurde, zeigte sich, dass durchaus noch eine Haltung weit verbreitet war, in der sich die diffuse Unzufriedenheit mit der Republik bündeln konnte: der Antisemitismus.120 Ein paar Jahre vor der Dreyfus-Affäre zeigte sich zum ersten Mal, dass in Frankreich, wo nur wenige Juden zu Hause waren, ein weit verbreitetes Misstrauen gegen die jüdische Bevölkerung bestand, das sowohl von links als auch von rechts kam.121 1886 publizierte der damals zum Katholizismus übergetretene Journalist Edouard Drumont ein zweibändiges Werk über die Stellung der Juden in Frankreich: La France juive, das radikalste antisemitische Pamphlet, das bis dahin in Europa erschienen war und nur mit der Nazipropaganda 40 Jahre spä320

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ter verglichen werden kann.122 Anfangs weckte das Buch wenig Aufmerksamkeit, doch nach einer mäßig lobenden Besprechung in Le Figaro wurde es zu einem Bestseller, über den der große französische Schriftsteller George Bernanos schrieb: „Keine Analyse kann diesem magischen Buch gerecht werden.“ Innerhalb eines Jahres wurde es mehr als 100 mal neu aufgelegt.123 In der Presse wurde Drumont als mittelalterlicher Ritter gefeiert, der gegen die Erzfeinde Frankreichs zu Felde zog. Auch Drumont selbst besang das Mittelalter als die Zeit, in der Frankreich seine Unschuld und Reinheit bewahrt hatte, indem es die Juden aus seiner Mitte vertrieben hatte.124 Drumont begann sein Pamphlet mit einem welthistorischen Überblick. Die gesamte Geschichte stehe unter dem Vorzeichen des alles beherrschenden Kampfes zwischen der semitischen und der arischen Rasse.125 Arier seien begeisterungsfähig, ritterlich und selbstlos, Semiten dagegen berechnend, schlau und hinterlistig. Semiten seien irdisch, Arier Söhne des Himmels. Der Arier sei ein gutmütiger Mensch, aber auch ein opferbereiter Kämpfer, ein Mann, der die alten mittelalterlichen Rittergeschichten liebe und wie Parceval auf der Suche nach dem heiligen Gral sei. Der Semit identifiziere sich mit den zwielichtigen Märchen aus Tausendundeiner Nacht, in denen es ausschließlich um das Finden von Gold und Edelsteinen ginge. Da es ein biologischer Kampf zwischen zwei Rassen sei, sei das Muster immer dasselbe, wie bei einer chemischen Reaktion: der Semit provoziere, der Arier sei vertrauensselig und lasse sich alles abnehmen.126 In diese allgemeinhistorische Perspektive ordnete Drumont den Kampf gegen die Juden ein, und es ging ihm dabei um Frankreich. Laut Drumont wurde sein Land zweimal in der Geschichte von den Juden bedroht: im Mittelalter und nach der französischen Revolution. Beide Male habe sich diese Bedrohung nach einem festen Muster entwickelt. Beim ersten Mal sei es gut ausgegangen: Frankreich, „das Land der Lilie, das Königreich des blauen Mantels“, stand damals unter der Führung seiner christlichen Landesväter, die ihr Volk gegen die Juden beschützten und sie 1394 vertrieben. Drumont bezweifelte, dass dies noch einmal geschehen würde: Die Regierung der seit 1871 bestehenden Dritten Republik war seiner Meinung nach vollkommen in der 321

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Hand der Juden. Deswegen müsste er seinen Lesern die Geschichte der Juden im Frankreich des Mittelalters erzählen. Wer die Gegenwart mit der Vergangenheit vergleiche, sei viel besser in der Lage, zu beurteilen, was heutzutage vor sich gehe, wie hinterhältig die Juden lögen und betrögen, um ihr Ziel zu erreichen.127 Um es seinen Lesern noch einfacher zu machen, zog Drumont fortwährend Parallelen mit dem, was damals in Frankreich geschehen sei und wie es sich in der Gegenwart wiederhole. So behauptete er, die Juden hätten bereits in der Karolingerzeit ihre Macht über Frankreich ausgeweitet, wobei sie sich geschickt der Schwäche Ludwigs des Frommen bedient hätten. Sie erlangten so nicht nur Religionsfreiheit, sondern forderten überdies, dass die Märkte samstags geschlossen blieben und sie von den Verbrauchssteuern freigestellt würden, zu deren Zahlung andere Kaufleute verpflichtet waren. Genau wie heutzutage sei damals jeder von solch schamlosem Verhalten schockiert gewesen. Erzbischof Agobard von Lyon hätte dem Volk aus der Seele gesprochen, als er seiner Empörung im Traktat De insolentia judaeorum (Von der Schamlosigkeit der Juden) Luft machte. Drumont meinte, man brauche diese Schrift nur ins Französische zu übersetzen und den Titel ein wenig zu ändern, um den Traktat zu einer höchst aktuellen Broschüre zu machen.128 Vor allem in Südfrankreich hätten die Juden im Mittelalter ihre Machtposition ausgebaut. Indem sie sich als Franzosen ausgegeben hätten, hätten sie die Gesellschaft bis in die höchsten Kreise hinein unterwandert, um diese zu judaisieren. Abscheuliches hätte sich im Süden ereignet: Abbilder Christi seien zerbrochen und Priester misshandelt worden, schamlose Weibsbilder hätten sich in liturgische Gewänder gehüllt, ja, der ganze Süden sei auf Dauer derart korrumpiert worden, dass ein Kreuzzug gegen diese Albigenser die zwingende Konsequenz war. Wer die Albigenser genau gewesen waren und woran sie geglaubt hatten, erklärte Drumont nicht näher, doch er war davon überzeugt, dass die Juden hinter alldem gesteckt hätten. Vor allem unter Mithilfe der Schulen hätten sie die Bevölkerung in ihrem alten Glauben erschüttert. Dasselbe täten sie nun wieder, doch viel geschickter als im Mittelalter. Nun ließen sie die französischen Katholiken so322

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gar für die Schulen bezahlen, in denen ihre Kinder lernten, Christus zu hassen; ein deutlicher Seitenhieb gegen die Schulgesetze von Minister Jules Ferry.129 Das letzte große Manöver der Juden, um Frankreich in ihre Macht zu bringen, hätte sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts zugetragen. 1306 hätte König Philipp IV., genannt der Schöne, vorgehabt, die Juden aus ganz Frankreich zu vertreiben und ihren gesamten Besitz zu konfiszieren. Doch leider hatte er nicht mit der Schläue der Juden gerechnet. Juden operierten selten mit offenem Visier, so Drumont, sondern korrumpierten am liebsten existierende Organisationen, wie augenblicklich die Freimaurer und die sozialistische Internationale. Dasselbe sei im 14. Jahrhundert mit den Templern geschehen. Die Auflösung des Templerordens 1312 erscheine unerklärlich, bis man sich klarmache, dass die Juden dieses Komplott geschmiedet haben mussten. Die Templer hätten die Finanzierung der Kreuzzüge übernommen, wodurch sie in Kontakt mit den Juden gekommen seien: der Beginn ihres Untergangs. Drumont glaubte an die unausgegorenen Geschichten, die über die Templer in Umlauf waren, etwa die hartnäckige Legende, dass sie bei ihrer Aufnahme in den Orden zuerst das Kreuz Christi bespucken und anschließend den Großmeister auf den Mund und auf den Hintern küssen mussten. (Letzteres steht bei Drumont nicht in französischer, sondern in lateinischer Sprache.) Er deutete an, derart gräuliche Rituale seien die Folge der Unterwanderung der Templer durch die Juden gewesen. Drumont fuhr fort, die Juden hätten zu Beginn des 14. Jahrhunderts ihre Chance gewittert, eine allgemeine Revolution anzuzetteln, die sie für immer an die Macht bringen würde. Zu diesem Zweck hätten sie durch Manipulationen die adligen Templer an die Spitze der Gesellschaft gebracht, an deren unterem Ende die Aussätzigen standen, das Proletariat des Mittelalters. Dasselbe versuchten sie jetzt im 19. Jahrhundert erneut. Genau wie damals nähmen sie die ganze Gesellschaft in die Zange, indem sie die Elite mithilfe der Freimaurer infiltrierten, den Erben des Templerordens, und indem sie das ausgebeutete Industrieproletariat durch die sozialistische Internationale auf ihre Seite brächten. Doch sowohl die Elite als auch das Volk würde manipu323

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liert und benutzt und nur die Juden profitierten davon. Für den aufrechten Arier sei eine derart hinterhältige Handlungsweise unverständlich.130 Wie fanatisch und unbegründet solcherlei Verschwörungstheorien auch waren: Es war genau das, was das bedrängte Bürgertum hören wollte. Laut Drumont bewies die mittelalterliche Geschichte der Juden in Frankreich, dass alle Rassen, von den Kelten bis zu den Normannen, auf französischem Grundgebiet gemeinsam ein harmonisches Ganzes bilden könnten, dass aber der Jude niemals auf französischem Boden wurzeln könne. Das Jahr 1394 sei deswegen eines der wichtigsten in der französischen Geschichte, denn mit der definitiven Vertreibung der Juden auf Befehl Karls VI. hätte sich Frankreich in den Jahrhunderten darauf zum mächtigsten und wohlhabendsten Land Europas entwickelt. Ab 1789, dem Jahr, in dem die Juden wieder zugelassen wurden, sei es mit dem Land nur noch bergab gegangen.131 Die Frage, ob die jetzige Generation der Franzosen wieder den gleichen Mut aufbringen könnte wie ihre Vorfahren, lässt Drumont seinen Lesern gegenüber offen, doch sein gesamtes Buch ist ein konsequent durchgezogenes Plädoyer, sodass es auf diese Frage nur eine Antwort geben kann. Welche schrecklichen Folgen die Verbreitung derartiger Hirngespinste haben kann, hat Drumont nicht mehr erlebt: Er starb 1917. Was das Buch zu einem Erfolg machte, war, dass es Drumont gelang, alle alten und neuen Mythen über Juden in einer Synthese zusammenzufassen, die in den Augen zahlreicher Franzosen von links bis rechts eine überzeugende Erklärung für alles bot, was in Frankreich falsch lief. Das Buch ist ein klassisches Beispiel für einen Verschwörungsmythos als Lösung des Welträtsels. Juden, eingeschworene Feinde von Kreuz und Christentum, steckten angeblich hinter den Maßnahmen der Republik gegen die Macht der Kirche. Juden, allen voran die Rothschilds, hätten die Finanzwelt von Frankreich in ihrer Macht und benutzten diese, um ehrliche, hart arbeitende Franzosen in den Ruin zu treiben. Es waren neue Versionen von Mythen, die bereits seit Jahrhunderten in Umlauf waren: der Jude als Wucherer und Gottesmörder. Die Erklärung, die Drumont für das Verhalten der Juden bot, fußte auf den aufkommenden Wissenschaften der Biologie und Anth324

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ropologie. Die Juden mussten demnach so destruktiv handeln, wie sie es taten, denn es lag ihnen im Blut.132 Dass Juden schädlich waren, galt fortan als eine von der exakten Wissenschaft festgestellte Tatsache. Der überwältigende Erfolg von La France juive bewies, in welchem Maß eine gefürchtete Minderheit zum Kristallisationspunkt einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit der herrschenden Regierung werden kann. Dies bedeutete jedoch noch nicht, dass der Antisemitismus von da an in Frankreich zur politischen Macht wurde, dazu war mehr vonnöten. Drumont selbst widmete sein ganzes weiteres Leben dem Kampf gegen die Juden, doch er war ein zu ungeschickter Politiker, um die aufflackernden Animositäten gegenüber den Juden zu bündeln, aufzustacheln und auszuschlachten. Es waren zwei andere Politiker, Charles Maurras und Maurice Barrès, die in den Jahren der Dreyfus-Affäre politischen Nutzen aus den antijüdischen Gefühlen in Frankreich zogen. Sowohl Maurras als auch Barrès taten dies vor allem, indem sie den Antisemitismus zur Speerspitze ihres politischen Programms erhoben. Maurras beging jedoch den Fehler, auch die Wiedereinführung der Monarchie erneut auf die Tagesordnung zu setzen, was in breiten Kreisen nicht auf Gegenliebe stieß, nicht einmal mehr bei den Katholiken, von denen zahlreiche dem Aufruf Papst Leos XIII. im Jahr 1892 gefolgt waren, sich mit der Republik zu versöhnen. Barrès saß diesem Irrtum nicht auf und fand daher Gehör bei einem breiten Spektrum Unzufriedener, das sich von den bürgerlichen Katholiken bis hin zum sozialistischen Proletariat erstreckte.133 Damit wurde er zu einem der angesehensten Vertreter eines populistischen, französischen Nationalismus, der zahlreiche Anhänger fand und bis ins 20. Jahrhundert hinein großen Einfluss besaß: Sowohl Charles de Gaulle, als auch François Mitterrand waren große Bewunderer von Barrès’ Werk und Ideen. Das soll nicht heißen, dass diese beiden Politiker Antisemiten waren, aber doch, dass seitdem der Antisemitismus stets unterschwellig in den Meinungen und Überzeugungen des nationalistischen Frankreichs eine Rolle gespielt hat. Barrès fand in breiten Kreisen Zustimmung, weil er die Revolution von 1789 als wahrhaft französisch akzeptierte. Er fand zwar, dass die Revolution viel Schlimmes angerichtet habe, aber dass sie eine historische Tatsache sei, die nicht mehr ungeschehen 325

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gemacht werden könne. Frankreich müsse damit leben und damit ins Reine kommen – ein durch und durch konservativer Standpunkt. Die Revolution habe gezeigt, wie vital das Volk sei, aber durch die Revolution sei die Gesellschaft auch desintegriert und in einen gefährlichen Individualismus abgedriftet, der nun einem neuen Gemeinsinn weichen müsse. In Barrès eigenen Worten: „Das Individuum muss sich verlieren, um sich in der Familie, der Rasse und der Nation wiederzufinden.“134 Als Individuum bedeute der Mensch nicht viel; erst, wenn er sich der Tatsache bewusst würde, dass er Teil eines größeren Ganzen sei, wodurch er als Mensch definiert würde, wenn er sich in die lange Geschichte der französischen Nation vertiefe, könne er wahrhaft frei sein. Deswegen müsse sich jeder Franzose bewusst werden, in welchem Maße er im französischen Boden verwurzelt sei und inwiefern sein Schicksal unwiderruflich von den Ahnen bestimmt würde, von denen er abstamme, und von der Rasse, zu der er gehöre. Barrès sprach von „der Erde und den Toten“ und schlussfolgerte, dass jeder Mensch das Produkt eines Kollektivs sei, das in ihm spräche.135 Die Art und Weise, in der Drumont die Geschichte der Juden in Frankreich darstellte, zeigte Barrès ein für alle Mal, dass Juden niemals ein Teil der Gemeinschaft von „der Erde und den Toten“ ausmachen könnten. Sie wären immer Fremde gewesen, sie hätten keine Wurzeln in Frankreich, sie hätten sich nie mit dem französischen Volk solidarisch gezeigt. Sie hätten nichts anderes getan, als von der Gutherzigkeit des einfachen Franzosen zu profitieren.136 Bei Drumont fand Barrès die historischen Argumente, um die Juden anzugreifen. Die DreyfusAffäre bot ihm die Gelegenheit, diese Argumente zu einer politischen Waffe gegen die „verjudeten“ Machthaber der Republik umzuschmieden, die sich dickköpfig weigerten einzusehen, was die französischen Könige im Mittelalter sofort erkannt hatten, nämlich, dass die Juden nur auf den Untergang Frankreichs und des französischen Volkes bedacht wären.

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Nationalismus: Expansion

Nationalismus: Expansion Die Unterstellung, die Nation müsse eine kulturell und ethnisch homogene Gemeinschaft sein, um gesund zu bleiben und überleben zu können, und sie könne keine fremden Elemente innerhalb ihrer Grenzen verkraften, war von Anfang an der aggressivste und problematischste Zug des integralen Nationalismus, wie er sich in allen europäischen Ländern nach 1870 entwickelte. Der Wunsch jedoch, andere Völker zu dominieren, zu vertreiben oder sogar auszurotten, ist nicht immer für diese Form des Nationalismus charakteristisch gewesen. Nach allem, was im Zweiten Weltkrieg in Osteuropa geschehen ist, mag diese Aussage Erstaunen hervorrufen, aber das deutsche Beispiel zeigt, dass die Schwärmerei für das eigene Volk und die eigene Kultur nicht zwangsläufig zur Aggression gegenüber anderen Völkern führen muss.137 Herder, der Vater des Volksgeistes, hasste die Römer, weil ihre despotische Regierung es den einzelnen Völkern unmöglich gemacht hatte, ihr Potenzial auszuschöpfen. Erst im Mittelalter hätten die Völker Europas die Chance bekommen, sich frei zu entfalten, sofern sie daran nicht von der römisch-katholischen Kirche gehindert wurden, die sich hartnäckig an das Erbe des Römischen Reiches klammerte. In seiner eigenen Zeit sah Herder voll Freude, wie sich vor allem die slawischen Völker zu entwickeln begannen. Er sagte ihnen eine große Zukunft voraus, falls es ihnen gelänge, sich von der deutschen Unterdrückung zu befreien. Herders feste Überzeugung war: „Kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde […]. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken.“138 Während Herder solche schönen Dinge schrieb, verleibte sich Preußen große Teile Polens ein. Sogar die polnische Hauptstadt Warschau war für kurze Zeit preußisch. Dennoch geschah dies nicht aus nationalem Expansionsdrang – derartige Motivationen waren Friedrich dem Großen und seinem Nachfolger vollkommen fremd –, sondern aus machtpolitischen Überlegungen. Die preußische Regierung wollte – koste es, was es wolle – verhindern, dass Russland den größten Teil Polens vereinnahmte und sich zu weit nach Westen ausdehnte. 327

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Die Vorstellung, die Deutschen hätten eine nationale Mission im Osten, lebte erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf. Zum ersten Mal wurden Stimmen laut, die die Primitivität der slawischen Völker, ihren orientalischen Charakter, ihre Schmutzigkeit und ihren Mangel an Kultur postulierten. Doch selbst dann noch glaubten die meisten deutschen Nationalisten, es sei nicht ihre Aufgabe, sich da einzumischen, sondern sie müssten sich in ihrem Streben ausdrücklich auf die Vereinigung der bestehenden deutschen Staaten konzentrieren. Ludens Geschichte des deutschen Volkes (siehe Seite 233) ist ein gutes Beispiel dafür. Luden widmete in seinem Werk dem Kampf der Deutschen gegen die slawischen Völker viel Aufmerksamkeit, ein Kampf, der seiner Meinung nach zur Zeit Karls des Großen begann und mit Unterbrechungen bis Ende des 12. Jahrhunderts dauerte, als der Herzog von Sachsen, Heinrich der Löwe, den slawischen Fürsten den tödlichen Schlag versetzte. Luden beschrieb diesen Kampf als unvermeidlich, doch auffällig ist, dass er ihn als Gefecht zwischen zwei freiheitsliebenden Völkern betrachtete, die beide nichts anderes wollten, als ihre Tradition und Religion zu bewahren. Wiederholt vermerkte er, wie grausam die Deutschen gegen die slawischen Stämme gewütet hätten. Das verübelte er vor allem den Sachsen, weil sie nicht allzu lange Zeit zuvor selbst gegen Karl den Großen um ihre Freiheit gekämpft hatten. Wie konnten sie das Blutbad von Verden (782) vergessen haben, als die Franken den gesamten sächsischen Adel über die Klinge springen ließen, weil dieser sich nicht zum Christentum bekennen wollte.139 Auch über die Art und Weise, in dem der Deutsche Orden im 13. und 14. Jahrhundert die heidnischen Stämme der Preußen unterworfen hatte, äußerte sich Luden negativ. Er fragte sich, ob die Deutschen in ihrer weiten Ausdehnung nach Osten nicht an imperial overstretch gelitten hätten. Das deutsche Volk müsste aufpassen, sich nicht zu weit auf fremden Boden zu wagen. Außerdem hätte die Eroberung der südlichen Ostseeküste zudem die ärgerliche Folge, dass Polen fortan keine Küste mehr hätte, wodurch es eines Gebietes beraubt worden sei, auf das es von Natur aus ein Anrecht gehabt hatte. Polen brauche dieses Gebiet dringend, um zu größerer kultureller und ökonomischer Blüte 328

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zu gelangen. Luden war dafür, den polnischen Staat innerhalb der Grenzen von 1772 wiederherzustellen. Dies hätte auch bedeutet, dass Polen durch den Hafen von Danzig wieder Zugang zur Ostsee erhalten hätte.140 Die deutschen Eroberer brachten zwar Wohlstand in das preußische Land und lösten ihre Schuld dadurch teilweise ein, doch noch immer stehe, so Luden, der große slawische Volksstamm hier dem deutschen gegenüber, weil die Ostseeküste umstritten bliebe, obwohl sich die Deutschen dies nicht klarzumachen schienen.141 Kurzum, große Begeisterung konnte er für das ganze Unternehmen nicht aufbringen. Dies wird noch durch die Tatsache unterstrichen, dass Luden ständig darauf pochte, die deutschen Könige im Mittelalter hätten sich nicht mit italienischen Abenteuern beschäftigen, sondern sich lieber ihrer nationalen Verpflichtungen besinnen sollen. Sie hätten den Deutschen die Volkseinheit bringen sollen, sie hätten die Macht des Adels brechen und das Wachstum und die Blüte der Städte fördern sollen. An keiner Stelle sagt Luden, es sei ihre Pflicht gewesen, das deutsche Reich nach Osten auszuweiten. Luden stand noch ganz in der Tradition Herders, die besagte, dass jedes Volk sich auf seinem eigenen Grund und Boden entfalten solle, die Polen ebenso wie die Deutschen. Indem sie die preußische Ostseeküste eroberten, hätten die Ritter des Deutschen Ordens dieses natürliche Gleichgewicht zerstört, mit allen Konsequenzen. Als um 1860 der ideologische Streit um die deutsche Einheit seinen Höhepunkt erreichte, wurde diese Art von Bescheidenheit selten. Die große Frage lautete, ob die Deutschen sich um Österreich oder um Preußen scharen sollten: ob das neue Deutschland ein Reich vieler Völker (wie es Österreich bereits war) oder ein homogener Nationalstaat werden sollte. In dieser Kontroverse beriefen sich beide Parteien auf das mittelalterliche Kaiserreich. Ein katholischer Historiker wie Julius von Ficker, Dozent in Innsbruck, verteidigte ganz in der Tradition Friedrich Schlegels die Auffassung, das alte Reich sei ein politischer Vielvölkerstaat gewesen und die mittelalterlichen Kaiser die Träger vieler Kronen, darunter der Deutschlands, Italiens und Burgunds, Böhmens und Ungarns, und natürlich der alles überragenden, der Kai329

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serkrone. Damit deutete er implizit an, dass das neue Deutschland nicht hinter dem alten zurückstehen könne und sich die Deutschen selbstverständlich wieder unter dem Hause Habsburg vereinigen müssten. Preußisch gesinnte Historiker wie Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke stellten sich auf den Standpunkt Ludens. Ihrer Meinung nach war das mittelalterliche Reich gescheitert, weil sich die Kaiser nicht als nationale Fürsten verhalten, sondern Macht und Ansehen in Italien vergeudet hätten. Doch während Luden den mittelalterlichen Kaisern vorgeworfen hatte, sie hätten durch ihre ausländischen Abenteuer das Reich intern nicht konsolidiert, glaubten Sybel und Treitschke, dass sie ihre expansiven Leidenschaften nicht in Italien hätten ausleben sollen, sondern im Osten Europas, wo ein wüstes und unzivilisiertes Gebiet danach schrie, von den Deutschen kultiviert zu werden.142 Das deutsche Volk hätte gezeigt, dass es absolut bereit dazu gewesen sei, den Osten zu kolonisieren: Hunderttausende deutsche Bauern hätten sich zwischen 1100 und 1300 in Osteuropa niedergelassen, aber ihre Fürsten hätten sie nicht unterstützt. Nur der Deutsche Orden hätte den Kampf gegen die Barbarei aufgenommen und die deutsche Kultur bis weit hinein in die osteuropäischen Urwälder verbreitet. Dass dies alles mit roher Gewalt geschah, erachtete Treitschke als gute Sache, den besten Beweis für die Vitalität des mittelalterlichen Deutschlands: „die große Lehrzeit für die aggressive Kraft unseres Volkes“. Nach 1400 stellte sich jedoch heraus, dass ein Staat von Mönchsrittern, wie der Deutsche Orden ihn im Baltikum gegründet hatte, auf Dauer nicht lebensfähig war. Erst, als sich Brandenburg im 15. Jahrhundert zu entwickeln begann, entstand ein deutscher Staat, der es sich zur Pflicht machte, die Kolonisation im Osten zu unterstützen und zu fördern. Glücklicherweise war der letzte katholische Großmeister des Deutschen Ordens, Albrecht, ein Spross aus dem Hause Hohenzollern, den Kurfürsten von Brandenburg, wodurch der ehemalige Ordensstaat auf die Dauer ein integraler Teil dieses Kurfürstentums, des späteren Königreichs Preußen wurde.143

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Nationalismus: Expansion

Für Treitschke stand außer Frage, dass nur die preußischen Fürsten seit dem Mittelalter die nationalen Interessen Deutschlands vertreten hätten. Stets hätten sie sich im Osten Europas dafür stark gemacht, die deutsche Kultur verbreitet und die slawische Gefahr in Schach gehalten. Deswegen sei Preußen der einzige Staat, der die Führung im neuen Deutschland übernehmen könne. Österreich sei dazu nicht länger in der Lage. Treitschke schlussfolgerte daraus nicht, dass Deutschland neue Gebiete in Osteuropa erobern müsse; sein politisch äußerst einflussreiches Werk Das Ordensland Preußen (1862) war ausdrücklich dazu bestimmt, die deutsche Innenpolitik in die von ihm gewünschte Richtung zu lenken. Er baute die Erkenntnisse früher Nationalisten wie Luden aus und strebte dasselbe Ziel an: einen mächtigen deutschen Nationalstaat unter preußischer Führung. Um seinem Plädoyer mehr Kontur zu verleihen, erfand er eine Zivilisationskluft zwischen Deutschen und Polen und – noch allgemeiner – zwischen der germanischen und der slawischen Rasse, die später für expansive Ziele ausgenutzt werden sollte. Auch knüpfte er verschiedene unabhängige Ereignisse und Entwicklungen in den Grenzgebieten zwischen Deutschland und Polen seit dem Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert aneinander und strickte daraus eine große, mythische Geschichte: Das deutsche Volk sei von jeher von einem unwiderstehlichen Verlangen getrieben gewesen, den Osten zu zivilisieren – dem „Drang nach Osten“. Mehr als jeder andere ist Treitschke dafür verantwortlich, dass die Deutschen ihr Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Slawen als ein geschichtlich bedingtes Schicksal rechtfertigten. So sei es immer gewesen und so würde es immer bleiben: Es gäbe Gewinner und Verlierer, und Deutschland habe bereits seit dem Mittelalter bewiesen, dass es zu den Siegern gehöre. Um dieses Argument noch ein wenig zuzuspitzen, verglich Treitschke ganz nebenbei die historische Mission Deutschlands in Osteuropa mit der der Spanier und der Engländer in Amerika. Diese drei Nationen seien dazu aufgerufen, unkultivierte Wildnisgebiete zu kolonisieren und das Licht der christlichen, europäischen Kultur in der Dunkelheit leuchten zu lassen. Die Geschichte seit dem Mittelalter bis heute bestätige die Richtigkeit dieser Auffassung.144 331

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Im Krieg gegen Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870 wurde das Ideal der deutschen Einheit unter der Führung Preußens realisiert. In den Augen der meisten Deutschen war das große Ziel erreicht: ein vereinigtes Deutschland, das von da an seinen Platz in der ersten Reihe des großen europäischen Orchesters besetzen konnte. Nach 1870 zielte Bismarcks Außenpolitik darauf ab, die anderen europäischen Staaten davon zu überzeugen, dass Deutschland gesättigt sei und nichts anderes mehr wünsche, als sich innerhalb der neuen Grenzen von 1870 zu entwickeln. Doch nicht jeder war seiner Meinung. Es entstand eine anfangs kleine, aber lautstarke Opposition, die verkündete, das neue Reich sei nichts weiter als ein Beginn, ein Ausgangspunkt, und das letztendliche Ziel dürfe kein geringeres sein als die „nationale Sammlung aller Kräfte des deutschen Volkes in Mitteleuropa“. Solange Bismarck Reichskanzler war, wurde dieser Opposition mit harter Hand das Schweigen auferlegt, doch nach seinem Abtreten 1890 erhielt sie im rechten Flügel der deutschen Politik immer mehr Einfluss, umso mehr, da Kaiser Wilhelm II. selbst von einem deutschen Reich träumte, das dem Reich seiner Großmutter Victoria, der Königin und Kaiserin, ebenbürtig war.145 Die Außenpolitik des Kaiserreichs nach 1890 wird darum häufig als „Weltpolitik“ bezeichnet, ein Versuch Deutschlands, die Hegemonie in Europa zu erobern und seinen Einfluss in der ganzen Welt geltend zu machen, indem es auf dieselbe Weise wie England und Frankreich ein Kolonialreich gründete.146 Dass sich Deutschland erweitern und Kolonien gründen müsste, war eine Auffassung, die breite Zustimmung fand, denn es herrschte die allgemeine Überzeugung, nur die Stärksten könnten überleben und eine Nation, die nicht expandierte, würde schwach werden. Eine solche Auffassung galt damals in ganz Europa als selbstverständlich. Die Frage war, wohin Deutschland expandieren sollte: nach Übersee oder lieber nach Osteuropa? In Afrika und Asien war nicht mehr viel zu holen. War es daher nicht viel vernünftiger für Deutschland, die Arbeit, wie es hieß, fortzusetzen, die die deutschen Bauern im Mittelalter begonnen hatten? Das Resultat der Kolonisation im Mittelalter war ein Archipel deutschsprachiger Enklaven, der sich anno 1900 noch immer von der baltischen Küste bis ins Bannat und Transsilvanien und in Russland bis 332

Nationalismus: Expansion

an die Wolga erstreckte. Innerhalb rechter Agitationsgruppen wie dem Alldeutschen Verband, gegründet 1891, entwickelten sich Theorien, das deutsche Reich habe seine definitive Form erst erreicht, wenn es die Grenzen hätte, die alle osteuropäischen Enklaven umfassten, und wenn die anderen Völker, die dort wohnten, entweder unterworfen oder vertrieben wären. Vielleicht könne auch die Türkei noch als Kolonie unterworfen werden. Dass durch diese Erweiterung Deutschlands das Habsburger Reich untergehen und ein Teil Deutschlands werden würde, galt in diesen Kreisen als selbstverständlich.147 Ein einflussreiches Mitglied des Alldeutschen Verbandes war der große Historiker Karl Lamprecht. Obwohl er nicht zum radikalen Flügel gehörte, ging auch er davon aus, dass die deutsche Nation sich viel weiter erstreckte als bis an die Grenzen des neuen Kaiserreichs. Die größte Berühmtheit hat Lamprecht durch seine methodisch progressive Geschichte von Deutschland erlangt. Er war einer der ersten deutschen Historiker, die nicht nur politische Geschichte betrieben, sondern die sozialen und kulturellen Entwicklungen ins Zentrum rückten und geographische Umstände ernst nahmen. Dies machte ihn zu einer Randfigur im deutschen historischen Establishment, doch innerhalb der Kreise des Alldeutschen Verbandes wurde seine Arbeit eifrig gelesen und hochgelobt. Er schien die historischen Argumente zu liefern, die ihre expansiven Vorstellungen untermauern konnten. Lamprechts Umgang mit der mittelalterlichen Geschichte der deutschen Expansion im Osten ist deswegen so spannend, weil er wissenschaftliche Exaktheit und methodische Erneuerung mit einer äußerst mythischen Auffassung des Drangs nach Osten paart. Was bei Treitschke eine Randbemerkung gewesen war, wurde bei Lamprecht zum Ausgangspunkt seiner Behandlung der deutschen Interventionen in Osteuropa. Wer die deutsche Geschichte begreifen wolle, so Lamprecht, müsse sich klarmachen, dass Deutschland seit jeher aus zwei strikt voneinander getrennten Gebieten bestanden habe: dem Mutterland westlich der Elbe und dem Kolonialgebiet, das alle deutschen Länder umfasste, die jenseits der Elbe lagen.148 Dies war die einzige Grenze, die Lamprecht straff zog – die zwischen Mutterland und den Kolonien. Ansonsten blieb er äußerst vage bezüglich der ge333

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nauen Grenzen des deutschen Siedlungsgebietes. Während Völker wie die Franzosen und Engländer seit jeher ein fest umrissenes Gebiet mit einem deutlichen Mittelpunkt in Form der Hauptstädte London und Paris bewohnt hatten, waren die territorialen Grenzen des deutschen Volkes stets fließend geblieben. Nur die Nord- und die Ostsee im Norden und die Alpen im Süden bildeten eine natürliche Barriere für die deutsche Expansion.149 Doch zwischen Meer und Bergen waren die Germanen, von Lamprecht der Einfachheit halber gleichgestellt mit den Deutschen, stets zwischen Ost und West hin und her gezogen wie eine auf- und niedergehende Wellenbewegung. Ob Lamprecht das so gemeint hat, ist nicht mit Sicherheit festzustellen, doch derart vage Beschreibungen der Streifzüge der Deutschen im frühen Mittelalter haben nach dem ersten Weltkrieg gewiss mit dazu beigetragen, die bestehenden politischen Grenzen infrage zu stellen und einen großen Teil Europas für die deutsche Expansion zu beanspruchen.150 Ursprünglich siedelten die Deutschen im Land rund um die Weichsel. Bei der großen Völkerwanderung zogen sie nach Westen bis an den Ärmelkanal und gründeten hier das Fränkische Reich. Seit der Zeit Karls des Großen wanderte die Welle zurück nach Osten, erst bis an den Rhein, im 10. Jahrhundert bis an die Elbe und in der Zeit danach bis tief in die Wälder Polens und Russlands hinein, zurück zu dem Gebiet, aus dem die Deutschen ursprünglich stammten. Inzwischen hatten sich slawische Stämme dort angesiedelt, wodurch es wieder ganz von vorn kultiviert werden musste.151 Dies führte zu Auseinandersetzungen zwischen dem kultivierten Westen und dem primitiven Osten, der von Lamprecht mit dem Zusammenstoß zwischen den Griechen und den Persern verglichen wurde, das gern zitierte Modell für den ewigen Kampf zwischen Ost und West. Die Kaiser konnten nicht zu Hilfe kommen, weil sie im Sumpf der italienischen Politik feststeckten. Es waren vorausblickende Reichsfürsten wie Heinrich der Löwe und vor allem der Gründer der brandenburgisch-preußischen Dynastie, Albrecht der Bär, die erkannten, dass Hilfe aus dem Mutterland nötig war, um die östlichen Gebiete wieder zu kultivieren. Aus dem deutschen Herzland, zu dem Lamprecht auch Flandern und Holland zählte, holten sie Bauern und Bürger, um die Landwirtschaft anzukurbeln und 334

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Städte wie Lübeck und Danzig zu gründen, die den Kern eines feinmaschigen Handelsnetzwerks bilden sollten, das auf Dauer die ganze Ostsee umspannen sollte.152 Mit der Ankunft der Flamen und Holländer begann die Geschichte Osteuropas und damit auch die Geschichte der deutschen Zivilisierungsmission. Die Holländer brachten ihre einzigartigen Kenntnisse der Urbarmachung von Sumpfland und ihre neuen, individuell angepassten Landwirtschaftsmethoden mit, die Flamen ihren Sinn für Handel und Industrie. Durch diese Zusammenarbeit wurde der deutsche Osten zu einem der wichtigsten Landwirtschafts- und Handelsgebiete Deutschlands und zugleich zur Kornkammer Europas. Lamprecht zögerte nicht, die Öffnung und darauffolgende Germanisierung Osteuropas als „die Heldentat unseres Volks im Mittelalter“ zu bezeichnen.153 Für das Schicksal der slawischen Bevölkerung interessierte er sich nicht. Wo Deutsche sich in Osteuropa niederließen, blühten Wirtschaft und Kultur, wo ihre Mission scheiterte, verharrten die wenigen übriggebliebenen ursprünglichen Bewohner in primitiver Unwissenheit. Der moderne Reisende brauche, sagte Lamprecht, nur mit dem Zug durch Böhmen zu fahren, um dies feststellen zu können: Sähe er von seinem Fenster aus frisch gestrichene Bauernhöfe und gleichmäßig angelegte Äcker, die sich bis hoch auf die Berghänge erstreckten, wohnten dort Deutsche; sah er unordentliche Felder und unkultivierte Wälder, sei das tschechisches Gebiet.154 Indem er das Territorium der Deutschen so vage wie möglich umschrieb, konnte Lamprecht riesige Gebiete Europas für Deutschland beanspruchen. So ging er ohne Weiteres davon aus, dass die Holländer und Flamen einen integralen Bestandteil des deutschen Volkes und der deutschen Kultur bildeten, vor allem, weil sie einen wesentlichen Beitrag zur Kolonisation des Ostens geleistet hatten. Für diese Auffassung kassierte er eine scharfe Rüge des Leidener Professors P. J. Blok.155 Auch der ganze Osten konnte auf diese Art und Weise für Deutschland beansprucht werden. Dort hätten, laut Lamprecht, die Germanen seit jeher gelebt und seien nur vorübergehend fortgezogen, um im 11. Jahrhundert wieder zurückzukehren und festzustellen, dass primitive

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Stämme ohne Geschichte sich zu Unrecht dieses Gebietes bemächtigt hatten. Wenn Lamprecht Deutschland als ein Land beschrieb, das seit jeher aus zwei Teilen bestand, dem Mutterland und den Kolonien, sagte er damit, dass es schon im Mittelalter eine einzigartige Stellung unter den Völkern eingenommen habe. Während andere Völker sich innerhalb ihres eigenen Gebietes entwickelten, war Deutschland bereits im Mittelalter, was heutzutage als Empire bezeichnet würde. Mit der Beschreibung der deutschen Geschichte als der eines Empires war Lamprecht methodisch und konzeptuell seiner Zeit weit voraus. Moderne Historiker haben den homogenen, demokratischen Nationsstaat lange Zeit als natürliches Ergebnis der Geschichte betrachtet und sich ein wenig herablassend über Vielvölkerstaaten wie Österreich und das Osmanische Reich geäußert, von denen sie ersteren als „Operettenstaat“ und letzteren als „den kranken Mann Europas“ verunglimpften. Diese Reiche galten als Überbleibsel einer vergangenen Zeit und ihr Untergang bedurfte im Grunde keine Erklärung: Er ergab sich logisch aus dem Lauf der Geschichte. Das Auseinanderbrechen der Sowjetunion und Jugoslawiens nach 1989 schien diese Überzeugung nochmals zu unterstreichen. Erst in den letzten zehn Jahren hat man das Augenmerk mehr auf heterogene, nicht nationale Staaten gerichtet, die aus vielen Völkern und Kulturen bestehen und ihre Autorität nicht mit der Berufung auf den Volkswillen legitimieren können, sondern ganz andere Quellen der Legitimation anbohren müssen, um ihre Autorität in einer multikulturellen Umgebung auszuüben – in Österreich war dies etwa die Kaisertreue, die Loyalität zur Habsburger Dynastie. Vielleicht ist dies das umstrittenste Kennzeichen eines Empires: dass es eine staatliche Konstruktion ist, die fundamental auf Ungleichheit beruht und nicht auf der expliziten Zustimmung der konstituierenden Völker. Meistens gibt es eine dominierende Kultur, nach der sich alle anderen richten müssen, was jedoch nicht heißen soll, dass solche Reiche deswegen per definitionem unpopulär bei den Völkern sind, die einen Teil davon ausmachen.156 Indem er Deutschland als erstes Empire Europas beschrieb, unterstrich Lamprecht in erster Linie noch einmal die zentrale Position 336

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Preußens im Deutschen Reich. Preußen war der einzige deutsche Staat, der sich über das Mutterland und die Kolonien ausdehnte, und deswegen konnte nur Preußen ganz Deutschland beisammen halten.157 Dies hatte auch Treitschke bereits festgestellt. Wichtiger war, dass Lamprecht mit dieser Theorie der geheimen Angst seiner Landsleute widersprach, dass Deutschland zu spät auf der Weltbühne erschienen sei, um in der Weltpolitik noch entscheidend mitmischen zu können. Die mittelalterliche Kolonialisierung Osteuropas durch deutsche Bauern, die Gründung von Handelsstädten an der Ostsee und die Unterwerfung der Preußen durch die Ritter des Deutschen Ordens sind für Lamprecht der beste Beweis dafür, dass Deutschland bereits eine aggressive imperiale Macht war, lange bevor Spanien und Großbritannien auf den Plan traten. Deutschland habe seine Mission bereits im Mittelalter entdeckt, nicht unter Indianern oder Schwarzafrikanern, sondern unter den primitiven, slawischen Völkern Osteuropas. Alle Länder östlich des deutschen Stammesgebietes waren für Lamprecht Tabula rasa, eine leere Gegend, wo alles noch geschehen musste und alles noch möglich war. In dieser Hinsicht glich die deutsche Kolonialisierung Osteuropas der britischen Kolonialisierung Amerikas, mit dem einzigen Unterschied, dass sie bereits viel früher stattgefunden hatte.158 Genau wie in Amerika blieb der ursprünglichen Bevölkerung nichts anderes übrig, als sich anzupassen oder ein armseliges Leben in Reservaten zu fristen, wie es mit den Sorben in Sachsen geschehen war.159 Ebenso wenig wie Treitschke war Lamprecht dafür, das neue Kaiserreich noch weiter nach Osten auszuweiten. In diesem Sinne blieben beide Historiker Anhänger Bismarcks: Deutschland war gesättigt. Doch nach dem Untergang des Kaiserreichs, den Lamprecht selbst nicht mehr erlebt hat, wurde sein Werk von einer Historikergeneration fortgesetzt, die zutiefst davon überzeugt war, Deutschland müsse jetzt die Mission vollenden, mit der es im Mittelalter begonnen habe. Ihr Studium der mittelalterlichen Expansion Deutschlands im Osten, die sogenannte Ostforschung, wollte tatsächlich einen wichtigen, aktuellen Beitrag zur Schaffung neuen Lebensraums durch das deutsche Volk leisten, indem es bewies, dass die kulturelle und rassische Säuberung Osteuropas eine historisch notwendige Aufgabe war, der sich Deutsch337

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land nicht entziehen konnte. Nun musste vollendet werden, was im 12. Jahrhundert von flämischen und holländischen Bauern begonnen und besungen worden war: Naer Oostland willen wy ryden, / Naer Oostland willen wy mee, / Al over die groene heiden, / Frisch over die heiden! / Daer isser een betere stêe .“ (Nach Ostland wollen wir fahren, nach Ostland wollen wir mit, dort über die grüne Heide, frisch über die Heide! Dort ist eine bessere Bleibe.)160

Eine neue Gemeinschaft Die Entwicklung von Burckhardts Heimatstadt Basel ist beispielhaft für das, was in ganz West- und Mitteleuropa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschah. Die Französische Revolution war ein politischer Umsturz gewesen, der viel Elend nach sich gezogen, aber das tägliche Leben der meisten Menschen kaum verändert hatte. Auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohnte und arbeitete der größte Teil der Bevölkerung auf dem Land oder in kleinen, übersichtlichen Städten, in denen man eng miteinander verbunden war, wo es eine starke soziale Kontrolle gab und die Position eines jeden in der Hierarchie von Rängen und Ständen genau festgelegt war. Dieser übersichtlichen Gemeinschaft wurde durch die gleichzeitige Entwicklung der Eisenbahn und die Einführung moderner industrieller Produktionsmethoden ein Ende bereitet. Die Eisenbahn mit ihren billigen und schnellen Transporten vergrößerte die Mobilität enorm und die neuen Industrien boten gute Chancen für die Ärmsten auf dem Land. Infolgedessen gab es eine massive Landflucht in Richtung Stadt. Zugleich sorgten der Abbau des Protektionismus, das Wachstum eines freien Marktes mit Angebot und Nachfrage und der wissenschaftliche Fortschritt dafür, dass die Kosten der Produkte drastisch sanken und ein wenig mehr Wohlstand für eine viel größere Anzahl von Menschen greifbar nahe rückte. Politisch wurde diese Entwicklung in einer stärkeren Beteiligung an der Staatsregierung, unter anderem durch die Ausweitung des Wahlrechts, umgesetzt. Sogar in erzkonservativen Staaten wie Preußen und Österreich sah sich die Regierung gezwungen, eine Art Volksver338

Eine neue Gemeinschaft

tretung ins Leben zu rufen. Die breite Masse hatte die Bühne der Geschichte betreten. Es war eine Entwicklung, die man am besten als eine erste Form der Globalisierung skizzieren kann, und sie rief damals genau die gleichen gemischten Gefühle hervor, wie es die Globalisierung heutzutage tut. Wachsender Reichtum und bessere Lebensumstände gingen mit Angst und Unbehagen einher, und das nicht nur bei Mitgliedern der etablierten Elite wie etwa Burckhardt. Das Wegfallen alter Gewissheiten und die Anonymität der Großstadt, die Launen und die Härte des Marktes mit seiner rücksichtslosen Konkurrenz, das alles schien die Welt in einen Ort verändert zu haben, an dem nur das Recht des Stärkeren galt. Manchmal schien es sogar, als sei nur ein kleines Segment des etablierten Bürgertums zufrieden mit dem Erreichten und als herrsche unterschwellig eine weitverbreitete Unzufriedenheit: Konservative waren erschrocken, Sozialisten empört, Christen beunruhigt, Nationalisten unzufrieden. Es ist erstaunlich, aber große Gruppen der Bevölkerung erkannten gar nicht den wahren Fortschritt, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf fast jedem Gebiet erreicht wurde, sondern nur eine Welt, in der sie sich nicht mehr heimisch fühlten. Katholiken, Sozialisten und Nationalisten fanden sich nicht damit ab, sondern bekämpften Liberalismus, Individualismus und Rationalismus und machten sich auf die Suche nach neuen Formen von Gemeinschaft, Glaube und Autorität. Die sozialistischen Bewegungen waren die offensichtlichste und revolutionärste Antwort auf den Untergang alter Sicherheiten. Statt der Geborgenheit der Gilden proklamierten sie die Solidarität der neuen Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen das Kapital. Vor allem in einem schnell wachsenden Industriestaat wie Deutschland wurde die sozialdemokratische Partei, die SPD, ein so mächtiges Bollwerk mit so vielen Verzweigungen, dass sie zu einem Staat im Staate anschwoll und für die arbeitende Klasse eine Alternative für einen Staat bildete, innerhalb dessen sie sich, nicht zu Unrecht, entwurzelt und ausgestoßen fühlte.161 Eine andere Reaktion bestand in der Intensivierung des Nationalgefühls. Bis 1850 war der Nationalismus eine progressive Bewegung des liberalen Bürgertums gewesen, das davon überzeugt war, dass indi339

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viduelle Freiheit und die Einheit des Volkes selbstverständlich Hand in Hand gingen. Historiker wie Luden, Hallam, Thierry und Michelet sind sprachgewaltige Zeugen dieses Glaubens. Eine der Folgen der misslungenen Revolutionen von 1848 bestand darin, dass der Ton der nationalistischen Propaganda immer schriller wurde. Die breite Masse wurde für den Nationalstaat gewonnen, aber der Sieg wurde mit einem Rückgang an Einsatz für die Freiheit bezahlt. Immer stärker wurde betont, dass die nationale Gemeinschaft über dem Individuum stehe und dass das Volk einig und ohne zu murren seinen Führern folgen müsse. Gleichzeitig wuchs die Überzeugung, dass die eigene Nation besser sei als alle anderen und fremde Elemente ausgestoßen werden müssten; dass die Mitgliedschaft in der Nation nicht von geteilten Bürgerrechten oder Kultur bestimmt wurde, sondern von Abstammung und Rasse. Vor allem der Antisemitismus wurde in vielen europäischen Ländern ein giftiger Nährboden des neuen Gemeinschaftsgefühls, das der integrale Nationalismus bot.162 Die Suche nach neuen Formen der Gemeinschaft brauchte sich nicht auf neue Institutionen wie den Nationalstaat oder die sozialistische Partei zu beschränken. Die katholische Kirche, die von jeher den Menschenrechten und anderen revolutionären Idealen ablehnend gegenüberstand, hatte während der Französischen Revolution harte Schläge einstecken müssen und war fast überall in Europa ihrer einst so bevorzugten Position beraubt worden. Nicht umsonst hatte Michelet sie noch in den Jahren um 1830 für ein romantisches Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit gehalten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die alte Kirche die Herausforderung der neuen Zeit an. Sie erfand sich selbst neu, indem sie eine starke zentralistische Organisation rund um den Papst in Rom aufbaute, sich der neuen Möglichkeiten bediente, die die Presse bot, und indem sie eine homogene katholische Kultur und Identität entwarf, die es leicht mit der Konkurrenz durch Nationalismus und Sozialismus aufnehmen konnte.163 Um ihre Identität zu stärken und ihren Kampf gegen die Unbarmherzigkeit und Oberflächlichkeit des liberalen Individualismus zu legitimieren, beriefen sich Katholiken, Nationalisten und Sozialisten auf die Geschichte, und zwar für gewöhnlich auf die des Mittelalters. Alle 340

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drei Gruppen wollten beweisen, dass ihr Handeln zwar neu war, aber in der Vergangenheit wurzelte. Früher einmal habe es in Europa eine Zeit gegeben, in der sich Menschen füreinander verantwortlich gefühlt hätten, in der die Gemeinschaft Priorität vor dem Individuum besessen und eine starke väterliche Autorität das Fundament der Solidarität untereinander gebildet hätte. Dass die katholische Kirche ihre Umstrukturierung mit einer Hinwendung zum Mittelalter rechtfertigte, kann nicht weiter überraschen. Dies war die Zeit gewesen, in der sich die Kirche mächtig über ganz Europa ausgebreitet hatte und die Zeit, die die strahlenden Bilder einer ruhmreichen Vergangenheit lieferte, die den Veränderungsprozess begleiten und die Katholiken in einem neuen gemeinschaftlichen Ideal zusammenschweißen konnten. Katholiken im 19. Jahrhundert beschrieben die vergangenen Jahrhunderte als eine Zeit, in der große, selbstlose Päpste Frieden und Gerechtigkeit in Europa garantiert und als Schiedsrichter zwischen egoistischen Fürsten fungiert hätten, als eine Zeit, in der man überall in derselben Sprache betete und an dem einen, wahren römischen Ritus teilhatte. Dadurch waren sich damals alle Christen bewusst gewesen, dass sie eine Christenheit unter der Führung von Christis Stellvertreter auf Erden, dem Papst, bildeten. Ritter hatten ihre Waffen in den Dienst von Witwen und Waisen gestellt und den Kampf gegen die Heiden als ihre höchste Berufung betrachtet. Das Gebot der christlichen Nächstenliebe wurde ausdrücklich in der Solidarität der Dorfgemeinschaften auf dem Land und in den Gilden der Städte gelebt. Für jeden wurde gesorgt, niemand konnte die Orientierung verlieren; die Kirche und ihre Priester wachten über die Gläubigen wie Glucken über ihre Küken. Diese Vision wurde zum Grundstein der fundamentalen Umstrukturierung der katholischen Kirche, bei der sie sich als eigene, vollkommene Gemeinschaft präsentierte, eine societas perfecta, die eine verführerische Alternative für eine Gesellschaft bieten konnte, die sich von ihren moralischen Grundsätzen entfernt hatte. Dass sich auch Nationalisten weiterhin auf das Mittelalter beriefen, ist ebenso wenig überraschend. Auch für die späteren Nationalisten galt, dass der Ursprung der eigenen Nation im Mittelalter gesucht wur341

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de, wo er ihrer Meinung nach in seiner reinsten Form studiert werden konnte. Schon deswegen blieb das Mittelalter ein wichtiger Faktor in den nationalen Mythen. Allerdings muss gesagt werden, dass mit der zunehmenden ethnischen und rassischen Prägung des Nationalismus viel mehr Interesse für die Zeit aufkam, die dem Mittelalter vorangegangen war. So überraschte etwa Greens Aussage, das moderne England habe seinen Ursprung in Schleswig. Kulturen und Staaten entstanden und vergingen, aber Rassen waren ewig. Darum wurde es wichtig, die Geschichte der Rasse so weit wie möglich zurückzuverfolgen, am liebsten bis weit in die Frühgeschichte hinein, als die Rassereinheit noch nicht von gefährlicher Vermischung mit minderwertigem Blut untergraben wurde, die in der Zeit danach so oft zur Degeneration geführt hätte. Hierdurch wurde die Archäologie, vor allem in Zentral- und Osteuropa, politisch mindestens genauso aufgeladen wie die Geschichtsschreibung.164 Aus zwei Gründen blieb auch danach noch die mittelalterliche Vergangenheit von eminentem Interesse. Die mittelalterlichen Völker und ihre ersten Fürsten schienen eine Nase für die Reinheit von Blut und Rasse gehabt zu haben, die sich hauptsächlich durch die Vertreibung der Juden aus England, Frankreich, Spanien und großen Teilen Deutschlands äußerte. Außerdem wurde das kriegerische Ritterideal, das sich vor allem in blutigen Kriegen gegen die Heiden bewährt hatte, als Äußerung vitaler Urkraft gepriesen, die zum Maßstab werden könnte, an dem sich Staat und Nation von nun an messen lassen müssten. Gesunde moderne Nationen müssten wenigstens so aggressiv und expansiv sein wie ihre mittelalterlichen Vorläufer, wollten sie nicht in diesem Kampf ums Überleben untergehen. Luden hatte die erbarmungslosen Verwüstungen der Sachsen und die Morde des Deutschen Ordens in Preußen verabscheut und verurteilt; Treitschke und Lamprecht sahen darin den besten Beweis dafür, dass die Deutschen schon damals zu den herausragenden Völkern Europas gehört hätten. Auf den ersten Blick scheint es, als hätte es für die Sozialisten die wenigsten Gründe gegeben, an die Geschichte des Mittelalters anzuknüpfen. Es war eine Zeit großer gesellschaftlicher Ungleichheit, von Herren und Knechten, Ausbeutung und Ausgebeuteten, eine Zeit, die 342

Eine neue Gemeinschaft

dem Kampf der modernen Arbeiter wenig Inspiration bieten konnte. Die mittelalterliche Geschichte konnte jedoch auch anders gelesen werden, so wie es Adam Müller einst bereits getan hatte, nämlich als eine Zeit der sozialen Integration und Gegenseitigkeit, eine Zeit, in der Menschen füreinander sorgten und es noch keinen freien Markt gab, der die Schwachen in der Gesellschaft zu Sklaven einiger weniger mächtiger Kapitalisten machte. Marx hatte im Kommunistischen Manifest zwar diese Art von „Feudalsozialismus“ verurteilt, was aber nicht bedeutete, dass er das Mittelalter abgeschrieben hätte. Bevor sich die Grundbesitzer wie gierige Unternehmer verhielten, ähnelte die idyllische Bauerngesellschaft des 13. und 14. Jahrhunderts zu sehr dem postrevolutionären Paradies, das er den Arbeitern prophezeite. Bei William Morris tritt dies noch stärker zu Tage. Sein utopischer Roman News from Nowhere (1890), in dem er die englische Gesellschaft nach der Revolution skizziert, ist eine Aneinanderreihung von Bildern, die seinen Beschreibungen von Dörfern und Städten im 14. Jahrhundert entlehnt ist. Außerdem galt für Sozialisten ebenso sehr wie für Katholiken und Nationalisten, dass sie so tief vom Mittelalter beeindruckt waren, weil es in ihren Augen eine Zeit ohne Parteistreitigkeiten, ohne politische Wirren, ja, eine Zeit der gemeinschaftlichen Ideale gewesen sei, eine Zeit, in der alle am gleichen Strang gezogen hätten und jeder, ob oben oder unten, sich seiner gemeinschaftlichen Verantwortlichkeit bewusst gewesen wäre. Nicht umsonst spricht Saint-Simon vom Sozialismus als einer neuen Religion, einem „neuen Christentum“, das die moralische Einheit bringen würde, die notwendig sei, um die entgleiste europäische Gesellschaft wieder in die Spur zu bringen. Die Chance, diese Träume in die Wirklichkeit umzusetzen, kam nach dem Ersten Weltkrieg, als sich Europa in einen Schutthaufen verwandelt hatte, der noch viel größer war, als es selbst die schärfsten Kulturkritiker des 19. Jahrhunderts vorauszusagen gewagt hätten. Die Stunde des Mittelalters schien geschlagen zu haben.

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Schlussbetrachtung Der Jesuit und der Humanist

I

m Oktober 1915 beschloss Thomas Mann, dass er aufgrund der Zeitumstände unmöglich länger an seinem neuen Roman Der Zauberberg arbeiten könne, sondern stattdessen, wie alle anderen Deutschen, seine Talente in den Dienst des bedrohten Vaterlandes stellen müsse – ein „Gedankendienst mit der Waffe“. Er hielt es für seine heilige Pflicht, seinen Landsleuten Mut zuzusprechen und dazu die historischen und kulturellen Hintergründe des Konfliktes, der gerade Europa zerriss, zu ergründen. In seinen Worten: „... man forscht in der Not der Zeit nach den fernsten Ursprüngen, den legitimen Grundlagen, den ältesten seelischen Überlieferungen des bedrängten Ich, man forscht nach Rechtfertigung.“ Das Ergebnis seiner Untersuchung veröffentlichte er 1918 kurz vor der Niederlage unter dem Titel Betrachtungen eines Unpolitischen. Einer langen deutschen Tradition folgend analysierte Mann darin die Geschichte Europas als die eines langen Kampfes zwischen zwei grundlegend verschiedenen Auffassungen von den Möglichkeiten des Menschen. In Europa gibt es, wie Mann sagte, einmal eine intellektuelle Strömung, die auf der Renaissance und der Aufklärung gründet und die glaubt, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Ihr zufolge ist Fortschritt garantiert, solange sich die Menschen möglichst frei in einer Gesellschaft entfalten können, die auf liberalen und demokratischen Prinzipien aufbaut. Thomas Mann sprach von der „Freiheit ihrer Nichtigkeit“, was nicht als Kompliment gemeint war. Dieses Ideal habe in England und Frankreich Gestalt angenommen. Es beruhe auf einem sonnigen, oberflächlichen Optimismus, der vom „Zivilisationsliteraten“, wie Thomas Mann ihn nannte, verkörpert wird, das heißt, jemandem, der alles weiß und nichts versteht. Nietzsche hatte sie Haarspalter 344

Der Jesuit und der Humanist

genannt. Übrigens dachte Thomas Mann hierbei nicht nur an die Franzosen und Engländer, sondern auch an seinen Bruder Heinrich, der die autoritären Tendenzen des Kaiserreichs scharf kritisierte. Dem stehen laut Thomas Mann alle gegenüber, die vom Mittelalter, dem Mutterschoß der Zeiten, und der Romantik geformt wurden. Sie sind sich der dunklen Seiten des Menschen bewusst, seiner irrationellen Triebe und ungezügelten Leidenschaften, und ihnen ist klar, dass nur Recht und Ordnung diese Triebe zügeln können, um ihnen Richtung zu verleihen und so zu einer inneren Freiheit zu gelangen, die viel tiefer gegründet ist, weil sie die tiefsten Seiten des Menschen berücksichtigt. Vor allem die Deutschen waren sich seit dem Mittelalter immer der wahren Natur des Menschen stark bewusst. In der Epoche der Romantik griffen sie auf dieses Erbe zurück, wandten sich dazu von flüchtigen Zukunftsidealen ab und erlegten sich selbst eine Askese der Ehrlichkeit auf, unterwarfen sich der Härte der Existenz im Hier und Jetzt.1 Im Ersten Weltkrieg ginge es um eben diese Prinzipien, darum wollte Thomas Mann mit seinen Betrachtungen alle Landsleute zum Durchhalten ermutigen; schließlich stünden sie auf der guten Seite der Geschichte. Sechs Jahre später kam Thomas Mann in seinem nun endlich vollendeten Roman auf die Trennungslinie zwischen den beiden großen Traditionen zurück, die seiner Meinung nach noch immer Europa teilten. Inzwischen hatte er das Lager gewechselt, hatte sich mit seinem Bruder und der Weimarer Republik ausgesöhnt, was jedoch nicht bedeutete, dass er nun die Unterschiede zwischen der mittelalterlichtheokratischen und der aufgeklärt-humanistischen Strömung anders beschrieb, er beurteilte sie nur anders. Bevor der junge Hans Castorp, die Hauptfigur in Der Zauberberg, im Sommer 1914 zu den Waffen gerufen wird, hält er sich sieben Jahre lang in einem Sanatorium auf. Dort begegnet er einer Reihe sonderbarer Personen, wie dem italienischen Humanisten Lodovico Settembrini, ein Anhänger der Aufklärung, und dem österreichischen Jesuiten Leo Naphta, ein Bewunderer des Mittelalters. Die beiden Herren versuchen in mehreren heftigen Disputen, Castorp davon zu überzeugen, sich ihrer Partei anzuschließen. Schließlich entscheidet sich Castorp für Settembrinis Humanismus, eher aus Sympathie für ihn als aus intellektueller Überzeugung, 345

Schlussbetrachtung

denn Naphta hat in den Streitgesprächen fast immer die besseren Argumente und treibt Settembrini wiederholt in die Enge. Zum Beispiel bemerkt Naphta nach einem feurigen Plädoyer Settembrinis über die Notwendigkeit des Weltfriedens trocken, dass der dann anscheinend erst ausbrechen darf, nachdem Italien Südtirol von Österreich zurückerobert hat.2 Solche scharfen Sprüche lassen vermuten, dass Thomas Manns Bekehrung zur liberalen Demokratie und den Idealen der Aufklärung 1924 noch ganz frisch war. Naphta hat nicht nur die besseren Argumente, er versteht es, alles so darzustellen, als hätten sowohl Renaissance als auch Aufklärung, Wissenschaft und Fortschrittsglaube abgedankt und seien nur noch eine Angelegenheit vertrockneter alter Männer wie Settembrini. Die antike Bildung war demnach am Ende und die zweitklassigen Gedichte eines mittelmäßigen Verseschmiedes wie Vergil wurden endlich als das entlarvt, was sie sind: seelenloses Geschreibsel. Es sei Wahnsinn zu denken, dass junge Menschen immer noch in humanistischen Gymnasien geformt werden; Ausstellungen und Filme hätten längst die Schule ersetzt. Lesen und Schreiben seien überschätzte Tugenden: Eine Generation neuer Analphabeten erhebt sich, geformt nach dem Vorbild mittelalterlicher Dichter wie Wolfram von Eschenbach, der selbst ein Analphabet war.3 Die Jugend wolle nicht Wissen, sondern Verständnis, sie habe genug von dem ganzen humanistischen Geschwätz und verlange nach einer Wiedergeburt des Mittelalters. Was diese Wiedergeburt alles beinhaltet, kommt in einer Diskussion über die Anwendung von Körperstrafen in der Schule zur Sprache. Naphta behauptet darin, dass die jungen Leute nicht länger Freiheit und Entfaltung wünschten, sondern sich dem Höheren unterwerfen wollten, sich nach Gehorsam und Zwang sehnten. Sie wollten ihren eigenen Willen und Verstand verlieren und aufgehen in einer neuen Gemeinschaft, in der das „kritische Subjekt“ in einem mystischen Verbundenheitsgefühl untergeht. Die Zeit sei reif für den absoluten Befehl, für eine eiserne Bindung, für den Terror. Das sei auch dringend nötig, weil die Menschen schwache, sündige Wesen seien. Diese Ansicht hatte schon Papst Innozenz III. geäußert, etwa 1195 in seinem klassischen Traktat De miseria humanae conditionis (Über das Elend der mensch346

Der Jesuit und der Humanist

lichen Existenz), in dem er scharfzüngig das mittelalterliche pessimistische und asketische Lebensgefühl beschrieb. Nur Disziplin, Leiden und Entsagung halten demnach den Menschen auf dem rechten Weg. Krankheit sei keine Schande, weil der Kranke mit seinem gebrechlichen Körper alle Menschen ständig daran erinnere, wie verdorben und schwach ihre Seele sei. Darum habe die heilige Elisabeth von Thüringen die Wunden der Aussätzigen geküsst und sich von ihrem Beichtvater, Konrad von Marburg, bis aufs Blut geiseln lassen.4 Leiden, Askese und Gewalt reinigen nach Naphtas Meinung das Herz und festigen die Gemeinschaft: „Das ist es, was ich die Notwendigkeit des Terrors nenne.“5 Auch die moderne Wissenschaft hat durch ihre, Naphtas Meinung nach, lächerliche Forderung nach Empirie wesentlich zur Einsamkeit und Entfremdung des modernen Menschen beigetragen. Die Wissenschaftler müssten sich wieder bewusst machen, dass sie nicht berufen sind, die Wahrheit zu entdecken, sondern dazu, Gemeinschaft zu stiften. Was die Menschen zusammenhalte, sei nicht empirische Wissenschaft, sondern Glaube. Die Aufgabe der Wissenschaftler sei sekundär, wie noch die scholastischen Theologen genau wussten: Sie müssten lediglich den Glauben, der die Menschen zusammenhält, erklären und begründen. Triumphierend erklärt Naphta, dass darum die Zeit reif sei, sich von den heliozentrischen Theorien des Kopernikus, die die Erde und den Menschen auf bedeutungslose Staubkörnchen im Weltall reduzieren, zu verabschieden und zurückzukehren zur ptolemäischen Theorie, die den Menschen in den Mittelpunkt eines geordneten Universums stellt.6 Zum Glück sei diese „moderne“ Zeit, in der der Mensch einsam und sich selbst überlassen war, vorbei. Die Zukunft gehört, Naphta zufolge, dem neuen Gottesstaat, den man nach der mittelalterlichen Kirche formen wird. Die Kirchenväter wüssten genau, dass die Menschen anfangs alles gemeinsam besessen haben, dass es kein Mein oder Dein gegeben hat. Erst nach dem Sündenfall sei die Habsucht entstanden, das Unvermögen zu teilen, das zur Idee von Eigentum und Privatbesitz führte. Dass Habgier hier auf Erden unheilbar sei, gaben die Kirchenväter zu, doch sie taten alles, um ihre Auswüchse zu bekämpfen. Sie 347

Schlussbetrachtung

bekämpften das Prinzip des Marktes, verboten die Erhebung von Zinsen und verordneten, dass man Güter nur zu höheren Preisen verkaufen dürfe, wenn sie durch Bearbeitung einen echten Wertzuwachs erfahren haben. Der kirchliche Gottesstaat sei untergegangen, doch nun erstehe er im kommunistischen Heilsstaat neu. Das Proletariat habe die Aufgabe der mittelalterlichen Priester übernommen, es habe die Herrschaft der Kaufleute und Spekulanten beendet und dadurch den Weg für die neue staaten- und klassenlose Herrschaft Gottes auf Erden geebnet.7 Mit dem Jesuiten Naphta hat Thomas Mann eine Figur geschaffen, die die Kritik an all denen verkörpert, egal ob politisch links oder rechts, die im katastrophalen Verlauf des Ersten Weltkrieges den unumstößlichen Beweis dafür sahen, dass der Kapitalismus und die liberale Demokratie gescheitert waren und keine Zukunft mehr hatten. In Naphtas Worten über den neuen Gottesstaat erkennt der Leser die Ideen hinter der Russischen Revolution und die Hoffnung eines Sozialisten wie Ernst Bloch auf ein kommunistisches, apostolisches Reich Christi.8 Wenn Naphta Gehorsamkeit, Gewalt und Terror verherrlicht und das Ende der klassischen Bildung verkündet, hört der Leser darin die bitteren Proteste und den Nihilismus der deutschen Jugendbewegung oder der ehemaligen Frontsoldaten, die alles kurz und klein schlagen wollten, um auf den Trümmern ein Drittes Reich, „das neue Mittelalter“, aufzubauen.9 Mit anderen Worten hat Thomas Mann hier sowohl Kritik als auch Zukunftsträume in auf das Mittelalter bezogene Erinnerungen und Bilder gehüllt. Obwohl sich Mann selbst, als er dies niederschrieb, längst von dem Glauben verabschiedet hatte, er könne vom Mittelalter mehr lernen als von Renaissance und Aufklärung, zeigte er auf beklemmende Weise, wie stark und gefährlich die Überzeugung vieler Zeitgenossen war, dass man Europa nur durch eine Wiedergeburt des Mittelalters zurück auf den rechten Pfad bringen könne.

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Das Mittelalter als Mutterschoß

Das Mittelalter als Mutterschoß Wie es so weit kommen konnte, zeigt die Geschichte der Entdeckung des Mittelalters, die in den vorigen Kapiteln erzählt wurde. Vielleicht wäre es gut, noch in wenigen Worten zusammenzufassen, wie das Mittelalter so zum Bild dessen werden konnte, was ich als Echtheit, Eigenart und Gemeinschaft bezeichnet habe, drei Begriffe, die in Leo Naphtas grauenhaften Ideen zu absurden Proportionen ausarten. Die Geschichte beginnt im 16. Jahrhundert. Die Humanisten ächteten die 1000 Jahre vor der Renaissance zwar als eine Epoche, die man lieber der Vergessenheit anheimgeben sollte, trotzdem brauchten sie diese Jahrhunderte, um das zeitgenössische Geschehen sinnvoll interpretieren zu können. In den antiken Quellen stand kein vernünftiges Wort über die Geschichte der Länder und Völker im Norden, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie den Batavern. Humanistische Gelehrte, die Fürst und Vaterland besingen wollten, mussten sich mit der mittelalterlichen Vergangenheit beschäftigen, um dort die Heldentaten zu finden, die ihr eigenes Volk zu etwas Besonderem machten, egal ob sie das nun wollten oder nicht. Das bedeutete, dass das Studium des Mittelalters von Anfang an im Dienste des Besonderen, des Partikularen stand, also all dessen, was Franzosen, Deutsche, Niederländer und Engländer voneinander unterschied. Die antike Literatur und klassische Kultur verbanden alle gebildeten Bürger Europas miteinander, doch durch das Studium des Mittelalters wurde ihnen mehr bewusst, was es bedeutete, Franzose, Deutscher, Niederländer oder Engländer zu sein. Ersteres blieb bis weit ins 17. Jahrhundert hinein viel wichtiger als Letzteres, doch die Grundlage für einen Blick auf das Mittelalter war gelegt, der das Besondere, das Trennende betonte und nicht das Universelle, Bindende. Auch wenn im Mittelalter eine Kultur existierte, die sich selbst ausdrücklich als universell verstand, nämlich die der lateinischen Christenheit, konnte sich diese nie zum gemeinsamen Erbe auswachsen, weil Europa gerade in punkto Religion im 16. Jahrhundert gespalten wurde. Auch hier galt, dass die einzige, von Katholiken und 349

Schlussbetrachtung

Protestanten als gemeinsam und bindend anerkannte Vergangenheit, das Erbe des alten, vorchristlichen Römischen Reiches war. Im 18. Jahrhundert begann der Glanz der antiken Vergangenheit zu verblassen. Die Entdeckung neuer Weltteile und die wissenschaftliche Revolution beendeten die unangreifbare Autorität der antiken Klassiker. Das Korsett der antiken Literatur wurde zu eng; auf einmal wirkten Dichter wie Vergil künstlich, überreif und gefühllos, nicht länger imstande auszudrücken, was in den Herzen der Menschen vorging. Ironischerweise war es die „Entdeckung“ von Ossians Gedichten im Jahre 1760, die dem lesenden Publikum die Augen für die mittelalterliche Literatur öffnete, die es auf einmal als gewaltigen Reichtum schätzte. Das war eine Poesie, die geradewegs aus dem Herzen kam, unkonventionell und mit der nötigen Kraft, Gefühle in Worte zu fassen. Rousseaus Kritik an der Leere der modernen, vernunftgesteuerten Gesellschaft und am Kult des Gefühls, der nach 1760 ganz Europa im Griff hielt, hüllte sich ins Gewand des Mittelalters, wie unter anderem die plötzliche Popularität der gothic novel zeigt – ein an und für sich frivoles Genre, das merkwürdigerweise bis auf den heutigen Tag einen überproportional großen Einfluss auf die Vorstellung vom Mittelalter ausübt. In diesen Geschichten, die in Schlossruinen und unterirdischen Gewölben alter Abteien spielten, wurden Gotik und Mittelalter endgültig assoziiert mit einer Welt der Finsternis und der dämonischen Kräfte, der Zauberer und Vampire, mit düsteren Abgründen, in die das Licht der Vernunft nicht dringen kann – das Mittelalter als Unterleib der Aufklärung. Gerade was die Humanisten am Mittelalter so barbarisch und grauenhaft gefunden hatten, erwies sich nun als anziehendster Aspekt dieser Epoche, die raue Schlichtheit, das Emotionale, Sinnliche, Mysteriöse, Intuitive, Ursprüngliche und Authentische. Es war Herder, der in seinen philosophischen und historischen Schriften die beiden Elemente des Partikularen und Authentischen miteinander verknüpft hat. In seiner Kritik an den Ideen der französischen Aufklärung zeigte Herder, dass eine alle Menschen umfassende Menschheit ein eschatologischer Begriff war, ein Zukunftsideal. In seiner Zeit hielt Herder eine universelle Zivilisation, wie die Franzosen sie vertraten, für unmöglich, weil sie höchstens aus oberflächlichen Kon350

Das Mittelalter als Mutterschoß

ventionen und guten Manieren bestehen konnte, zugleich jedoch die tiefsten Regungen der menschlichen Seele erstickte. Authentisches Leben und authentische Zivilisation wären nur möglich, wenn man das Eigene kultiviert und entwickelt. Primitivität und Besonderheit waren für Herder zwei Seiten derselben Medaille. Dem fügte er noch das Element der Gemeinsamkeit hinzu. Echte, authentische Menschlichkeit wäre nur in einer starken, eng umschriebenen und homogenen Gemeinschaft möglich, die tief in den eigenen sprachlichen und kulturellen Traditionen verwurzelt ist. Nur wenn ein Volk das Eigene, Authentische entwickelte, könnte es der ganzen Menschheit dienen, und einem solchen gemeinsamen Projekt müsste jedes Individuum seine persönlichen Talente unterordnen. Hiermit legte Herder die Grundlage zu einer Suche nach dem Jungen, Reinen und Unverdorbenen, eine Suche, die im Raum stattfinden konnte, dann wurde sie zur Anthropologie, oder aber in der Zeit, dann wurde sie zur Geschichte, vor allem zu der des Mittelalters. Anscheinend hat Herder nicht wirklich erkannt, dass er mit seinem Ruf nach Eigenart und Authentizität das Mittelalter auf den Thron erhob, der leer stand, seit die alles umfassende Autorität des Altertums angezweifelt wurde. Dennoch tat er genau das. Der Ursprung der europäischen Völker lag im Mittelalter, das war für Herder genauso selbstverständlich, wie es das für die Humanisten gewesen war. Doch weil Ursprung im 18. Jahrhundert nicht mehr nur die Bedeutung von Anfang besaß, sondern auch mit Nebenbedeutungen wie authentisch, primitiv und unverdorben befrachtet wurde, wurde das Mittelalter auf diese Weise zum Vorbild für die Gestaltung der Nation erhoben, denn nur hier, in der reinsten Form, konnte jedes Volk sehen, was es im Grunde war und wieder werden sollte. Natürlich war auch eine andere Vorstellung vom Mittelalter möglich, die sich viel näher bei den Idealen der Aufklärung und des Liberalismus befand. Der Schotte William Robertson sagte viele hässliche Dinge über das Mittelalter, aber er erkannte auch, dass die scholastischen Theologen scharfsinnige Denker gewesen sind, die mit ihrer Angewohnheit, alles infrage zu stellen, den Weg für die spätere wissenschaftliche Revolution geebnet hatten. Voltaire war der Meinung, dass 351

Schlussbetrachtung

im Mittelalter nicht nur die Grundlage für die bürgerliche Freiheit und eine starke Staatsgewalt gelegt worden war, sondern auch für die auf Handel aufgebaute Wirtschaft, die Europa in späteren Zeiten zum wohlhabendsten und zivilisiertesten Kontinent gemacht hat. Augustin Thierry betrachtete die städtische Revolution des 11. Jahrhunderts in Nordfrankreich als erste Äußerung jenes Freiheitsdranges, durch den sich das französische Volk später immer so vorteilhaft von anderen Völkern unterschieden hat. Und Michelet dachte, das französische Volk habe bereits im Mittelalter seine historische Bestimmung erreicht, weil es sich aus seiner geografischen Spaltung erhob und zu seiner historischen Einheit bekannte, die zum ersten Mal in Jeanne d’Arcs Widerstand gegen den englischen Besatzer Gestalt annahm. Heinrich Luden pries die unabhängigen Bauern und freien Städte in Deutschland, die durch die Misswirtschaft der Kaiser in Verfall geraten waren und den Landesfürsten unterworfen wurden, die jedoch nun wieder ihre Freiheit erringen könnten, wenn sie sich zu einer kraftvollen deutschen Nation vereinigen würden. Der beste Beweis dafür, dass eine liberale Geschichte des Mittelalters möglich war, ist die englische Historiografie, die sich im 19. Jahrhundert zu einem großen Lobgesang auswuchs auf die ungebrochene Zunahme von Freiheit und Wohlstand in England seit der Invasion der Angeln und Sachsen, die in der Ausstellung der Magna Carta 1215, der Einberufung des ersten Parlaments 1295 und der Glorious Revolution 1688 gipfelte. Der Historiker Edward Freeman beschrieb dies im 19. Jahrhundert mit folgenden Worten: „Unsere ganze Geschichte befindet sich im Besitz der Liberalen.“10 Eine so selbstsichere Feststellung wäre auf dem europäischen Kontinent unmöglich gewesen. Nach den missglückten 1848er-Revolutionen verlor die liberale Vorstellung vom Mittelalter auf der ganzen Linie an Terrain. Vielsagend ist in dieser Hinsicht, dass sich Michelet 1855 endgültig vom Mittelalter verabschiedet hat. Noch länger vom Mittelalter zu schwärmen, hätte seiner Ansicht nach nur die reaktionären Kräfte in Frankreich, an erster Stelle die katholische Kirche, unterstützt. Die Macht, die die Kirche vor allem auf Frauen ausübte, war Michelets persönliche Obsession, doch er spürte deutlich, dass die mit352

Das Mittelalter als Mutterschoß

telalterliche Vergangenheit immer mehr zu einem Instrument in den Händen aller Gegner der liberalen Demokratie wurde, zu denen er übrigens, außer der Kirche, auch die Anhänger von Saint-Simon rechnete.11 Es war Jacob Burckhardt, der mit seiner scharfen Trennung zwischen einerseits dem Mittelalter als einer Zeit von Gemeinschaft und Kindlichkeit und andererseits der Renaissance als Geburt der rationalen und individualistischen modernen Gesellschaft endgültig dafür sorgte, dass das Mittelalter praktisch ausschließlich zur Domäne aller Kritiker der liberal-demokratischen Gesellschaft wurde, also vor allem der Katholiken, Sozialisten und ethnischen Nationalisten. Das Gefühl, dass die mittelalterliche Gesellschaft ein später verlorengegangenes Talent für Gemeinschaft und Authentizität besessen hat, blieb jedoch nicht auf diese drei Gruppen beschränkt, sondern war um 1900 eine viel weiter verbreitete Einsicht. Einer der Begründer der modernen, wissenschaftlichen Soziologie, Ferdinand Tönnies, war weder Katholik, noch Sozialist, noch ein begeisterter Nationalist. Dennoch benutzte er die Unterscheidung zwischen der warmen Gemeinschaft des mittelalterlichen Dorfes und der kalten Gesellschaft der modernen Stadt, um die moderne Gesellschaft zu analysieren und ihre Unmenschlichkeit an den Pranger zu stellen.12 Auf dem europäischen Kontinent hatte Herders Auffassung vom Mittelalter lange vor 1914 den Streit endgültig für sich entschieden. Als das zerstörte, zersplitterte Europa nach dem Ersten Weltkrieg wieder aufgebaut werden musste, konnte sich Herders Ideal vom Mittelalter als einer Zeit geschlossener, enger Gemeinschaften, die tief in der Tradition verwurzelt waren und durch einen starken Glauben zusammengehalten wurden, als einer Zeit der Kindlichkeit und Abhängigkeit, des Gehorsams, Opfersinns und der Disziplin, als einer Zeit voller Gefühl, Intuition und primitiver Gewalt zum besonderen Instrument radikaler Politiker und sozialer Reformer entwickeln, sowohl linker als auch rechter, die die Gemeinschaft über das Individuum stellten, für die Gehorsam wichtiger war als Verantwortung und die lieber an Instinkte und Triebe appellierten als an den kritischen Verstand.

353

Schlussbetrachtung

Das Ende des Mittelalters Am Beispiel von Thomas Mann haben wir gesehen, was für wahnsinnige Formen die Schwärmerei für das Mittelalter annehmen konnte. Er warnte völlig zu Recht, obwohl das nicht die ganze Geschichte ist. Hier muss man zwei Anmerkungen machen. Erstens wäre es ein großer Irrtum, anzunehmen, dass Herders Ansichten vom Mittelalter eine Leugnung der Aufklärung enthalten, und dass seine Philosophie des Volksgeistes zu antidemokratischen, totalitären Experimenten führen musste. Davon gehen aber anscheinend viele heutige Mediävisten aus und versuchen deshalb, Herder zu neutralisieren, indem sie behaupten, dass er die Gegenaufklärung repräsentiere und seine Vorstellungen von Eigenart, Echtheit und Gemeinschaft zutiefst antimodern seien. Die Geschichte des Mittelalters könne nur eine Geschichte des Andersseins, des Protestes sein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde sogar versucht, dem eine positive Wendung zu geben: Man behauptete, Mediävisten seien nur dazu bestimmt, das Marginale und Unterdrückte in der Vergangenheit des Westens offenzulegen, um so die Machtmechanismen der vorherrschenden männlichen, weißen und heterosexuellen Elite zu entlarven.13 Dass die Amerikaner das Mittelalter so betrachten, ist verständlich, weil die Vereinigten Staaten nur eine Geschichte der Moderne kennen, die von der Renaissance über die Aufklärung zum liberalen Kapitalismus und der marktwirtschaftlichen Produktion im 19. und 20. Jahrhundert verläuft. Ideale wie Solidarität und Gemeinschaft spielen darin keine Rolle, wie sie das auch in der amerikanischen Politik nie getan haben. Seltsamer ist, dass zur Zeit auch deutsche Mediävisten ins gleiche Horn stoßen.14 Erklären kann man das sicher dadurch, dass sich die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Scham vor ihren Landsleuten oder sich selbst weitgehend mit der amerikanischen Sicht der Moderne (die New Orthodoxy) identifiziert haben und darum nicht mehr sehen wollen oder können, dass in der deutschen Aufklärung und Romantik ein ganz anderer Weg in die Moderne eingeschlagen wurde, der wertvolle Elemente enthielt und nicht unbedingt auf Tod und Vernichtung hätte hinauslaufen müssen.15 354

Das Ende des Mittelalters

Herder ist noch immer so kontrovers, dass manche im Kampf gegen seine Ansichten über Volk und Gemeinschaft sogar persönlich werden und ihm vorwerfen, dass er nur ein verbitterter, in den Pariser Salons unerwünschter Provinzler war, der darum die universelle Kultur der Aufklärung verwarf, um in den ostpreußischen Wäldern über die Authentizität der Volkskultur zu brüten. 16 Das scheint mehr über Sandalls Karriere auszusagen als über Herder selbst. Wie auch immer Herders persönliche Eigenschaften gewesen sein mögen, er hat den Finger sehr präzise auf einen wunden Punkt in der optimistischen Aufklärungsphilosophie gelegt. Gewiss, die Menschen wollen frei sein und sich als Individuum entfalten können, insofern hatten die philosophes Recht, aber sie wollen auch Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit, Solidarität und Sicherheit, und das haben die Aufklärer weniger berücksichtigt. Nach der Überzeugung pessimistischer Historiker wie Mark Mazower hat die europäische Geschichte im 20. Jahrhundert sogar bewiesen, dass die Europäer nur allzu gern bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben, sobald sie ihre Sicherheit bedroht glauben.17 In den beiden Jahrhunderten nach Herder, und besonders durch seine Ideen getragen, legitimierte man das Verlangen nach Gemeinschaft und Solidarität damit, dass man sich auf das Mittelalter berief, weil es in dieser Zeit angeblich ein ursprüngliches, reines Gemeinschaftsgefühl gegeben hatte, das für die Gestaltung der modernen Gesellschaft zugleich als warnendes und inspirierendes Vorbild dienen konnte. Nur jemand, der sehr einseitige Ansichten davon hat, was modern eigentlich ist, kann so ein Verlangen antimodern nennen.18 Von den vielen Bewunderern des Mittelalters, die in diesem Buch zu Wort gekommen sind, wollte keiner wieder zurück ins Mittelalter oder am Rande der Gesellschaft eine alternative Kommune gründen, in der nur selbstgestrickte Kleidung getragen wird. Ein Mann wie Wilhelm von Ketteler, Bischof, Aristokrat und zugleich Begründer des Rheinländischen Modells, wollte die ausgebeuteten Arbeiter nicht zurück in die Dörfer schicken, aus denen sie kamen, damit sie dort wieder unter der Aufsicht von Graf und Pastor das Land beackern. Er wollte, inspiriert von dem, was er glaubte über Meister und Gesellen in den mittelalter355

Schlussbetrachtung

lichen Zünften zu wissen, die Organisation der Fabriken dahingehend verändern, dass die Arbeiter Mitbestimmung und Entscheidungsfreiheit über ihr eigenes Geschick erhalten. Am Beispiel Kettelers und anderer gemäßigter Reformer sehen wir, dass die Sehnsucht nach Gemeinschaft nicht unbedingt zu den Schrecken des Kommunismus oder Nationalsozialismus führen musste, sondern dass sie in Europa auch in Strömungen wie Christdemokratie, Sozialdemokratie und sozialer Liberalismus Gestalt angenommen hat, und zwar in einer Weise, die sich hervorragend mit individueller Freiheit und Marktwirtschaft vereinbaren lässt.19 Die Geschichte des Mittelalters handelt nicht von Antimodernität oder Marginalität, es ist die Geschichte einer zweiten Form von Modernität. Aufklärung und Romantik schließen sich nicht aus, sie ergänzen einander und bilden gemeinsam das Fundament, auf dem die europäische Gesellschaft immer noch beruht. Übrigens wurde auch im 20. Jahrhundert noch einmal ernsthaft versucht, die mittelalterliche Vergangenheit auf liberale Weise zu interpretieren und zu beweisen, dass Universalität, Individualität und Rationalität in jenen Jahrhunderten mindestens ebenso wichtig waren wie Eigenart, Gemeinschaft und Authentizität. Der Ansatz dazu kam aus den Vereinigten Staaten. 1928 löste die Studie von Charles Homer Haskins über die „Renaissance des 12. Jahrhunderts“, wie er sie nannte, eine Flut von Veröffentlichungen aus, in denen aufgezeigt wurde, dass man den Ursprung vieler, wenn nicht der meisten, Institutionen, Normen und Werte, die für die moderne Gesellschaft wichtig sind, nicht in der Renaissance und der Reformationszeit suchen muss, sondern im Mittelalter, vor allem im späten 11. und 12. Jahrhundert. Für jeden, der die mittelalterliche Epoche so betrachtet, ist sie nicht länger jene barbarische Zeit, von der sich Europa um 1500 mit dem aufkommenden Protestantismus und Individualismus verabschiedet hat, und sie ist auch keine Periode der Antimodernität, sondern gerade der Anfang für alles, was auch heute noch das Wesen der modernen europäischen Kultur ausmacht. Mit den Worten von Thomas Nipperdey: „Die moderne Welt mit ihrer Pluralität von Konfessionen und Weltanschauungen, von Staaten, Klassen und Parteien, die alle im Rahmen eines zu356

Das Ende des Mittelalters

sammenhängenden, dynamischen Systems funktionieren, ist aufgebaut auf Grundlagen, die im anscheinend weit zurückliegenden Mittelalter gelegt wurden.“20 Auch in der katholischen Kirche entstand nach dem Zweiten Weltkrieg eine Bewegung, die zeigen wollte, dass die mittelalterliche Vergangenheit eine liberalere Gestaltung der Zukunft inspirieren kann. Eine Reihe brillianter Kirchenhistoriker und Theologen, bekannt als die Generation der „neuen Theologie“, erforschte in den 40er-, 50er- und 60erJahren des 20. Jahrhunderts begeistert die Zeit der Kirchenväter und des Mittelalters, um zu zeigen, dass es sogar für die römische Kirche möglich wäre, die autoritären Strukturen und die geisttötende, sentimentale Frömmigkeit des 19. Jahrhunderts durch eine Neuinterpretation ihrer mittelalterlichen Vergangenheit abzuschütteln. In einer meisterhaften Studie über die geistige Lektüre der Heiligen Schrift beschrieb Henri de Lubac, wie grundlegend die Bibel für die mittelalterliche Frömmigkeit und Liturgie war. In den historischen Schriften von Yves Congar und Brian Tierney offenbarte sich eine Kirche, die eine viel pluralistischere Organisationsform besessen hatte und in der viel öfter beraten wurde als in der bürokratischen, zentralisierten Kirche des 19. und 20. Jahrhunderts. Marie-Dominique Chenu und Joseph Ratzinger, später Papst Benedikt XVI., widersetzten sich in ihren Büchern dem sterilen Dogmatismus der Neoscholastik und zeigten eine andere Seite der mittelalterlichen Theologie, die gelebter Frömmigkeit viel näher stand und die sich ihrer historischen Bestimmtheit bewusst war.21 Wie wichtig diese Werke auch gewesen sein mochten, um immer wieder darauf hinzuweisen, dass nicht das 16. sondern das 12. Jahrhundert einer der großen Wendepunkte in der Geschichte Europas war, verbirgt sich in diesem Ansatz die große Gefahr, der auch die nationalen Historiker des 19. Jahrhunderts erlegen sind, nämlich dass ein Historiker nur Ereignisse beachtet, die seiner Ansicht nach noch für die moderne Welt wichtig sind, während er den Rest außer Betracht lässt. Wie blind eine zu intensive Beschäftigung mit der Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit machen kann, erkennt man sehr schön an Beryl Smalleys klassischer Studie aus dem Jahre 1952 über die 357

Schlussbetrachtung

Geschichte der Bibelauslegung im Mittelalter. Hierin verteidigt sie die These, dass das 12. Jahrhundert einen grundlegenden Bruch in der Geschichte der Exegese bedeutet habe, weil sich die Exegeten damals von Allegorie und Metapher verabschiedet hätten, um sich auf eine philosophischere Textauslegung zu verlegen, gegründet auf den Text und nichts anderes als den Text. In der dritten Ausgabe ihres Buches, erschienen 1984 kurz vor ihrem Tod, gestand Smalley in einem neuen Vorwort, einer retractatio, dass sie sich zu sehr von ihrem Verlangen habe leiten lassen, den Anfang der Moderne zu entwirren, und dadurch übersehen habe, dass Allegorie und Metapher nach 1200 noch jahrhundertelang die wichtigsten Methoden zur Bibelauslegung geblieben sind.22 Das sprechendste Beispiel für diesen Ansatz und seine Schwäche ist das Handbuch von Richard Southern über die Geschichte der Christenheit im Mittelalter aus dem Jahre 1970.23 Brillant entwirft Southern ein Bild der Kirche als der großen zivilisierenden und humanisierenden Institution des Westens, als des bleibenden Fundaments der europäischen Kultur. Was er mit diesem Buch sowie mit seinen anderen Schriften bezweckte, erläuterte er 1988 zum ersten Mal öffentlich, als er in einer Ansprache betonte, dass Religion das Fundament jeder Kultur und Zivilisation sei: „Der Mensch ist ein rationales Wesen, dessen Rationalität sich vornehmlich in seiner Fähigkeit, Gott zu erkennen und anzubeten, zeigt [...] die Anbetung Gottes ist das einzige Fundament, auf dem jede menschliche Leistung aufbauen kann.“24 Um das in seinem Werk über die mittelalterliche Kirche behaupten zu können, musste er allerdings die Inquisition, die Kreuzzüge und die Judenpogrome außer Betracht lassen. Die passten nicht in sein Konzept der christlichen Kirche als dem Fundament, auf dem das moderne Europa errichtet ist, sowie der Religion als Grundlage jeder Zivilisation tout court. Dieselbe Einseitigkeit gilt auch für die Generation der neuen Theologie. Darum berührt es um so mehr, dass Southern in seinem Buch über die Entwicklung der Scholastik im 12. Jahrhundert, seinem historischen Testament, auf die These zurückkommt, die sich durch sein ganzes Lebenswerk zog, nämlich dass das 12. Jahrhundert der Anfang des 358

Das Ende des Mittelalters

modernen Europas sei. Gegen Ende seines Lebens beschränkte er sich darauf, dass im 12. Jahrhundert jene Ideen und Institutionen geschaffen worden seien, die Europa bis Ende des 18. Jahrhunderts beherrscht haben.25 Wenn sich zwei eminente Vertreter der Modernisierungsthese gegen Ende ihrer Laufbahn gezwungen fühlten, ihren Standpunkt so radikal zu überdenken, dann zeigt allein das schon, dass alle, die einen bestimmten Zeitpunkt im Mittelalter als Ursprung des Modernen, Liberalen und Individuellen bestimmen wollen, genauso wie ihre Vorgänger im 19. Jahrhundert in einer Sackgasse sitzen. Im Nachhinein kann man sagen, dass die Werke englischer Historiker wie Southern, Smalley, Colin Morris und Alexander Murray, aber auch die von Katholiken wie Congar und Tierney, nur ein letzter Versuch waren, nach dem Zweiten Weltkrieg das Mittelalter doch wieder mit einer neuen Geschichte aufs Tapet zu bringen, und dies in einem Europa, das sich inzwischen wieder zu den Segnung der liberalen Demokratie bekannt hatte.26 Es erwies sich als vergeblicher Versuch. Die großen Geschichten über das Mittelalter, die seit dem 18. Jahrhundert das Schicksal des modernen Europas mitgestaltet haben, haben ihre Kraft verloren. Während man nach dem Ersten Weltkrieg die allgemeine Erschütterung noch in einer Geschichte über das Mittelalter verarbeiten konnte, hat der Zweite Weltkrieg dem endgültig ein Ende gesetzt.27 Wie wahr es auch ist, dass Begriffe wie Gemeinschaft, Rittertreue, Aufopferungsbereitschaft, Solidarität, Eigenart, Authentizität und alle anderen Tugenden, die in Geschichten über das Mittelalter gepriesen werden, nicht zur Vernichtung des Individuums in einer totalitären Gesellschaft führen müssen, sie sind trotzdem viel zu vorbelastet, als dass sie noch als Leitfaden für eine Gesellschaft dienen könnten, die zu tief in den Abgrund der Unmenschlichkeit geschaut hat, um solche edlen Begriffe noch ernst zu nehmen. Selbst in einem unschuldigen, jedoch zutiefst mediävalen und herderianischen Buch wie Tolkiens Lord of the Rings (1954) weckt die Beschreibung der schwarz uniformierten Schildwachen vor den Toren des Weißen Turms in Minas Tirith sofort Assoziationen mit anderen schwarzgewandeten Wäch-

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Schlussbetrachtung

tern, die andere Tore bewacht haben, hinter denen es keine Hoffnung mehr gab. Im Gegensatz zu unserem Bild von der Antike, wurden die alten Geschichten über das Mittelalter so durch den Dreck gezogen, dass man sie nicht mehr blank polieren und in ein neues Gewand stecken kann, um damit den europäischen Völkern zu helfen, ihre eigene Identität und ihren Platz in der Welt zu bestimmen. Diese Feststellung wurde noch bestätigt durch die grausigen Versuche einiger postkommunistischer Anführer in Osteuropa, wie Slobodan Milošević, durch Berufung auf die glorreiche, mittelalterliche Vergangenheit einen neuen Nationalismus anzufachen. „Die große Zeit, in der das Mittelalter die Gegenwart in ihrem Griff gehalten hat, ist abgeschlossen. [...] Mit dem Mittelalter kann man keinen Staat mehr aufbauen“, sagt der schweizer Mediävist Groebner zu Recht. Im Bewusstsein der europäischen Bevölkerung lebt das Mittelalter im Moment nur noch in der Unterhaltungskultur von historischen Filmen, nachgespielten Feldschlachten und aggressiven Computerspielen fort.28

Möglichkeiten einer neuen Periodisierung Ob eine neue Geschichte des Mittelalters möglich ist, kann nur die Zeit zeigen. Die Vergangenheit ist eine Grabbelkiste, aus der jede neue Generation Stücke und Fragmente herauszieht, um aus ihnen eine Geschichte zusammenzustellen, die helfen kann, die eigene Zeit besser zu verstehen. Es ist also keineswegs ausgeschlossen, dass das Mittelalter irgendwann in der Zukunft wieder ebenso relevant wird, wie es das einmal für linke wie für rechte Romantiker, Katholiken und Sozialreformer war. Darum wäre es vielleicht nützlich, einige Elemente zu nennen, die dazu beitragen könnten, zu einem neuen Verständnis des Mittelalters zu gelangen, das nicht auf den Kategorien von Herder und seinen Anhängern aufbaut. Am besten wäre es, obwohl politisch und kulturell vorläufig unmöglich, die ganze europäische Geschichte neu zu periodisieren. Dann könnte man die Epoche, die jetzt Mittelalter heißt, neu unterteilen, da360

Möglichkeiten einer neuen Periodisierung

mit sie etwas von dem schalen Beigeschmack, den sie nun besitzt, verliert. So eine neue Periodisierung kann an zwei Einsichten anknüpfen, die im Moment allgemein anerkannt sind, nämlich einerseits, dass eine tiefe Kluft zwischen dem besteht, was wir vorläufig noch das frühe und das späte Mittelalter nennen, während andererseits die „frühmoderne“ Zeit (von 1500 bis 1750) viel „mittelalterlicher“ ist, als dies bis vor kurzem noch angenommen wurde.29 Falls sich die Gelehrten nicht darauf einigen können – vor allem die Renaissance- und Reformationshistoriker haben ihre Schwierigkeiten damit –, werden die Studenten ihnen irgendwann den Weg weisen, weil für die neue Historikergeneration die Frühmoderne genauso geheimnisvoll und unzugänglich ist wie das Mittelalter. Die allermeisten Forscher beschränken sich lieber darauf, die Geschichte nach der Französischen und Industriellen Revolution, dem wahren Beginn der Moderne, zu untersuchen. Für sie bestehen kaum Unterschiede zwischen den theologischen Betrachtungen Newtons und denen der mittelalterlichen Scholastiker, sie finden beide ähnlich seltsam. Alles was sich vor 1800 ereignet hat, erhält immer mehr das Prädikat prämodern und präindustriell; eine weit zurückliegende Zeit, deren Studium mehr und mehr einem kleinen Kreis hochspezialisierter Experten vorbehalten bleibt. Es gibt also gute inhaltliche Gründe, die europäische Geschichte neu einzuteilen. Anscheinend wäre es am besten, die traditionelle Unterteilung in drei Perioden beizubehalten. Dreiteilungen sind nun einmal fest im menschlichen Geist verankert, und die Dreiteilung der Geschichte in Alt, Mittel und Neu scheint im kollektiven Gedächtnis Europas einen festen Platz einzunehmen. Die einzige verbleibende Möglichkeit, die Geschichte zu verändern, besteht demnach darin, mit der Eingrenzung der drei Perioden zu spielen, um stärker zu betonen, dass Westeuropa zwei entscheidende Perioden voller Veränderungen erlebt hat: die erste um das Jahr 1000, die zweite um das Jahr 1800. Natürlich sind diese Jahreszahlen lediglich Annäherungen. Der große Bevölkerungszuwachs setzt in Westeuropa vor 1000 ein, die wirtschaftliche Revolution erst 100 Jahre später. Für die Epochengrenze von 1800 kann man dasselbe sagen: Der entscheidende Mentalitätsumschwung der Aufklärung begann lange vor 1800, die Folgen der Industrialisierung 361

Schlussbetrachtung

waren erst nach 1850 deutlich zu erkennen. Runde Jahreszahlen bleiben jedoch leichter im Gedächtnis hängen, darum scheint es besser, die Jahreszahlen 1000 und 1800 zu benutzen, als Verweise auf und Symbole für diese Veränderungsperioden, die sich über einen viel längeren Zeitraum erstreckten. Das Ergebnis wäre also: die Antike bis zum Jahr 1000, das Mittelalter von 1000 bis 1800, und die Neuzeit ab 1800. Eine solche Periodisierung vermittelt ein viel deutlicheres Bild davon, wie es heutzutage um die europäische Kultur steht. Durch diese Periodisierung wird sofort klar, dass die moderne westliche Gesellschaft ihre Wurzeln nicht im 16. Jahrhundert hat, der Zeit von Renaissance und Reformation, ebenso wenig wie im 12. Jahrhundert, der Epoche des mittelalterlichen Humanismus, wie Southern sie nannte. Die moderne westliche Gesellschaft ist ein Kind der Aufklärung sowie der politischen und industriellen Revolutionen auf beiden Seiten des Atlantiks. Die drei charakteristischsten Züge dieser Gesellschaft sind die Industriegesellschaft, die Massenkultur und der nationale Staat, und dafür gibt es vor 1800 nichts Vergleichbares. Die Zeit davor gehört zu einer endgültig abgeschlossenen Vergangenheit; eine Zeit mit Dörfern, Kleinstädten, spärlichen Handelsströmen, Hausindustrie und Fürsten, jedoch ohne Nationen; eine Zeit, in der die Schriftkultur das Monopol einer kleinen Elite war, die untereinander auf Latein oder Französisch kommunizierte, und so gemeinsam eine Gelehrtenrepublik bilden konnten, die sich über alle Regionen Europas erstreckte. Die Grundlage für diese Kultur des Ancien Régime wurde im 11. und 12. Jahrhundert gelegt, und in den Gewaltexzessen der Amerikanischen, der Französischen sowie der Industriellen Revolution ging sie unter. Dies bedeutet nicht, dass sich das heutige Europa keineswegs als Erbe dieser verschwundenen Welt betrachten dürfte, doch um den richtigen Blickwinkel zu erhalten, müssen wir Abstand gewinnen und uns gemeinsam mit dem alten Talleyrand, der zur Zeit des Umbruchs lebte, vor Augen halten, dass diese Welt, egal wie angenehm sie einstmals für manche war, jetzt endgültig verloren ist.30

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Möglichkeiten für eine neue Geschichte

Möglichkeiten für eine neue Geschichte Eine Geschichte des Mittelalters, in der die Distanz zwischen damals und heute nie diskutiert wird, muss dazu führen, dass wesentliche Momente der mittelalterlichen Geschichte außer Betracht bleiben. Bei aller Kritik, die ich an ihrer Arbeit übe, bleibt gültig, dass die bleibende Lektion, die die Mediävisten in den letzten 30 Jahren von den Anthropologen und Postmodernisten gelernt haben, darin besteht, dass sich die mittelalterliche Kultur von der modernen unterscheidet. Das darf man jedoch nicht übertreiben. Auch in der Anthropologie gibt es eine Strömung, die davon ausgeht, dass die Kulturen, bei aller Fremdheit, dennoch eine gemeinsame Grundlage aus geteilter Rationalität besitzen, und dass die Unterschiede zwischen den Kulturen eher oberflächlich sind. So zeigt die englische Historikerin Susan Reynolds, dass die mittelalterliche Gesellschaft durchaus modern wirkende Gefühle wie Skepsis und Unglauben kannte, und sie warnt davor, dass der Blick des Anthropologen die mittelalterliche Kultur fremder macht, als sie es tatsächlich war.31 Um die mögliche Aktualität des Mittelalters für unsere Kultur offenzulegen, muss der moderne Historiker die Fremdheit dieser Zeit ganz zu sich durchdringen lassen und sie zur Sprache bringen, ohne sich den Rhythmus seiner Argumentation durch die Arroganz der Macht – Orientalismus in der Zeit – vorgeben zu lassen. Das kann nur unter zwei Bedingungen erfüllt werden: Erstens muss der Historiker immer davon ausgehen, dass die Menschen des Mittelalters nicht dumm waren und sehr wohl für sich selbst sprechen konnten, dass sie einen gesunden Verstand besaßen und nur unter anderen Umständen nach rationalen Lösungen suchten, um ihr Leben so gut und vernünftig wie möglich zu gestalten. Zweitens muss sich der Historiker, wenn er vom Mittelalter spricht, gleichzeitig die wesentlichen Züge seiner eigenen Kultur bewusst machen, weil er den großen Unterschied, den es zweifellos gibt, sonst nicht formulieren kann. Kulturkritiker wie Said und Asad haben darauf hingewiesen, dass sich die heutige westliche Kultur vor allem durch ihre unvorstellbare Macht auszeichnet, die so selbstverständlich ist, dass es uns möglich 363

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ist, spielerisch damit umzugehen und uns bescheidener zu geben, als wir sind. Dadurch können wir behaupten, dass alles relativ ist und darum alle Sitten, Gebräuche und Kulturen eigentlich gleichwertig sind, weshalb man sie gleichermaßen respektieren sollte. Dass es sich hier nur um ein keineswegs ernst gemeintes Spiel handelt, beweist, nach Asads Meinung – und hierin stimme ich ihm rundheraus zu –, die hysterische Reaktion der westlichen Intellektuellen auf die Fatwa des iranischen Führers Khomeini gegen Salman Rushdie nach dem Erscheinen seines Romans The Satanic Verses im Jahre 1988. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten drohten Nichtwestler auf einmal ein grundlegendes Prinzip der westlichen Kultur – nämlich dass Religion eine persönliche Angelegenheit ist, in die sich die öffentliche Autorität nicht einmischen darf – in Zweifel zu ziehen, und dem musste Einhalt geboten werden.32 In den folgenden Jahren, besonders seit 2001, wurde nur noch deutlicher, dass immer dort, wo sich die Grenze der Macht zeigt, sofort auch die Toleranz aufhört, weil die Überlegenheit der westlichen Kultur schon immer der Ausgangspunkt jeder Diskussion über und die Voraussetzung für Toleranz gewesen ist. Hiermit ist zugleich der größte Gegensatz zwischen uns und unseren mittelalterlichen Vorfahren gegeben: Sie hatten ständig die Grenze ihrer Macht und ihrer Möglichkeiten vor Augen. Wir können praktisch alles und jeden beherrschen, sie konnten fast nichts kontrollieren. Ihr Leben wurde bestimmt von Umständen, über die sie praktisch keine Kontrolle ausübten: Welchen Bereich des Lebens in der mittelalterlichen Gesellschaft man auch betrachtet, überall herrschte eine Atmosphäre von Machtlosigkeit, Gefahr, Chaos und Bedrohung.33 Dies gilt nicht nur für die pauperes, die armen Bauern, sondern genauso für die potentes, die Mächtigen, also die Päpste, Kaiser und Könige. Bis 1200 war es für einen König unmöglich, sich mit seinem Hof an einem festen Ort aufzuhalten, weil man die Versorgung für so viele Menschen nicht organisieren konnte. Während wir das Mittelalter, hierin der Romantik folgend, gerne als eine Epoche sehen, in der Europa noch jung und vital war, auf dem Weg zur Macht, sahen sie vor allem Verfall, Ohnmacht und Chaos, eine alte Welt am Ende ihrer Möglichkeiten,

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oder wie Bernhard von Cluny es formulierte: „Die Stunde ist spät, die Zeiten sind elend, lasst uns wachsam sein.“34 Dass es sich hier nicht um eine irrige Auffassung handelte, eingeredet von Unheilspredigern, offenbart schon ein Blick auf die demographische Entwicklung Europas. Bis 950 ging die Bevölkerung in Westeuropa kontinuierlich zurück, danach gab es infolge einer spektakulären wirtschaftlichen Blüte zwar ein beachtliches Bevölkerungswachstum, doch das stoppte plötzlich um 1300. Damals waren die Grenzen erreicht, Europa war überbevölkert, die Wälder waren gerodet, die Äcker erschöpft. Für das Wachstum in den vorangegangenen Jahrhunderten musste man im 14. Jahrhundert einen schweren Preis bezahlen: Hungersnöte und Seuchen folgten einander in immer kürzeren Abständen und gipfelten von 1347 bis 1350 in der Schwarzen Pest, in der nach manchen Schätzungen die Hälfte der Bevölkerung ausgerottet wurde. Auf einen kleinen Schritt nach vorn folgten zwei riesige Schritte zurück: Die Wachstumsrate der vorangegangenen Jahrhunderte wurde erst wieder im 17. Jahrhundert erreicht.35 Dieses Bild der Ohnmacht wird durch einen Blick auf die umliegenden Kulturen vervollständigt. Als die Disziplin der Weltgeschichte aufkam, wurde immer offensichtlicher, dass die Geschichte Europas, und zwar besonders die des Mittelalters, nicht länger mit jener der Welt zusammenfällt. Die wirklichen Zentren von Macht, Reichtum und Kultur lagen bis weit nach 1500 in Städten wie Konstantinopel, Bagdad, Cordoba, Kairo, Delhi oder Peking, jedoch nicht in Rom, Florenz, Paris oder London.36 Auch hierin ist uns das Mittelalter also fremd, weil Europa damals nicht das Zentrum der Welt war, sondern nur eine von vielen Kulturen, und zwar nicht gerade die am höchsten entwickelte. Gerade weil die Existenz im Mittelalter so unsicher war, ist es um so faszinierender zu beobachten, wie unsere Vorfahren den Kampf mit dem Chaos aufgenommen haben, trotz aller pessimistischen Auslassungen, dass das Ende nahe ist. Die eifrigen Bemühungen der Kirche, im 11. Jahrhundert durch eine Gottesfriedensbewegung die Stammeskriege zu unterdrücken, der Aufbau eines Beamtenapparates unter Ludwig IX. in Frankreich, die Entwicklung eines Steuersystems in England, dies alles zeugt davon, wie kreativ und originell unsere Vorfahren 365

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bei ihren Bemühungen zu Werke gegangen sind, trotz der äußerst beschränkten zur Verfügung stehenden Mittel ihre politische und soziale Umwelt zu gestalten.37 Weil die Spanne zwischen Ordnung und Chaos so klein war, hatten diese Bemühungen, Ordnung zu schaffen, etwas Streitsüchtiges und Verbissenes an sich. Raum für Verspieltheit oder Relativierung gab es nicht oder kaum. Wer gehört werden wollte, musste laut schreien. Die Bemühungen, alles zu ordnen, wurden darum auch mit so absoluten, unerbittlichen Theorien gerechtfertigt, dass heutige Leser darin den Spuk der Tyrannei und Diktatur erblicken. Der Historiker Anton Weiler aus Nimwegen verwies zu Recht auf die große Gefahr einer unüberlegten Aktualisierung politischer und ekklesiologischer Theorien aus dem Mittelalter, um sie heute als Vorbild für politische und kirchliche Ordnung zu verwenden.38 Liest man sie vor dem Hintergrund der heutigen Möglichkeiten, alles und jeden zu kontrollieren, klingen alle Abhandlungen über potestas (Macht) und auctoritas (Autorität) sowie über die größenwahnsinnigen Ansprüche von Kaiser und Papst, sie seien die Statthalter Christi oder sogar Gott auf Erden, tatsächlich schaudererregend. Im Kontext des Mittelalters muss man sie jedoch als verzweifelte Bemühungen werten, eine allgemein anerkannte öffentliche Autorität zu schaffen und zu legitimieren. Auch die im 19. Jahrhundert so hoch gepriesene gesellschaftliche Gliederung in drei Stände – Klerus, Adel und Bürgertum – ist bei näherer Betrachtung eher eine Blaupause für die ideale Gesellschaft, beschreibt jedoch keineswegs die Wirklichkeit.39 Ein Verlangen nach Ordnung hat solche Visionen inspiriert, die Wirklichkeit war jedoch viel widerspenstiger, viel chaotischer und konnte nicht so einfach unter Kontrolle gebracht werden. Auch auf anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens herrschte derselbe Drang nach Ordnung und dieselbe Abscheu vor Zügellosigkeit. Einem der hartnäckigsten Missverständnisse über das Mittelalter zufolge war es angeblich eine Zeit, in der die Bauern vor allem auf Festen und Jahrmärkten unbekümmert durchs Heu getollt sind, ohne sich etwa um die Vorschriften kontrollwütiger Priester zu scheren. Dieses Bild entspricht der vielgerühmten Authentizität und Primitivität des Mittelalters. Doch eher das Gegenteil war der Fall. Einer so chaoti366

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schen, ungeordneten Sache wie sexueller Leidenschaft begegnete man mit tiefem Misstrauen.40 Im 11. Jahrhundert zerrte das Volk von Mailand verheiratete Priester vom Altar weg, ihre Ehefrauen und Kinder wurden belästigt und vertrieben, manchmal sogar ermordet.41 In Boccaccios Decamerone wird kaum eine andere Gruppe so lächerlich gemacht wie ehebrecherische Priester, hier schlägt der Tonfall um von ironisch in zornig. Aus Boccaccios Geschichten wird deutlich, dass der mittelalterliche Antiklerikalismus den hohen Erwartungen entsprang, die man hinsichtlich Reinheit und Zölibat an Priester stellte. Das machte sie nämlich zu lebenden Symbolen dafür, dass inmitten von Leidenschaft und Chaos auch ein geordnetes Leben möglich war.42 In diesem Zusammenhang darf man den gewaltigen Erfolg der Katharer nicht unerwähnt lassen, eine dualistische Strömung, die sich in knapp 50 Jahren (1150–1200) zu einer Massenbewegung auswuchs. Für das spirituelle Monopol der römischen Kirche wurde sie damit zu einer echten Bedrohung, die man nur noch mit roher Gewalt unterdrücken konnte. Der Erfolg der Katharer beruhte darauf, dass sie nicht nur jede Form von Sexualität, sondern auch den Genuss von Fleisch und Milch ablehnten. Die perfecti, die den innersten Kreis der Katharerkirche bildeten, erregten überall, wohin sie kamen, Bewunderung wegen ihrer mageren, abgezehrten Körper und bleichen Gesichter. Im Vergleich zu den fetten Prälaten der offiziellen Kirche wirkten sie wie Engel, die bereits hier auf Erden ein himmlisches Leben führten.43 Ein solcher Reinheitskult und eine so große Bewunderung für abgemagerte Asketen deuten darauf hin, dass man das Verhältnis zum eigenen Körper im Mittelalter eher gestört als unbeschwert nennen muss, und dass selbst hier die Angst vor dem Chaos das Leben bestimmt hat. Auch Literatur und Kunst standen im Zeichen dieser Sehnsucht nach Ordnung. Wenn sich die Menschen des Mittelalters das Paradies vorstellten, sahen sie nicht die wilde Natur, Berge oder Urwälder – das waren Orte voller Gefahren –, sondern einen hortus conclusus, einen umschlossenen Garten mit schnurgeraden Wegen, in denen jeder Baum in Reih und Glied stand.44 In der Divina Commedia gelang es Dante, das ganze Universum in einem allesumfassenden System unterzubringen, das nicht nur dem Inhalt, sondern sogar der Form nach 367

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vollkommen mathematisch strukturiert ist. In seiner Einleitung der Prosaübersetzung spricht van Dooren sogar von programmiert; die ganze Formgebung des Werkes dreht sich um die Zahlen drei und 100.45 Niemand, der je einen Blick in die Göttliche Komödie geworfen hat, kann leugnen, dass es sich um ein Gedicht voll lyrischer Extase handelt, auch wenn es nur eine nüchterne Trunkenheit ist: Die Extase wird von einem bis ins Absurde durchgehaltenen Bedürfnis nach Maß und Zahl eingeschnürt. Wer heute mittelalterliche Schriften liest, ärgert sich wahrscheinlich darüber, wie hartnäckig in ihnen die eigene Welt als Zentrum des Universums geschildert wird, obwohl, mehr als wir heute vermuten, ein schleichendes Bewusstsein dafür existiert hat, dass es außerhalb von Europa Welten gab, die größer, reicher und zivilisierter waren. Konstantinopel und die großen Städte im Nahen Osten waren aus Reiseerzählungen bekannt, vor allem durch die der Pilger, die sich ins Heilige Land aufmachten; in späteren Jahrhunderten drangen Abenteurer wie Johannes von Plano Carpini und Marco Polo sogar bis in die Mongolei und nach China vor. Doch wie groß die Hochschätzung für alle Wunder dieser fremden Kulturen auch war, sie änderte nichts an der Überzeugung, dass die lateinische Christenheit den Mittelpunkt der Welt bildet. Diese Gewissheit dürfen wir jedoch nicht als Ausdruck von Selbstbewusstsein interpretieren, sondern eher als tiefe Unsicherheit: Es sind die Unsicheren und Bedrohten, die ihre Welt als einzige mögliche Welt betrachten und zugleich als Maßstab für alles, was anders ist. Nur die sehr Mächtigen können es sich erlauben, mit ihrem eigenen Glauben und den eigenen Werten zu spielen. Diese Unsicherheit tritt vor allem in der Haltung gegenüber Fremden im eigenen Kreis zutage. Wer ordnet, zieht Grenzen und schließt aus. Wer Angst hat, stößt das Ausgeschlossene von sich ab, verfolgt es oder rottet es sogar aus. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass das Schicksal aller Fremden in der Gemeinschaft des Mittelalters nicht gerade beneidenswert war. Das galt vor allem für die einzigen, die den christlichen Glauben nicht teilten, die Juden. Die Verfolgung der Juden, später auch aller Ketzer, Aussätzigen und Homosexuellen zeigt, wie schnell die Angst vor Chaos zu Panik führen konnte, und dass man 368

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im Versuch, die Ordnung wiederherzustellen, dann auch tatsächlich wild um sich schlug.46 Welchen Sinn kann es haben, die Erinnerung an so unsichere Zeiten lebendig zu halten und zu kultivieren? Keinen, wenn man im Mittelalter nur nach den Quellen der modernen Kultur sucht. Damit nimmt man dieser Zeit gerade das, was sie so atemberaubend und manchmal so abstoßend macht: die Plackerei, um den einfachsten Lebensbedarf zu sichern, den Kampf um ein Minimum an Recht und Sicherheit, und die verbissene Suche nach Klarheit hinter dem chaotischen Schein der Dinge. Das Mittelalter als Ursprung der Moderne zu schildern, ist ein zu einfacher Beleg für die, von mir voll und ganz geteilte, Überzeugung, dass wir immer noch in die Geschichte unserer fernen Vorfahren verwickelt sind, und dass ihr Leben auch Teil unseres eigenen ist. Den Sinn des Mittelalterstudiums sehe ich, bei aller Schicksalsverbundenheit, gerade darin, die Konfrontation zwischen unserer Macht und ihrer Machtlosigkeit aufzunehmen, zwischen der westlichen Überlegenheit heute und der Unsicherheit der Anfänge, zwischen der heutigen Gewissheit, dass alles beherrschbar und kontrollierbar ist, und der damaligen Überzeugung, dass man in diesem Leben vieles einfach ertragen muss und auf dieser Seite des Todes nur wenig zu einem guten Ende bringen kann. Wenn wir diese Konfrontation wagen und gerade diesen Kontrast zu einem bleibenden Teil unseres kulturellen Erbes machen, dann kann uns die Erforschung des Mittelalters die einzigartige Gelegenheit verschaffen, uns selbst in einer Zeit zu beobachten, in der wir noch nicht reich und mächtig waren und noch nicht den Mittelpunkt der Welt gebildet haben. Darüber hinaus kann es uns für die nahe Zukunft den Rücken stärken, in der diese Situation zurückkehren und der Westen nicht länger der selbstverständliche Mittelpunkt der Welt sein wird. Im Rückblick auf das Mittelalter wird unserer Kultur ein Spiegel vorgehalten, und wir werden an die Tage erinnert, in denen nichts selbstverständlich, nichts sicher und alles heikel war, angefangen vom notwendigsten Lebensbedarf bis zu den erhabensten Äußerungen von Kunst und Religion. Die Erinnerung an das Mittelalter kann uns die Grenzen der Macht vor Augen führen, kann 369

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ein memento mori bilden, das nicht zu einem finsteren Pessimismus führen muss, wie das ja auch nicht bei unseren Vorfahren der Fall war, sondern zu einem, meiner Meinung nach, realeren und nüchterneren Blick auf unsere Möglichkeiten und Defizite. Dass diese Erinnerung schmerzhaft, sogar unerträglich sein kann, zeigt die Tatsache, dass die mittelalterliche Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis unserer Kultur immer einen ambivalenten Status eingenommen hat, hin und her schwankend zwischen unkritischer Bewunderung und unbegründetem Abscheu.47 Für mich ist das ein Grund mehr, warum unser Verhältnis zur Antike immer weitaus unproblematischer gewesen ist. Dort wird eine Sprache gesprochen, die wir verstehen: Die Sprache des Imperiums, die Sprache der Macht und des Erfolges, aber auch die Sprache von Recht und besonnener Weisheit, verkörpert in der Pax Romana, einer internationalen Gemeinschaft vieler Völker unter der väterlichen Führung aufgeklärter Fürsten. Nichts wurde im Westen so bejammert wie der Untergang des Römischen Reiches, kein anderes historisches Ereignis hat solche mythischen Proportionen angenommen.48 Die Menschen der Antike sind die Vorfahren, die wir gerne gehabt hätten, die des Mittelalters sind die Vorfahren, mit denen wir uns tatsächlich begnügen müssen. Die Erinnerung an das Mittelalter bleibt die unbequeme Erinnerung an jene Epoche, in der in der westlichen Kultur noch alles schiefgehen konnte und auch schiefgegangen ist. Wenn wir die Unsicherheit der Existenz unserer Vorfahren zum Ausgangspunkt aller Beschreibungen des Mittelalters machen, kann das Studium des Mittelalters dazu beitragen, die Selbstverständlichkeit unserer Macht aufzubrechen, ihre Grenzen aufzuzeigen und ihre unmenschlichen Seiten zu erkennen, indem wir gerade die Erinnerung an die Tage der unsicheren, tastenden Anfänge in unserem kollektiven Gedächtnis lebendig halten. Eine grundsätzliche Ansicht darüber, wie eine Kultur mit ihrer Erinnerung umgehen kann, vielleicht sogar muss, ist im Deuteronomium nachzulesen. Das Buch ist in die Form einer Ansprache gegossen, die Moses in jenem dramatischen Augenblick hält, in dem die Juden, nach 40 Jahren in der Wüste, am Ufer des Jordans stehen und darauf warten, 370

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das gelobte Land in Besitz zu nehmen. In diesem großen Moment warnt Moses sie, nicht zu vergessen: „Als deine Vorfahren nach Ägypten zogen, waren sie nur siebzig an der Zahl; jetzt aber hat der Herr, dein Gott, dich so zahlreich gemacht wie die Sterne am Himmel!“ (Dtn. 10, 22) Darum: „Du sollst das Recht von Fremden, die Waisen sind, nicht beugen; du sollst das Kleid einer Witwe nicht als Pfand nehmen. [...] Wenn du in deinem Weinberg die Trauben geerntet hast, sollst du keine Nachlese halten. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören. Denk daran: Du bist in Ägypten Sklave gewesen.“ (Dtn. 24, 17; 21-22) Die Erinnerung an die Zeiten, in denen unsere Vorfahren Fremde waren, hält uns vielleicht die Grenzen vor Augen, die allem Menschlichen gesetzt sind, und mahnt uns zu einem humanen, maßvollen Gebrauch jener Macht, die uns seinerzeit zugefallen ist, die uns jedoch auch Vertrauen in eine Zukunft schenkt, in der wir diese Macht mit anderen teilen müssen.

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Anmerkungen Vorwort und Einleitung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

9. 10.

11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

18. 19. 20.

21.

22.

Thomas, What are universities for?, S. 13–15. * zum Geburts- und Todesjahr der genannten Personen im Register nachschlagen. Proust, „La mort des cathédrales“, S. 142–143. Ebd., S. 777. Nietzsche, Nutzen und Nachteil, S. 59. Ebd., S. 29–30. Aldus Frank Ankersmit im Nachwort; ebd., S. 154–155. Lübbe, „Der Fortschritt und das Museum“, S. 39–56; Vaessen, „Musea in een museale cultuur“, S. 255–262; Elshout, „Musealisering van de cultuur“, S. 44–47; und die instruktiven Beiträge in Zacharias, Zeitphänomen Musealisierung. Samuel, Theatres of memory, S. 429. Caviness, „Learning from Forest Lawn“, S. 971. Auch Walt Disney fand, die Rekonstruktion des alten New Orleans in Disneyland sei dem Original bei weitem vorzuziehen, weil es „viel schöner“ sei, nach Lowenthal, The past is a foreign country, S. 293, 306. Post, „De pastor aan de bron“, S. 257–258. Judt, Postwar, S. 803–804. Fortuin, „Een ander moreel oordeel propageren“, S. 4 über Chris van der Heijden. Hier handelt es sich um Radical Enlightenment, Enlightenment contested und A revolution of the mind. Langewiesche, Zeitwende, S. 175, 178. Frijhoff, Dynamisch erfgoed, S. 19. Allein in England unter anderem: Tyerman, God’s war, Phillips, Holy warriors, und Asbridge, The Crusade. Zu einem scharfzüngigen Kommentar über diese Flut an Kreuzzugsgeschichten siehe den Leserbrief von Robert I. Moore, „Crusaders“, S. 6. Asbridge, Crusades, S. 674–680. Bull, Thinking medieval, S. 131, 141. Ein hübsches Beispiel dafür ist das jährliche Festival in den Ruinen der Abtei Glastonbury, traditionell assoziiert mit den Artuslegenden, siehe Samuel, Theatres of memory, S. 107–109. Minc, Nouveau Moyen-Âge, S. 10, 16: „Es ist die Unmöglichkeit für die postkommunistische Welt, ein neues grundlegendes Prinzip zu entdecken, durch die wir in gewissem Sinne auf das Neue Mittelalter zurückgeworfen werden. [...] Und so sieht es aus im Neuen Mittelalter: Unbeständigkeit, Unsicherheit, Undeutlichkeit. Unordnung und Rückfall in die Stammesgesellschaft.“ Samuel, Theatres of memory, S. 259–287.

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Anmerkungen 23.

24. 25. 26. 27.

28. 29. 30. 31. 32. 33. 34.

35.

36. 37. 38. 39. 40.

41. 42. 43.

44. 45. 46. 47.

374

Der Standpunkt, den ich hier vertrete, wurde in den Niederlanden am verständlichsten formuliert von Tollebeek und Verschaffel, De vreugden van Houssaye, S. 87–109. Kierkegaard, Over het begrip ironie, S. 9, 21–22, 78–79, 82–83. Jonker, „Hedendaags historisme“, S. 8. Gerritsen, Vier inleidende colleges, S. 36. Patterson, „On the margin“, S. 92–93; Patterson weist darauf hin, dass selbst der große Dekonstruktor Foucault nicht von dieser Erzählung loskommt. Moore, „Crusades“, S. 6, spricht von „der romantischen Auffassung vom ‚Mittelalter‘ als einer Märchenwelt, um die sich Leute, die sich mit der echten Welt beschäftigen, gar nicht kümmern müssen.“ Nussbaum, Cultivating humanity, S. 15–35, 293–294, und „Skills for life“, S. 13–15. Gottlieb, Dream of reason, S. 348. Bloch, Rois thaumaturges. Bisson, Crisis of the twelfth century. Frijhoff, „Van Histoire de l’Église naar Histoire religieuse“, S. 125–128, 139–146. Delumeau, Catholicisme entre Luther et Voltaire, S. 227–255. Vries, Verhaal en betoog, S. 49–50, weist nachdrücklich darauf hin, dass es hier um eine ganz bestimmte Richtung innerhalb der kulturellen Anthropologie und nicht um das Fach als Ganzes geht. Schmitt, Le saint lévrier; Ginzburg, Il formaggio e i vermi, über den Glauben des italienischen Müllers Menocchios; Davis, The return of Martin Guerre. Zum Mangel an sozialem und politischem Kontext in Studien dieser Art siehe Christiansen, „Construction and consumption of the past“, S. 5–24. Bul, Thinking medieval, S. 82–87, für eine positivere Einschätzung mikrohistorischer Werke. Trevor-Roper, zitiert in Vries, Verhaal en betoog, S. 57. Van Engen, „Christian Middle Ages“, S. 535–536. Geertz, „The culture war“, S. 4–6. Für einen äußerst polemischen Beitrag zu dieser Diskussion siehe Sandall, The culture cult. Said, Orientalisme, S. 6: „Ich selbst glaube, dass der Orientalismus größere Bedeutung besitzt als Symbol der europäisch-atlantischen Macht über den Osten, und weniger als wahrheitsgetreue Erzählung über den Osten.“ Ebd., S. 21. Asad, Genealogies of religion, S. 11–12, 19. Ebd., S. 194–198. Wie dies vonstatten geht, zeigt Umberto Eco in einer Persiflage, in der er einen polynesischen Anthropologen die Eigenarten der Eingeborenen von Mailand beschreiben lässt, in: Eco, „Industry and sexual repression“, S. 69–93. Said, Orientalisme, S. 40; Asad, Genealogies, S. 8–19. Siehe die verschiedenen Beiträge in Wieland, Aufbruch – Wandel – Erneuerung; Melve, „Revolt of the mediavalists“, S. 236–241. Le Roy Ladurie, Montaillou, S. 612. Kudrycz, Historical present, S. 187. Asad, Genealogies, S. 9. Frantzen, Desire for Origins, S. 124, nennt den Gelehrten den Torwächter der Vergangenheit: Schließlich bestimmt er, was behalten und was vergessen wird.

Kapitel 1 Erste Erkundung 48. 49. 50. 51.

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53.

54.

Rubin, Corpus Christi, S. 245–265 (Zitat S. 259). Biddick, „The Bede’s blush“, S. 91 spricht von „orientalism within“; siehe auch Asad, Genealogies, S. 18. Friedman und Spiegel, „Medievalisms old and new“, S. 693–694. Wickham, Inheritance of Rome, S. 6, verweist darauf, dass die oben beschriebene Strategie dessen, was er othering nennt, auch in Bezug auf das frühe Mittelalter gescheitert ist. Wer das Buch liest, kann ihm da nur zustimmen. Dies meint anscheinend Geary, Myth of nations, S. 157, wenn er den extrem voreingenommenen Blick der neuen osteuropäischen Staaten auf ihre mittelalterliche Vergangenheit vergleicht mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Völkerwanderung und ihre Folgen. Chazan, Reassessing Jewish life, versucht dies für die Geschichte der Juden im Mittelalter zu tun, doch schon in der Einleitung (IX–X) warnt er, dass die empirische Forschung gewöhnlich wenig an den Geschichten ändert, und dass auch sein Versuch, eine neue, optimistischere Geschichte zu erzählen, wahrscheinlich scheitern wird. Mali, Mythistory, S. 234–239.

Kapitel 1 Erste Erkundung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

14. 15. 16. 17. 18.

Petrarca, Collatio, S. 15. Ebd. S. 14. Vauchez und Giardina, Rome, l’idée et le mythe, S. 53–64. Hankins, „Renaissance humanism“, S. 90. Petrarca, „Ad familiares“, Bd. VI, S. 2, in: Brieven, S. 93–96 (Zitat: S. 96). Schnapp, Discovery of the past, S. 106, 108. Mommsen, „Petrarch’s conception“, S. 234. Petrarca, „Ad familiares“, Bd. I, S. 4, in: Brieven, S. 27. Dante, Monarchie, Bd. II, S.10, 133–135. Mommsen, „Petrarch’s conception“, S. 236. Ebd., S. 240. Petrarca, „Ad familiares“, Bd. X, S. 1, in: Brieven, S. 102. Petrarca, „Epistolae sine nomine“, Bd. II, in: Brieven, S. 191. Musto, Apocalypse in Rome, S. 147–251. Petrarca, „Ad familiares“, Bd. X, S.1, in: Brieven, S. 102. Oft hält man Joachim von Fiore (um 1135–1202) für den ersten, der die Geschichte in drei Abschnitte eingeteilt hat, doch seine Einteilung in die Zeitalter von Vater, Sohn und Heiliger Geist beruht auf rein religiösen Überzeugungen. Zitiert in Mommsen, „Petrarch’s conception“, S. 241. McLaughlin, „Humanist concept’s“, S. 134. Vergilius, De herdersfluit, S. 29. McLaughlin, S. 136–137. Gilbert, „Italy“, S. 23, 31–37. Hankins, „Renaissance humanism“, S. 78–81, 90–91.

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Anmerkungen 19.

20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28.

29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37.

38. 39. 40. 41. 42.

376

Das einzige wichtige historische Werk über die mittelalterliche Geschichte Italiens aus der Zeit zwischen 1500 und 1750 ist Sigonius, Historiarum de regno Italiae, besprochen in MacCuaig, Carlo Sigonio. Gezieltes Interesse am Mittelalter kam danach erst wieder mit Ludovico Muratori (1672–1750) auf, der die Quellen zur mittelalterlichen Geschichte Italiens systematisch herauszugeben begann; siehe hierzu Van Kesteren, Verlangen naar de Middeleeuwen, S. 123–180. Neddermeyer, Mittelalter in der deutschen Historiographie, S. 36–37; Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik, S. 29–30. Mertens, „Mittelalterbilder in der frühen Neuzeit“, S. 40–42. Neddermeyer, Mittelalter, S. 42–46. Neddermeyer, Mittelalter, S. 47. Meinhold, Geschichte der kirchlichen Historiographie, Bd. I, S. 269. Polman, Élément historique, S. 152. Hartmann, Humanismus und Kirchenkritik, S. 16, 199. Meinhold, Geschichte der kirchlichen Historiographie, Bd. I, S. 275. Polman, Élément historique, S. 465–500. Ebd., S. 531–538. Das Werk der Bollandisten, wie sie nach ihrem Stifter genannt wurden, wurde 1773 unterbrochen, als Papst Klemens XIV. den Orden auflöste, wurde nach der Wiederzulassung 1814 aber wieder aufgenommen. Obwohl die Bollandisten nicht länger an der Fertigstellung der Acta Sanctorum arbeiten (die Serie blieb im November stecken), bleiben sie vor allem durch ihre Zeitschrift Analecta Bollandiana eine der wichtigsten Forschungsgruppen in der kirchenhistorischen Welt. Knowles, Historical enterprises, S. 14–15. Ebd., S. 33–62. Voss, Mittelalter, S. 144. Bossuet, Histoire des variations, Bd. XI, S. 40–60, 77, Bd. I, S. 522–534, 543–544. Ebd., Bd. XI, S. 6, Bd. I, S. 491. Bossuet, Histoire des variations, Vorwort, S. 5, Bd. I, S. 3. Voss, Mittelalter, S. 144. Über die Entwicklung des nationalen Gefühls im späten Mittelalter und der Renaissance: Leupen, Keizer in zijn eigen rijk, S. 150–170. Ein erster Versuch zu einer Synthese dieser Verwendung mittelalterlicher Geschichte in der politischen Debatte der Frühmoderne ist Pitz, Untergang des Mittelalters. Graus, Lebendige Vergangenheit, S. 248–249. Eine hervorragende Übersicht über die batavische Frage und die neuste Literatur in Bejczy und Stegeman, Gerard Geldenhauer, S. 9, 12–24. Leupen, Gods stad op aarde, S. 84–90 und 115–122. Die beste Abhandlung über die Translatio ist noch immer Goez, Translatio Imperii. Mertens, „Mittelalterbilder“, S. 41–42. Eine handliche, wenn auch nicht vollständige moderne Ausgabe dieses Werkes findet man in Schmale und Schmale-Ott, Quellen zum Investiturstreit, Bd. II, S. 272– 579. Die Geschichte der Entdeckung Bd. II, S. 28–29.

Kapitel 1 Erste Erkundung 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52.

53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65.

66. 67. 68.

69.

70. 71. 72. 73.

Mertens, „Mittelalterbilder“, S. 43. Für eine Besprechung der Donatio siehe Leupen, Gods stad, S. 63–66, für den Text S. 147–151. Neddermeyer, Mittelalter, S. 66–67. Ebd., S. 70–71. Druez, „Perspectives comparées du règne de Charles Quint“, S. 97, 99. Neddermeyer, Mittelalter, S. 175–177. Alfred Kohler, „Kaiserwahl“, S. 29. Kelley, Foundations, S. 196–197; Voss, Mittelalter, S. 50. Dubois, Celtes et Gaulois, S. 23–24; Pomian, „Francs et Gaulois“, S. 65. Voss, Mittelalter, S. 51. Grell, „Les historiographes en France“, S. 134. Die Fiktion einer ununterbrochenen Kontinuität wurde bis zur Französischen Revolution aufrecht erhalten. Ludwig XVI. wurde nach seiner Abdankung 1792 gewöhnlich mit „Bürger Capet“ angesprochen. Dubois, Celtes et Gaulois, S. 44. Pomian, „Francs et Gaulois“, S. 66; Dubois, Celtes et Gaulois, S. 113–115. Kelley, Foundations, S. 110. Burrow, History of histories, S. 306–308. Kelley, Foundations, S. 77. Mandrou, Introduction, S. 245. Pauphilet, Legs du Moyen Age, S. 24. Voss, Mittelalter, S. 127. Mandrou, De la culture populaire, S. 131–147. Voss, Mittelalter, S. 106–107; Kelley, Foundations, S. 278–283. Voss, Mittelalter, S. 133. Pitz, Untergang des Mittelalters, S. 397. Blaas, Anachronisme en historisch besef, S. 10–11. Lionel Gossman, Medievalism, S. 164. Ein grundlegender Artikel über die Querelle ist Fumaroli, „Les abeilles et les araignées“. Voss, Mittelalter, S. 211–212. Gossman, Medievalism, S. 273–324. Ebd., S. 334–346. Für die Entdeckung des Ostens im achtzehnten Jahrhundert: Hentsch, L’Orient imaginaire, S. 143–165 und natürlich Said, Orientalism, S. 76–80, 117–120. Zitate aus dem Act in Restraint of Appeals (1533), worin jede Anrufung der päpstlichen Gerichte von England aus verboten wurde, in: Bettenson, Documents of the Christian Church, S. 318. Vgl. Ferguson, Clio unbound, S. 130, Levy, Tudor historical thought, S. 83 und Jones, English nation, S. 17. McKisack, Medieval history in the Tudor age, S. 11–25. Haller, Foxe’s Book of Martyrs, S. 143. Levy, Tudor historical thought, S. 90–93; Jones, English nation, S. 51. Haller, Foxe’s Book of Martyrs, S. 140–173; Levy, Tudor historical thought, S. 99–104; Butterfield, Englishman and his history, S. 19–25.

377

Anmerkungen 74.

75. 76. 77. 78.

79. 80. 81. 82. 83.

84. 85. 86. 87. 88. 89. 90.

91. 92. 93. 94.

95. 96. 97. 98.

378

Parker vermachte seine Sammlung der Bibliothek des Corpus Christi College in Cambridge, wo er sowohl studiert als auch gelehrt hatte. Siehe McKisack, Medieval history in the Tudor age, S. 26–32. Ferguson, Clio unbound, S. 114–115, Levy, Tudor historical thought, S. 114–122. Burrow, History of histories, S. 314; Ortenberg, In search of the Holy Grail, S. 11–12. Parry, Tropes of time, S. 173–179; Kenyon, History men, S. 15; Pitz, Untergang des Mittelalters, S. 431. Skinner, „History and Ideology“, S. 154–156, ist der Meinung, dass die Heftigkeit der parlamentarischen Interpretation der mittelalterlichen Vergangenheit dem Umstand zu verdanken ist, dass auch damals schon viele Schreiber von Chroniken anhand solider Dokumente aufzeigen konnten, dass die Royalisten die besseren Argumente hatten. Butterfield, Englishman and his history, S. 50. Hill, „Norman yoke“, S. 64–65, 72–75. Butterfield, Englishman and his history, S. 42. Ebd., S. 47–68; Kenyon, History men, S. 20–25; Pitz, Untergang des Mittelalters, S. 415–427. Levine, Humanism and history, S. 93 (Camden), S. 96 (Selden). Beide gehören zu den größten antiquarians ihrer Zeit, für ihr Werk siehe Parry, Tropes of time, S. 22–48 (Camden), 95–129 (Selden). Ortenberg, Search of the Holy Grail, S. 28–35. Levine, Humanism and history, S. 203. Kenyon, History men, S. 50. Gibbon, Decline and fall, Bd. III, S. 1068. Jansen, Triptiek van de tijd, S. 41–42. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 17–66. Burke, Renaissance sense of the past, S. 1–6; Goetz, „Zum Geschichtsbewußtsein“, S. 60 spricht von „Entzeitlichung der Ereignisse“. So auch Buck, „Vergangenheit als Gegenwart“, S. 234–236. Petrarca, „Ad familiares“, Bd. VI, S. 21, in: Brieven, S. 93–96; Schnapp, Discovery of the past, S. 106, 108. Petrarca, „Ad familiares“, Bd. XXIV, S. 8, in: Brieven, S. 173; Reill, German Enlightenment, S. 10. Levine, Humanism and history, S. 192; Coleman, Ancient and medieval memories, S. 557–562. Für Frankreich siehe Kelley, Foundations und Huppert, Idea of perfect history. Für England siehe Fussner, Historical revolution und Hill, Intellectual origins, am schärfsten kritisiert von Levine, Humanism and history, S. 73–106, 155–177 und Coleman, Ancient and medieval memories, S. 562–567. Schiffman, „Renaissance historicism reconsidered“, S. 179,182. De Groot, Oudheid, S. 51, 52, 85 (Zitat). Levine, Humanism and history, S. 95–96. Burrow, History of histories, S. 299, 306– 308, 310–311. Für die Niederlande siehe Hugenholtz, „Adriaan Kluit“, S. 157–158. Groebner, Mittelalter, S. 39.

Kapitel 2 Entdeckung

Kapitel 2 Entdeckung 1. 2. 3. 4. 5. 6.

7.

8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.

26.

Boyle, Goethe, Bd. I, S. 97–99, 107. Goethe, „Von deutscher Baukunst“, S. 16–17. Ebd., S. 20. Von den Steinen, „Mittelalter und Goethezeit“, S. 276–278 und Robson-Scott, Literary background, S. 83–85. Goethe, „Von deutscher Baukunst“, S. 20. Noch deutlicher zeigt sich das in einer Notiz, die Goethe 1786 während eines Besuchs in Venedig machte, wo er in einem Museum einen Abguss von einem römischen Tempel bewunderte: „Das ist freilich etwas anderes als unsere kauzenden, auf Kragsteinlein übereinander geschichteten Heiligen der gotischen Zierweisen, etwas anderes als unsere Tabakspfeifensäulen, spitze Türmlein und Blumenzacken, diese bin ich nun, Gott sei Dank, auf ewig los!“ Goethe, Italienische Reise, S. 88. Von entscheidender Bedeutung für die Verbreitung von Goethes Aufsatz war, dass Herder ihn 1773 in den Band Von deutscher Art und Kunst aufgenommen hat. Dieser hatte einen gewaltigen Erfolg und galt schon bald als das Manifest der Künstler des Sturm und Drang. Siehe Schmid, Mittelalterrezeption, S. 27. Tieck, zitiert in: Kasperowsli, Mittelalterrezeption, S. 178. Für eine identische Rezeption von Friedrich Schlegel siehe Höltenschmidt, Mittelalter-Rezeption, S. 27. Meinecke, Entstehung des Historismus, S. 2–4. Grundlegend ist Bödeker u. a., „Einleitung“, S. 9–22, vor allem S. 9. Stuurman, „Tijd en ruimte“, S. 89; Blaas, Anachronisme en historisch besef, S. 36–38; Bödecker u. a., „Einleitung“, S. 14–15, 19. Porter, Enlightment, S. 246–257. Die Einleitung wurde gesondert veröffentlicht in Robertson, Progress, S. 15 (von Barbarei zur Zivilisation). Ebd., S. 61–62. Ebd., S. 27–28, 32, 65–67 (Zitat 65). Voltaire, Essai, Bd. I, S. 384, 651–652, 750–751. Ebd., Bd. II, S. 169–172. Ebd., Bd. I, S. 752. Ebd., Bd. I, S. 666, 697, 774, Bd. II, S. 18. Ebd., Bd. I, S. 92, 524–526, Bd. II, S. 18. Ebd., Bd. I, S. 525, 705–706, 761, 778. Ebd., Bd. I, S. 705. Ebd., Bd. I, S. 757. Meinecke, Entstehung des Historismus, S. 263. Voltaire, Essai, Bd. I, S. 18: „Weil die Natur überall dieselbe ist, ist es unvermeidlich, dass Menschen überall dieselben Wahrheiten annehmen und dieselben Fehler begehen, in allem, was die Sinnesorgane am meisten berührt und allem, was die Phantasie am meisten trifft.“ Siehe auch: Porter, Enlightenment, S. 232; Iggers, „European context“, S. 233. Reill, German Enlightenment, S. 16, 20, 94, 145.

379

Anmerkungen 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38.

39. 40. 41.

42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56.

380

Vierhaus, „Historisches Interesse“, S. 275. Sheehan, German history, S. 174–177. Whaley, „Protestant Enlightenment“, S. 111–113. Schmid, Mittelalterrezeption, S. 172–173. Reill, German Enlightenment, S. 169–171. Für Herders Geschichtsphilosophie im allgemeinen siehe Förster, „Johann Gottfried Herder“, S. 363–387 und Berlin, Vico and Herder, S. 186–213. Safranski, Romantik, S. 20 spricht von „dieser Verwunderung über die Unterschiedlichkeit der sich offenbarenden Welt“. Von den Steinen, „Mittelalter und Goethezeit“, S. 294. Herder, Auch eine Philosophie, Bd. V, S. 511. Förster, „Johann Gottfried Herder“, S. 364–365. Robson-Scott, Literary Background, S. 62–63; Von den Steinen, „Mittelalter und Goethezeit“, S. 313. Herder, Auch eine Philosophie, S. 523. Etwas weiter unten sagte er nochmal: „Doch kein Ding im ganzen Reiche Gottes kann ich mich doch überreden! ist allein Mittel – alles ist Mittel und Ziel zugleich, und so gewiss auch diese Jahrhunderte.“ (S. 527). Ebd., S. 524 und 526 (Zitat). Ebd., S. 515–516. „Gärung“ ist Herders Lieblingsbegriff, um das Mittelalter zu charakterisieren, siehe ebd., S. 516, 526–527. Mit „deutsch“ (S. 529) will Herder alles bezeichnen, was germanisch ist, übrigens ohne hiermit die aggressiven Schlussfolgerungen späterer deutscher Historiker zu verbinden. Herder spricht immer von einer Kulturgemeinschaft, nicht von einer Staatsgemeinschaft. Siehe Berlin, Vico and Herder, S. 157– 162, 186–189. Herder, Auch eine Philosophie, S. 526–527. Kudryz, Historical present, S. 45–46. Herder, Ideen, S. 201, 204; Sheehan, German history, S. 172. Herder, Ideen, S. 270–271, 277, 342, 386–387, 406. Ebd., S. 415, 438–439. Ebd., S. 480–481, 487, 492–493. Meinecke, Entstehung des Historismus, S. 429–431. McMahon, Enemies of the Enlightenment, S. 115 spricht von „der ideologischen Rückbekehrung säkulärer Intellektueller“. Siehe auch ebd., S. 123. Über den Tod des Papstes als Anlass zum Manifest von Novalis siehe Kasperowski, Mittelalterrezeption, S. 62. Novalis, Christenheit, S. 41, 43, 45, 47. Ebd., S. 47, 49, 65, 69, 89. Höltenschmidt, Mittelalter-Rezeption, S. 41; Lutzeler, „Goethe and Europe“, S. 100– 101. Schanze, „Schöne glänzende Zeiten“, S. 763. Ebd., S. 766; Höltenschmidt, Mittelalter-Rezeption, S. 220. Schama, Citizens, S. 169–174.

Kapitel 2 Entdeckung 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63.

64. 65. 66. 67. 68. 69. 70.

71.

72. 73. 74. 75. 76. 77. 78.

79. 80. 81. 82.

Sheehan, German history, S. 172. Ubachs und Evers, Tweeduizend jaar Maastricht, S. 45–55 (Entstehung der Doppelherrschaft), S. 157–171 (Besatzung und Revolution). Robson-Scott, Literary Background, S. 120–121. Burke, Reflections, S. 125. Gibbon, Decline and fall, Bd. I, S. 70. Friedrich Schlegel, Neuere Geschichte, S. 168–170, 201. Ebd., S. 208. Die Übereinstimmung mit der Beschreibung der mittelalterlichen Gesellschaft von Novalis ist zutreffend und auf die Tatsache zurückzuführen, dass beide ihre Sicht auf die Einheit stiftende Funktion der Kirche dem in ihrer Zeit gefeierten Schweizer Historiker Johannes von Müller verdanken und seiner Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft, S. 9–10. Müller, Staatskunst, Bd. II, S. 163–169. Ebd., Bd. II, S. 175. In diesem Zusammenhang greift Müller scharf die balance of power-Politik an, die seit 1700 die internationalen Beziehungen beherrscht hat (Ebd., Bd. II, S. 174). Ebd., Bd. II, S. 186–187. Ebd., Bd. II, S. 177, siehe auch S. 235. Bornewasser, „Het credo ... geen rede van twist“, S. 132, 140–143. Chateaubriand, Génie, Bd. I, S. 58: „Es wird Zeit, dass man endlich einsieht, wohin die Beschuldigungen der Absurdität, Obszönität und Kleingeistigkeit, die man täglich gegen das Christentum erhebt, führen; es wird Zeit aufzuzeigen, dass das Christentum das Denken nicht schmälert, sondern dass es auf wundersame Weise alle Bewegungen der Seele auffängt und den Geist in eine mindestens so göttliche Verzückung versetzen kann wie die Götter von Vergil und Homer.“ Zu de Maistres Gewaltverherrlichung siehe Berlin, „Joseph de Maistre and the origins of fascicm“, S. 91–175, kritisch besprochen von Garrard, „Isaiah Berlin’s Joseph de Maistre“, S. 117–132; Müller, Konservatismus, S. 153 (de Maistre und Hobbes). Soirées de Saint-Petersbourg, 7eme Entretien, wie zitiert in Berlin, „Maistre“, S. 113. Berlin, „Maistre“, S. 108–109; Maistre, Du pape, S. 30. Maistre, Du pape, S. 254. Müller, Konservatismus, S. 154. Maistre, Du pape, S. 181, 201–202, 256–257; Spektorowski, „Maistre, Donoso Cortes“, S. 289–290; Müller, Konservatismus, S. 159. Maistre, Du pape, S. 181–182, 207–208. Ebd., S. 185–188. Ebd., S. 258: „Der größte Teil des Menschengeschlechts ist von Natur aus versklavt und kann aus diesem Zustand höchstens auf übernatürliche Weise befreit werden. Im Zustand der Sklaverei gibt es eigentlich keine Moral; ohne das Christentum keine allgemeine Freiheit; und ohne den Papst keine echte Christenheit. [...] Darum stand es nur dem Papst zu, die allgemeine Freiheit zu verkünden. Ebd., S. 256, 302; Berlin, „Maistre“, S. 152. Altgeld, „Deutsche Romantik“, S. 216. Friedrich Schlegel, Neuere Geschichte, S. 220, auch 181. Altgeld, „Deutsche Romantik“, S. 195–196.

381

Anmerkungen 83. 84. 85. 86. 87.

88. 89. 90. 91.

92. 93. 94. 95.

96. 97. 98.

99. 100. 101. 102. 103. 104. 105. 106. 107. 108. 109. 110.

111.

382

Altgeld, „Deutsche Romantik“, S. 201–202. Friedrich Schlegel, Neuere Geschichte, S. 208; Höltenschmidt, Mittelalter-Rezeption, S. 189. Friedrich Schlegel, Neuere Geschichte, S. 213. Ebd., S. 245. Schlegel wirft de Maistre vor, dass er in seiner Behandlung des Mittelalters die „Idee des deutschen Kaisertums“ ausgelassen hatte. Siehe Friedrich Schlegel, Signatur des Zeitalters, S. 563. Man muss allerdings sagen, dass Schlegel in seinen späteren Jahren anfing, theokratischeren Ideen zu huldigen. Höltenschmidt, Mittelalter-Rezeption, S. 195. Novalis, Christenheit, S. 47. Ein schönes Beispiel für eine solche Argumentation nennt Berlin, indem er Maistres Ideen als profaschistisch bezeichnet hat, Berlin, „Maistre“, S. 96, 160, 171–174. „Das Wesen dieser [gemanischen] Verfassung bestand in der höchsten Freiheit der Einzelnen, bei der festesten Vereinigung Aller.“ Friedrich Schlegel, Neuere Geschichte, S. 153. Friedrich Schlegel, Neuere Geschichte, S. 153–155. Auch Tacitus selbst spricht in Germania, Buch I, 14, mit kaum verhohlener Bewunderung von der hohen Moral dieser irregulären Armeen. Friedrich Schlegel, Neuere Geschichte, S. 157–158, 222. Müller, Staatskunst, Bd. I, S. 263: „Die Idee von der Gegenseitigkeit aller Verhältnisse des Lebens, welche einzige Basis alles Rechtszustandes Christus zeigte und das Mittelalter empfand.“ Ebd., Bd. I, S. 264–283. Siehe Oexle, „Mittelalterliche Zunft“, S. 19–22. Sein großer Gegner war Adam Smith, vor allem dessen Bemerkungen über die Arbeitsteilung als Segen für die Menschheit. Siehe Müller, Staatskunst, Bd. I, S. 312–313. Southey, Essays, Bd. I, S. 95–96. Ebd., Bd. I, S. 97–99. Ebd., Bd. I, S. 112. Crouch, Birth of nobility, S. 7–8, 11–13. Chateaubriand, Génie, Bd. II, S. 184. Pauphilet, Legs du Moyen Age, S. 31. Gossman, Medievalism, S. 290. Burke, Reflections, S. 170; Crouch, Birth of nobility, S. 10 (Marie-Antoinette). Burke, Reflections, S. 171–172. Chateaubriand, Génie, Bd. I, S. 278. Ebd., Bd. II, S. 190–191. Ebd., Bd. I, S. 279–280. Das Interesse an den Kreuzzügen erreichte in den Jahren nach 1800 einen Höhepunkt, wie unter anderem die sehr erfolgreichen Kreuzzugsgeschichten von Friedrich Wilken in Deutschland (erschienen 1807–1832) und Joseph Michaud in Frankreich (erschienen 1812–1817). August Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 22, 83.

Kapitel 3 Echtheit 112. 113. 114. 115. 116. 117.

118. 119. 120. 121.

122. 123. 124. 125. 126. 127. 128. 129.

130.

August Schlegel, Vorlesungen, S. 25. August Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 89–90, 94. Ebd., S. 98. Ebd., S. 97–98. Ebd., S. 100. Girouard, Return to Camelot, S. 64, 164–176, 232–240 weist überzeugend auf, wie einflussreich das Ritterideal in der englischen Schulbildung im 19. Jahrhundert gewesen ist. Siehe auch Crouch, Birth of nobility, S. 11–12. Oergel, Return of King Arthur, S. 110. Scott, „Chivalry“, S. 124–125. Ebd., S. 11–21. Derselbe Tenor in dem aus 1824 stammenden „Essay on Romance“, S. 170–172. Pittock, Reception of Sir Walter Scott, S. 6, 8, 20–22 (Victor Hugo), 51 (Spanien), 97 und 99–100 (Deutschland), 171 (Ungarn), 177 (Böhmen), 199 (Polen), 253–255 (Dänemark), 286–287 und 292 (Ivenhoe als Oper), 295 (Italien). Scott, Ivanhoe, Bd. I, S. 12, 112. Scott, Ivanhoe, Bd. III, S. 11, 365. Chandler, Dream of order, S. 38. Ebd., S. 25, 31, 39; Merriman, Flower of kings, S. 117; Overbeek, „Romantisch verleden“, S. 11. Scott, Ivanhoe, Bd. II, S. 15, 248–250, erstes Zitat S. 248, zweites S. 250, drittes S. 249. Siehe auch Overbeek, „Romantisch verleden“, S. 216–217. Scott, Ivanhoe, Bd. I, S. 5, 48; Bd. I, S. 6, 63–65; Bd. I, S. 10, 97–98. Ebd., Bd. III, S. 13, vor allem 390–392. Salari, „Ivanhoe’s Middle Ages“, S. 153 und Overbeek, „Romantisch verleden“, S. 217 argumentieren, dass das Gespräch zwischen Ivanhoe und Rebekka darauf hinweist, dass die Zeit der Ritter vorbei ist, übrigens ohne sich auf den Ausgang des Gottesurteils zu beziehen, das meiner Meinung nach die Unrichtigkeit ihrer Darlegung beweist. Siehe auch Girouard, Camelot, S. 60. Noch auf der letzten Seite sagt Scott, dass Rebekka Ivanhoes eigentliche Liebe ist, siehe Scott, Ivanhoe, Bd. III, S. 14, 401. Kudrycz, Historical present, S. 65.

Kapitel 3 Echtheit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Staël, Allemagne, Bd. I, S. 298–300, 302 (gotische Sitten), Bd. I, S. 197 (verräucherte Häuser). Ebd., Bd. I, S. 321. Über die umstrittene Erinnerung an Rahel Levin siehe Hahn, „Rahel Levin Varnhagen“. Espagne, „‚De l’Allemagne‘“, S. 230–231; Isbell, European romanticism, S. 5. Staël, Allemagne, Bd. II, S. 255 (Zitat), Bd. II, S. 134. Ebd., Bd. II, S. 236–237, 240–241, 248, 256, 348. Ebd., Bd. I, S. 29–30, 32–33, 38, 51, 60, 179–180, 197, Bd. II, S. 9–10, Bd. III, S. 364.

383

Anmerkungen 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37.

38. 39.

40. 41.

384

Ebd., Bd. II, S. 162–165, 193, Bd. III, S. 23–25, 29, 314–315. Ebd., Bd. II, S. 35–36, 172–173, Bd. V, S. 111. Ebd., Bd. II, S. 131–132. Die Ansicht, dass es der antiken Kultur an Selbstreflektion mangelte, hat de Staël, obwohl sie es nicht erwähnt, von August Schlegel. Ebd., Bd. II, S. 136. Ebd., Bd. II, S. 347–348. Ebd., Bd. II, S. 138–139. Ebd., Bd. III, S. 343, 363; Isbell, European romanticism, S. 158. Staël, Allemagne, Bd. III, S. 363. Isbell, European romanticism, S. 90–91. Goodden, Madame de Staël, S. 138. Voss, Mittelalter, S. 212. Zitiert in Merriman, Flower of kings, S. 97. Hulliung, Autocritique, S. 49–52. Ebd., S. 60. Ebd., S. 62–67, 177, 180. Ebd., S. 71–74. Blackwell, Homer, S. 26–27, 38, 41. Ebd., S. 84. Ebd., S. 104, 114–117. Ebd., S. 124, 105. Ebd., S. 126–127; Groom, Forger’s shadow, S. 121. Blackwell, Homer, S. 327–328, 334. Stafford, Sublime savage, S. 30; Groom, Percy’s Reliques, S. 71; Oergel, Return of King Arthur, S. 99. Blackwell, Homer, S. 112. Böker, „Marketing of Macpherson“, S. 73. Reill, German Enlightenment, S. 203–212; Mertens, „Bodmer“, S. 58–62 (Zitat S. 60). Groom, Forger’s shadow, S. 128; Stafford, Sublime savage, S. 28–37. Ossian, Poems, S. 5. Ossian, Poems, S. 18. So der Beginn von Fragment V: „Der Herbst ist dunkel in den Bergen; grauer Nebel bedeckt die Hügel. Stürmischen Wind hört man auf der Heide“, oder Fragment X: „Es ist Nacht, und ich bin allein, verlassen auf dem Hügel der Stürme. Der Wind weht fest in den Bergen... Gehe auf, Mond! Hinter deinen Wolken hervor“, Ossian, Poems, S. 13, 21. Ebd., S. 381. Diese Critical dissertation on the poems of Ossian, the son of Fingal (vollständig herausgegeben in: Ebd., S. 343–408) hat wesentlich dazu beigetragen, dass man Ossians Gedichte in praktisch ganz Europa für authentisch hielt, und wurde später in alle autorisierten Ausgaben des Ossian aufgenommen; ebd., S. 542. Ebd., S. 345–347, 357, 390. Ebd., S. 357 (Zitat), 361, 379, 381, 388.

Kapitel 3 Echtheit 42. 43. 44.

45. 46. 47. 48. 49.

50. 51. 52. 53. 54. 55. 56.

57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65.

66. 67. 68. 69.

Ebd., S. 368–369. Ebd., S. 358. Die geistreichste und bissigste Beschreibung von Macphersons Betrug sowie seiner hartnäckigen Bemühungen, jede Kritik im Keime zu ersticken, in Trevor-Roper, Invention of Scotland, S. 75–188. Baines, House of forgery, S. 103–124; Trevor-Roper, Invention of Scotland, S. 134. Goethe, Werther, S. 73, 110–111. Ebd., S. 151, vgl. Ossian, Poems, S. 193. Böker, „Marketing of Macpherson“, S. 87. Gewöhnlich wurde kaum unterschieden zwischen Kelten, Germanen und ihren mittelalterlichen Nachfahren: Alle galten als Vertreter der nordischen Kultur. So besang Klopstock Ossian als „deutschen Stamms“, siehe Robson-Scott, Literary Background, S. 39, Mertens, „Bodmer“, S. 63. Staël, De la littérature, Bd. I, S. 181, 183. Ossian, Poems, S. 51. Stafford, Sublime savage, S. 178. Ossian, Poems, S. 346–351. Ebd., S. 37, 209–210, 215. Groom, Forger’s shadow, S. 125; Groom, Making, S. 70–73. Trevor-Roper, Invention of Scotland, S. 136–140. Johnsons Urteil wurde von der späteren wissenschaftlichen, literarischen Kritik übernommen. Erst in den letzten Jahren wurden erste Versuche unternommen, Macpherson zu rehabilitieren. So wurde darauf hingewiesen, dass viel vom verwendeten literarischen Paradigma abhängt (oral-schriftlich, Theorien des Schreibens), und man widmet nun dem politischen Kontext der Debatte größere Aufmerksamkeit. Siehe Stafford, Sublime Savage, S. 79–85, 97, 122–128; Hudson, „‚Oral tradition‘“, S. 167–170; Baines, House of forgery, S. 111; Groom, Forger’s shadow, S. 111–114. Baines, House of forgery, S. 116–117; Hudson, „Oral tradition“, S. 170. Hurd, Letters, S. 27, 36–28. Ebd., S. 44–45, 104–112. Groom, Making, S. 83. Percy, Reliques, Bd. I, S. 1, 8. Ebd., Bd. I, S. 346–356. Groom, „Celts, Goths“, S. 281–286. Gillies, Herder und Ossian, S. 148–149, 153–154. Herder, Auszug, S. 160 (Zitat), S. 164–165, 172, 187. Dieser Brief erschien 1773 im selben Band Von deutscher Art und Kunst wie Goethes Aufsatz über das Straßburger Münster. Ebd., S. 182 (Impromptus), 181 (Zitat). Oergel, Return of King Arthur, S. 12, 23–24, 37; Meinecke, Entstehung des Historismus, S. 393. Meinecke, Entstehung des Historismus, S. 396, 398. Grundlegend ist Lüttgens, „Ursprung“ bei Johann Gottfried Herder, vor allem S. 12–13, 111–112, 121–138. Stolpe, Auffassung des jungen Herder, S. 161; Herder, Auszug, S. 183.

385

Anmerkungen 70. 71. 72. 73. 74. 75.

76. 77. 78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85.

86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100. 101. 102. 103.

386

Ebd., S. 201. Herder, Auch eine Philosophie, S. 505, 509. Berlin, Vico und Herder, S. 160–177. Taylor, „The importance of Herder“, S. 61–62. Stolpe, Auffassung, S. 194–195. „Die Deutschen behaupten am wenigsten ihren Charakter: das Volk aus dem Herkules den hyperboreischen Baum, Rom seinen spätesten Lorbeer holte: bemüht sich bald nach der Zeder Libanons, dem Weinstock Griechenlands, dem Lorbeer Roms: statt die Holzäpfel seiner eigenen Wälder zu genießen.“ Herder, Fragmente, S. 67. Lüttgens, „Ursprung“ bei Johann Gottfried Herder, S. 126, 128. August Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 22. Ebd., S. 28–29. August Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 29. August Schlegel, Vorlesungen, S. 23 (Zitat), 46 (Zitat), 61, 63, 70, 76–77. Ebd., S. 25–26. August Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 83, 99. August Schlegel, Geschichte der klassischen Literatur, S. 24 (Zitat). August Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 46; auch ebd., Vorlesungen, S. 25. August Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 106–107. Wahrscheinlich meint Schlegel hier die Untersuchung von J.K.C. Fischer, die einige Jahre später veröffentlicht wurde unter dem Titel „Einige Worte von der einzigen Ausgabe des Liedes der Niebelungen, und einer zweiten Bearbeitung desselben“, in: Eunomia, Bd. V.1 (1805), S. 266–275. Siehe Thorp, Study of the Nibelungenlied, S. 4. August Schlegel, Geschichte der romantischen Literatur, S. 41–42, 107. Ebd., S. 107–109 (Zitat 108). Ebd., S. 36, 38. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 12 (aus der „Vorrede“ zur zweiten Ausgabe, 1819). Scott, Minstrelsy, Bd. I, S. 165–166. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 16. Scott, Minstrelsy, Bd. I, S. 110–124. Ebd., Bd. I, S. 133–152. Ebd., Bd. I, S. 155–157. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 15, 17. Scott, Minstrelsy, Bd. I, S. 5. Ebd., Bd. I, S. 10–12. Ebd., Bd. I, S. 6–7. Zitiert in: Ebd., Bd. I, S. IX–XI. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 15. Scott, Minstrelsy, Bd. I, S. 163. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 19–20. Ebd., S. 16.

Kapitel 4 Eigenart 104. Ebd., S. 19–20. 105. In Deutschland wurde das Nibelungenlied erst im späten 19. Jahrhundert durch moderne Bearbeitungen und vor allem durch den Ring-Zyklus von Richard Wagner wirklich zu dem nationalen Epos, für das Schlegel schon 1803 plädiert hatte. Siehe Mertens, „Bodmer“, S. 79. 106. Glenny, The Balkans, S. 11. 107. Grimm, Kinder- und Hausmärchen, S. 1157, 1193. 108. Ebd., S. 1158–1159. Arnim und Brentano, Des Knaben Wunderhorn, Bd. III, S. 575–577. 109. Ein anderer klassischer Fall von Fälschung/Rekonstruktion war 1818 in Böhmen die „Entdeckung“ der Rukopis zelenohorský (Grünberger Handschrift), die angeblich aus dem 9. Jahrhundert stammte und ein vorchristliches tschechisches Epos enthielt. Siehe Graus, Lebendige Vergangenheit, S. 267–275. 110. Gossman, „Literature and education“, S. 347, namentlich über die Literatur. Auch die romantische Geschichtsschreibung beschreibt er als einen Versuch, „what was experienced as a fractured totality“ zu heilen, siehe Between history and literature, S. 257. 111. Für eine eher postmoderne Interpretation siehe Gumbrecht und Schnapp, „Preface to Kinder- und Hausmärchen“, S. 477–478. 112. Hugo, Théâtre complet, Bd. I, S. 413–414. 113. Ebd., Bd. I, S. 416–417, 421–422. 114. Keller, The Middle Ages reconsidered, S. 99 notiert, dass Hugos Beschreibung des Mittelalters sicher zum Ziel hatte, „die Disharmonie zu überwinden, die er in der französischen Gesellschaft vermutete“. 115. Gossman, „Literature and education“, S. 349–353.

Kapitel 4 Eigenart 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Malettke, „Zur politischen Bedeutung“, S. 25. Der Name der Herberge wird genannt in Keil, Wartburgfeste, S. 11. Bezüglich der Kleidung siehe Brandt, „Das studentische Wartburgfest“, S. 95. Francois, „Wartburg“, S. 155–156. Francois, „Wartburg“, S. 159. Malettke, „Zur politischen Bedeutung“, S. 17, 19. Keil, Wartburgfeste, S. 54. Ebd., S. 54. Van Sas, Metamorfose, S. 147–149. Ebd., 151-153. Dann, Nation und Nationalismus, S. 45, 47–48. Siehe Johnston, Der deutsche Nationalmythos, S. 27–48. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 301, 508; Settis, Toekomst van het ‚klassieke‘, S. 47–50. Zamoyski, Holy madness, S. 236–242. Dann, Nation und Nationalismus, S. 49–50 und Schulin, „Weltbügertum“, S. 123.

387

Anmerkungen 14. 15. 16. 17.

18.

19.

20.

21. 22. 23.

24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39.

388

Zitiert in Peardon, Transition, S. 104. Raedts, „Canonisation of the medieval past“, S. 160–164. Aughey, Politics of Englishness, S. 27. Newman, Rise of English nationalism, S. XVII–XX; Kumar, English national identity, S. 18–21. Kumar äußert übrigens heftige Kritik an Newman (S. 176–179), weil dieser seiner Meinung nach britischen und englischen Nationalismus durcheinanderwirft. Englischer Nationalismus entsteht laut Kumar erst Mitte des 19. Jahrhunderts. Collini, Public moralists, S. 345–346. Noch vor kurzem verteidigte Mandler, „‘Race‘ and ‚Nation‘“, S. 224–244, die These, dass virulentere Formen des Nationalismus in England nie existiert hätten. Johan Huizinga sagte dasselbe über die Niederlande. Siehe u. a. „Patriotisme en nationalisme“, vor allem S. 552–554. Butterfield, Whig interpretation, entzauberte den Mythos der ununterbrochenen Kontinuität der englischen Geschichte als theoretisches Konstrukt. Leider schwächte er seine Argumentation, indem er während des Zweiten Weltkriegs selbst die Positionen vertrat, die er 13 Jahre vorher verurteilt hatte. Siehe Englishman and his history. Kumar, English national identity, X, S. 32–35, spricht bei diesen vier Reichen von einem „imperial nationalism“, den er unterscheidet von „civic nationalism“ (Staaten, die Nationen werden) sowie „ethic nationalism“ (Nationen, die Staaten wollen). Colley, Britons . Kumar, English national identity, S. 159. Colley, Britons, S. 6, 368. Ihre Kritiker werfen Colley vor, sie stütze sich zu sehr auf die Theorie, dass Gruppen ihre Identität finden, indem sie sich von „anderen“ abgrenzen. Häufig wird auch die Meinung vertreten, sie setze die Entwicklung des britischen Nationalismus zu früh an (danke an Remieg Aerts). Kidd, British Identities, S. 75–76. Ebd., S. 81, 87, 215, 217; Smith, Gothic bequest, S. 6; Groom, „Celts, Goths“, S. 276. Kidd, British Identities, S. 284. Trevor-Roper, „Our first Whig historian“, S. 249–265. Smith, Gothic bequest, S. 64; siehe auch Kidd, British Identities, S. 224. Ossian, Poems, S. 44; Kidd, British Identities, S. 201–202. Smith, Gothic bequest, S. 98. Forbes, Hume’s philosophical politics, S. 275–276, 279–280. Burrow, Liberal Descent, S. 26. Kenyon, History men, S. 43. Hume, History, Bd. II, S. 518. Forbes, Hume’s philosophical politics, S. 297. Smith, Gothic bequest, S. 79, 83. Hume, History, Bd. I, S. 162, 168–169, Bd. II, S. 522. Ebd., Bd. I, S. 524. Zum Mythos „Norman Yoke“ siehe den unübertroffenen Artikel von Hill mit diesem Titel. Hume, History, Bd. I, S. 226–227.

Kapitel 4 Eigenart 40. 41. 42. 43. 44. 45.

46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56.

57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71.

72.

Ebd., Bd. I, S. 298, 371, 437, 444–445, 464–465; Forbes, Hume’s philosophical politics, S. 304. Hume, History, Bd. II, S. 99, 104–105, 381. Ebd., Bd. II, S. 525 fasst die ganze Entwicklung bis zum 17. Jahrhundert noch einmal kurz zusammen. Ebd., Bd. I, S. 488. Kenyon, History Men, S. 56; Peardon, Transition, S. 19; Burrow, Liberal descent, S. 25–26. Die These der ununterbrochenen Kontinuität der historischen Entwicklung war eines der effektivsten Propagandamittel im Kampf gegen die revolutionären Kräfte. Siehe Blaas, Continuity and anachronism, S. 25. Burke, Reflections, S. 90, 124–125. Ebd., S. 117–119. Ebd., S. 120. Burrow, Liberal descent, S. 15. Hallam, View, Bd. II, S. 1. Ebd., Bd. II, S. 78. Ebd., Bd. II, S. 8, 24–21, 36–37, 198. Ebd., Bd. II, S. 159, 163, 165, 167. Ebd., Bd. II, S. 34–35. Ebd., Bd. II, S. 7, 11 (über Gerichte). Ebd., Bd. II, S. 8, 30, 166 und 53, „Wir müssen den alten sächsischen Gesetzen eine große Kraft beimessen, die die Eroberung Wilhelms überlebt haben und zu einem Teil unseres Gewohnheitsrechts geworden sind.“ Zitiert in Dann, „Tradition des Reiches“, S. 66. Siehe auch Sheehan, German history, S. 373–374 und Schulin, „Weltbürgertum“, S. 114–115. Boterman, Duitsland 1800–1990, S. 43. Brief von Hegel an den Theologen Friedrich Immanuel Niethammer, Jena, Montag, 13. Oktober 1806, in: Hegel, Briefe, Bd. I, S. 67–69, 68 (Zitat). Görres, „Untergang“, S. 23, 26, 29–30 (Zitat). Görres, „Die Teutschen Volksbücher“, S. 179. Sheehan, German history, S. 374–375; Krieger, German idea of freedom, S. 211. Körber, Görres und die Revolution, S. 60. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 590. Görres, „Deutsche Verfassung“, S. 66. Dann, Nation und Nationalismus, S. 83–84. Görres, „Deutsche Verfassung“, S. 69–72. Ebd., S. 74. Görres, „Kaiser und Reich“, S. 178–179, 186. Ebd., S. 182–183. Fuhrmann, „Premières décennies“, S. 175–180; Schieder, „Organisation und Organisationen“, S. 268–269, und dazu noch Knowles, Great historical enterprises, S. 65–97. Von See, Deutsche Germanen-Ideologie, S. 34–36.

389

Anmerkungen 73. 74. 75. 76. 77. 78. 79. 80.

81. 82. 83. 84. 85. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92.

93. 94. 95. 96.

97.

98. 99. 100. 101.

390

Werner, „Streit um die Anfänge“, S. 23–25; Geary, Myth of nations, S. 26–29. Fuhrmann, „Premières décennies“, S. 176–178. Geary, Myth of nations, S. 26–29. Escudier, „Historische Darstellung“, S. 209, 230–231, 234–235. Fuhrman, „Gelehrtenleben“, S. 561. Althoff, Fried und Geary, „Introduction“, S. 2. Heine, Romantische Schule, S. 29. Raumers Werk wurde gleich nach seinem Erscheinen ein Bestseller, siehe Deisenroth, Deutsches Mittelalter, S. 83. Auch danach blieb es, trotz der scharfen Kritik von Ranke und seinen Schülern an der unkritischen Auswertung der Quellen, sehr populär, wie sich darin zeigt, dass 1871–1872 noch eine vierte Auflage erschien. Leerhoff, „Des Reiches Herrlichkeit“, S. 276. Borst, Reden, S. 83. Friedrich von Raumer, Geschichte, Bd. IV, S. 243. Ausführlich über Raumers Barbarossaberg, Heldenbilder und Gegensätze, S. 51–55 und Schieblich, Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums, S. 113–117. Raumer, Geschichte, Bd. II, S. 2–3. Ebd., Bd. II, S. 13–14. Ebd., Bd. II, S. 182–183. Ebd., Bd. III, S. 123–124. Ebd., Bd. III, S. 385–389. Ebd. Ebd., Bd. V, S. 58, 208. Siehe Friedrich, Friedrich von Raumer, S. 17–18. Raumer vertrat hier die „föderale Variante des nationalen Denkens“, die juristisch in der historischen Rechtsschule von Friedrich Karl von Savigny ausgeführt wurde, siehe Dann, „Tradition des Reiches“, S. 80. Raumer, Geschichte, Bd. V, S. 208. Haage, Heinrich Luden, S. 17. Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur, S. 104, 143; Marks, Entwicklung nationaler Geschichtsschreibung, S. 63–64; Haage, Heinrich Luden, S. 18–20. Ludens einziges Vorbild war Johannes von Müllers Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft (Haage, Luden, S. 31), aber dieses Werk, geschrieben zwischen 1786 und 1808, hatte noch nicht den kritischen politischen Ansatz, den Luden seinem Werk verlieh. Siehe auch Schulin, „Epochenschwelle“, S. 23–24. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866, S. 289, spricht vom tragischen Dilemma der deutschen Liberalen, dass sie Freiheit und Einheit gleichzeitig erreichen mussten, wobei Ersteres eine schwache, Zweites eine starke ausübende Gewalt erforderte. Luden, Geschichte, Bd. II, S. 324; über die Franken Bd. III, S. 301, Bd. V, S. 92, 402–403, 450–453, Bd. VI, S. 154. Ebd., Bd. XII, S. 586. Ebd., Bd. III, S. 300–306, 411–412, 416; Bd. V, S. 102, 416–417, Bd. VI, S. 136, 341, 368. Ebd., Bd. VI, S. 490–491, Bd. VII, S. 173–174, 185, 227, 266.

Kapitel 4 Eigenart 102. 103. 104. 105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112. 113.

114. 115. 116. 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123.

124. 125. 126. 127. 128. 129. 130. 131.

132. 133. 134. 135.

Ebd, Bd. VII, S. 241, 263, 265–268, 286, 290–291, 326–328, Bd. XI, S. 204–205. Ebd., Bd. X, S. 298–301, Bd. XII, S. 320 (Zitat). Berg, Heidenbilder, S. 39–46. Luden, Geschichte, S. 42. Ebd., Bd. X, S. 303, 410, Bd. XI, S. 267. Ebd., Bd. XII, S. 450, 454–457, Schieblich, Auffassung des Kaisertums, S. 74. Luden, Geschichte, Bd. XI, S. 272, 445, 468; Bd. XII, S. 359, 487–488. Bloch, Rois thaumaturges, S. 399–402. Bell, Cult of the nation, S. 47–48, 96. Dies ist die zentrale These von Bell, Cult of the nation, S. 38, 43, 47–48, 95–96, 161–168. Ebd., S. 8, 15. Thiesse, Création, S. 171 über die synchrone und diachrone Auffassung des Begriffs Nation. Bell, Cult of the nation, S. 95; Poulot, Musée, spricht von einem „Versagen der Nationalgeschichte“ (S. 68) und einem „Mangel an Investitionen in das eigene Erbe“ (S. 74) in den 30 Jahren vor der Revolution. Hampson, „La patrie“, S. 126; Amalvi, Goût du Moyen Âge, S. 72–73; Bell, Cult of the nation, 125–126. Hunt, Politics, culture and class, S. 27, 34, 51; Bell, Cult of the nation, S. 156. Poulot, Musée, S. 166, 169, 187. Thiesse, Création, S. 50–51; Crossley, French historians, S. 15–17. Morrissey, Charlemagne and France, S. 258–262. Einleitung in die Charta wie zitiert in Thierry, „Considérations“, S. 157–158. Staël, Considérations, S. 69–70, Zitat S. 70. Melon, Political uses of history, S. 8–9. Bonald, De la loi, S. 369. Bonald, Observations, S. 593 (Zitat), 599–600; De la manière, S. 1062–1065 (Zitat S. 1065). Siehe auch Théorie du pouvoir, S. 305–311, worin er sich bereits 1796 fest überzeugt von der Rückkehr des Königs zeigt. Runia, Waterloo, S. 109. Crossley, French historians, S. 8–10. Gauchet, „Lettres sur l’histoire de France“, S. 254–255. Thierry, „Considérations“, S. 183. Thierry, Dix ans, XVI. Crossley, French historians, S. 48. Thierry, Dix ans, S. 321; Lettres, S. 411. Siehe dazu Krul, „Kleur van het verleden“, S. 210–226. Thierry, Dix ans, S. 314, 317, 344. Zu einer modernen Anwendung dieser Technik siehe Davies, The isles. Er bezeichnet den englischen König „Willem the conqueror“ als „Guilleaume le Conquérant“. Thierry, Lettres, S. 131–134, 138–139, 196. Thierry, Dix ans, S. 301–311. Thierry, „Considérations“, S. 202; Gossman, Between history and literature, S. 102. Pomian, „Francs et Gaulois“, S. 68–69; Voss, Mittelalter, S. 262–264.

391

Anmerkungen 136. 137. 138. 139. 140. 141. 142. 143. 144. 145.

146. 147. 148. 149. 150. 151. 152. 153. 154. 155. 156. 157. 158. 159. 160. 161. 162. 163. 164.

Thierry, Lettres, S. 97–98. Thierry, Dix ans, S. 309–311. Blaas, „Verjongende barbaren“, S. 54. Thierry, Dix ans, S. 350. Thierry, Lettres, S. 205–207. Thierry, Lettres, S. 212; „Considérations“, S. 129–130. Crossley, French historians, S. 57–60; Gossman, Between history and literature, S. 107. Thierry, „Considérations“, S. 202, 280, 282. Crossley, French historians, S. 60 Michelet, Histoire, Bd. IV, S. 381. In späteren Ausgaben der Histoire de France, die bis heute immer wieder neu aufgelegt wird, hat Michelet in den Teilen über das Mittelalter jegliche positiven Verweise auf Kirche und Christentum gestrichen. Nur in dieser kritischen Ausgabe wird der ursprüngliche Text in einer Beilage rekonstruiert. Ebd., Bd. IV, S. 182. Gossman, Between history and literature, S. 159–160; Crossley, French historians, S. 190, 195, 200. Viallaneix, Michelet, S. 100–101, 121. „Frankreich hat Frankreich gemacht, und der fatalistische Begriff Ethnie ist dabei von sekundärem Interesse.“ Michelet, Histoire, Bd. IV, S. 13. Ebd., Bd. IV, S. 328; Crossley, French historians, S. 201. Michelet, Histoire, Bd. IV, S. 167–169, 171, 179, 207. Ebd., Bd. IV, S. 181–182, 190–191, 207, 217. Ebd., Bd. IV, S. 291–292. Ebd., Bd. IV, S. 326–328. Crossley, French historians, S. 201. Michelet, Histoire, Bd. IV, S. 396, 422–423, 444 (Zitat). Ebd., Bd. V, S. 234 (Zitat), 236 (Zitat). Ebd., Bd. VI, S. 182. Ebd., Bd. VI, S. 60, 85, 121 (Zitat). Ebd., Bd. VI, S. 66–67, 73–74, 77–78, 656 (Zitat). Ebd., Bd. IV, S. 11, 20. Krumeich, „Historische Wissenschaft“, S. 205–207. Hallam, View, Bd. I, S. 1. Moretti und Porciani, „Italy’s various Middle Ages“, S. 177–179, 191.

Kapitel 5 Gemeinschaft 1. 2. 3.

392

Kaegi, Burckhardt, Bd. II, S. 112 (Triumph der Architektur), Bd. II, S. 111 (heiliger Grund). Ebd., Bd. II. S. 149. Neumann, „Jacob Burckhardt“, S. 204–205.

Kapitel 5 Gemeinschaft 4. 5. 6. 7.

8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.

19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40. 41. 42. 43.

Burckhardt, „Conrad von Hochstaden“, S. 204–205, 221, 220 (Zitat). Ebd., S. 208–209. Ebd., S. 238. Sigurdson, Jacob Burckhardt’s, S. 22–23; Neumann, „Jacob Burckhardt“, S. 219, berichtet, Burckhardts Lieblingswort bei der Beschreibung des Mittelalters sei „bunt“ gewesen. Gossman, Basel, S. 223–229; Sigurdson, Jacob Burckhardt’s, S. 54–55. Gossman, Basel, S. 101, 230–231, 241–243; Sigurdson, Jacob Burckhardt’s, S. 54–55. Burckhardt, Kultur der Renaissance, S. 76. Michelet, Histoire, Bd. VII, S. 49. Ebd., S. 62. Ebd., S. 54. Ebd., S. 52. Stadelmann, „Jacob Burckhardt“, S. 488–490. Gossman, Basel, S. 285–290; Sigurdson, Jacob Burckhardt’s, S. 40–42. Gossman, Basel, S. 290, 346. Burckhardt, „Historische Fragmente“, S. 252, 254–255, 280–281 (Zitat); siehe auch Kaegi, Burckhardt, Bd. VII, S. 1, 147–148, 160–162; Stadelmann, „Jacob Burckhardt“, S. 501–503. Gossman, Basel, S. 98. Zur Entwicklung Basels im 19. Jahrhundert siehe Gossman, Basel, S. 18–103. Chateaubriand, Génie, Bd. I, S. 160. Van de Sande, Curie romaine, S. 190. Le Goff und Rémond, Histoire de la France religieuse, S. 112. Ebd., S. 117. Ravitch, Catholic Church, S. 63–64. Gough, Paris and Rome, S. 12–13. Gibson, Social History, S. 60–61. Lamennais, De la religion, S. 110–111, 115–116. Costigan, Rohrbacher, S. 49–51. Ravitch, Catholic Church, S. 73–74. Pottmeyer, Unfehlbarkeit, S. 29. Ravitch, Catholic Church, S. 72–73. Johnson, Prosper Guéranger, S. 129. So zum Beispiel in Gough, Paris and Rome, S. 122. Guéranger, Institutions, Bd. I, S. 1xix–1xx, 1xxv. Ebd., Bd. I, S. 200. Ebd., Bd. I, S. 31. Ebd., Bd. I, S. 235, 237, 243. Ebd., Bd. I, S. 268–270, 278. Ebd., Bd. I, S. 346–347, 408. Ebd., Bd. I, S. 347–348, 278; Gough, Paris and Rome, S. 92–93. Gough, Paris and Rome, S. 124. Johnson, Prosper Guéranger, S. 265.

393

Anmerkungen 44. 45. 46. 47. 48. 49. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 75. 76. 77. 78. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85.

394

Gough, Paris and Rome, S. 124–125. Geertz, „Religion“, S. 90. Guéranger, Institutions, Bd. I, S. 1, 99. Ebd., Bd. I, S. 4–5. Le Goff und Rémond, Histoire de la France religieuse, S. 285–291. Ketteler, „Die großen socialen Fragen“, S. 26–31. Ketteler, „Ansprache“, S. 685–688. Ketteler, „Katholiken“, S. 206; „Freiheit“, S. 262–263. Ketteler, „Katholiken“, S. 214–219, 237–239. Ketteler, „Arbeiterfrage“, S. 380–386, 399–402, 447–479. Ketteler, „Ansprache“, Bd. I., S. I, 687. Nipperdey, Religion im Umbruch, S. 52–53. Ketteler, „Freiheit“, S. 231–232. Clark, „New Catholicism“, S. 13–23. Lichtheim, Origins of socialism, 7, nennt diese beiden Punkte als die wesentlichen Kennzeichen aller sozialistischen Bewegungen. Marx und Engels, Kommunistisches Manifest, S. 67–68. Ebd., S. 42, 45, 68. Ebd., S. 41. Wilson, Finland Station, S. 294–295. Rigby, „Historical materialism“, S. 477, auch erschienen als „Marx, Engels“, S. 147– 180. Marx, Das Kapital, S. 564. Rigby, „Historical materialism“, S. 478, 481–485. Ebd., S. 495. Marx, Das Kapital, S. 558–559, 564, 567–568. Ebd., S. 557, 578. Saint-Simon, Lettre à son neveu, S. 101. Saint-Simon, Nouveau christianisme, Bd. 109, 115. Saint-Simon, Introduction, S. 148 und Mémoire sur la science, S. 247. Saint-Simon, Introduction, S. 169; Manuel, New World, S. 219–236. Saint-Simon, Quelques opinions, S. 56–68. Ebd., S. 68–72; siehe auch Manuel, New World, S. 227–228. Saint-Simon, Nouveau christianisme, S. 151. Saint-Simon, L’industrie, Bd. II, S. 32. Ebd., S. 23–24. Pollard, Idea of progress, S. 103; Crossley, French historians, S. 107, 109, 120. Saint-Simon, Nouveau christianisme, Bd. III, S. 134, 165; L’industrie, Bd. II, S. 37. Ebd., Bd. III, 134–135, 146–148. Ebd., Bd. III, S. 108–109, 114. Morris, „How I became a socialist“, S. 280. Banham und Harris, William Morris, S. 8; Chandler, Dream of order, S. 211–212. Grennan, William Morris, S. 34, 57. Morris, „Revival of architecture“, S. 323.

Kapitel 5 Gemeinschaft 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94.

95.

96. 97. 98. 99. 100. 101. 102. 103.

104. 105. 106. 107. 108. 109.

110. 111. 112. 113. 114. 115. 116.

Morris, „Art and industry“, S. 390, 392. Grennan, William Morris, S. 64–66. Morris, „Aims of art“, S. 90; „Art under plutocracy“, S. 173; „Art and socialism“, S. 201–202. Morris, „Art and industry“, S. 380–381. Morris, „Revival of handicraft“, S. 334; Chandler, Dream of order, S. 219. Morris, „Art and industry“, S. 382. Morris, „Art and industry“, S. 385–390. Weichlein, Nationalbewegungen, S. 67. Die religiöse Kraft und sinnstiftende Fähigkeit des Nationalsozialismus wird hervorragend beschrieben in Anderson, Imagined Communities, vor allem S. 141–145; siehe auch Weichlein, Nationalbewegungen, S. 89–94. Über die Ausbreitung des ethnischen Nationalismus siehe Hobsbawm, Natie en Nationalisme sedert 1780, S. 141–142; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, S. 265; Weichlein, Nationalbewegungen, S. 98–103. In allen Beiträgen der kürzlich erschienenen Sammlung von Baycroft und Hewitson, What is a nation?, wird übrigens angemerkt, dass die Trennlinie zwischen ethnischem und zivilem Nationalismus nicht zu scharf gezogen werden sollte. Kumar, English national identity, S. 179, 187, 194. Ebd., S. 196–199. Ebd., S. 208–213; Burrow, Liberal descent, S. 119–125. Williams, „United Kingdom“, S. 272–292. Über das Interesse an den Angelsachsen bis 1800 siehe McDougall, Racial myth, S. 31–88. Malman, „Claiming the nation’s past“, S. 578, 587. Oergel, Return of King Arthur, S. 158–161. Mandler, „Race“ and „Nation“, S. 240–242. Übereinstimmend mit der These seines Artikels, ethnischer Nationalismus sei in England kaum vorgekommen, zieht er den Schluss, der demokratische Teutonismus habe wenig Einfluss gehabt. Burrow, Liberal descent, S. 103, 108, 110. Kingsley, Roman and Teuton, S. 98; Oergel, Return of King Arthur, S. 161–163. Kingsley, Roman and Teuton, S. 8–9. Ibidem, S. 53–54, 103, 114–115. Ibidem, S. 261–262 (Zitat 2). Einen hervorragenden Überblick über das Werk dieser drei Historiker findet man in Burrow, Liberal descent, S. 126–151 (Stubbs), 155–176, 180–192 (Freeman) und 177–179 (Green). Über Green siehe auch Brundage, People’s historian, S. 73–99. Green, Short history, S. 1–2 (Zitat 2). Ebd., S. 3–4. Ebd., S. 13–15, 161. Ebd., S. 45, 57. Ebd., S. 71–72, 75 (Zitat), 85. Ebd., S. 92–93, 169. Jenkins, Nationalism in France, S. 88.

395

Anmerkungen 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123. 124. 125. 126. 127. 128. 129. 130. 131. 132. 133. 134. 135. 136. 137.

138. 139. 140. 141. 142. 143. 144. 145. 146. 147. 148. 149. 150. 151. 152. 153.

396

Cholvy und Hilaire, Histoire religieuse, S. 59–61. Jenkins, Nationalism in France, S. 90–92. Über die Unzufriedenheit der Linken siehe auch Breuer, Nationalismus und Faschismus, S. 66. Soucy, Fascism in France, S. 134. Gildea, Children of the revolution, S. 265, 353. Über die Vorgeschichte siehe Kalman, Rethinking antisemitism, S. 130, 132, 190– 193, und Morowitz, „Anti-semitism, medievalism“, 35–36. Katz, From prejudice to destruction, S. 296. Pierrard, Juifs et catholiques français, S. 37. Morowitz, „Anti-semitism, medievalism“, S. 35. Drumont, La France juive, Bd. I, S. 5–7. Ebd., Bd. I, S. 7–12. Ebd., Bd. I, XVIII (Zitat), S. 142, 150, 153, 159. Ebd., Bd. I, S. 143–144. Ebd., Bd. I, S. 149, 154–156, 165. Ebd., Bd. I, S. 170–172, 174–178. Ebd., Bd. I, S. 174–186. Winock, Nationalism, anti-semitism, S. 88–96; Busi, Pope of anti-semitism, S. 54, 60–61; Taguieff, Judéophobie, S. 11, 145–147. Griffiths, Reactionary revolution, S. 15–16. Sternhell, Maurice Barrès, S. 380–388, Zitat S. 291. Ebd., S. 312, 317–320; Barrès, Scènes et doctrines, Bd. I, S. 94. Soucy, Fascism in France, S. 139–140. Sandall, Culture cult, S. 95–96, 99–100 bezweifelt dies. In einer äußerst einseitigen Interpretation Herders („a cranky German provincial“, S. 109) behauptet er, die Bewunderung für das Typische der eigenen Volkskultur rühre stets aus Ressentiments und führe zwangsläufig zur Aggression gegen das Nicht-Eigene. Wippermann, „Der deutsche Drang nach Osten“, S. 24; Hackmann und Lübke, „Mittelalterliche Ostsiedlung“, S. 182; Herder, Briefe, S. 212. Luden, Geschichte, Bd. VII, S. 87, 134; Bd. XI, S. 79. Wippermann, Ordensstaat als Ideologie, S. 372. Luden, Geschichte, Bd. XII, S. 367, 382, 387–388. Althoff, „Beurteilung der mittelalterlichen Ostpolitik“, S. 149. Treitschke, „Ordensland“, S. 11 (Zitat), 79–81, 92–94. Ebd., S. 27–28; Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 50–54. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 48–79, Zitat S. 74 Jefferies, Contesting the German Empire, S. 28, 168. Walkenhorst, Nation – Volk – Rasse, S. 57, 180, 216–222. Lamprecht, „Lehren der Kolonisation“, S. 77–80, 90–92. Ebd., S. 79. Burleigh, Germany turns eastwards, S. 267. Lamprecht, Deutsche Geschichte, S. 309–311. Ebd., S. 350 (Griechen und Perser), 352–355, 360–367, 371–374. Ebd., S. 363.

Schlussbetrachtung 154. Ebd., S. 399–400. 155. Tollebeek, Toga van Fruin, S. 82–83. 156. Lieven, Empire, Bd. XIV. Über Deutschland siehe Ther, „Imperial instead of national history“, S. 53–54, 57–58. 157. Lamprecht, „Lehren der Kolonisation“, S. 79. 158. Ebd., S. 78. 159. Lamprecht, Deutsche Geschichte, S. 375–376. 160. Zitiert in Wasser, Himmlers Raumplanung, S. 231. Die aufschlussreichste Arbeit über die Ostforschung bleibt jedoch Burleigh, Germany turns eastwards. 161. Bergmann, Agrarromantik, S. 21 162. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, S. 254–256. 163. Clark, „New Catholicism“, S. 13. 164. Dass sich derartige Entwicklungen auch in anderen Ländern vollzogen, geht hervor aus Eickhoff, Oorsprong van het „eigene“ .

Schlussbetrachtung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

16. 17. 18.

Wisskirchen, Zeitgeschichte, S. 30–32, 36–37 (Zitat S. 30): Mann, Betrachtungen, S. 21–25 (Zitate S. 21, 24, 405). Mann, Zauberberg, S. 523. Ebd., S. 711–714. Ebd., S. 540, 549, 616, 621, 623, 625, 634, 639–640. Ebd., S. 552. Ebd., S. 544–547, 951. Ebd., S. 552–554; Wisskirchen, Zeitgeschichte, S. 73–75. Wisskirchen, Zeitgeschichte, S. 54, 81, 137. Eagleton, Reason, faith, and revolution, S. 161–162. Burrow, Liberal descent, S. 3. Michelet, Histoire, Bd. IV, S. 15–16. Oexle, „Mittelalter und Unbehagen“, S. 144–145. Friedman und Spiegel, „Medievalisms old and new“, S. 693–694. Rexroth, „Mittelalter und Moderne“, S. 15, 21. Jefferies, Contesting the German Empire, S. 27, umschreibt die New Orthodoxy im Nachkriegsdeutschland so: „Wo Modernisierung und Liberalismus nicht Hand in Hand gehen, muss eine Katastrophe folgen.“ Sandall, Culture cult, S. 96. Zur Unsinnigkeit dieser Beschuldigung siehe Safranski, Romantik, S. 17–28. Mazower, Dark continent, Bd. XII, S. XV, 3–4, 9. McMahon, Enemies of the Enlightenment, S. 200, erklärt, dass man die Feinde der Aufklärung und des Liberalismus ebenso zur Modernität rechnen muss wie ihre Gegner.

397

Anmerkungen 19. 20. 21.

22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37.

38. 39. 40. 41. 42.

43. 44. 45. 46. 47. 48.

398

Zum Geschick des Mittelalters außerhalb Europas siehe: Altschul und Davis, Medievalisms in the post-colonial world. Nipperdey, „Aktualität des Mittelalters“, S. 30; siehe auch Stoffers, „Introductie“, S. 19–23. Lubac, Exégèse médiéval; Congar, Ecclésiologie du haut Moyen-Age; Tierney, Foundations of the conciliar theory; Chenu, Théologie au douzième siècle; Ratzinger, Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura. Smalley, Study of the Bible, S. VII–VIII, XIII–XVI. Southern, Western Society. Für eine ausführliche Besprechung von Southerns Werk siehe Kudrycz, Historical present, S. 195–206. Southern, „Exeter College Commemoration“, Bd. 4; Raedts, „Leermeesters“, S. 568. Southern, Scholastic humanism, S. V und 2. Morris, Discovery of the individual; Murray, Reason and society in the Middle Ages; Friedman und Spiegel, „Medievalisms old and new“, S. 690–692. Goebal, Great War and medieval memory, S. 12–13. Groebner, Mittelalter, S. 17, 21, 133 (Zitat). Bahnbrechend war in dieser Hinsicht der kurze Essay von Le Goff, „Pour un long moyen âge“. Für eine ausführliche Argumentierung dieser Periodisierung siehe Raedts, „Tussen oud en modern“, S. 49–63. Reynolds, „Social Mentalities“, S. 24–25, 30–31. Asad, Genealogies, S. 272. Smith, Europe after Rome, S. 51–54, 65–71. So der Anfangs- und Schlusssatz von Bernard von Cluny, „De contemptu mundi“, S. 223, 226. Bartlett, Making of Europe, S. 105–111. Darwin, After Tamerlane, S. 27–33. Bull, Knightly piety, S. 23–56 (Gottesfrieden); Jordan, Louis IX, S. 35–64 (französische Regierungsreformen); Clanchy, From Memory to Written Record, S. 57, 66, 136–138 (englisches Steuersystem). Weiler, Deus in Terris, S. 8–10. Duby, Three orders, S. 4–9. Raedts, „Aards paradijs“, S. 45–46. Moore, Origins, S. 58–59. Douglas, Purity and Danger, S. 5, 41–57, hat darin in einer Abhandlungen über die jüdischen Speisevorschriften darauf hingewiesen, dass rituelle Reinigungsvorschriften vor allem einen Versuch darstellen, Ordnung im Universum zu schaffen. Lambert, Medieval heresy, S. 108–109. Delumeau, Histoire du paradis, S. 159–166; Raedts, „Aards paradijs“, S. 36. Dante, Göttliche Komödie, S. 23 (niederländische Ausgabe). Moore, Formation of a Persecuting Society, S. 3–5. Oexle, „Das entzweite Mittelalter“, S. 8–12. Settis, Toekomst van het „klassieke“, S. 50–51.

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Sachregister A

Agobard von Lyon (um 769–840) 322 Albrecht der Bär, Markgraf von Brandenburg (um 1100–1170) 334 Alexander der Große, König von Makedonien (356 v. Chr.–323 v. Chr.) 39, 46 Alexander III., Papst (um 1100–1181) 123 Alexander I., Zar von Russland (1777– 1825) 118 Alfred der Große, König von Wessex (849–899) 98 Ambrosius von Mailand (um 340–397) 51 Ankersmit, Frank (1945) 373 Anselmus von Canterbury (um 1033– 1109) 73 Antoninus Pius, römischer Kaiser (86–161) 82, 115 Ariost, Ludovico (1474–1533) 96, 132, 168 Aristoteles (384 v. Chr.–322 v. Chr.) 26, 69 Arminius (Hermann) (um 18 v. Chr.–21 n. Chr.) 54, 55 Arndt, Ernst Moritz (1769–1860) 123 Arnim, Achim von (1781–1831) 188, 387 Asad, Talal (1935) 30, 31, 363, 364, 374, 375, 398 Asser († um 909) 76 Augustinus von Canterbury (um 520– 604) 73, 75 Augustinus von Hippo, Aurelius (354– 430) 51, 256 Augustus, römischer Kaiser (63 v. Chr.– 14 n. Chr.) 37, 40, 41, 56 August Wilhelm Schlegel (1767– 1845) 110, 136, 148, 177, 193 Austen, Jane (1775–1817) 81

B

Bacon, Francis (1561–1626) 206 Bale, John (1495–1563) 73–75 Barbazan, Etienne de (1696–1770) 70 Baronio, Cesare (1538–1607) 49 Barrès, Maurice (1862–1923) 325, 326, 396 Becket, Thomas (1118–1170) 74, 75 Bellay, Guillaume du (1491–1543) 62 Benedikt XII., Papst (1285–1342) siehe Jacques Fournier 31 Benedikt XVI., Papst (1927) 357 Benjamin, Walter (1892 –1940) 35 Berengar von Tours (um 999–1088) 48 Berlin, Isaiah (1909–1997) 381, 382 Bernanos, George (1888–1948) 321 Bernhard von Cluny (1. Hälfte des 12. Jh.) 365, 398 Bismarck, Otto von (1815–1898) 309, 332, 337 Bisson, Thomas Noel (1931) 27, 374 Blackwell, Thomas (1701–1757) 69, 157– 160, 162, 165, 172, 175, 179, 384 Blair, Hugh (1718–1800) 162, 165, 166, 173, 191 Blake, William (1757–1827) 130 Bloch, Ernst (1885–1977) 348 Bloch, Marc (1886–1944) 27, 374, 391 Boccaccio, Giovanni (1313–1375) 42, 43, 367 Bodin, Jean (1530–1596) 61, 63 Bodmer, Johann Jakob (1698–1783) 159, 160, 164, 384, 385, 387 Boileau, Nicolas (1636–1711) 66–68 Bolingbroke, Henry St. John, Lord (1678– 1751) 207 Bolland, Jean (1596–1665) 49

423

Sachregister Bonald, Louis de (1754–1840) 246–248, 265, 391 Bossuet, Jacques-Bénigne (1627–1704) 50, 51, 284, 376 Boswell, James (1740–1795) 167 Boulainvilliers, Henri de (1658–1722) 251 Boulanger, George (1837–1891) 320 Brandt, Gerard (1626–1685) 387 Brentano, Clemens (1778–1842) 122, 188, 224, 387 Bruni, Leonardo (1370–1444) 43 Brutus, Lucius Junius (um 500 v. Chr.) 112 Budé, Guillaume (1467–1540) 65, 84 Burckhardt, Jacob (1818–1897) 13, 32, 229, 267–275, 339, 353, 392, 393 Burke, Edmund (1729–1797) 114, 133, 134, 214–218, 220, 265, 378, 381, 382, 389 Burne-Jones, Edward (1833–1898) 303 Butterfield, Herbert (1900–1979) 377, 378

C

Camden, William (1551–1623) 80, 378 Carion, Johannes (1499–1537) 46, 47, 58, 59 Cäsar, Gaius Julius (um 100 v. Chr.–44 v. Chr.) 62, 87, 112 Cato Uticensis (der Jüngere), Marcus Porcius (95 v. Chr.–46 v. Chr.) 112 Cavour, Camillo Benso di (1810–1861) 309 Chambord, Henri, Graf von (1820– 1883) 319, 320 Chapelain, Jean (1595–1674) 68, 69 Chateaubriand, François-René de (1768– 1848) 112, 119, 132, 134–136, 145, 148, 248, 276, 381, 382, 393 Chaucer, Geoffrey (um 1343–1400) 81 Chenu, Marie-Dominique (1895–1990) 357, 398 Chlodwig I. (Chlodowech, Clovis), König der Franken (um 465–511) 61, 62, 207, 240, 247, 249, 250

424

Cicero, Marcus Tullius (106 v. Chr.–43 v. Chr.) 43, 45, 66, 112 Civilis, Gaius Julius (um 25–nach 70) 54, 55 Coke, Edward (1552–1634) 53, 78, 79, 217, 317 Cola di Rienzo (um 1313–1354) 40, 41 Colley, Linda (1949) 388 Colonna, Giovanni (1295–1348) 38, 39 Congar, Yves (1905–1995) 357, 359, 398 Cranach der Ältere, Lucas (1472–1553) 177

D

Dante Alighieri (um 1265–1321) 39–41, 367, 375, 398 Delumeau, Jean (1923) 28, 374, 398 Descartes, René (1596–1650) 257 Disney, Walt (1901–1966) 373 Domitian, römischer Kaiser (51–96) 37 Dooren, Frans W. M. van (1934–2005) 368 Dreyfus, Alfred (1859–1935) 310, 320, 325, 326 Drumont, Edouard (1844–1917) 320– 326, 396 Dryden, John (1631–1700) 81 Dumoulin, Charles (1500–1566) 65 Duns Scotus, Johannes (um 1265–1308) 7 Dürer, Albrecht (1471–1528) 177, 195

E

Eduard der Bekenner, König von England (um 1003–1066) 220 Eduard I., König von England (1239– 1307) 72, 79, 212, 317 Eduard III., König von England (1312– 1377) 72, 96 Eduard VI., König von England (1537– 1553) 73 Einhard (um 770–840) 68 Elija, Prophet (8. Jh. v. Chr.) 49, 50 Elisabeth I., Königin von England (1533– 1603) 73, 76 Elisabeth von Thüringen (1207–1231) 347

Sachregister Erasmus, Desiderius (um 1469–1536) 44, 47, 55 Erwin von Steinbach (um 1244–1318) 90, 91

F

Ferdinand I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1503–1564) 57 Ferry, Jules (1832–1893) 320, 323 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 148, 223 Ficker, Julius von (1826–1902) 329 Fischer, Johann Karl Christian (1765– 1816) 180, 386 Flacius Illyricus, Matthias (1520–1575) 48, 49 Florens V., Graf von Holland (1254– 1296) 10 Foucault, Michel (1929–1984) 374 Fournier, Jacques siehe Benedikt XII., Papst 31 Foxe, John (1516–1587) 74, 75, 377 Franz II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und Kaiser von Österreich (1768–1835) 60, 123 Freeman, Edward (1823–1892) 315, 352, 395 Friedrich I. Barbarossa, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1122–1190) 87, 123, 230, 231, 236, 239 Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1194–1250) 56, 58, 123, 330–332, 236, 264, 268 Friedrich II. der Große, König von Preußen (1712–1786) 97, 101 Friedrich Wilken (1777–1840) 382 Frijhoff, Willem (1942) 21, 373, 374 Fugger, Familie 129

G

Galilei, Galileo (1564–1642) 34, 69, 93, 97 Gaulle, Charles de (1890–1970) 325 Geertz, Clifford (1926–2006) 31, 374, 394

Geldenhauer, Gerhard (1482–1542) 55, 376 Gerbert von Aurillac, siehe Silvester II., Papst 258 Gerritsen, Wim (1935) 25, 374 Gibbon, Edward (1737–1794) 7, 13, 32, 82, 115, 116, 200, 202, 313, 378, 381 Goethe, Johann Wolfgang von (1749– 1832) 12, 89–91, 101, 102, 111, 148, 150, 163, 267, 379, 380, 385 Görres, Joseph (1776–1848) 223–226, 229, 389 Gossman, Lionel (1929) 189, 377, 382, 387, 391–393 Gottfried von Bouillon (um 1060–1100) 132, 135 Goujet, Claude (1697–1767) 70 Gounod, Charles (1818–1893) 287 Green, John Richard (1837–1883) 315– 318, 395 Gregor I. der Große, Papst (um 540– 604) 73, 74, 76 Gregor VII., Papst (um 1025–1085) 57, 73, 120, 121, 123, 277, 280, 285, 299 Gregor XVI., Papst (1765–1848) 277, 281 Grimm, Jacob (1785–1863) 183, 184, 186, 188, 189, 192, 201, 224, 227, 386 Grimm, Wilhelm (1786–1859) 183, 184, 186, 188, 189, 192, 201, 224, 227, 386 Groebner, Valentin (1962) 360, 378, 398 Groot, Hugo de (1583–1645) 85, 378 Guéranger, Prosper Louis Pascal (1805– 1875) 282–288, 293, 393, 394

H

Hadrian, römischer Kaiser (76–138) 39, 115 Hallam, Henry (1777–1859) 218–222, 260, 261, 264, 265, 340, 389, 392 Hardenberg, Friedrich von, siehe Novalis (1772–1801) 109 Haskins, Charles Homer (1870–1937) 11, 356 Hawksmoor, Nicholas (1661–1736) 81

425

Sachregister Haydn, Joseph (1732–1809) 287 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770– 1831) 223, 233, 389 Heine, Heinrich (1797–1856) 12, 230 Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern (1129–1195) 328, 334 Heinrich I. der Vogler, König von Deutschland (876–936) 235 Heinrich I., König von England (um 1069–1153) 79 Heinrich II., König von England (1133– 1189) 74, 75 Heinrich III., König von England (1207– 1272) 78 Heinrich IV., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1050–1106) 57, 58, 120, 121, 123 Heinrich IV., König von England (1366– 1413) 72 Heinrich IV., König von Frankreich (1553–1610) 247 Heinrich VII., König von England (1457– 1509) 72, 73 Heinrich VII. von Luxemburg, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (um 1275– 131) 40 Heinrich VIII., König von England (1491– 1547) 72–74 Henschen (Henschenius), Godefridus (1601–1681) 49 Herder, Johann Gottfried (1744–1803) 9, 12, 89, 90, 102–108, 110, 111, 123, 126, 144, 150, 154, 171–177, 182, 185, 188, 192, 193, 198, 201, 205, 227, 245, 248, 255, 263, 310, 314, 327, 329, 350, 351, 353–355, 360, 379, 380, 385, 386, 396 Herodot (um 484 v. Chr.–um 425 v. Chr.) 34, 93 Hieronymus, Eusebius Sophronius (um 347–420) 46 Hitler, Adolf (1889–1945) 126 Hobbes, Thomas (1588–1679) 120, 381 Hobsbawm, Eric (1917) 8, 395

426

Homer (um 800 v. Chr.–um 750 v. Chr.) 11, 68, 69, 100, 135, 145, 157–166, 168, 170, 172, 173, 175, 191, 200, 356, 381, 384 Horaz Flaccus, Quintus (65 v. Chr.–8 v. Chr.) 37 Hotman, François (1527–1590) 63, 64, 85 Hugo Capet, König von Frankreich (um 940–996) 61, 247, 250, 257 Hugo, Victor (1802–1885) 191, 192, 383 Hume, David (1711–1776) 12, 13, 81, 95– 97, 103, 154, 209, 210, 212–214, 216– 220, 260, 261, 388, 389 Hurd, Richard (1720–1808) 95, 100, 133, 167, 168, 172, 179, 385 Hus, Jan (um 1370–1415) 48 Hutten, Ulrich von (1488–1523) 55, 57

I

Ignatius von Loyola (1491–1556) 132 Innozenz III., Papst (um 1160–1216) 120, 277, 280, 346 Innozenz IV., Papst (um 1195–1254) 123 Israel, Jonathan (1946) 21

J

Jahn, Friedrich Ludwig (Turnvater) (1778–1852) 123 Jakob I., König von England und Schottland (1566–1625) 77 Jakob II., König von England und Schottland (1633–1701) 79, 202 Jeanne d’Arc (um 1412–1431) 96, 97, 151, 259, 262, 264, 266, 352 Johann I. Ohneland, König von England (1166–1216) 75 Johann II. der Gute, König von Frankreich (1319–1363) 135 Johannes I. Tzimiskes, oströmischer Kaiser (924–976) 235 Johannes von Plano Carpini (um 1182– 1252) 368 Johnson, Samuel (1709–1784) 167, 182, 393

Sachregister Jong, Loe de (1914–2005) 20 Jordanes († nach 552) 207 Justinian I., römischer Kaiser (483–565) 59

K

Karl August, Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach (1757–1828) 195 Karl der Große, König der Franken und römischer Kaiser (um 742–814) 39, 58, 61, 67, 180, 227, 243, 247, 250, 298, 299, 301, 328 Karl I., König von England und Schottland (1600–1649) 77 Karl IV., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1316–1378) 40 Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1500–1558) 56, 57, 85, 95, 107 Karl VII., König von Frankreich (1403– 1461) 96, 259 Karl VIII., König von Frankreich (1470– 1498) 43 Karl X., König von Frankreich (1757– 1836) 280, 319 Katharina von Aragón, Königin von England (1485–1536) 72, 122 Katharina II. die Große, Zarin von Russland (1729–1796) 97 Ketteler, Wilhelm Emmanuel von (1811– 1877) 290–293, 307, 355, 394 Kierkegaard, Søren (1813–1855) 24 Kingsley, Charles (1819–1875) 313–316, 395 Klopstock, Friedrich (1724–1803) 150, 385 Konrad II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (um 990–1039) 229 Konstantin I., römischer Kaiser (um 280– 337) 56, 58 Kopernikus, Nicolaus (1473–1543) 34, 93, 347

L

La Boétie, Étienne de (1530–1563) 272 La Curne de Sainte-Palaye, Jean-Baptiste de (1696–1781) 70, 91, 133, 239

Lambarde, William (1536–1601) 79 Lamennais, Félicité Robert de (1782– 1854) 279–282, 293, 393 Lamprecht, Karl (1856–1915) 333–337, 342, 396, 397 Langewiesche, Dieter (1943) 21, 373 Lassalle, Ferdinand (1825–1864) 307 Leo XIII., Papst (1810–1903) 325 Le Roy Ladurie, Emmanuel (1929) 30, 31, 374 Levin Varnhagen, Rahel (1771–1833) 148, 383 Lewis, Bernard (1916) 20 Livius, Titus (59 v. Chr.–17 n. Chr.) 66, 83 Longfellow, Henry Wadsworth (1807– 1882) 313 Loubet, Émile François (1838–1929) 15 Louis-Philippe, König der Franzosen (1773–1850) 254 Lubac, Henri de (1886–1991) 357, 398 Luden, Heinrich (1778–1847) 12, 229, 233–239, 260–266, 308, 315, 328–331, 340, 342, 352, 390, 391, 396 Ludwig der Fromme, König der Franken und römischer Kaiser (778–840) 322 Ludwig II., König von Bayern (1845– 1886) 19 Ludwig IV., der Bayer, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1282–1347) 40 Ludwig VI., König von Frankreich (1081– 1137) 244 Ludwig IX. der Heilige, König von Frankreich (1214–1270) 67, 68, 85, 87, 247, 365 Ludwig XI., König von Frankreich (1423– 1483) 85, 207, 244, 250 Ludwig XIII., König von Frankreich (1601–1643) 65 Ludwig XIV., König von Frankreich (1638–1715) 50, 132, 215, 233, 247, 251 Ludwig XVI., König von Frankreich (1754–1793) 108, 244, 249 Ludwig XVIII., König von Frankreich (1755–1824) 244, 247, 280

427

Sachregister Luther, Martin (1483–1546) 45–49, 57, 58, 71, 195, 257, 374 Lykurg (um 800 v. Chr.–um 730 v. Chr.) 299

M

Mabillon, Jean (1632–1707) 50 Machiavelli, Niccolò (1469–1527) 43 Macpherson, James (1736–1796) 160, 162–167, 169, 171, 180, 182, 189, 192, 198, 208, 384, 385 Maistre, Joseph de (1753–1821) 120–122, 125, 126, 144, 145, 153, 190, 381, 382 Malthus, Thomas Robert (1766–1834) 130 Mann, Heinrich (1871–1950) 345 Mann, Thomas (1875–1955) 34, 344, 345, 348, 354, 397 Marcel, Étienne (um 1315–1358) 258 Marco Polo (um 1254–1324) 368 Maria I., Königin von England (1516– 1558) 74 Marie-Antoinette, Königin von Frankreich (1755–1793) 71, 133, 382 Marsilius von Padua (um 1275–um 1342) 26 Marx, Karl (1818–1883) 30, 131, 294– 298, 305, 343, 394 Maurras, Charles (1868–1952) 325 Mazarin, Jules (1602–1661) 65 Meinecke, Friedrich (1882–1954) 92 Melanchthon, Philipp (1497–1560) 46, 59 Metternich, Klemens Lothar Wenzel von (1773–1859) 124 Michaelis, Johann (1717–1791) 102 Michelet, Jules (1798–1874) 12, 13, 32, 254–266, 271–273, 308, 340, 352, 392, 393, 397 Mitterrand, François (1916–1996) 325 Mocquereau, André (1848–1930) 286 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de (1689–1755) 71 Morris, Colin (1924) 359

428

Morris, William (1834–1896) 11, 302, 304, 305, 307, 343, 394, 395 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791) 71, 287 Müller, Adam (1779–1829) 117, 120, 128, 129, 143, 153, 190, 289, 343 Müller, Johannes von (1752–1809) 381 Muratori, Ludovico Antonio (1672–1750) 376 Murray, Alexander (1934) 359, 398

N

Napoleon I. Bonaparte, Erster Konsul und Kaiser der Franzosen (1769–1821) 60, 108, 114, 115, 118, 119, 123, 147, 150, 153, 195, 199, 218, 223, 224, 229, 233, 243, 254, 272, 278, 301, 318 Napoleon III., Staatspräsident und Kaiser der Franzosen (1808–1873) 272 Necker, Jacques (1732–1804) 147 Nero, römischer Kaiser (37–68) 54 Newman, John Henry (1801–1890) 7, 388 Newton, Isaac (1643–1727) 69, 93, 361 Niebuhr, Barthold (1776–1831) 189 Nietzsche, Friedrich (1844–1900) 17, 18, 344, 373 Nipperdey, Thomas (1927–1992) 356, 387, 389, 390, 394, 395, 397, 398 Novalis (Hardenberg, Friedrich von) (1772–1801) 109–112, 114, 117, 120, 126, 153, 190, 193, 248, 276, 380–382 Nussbaum, Martha (1947) 25, 374

O

Orosius, Paulus (375–nach 418) 46 Orso dell’Anguillara († nach 1366) 37 Otto I. der Große, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (912–973) 56, 58, 122, 235, 236 Otto II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (955–983) 235 Otto III., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (980–1002) 236

Sachregister Ovid Naso, Publius (43 v. Chr.–17 n. Chr.) 37 Ozanam, Frédéric (1813–1853) 290

P

Parker, Matthew (1504–1575) 74–77, 80, 312, 378 Pasquier, Etienne (1529–1615) 53, 67–69, 84, 85 Pelagius (um 354–um 420/440) 256, 257 Percy, Thomas (1729–1811) 168, 169, 172, 173, 185, 201, 205, 384, 385 Perikles (um 490 v. Chr.–429 v. Chr.) 112, 200 Pertz, Georg Heinrich (1795–1876) 228 Petrarca, Francesco (1304–1374) 37–43, 45, 47, 54, 83, 85, 88, 111, 113, 375, 378 Petrus, Apostel († um 67) 49, 284 Peucer, Caspar (1525–1602) 46 Philipp II. August, König von Frankreich (1165–1223) 67, 68 Philipp II., König von Spanien und Herr der Niederlande (1527–1598) 85 Philipp IV. der Schöne, König von Frankreich (1268–1314) 244, 246, 323 Pippin III. der Kurze, König der Franken (714–768) 61, 284, 285 Pisano, Nicola (um 1206–1278) 268 Pius VI., Papst (1717–1799) 108, 109 Pius VII., Papst (1742–1823) 119, 120 Pius X., Papst (1835–1914) 15, 287 Plato (um 427 v. Chr.–347 v. Chr.) 26, 97, 200 Polybius (um 200 v. Chr.–118 v. Chr.) 17 Polydor Vergil (1470–1555) 73 Pompeius Magnus, Gnaeus (106 v. Chr.– 48 v. Chr.) 39 Pope, Alexander (1688–1744) 81, 396 Pothier, Joseph (1835–1923) 286 Presser, Jacques (1899–1870) 20 Proudhon, Pierre-Joseph (1809–1865) 290 Proust, Marcel (1871–1922) 15–19, 35, 373 Ptolemäus, Claudius (87–150) 69

R

Rabelais, François (1494–1553) 66 Radziwill-Hohenzollern, Louise (1770– 1836) 148 Rapin-Thoyras, Paul de (1661–1725) 207 Ratzinger, Joseph, siehe Benedikt XVI., Papst 357 Raumer, Friedrich von (1781–1873) 201, 229–234, 237, 239, 260, 261, 264, 265, 268, 390 Renan, Ernest (1823–1892) 241, 310 Reynolds, Susan (1929) 363, 398 Richard I. Löwenherz, König von England (1157–1199) 139–141, 143, 169 Richard II., König von England (1367–um 1400) 72 Richelieu, Armand Jean du Plessis de (1585–1642) 65 Riemann, Heinrich Arminius (1793– 1872) 196, 262 Robertson, William (1721–1793) 95–97, 103, 106–108, 110, 154, 351, 379 Robespierre, Maximilien (1758–1804) 109, 114, 144 Ronsard, Pierre de (1524–1585) 66 Rossini, Gioacchino (1792–1868) 287 Rothschild, Familie 324 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) 154–157, 166, 172, 185, 350 Rubin, Miri (1956) 31, 375 Rückert, Friedrich (1788–1866) 236 Rudolf II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (1552–1612) 56 Rushdie, Salman (1947) 364 Ruskin, John (1819–1900) 303, 304

S

Sage ten Broek, Joachim Le (1775 –1847) 279 Said, Edward W. (1935–2003) 29, 30, 363, 374, 377 Saint-Simon, Claude Henri de Rouvroy de (1760–1825) 298, 299, 300–302, 343, 353, 394

429

Sachregister Samuel, Raphael (1934–1996) 19, 373 Savonarola, Girolamo (1452–1498) 45 Schaffelaar, Jan van († 1482) 10 Schelling, Friedrich (1775–1854) 111 Schiller, Friedrich (1759–1805) 148, 222, 238 Schlegel, August Wilhelm (1767–1845) 13, 136–138, 145, 148, 177, 179–182, 185, 186, 189, 191, 201, 222, 224 Schlegel, Friedrich (1772–1829) 13, 111, 115–117, 123–128, 136, 144, 189, 190, 193, 195, 196, 201, 224, 237, 262, 276, 329, 379, 381–384, 386, 387 Schleiermacher, Friedrich (1768–1834) 148 Scipio Africanus, Publius Cornelius (235 v. Chr.–183 v. Chr.) 39 Scott, Walter (1771–1832) 138–143, 182– 190, 379, 380, 381, 383, 385, 386 Selden, John (1584–1654) 80, 86, 378 Semler, Johann (1725–1791) 102 Seneca, Lucius Annaeus (um 1 v. Chr.–65 n. Chr.) 26 Severinus von Noricum (um 410–482) 270 Shakespeare, William (1564–1616) 87, 151 Shelley, Percy Bysshe (1792–1822) 200 Sieyès, Emmanuel Joseph, Priester (1748– 1836) 243, 252 Silvester I., Papst († 335) 58 Sleidanus, Johannes (1507–1566) 58 Smalley, Beryl (1905–1984) 357–359, 398 Smith, Adam (1723–1790) 382 Sokrates (um 470 v. Chr.–399 v. Chr.) 25, 301 Solon (um 638 v. Chr.–558 v. Chr.) 299 Southern, Richard (1912–2001) 7, 358, 359, 362, 398 Southey, Robert (1774–1843) 130, 131, 303, 382 Spelman, Henry (um 1565–1641) 53, 77, 78, 84 Spenser, Edmund (um 1552–1599) 168

430

Staël-Holstein, Germaine de (1766– 1817) 147–153, 164, 182, 191–193, 198, 201, 240, 245–247, 250, 384 Stalin, Josef (1878–1953) 126 Statius, Publius Papinius (um 45–96) 37 Stein, Karl vom und zum (1757–1831) 199, 223, 226, 228, 229 Stephan II., Papst († 757) 285 Stubbs, William (1825–1901) 315, 395 Sybel, Heinrich von (1817–1895) 330

T

Tacitus, Publius Cornelius (56–117) 54, 55, 62, 66, 87, 93, 127, 148, 207, 382 Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice de (1754–1838) 362 Tasso, Torquato (1544–1595) 97, 132, 134, 151 Theophano, Gemahlin von Kaiser Otto II. (um 950–991) 235 Thierry, Augustin (1795–1856) 13, 248– 255, 258, 260, 262, 264–266, 340, 352, 391, 392 Thomasius, Christian (1655–1728) 59 Thomas, Keith (1933) 14 Thomas von Aquin (1225–1274) 26, 290 Tieck, Ludwig (1773–1853) 91, 111, 379 Tierney, Brian (1922) 357, 359, 398 Tolkien, John Ronald Reuel (1892–1973) 359 Tönnies, Ferdinand (1855–1936) 353 Trajan, römischer Kaiser (56 –117) 39, 42 Treitschke, Heinrich von (1834–1896) 330, 331, 333, 337, 342, 396 Trevor-Roper, Hugh (1914–2003) 28, 374, 385, 388

U

Urban II., Papst (um 1035–1099) 258 Urban V., Papst (1310–1370) 40

Sachregister

V

Valdès, Pierre (um 1140–um 1218) 48, 51 Valla, Lorenzo (um 1407–1457) 58 Van Engen, John (1947) 29, 374 Varius, Lucius Rufus (74 v. Chr.–14 v. Chr.) 37 Varus, Publius Quintilius (um 50 v. Chr.– 9) 54 Vercingetorix (um 80 v. Chr.–46 v. Chr.) 62 Vergil Maro, Publius (70 v. Chr.–19 v. Chr.) 37, 42, 45, 66, 158, 162, 170, 346, 350, 381 Veuillot, Louis (1813–1883) 287 Victoria, Königin des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Irland, Kaiserin von Indien (1819–1901) 313, 332 Viehmann, Dorothea (1755–1815) 183, 186 Villon, François (1431–nach 1463) 66, 67 Volney, Constantin François Chasseboeuf de (1757–1820) 243 Voltaire (François-Marie Arouet) (1694– 1778) 13, 51, 96–99, 103, 107, 108, 151, 154, 211, 243, 351, 374, 379

W

Wackenroder, Wilhelm (1773–1798) 114 Wagner, Richard (1813–1883) 16, 387 Walpole, Horace (1717–1797) 81, 91 Walther von der Vogelweide (um 1170– um 1230) 159, 196 Warton, Thomas (1728–1790) 154 Weiler, Anton (1927) 366, 398 Wieland, Christoph (1733–1813) 148, 374 Wilhelm I. der Eroberer, König von England (um 1028–1087) 77, 211, 212, 316 Wilhelm I., König der Niederlande (1772– 1843) 118, 120 Wilhelm I., König von Preußen und deutscher Kaiser (1797–1888) 55, 239, 309 Wilhelm II., König von Preußen und Deutscher Kaiser (1859–1941) 332 Wilhelm von Ockham (um 1288–um 1348) 7 Wilson, Edmund (1895–1972) 296, 394 Wolfram von Eschenbach (um 1170–um 1220) 159, 196, 346 Wycliffe, John (um 1329–1384) 48, 74

Z

Zacharias, Papst (um 679–752) 284

431

Über den Inhalt Das Mittelalter galt lange Zeit als eine dunkle Epoche zwischen Antike und Aufklärung. Voltaire hasste die mittelalterliche Kirche, Adam Smith verachtete die klebrige Macht der Zünfte. Um das Jahr 1800 herum änderte sich das plötzlich. Da leuchtete das Mittelalter wie von der Sonne beschienen nach einem Wolkenbruch. Die Epoche wurde als Vorbild für Menschlichkeit und Gemeinschaftssinn entdeckt. Novalis schwärmte von den christlichen Zeiten des Mittelalters, Karl Marx lobte den Zusammenhalt im Zunftwesen. Wie kam es zu diesem radikalen Bruch? Und was war das Mittelalter überhaupt? Bloß eine Illusion? In »Die Entdeckung des Mittelalters« kommt Peter Raedts den Motiven dieser Umdeutung auf die Spur, in dem er die Geistesgeschichte von Deutsch land, England, Frankreich und Italien miteinander vergleicht. In seinem gefeierten Werk entdeckt er den Faden, der unsere Illusion vom Mittelalter mit der europäischen Sozialgeschichte verbindet: Mit der Industrialisierung und Nationalstaatsentwicklung in Europa vollzog sich ein so radikaler Wandel, auch in den Einstellungen, dass die Vergangenheit von einer neuen Generation von Philosophen, Literaten, ja auch Wissenschaftlern mit ganzanderen Augen gesehen wurde.

Über den Autor Peter Raedts (geb. 1948) ist Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität von Nijmegen. Er promoviertein Oxford über den mittelalterlichen Theologen Richard Rufus von Cornwall. In den Jahren seines wissenschaftlichen Arbeitens faszinierten ihn zunehmend die Fragen, wie Menschen mit ihrer Vergangenheit umgehen, was die davon haben, wie sie sie nutzen, was sie davon vergessen, und warum sie das tun. Die »Entdeckung des Mittelalters« gilt als sein Magnum Opus.