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German Pages 186 [196] Year 1976
W . ABEL
Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters
Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Begründet von G Ü N T H E R FRANZ u n d FRIEDRICH L Ü T G E
Herausgegeben von Professor Dr. Dr. h. c. W I L H E L M A B E L , Göttingen, und Professor Dr. G Ü N T H E R FRANZ, Stuttgart Hohenheim
BAND 1 Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters
Gustav Fischer Verlag • Stuttgart • 1976
Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters Von WILHELM ABEL
Dritte, neubearbeitete Auflage 10 Abbildungen und 15 Tabellen
Gustav Fischer Verlag • Stuttgart • 1976
Anschrift des Verfassers: P r o f e s s o r D r . D r . h . c. WILHELM ABEL,
3400 Göttingen, Ludwig-Beck-Straße 13
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Abel, Wilhelm Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters. (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte; Bd. 1) ISBN 3-437-50185-2
© Gustav Fischer Verlag • Stuttgart • 1976 Alle Rechte vorbehalten Druck: Robert Gessler KG, Friedrichshafen Einband: Großbuchbinderei Sigloch KG, Stuttgart Printed in Germany
Aus dem Vorwort der ersten Auflage (1943) Vielleicht läßt sich die folgende Arbeit, die einem viel behandelten Thema neue Seiten abgewinnen will, besser verstehen, wenn ihr einige Worte über ihre Entstehung vorangeschickt werden. Sie geht auf Untersuchungen zur Preis- und Lohngeschichte zurück, die mich zur Geschichte der Landwirtschaft hinüberführten. Eine Arbeit über «Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert», erschienen im Jahre 1935, war das erste Ergebnis; ihm schloß sich eine Reihe von Aufsätzen an, die jeweils Teilfragen des gleichen Problemkreises weiter verfolgten («Wachstumsschwankungen mitteleuropäischer Völker seit dem ausgehenden Mittelalter», «Wandlungen des Fleischverbrauchs und der Fleischversorgung in Deutschland seit dem ausgehenden Mittelalter» u. a.). Schon bei der ersten Prüfung der Preis- und Lohnverhältnisse im späten Mittelalter waren mir einige siedlungsgeschichtliche Arbeiten aufgefallen, die von einer ganz anderen Seite her zu Ergebnissen geführt hatten, die meinen eigenen Ermittlungen recht ähnlich waren. Es waren dies Untersuchungen zur Wüstungskunde, unter denen die Arbeit des Wiener Geographen Grund, von mir im folgenden ausgiebig zitiert, eine besondere und hervorragende Stellung einnimmt. Das lockendere Ziel, zu einem Gesamtüberblick über jenen Fragenkomplex zu gelangen, den ich mangels einer besseren Bezeichnung «Agrarkrisen und Agrarkonjunktur» nannte, ließ mich zunächst die Durchsicht der ungewöhnlich verstreuten, sehr zahlreichen und völlig uneinheitlich ausgerichteten Wüstungsliteratur zurückstellen. Kurz vor diesem Kriege nahm ich diese Arbeit auf und förderte sie so weit, daß mir heute eine Drucklegung der wichtigeren Ergebnisse möglich erscheint. So gehört die folgende Untersuchung in einen Problemkreis, den man auch die Rhythmik der landwirtschaftlichen Entwicklung seit dem hohen Mittelalter nennen könnte. Der Nachdruck liegt auf dem Worte Rhythmik, denn nichts ist irriger als die Vorstellung, daß sich früher wenig oder nichts im Bereiche der Landwirtschaft geändert und erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine schnellere Bewegung eingesetzt hätte. Seit die Städte sich rascher entfalteten und die ländliche Hauswirtschaft sich der Umwelt erschloß, wechseln Aufschwung und Niedergang der Landwirtschaft in langfristigen Perioden. Umfang und Richtung der Erzeugung, Siedlungsdichte und -bestand, Preise, Grandrenten und Löhne sind in stetem Auf und Ab, getragen letztlich von dem Wechsel der Bevölkerungsbewegung, der bald zu intensiverer Nutzung des Bodens zwingt, bald die Dörfer entleert, die Erzeugung verringert, Preise senkt und Grundrenten zum Versiegen bringt. Das ausgehende Mittelalter, umrahmt von den Aufschwungsperioden des 1 1 . - 1 3 . Jahrhunderts und des 1 6 . - 1 7 . , war eine solche Periode des Niedergangs. Die zahlreichen Wüstungen dieser Zeit sind ihr sinnfälligster, doch nicht ihr einziger Ausdruck . . .
Aus dem Vorwort der zweiten Auflage (1955) Als die vorstehenden Sätze niedergeschrieben wurden, schien die Chance gering, daß sie (und das nachfolgende Buch) die Vorstellung erschüttern könnten, die vom späten Mittelalter damals bestand. «Conventional notions die hard», so meinte POSTAN, der Herausgeber der «Economic History Review», als er etwa gleichzeitig - nur von mir damals nicht bemerkt - gegen die auch in England herrschende Meinung anging, daß das ausgehende Mittelalter nur eine Art Zwischenglied zwischen
VI
• Vorwort
dem 13./14. und dem 16. Jahrhundert bilde: Alles, was im 16. Jahrhundert zu finden sei - industrielle und kommerzielle Expansion, Handelskapital, Mittelstand, landwirtschaftlicher Fortschritt usw. habe es im 15. Jahrhundert in einem etwas schwächeren Ausmaß als im 16. Jahrhundert, aber in etwas stärkerem M a ß e als im 13./14. gegeben. Das füge sich so leicht in die willkommene Uberzeugung ein, daß die Geschichte ein fortdauernder Aufstieg aus der barbarischen Primitivität der Frühzeit zu der glorreichen Blüte der Renaissance sei . . -1). Die „Zwischengliedtheorie" findet noch immer Anhänger, doch ist für viele Wirtschaftshistoriker in überraschend kurzer Zeit das späte Mittelalter zumindest zum Problem geworden. Nochmals sei P O S T A N zitiert, der auf dem Internationalen Historikerkongreß zu Paris im Jahre 1950 ausführte 2 ): „Die Historiker brauchen nicht daran erinnert zu werden, daß die Hauptdebatte der letzten 10 bis 12 Jahre die Richtung und Geschwindigkeit der Entwicklung mittelalterlicher Wirtschaft betraf. Breitete die ökonomische Aktivität sich kontinuierlich durch die Jahrhunderte aus? U n d wenn sie sich ausbreitete oder schrumpfte: Was beeinflußte die Richtung und den Grad der Bewegung?". P O S T A N erinnerte daran, daß die Frage der long-term trends bereits von D O P S C H und P I R E N N E aufgegriffen wurde, doch seit den Zeiten D O P S C H S : „the focus of the controversy has somewhat shifted". Es sei nicht mehr das Band zwischen Rom und dem Mittelalter, das noch die allgemeine Aufmerksamkeit finde. Das Interesse habe sich späteren Perioden zugewendet, und wenn auch PIRENNE sie bereits berücksichtigt habe, so seien seine Thesen doch auf den Handel beschränkt geblieben (und der Handel, so bedeutend er auch gewesen sei, habe nicht das Hauptfeld wirtschaftlicher Betätigung des mittelalterlichen Menschen gebildet). «But since his (Pirenne's) day several historians in various countries working and writing almost simultaneously - ABEL in Germany, SCHREINER in Norway, VAN WERVEKE in Belgium, several of us in England, and in a somewhat more elusive and lighter fashion BLOCH in France - have divided the story of medieval economy as a whole into at least two corresponding phases: that of expansion culminating at the beginning of the fourteenth century and that of contraction coVering the greater part of the fourteenth and fifteenth centuries.» So ist es heute kein Wagnis mehr, vom Aufschwung und Niedergang mittelalterlicher Wirtschaft zu sprechen. Das Wagnis scheint zu denen hinübergewechselt zu sein, die dem Ausdruck Wirtschaft noch ein «as a whole» hinzufügen und damit auch Gewerbe und Handel in die Stagnationstheorie einbeziehen. In diesem Buche wurde nur von Landwirtschaft, Bevölkerung und Siedlung gesprochen, und so soll es auch bleiben, da die sehr verschiedene, auch räumlich reich gestufte und gegliederte Entwicklung der Gewerbe und Kommerzien sich nicht mit einigen Sätzen abtun läßt (überdies in den Quanten und Quantenänderungen, auf die es bei den Trendtheorien ankommt, sich auch noch gar nicht übersehen läßt) . . .
') M. M. POSTAN, Revisions in Economic History: The Fifteenth Century, in The Economic History Review, vol IX, London 1939, S. 160 f. ! l IX e Congrès International des Sciences Historiques, Paris 1950,1. Rapports, S. 226.
Vorwort
• VII
Vorwort zur dritten Auflage Auszüge aus den Vorworten zu den beiden ersten Auflagen wurden dem Buch belassen. Sie deuten die Entstehung des Buches und die literarische Landschaft an, in die es gestellt wurde. Als die erste Auflage erschien, war die Wüstungsforschung noch Domäne der Heimatforscher. Einige Geographen hatten bereits teilgenommen, aber die Wirtschafts- und Sozialhistoriker standen noch abseits. Es lag mir daran, den Untergang so vieler tausender von Siedlungen in unsere Historiographie einzuführen. Darüber hinaus war ich bemüht, die Wüstungen des Spätmittelalters mit den Vorstellungen zu verknüpfen, die ich in meinem Buch «Agrarkrisen und Agrarkonjunktur in Mitteleuropa vom 13. bis zum 19. Jahrhundert» (1. Auflage 1935) entwickelt hatte. Als die zweite Auflage dieses Buches herauskam (1955), war das, was ich die Agrarkrisis des Spätmittelalters genannt hatte, nicht mehr strittig. Wie Professor P O S T A N auf dem Internationalen Historikertag zu Paris im Jahre 1950 ausführte, hatten eine Reihe von Forschern fast gleichzeitig die mittelalterliche Wirtschaft als Ganzes in zwei korrespondierende Phasen gegliedert: Eine solche der Expansion, die zu Beginn des 14. Jahrhunderts gipfelte, und eine solche der Kontraktion, die den größeren Teil des 14. und 15. Jahrhunderts umschloß. Er nannte dabei auch meinen Namen, doch glaubte ich mich hiergegen wehren zu müssen. Ich hatte nur von einer Agrarkrisis gesprochen, und dabei sollte es bleiben, da zumindest in einigen deutschen Territorien die Entwicklung der Gewerbe und des Handels nichts weniger als einen Niedergang erkennen läßt und von der wachsenden Kaufkraft der Städter Impulse ausgingen, die auch in der Wüstungsperiode gewisse Zweige der Landwirtschaft noch expandieren ließen. Die dritte Auflage trifft auf eine abermals veränderte (literarische) Landschaft. Die Diskussion um die spätmittelalterliche Krisis ist noch nicht abgeschlossen, doch hat sich das Interesse an der Wüstungsforschung verstärkt. In England leistete BERESFORD Pionierdiensti, in Norwegen H A S U N D . In Frankreich nahmen sich BRAUDEL mit Mitarbeitern und Schülern der Forschung an, in der Bundesrepublik M O R T E N S E N , SCHARLAU und mit und nach ihnen viele, die - in Auswahl - auch auf den folgenden Blättern noch zu Worte kommen sollen. Das Buch wurde erweitert, teils auch gekürzt, doch brauchten die Grundgedanken nicht revidiert zu werden. Es blieb auch bei dem Bestreben, die umfängliche und nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten ausgerichtete Literatur zusammenzufassen, soweit sie auch die Historiker interessieren sollte. Göttingen, im Januar 1976
Wilhelm Abel
Inhalt Einleitung Erster Teil
1 • Der Wüstungsvorgang
1. Die Siedlungen
8
1. Wüstungen in Deutschland Der Ortschaftsverlust im Mittelalter 8 - Ergänzende Nachrichten 12 2. Wüstungen im Ausland Die nordischen Länder 24 - England 30 - Frankreich 32 Andere Länder 34 3. Siedlungskonzentration und Entsiedlung in Deutschland Die Dorfballungstheorie 37 - Partielle Wüstungen 41 Zur Entwicklung deutscher Städte im Spätmittelalter 45 11. Wandlungen
8 23 37
50
der Bodennutzung
Spezialkulturen, Vieh- und Teichwirtschaft 50 Der Rückgang des Getreidebaues 54 60
III. Wüste Flüren 1. Begriffe und der historische Befund «Wüst» und „Wüstung" in den deutschen Quellen 60 Besitzkonstanz und Besitzwechsel 61 - Extensivierungsprozesse 64 2. Anfall und Heimfall der wüsten Fluren Landflucht und Landsterben 66 - Freizügigkeitsbeschränkungen im Spätmittelalter 67 - Der Heimfall der wüsten Fluren 70 IV. Der Wiederaufbau
60 66
73
Bevölkerungszunahme, Rekultivierung und Neulandgewinnung 73 Die Siedlungen 74 - Die Flurverfassung 79 Zweiter Teil
Die Ursachen
Vorbemerkung
84
I. Die Ursachen des Bevölkerungsrückganges Hungersnöte und Seuchen 86 - Bevölkerungsbilanzen 95 II. Gründe der Umsiedlung 1. Die Kriegstheorie
und Abwanderung
vom Lande
86 98 98
X
• Inhaltsverzeichnis 2. Die Fehlsiedlungstheorie 98 3. Die Agrarkrisentheorie 103 Die langfristigen Preis- und Lohnbewegungen 104 - Kurzfristige Schwankungen 112 - Die Ursachen der spätmittelalterlichen Agrardepression 117
III. Vom Zusammenhang
der Ursachen
120
1. Das marktwirtschaftliche Gerippe 2. Offene Fragen Dritter Teil
120 121
• Der sozio-ökonomische Hintergrund
Vorbemerkung
124
I. Die Bauernwiitschaft des Spätmittelalteis Erträge 125 - Leistungen der Bauern für Herrschaft und Kirche 127 Leistungen für den Markt 133 II. Herrschaft und Kirche in wirtschaftlichen
Schwierigkeiten
125
138
Der Landpreis- und Rentenfall im nördlichen und westlichen Europa 138 Der Rückgang kirchlicher Einkünfte 142 - Grundzüge einer allgemeineren Entwicklung 146 - Reaktionen der Herren auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten 157 III. Die wirtschaftliche
Lage der Bauern
161
1. Zur Urteilsbildung 161 2. Bäuerliche Arbeitseinkünfte und Reineinkommen aus Bauernhöfen . . . 164 Entschädigungen für Frondienste 164 - Hoferträge und Existenzbedarf der Bauernfamilien 166 - Bauemeinkommen im Zeitvergleich 168 3. Vermögen, Lebenshaltung und Schulden der Bauern 175 Zusammenfassung
179
Verfasserverzeichnis
183
Einleitung
Noch heute erinnern Reste in Wald und Flur an die zu Tausenden in deutschen Landschaften untergegangenen Dörfer, Weiler und Einzelsiedlungen. Verfallenes und versunkenes Mauerwerk, Spuren von Bodenbearbeitungen, Flur- und Wegenamen künden von längst verschwundenen Dörfern; künstliche Abstufungen und Terrassen, Dämme, Raine oder zusammengetragene Feldsteine zeugen von früherem Ackerbau in Wäldern und Gebirgen. Hier und da läßt sich aus Unregelmäßigkeiten im Verlaufe der Grundstücks- und Gemeindegrenzen noch die Lage der verschollenen Siedlung erkennen; mitunter hebt sich auch unter der Zutat späterer Generationen der alte Dorfplatz mit seiner Linde, der Dorfteich und das Straßennetz einer «Wüstung» hervor. Freilich sind solche Zeugnisse selten geworden. Die alten Bauwerke wurden durch Wind, Wetter und menschlichen Zugriff abgetragen oder verändert, die früheren Gemarkungsgrenzen durch Feldbereinigungen verwischt, die Bearbeitungsreste durch Kultivierungsarbeitep vernichtet. Doch nach wie vor fließt reichlich die andere Quelle der Wüstungsforschung, die schriftliche Uberlieferung, die in Chroniken, Urkunden und Registern noch zahlreiche heute verschwundene Siedlungen nennt. Früh schon wurde in der Verbindung von landschaftlich-anschaulicher und archivalischer Arbeit die Wüstungsforschung aufgenommen. Verzeichnisse von Wüstungen wurden bereits im 16. Jahrhundert angelegt 1 ); aus dem 18. Jahrhundert sind mehrere gesonderte Darstellungen von Wüstungen bekannt geworden 2 ), und seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat sich die Wüstungsliteratur schnell vermehrt. Heute umfaßt sie viele Hunderte von Arbeiten, deren Zielsetzung und Bedeutung freilich recht verschieden sind. Die große Mehrzahl der älteren Untersuchungen, die zumeist in Zeitschriften der Geschichts- und Altertumsvereine, in lokalen Tagesblättern und an anderen nicht leicht zugänglichen Stellen veröffentlicht wurden, beschränkte sich auf die Feststellung und allenfalls noch Lokalisierung von Wüstungen eines engen Gebietes. Nicht immer wurde die Zeit des Untergangs zu ermitteln gesucht, selten wurden die Ursachen geprüft, noch seltener die Ergebnisse der eigenen Forschung mit den Ermittlungen im Nachbargebiet verglichen. Das hat sich inzwischen geändert. Zwar ist es noch immer richtig, daß gegenüber «dem kaum mehr übersehbaren Material . . . die methodischen Diskussionen und Zusammenfassungen der bisherigen Forschungs1) D. HÄBERLE, Die Wüstungen der Rheinpfalz, Beiträge zur Landeskunde der Rheinpialz, 3. Heft, Kaiserslautern 1922, erwähnt S. 4 Handschriften zweier Geometer und Topographen des 16. Jahrhunderts, die ausführliche und zuverlässige Angaben über eingegangene Orte der Westpfalz enthalten. 2) Vgl. H. BESCHORNER, Wüstungsverzeichnisse, in «Deutsche Geschichtsblätter», herausg. v. Arm. Tille, VI. Bd., 1904, S. 1.
2
• Einleitung
ergebnisse stark zurücktreten»3), doch hat die systematische Auswertung der in vielen Jahrzehnten zusammengetragenen Einzelnachrichten begonnen. Diesen neuen Abschnitt der Wüstungsforschung eröffneten Untersuchungen einiger Geographen, unter denen an erster Stelle O T T O S C H L Ü T E R 4 ) und der Wiener A L F R E D G R U N D zu nennen sind. A L F R E D G R U N D ' S bahnbrechendem Werk über die «Veränderungen der Topographie im Wiener Wald und Wiener Becken»5) verdankt die Forschung nicht nur einen der ersten Uberblicke über die weit verstreuten Ergebnisse lokalgeschichtlicher Bemühungen, sondern zugleich auch die Freilegung ihres Zentralproblems, nämlich der Frage nach Wesen und Ursachen dei Wüstungshäufungen im ausgehenden Mittelalter6). Das schließt natürlich andere Zeiten und andere, vielleicht auch ähnliche Probleme nicht aus. Die neuere Forschung neigt dazu, «Wüstungsperioden» zu unterscheiden und solche Zeiten gehäufter Wüstungen bis in die Früh- und Vorgeschichte zurückzuverfolgen. Läßt man die noch vagen Datierungen der Frühzeit beiseite, so lassen sich bis zum Ausgang des Mittel®) So urteilte K . SCHARIAU ZU Beginn der 30er Jahre [Beiträge zur geographischen Betrachtung der Wüstungen, in: Badische Geogr. Abhandl., 1933, Einl.). Sein Urteil müßte heute vielleicht aufgespalten werden. «Methodische Diskussionen» haben mit und seit SCHARLAUS Arbeiten stark zugenommen, während die «systematische Auswertung» der vielen Einzelnachrichten, die hier versucht wird, noch in den Anfängen steckt. Soweit überregionale Zusammenfassungen vorliegen (und dem Verfasser bekannt wurden), werden sie noch genannt werden. Zur Methodik moderner Wüstungsforschung, deren Darstellung und Bewertung Geographen überlassen werden muß (Analyse der Flurnamen, des Flurgefüges, der Gemarkungsgrenzen und der Wege, Phosphatmethode, Keramikfunde, Kartierung wüster Fluren und andere Feststellungen im Gelände, dazu die Auswertung schriftlicher Zeugnisse) seien nur in Auswahl einige Schriften genannt: M. B O R N , Wüstungsschema und Wüstungsquotient, in: Erdkunde, 26, 1972 (mit weiteren Literaturangaben); H. JÄGER, Methoden und Ergebnisse siedlungskundlicher Forschung, in: Zeitschr. f. Agrargesch. u. Agrarsoziologie, 1, 1953; DERS., Zur Wüstungsund Kulturlandschaftsforschung, in: Erdkunde, 8, 1954; DERS., Zur Methodik der genetischen Kulturlandschaftsforschung,*in: Ber. z. Deutsch. Landeskunde, 30, 1963; H. MORTENSEN U. K. SCHARLAU, Der siedlungskundliche Wert der Kartierung von Wüstungsfluren, in: Nachr. d. Akad. d. Wiss. Göttingen, Phil.-Hist. Kl. 1949; G. NIEMEYER, Der Landschaftstest siedlungsund agrargeschichtlicher Daten, in: Zeitschr. f. Agrargesch. u. Agrarsoziologie, 16, 1968; (vgl. auch die Anm. 6 dieser Seite). 4) O. SCHLÜTER, Die Siedlungen im nordöstlichen Thüringen, 1903. 5) Erschienen in «Geograph. Abhandlungen», hrsg. von PENCK, X I I I , 1 , 1 9 0 1 . •) Uber die in der Nachfolge von SCHLÜTER und G R U N D erzielten Ergebnisse der neueren Forschung wird in den folgenden Abschnitten dieses Buches gesprochen werden. Es seien vorweg nur einige Schriften genannt, die auf die neueren Fragestellungen hinweisen und / oder zusammenfassend über den Stand der Forschung in einigen Gebieten berichten: E. BÖHM, Zum Stand der Wüstungsforschung in Brandenburg zwischen Elbe und Oder, in: Jahrb. f. d. Gesch. Mittel- und Ostdeutschlands, 18, 1969 (mit Bibliographie); F. BÖNISCH, Der Stand der Wüstungsforschung in der Niederlausitz, in: Abh. u. Ber. Naturkundemuseum - Forschungsstelle - Görlitz, 36, i960; O. FAHLBUSCH, Der Stand und die Bedeutung der Wüstungsforschung mit Anwendung auf Südhannover, in: Bl. f. Volkstum u. Heimat, 16, 1944; H. JÄGER, Kulturlandschaftswandel durch Wüstungsvorgänge, in: Die europäische Kulturlandschaft im Wandel, Festschr. f. K. H. SCHRÖDER, 1974; A. KRENZLIN, Das Wüstungsproblem im Lichte ostdeutscher Siedlungsforschung, in: Zeitschr. f. Agrargesch. u. Agrarsoziologie, 7, 1959; H. MORTENSEN, Zur deutschen Wüstungsforschung, in: Göttinger Gelehrte Anz., 206, 1943 (eine Besprechung der 1. Auflage meines Wüstungsbuches); DERS., W I L H E L M ABEL, Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters, 2. Aufl., ebenda im Jg. 210, 1956 (Fortsetzung des Berichtes über die 1. Auflage); K. SCHARLAU, Die hessische Wüstungsforschung vor neuen Aufgaben, in: Zeitschr. d. Ver. f. hess. Gesch., 65/66, 1955; DERS. Neue Probleme der Wüstungsforschung. Bemerkungen anläßlich der Neuauflage von W. ABELS Buch «Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters», in: Ber. dtsch. Landeskunde, 14, 1956; DERS., Ergebnisse und Ausblicke der heutigen Wüstungsforschung, in: Bl. f. dtsch. Landesgesch., 93, 1957.
Einleitung
• 3
alters vier solcher Perioden herausstellen: eine erste um die Mitte des ersten Jahrtausends, als Seuchen ähnlich dem «Schwarzen Tod» des 14. Jahrhunderts vom Mittelmeer her nach Norden vordrangen7), eine zweite am Ende des ersten Jahrtausends, als die Kriege in der Nachfolge KARL'S einsetzten und die Einfälle der Normannen, Sarazenen und Magyaren alte Siedlungsgebiete verwüsteten8). Eine dritte «Periode», die nun aber in ihren Ursachen und Wirkungen anders als die beiden vorangegangenen zu beurteilen ist, verlegten Wüstungsforscher in die Zeit des Landesausbaus nach der Jahrtausendwende. Von ihr wird noch im Zusammenhang mit den Wüstungen des Spätmittelalters, der «vierten Periode», zu berichten sein, die nach wie vor das Kernstück der Wüstungsforschung bildet. Es schließen sich die Wüstungen der Neuzeit an, die, wenn man will, auch noch zu einer Periode zusammengefaßt werden können. Auf sie braucht nur bei passender Gelegenheit noch einmal kurz hingewiesen zu werden. Dagegen ist abzulehnen (vom Standpunkt des Historikers) eine «zeitlose Deutung» der Wüstungen, die einige Geographen anzustreben versuchten. Gewiß hat die siedlungskundliche Durchforschung der deutschen Landschaften in fast allen geschichtlichen Zeitabschnitten Wüstungen nachgewiesen, doch ist nicht dieser, sagen wir kontinuierliche Anfall von Wüstungen im besonderen Sinne problematisch, sondern die Wüstungshäufung in bestimmten, genauer umgrenzten Zeiten, insbesondere, wenn auch nicht allein, im ausgehenden Mittelalter. Ohne die Zeit des Wüstungsanfalls zu berücksichtigen, ist es unmöglich, den sehr verschiedenen Sinngehalt der Wüstungen zu begreifen, geschweige denn zu ihren Ursachen vorzudringen9). In das Wesen des Wüstungsvorgangs führt am besten die Bestimmung des Wüstungsbegriffes ein. Von der Gegenwart her gesehen versteht man unter einer Wüstung gemeinhin eine «Ortschaft, die vom Erdboden verschwunden» 10 ) oder «die Stelle einer Siedlung, die in ihrer Eigenart, ob sie nun eine Einzelsiedlung oder eine Sammelsiedlung war, verschwunden ist» 11 ). Diese Begriffsbestimmung, die auf das Landschaftsbild der Gegenwart Bezug nimmt, ist für eine historische Betrachtung des Wüstungsphänomens zu eng aus zwei Gründen: zum ersten scheidet sie aus der Betrachtung die «temporalen» Wüstungen aus, das sind jene Ortschaften, die nur zeitweilig wüst lagen, später aber wieder aufgebaut wurden. Ihre Einbeziehung in den Wüstungsbegiiff schlug schon B E S C H O R N E R vor 12 ), der als Wüstungen auch ansprach: Orte, die, zeitweilig wüst, später wieder errichtet wurden, auch wenn die nachfolgenden die Namen der früheren Siedlung tragen, und Orte, die bis auf ein einzelnes Gehöft verschwanden, auch wenn sich hieraus später wieder ein Dorf entwickelte. Solche Weitung des Wüstungsbegriffes
7) Näheres über die Seuchen und den Bevölkerungsrückgang in der Mitte des ersten Jahrtausends in meiner «Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert», 3. Aufl., 1976. 8) Archäologen konnten den von Historikern (SCHMOLLER, A U B I N U. a.) seit langem vermuteten Verfall des deutschen Wirtschaftslebens und Rückgang der Bevölkerung in den letzten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends anhand ihrer Befunde belegen: Von den bisher archäologisch untersuchten 40 mittelalterlichen Siedlungen wurden etwa 16 zumeist nach kurzem Bestand bereits im g. oder 10. Jahrhundert wieder wüst (W. JANSSEN, Methodische Probleme archäologischer Wüstungsforschung, in: Nachr. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil.-Hist. Klasse, 1968, 2, Grafik S. 39, Text S. 43 f.), dazu ergänzend: DERS., Probleme und Ergebnisse der Wüstungsforschung im süddeutschen Harzrandgebiet, in: Wüstungen in Deutschland, ein Sammelbericht, hrsg. v. W. ABEL, Sonderheft 2 der Zeitschr. f. Agrargesch. u. Agrarsoziologie, 1967, S. 49 ff.). Auch in seiner gründlichen und umsichtigen Habilitationsschrift: Studien zur Wüstungsfrage im Fränkischen Altsiedelland zwischen Rhein, Mosel und Eifelnordrand, 2 Teile, 1975, geht W. JANSSEN auf die Periodenfrage ein. 8) Die gleiche Meinung vertraten aber auch Geographen, vgl. K. SCHARLAU, Die Wüstungen als geographisches Problem, in «Geograph. Anzeiger», Jg. 1935, S. 229. 10
) BESCHORNER, W ü s t u n g s v e r z e i c h n i s s e . . . , S . 3 .
" ) A. BECKER, Die geograph. Wertung der Wüstungen, in «Mitt. d. geogr. Gesellsch. in Wien», 77. Bd., Wien 1934, S. 151. 12
) BESCHORNER, a . a . O . , S . 3 .
4
• Einleitung
ist für den Historiker unerläßlich, doch reicht sie noch nicht hin, um den Wüstungsvorgang in voller Breite zu erfassen. Denn mit den Wohn- und Wirtschaftsgebäuden der ländlichen Siedlungen, die zu Tausenden im Spätmittelalter eingingen, waren Wirtschaftsflächen verbunden, die von dem Wüstungsvorgang mit betroffen wurden. «Flurwüstungen» entstanden, und auf sie zielen nicht nur, wie SCHARLAU nachwies13), die Bezeichnungen «Wüstung» und «wüst» in vielen Quellen; von ihnen aus fällt auch auf die Dorfwüstungen helleres Licht. Deshalb sind in den Wüstungsbegriff auch die Veränderungen in den zu den Siedlungen gehörenden Gemarkungen einzubeziehen. Da mit solchen Belastungen der Begriff nicht mehr in einer handlichen Definition zu fassen ist, empfiehlt es sich, dem Vorgehen SCHARLAUS zu folgen, der den Wüstungsbegriff durch ein Wüstungsschema ersetzte. SCHARLAU unterschied «Orts»-und «Flurwüstungen», und bei jeder dieser beiden Wüstungsarten eine «partielle» Wüstung, sofern noch eine Restsiedlung erhalten oder eine Restflur bewirtschaftet wurde, und eine «totale» Wüstung, sofern die ganze Siedlung verlassen oder die ganze Flur aufgegeben wurde. Erst das Zusammentreffen einer totalen Orts- mit einer totalen Flurwüstung ergäbe «die totale Wüstung»; ihr gingen zwar gewöhnlich, doch nicht notwendig partielle Wüstungen voran14). SCHARLAUS Wüstungsschema wurde erweitert und noch tiefer gegliedert15). Das mag für manche Zwecke nützlich sein; hier genügt es, die zeitlich befristeten (temporären) Wüstungen, auf die schon BESCHORNER hinweist, noch in das Schema einzubeziehen. Dann ergibt sich der folgende Aufriß:
Temporäre Wüstung
I
Permanente Wüstung partielle totale Ortswüstung
Abbildung 1
partielle totale Flurwüstung Totale Wüstung
Mit solchem erweiterten Wüstungsbegriff wird es möglich sein, in den Wüstungsvoigang einzudringen, was im ersten Teil der folgenden Untersuchung geschehen soll. Dabei wird sich zeigen, daß die große Masse der im späten Mittelalter angefallenen Wüstungen im Zuge einer Um- und Entsiedlung entstand, die das Siedlungsbild der deutschen Lande gegenüber dem Ende des Ausbauzeitalters tiefgreifend wandelte. Es wird sich zeigen, daß der Rückgang der ländlichen Wohnplätze und die Schrumpfung der Ackerflächen von einer Entvölkerung begleitet war, die nicht nur das flache Land, sondern, trotz starker Einwanderung, auch viele Städte betraf, deren Lebensbilanz damals wie heute noch ungünstiger als die der Dörfer und Weiler war. Damit sind der Ursachenforschung - im zweiten Teil - die Wege gewiesen. Das «Rätsel» der spätmittelalterlichen Wüstungen, das schon so viele,, verschiedene Antworten gefunden hat, löst sich leichter, sobald der Blick auf die entscheidenden demographischen Vorgänge fällt, die sich bei noch genauerem Zuschauen in eine natürliche und eine geographische Bevölkerungsbewegung gliedern. Die natürliche Bewegung, also der Bevölkerungsschwund, kann nur durch Veränderungen der Sterblichkeit und
) In «Beiträgen ...», S. 4 f. ) Beiträge . . ., S. 9 f., DERS., Die hessische Wüstungsforschung vor neuen Aufgaben, in Zeitschr. d. Ver. f. Hess. Gesch. u. Landeskunde, 65/66. Bd., 1954/55, S. 72 ff. 1 5 ) M . BORN, Wüstungschema und Wüstungsquotient, in: Erdkunde, 2 6 , 1972, S. 2 1 6 . 13 14
Einleitung
•
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(oder) der Geburtenhäufigkeit erklärt werden. Die geographische Bewegung, also die Ab- und Zuwanderung, insbesondere die Zuwanderung in die Städte, ist als Resultante anziehender und abstoßender Kräfte zu begreifen. Die weitere Begründung wird manche Deutung verwenden können, die schon von anderen Forschern gebracht wurde. Politische, geographische, sozialrechtliche und wirtschaftliche Gründe wirkten mit im Kräftespiel, das viele Tausende von Landbewohnern im späten Mittelalter von Haus und Hof in die Städte trieb. Wenn gleichwohl im folgenden und insbesondere im dritten Teil der Untersuchung den wirtschaftlichen Gründen des Geschehens ein breiterer Raum eingeräumt wird, als solchem Programm entsprechen mag, so kann das unter anderem dadurch gerechtfertigt werden, daß ein Beitrag der Wirtschaftshistoriker zum Wüstungsproblem lange überfällig war. Zumindest seit der Geograph ALFRED GRUND um die Jahrhundertwende den Blick der Fachgenossen auf Vorgänge lenkte, die er als «Agrarkrisis des ausgehenden Mittelalters» bezeichnete, hätte man erwarten können, daß sich auch Wirtschaftshistoriker zum Wort gemeldet hätten. Doch weder diese wirtschaftsgeschichtliche Erklärung des Wüstungsvorgangs noch das Geschehen selbst fand in den Kreisen der Wirtschaftshistoriker die Beachtung, die ihm gebührt, v. BELOW etwa beschränkte seine Bemerkungen zum Wüstungsproblem auf den folgenden Satz: «Die Zahl der Ortschaften, die uns auf altdeutschem Boden (sc. im hohen Mittelalter) begegnen, hat sich bis zum 19. Jahrhundert kaum vermehrt, mitunter hat man sich inzwischen sogar genötigt gesehen, eine Ansiedlung als nicht lebensfähig wieder aufzugeben»16). KULISCHER meinte17), es seien nachweislich schon im 13.-15. Jahrhundert ehemalige Dörfer vom Erdboden verschwunden, und als Beleg verwies er auf v. BELOWS Probleme S. 73, wo der Leser den Gegenstand auch nur in einer Anmerkung behandelt findet. RUD. KÖTZSCHKE18) widmete dem Problem IV2 Seiten. Wohl am ausführlichsten ging THEOD. MAYER 1 9 ) auf Wesen und Ursachen des Wüstungsvorgangs ein, doch seine Ausführungen, die in der These gipfeln, daß der WüstungsVorgang ein Symptom wirtschaftlichen Fortschritts gewesen sei, sind abwegig. Heute wird häufiger von Wüstungen gesprochen, auch im Ausland, wo man zuweilen sogar das deutsche Wort Wüstung als Erläuterung der eigensprachlichen Bezeichnungen braucht20). Es mag sein, daß sich darum manches erübrigt, was noch in den Erstauflagen dieses Buches in größerer Breite vorgetragen werden mußte. Doch ist gerade im Kreis der wirtschaftlich-sozialen Fragen auch manches noch offen. Es bedarf weiterer Klärung, und darum wurde auch der dritte Teil dem Buch belassen, der - teils gekürzt, teils erweitert - dem socio-ökonomischen Datenkianz der spätmittelalterlichen Wüstungen gewidmet ist.
16 ) G. v. BELOW, Gesch. d. deutschen Landwirtschaft des Mittelalters, in ihren Grundzügen, herausg. v. F. LÜTGE, Jena 1937, S. 65. 17 ) J. KULISCHER, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, II, S. 17. 18 ) R. KÖTZSCHKE, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, Jena 1924. 19 ) TH. MAYER, Deutsche Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, Leipzig 1928, S. 110. 20 ) U m eigene Beobachtungen zurückzustellen, darf auf G. OBERBECK hingewiesen werden, der gelegentlich einer Besprechung des von der Ecole Pratique des Hautes Études zum 3. Internationalen Kongreß der Wirtschaftshistoriker vorgelegten Sammelwerkes über die «Villages désertés» bemerkte, daß der Begriff Wüstung ein «international verstandener und verwendeter Terminus geworden» sei (Zeitschr. f. Agrargesch. u. Agrarsoziologie, 1 6 , 1 9 6 8 , S. 112).
ERSTER
TEIL
Der Wüstungsvorgang
2 Abel, Wüstungen
I. Die Siedlungen 1. Wüstungen in Deutschland Der Ortschaftsverlust im Mittelalter Selten läßt sich das Ausmaß des Ortschaftsverlustes in einem größeren Gebiet genau feststellen. Mitunter ist es schwierig, von den «echten» Wüstungen die «Scheinwüstungen» zu trennen, das sind jene Ortschaften, die nur ihren Namen gewechselt haben oder die mit anderen zusammengewachsen sind)1. Werden solche Ortschaften in Wüstungsverzeichnisse aufgenommen, so erscheinen die Ortschaftsverluste größer, als sie in Wirklichkeit waren. Häufiger noch dürfte es geschehen, daß echte Wüstungen der Aufmerksamkeit der Forscher entgehen, weil weder Spuren in der Landschaft noch schriftliche oder mündliche Nachrichten von den verlorenen Dörfern zeugen. So werden in der Regel selbst bei sorgfältiger Forschung nur Mindestziffern der untergegangenen Siedlungen ermittelt werden können, und diese Ziffern bleiben natürlich um so weiter hinter den wirklichen Verlusten zurück, je flüchtiger die örtlichkeiten und die Quellen geprüft wurden. Bei solchen Fehlermöglichkeiten mußte die Höhe der schon in der älteren Forschung gewonnenen Zahlen überraschen. Denn von den insgesamt nachgewiesenen Ortschaften, d. h. Wüstungen + bestehende Ortschaften, sollen verloren gegangen sein: im Elsaß2) 17 v.H., in Württemberg3) 20 v.H., in der Rheinpfalz 4 ) 33 v. H., in Hessen5) 44 v. H., im Westerwald6) 26 v. H., im oberen Lahngebiet7) 44 v. H., im Eichsfeld8) 59 v.H., im Ostharz9) 53 v.H., im Frankenwald10) 14 v.H., in der Altmark 11 ) 33 v. H., in Anhalt 12 ) 64 v. H., im Nordthüringgau13) 66 v. H. Das sind nur einige wenige Beispiele aus der Gruppe der Nachrichten, die seit langem vorliegen. H E I N Z P O H L E N D T 1 4 ) faßte sie und andere in einem Kartenbild zusammen, * ') H. BESCHORNER, Historische Geographie, in Handbuch d. geogr. Wiss., herausg. v. KENDE Wien, Berlin 1914, S. 356. 2 ) A . STRAUB, Die abgegangenen Ortschaften des Elsaß, Straßburg 1 8 8 7 , S . 3 f. 3 ) D I E T R . W E B E R , Die Wüstungen in Württemberg, in: Stuttg. Geogr. Studien, Heft 4/5, 1927, S. 192. 4) D. HÄBERLE, Die Wüstungen der Rheinpfalz, in: Beitr. z. Landeslc. d. Rheinpfalz, 3 . Heft, Kaiserslautern 1922, S. 61,221. 5) Aus den Angaben ARNOLDS berechnet von O. SCHLÜTER, Die Siedlungen im nordöstlichen Thüringen, Berlin 1903, S. 206. •) A. BECKER, Beiträge zur Siedlungskunde des Hohen Westerwaldes, Diss. Marburg 1912, S. 64. 7) E. KÄTELHÖN, Zur Siedlungskunde des oberen Lahngebietes, Diss. Marburg 1907, S. 42 f. 8) J. M Ü L L E R , Frankenkolonisation auf dem Eichsfelde, in: Forsch, z. Thüring.-Sachs. Gesch., 2. Heft, Halle a. S. 1911, S. 63. •) G . v. GELDERN-CRISPENDORE, Kulturgeographie des Frankenwaldes, in: Beih. z. d. Mitt. d. Sächs.-Thür. Ver. f. Erdk. z. Halle a. S. Nr. 1, Halle 1930, S. 89. 10) v. GELDERN-CRISPENDORE, a.a.O., S. 89. " ) W. ZAHN, Die Wüstungen der Altmark, in: Geschichtsquellen der Prov. Sachsen und angr. Gebiete, 43. Bd., Halle a. S. 1909, S. XXIV. 12) G. H E Y und K. SCHULZE, Die Siedlungen in Anhalt, Halle a. S . 1905, S . 96 f. (Von den insgesamt nachgewiesenen 363 wendischen Orten sind 240 untergegangen, 40 wieder auf wüster Mark entstanden. Von insgesamt 378 deutschen Ortschaften sind 233 verschollen.) 13) G. HERTEL, Die Wüstungen im Nordthüringgau, in: Geschichtsquellen der Prov. Sachsen, 38. Bd., Halle a. S., 1899, S. XXIII. 14) Die Verbreitung der mittelalterlichen Wüstungen in Deutschland, in: Gött. Geogr. Abhandlungen, Heft 3, Göttingen 1950, S. 13.
I. Die Siedlungen
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wobei sich Schwierigkeiten ergaben, da die Begriffe Wüstung, Ort und Wüstungsquotient von den Forschern, auf die zurückgegriffen werden mußte, nicht einheitlich gebraucht wurden. Soweit möglich, versuchte zwar auch POHLENDT schon eine Anpassung, doch ließ sich eine völlige Ubereinstimmung nicht mehr erzielen. Man kann nur das Gröbste bereinigen. Das gilt vorweg vom Wüstungsquotienten. Nach älterer Übung, die auch in die oben mitgeteilten Ziffern einging, wird unter Wüstungsquotient der Anteil der Wüstungen an der Gesamtzahl der nachgewiesenen, also der bestehenden und der abgegangenen Orte verstanden. Da das Ausmaß der seit der Wüstungsperiode neuerbauten Orte von Landschaft zu Landschaft wechselt, ergibt eine solche Relativzahl kein getreues Bild der Intensität des Verödungsprozesses in seiner Zeit. Die Relativzahl erscheint klein, sofern der heutige Ortschaftsbestand groß ist; sie erscheint groß, sofern in der Aufbauperiode die zuwachsende Bevölkerung in die noch verbliebenen Ortschaften zog, die damit zu Großdörfern mit weiten Feldmarken anwuchsen. Hieraus erklärt sich z. B. auch die Höhe der obigen Wüstungsziffer des Nordthüringgaues. Daß durch diese Methode nicht der «Ortschaftsverlust» erfaßt wird, wie vielfach gesagt wurde, sei nur nebenbei noch bemerkt. Die Rede von einem Ortschaftsverlust erweckt die Vorstellung, daß die sich aus der Addition der heute vorhandenen und der abgegangenen Orte ergebende Gesamtzahl von Ortschaften früher nebeneinander bestanden hat. Das war in der Regel nicht der Fall. Vielmehr sind die abgegangenen Orte im Laufe der Jahrhunderte zum Teil ersetzt worden, mithin nicht sämtlich endgültig verloren. Man hat versucht, diese ältere Formel des Wüstungsquotienten, die auf alle nachgewiesenen Siedlungen bezogen ist, durch einige Veränderungen der Bezugsgrößen zu retten. So berechnete man den Anteil der Wüstungen an den heute noch bestehenden Ortschaften, doch wurde damit wenig gewonnen. Denn ob gesagt wird: Auf 100 insgesamt nachgewiesene Ortschaften kommen 50 eingegangene oder: Auf 50 noch bestehende Orte kommen 50 verschollene, begegnet den gleichen Einwänden. Auch hilft D. WEBER15) hier nicht viel weiter. WEBER berechnete die Anzahl der Wüstungen, die in einer bestimmten Landschaft auf den Quadratkilometer entfallen, oder umgekehrt die Fläche, auf die eine Wüstung kommt, also die «Wüstungsdichte» einer Landschaft. Nach seinen Ermittlungen (die heute überholt sind) beträgt für Württemberg die mittlere Wüstungsdichte 10,2, d. h. auf wenig mehr als 10 qkm soll hier im Durchschnitt eine Siedlung abgegangen sein. Diese Berechnung vermeidet einige Mängel, die den anderen Methoden anhaften, doch gibt auch sie keine Auskunft auf die den Historiker am stärksten berührende Frage, wieviel von den zur Zeit der höchsten Siedlungsdichte des Mittelalters vorhanden gewesenen Ortschaften in den folgenden Jahrhunderten wieder verloren gingen.
Wenn der Wüstungsquotient über das Ausmaß der spätmittelalterlichen Entsiedlung berichten soll, muß er auf den Siedlungsbestand vor Beginn der spätmittelalterlichen Wüstungsperiode bezogen werden. Dies wird heute auch allgemein anerkannt16) (und wird bei künftigen Untersuchungen hoffentlich berücksichtigt werden), doch lassen nicht wenige der älteren Arbeiten die Beziehung auf die Höchstzahl der mittelalterlichen Siedlungen vermissen. Hier helfen nur geschätzte Abzüge weiter, wie auch POHLENDT sie schon versuchte. Nur dort, so fügte er hinzu, wo sich weder durch Angaben des Autors noch durch eigene Berechnungen die Höhe der erforderlichen Abstriche annähernd ermitteln ließ, wurde der Quotient des gesamten Vorganges bis zur Jetztzeit übernommen, «dies unter der Voraussetzung, daß die neuzeitlichen Veränderungen, " ) D. WEBER, a.a.O., S. 114,192. ) Es sei nur auf OBERBECK verwiesen, der dies betonte und entsprechend formulierte: «Der Wüstungsquotient errechnet sich aus dem Verhältnis von maximaler Wohnplatzzahl vor Beginn einer Wüstungsperiode und der dezimierten Wohnplatzzahl am Ende der Periode» (Wüstungsschema und Wüstungsquotient, in: Erdkunde, Archiv für wissenschaftliche Geographie, 26,1972, S. 215). la
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
die den Siedlungsabgang und den Siedlungsausbau der späteren Zeit betreffen, in jenen Fällen unwesentlich waren» 1 7 ). W e n n auf P O H L E N D T ' S Arbeit, die sich im ganzen als ein verläßliches Fundament erwies, weitergebaut werden soll, müssen die Korrekturen und Unterstellungen, die er vornahm, übernommen werden. Das geschah auch in dem folgenden Kartogramm, das nach dem Stand der Forschung u m 1 9 6 0 gezeichnet wurde 18 ). Die bereits von P O H L E N D T zusammengestellten Wüstungsquotienten aus einzelnen Landschaften und Gebieten (106 bestimmte und 43 geschätzte, insgesamt 149) wurden übernommen und durch die Ergebnisse neuerer Forschung ergänzt (65 Quotienten), so daß insgesamt 214 Wüstungsquotienten für deutsche Räume und Landschaften zur Verfügung standen. U m Zufälligkeiten im Stand und in der Ergiebigkeit der Forschung möglichst auszuschalten und einen größeren Uberblick über Deutschland zu ermöglichen, wurden diese Quotienten für Räume gleicher natürlicher Umweltbedingungen und gleicher oder ähnlicher Verkehrslage zu Mittelwerten zusammengefaßt. Dabei gingen zwar kleinräumliche Unterschiede, insbesondere die Totalverluste in einigen Waldgebieten, verloren, doch traten dafür die für die Forschung auch nicht unwichtigen großräumlichen Unterschiede stärker hervor. Die spätmitteblterlichen Wüstungen in Deutschland
Abbildung 2 ) POHLENDT, a.a.O., S . 11. ) Die Zusammenstellung ist D. SAALFELD ZU danken, Mitarbeiter in dem ehedem von mir geleiteten Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Göttingen. 17
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I. Die Siedlungen
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Die Karte enthält einige Schraffuren in Räumen, die P O H L E N D T noch unbezeichnet lassen mußte, bestätigt aber die schon von ihm nachgewiesenen großräumlichen Unterschiede. Hoch war der Wüstungsanfall in Hessen, im südlichen Niedersachsen, in Braunschweig, in Teilen Thüringens, der Mark und Schlesiens und, wie in Schlesien, inselartig eingebettet in Gebiete mit geringerer Wüstungshäufigkeit auch in einigen Landschaften des westlichen und südlichen Deutschlands. Mittlere Quotienten konnten für größere Teile Norddeutschlands und im mittleren Deutschland an der südlichen Flanke des Konzentrationsgebietes bis an die Donau und den Oberrhein festgestellt werden. Gering war der Wüstungsanfall im nordwestdeutschen Einzelhof- und Streusiedlungsgebiet und am Unterrhein, wo die geringen Wüstungsquotienten sich an das geringe Wüstungsvorkommen in den Niederlanden anschließen (vgl. unten S. 35). Die Berechnung von Wüstungsquotienten erlaubt einen weiteren Schritt (oder Doppelschritt). Wägt man die Quotienten nach Maßgabe der heutigen Siedlungsdichte in den untersuchten Landschaften, so ergibt sich in ganz Deutschland (in den Grenzen von 1933) ein Wüstungsquotient in der Höhe von etwa 26 v. H., d. h. daß jede vierte Siedlung, die bis zum Ende des hochmittelalterlichen Landesausbaus nachgewiesen werden konnte, bis zum Ausgang des Mittelalters wieder verloren ging. Dieser Wüstungsquotient berücksichtigt nicht die nach der spätmittelalterlichen Wüstungsperiode abgegangenen und die nach ihr hinzugekommenen Orte. Genauere Angaben über diese Siedlungsbilanz der Neuzeit liegen nicht vor, doch darf vielleicht eine Schätzung gewagt werden. Im Jahre 1933 bestanden im deutschen Reichsgebiet damaligen Umfangs rund 138 000 selbständige Wohnplätze. Unterstellt man, daß auf die Siedlungsbilanz der Neuzeit rund 5 v. H. dieser Zahl entfallen, so ergibt das etwa 1 3 0 0 0 0 Siedlungen nach Abschluß der Wüstungsperiode und 1 7 0 0 0 0 Siedlungen im Hochmittelalter, d. h. daß sich die Zahl der Siedlungen in Deutschland gegenüber der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts um etwa ein Fünftel verringert hat. Die obigen Zahlen, die mit Kommentar auch in meine Geschichte der deutschen Landwirtschaft aufgenommen wurden, ergaben sich aus folgenden Unterlagen und Rechnungen: Die Zahl der Wbhnplätze im Deutschen Reich wurde M Ü L L E R S Großem Deutschen Ortsbuch, 12. Auflage, Wuppertal-Barmen 1958, und M Ü L L E R S Verzeichnis der jenseits der Oder-Neiße gelegenen, unter fremder Verwaltung stehenden Ortschaften, Wuppertal-Barmen 1958, entnommen. Sie setzt sich aus 113 000 Siedlungen im Gebiet der Bundesrepublik und der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone und 25000 Siedlungen im Gebiet jenseits der Oder-Neiße zusammen, wobei «abgelegene Bahnhöfe, Forsthäuser, Mühlen usw.» nicht aufgenommen sind. Die weitere Rechnung sah wie folgt aus: Zahl der Wohnplätze im Deutschen Reich um 1933 138 000 Wüstungsquotient (gewogenes Mittel für den Gebietsstand von 1933) 26 v. H. Zahl der seit dem Spätmittelalter hinzugekommenen abzüglich der in der gleichen Zeit abgegangenen Orte (Annahme 5 v. H. der heutigen Wohnplätze): 7 000 Zahl der resistenten Siedlungen um 1500 (138000-7000) 131 000 Berechnung der spätmittelalterlichen Wüstungen (x) aus dem Wüstungskoeffizienten (26), der als v. H.-Wert das Verhältnis der Zahl der Wüstungen (x) zur Zahl der Siedlungsplätze vor der Wüstungsperiode wiedergibt: 131.000 + x • 1 0 0 m k h i n ' Zahl der spätmittelalterlichen Wüstungen Zahl der bis 1300/1350 entstandenen und vielleicht noch nicht ausgeschiedenen Wüstungen (Schätzung): Zahl der Siedlungsplätze im Hochmittelalter (1300/1350): 138000 — 7000 + 4 6 0 0 0 — 6000 = 26 =
46.000 6 000 171000
Diese Rechnungen und Schätzungen, so unvollkommen sie sind, lassen trotz der Bedenken, die sie erwecken müssen, doch einen weiteren Schluß noch zu. W e n n in Deutschland, wie angenommen werden darf, vor Beginn der Wüstungsperiode, etwa
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
u m das Jahr 1300, kaum 15 Millionen Menschen lebten 1 9 ), entfielen auf die Einzelsiedlung im Durchschnitt 9 0 Bewohner oder etwa 15 Haushalte. Werden für die rund 4 000 Städte 20 v. H. der Bevölkerung angesetzt, so verbleiben für die ländlichen Siedlungen im Mittel 72 Bewohner oder 1 1 - 1 2 Haushaltungen. «Unsere Vorfahren haben allerdings also gewohnet, wie es der rechte Nutzen und das Aufnehmen der Landwirtschaft erfordert», so beschrieb bereits JOHANN H E I N R I C H V. J U S T I um die Mitte des 18. Jahrhunderts diese lockere Siedlungsweise, die dem Landmann den Vorteil des nahen Feldes und der nahen Weide bot. Sie ging verloren, so fügte schon v. J U S T I hinzu, als die Landleute «ihre Wohnungen nahe beyeinander» bauten 2 0 ).
Ergänzende Nachrichten Mittelwerte, Summenzahlen und ähnliche, weniger präzise Aussagen im verbalen Bereich sind unerläßlich, wenn mehr als lokalbegrenzte Ereignisse zur Beobachtung anstehen, doch bergen sie auch Gefahren. Sie verleiten zu Vorstellungen, die der Wirklichkeit nicht gerecht werden. U m an v. J U S T I ' S Wort anzuknüpfen, daß unsere Vorfahren locker in Kleindörfern herunter bis zu Einzelhöfen gesiedelt hätten: Das Wort ist nicht falsch, doch läßt es nicht die Abweichungen erkennen, die sich auch in der Siedlungsstruktur des Hochmittelalters bereits abzeichnen. Es gab neben den vielen Kleinsiedlungen auch schon Dörfer mit Hunderten von Einwohnern, etwa das Dorf Mohaim im Regensburger Land, von dem ein Weistum Anfangs des 14. Jahrhunderts besagt: Das Dorf soll haben zwei Bäcker, zwei Fleischhacker und einen Schmied 21 ). Der Ort muß weit mehr als ein Dutzend Haushalte umfaßt haben. Die gebrachten Ubersichten bedürfen mithin der Ergänzung. Die Frage ist nur, in welchen Formen sie gebracht werden soll. Die eine Möglichkeit stände in der Ausbreitung der Sachen, die bisher nur flüchtig gestreift wurden, etwa der partiellen und temporären Ortswüstungen und der Wüstungen im Gelände, der sog. Flurwüstungen. Aber dies würde sogleich wieder die Akzente auf das Gemeingültige verlagern und dem Besonderen nicht gerecht werden, das dem Raum oder der Zeit verhaftet war. Darum wird ein anderer, freilich umständlicherer Weg gewählt, der den lokal oder regional begrenzten Studien auf dem Wege durch Deutschland folgt. Das zwingt zwar zu Wiederholungen, doch mögen auch sie erwünscht sein, wenn sie den recht lockeren Konstruktionen, die bisher vorgeführt wurden, einige erdnahe Stützen einfügen. Bei der Besprechung der ersten Auflage dieses Buches bedauerten BESCHORNER und wenig später SCHARI.AU, daß dem Versuch einer regionalen Ubersicht eine regional gegliederte Bibliographie der Wüstungsliteratur fehlte. Aber die Rezensenten verkannten wohl die Aufgabe dieses Buches. Es soll keine Wüstungskunde von Deutschland ersetzen, die zu schreiben Geographen überlassen werden muß. Solange eine solche umfassende und regional gegliederte Darstellung der Wüstungen in Deutschland noch aussteht, muß der Historiker sich mit dem begnügen, was ihm zur Hand liegt und ihm wesentlich erscheint. Zur Bibliographie sei nur noch angemerkt, daß bereits POHLENDT'S Literaturverzeichnis 430 Schriften umfaßt und seitdem noch an die hundert (oder mehr) hinzugekommen sein mögen. Sie zu ordnen und laufend zu ergänzen, vielleicht auch mit Kurzkommentaren zu versehen, könnte, wenn nicht ein Einzelner dies vermag, ein Institut oder eine Gruppe von Forschern übernehmen, wie es vorbildlich in England geschah.
19) Eine Begründung dieser Schätzung, die hier nicht gegeben werden kann, wurde in meiner Geschichte der deutschen Landwirtschaft . . . 3. Aufl., 1976 versucht. 20) J. H. G. v. JUSTI, Abhandlung von der Macht, Glückseeligkeit und Credit eines Staates...,
1 7 6 0 , S. 8 . 21
) GRIMM, Weistümer, VI, S. 117.
I. Die Siedlungen
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In dem Kartogramm auf S. 10 hebt sich in einem Raum mit mittlerem bis starkem Wüstungsanfall der Sdiwaizwald als ein Gebiet mit nur «unbedeutenden» Ortschaftsverlusten ab. Als Beispiel mag der Kreis Lörrach dienen, der zu einem Drittel aus Schwarzwaldfläche besteht und in diesem Teil des Kreises nur vier Ortswüstungen, in den übrigen zwei Dritteln des Kreises etwa 50 Wüstungen aufweist22). Doch sollte auch G O T H E I N ' S Urteil beachtet werden, daß der Schwarzwald, der nie mehr so dicht mit Höfen besetzt war wie am Anfang des 14. Jahrhunderts, im folgenden Jahrhundert «eine merkwürdige Entvölkerung» zeigte: In allen Tälern waren wüste Hofstätten zu finden, die teilweise schon wieder dem Walde verfallen waren»23). Es deutet sich in diesen wenigen Worten, die einem Historiker der älteren, noch volkswirtschaftlich orientierten Schule entlehnt wurden, bereits jener Komplex von Entwicklungszügen und Sachverhalten an, den man zum vollen Verständnis des Wüstungsvorgangs nicht missen möchte: Der jähe Wechsel von einem Höchststand von Siedlungen zu tiefem Verfall, zum andern die den Siedlungsrückgang begleitende «merkwürdige Entvölkerung» und zum dritten, so darf wohl noch hinzugefügt werden, die Gruppe der partiellen und temporären Wüstungen, die so leicht aus dem Blickfeld verschwinden, wenn nur nach dem «verlorenen Ort» gesucht wird. Die permanente und totale Ortswüstung ist unter Umständen nur ein schwacher Indikator des wirklichen Ausmaßes der Wüstungsfälle im späten Mittelalter. Aus Württemberg liegt seit langem die Arbeit W E B E R ' S vor24). Als Pionierleistung ist sie unbestritten, doch dürften die Zahlen, die er brachte, zumindest für einige Räume seines Untersuchungsgebietes zu niedrig gegriffen sein. Das zeigten neuere Arbeiten für einen Teil des Keuperberglandes im nordöstlichen Württemberg, wo sich gegenüber den WEBER'schen Zahlen eine Verdreifachung ergab25). Es bleibe dahingestellt, ob damit schon das Urteil eines - auch wieder - Historikers abgedeckt ist, daß in Württemberg und Schwaben am Ende des 14. Jahrhunderts wohl an die 1200 Dörfer in Asche lagen: 10 - 12 Meilen in der Runde einer Stadt oder Burg sah man nirgends ein Dorf oder Haus26). Es mag sein, daß die Farben zu kräftig gemischt wurden, um tiem Leser ein recht deutliches Bild der Schrecken und Nöte der Zeit vor Augen zu führen, doch kann die Frage nicht unterdrückt werden, ob Wüstungsverzeichnisse, selbst wenn sie die «temporären» Wüstungen mit aufnehmen, die Wüstungen vollständig erfassen. Es gab neben den Orten, die für längere Zeit verlassen waren, auch noch die «Interimswüstungen», um ein Wort aufzugreifen, das B O R N noch in das Wüstungsschema einbrachte27). Das sind die «ganz kurz» nur verödeten Orte, bei denen die Neubesiedlung nicht nur auf dem früheren Wohnplatz und der dazu gehörigen Flur erfolgte, sondern auch die alte Orts- und Flurform in ihrem Grundgefüge wiederherstellte. Es dürfte schwierig sein, solche Wüstungen nachzuweisen (weshalb sie auch in mein Wüstungsschema nicht mit aufgenommen wurden).
22 ) Zitiert nach dem Protokoll der 30. Sitzung des Arbeitskreises für Landes- und Heimatgeschichte am 2. XII. 1967 in Stuttgart, S. 11 ff. 23 ) E. GOTHEIN, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes, I, 1892, S. 661,• vgl. auch DERS., Die Lage des Bauernstandes am Ende des Mittelalters, in: Westd. Zeitschr. f. Gesch. u. Kunst, IV, 1885, S. 3. 24 ) D. WEBER, Die Wüstungen in Württemberg, in: Stuttgarter Geograph. Studien, 1927. 25 ) E. DIETZ, Die Wüstungen der Limpurger Berge, der Frickenhofer Höhe und der Tannenburg-Adelmannsfelder Höhen, in: Zeitschr. f. Württemberg. Landesgeschichte,20,1961,zusammenfassend und ergänzend (mit weiteren Literaturangaben) W.-D. SICK, Wüstungen im württembergischen Keuperbergland, in: Wüstungen in Deutschland. Ein Sammelbericht hsg. v. W. ABEL, Sonderheft 2 der Zeitschr. f. Agrargesch. u. Agrarsoziologie, 1967, S. 28 ff. 26 ) F. W. BARTHOLD, Geschichte der deutschen Städte und des deutschen Bürgertums, 4, 1853, S. 184. " ) M. BORN, Wüstungsschema und Wüstungsquotient, in: Erdkunde, 26, 1972, S. 218.
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Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
Nur in besonderen Fällen geben die Quellen Auskunft. Ein solcher Fall mag in Bayern gegeben sein, wo es seit dem Ende des 13. Jahrhunderts das ödrecht gab, das Steuer- und Abgabenfreiheit für öde Güter vorsah und seit 1344 auch in eindeutigem Zusammenhang mit der Wiederbesetzung wüster Stellen gebraucht wurde. Da die Verleihung zu ödrecht das ganze 15. Jahrhundert hindurch nicht abbrach, darf angenommen werden, daß zumindest ein Teil dieser Güter nur kurzfristig unbesetzt gewesen war. H . R U B N E R ist eine Auszählung für die Güter der Klosterherrschaft Tegernsee im Amt Gevild bei München zu danken. Eine erste Notlage zeichnet sich bereits um 1315 ab, vermutlich - wie anderswo - im Zusammenhang mit der europaweiten Hungersnot dieser Jahre. Weitere Nachrichten liegen in den seit 1346 jährlich geführten Stiftsbüchern des Amtes vor. Die Verödung ist zunächst noch gering. Zwischen 1346 und 1349 waren nur jeweils ein oder zwei Güter von insgesamt 130 ganz öde, vier jeweils zu ödrecht ausgetan. Leider fehlen alsdann die Nachrichten bis zum Jahre 1355. In diesem Jahr waren im Amt Gevild von 155 Gütern bereits vier völlig öde und neun zu ödrecht verliehen, was einem Wüstungsquotienten von 3 v.H. gegenüber 1 - 2 v.H. um 1349/50 entspricht. Alsdann setzte sich der Prozeß der Verödung verstärkt fort. Der Wüstungsquotient, bezogen auf sämtliche Höfe des Amtes, erreichte 20 v. H. im Jahre 1376 und 25 v. H. im Jahre 1385, während die zu ödrecht verliehenen Güter sich mit erheblichen Schwankungen bei etwa 10 v.H. sämtlicher Höfe hielten. Früher und noch stärker fielen die in Geld festgesetzten Einnahmen des Klosters. Sie sanken bereits zwischen 1346 und 1355 von 60 lb. auf 32 lb. und weiter auf 26 lb. im Jahre 1385, dem Jahr der größten Verödung und zugleich dem fahr der geringsten Klostereinnahmen in dem von R U B N E R erfaßten Zeitraum [1343-1420] 28 ). Solche Nachrichten, die den Wüstungsprozeß anhand jährlicher Aufzeichnungen verfolgen, lassen sich schlecht mit anderen vergleichen, die durch Jahrhunderte Querschnitte legen, doch verstärken sie den Eindruck, den bereits P O H L E N D T gewann, daß «die Wüstungsfrage auch für Bayern» Bedeutung habe29). Das wurde auch im Kartenbild S. 10 angedeutet, Wobei aber anzumerken ist, daß es in Bayern nach wie vor an Lokalstudien mangelt. Die «klassischen» Gebiete der Wüstungsforschung liegen weiter nördlich in dem Raum, der in vielen schon der ersten Arbeiten auch die höchsten Wüstungsquotienten aufweist. Soweit die Zeiten beachtet wurden, war sich auch hierin die ältere Generation der Wüstungsforscher bereits einig. So heißt es von den Wüstungen in der Rheinpfalz, in Hessen und im oberen Nahegebiet, daß sie «zumeist» oder «in der Mehrzahl» im 14. und bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden30). Von den 70 Wüstungen des Kreises Holzminden31) und den 64 des Kreises Göttingen32) wurde gesagt, daß sie «namentlich» oder «überwiegend» aus dem ausgehenden Mittelalter stammen, von den über 20 Wüstungen des Kreises Grafschaft Wernigerode33), daß sie dem 15. Jahrhundert angehören. Im nordöstlichen Thüringen soll der Ortschaftsverlust, den S C H L Ü T E R ermittelte34), zwischen 1350 und 1550 etwa
2S) H. R U B N E R , Die Landwirtschaft der Münchener Ebene und ihre Notlage im 14. Jahrhundert, in: Viertel]ahrschr. f. Sozial-und Wirtschaftsgesch., 51, 1964, S. 433 ff. 29
) POHLENDT, a . a . O . , S . 2 0 .
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) HÄBERLE ( 1 9 2 2 ) , SCHLÜTER ( 1 9 0 3 ) , KÄTELHÖN ( 1 9 0 7 ) .
) H. D Ü R R E , Die Wüstungen des Kreises Holzminden, in: Zeitschr. d. hist. Ver. f. Niedersachsen, 1878, S. 175. 32) H. DEPPE, Die Wüstungen im Kreise Göttingen, in: Protokolle über die Sitz. d. Ver. f. d. Gesch. Göttingens, 1895, 32. Sitz., S. 28, dazu Anm. 15. 33) E. JACOBS, Wüstungskunde des Kreises Grafschaft Wernigerode, in: Geschichtsbl. d. Provinz Sachsen, 46,1,1921, S. 10. 3 4 ) SCHLÜTER, a.a.O., S . 204 f. 31
I. Die Siedlungen
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40 v.H. betragen haben; im alten Noidthüiingau, so zeigte schon HERTEL35), häuften sich die Wüstungen im 14. und 15. Jahrhundert, im Frankenwald36) zwischen 1300 und 1450. Im Becken am Fuldaknie bei Bebra, im Gerstunger und Sontraer Land an der hessisch-thüringischen Grenze37) bestanden von den 180 Siedlungen, die für die Zeit um 1300 nachgewiesen werden konnten, um 1500 nur noch 80. Die Zwischenzeit umschloß, wie der Autor dieser Wüstungskunde mit Recht meinte, einen «gewaltigen Ortschaftsverlust und Wüstungsvorgang». Da sich in den Quellen nur selten genaue Zeitangaben für den Untergang einer Ortschaft finden lassen, bleibt notwendig dem einzelnen Forscher in der Begrenzung der Wüstungsperiode ein gewisser Spielraum. U m so erstaunlicher ist die gute Ubereinstimmung der Berichte aus so verschiedenen Gegenden Deutschlands. In Sachsen38) wurde im 14. und 15. Jahrhundert «eine ordentlich erschreckende Zahl von Dörfern» wüst, im anhaltischen Kreise Dessau39) östlich der Mulde, wo auf 23 noch bestehende Dörfer 52 untergegangene kommen, sollen die meisten Wüstungen «mindestens 2 - 3 Jahrhunderte» vor dem Dreißigjährigen Krieg entstanden sein. Für die Altmark40) wird, wohl zu früh ansetzend, das 1 3 . - 1 5 . Jahrhundert als Periode der Wüstungshäufung angegeben. In der Nordostecke der Prignitz41) gab es um 1300 38 Dörfer, im 16. Jahrhundert waren nur noch 9 oder 10 bewohnt. Zwischen 1300 und 1500 gingen im brandenburgischen Kreise Templin42) von 130 Siedlungen rund 80 ein, im Ruppin-Rheinsbergei Waldgebiet13) von 48 gar 43. Nur 5 Dörfer von den 48, die in diesem Gebiet um 1300 bestanden hatten, waren um 1500 noch bewohnt: «Das Gebiet war sozusagen entvölkert.» Einen genauer datierten Verlauf der Wüstungsvorgänge legte D. W E B E R für Württemberg vor 44 ). Seine absoluten Zahlen der Wüstungen erwiesen sich als zu niedrig 45 ), doch seine Relationen hielten auch der Nachprüfung leidlich stand. Das Ergebnis, für mehr als 1000 Dörfer in einer Tabelle zusammengefaßt, schaut wie folgt aus: Tab. 1: Die Zeit dei Entstehung der Wüstungen in Württemberg Zeit bis 9. 10./11. 12./13. 14./15. 16./17. 18./20.
Zahl der Wüstungen in v. H. der absolut Gesamtzahl
Jahrhundert Jahrhundert Jahrhundert Jahrhundert Jahrhundert Jahrhundert
Insgesamt 35
) HERTEL, a . a . O . , S . X X I I I .
36
) v . GELDERN-CRISPENDORF, a . a . O . , S. 8 9 .
53 31 202 520 121 111
5 3 20 50 12 10
1038
100
" ) A. DEIST, Die Siedlungen der Bergbaulandschaften an der hessisch-thüringischen Grenze, in: Frankfurter Geogr. Hefte, 1 2 , 1 9 3 8 , 2. Heft, S. 60. 3E ) GUSTAV REISCHEL, Die Wüstungen der Provinz Sachsen und des Freistaats Anhalt, in: «Jahrb. d. Hist. Komm. f. d. Prov. Sachsen und f. Anhalt», Bd. II, Magdeburg 1926, S. 251. 39 ) THEOD. STENZEL, Zur Geschichte d. Wüst. Anhalts . . ., in: «Mitt. d. Ver. f. Anh. Gesch. u. Altertumskunde», 6. Bd., Dessau 1893, S. 114 f. 40
) Z A H N , a . a . O . , S. X X I .
) WALTER MATTHES, Wüste Dörfer des Mittelalters in der Nordostecke der Prignitz, in: «Mitt. d. Heimat- u. Mu. Ver. in Heiligengrabe», 8. Jg., Kyritz 1925, S. 19 f. 42 ) WERNER SORG, Wüstungen in den brandenburgischen Kreisen Templin und Ruppin und deren Ursachen, Diss. Berlin 1936, S. 57. 41
43
) SORG, a . a . O . , S . 5 7 .
| WEBER, a.a.O., S. 197, dazu Anm. auf S. 199. 4 5 j Vgl. oben, S. 3, A n m . 25. 44
Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
16
Weder der Dreißigjährige Krieg noch die Verstädterung Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, weder der Landesausbau im 1 1 . - 1 3 . Jahrhundert noch die Wanderungen und Umschichtungen der Frühzeit zeitigten Wüstungen, die auch nur annähernd an die Zahlen des 14./15. Jahrhunderts heranreichen. Das ausgehende Mittelalter umschließt das Kernproblem der Wüstungsforschung, womit natürlich, wie schon einmal betont wurde, nicht gesagt werden soll, daß nicht auch andere Zeiten der Wüstungsforschung Aufgaben stellen. Dem 19. und 20. Jahrhundert gehören die Wüstungen der industriellen Landdurchdringung an: Dortmund z. B. war um das Jahr 1850 eine Kleinstadt mit etwa 4000 Einwohnern; zwischen 1910 und 1951 verschwanden allein im Osten der Stadt rund 50 Bauernhöfe mit etwa 1000 ha Ackerfläche. Dem 11. - 13. Jahrhundert sind nicht weniger wichtige (und recht ähnliche) Vorgänge zuzuordnen. Das wird nicht bestritten, und auf die hochmittelalterlichen Wüstungsvorgänge wird auch noch zurückzukommen sein46). Nur sollte endlich schärfer geschieden werden, etwa so, wie es bereits K. FRÖLICH für das Mittelalter mit den beiden Bezeichnungen vorschlug47): Wüstungen der Rodungsperiode und Wüstungen der Entsiedelungspeiiode (mit Überschneidungen der Perioden und regionalen Besonderheiten, die herauszuarbeiten nützlich wäre). Es sei noch hinzugefügt, daß im benachbarten Ausland solche ärgerlichen Verwechslungen und Vermischungen der Probleme und Zeiten sehr viel seltener erfolgten. In Frankreich wütete der Krieg mit England, den auch die Wirtschaftshistoriker nicht übersehen konnten. Die Skandinavier beachten seit langem die verheerenden Wirkungen des Schwarzen Todes (1348/50). Die Belgier folgten PIRENNES Umschlagstheorie und die englischen Wüstungsforscher ließen sich von POSTAN leiten, der die Siedlungsgeschichte in eine umfassende Theorie der säkularen Expansion und Kontraktion einbaute. In Deutschland mag mein Agrarkrisenbuch (1. Aufl. 1935) und auch dieses Buch (1. Aufl. 1943) dazu beigetragen haben, den Blick für die Besonderheit der spätmittelalterlichen Wüstungen zu schärfen. Fortlaufende Reihen von Wüstungen, so wichtig sie sind, unterdrücken die Wechsellagen im Verlauf der Besiedlung der deutschen Lande, die zwar von der älteren Forschung ( O . S C H L Ü T E R ) schon angedeutet, doch in ihrer vollen, bis in die Gegenwart hineinreichenden Bedeutung erst später herausgearbeitet wurden. Das geschah erst, als die Siedlungkforscher sich vermehrt und mit verbesserten Methoden dem frühen und dem hohen Mittelalter zuwandten, das einen Ausbau der Siedlungen in einem noch vor kurzem weit unterschätzten Ausmaß umschloß. W . J Ä G E R konnte zeigen, daß in der Landschaft um die Diemel westlich vom Reinhardswald, wo um das Jahr 500 kaum mehr als 17 Orte bestanden, am Ende des Ausbauzeitalters, etwa um das Jahr 1290, ein dichtes Netz von Orten, weit über 100, die Landschaft bedeckte. Nur die Kerne des Reinhardswaldes waren ausgespart geblieben; sie erweiterten sich nach 1300 wieder zu geschlossenen Waldflächen, die noch heute die Spuren des alten Ackerbaus erkennen lassen 49 ). Ein anderes Beispiel vom Wechselgang der Besiedlung in deutschen Landen bieten die Bungsberge zwischen der Lübecker und der Kieler Bucht. Sie waren noch um die Mitte des 12. Jahrhunderts eine kaum berührte Waldlandschaft. Wenig später, etwa um das Jahr 1300, waren die Berge und ihr Vorland von Dörfern bedeckt, die im Abstand von einer halben, höchstens einer vollen Wegstunde inmitten ihrer Äcker lagen. Nicht mehr der Wald, «sondern der Bauer im
') Insbes. unten S. 45 f. " ) K. FRÖLICH, Rechtsgeschichte und Wüstungskunde, in: Zeitschr. d. Savigny-Stiftung für Rechtsgesch., Germ. Abt., 64. Bd. 1944, S. 277 ff. 48) H. JÄGER, Die Entwicklung der Kulturlandschaft im Kreise Hofgeismar, in: Göttinger Geogr. Abh., 8, 1951; DERS., Heiligengeisterholz und Kapenberg. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Kulturlandschaft, in: Abhandl. d. Akad. f. Raumforschung und Landesplanung, 28, 1954, und (als Zusammenfassung und Wegweisung besonders wichtig) DERS., Entwicklungsperioden agrarer Siedlungsgebiete im mittleren Westdeutschland seit dem frühen 13. Jahrhundert, in: Würzburger Geogr. Arbeiten, 6,1958. 4
I. Die Siedlungen
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17
Dorf und auf dem Felde» kennzeichnete die Landschaft. Zwei Menschenalter danach hatte nicht nur jede zusätzliche Rodung aufgehört; es waren auch bereits mehrere Dörfer verlassen und «für nahezu 200 Jahre stand auch diese Landschaft unter dem Zeichen der Wüstungen» 49 ). Das sind, hier nur durch zwei Beispiele verdeutlicht, die Wechsellagen in der mittelalterlichen Siedlungsgeschichte. Sie legen es nahe, von einer Rodungs- und einer Entsiedlungsperiode zu sprechen, wobei aber nochmals betont sei, daß auch die Rodungsperiode Wüstungen umschloß. Das führte dazu, daß die «Wüstungsperiode» bis tief in das Rodezeitalter hinein verlängert wurde, und solches geschah gerade auch im neueren Schrifttum, das sich durch intensivere Forschung und verbesserte Forschungsmethoden auszeichnet. Zwar läßt sich in nicht wenigen Fällen zeigen, daß es sich hierbei nur um Umsiedlungen (in Städte oder andere ländliche Orte) handelt, doch gab es solche Umsiedlungen auch noch im Spätmittelalter und überdies: Der Grund des Wohnstättenwechsels war nicht eben selten in beiden Zeitaltern der gleiche. Feudaler Druck lastete auch schon auf den Bauern des 12. und 13. Jahrhunderts. Die aufblühenden Städte lockten bereits damals. Bauern flohen die Höfe schon im 12. Jahrhundert, wie etwa die Hörigen der Klosters Maria im Capitol zu Köln, von denen es in einer Urkunde vom Jahr 1158 heißt: «Die zu den Höfen gehörenden Eigenleute, Männer wie Frauen, die den vollen Kopfzins von je 10 Denaren jährlich entrichten mußten, gingen einer so hohen Zinsbelastung wegen in die Fremde»; als die Hufner, die noch zurückgeblieben waren, über ihren eigenen Zins auch noch die Zinsen der geflohenen Bauern an die Kirche entrichten sollten, wandten auch sie sich «zur Flucht und verließen die Hufen» 50 ). Es sei nicht verschwiegen, daß auch der Begriff «Rodungsperiode» noch Schwierigkeiten birgt. Roden i m Wortsinn meint das Lichten der Wälder, die es im Osten länger als im Westen gab. Gebraucht m a n das W o r t im erweiterten Sinn, so daß es auch den Umbruch dürftig genutzter Weiden (Allmenden) und schütter bestandenen Buschlandes umschließt, so ist auch hier zu sagen, daß im dichter und früher besiedelten Westen dem Ausbau der Gemarkungen engere Grenzen gezogen waren als im Osten. Überdies lassen die Quellen im Stich, wenn es um genauere Zeitbestimmungen geht. M a n m u ß sich mit grobschlächtigen Aussagen begnügen, etwa solchen, für die es in demographischen Studien einige Stützen gibt. Die Bevölkerungshistoriker vieler Länder des mittleren Europas sind sich darin einig, daß die Bevölkerungskurve u m das Jahr 1300 einen Gipfel erreichte und dann für ein Halbjahrhundert in einer Art Hochfläche mit auch noch Tälern und Schluchten auslief, bis der «Schwarze Tod» der Jahre 1348/50 einen jähen Abbruch brachte und die längere Stockungsperiode des 14715. Jahrhunderts einleitete. M a n kann in diese Konzeption auch Deutschland einbeziehen, obwohl es regionale Unterschiede gab, insbesondere eine Verkürzung der Siedlungs- und Rodungsperiode im Westen, wo, wie schon LAMPRECHT für das Moselgebiet nachwies, der Boden bereits im 13. Jahrhundert knapper wurde, und eine Verlängerung der Kontraktionsperiode im deutsch-polnischen Osten, wo auch für die Zeit u m 1500 noch zahlreiche Wüstungen nachgewiesen werden konnten 5 1 ).
Wenn auch die Anfänge der Wüstungsperiode je nach Quellenlage, Forschungsstand und Forscherwillkür umstritten bleiben werden, läßt doch auch die neuere Literatur keinen Zweifel daran, daß in dem breiten Streifen stärkster Wüstungshäufung, der sich quer durch Deutschland zieht, der Wüstungsanfall im Verlauf des 14. Jahrhunderts ungemein zunahm und der Wüstungsprozeß erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts oder gar noch später auslief. Darüber hinaus konnten 49 ) W . KOPPE, Rodung und Wüstung an und auf den Bungsbergen, in: Zeitschr. d. Ges. f. Schleswig-Holsteinische Gesch., 8 0 , 1 9 5 6 . 50 ) G. FRANZ, Quellen zur Geschichte des Deutschen Bauernstandes im Mittelalter, 1967, S. 2 2 7 . 51 ) Vgl. unten S. 36.
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
die älteren Forschungsergebnisse ergänzt und berichtigt werden, wobei sich zeigte, daß frühere Ermittlungen in nicht wenigen Fällen noch weit hinter der Wirklichkeit zurück blieben. Einige Beispiele (und wieder nur sie) sind hier am Platze: Das Rheinland galt bisher als ein Gebiet mit «unbedeutendem» bis «mittelmäßigem» Wüstungsanfall im Spätmittelalter (so auch noch auf meiner Karte S. 10 bezeichnet). Eine neuere Arbeit zwingt zur Revision52). Für die Eifel, die P O H L E N D T noch «als eines der wüstungsärmsten Gebiete des Rheinischen Schiefergebirges» bezeichnete, konnte - freilich nur auf Umwegen53) - nachgewiesen werden, daß im Raum der Eifel insgesamt die spätmittelalterlichen Wüstungen wohl 20 °/o des Ortsbestandes übertrafen und in den Kreisen Bonn und Wittlich noch um etwa 6 % über diesem Durchschnitt lagen. Doch bleiben auch diese Zahlen noch zurück gegenüber dem westlich anschließenden, auf der Karte S. 10 stark schraffierten Konzentrationsgebiet der spätmittelalterlichen Wüstungen. Im Sintfeld südlich von Paderborn (Kreis Büren) hatten bereits ältere Forschungen zahlreiche Wüstungen teils festgestellt, teils auch nur vermutet54). Mit Hilfe neuerer Forschungsmethoden konnte gezeigt werden55), daß von den insgesamt 146 mittelalterlichen Siedlungen des Kreises Büren im Spätmittelalter 88 vollständig und auf Dauer ausfielen, das sind 60 % . Klammert man die Orte der Lippeniederung aus, die weniger Wüstungen aufweisen, so bleibt für das restliche Kreisgebiet eine Verlustquote von 70 °/o; verengt man den Raum nochmals, so daß nur das Sintfeld bleibt, so zeigt sich, daß von insgesamt 41 mittelalterlichen Siedlungen 40 von den Wüstungsvorgängen betroffen waren: «Das Sintfeld war eine nahezu menschenleere Einöde, ein desertum geworden». Es mag sein, daß Kriege und Fehden zu der Verödung des Sintfeldes beigetragen haben. Der Autor vermutete dies. Kriege und Fehden werden auch in anderen Lokalstudien häufiger als Wüstungsursachen genannt, doch sollte der Ursachenbegriff mit Vorsicht gebraucht werden. Es gab Ursachen der ersten Ordnung und solche von nachgeordneter Bedeutung, für die sich Worte wie begleitende, vielleicht auch verstärkende Umstände ui|d Bedingungen anbieten. Darauf wird noch zurückzukommen sein (im zweiten Teil dieses Buches). Da aber auch jede überregionale Studie auf lokal- und regionalgeschichtlichen Arbeiten aufbauen muß, sei doch auch hier schon angedeutet, was in den vielen Einzelstudien über den jeweils ins Blickfeld gezogenen Raum hinausweist. Da wäre als nächstes der Natuifaktoi zu nennen. Es wird heute allgemein anerkannt, daß der früh- und hochmittelalterliche Siedlungsausbau in der Grundtendenz und in der Regel von den naturräumlich begünstigten Gebieten ausging und mit der Zeit immer mehr auf weniger geeignetes Gelände übergriff56). Ver52 ) W. JANSSEN, Studien zur Wüstungsfrage im Fränkischen Altsiedelland zwischen Rhein, Mosel und Eifelnordrand, 2 Teile, 1975, insb. I, S. 82. 53 ) Aus grundsätzlichen und pragmatischen Erwägungen (Siedlungsdichte um 1300 unbekannt) verzichtete W. JANSSEN auf die Berechnung von Wüstungsquotienten und begnügte sich mit Schätzungen, die er aufgrund der von ihm berechneten durchlaufenden «Wüstungstendenz» vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert vornahm. 54 ) A. v. HAXTHAUSEN, Uber die Agrarverfassung in Norddeutschland . . ., I, 1, 1829, S. 161; J. LAPPE, Die Wüstungen der Provinz Westfalen, in: Veröffentl. d. Hist. Komm. d. Prov. Westfalen, 1916, S. 16. 55 ) G. HENKEL, Die Wüstungen des Sintfelds, in: Stud. u. Quellen z. Westfälischen Gesch., 14, 1973, ergänzend dazu DERS., Geschichte und Geographie des Kreises Büren, 1974, insbes. S. 95 f. 56 ) Das ist eine These, die schon ARNOLD (1875) vortrug, dann von SCHARLAU stark eingeengt wurde, aber neuerdings doch wieder allgemeinere Anerkennung fand, vgl. H. HILDEBRANDT, Grundzüge der ländlichen Besiedlung Nordhessischer Buntsandsteinberglandschaften im Mittelalter, in: Beiträge zur Landeskunde von Hessen, Marburger Geogr. Sehr. 60, 1973, S. 234 ff.
I. Die Siedlungen
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19
gleicht man das Alter der Siedlungen mit ihrer Wüstungsanfälligkeit im Spätmittelalter, so zeigt sich häufig - nicht durchweg - daß die jüngsten Siedlungen, die nicht selten in die ungünstigeren Lagen vordrangen, die höchsten Wüstungsquotienten aufweisen. Dafür gibt es Beispiele weit über Deutschlands Grenzen hinaus, doch sei hier nur eine Beobachtung aus Hessen noch eingefügt. Es zeigte sich, daß in den Buntsandsteinbergländern Nordhessens im 14. und 15. Jahrhundert die Hälfte bis drei Viertel aller mittelalterlichen Siedlungen verloren gingen und in mandien Landschaften der Wüstungsquotient nahezu 100 Prozent erreichte. Ein Beispiel dafür bietet der Waldecker Wald im nordöstlichen Waldeck, wo im Spätmittelalter fast sämtliche Wohnplätze abgingen57). Die wirtschaftlich-sozialen Bedingungen im Umkreis der Wüstungshäufungen wurden von den Geographen, denen die bei weitem größte Zahl der Wüstungsarbeiten zu danken ist, aus begreiflichen Gründen seltener untersucht. Doch gibt es Ausnahmen. Im Amt Aerzen, einem geschlossenen Gebiet des Landkreises Hameln-Pyrmont von 15 Gemarkungen und 26 Siedlungsplätzen, waren im Spätmittelalter 5 0 - 6 0 °/o aller hochmittelalterlichen Hofstellen wüst. Der Autor58) wies auf die Höhe der Abgaben hin, die auf den Bauern lasteten: Der Ackerzins allein nahm schon etwa ein Drittel der durchschnittlichen Ernteerträge in Anspruch; hinzu kamen der Naturalzehnt oder Ablösungen und noch einiges an Diensten und speziellen Abgaben. Auch die spätmittelalterliche Agrarkrisis, über deren Erscheinungsbild und Ursachen noch einiges zu sagen sein wird, wurde in Regionalstudien schon häufiger als «Wüstungsursache» genannt. Auf sie wies u. a. G. OBERBECK59), der im Gebiet um Gifthorn im östlichen Niedersachsen bis zu 47 °/o der hochmittelalterlichen Siedlungsplätze verlassen fand und im Raum des sog. Papenteiches, der die höchsten Verlustquoten aufwies, über 3000 ha Hochackerfläche unter Wald vermessen konnte. Er meinte (wohl nicht zu Unrecht), daß für dieses Geteideanbaugebiet die spätmittelalterliche Agrarkrisis von erheblicher Bedeutung gewesen sein dürfte. Das ist ein kurzer Ausflug in die schon in Regionalstudien genannten mitwirkenden Ursachen oder Bedingungen des spätmittelalterlichen Wüstungsanfalls. Sie können wohl nur in überregionaler Sicht geordnet und ergänzt werden, was auch noch geschehen soll. An dieser Stelle, wo es sich nur um einige Erläuterungen und Ergänzungen zu dem Kartenbild auf S. 10 handelt, seien nur einige Arbeiten neueren und älteren Datums noch genannt, die zur Wüstungsintensität mit Hilfe des Wüstungsquotienten Auskunft geben. Für Hessen wurde das Ausmaß der Wüstungen in meinem Kartogramm als «stark» bezeichnet und mit über 40 °/o angegeben. Tatsächlich, so zeigten neben einigen älteren Arbeiten auch neuere, liegen die Quotienten zum Teil noch erheblich höher. Sie betragen60) für den Knüll 56 °/o (K. SCHARLAU 1941), Teilgebiete des Hohen Vogelsberges 55 °/o (G. MACKENTHUN, 1948) bzw. 54°/o (K. A. SEEL, 1963), für den östlichen Westerwald 56 %> ( M . BORN, 1957), für Waldeck 65 °/o (K. ENGELHARD, 1967), für das Hünfelder Land 5 0 - 5 4 , % (H. HILDEBRAND, 1968), für das Limburger Becken 34 °/o (W. FRICKE, 1959). Auch im südlichen Niedei67 )
H. HILDEBRANDT, a.a.O., S. 265. H.-R. MARTEN, Die Entwicklung der Kulturlandschaft im alten A m t Aerzen des Landkreises Hameln-Pyrmont, in: Göttinger Geogr. Abh., 53, 1969; eine Kurzfassung seiner Ergebnisse brachte DERS. in seinem Beitrag: Ausmaß und Folgen des spätmittelalterlichen Wüstungsprozesses im niedersächsischen Weserbergland, in: Wüstungen in Deutschland, ein Sammelbericht, hsg. v. W . ABEL, Sonderheft 2 der Zeitschr. f. Agrargeschichte und Agrarsoziologie, 1967, S. 37 ff. 69 ] G. OBERBECK, Die mittelalterliche Kulturlandschaft des Gebietes u m Gifhorn, in: Schriften der Wirtschaftswiss. Ges. z. Stud. Niedersachsens, N. F., 66, 1957. 60 ) Hier der Kürze halber notiert nach M. BORN, Siedlungsgang und Siedlungsformen in Hessen, in: Hess. Jahrb. f. Landesgesch., 22, 1972, S. 28. 58 )
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
sachsen betragen die Wüstungsquotienten durchweg über 4 0 % (Landkreise Göttingen 52 °/o, Northeim 47 % 6 1 ). Die hohen Wüstungsquotienten setzen sich in den mitteldeutschen Raum fort; nach dem Süden der Bundesrepublik flachen sie ab. In der Ubergangszone zwischen den mitteldeutschen Berglandschaften und dem süddeutschen Tafel- und Stufenland (Hochrhön, südöstliches und östliches Rhönvorland, Saaletal und nordwestlicher Teil der main-fränkischen Gäufläche) waren um 1450 31 °/o aller Ortschaften, die um 1300 bestanden, aufgegeben worden62). Für Franken insgesamt hielt J Ä G E R die Angabe meines Kartogramms («mittelmäßiges» Ausmaß der Wüstungen, 2 0 - 3 9 °/o) auch nach Maßgabe der neueren Untersuchungen für zutreffend63). Im Norden der Konzentrationszone lassen sich die Grenzen zwischen starkem, mittelmäßigem und geringem Wüstungsanfall nur schwer ziehen. Im Landkreis Lüneburg gingen von den etwa 215 Siedlungsplätzen, die für die Zeit um 1200 nachgewiesen werden konnten, im Spätmittelalter 78 ganz oder mindestens zur Hälfte aus, das wären 35 °/o; nimmt man noch die Höfe hinzu, die in den resistenten Orten wüst waren, so erhöht sich der Quotient auf etwa 60 °/o64). Dagegen sollen im südlich anschließenden Landkreis Uelzen nur etwa 28 von 260 hochmittelalterlichen Siedlungsplätzen ganz oder mindestens zur Hälfte wüst geworden sein, also nur 11 % 6 5 ). Die Unterschiede bedürfen noch weiterer Klärung, zumal Lüneburg um das Jahr 1300 noch von einer intensiven Agrarlandschaft umgeben war und der Begriff «Lüneburger Heide» überhaupt erst um das Jahr 1500 zum ersten Mal aufgetaucht sein soll. Der Schrumpfung der Ackerflächen folgte eine zunehmende Verheidung, womit die einst sehr unterschiedlichen Räume der Lüneburger Landschaft zu einer neuen Einheit zusammenwuchsen, der die Heide das Gepräge gab66). Aus Lauenburg, dem Land zwischen Holstein, Mecklenburg und Niedersachsen, liegt die umfängliche und für eine differenzierende Forschung richtungweisende Arbeit von W O L F G A N G P R A N G E vor67). Sie zeigt am Beispiel des Kirchspiels Lütau, daß der Wüstungsquotient alter Ordnung, der nur die Ortswüstungen und von ihnen auch zumeist nur die pauerwüstungen erfaßt, den Wüstungsvorgang nur höchst unzureichend aufhellt. Von den 23 Dörfern des Kirchspiels gingen 6 ein, woraus sich ein Wüstungsquotient von 26 ergibt. Von den Hufen des Kirchspiels waren 34 °/o und von den Fluren nur etwa 10 % verlassen. Es wird auf diese Unterscheidungen zwischen Dorf-, Hof- und Flurwüstungen noch zurückzukommen sein. - In Angeln, der Landschaft zwischen Schleswig und Flensburg, wurden 72 wüste Siedlungen fest61) K. MITTELHÄUSER, Siedlung und Wohnung, in: Der Landkreis Northeim, Die Landkreise in Niedersachsen, Reihe D, 8, 1952, S. 84. Weitere Forschungen sind noch geplant, wie einem Arbeitsbericht über Wüstungskartierungen in Niedersachsen von H. POSER und G. OBERBECK entnommen werden kann (Manuskript). Die Bedeutung, die den Wüstungen zugemessen wird, kommt auch darin zum Ausdruck, daß sie in der vom Inst. f. Hist. Landesforsch. d. Univ. Göttingen in Blattform mit Beiheften veröffentlichten «Historisch-Landeskundlichen Exkursionskarte von Niedersachsen», 1964 ff., aufgenommen wurden. 62) R. E. LOB, Die Wüstungen der bayerischen Rhön und des nord-westlichen Grabfeldes.. 1970, S. 19. 63) H. JÄGER, Kulturlandschaftswandel durch Wüstungsvorgänge, in: Die europäische Kulturlandschaft im Wandel, Festschr. f. K. H. SCHRÖDER, 1974, S. 33. 64) G. OSTEN, Die Wüstungen des Landkreises Lüneburg, in: Lüneburger Blätter, 1961, S. 56f. 65) G. OSTEN, Die Wüstugen des Landkreises Uelzen, in: Lüneburger Blätter, 1965, S. 185. 68) Der Einfluß der Lüneburger Saline auf die Entwaldung war nach G. O S T E N kleiner, als früher vielfach angenommen wurde, da die Saline fast ausschließlich Buchenholz brauchte, das in der Heide verhältnismäßig selten war. Von größerer Bedeutung soll der Holzverbrauch der hochmittelalterlichen Bevölkerung gewesen sein. 67) W. PRANGE, Siedlungsgeschichte des Landes Lauenburg im Mittelalter, in: Quellen u. Forsch, z. Gesch. Schleswig-Holsteins, 41,1960.
I. Die Siedlungen
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gestellt, die vergangenen Einzelhöfe nicht mitgerechnet68). Von den 72 Wüstungen in Angeln gehören 26 der Neuzeit und der Gutsbildung im 16. und 17. Jahrhundert an, 46 dem Mittelalter und von ihnen eine kleine Zahl der mittelalterlichen Ausbauperiode, die weitaus größere Zahl der 2. Hälfte des 14. und dem 15. Jahrhundert. Vermutlich liegt der Wüstungsquotient im östlichen Teil von Schleswig-Holstein im großräumlichen Durchschnitt bei 2 0 - 3 9 % , wie in dem Kartogramm auf S. 10 angegeben wurde, doch gibt es noch große Lücken in der Forschung. Das zeigt die knappe Zusammenfassung und das Kartenbild der «mittelalterlichen Wüstungen zwischen Elbe und Flensburger Förde» aus der Feder von K.-H. L O F T ) . Aus dem nordwestlichen Deutschland liegen bisher nur wenige Nachrichten vor. Soweit sich bereits Schlüsse ziehen lassen, scheint sich der Raum im ganzen durch ein geringeres Wüstungsvorkommen abzuzeichnen, doch sind auch da Unterschiede zu beachten: die wenigsten (Dauer-) Wüstungen weist das Gebiet der Einzelhöfe auf, das sich westlich der Weser bis über die Porta Westfalica hinaus erstreckt; nur wenige Wüstungen sind auch in den Marschen gefunden worden, doch muß auch hier wieder angemerkt werden, daß die Zahl der Ortswüstungen nur einen schwachen, zuweilen ganz falschen Eindruck von der Intensität des Wüstungsprozesses ergibt. So ging von den 19 Marsch- und Moorsiedlungen der Hamme-Wümme-Niederung im Vorfeld von Bremen nur eine in der Wüstungsperiode verloren; mithin beträgt der Wüstungsquotient, bezogen auf die Dörfer, nur 5 %. Da aber in diesem Gebiet mindestens 305 Höfe lagen, die sich um 1500 auf etwa 165 verringert hatten, gingen mindestens 46 °/o der Bauernstellen ab70). Größer war wohl der Ortschaftsverlust in einigen Geestlandschaften. Er scheint zumindest im Altkreis Lehe die 1 0 - 1 9 % , die in meinem Kartogramm angegeben wurden, übertroffen zu haben71). Zeitlich ist im Wüstungsanfall kein wesentlicher Unterschied zu anderen Landschaften festzustellen. So bestanden die sieben Dorfwüstungen der Grafschaft Diepholz (heute ungefähr Kreis Diepholz) noch am Anfang oder um die Mitte des 14. Jahrhunderts als blühende Dörfer; in den Lagerbüchern des 16. Jahrhunderts werden sie nicht mehr erwähnt. Für das Ostdeutsche Kolonisationsgebiet brachten A. KRENZLIN 72 ) und W. K U H N ) zusammenfassende Uberblicke. K R E N Z L I N unterschied für Ostdeutschland vier Phasen des Wüstungsvorganges, von denen sich die beiden ersten (spätslavisch-frühdeutsch: 12. bis 13. Jahrhundert, und die Eingliederung ehemaliger bäuerlicher Siedlungen 69
73
e8 ) H. J. KUHLMANN, Besiedlung und Kirchspielorganisation der Landschaft Angeln im Mittelalter, in: Quellen u. Forsch, z. Gesch. Schleswig-Holsteins, 36, 1958. 68 ) K.-H. LOFT, Mittelalterliche Wüstungen zwischen Elbe und Flensburger Förde, in: Die Heimat, 78, 1971, S. 256 ff., dazu DERS., Die mittelalterlichen Wüstungen zwischen Eider und Schwentine, in: Zeitschr. d. Ges. f. Schleswig-Holsteinische Geschichte, 9 9 , 1 9 7 4 . 70 ) D. FLIEDNER, Die Kulturlandschaft der Hamme-Wümme-Niederung, in: Göttinger Geogr. Abh., 5 5 , 1 9 7 0 , S. 129. 71 ) B. SCHEPER, Mittelalterliche Wüstungen im Stadtgebiet Bremerhaven mit Blick auf die Unterweserregion, in: Jahrb. d. M ä n n e r v o m Morgenstern, 50, 1969, S. 110. Aus der älteren Literatur seien noch notiert U . ROSHOP, Die Entwicklung des ländlichen Siedlungs- und Flurbildes in der Grafschaft Diepholz, in: Quell, u. Darst. zur Gesch. Niedersachsens, 39, 1932, S. 89. H. RÜTHER, Verlassene Siedlungen und untergegangene Dörfer auf der Geest des Kreises Lehe, i n : 25. Jahresber. d. M ä n n e r v o m Morgenstern, 1907, S. 9 5 f.; R. MARTINY, Hof und Dorf in Altwestfalen, in: Forsch, z. deutsch. Landes- und Volkskunde, 24, 1926, S. 279 (daselbst weitere Literatur). ROTHERT, in: Mitt. d. Ver. f. Gesch. und Landeskunde von Osnabrück, 51, 1929, S. 176, stellt speziell für Osnabrück mit seiner mittelalterlichen Einzelhofsiedlung fest, daß Wüstungen nur ganz vereinzelt vorkämen. Zusammenfassend bereits POHLENDT, a.a.O., S. 16. 72 ) A. KRENZLIN, Das Wüstungsproblem im Lichte ostdeutscher Siedlungsforschung, in: Zeitschr. f. Agrargesch. und Agrarsoziologie, 7 , 1 9 5 9 , S. 153 ff. 73 ) Geschichte der deutschen Ostsiedlung in der Neuzeit, I, 1955.
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
in Städte) sich zeitlich mit den Wüstungen des Landesausbaus in Altdeutschland decken, und die vierte Phase mit der Ausbildung der ostdeutschen Gutsbetriebe im 1 6 . - 1 8 . Jahrhundert zusammenfällt 74 ). K R E N Z L I N versuchte auch - mit aller Vorsicht - für die dritte und Hauptphase geographische Faktoren ins Spiel zu bringen: Kuppige Grundmoränen mit der Vielzahl feuchter Mulden und Senken, wo eine flurzwanggebundene Dreifelderwirtschaft nur schwer durchführbar war, und die Sandböden, die im deutschen Osten weit verbreitet sind, wären in besonders hohem Ausmaß wüstungsanfällig gewesen: «Ein breites Band hoher Wüstungsintensität zieht sich durch die Sanderzone vor der pommerischen Endmoräne von der Prignitz über die Uckermark bis in die Neumark hinein.» Der Wüstungsquotient beträgt hier auf weite Strecken 9 0 - 1 0 0 °/o75). Für die Mark Brandenburg ist das Landbuch Karl's des IV. eine verläßliche Quelle76). Es zeigt, daß zahlreiche Dörfer ausgangs des 14. Jahrhunderts ganz oder zum Teil verlassen waren, deutet aber auch eine gewisse Erholung zur Zeit der Anlage des Buches ( 1 3 7 5 ) an. Ein Teil der wüsten Höfe war vor kurzem wieder besetzt worden77), doch hielt die Erholung nicht an. Eine genaue Auszählung der Landregister des folgenden Jahrhunderts ergab für die Mittelmark, daß dort die Zahl der besetzten Hufen um das Jahr 1480 noch um 20 °/o geringer war als in dem schon der Niedergangsperiode zugehörigen Jahr 1 3 7 5 7 8 ) . Für Thüringen ließen schon die älteren Nachrichten79) keinen Zweifel, daß zumindest in Teilen des Landes die Wüstungen weit das Mittelmaß übertrafen. Nach Sachsen hin flaut die Dichte der Wüstungen ab. Für das ganze Gebiet des früheren Landes Sachsen konnte B L A S C H K E auf der Grundlage der bereits von B E S C H O R N E R zusammengestellten Materialien einen Wüstungsquotient von 10 °/o errechnen, wobei aber die Dichte der Wüstungen sehr verschieden ist. Im nordwestlichen Sachsen beträgt sie in den vier Amtshauptmannschaften (Landkreisen) Grimma, Leipzig, Oschatz und Borna zwischen 17 und 29 % , in drei anschließenden Bezirken noch zwischen 1 1 - 1 3 % und in allen anderen 19 Amtshauptmannschaften Sachsens nur zwischen 0 und 10 % . Da B L A S C H K E für diese Unterschiede in den geographischen Bedingungen (Bo^engüte, Bodenrelief und Klima) keine Erklärungen fand, griff er
74 ) Eine zeitlich genauere Aufgliederung brachte K. LENZ für die Wüstungen der Insel Rügen (Forsch, z. dtsch. Landeskunde, 113, 1958). Für das Spätmittelalter ermittelte er auf Rügen etwa 9 %> totale Ortswüstungen des Bestandes von 1300; weitaus größer war der Rückgang an Bauerhöfen seit dem 16. Jahrhundert. 75
) A . KRENZLIN, a . a . O . , S. 1 6 0 .
) Es wurde wiederholt ausgewertet, jüngst noch durch E. ENGEL, die die wirtschaftlichsozialen Seiten der Landbuchangaben nach vorne zog. Es wird auf diese Seiten des Wüstungsvorgangs noch zurückzukommen sein (im 3. Teil dieses Buches). 77 ) Kaiser Karls IV. Landbuch der Mark Brandenburg, hrsg. v. E. FIDICIN, Berlin 1856, z. B. Uckermark Nr. 4, 27, 29, 49, 57, 71, 90, 112, 117, 132, 150, 187 = 195 wieder besetzte Hufen. Da diese Hufen nur dann angeführt wurden, wenn sie noch als steuerfrei galten und sich die Steuerfreiheit nur auf kurze Zeit erstreckte - meist nur zwei bis drei Jahre - so dürfte in Wirklichkeit der Anstieg der nach dem großen Sterben von 1347/50 wiederbesetzten Hufen noch wesentlich größer gewesen sein als ihn diese nur beispielhaften Angaben verdeutlichen. Auch FIDICIN selbst stellte fest: «Der Schwarze Tod, jene um die Mitte des 14. Jahrhunderts über ganz Europa verbreitet gewesene Krankheit, scheint manches Dorf verödet zu haben, von welchem das Landbuch erwähnt, daß es wüst geworden und erst kürzlich und nur teilweise wieder besetzt worden sei.» (Die Territorien der Mark Brandenburg . . ., 4 Bde., Berlin 1 8 5 7 - 6 4 ; Bd. IV, S. XI.) Vgl. die Parallelen in anderen Ländern S. 25 ff. 78 ) S. KORTH, Die Entstehung und Entwicklung des ostdeutschen Großgrundbesitzes. Eine Untersuchung auf siedlungsstatistischer Grundlage aus 7 Kreisen der Mittel- und Uckermark von 1375 bis 1860. Diss. Göttingen 1952; DERS. zum gleichen Thema in: Jb. Albertus-Univ., Königsberg III, 1953. 7») HERTEL (1899), vgl. oben S. 8. 76
I. Die Siedlungen
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auf wirtschaftliche Gegebenheiten zurück: Seuchen und Agrarkrisis hätten alle Dörfer ohne wesentlichen Unterschied getroffen; an partiellen Wüstungen fehlte es in keinem Ort. Doch vollzog sich beim Wiederaufbau eine Selektion der Dörfer, indem die Ackerbaudistrikte ortsarm blieben, während die mit ländlichen Gewerben stärker durchsetzten, seit 1470 auch vom Bergbau begünstigten Dörfer die Menschen an sich zogen80). Im Niedergang waren auch Mecklenburg und Schwerin91). Die Landregister des 15. Jahrhunderts weisen wüste Hufen in kaum geringerer Zahl auf als die Register, die nach dem Dreißigjährigen Kriege angelegt wurden. Für Ostpommern82} ergab eine gründliche und umsichtige Studie, daß im 15. Jahrhundert die sich an der Grenze der Neumark entlang ziehenden Bauernsiedlungen, die zumeist auf ärmlichem Boden lagen, wüst waren. Verlassen war auch der herausspringende Südzipfel des Rummelsburger Kreises (Falkenhagen, Reinfels, Heinrichsdorf), den der Deutsche Ritterorden besiedelt hatte. Nach Abschluß der deutschen Besiedlung, um das Jahr 1400, konnte im ehemaligen Fürstentum Schweidnitz83), das die Kreise Reichenbach, Schweidnitz, Striegau, Bolkenhain, Landeshut und Waldenburg umfaßte, die Ebene als erschlossen gelten, nur im Gebirge kamen in der Neuzeit noch mehrere Orte hinzu. Ausgangs des 15. Jahrhunderts wurde eine Anzahl Dörfer als wüst bezeichnet, aus dem Jahre 1548 wird berichtet, daß 23 wüst liegende Ortschaften wieder aufgebaut wurden. Im Kreise Militsch84} in Schlesien konnten 12 Dörfer nachgewiesen werden, die zeitweilig verödet waren, und 34 Dörfer, die völlig verschwunden sind. Es erübrigt sich, bei diesem ersten Rundblick über die deutschen Gaue beim Oidensland zu verweilen, wo viele Hunderte von Bauerndörfern, mehr als 6000 Bauernhufen schon um 1420 wüst lagen. Sie waren verlassen und verödet oder, doch nur zum geringsten Teil, von bäuerlichen «Ersatzmännern» oder Herrenhöfen aus in dürftiger Kultur gehalten85).
2. Wüstungen im Ausland Viele Mißverständnisse der an seltsamen Irrtümern reichen Wüstungsliteratur hätten sich vermeiden lassen, wenn die Forscher, die glaubten, ein Problem von nur deutscher oder gar nur lokalgeschichtlicher Bedeutung zu behandeln, den Blick über die Grenzen unseres Landes gerichtet und die siedlungsgeschichtlichen Vorgänge, die sich in der gleichen Zeit im benachbarten Ausland abspielten, studiert hätten. Sie hätten weithin in europäischen Landen Parallelen zur deutschen Entwicklung gefunden. In Norwegen, Schweden, Dänemark, England, in den Niederlanden, Frankreich, den Alpenländern und Teilen Südosteuropas entstanden im 14. und 15. Jahrhundert 80 ) K. H. BLASCHKE, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution, 1967, dazu DERS., Die Ursachen des spätmittelalterlichen Wüstungsvorganges - Beobachtungen aus Sachsen, in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel, Festschr. f. W. ABEL, 1,1974 (Schriftenreihe für ländliche Sozialfragen, hsg. v. d. Agrarsozialen Ges.,Nr. 70). 81 ) R. IHDE, Amt Schwerin, Gesch. seiner Steuern, Abgaben und Verwaltung bis 1655, in: Jahrb. d. Ver. f. mecklenb. Gesch. und Altertumskunde, 77, 1913, S. 116; vgl. auch unten S. 42. 82 ) E. GOHRBRANDT, Das Bauernlegen bis zur Aufhebung der Erbuntertänigkeit u. d. Kolonisation d. 16. Jahrh. in Ostpommern, in: Baltische Studien, N. F. Bd. 36, 1935, S. 206, 213. 8S) M. TREBLIN, Beitr. z. Siedlungsk. im ehem. Fürstent. Schweidnitz, in: Darst. u. Quell, z. Schles. Gesch., 6. Bd., 1908, S. 94 f. 84 ) J. GOTTSCHALK, Beitr. z. Rechts-, Siedl.- u. Wirtschaftsg. d. Kreises Militsch b. z. Jahre 1648, in: Darst. u. Quell, z. Schles. Gesch., 31. Bd., 1930. (Vermutlich auch Scheinwüstungen unter den verschwundenen Dörfern.) 85 ) Vgl. weiter unten S. 43. Es sei auch nochmals auf W. KUHN verwiesen, der wiederholt auch auf die Wüstungsfrage einging.
3 Abel, Wüstungen
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
Dorf- und Flurwüstungen in großer Zahl: In Dänemark lagen weite Strecken Landes, die noch um 1300 in blühender Kultur gestanden hatten, wüst. In England waren Dörfer und Einzelsiedlungen verschwunden und Ackerflächen in Schafweiden verwandelt. T H O M A S M O O R E ' S «menschenfressende Schafe» finden sich wieder in einem Gesetz vom Jahre 1489, in dem es heißt: «Wo ehedem 200 Personen tätig gewesen waren und von ihrer ehrlichen Arbeit gelebt hatten, da sind jetzt zwei oder drei Hirten beschäftigt». In Brabant drängte Viehzucht den Getreidebau zurück und Feuerstellenzählungen lassen auf einen Rückgang der Bevölkerung im 15. Jahrhundert schließen. In Frankreich waren auf weiten Strecken weder Höfe noch Menschen zu finden. Die Alpenländer hatten um das Jahr 1300 Dauersiedlungen in größerer Höhe aufgewiesen als jemals zuvor oder später. In den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts beginnend, verschärft sich fortsetzend seit der Mitte des gleichen Jahrhunderts sank die Siedlungsgrenze an Hängen und Gebirgszügen und die verlassenen Höfe verfielen. Es waren neben Kriegen, wie insbesondere in Frankreich, die vielen Seuchen des 14. und 15. Jahrhunderts, die überall die Siedlungen leerten. Deutlich steht seit langem dieser Zusammenhang norwegischen Historikern vor Augen, obwohl die Verluste in den spärlich besiedelten und unzugänglichen Tälern der norwegischen Gaue sicher nicht höher waren als in den südlicheren Teilen Mitteleuropas. Man schätzte in Norwegen, daß allein «den störe Manndauden», das war der Schwarze Tod der Jahre 1349/50, mehr als ein Drittel des Volkes dahinraffte. Darum sank die Zahl der besetzten Höfe, die Preise der Landgüter verringerten sich, die Einnahmen der Grundherren und Zehntberechtigten schwanden dahin,- nur die Arbeitslöhne stiegen. Noch um 1500 lagen 5 0 0 0 - 6 0 0 0 Höfe wüst in einem Lande, das damals kaum mehr als 300 000 Einwohner gezählt haben dürfte. Das ist ein nur flüchtiger Rundblick über einige Länder Europas, den schon die ältere Literatur erlaubte. Die neuere Forschung, die sich der Frage der Wüstungen und des wirtschaftlichen Rückgangs im ausgehenden Mittelalter mit sehr viel größerer Sorgfalt annahm, konnte weiteres melden, was dem\ soeben Gebrachten (und auch bereits in der Erstauflage dieses Buches Mitgeteilten) noch hinzugefügt sei.
Die nordischen Länder Auf dem nordischen Historikertag des Jahres 1964 in Bergen, der bereits vier Referate aus vier Ländern zum nordischen Wüstungsproblem brachte 86 , beschlossen die interessierten Forscher ein Projekt zum Studium der spätmittelalterlichen Wüstungen im Norden Europas, das auch Vorspiel, Begleit- und Folgeerscheinungen der Wüstungen in der Zeit vom Ausklang der hochmittelalterlichen Ausbauperiode bis zum Wiederaufbau im 16. Jahrhundert umfassen sollte. Als erstes Ergebnis wurde ein Sammelband vorgelegt 87 ), der über den Stand der Forschung in den fünf Ländern Dänemark, Finnland, Island, Norwegen, Schweden und in Schleswig-Holstein berichtete. Die Nachrichten aus Island und Finnland sind nur spärlich und können hier übergangen werden. Leider fehlt für Dänemark, Norwegen und Schweden, seit langem das Zentrum der nordischen Wüstungsforschung, eine vergleichende Ubersicht. Der folgende Bericht muß sich an die Nachrichten aus den einzelnen Ländern halten, wobei auch die ältere Literatur, soweit dies nützlich schien, in der Kurzform, die hier geboten ist, noch herangezogen wird. 86 ) Odegârder og ny bosetning i de nordiske land i senmiddelalderen. Rapporter til det Nordiske Historikermote i Bergen 1964, Bergen 1964. 87 ) Det nordiske 0degârdsprojekt t publ. nr. 1, in: Nasjonale forskningsoversikter, K0ben-
havn 1972.
I. Die Siedlungen
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In Dänemark reichen die ersten verläßlichen Nachrichten über 0degarder bis in die 40er Jahre des 14. Jahrhunderts zurück88). Im Jahre 1344 wurden die 4 0 r e terra in censu 89 ) des «verlassenen Klosterhofes» nördlich der Kirche Svoverslev bei Roskilde für 3 Mark Silber verpfändet - ein außerordentlich niedriger Pfandanschlag, der nur durch noch weiteres Vorkommen wüster Höfe erklärt werden kann 90 ). Die stärkeren Spannungen setzten jedoch erst später ein. Noch im Jahre 1376 wurde dem Adel eingeschärft, die Bauern ziehen zu lassen, wenn sie ihre Pflichten erfüllt hätten. Auch im Grundbuch des Bistums Roskilde von etwa 1370 zeigen sich noch «gegenläufige Tendenzen»: Auf der einen Seite sieht man häufig, daß die angebauten Areale ebenso groß oder noch größer sind als in früheren Zinsanschlägen (sogar von Neugründungen wird noch berichtet); auf der anderen Seite ist die Zahl der Höfe und der Umfang des bebauten Landes geringer geworden. Erst nach 1370 verschärfte sich in Dänemark - wie in England, Norwegen, Brandenburg - der Rückgang. Der Anteil der öden Höfe des Bischofs von Roskilde stieg von 1 0 , 6 % in den Jahren 1361/1380 auf 26,0 °/o in den Jahren 1401/1420, unter Einbeziehung der nicht ausdrücklich als öde erwähnten, aber vermutlich auch noch verlassenen Höfe auf etwa 30 °/o. Dann sanken die Prozentzahlen zwar wieder, doch war das 0degardsproblem damit keineswegs gelöst. In kaum einem größeren Güterverkauf oder Erbübergang fehlen fortan die wüsten Höfe. In den Rechenschaftsberichten des Skovklosters lassen sich für die Zeit von 1 4 6 7 - 8 1 die Einkünfte aus etwa 400 Höfen übersehen: Sie zeigen «die steigenden Schwierigkeiten (der Gutseigner) im Kampf gegen das Wüstwerden der Höfc ; namentlich um 1480 zeigen die Verhältnisse deutlich, daß es sich um eine ökonom i s c h e Krise h a n d e l t e » (AKSEL E. CHRISTENSEN).
Vor solchem Hintergrund muß der Wandel der Bauern- und Landpolitik gesehen werden, der sich in Dänemark vollzog. In König Olufs Handfeste vom Jahre 1376 war der Adel noch ermahnt worden, die Bauern, die vom Hofe ziehen wollten, nicht zurückzuhalten, wenn sie ihre Zinspflichten erfüllt hätten. Im Jahre 1396 bestimmte eine Landtingsverordnung, daß die Krone berechtigt sei, Bauern zurückzuholen, die seit 1368 Kröngüter verlassen hätten, «wo auch immer sie sich befinden». Der Kampf gegen die fortstrebenden Bauern verschärfte sich und einte im folgenden Jahrhundert Krone und Adel. Aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist eine ganze Reihe von «Verfolgungsbriefen» erhalten, die gegen Bauern, selbst gegen Eigentumsbauern, erlassen wurden. Im Seeländischen Rechtskreis entwickelte sich daraus die sogenannte vornedskap (Leibeigenschaft); auf Laaland bestimmte ein Landtingsabschied vom Jahre 1443, daß jeder gesunde und kräftige Mann «wohnhaft» zu sein habe. In Nordjütland gebot eine Verordnung vom Jahre 1466, daß kein Bauerngut aus Schuld und Pflicht entlassen werde, und wenn ein Gut öde werde, die Erben für die Abgaben
88 ) Uber die Anfänge und die Entwicklung der Wüstungsforschung in Dänemark unterrichtet ausführlich S. GISSEL, in: Det nordislce odegardsprosjekt, nr. 1, S. 1 ff. 89 ) 0 r e terra in censu bedeutet, ähnlich wie in Schweden örtuglandet, die Einheit eines früh fixierten Zinsleistungswertes, vergleichbar den modernen Grundstücksertragswerten, z. B. dem Einheitswert. Je nach Marktverhältnissen, Sozialumständen u. dgl. konnten die effektiven Preise, Pfandanschläge und Pachtzinsen erheblich von solchen Leistungswerten abweichen. 90 ) C. A. CHRISTENSEN, Nedgangen in Landgilden i det 14. Aarhundrede, in: Historisk Tidsskrift, 10. Raekke, 1, Kebenhavn 1930/31, S. 4 6 3 ; DERS. Aendringerne i landsbyens okonomiske og soziale struktur i det 14. og 15. arhundrede. in: Hist. Tidsskrift, 12, 1, Kobenhavn 1964, S. 257 ff., DERS., Danmark, in: 0degärder og ny bosetning . . ., 1964, S. 7 ff. Z u m Wüstungsproblem ferner: AKSEL E. CHRISTENSEN, Danmarks Befolkning og Bebyggelse i Middelalderen, in: Nordisk Kultur II, Stockholm 1938, S. 3 5 ff. J. SCHREINER, Pest og Prisfall in Senmiddelalderen, Oslo 1948, S. 58 ff. ; C. R. HANSEN und AXEL STEENBERG, Jordfordeling og Udskiftning, Kobenhavn 1951.
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
einzustehen haben, bis ein anderer sich finde, der sie übernehme. A. E . C H R I S T E N S E N , der diese Nachrichten zusammenstellte, fügte hinzu: «Der ökonomische Inhalt aller dieser Zwangsveranstaltungen . . . ist, daß der dänische Landbau unter freien Verhältnissen nicht imstande gewesen wäre, den Umfang des bebauten Areals aufrecht zu erhalten. Die Ursachen hierfür können nur gewesen sein, daß die Absatzverhältnisse sich verschlechtert oder (und! Verf.) die Arbeitskräfte sich verringert hatten.» Den Umfang der spätmittelalterlichen Wüstungen festzustellen, ist der dänischen Forschung bisher nur in Einzelfällen gelungen. So sind von den 108 Siedlungen, die auf Falster in König Valdemars Grundbuch genannt wurden, 25 oder 23 v.H. verschwunden. Der Wüstungsvorgang konzentrierte sich stark auf die jüngeren (frühund hochmittelalterlichen) Gründungen, auf die 19 der verschwundenen Siedlungen entfallen, während von den älteren Orten nur 3 verloren gegangen sind. Ähnlich verhält es sich im Frederiksborger Amt. Von den jüngeren Gründungen sind verschwunden: 30 v.H. der torpbyer, 17 v.H. der landsbyer mit Namensendung -ryd und 25 v.H. der Orte mit Namensendung -holt. Bei den alten landsbyern war der Rückgang minimal (A. E. CHRISTENSEN). Wie diese Nachrichten schon erkennen lassen, kann sich die dänische Forschung in erheblichem Ausmaß auf die Ortsnamen stützen. Man versucht nunmehr in größerem Umfang die Zahl der im Hochmittelalter existierenden und wieder niedergelegten torp-Orte, die eine relativ junge Schicht der dänischen Dörfer repräsentieren und von der spätmittelalterlichen Krisis besonders stark betroffen wurden, zu ermitteln, um damit auch statistisch verwertbare Zahlenmassen zu gewinnen91). Früh schon kamen der dänischen Wüstungsforschung die Archäologen zu Hilfe. Sie wiesen schon seit langem auf die zahlreichen in Jütland anzutreffenden «verlassenen Felder». G U D M U N D H A T T untersuchte sie genauer und fand fünf Typen92). Type I (ebene Fläche, durch Furchen getrennt) steht der Gegenwart nahe,- Type IV (rainumschlossene, auch terrassenförmige, zumeist blockartige Felder) und Type V (ohne sichtbare Feldgrenzen) gehören den ältesten Zeiten an,- sie interessieren hier nicht. Type II ist von d^r Art unserer Hochäcker: lang und schmal, zu höchst in der Mitte; Type III ist durch lange, parallele Reihen von Steinen gekennzeichnet, die Feldstreifen voneinander trennen. Sie ähneln den von M O R T E N S E N und S C H A R L A U gefundenen Wüstungsfluren93), und nicht anders als diese werden auch die Langstreifen Jütlands hochmittelalterlichem Ackerbau zugeschrieben, der, wie H A T T vermutet, im Zusammenhang des Schwarzen Todes um die Mitte des 14. Jahrhunderts aufgegeben wurde. In Schweden taucht das Wüstungsproblem in deutlicher Beziehung zum großen Sterben der Jahre 1349/50 auf. Das Volk hat die Erinnerung bewahrt, die Pest war die andere «Sintflut»; ganze Dörfer sollen ausgestorben sein, «bis auf einen Mann» oder «bis auf eine Frau», von welchen die spätere Bevölkerung herstamme94). Sdiwe91 ) S. GISSEL, Forskningsrapport for Danmark, in: Det nordiske adegardsprosjekt, nr. 1, 1972, S. 1 ff.; DERS. ergänzend in einem Forschungsbericht vom 5. XI. 1974 (Manuskript). 92 ) G. HATT, Prehistoric Fields in Jylland, in: Acta Archaeologica, II, Kobenhavn 1931,
S. 1 5 3 . •') H . MORTENSEN u n d K . SCHARLAU, D e r s i e d l u n g s k u n d l i c h e W e r t der K a r t i e r u n g
von
Wüstungsfluren, in: Nachr. d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil.-Hist.-Klasse, 1949, S. 303 ff. ; MORTENSEN, Neue Beobachtungen über Wüstungs-Bandfluren und ihre Bedeutung für die mittelalterliche deutsche Kulturlandschaft, in: Berichte zur deutschen Landeskunde, 10, 1951, S. 341 ff. Vgl. auch unten S. 79. 84 ) Ähnliche Vorstellungen haben sich auch in Norwegen erhalten. Dort gibt es zwischen Oslo und Kristiansand zwei größere Dörfer, Mandal und Kvinnedal (Manntal und Frauental), deren Namen von der Bevölkerung auf den «einen Mann» und die «eine Frau», die der Schwarze Tod verschont habe, zurückgeführt werden.
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dische Chronisten schilderten die Folgen des großen Sterbens in schwärzesten Farben («Viele Häuser und Weiler wurden öde, wie man vielerorts sehen kann,- da steht nun Wald, wo früher Volk baute» - O L A U S P E T R I ) ; schwedische Historiker standen nicht zurück. Insbesondere sahen sie in dem scharfen Rückgang des Aufkommens an dem Peterspfennig, einer Art Haussteuer, in den Jahren 1351/55 «einen überwältigenden Beweis für die Wirkungen des Schwarzen Todes» 95 ). Leider reichen weder die schwedischen Erdbücher (Urbarien, Gutsregister) noch andere Dokumente so weit zurück, daß sie eine numerische Vorstellung von den Wüstungsvorgängen im 14. Jahrhundert geben könnten. Die älteste und einzige bisher statistisch ausgewertete Quelle sind die Register des Klosters Vadstena, die erst im 15. Jahrhundert beginnen. In seiner groß angelegten, über die Wüstungsvorgänge hinausgreifenden Doktorthese über das Kloster Vadstena stellte N O R B O R G fest, daß von den mehr als 1000 Pachthöfen des Klosters in verschiedenen Teilen des Landes im Jahre 1502 158 und noch mehr schon im Jahre 1457 wüst waren. Der Prozeß der Verödung, der lange vorher schon eingesetzt hatte, traf zum überwiegenden Teil die jungen Neusiedlerhöfe, die hauptsächlich in Waldgebieten lagen. Die Altsiedelgebiete wurden nur in begrenztem Umfang betroffen 98 ). Doch gab es auch in Schweden noch die partiellen Hof- und Flurwüstungen. S. H E L M F R I D machte auf die «utjordar» aufmerksam, d. s. die nicht im Dorfverband liegenden, häufig mit eigenen Namen versehenen Landstücke, die von verschiedenen Höfen aus bewirtschaftet wurden. Sie dürften zum erheblichen Teil aus wüsten Höfen des Spätmittelalters stammen, die entweder in ihrer Ganzheit ein «utjord» bildeten oder in mehrere «utjordar» aufgeteilt worden waren 97 ). M a n darf das W o r t «utjord» vielleicht mit Außenfeld übersetzen, ein Wort, das sich in deutschen spätmittelalterlichen Quellen häufiger findet und gleichbedeutend mit wüsten Feldern gebraucht wurde: «Wüste Velder, die m a n nennet Ausvelder, werden zum Teil in drei, vier oder zehn Jahren einmal gebauwet 9 8 ).» Solche Felder waren wüst, weil ihre rechtmäßigen Besitzer verstorben oder verzogen waren; sie wurden als Außenfelder bezeichnet, weil sie am^Rande resistenter Gemarkungen lagen, von denen aus sie in dürftiger Kultur gehalten wurden. Die Vermutung liegt nahe, daß es sich bei den schwedischen utjordar, soweit sie im Spätmittelalter entstanden, u m ähnliche Erscheinungen handelt; vgl. W . ABEL, Geschichte der deutschen Landwirtschaft v o m frühen Mittelalter bis z u m 19. Jahrhundert, 3. Aufl., 1976, 3. Kapitel.
Es mag sein, daß die Einwanderung nach Schweden, insbesondere von Deutschen, und die Aufnahme des Bergbaus nach Silber, Kupfer, Eisen den Wüstungsprozeß in Schweden zeitweilig verlangsamte. U m 1370 sind Zeichen einer Erholung zu erkennen, doch setzte sich wenig später der Rückgang fort. Ein Gesetz vom Jahre 1437 befahl allen Bauern, die in den vorangegangenen Jahren Zuflucht in den Städten gesucht hätten, sich dort nicht niederzulassen, sondern zu ihren Höfen und Diensten zurückzukehren. Einige Jahre darauf verfügte Christoffers Landgesetz (vom Jahre 1442), daß, wenn ein Bauer sein Gut vor Kontraktende aufgebe, der Grundherr ihn zurückholen dürfe «mit Gewalt». Und schon 1437, wiederholt in Gesetzen der Jahre 95 ) So schon H . HILDEBRAND (1879), hier zit. nach L.-O. LARSSON, in: Det nordiske odegârdsprosjekt, nr. 1, 1972, S. 195. Spätere Historiker schlössen sich an, so etwa an repräsentativer Stelle A. SCHÜCK, U r Sveriges Medeltida Befolkningshistoria, in: Nordisk Kultur, II, 1938, S. 158, auch SCHREINER, a.a.O., S. 60 ff. u. a. 9 6 ) L.-A. NORBORG, Storföretaget Vadstena Kloster, in: Bibl. Hist. Lundensis, VII, 1958, S. 172 ff., dazu DERS. m i t einem Kurzbericht in: 0 d e g ä r d e r . . ., Rapporter i Bergen 1964, S. 61 ff. 97 ) ST. HELMPRID, Östergötland «Västanstäng», in: Meddelanden frân Geograf. Inst, vid Stockholms Univ., 140, 1962, S, 89. »8j Weistum Katzenbach v o m Jahre 1499 bei GRIMM, Weistümer, V, S. 666.
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
1442, 1459 und 1483, findet sich eine Bestimmung, die der auch in Deutschland und England zu beobachtenden Massierung von Bauernland entgegenwirken sollte. Die Gesetze sprechen vom Schaden, den das Reich «seit langem erlitten hat und noch täglich nimmt» dadurch, daß das Land veröde, wenn es sich in eines Mannes Hand sammle: Kein Bauer solle mehr Land übernehmen, als er in gutem Bau zu halten imstande sei. Wer mehr sich aneigene und dadurch die Einnahmen der Krone schädige, büße 40 Mark. Im Kalmarer Rezeß vom Jahre 1459 wird auch auf die Vorgänge beim Erbfall verwiesen: Wenn ein Bauer stürbe, dann kämen seine Erben, führten die Häuser vom Hofe und teilten die Grundstücke unter sich. Dadurch würde der Hof öde, waldbewachsen und verdorben, zum großen Schaden der Krone und zur Mehrbelastung der Bauernschaft (die offenbar schon damals solidarisch für Steuerschulden haftete). Fortan solle, wenn ein Steuerbauer stürbe, sein Hof nicht öde gelegt werden, sondern von 12 geeigneten Männern geschätzt und zur Einlösung dem nächsten Verwandten, der noch keinen vollsässigen Hof habe, übergeben, andernfalls geschlossen verkauft werden"). In Norwegen setzt - aus noch nicht völlig geklärten Gründen - die entsprechende Gesetzgebung schon im 13. Jahrhundert ein 100 ). Bereits um 1250 erließ Häkon Hakonsson ein Gebot gegen abziehende Leute aus den Landgemeinden; um 1280 folgten für die Hauseigentümer in den Kaufmannsstädten Vorschriften, wie viel Frauen und Männer sie maximal beschäftigen dürften; um 1290 ergingen die ersten Lohntaxen. Doch war dies nur ein Vorspiel. Nach 1350 wurde der Mangel an Arbeitskräften auf dem Lande zur vorherrschenden Sorge der Regierung. Niemand solle arbeitsfähige Männer oder Frauen im Hause beherbergen außer Dienstboten; alle Unvermögenden sollen Dienste nehmen beim Adel, den Priestern oder Bauern. Niemand solle zu anderem Dienst gebraucht werden als dem, zu dem er geboren sei (will sagen Landarbeit); die Gauobmänner sollen Sorge tragen, daß alles Arbeitsvolk, das den Dienst bei Bauern oder Priestern verlasse, nach Recht und Gesetz gestraft werde usw. In einem Königsbrief vom Jahre 1364 wird gesagt, daß das Land veröde (alt landit legst i audn), weil das junge Volk sich lieber auf Kaufmannschaft lege anstatt in Acker und Weide zu arbeiten. König Olav (1383) und Erich von Pommern (1421) klagten mit fast den gleichen Worten, daß, weil jetzt sich so viele unbemittelte Leute mit Handel statt mit Landwirtschaft abgeben, das Land veröde («leggiazst jardenar audar»). Und noch im Jahre 1480 führten Mitglieder des Reichsrates darüber Beschwerde, daß das Volk des Landes mit Holz in's Ausland segele: darum liegen viele Höfe öde und werden wieder zu Holz und Ödland («ther fore liggie monghe gorde ode oc gongha ighen meth,skogh oc ödemarkae»). Ein Gebiet, das gründlich untersucht wurde, ist der Bezirk von Eidsvoll (nördlich Oslo) 101,102 ). Von den Gütern dieses Bezirks, soweit sie vom bischöflichen Grundbuch M) Uber die Bedeutung dieser Bestimuung für die Entwicklung des schwedischen Erbrechtes am Boden unterrichtet G. STOCKMANN, Die Vererbung des ländlichen Grundbesitzes in Schweden, in Schriften des Ver. f. Sozialpolitik Bd. 178, München u. Leipzig 1930, S. 392 ff. 1 0 °) SCHREINER, a.a.O., S . 61 ff., ergänzend: O. A. JOHNSEN, Norges folk i middelalderen, in: «Nordisk Kultur» II, Stockholm 1938, S. 90 ff. Auch die ältere norwegische Literatur ist recht ergiebig, da seit langem der Rückgang der norwegischen Volkswirtschaft im Spätmittelalter diskutiert wird; vgl. etwa den Uberblick, den HASUND und STEEN gaben: Det Norske Folks Liv og Historie gjennem Tidene, 3. Bd., S. 163 ff., 5. Bd., S. 13 ff. (Oslo 1934). ,01 ) A. HOLMSEN, Eidsvoll bygds historie, I, 1936, S. 250; mehr ins einzelne noch gehend DERS., Desertion of farms around Oslo in the late Middel Ages, in: The Scandinavian Econ. Hist. Rev. 10, 1962, S. 165 ff. Zu den Wüstungen vor dem Schwarzen Tod nahm A. HOLMSEN jüngst noch Stellung in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel. Festschr. f. W. ABEL, I, 1974, S. 217 ff. (Schriftenreihe f. ländl. Sozialfragen, hsg. v. d. Agrarsozialen Ges., Nr. 70). Man könnte diese Wüstungen im Zusammenhang mit der früh einsetzenden Gesetzgebung gegen den Abzug von Landleuten und den Zuzug in Kaufmannsstädten sehen.
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erfaßt wurden, waren um das Jahr 1400 38 v.H. öde. (An der Landschuld gemessen, betrug die Ziffer 20 v. H., was darauf schließen läßt, daß die öden Höfe zumeist klein waren und in Außenbezirken lagen). Spätere und umfassendere Quellen ergeben noch weit höhere Zahlen; aus einem Steuerverzeichnis vom Jahre 1514 geht hervor, daß fast 2 /s der Güter verlassen waren. Ein Grundbuch eines anderen Bezirkes, das des Erzbischofs Aslak Bolt, bezeichnet im Jahre 1440 von insgesamt 2 8 7 0 Landgütern 440 oder 15,4 v.H. ausdrücklich als öde (0degärder); darüber hinaus gab es viele Höfe, die nicht besetzt waren (leieledig). Ein gleicher Anteil der Ödhöfe (15 v.H.) ergibt sich aus dem Grundbuch des Klosters Munkeliv vom Jahre 1463; verglichen mit Eidsvoll erscheint die Ziffer niedrig, doch geht auch aus den Nachrichten von Eidsvoll hervor, daß die Höfe sehr ungleich vom Wüstungsvorgang betroffen wurden: während die alten Vollhöfe nur u m rund 25 v.H. sich verringerten (bis 1514), gingen die späteren Gründungen und die kleinen Stellen um 4 /s und mehr zurück. Damit wird eine Frage angeschnitten, die auch in Deutschland und England schon diskutiert wurde. Es wird auf sie zurückzukommen sein. Für Norwegen liegt ein Material vor, das den Siebungsprozeß besonders deutlich werden läßt. Das sind zum ersten die Landpreise. S. HASUND schloß aus seinen Berechnungen von Landgutspreisen vor und nach dem Schwarzen Tod, daß die Verödung am geringsten in den breiten, volkreichen Bezirken u m Oslo, in Romerike, 0stfold und in Trandelag, am stärksten in den engen Tälern von Valdes, Gudbrandsdal und im Innern des Landes gewesen sei. HASUND'S Rechnung wird durch Steuerlisten bestätigt, die in Norwegen in seltener Vollständigkeit erhalten sind. Sie geben das Aufkommen des Peterspfennigs wieder, der für die Kurie in der Höhe von 1 Pfennig je Haushalt erhoben wurde. SKAPPEL gliederte ihre Erträge regional und fügte dem Rückgang der Steuer eine Ziffer bei, die den Anteil der Almen in v. H. des Ackerlandes nach neueren Erhebungen angibt. Das Ergebnis ist das folgende 1 0 3 ): Tab. 2: Rückgang des Steueieitiages in den Jahren 1325132 bis 1543/57 Steuerrückgang (in v. H. des Ausgangsstandes)
Bistum STAVANGER
.
. . .
.
.
Anteil der Almen (in v. H. des Ackerlandes)
68,7
38,2
BJÖRGVIN
40,8
27,4
NIDAROS
28,4
21,2
OSLO
14,5
1,5
Es zeigt sich, daß der Rückgang der Steuererträge um so größer war, je höher heute der Anteil der Almen ist. D a die Steuer (eine Haushaltssteuer!) den Bestand an Höfen spiegelt und nicht anzunehmen ist, daß die Seuchen in den entlegensten Bezirken die größten Verheerungen bewirkt haben, müssen Wanderungen mitgewirkt haben: eine Abwanderung fand statt, so deutete auch SKAPPEL seine Tabellen, «von den Weidebezirken zu den Ackerbaubezirken, vom Bergland zum Tiefland, von den engen Gebirgstälern zu den Ebenen und vom Inland zu den Küstengebieten.» Eine wesentliche Ergänzung fand diese Wanderungstheorie durch eine neuere Arbeit aus dem nördlichen Norwegen 1 0 4 ). I m nördlichen Teil des alten Trondheim-Bezirks, der letzten großen Ackerbauinsel in Norwegen, war rund die Hälfte der für das Jahr 1330
102 ) Ubersichten über den Stand und die Entwicklung der norwegischen Wüstungsforschung brachte H. BJORKVIK, 0degarder . . ., 1964, S. 35 ff. und DERS. zusammen mit A. DYBDAHL, in: Det nordiske odegärdsprosjekt, nr. 1, 1972, S. 151 ff. 103 ) S. SKAPPEL, Hostingsbruk og Dyrkningsbruk, in: Historisk Tidskrift, 31, 1937/41, S. 182. 104 ) J. SANDNES, 0detid og gjenreisning, 1971, insbes. S. 198 ff.
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
nachweisbaren Siedlungen im Jahre 1520 verödet, also verlassen oder zumindest nicht mehr bewirtschaftet. Doch hatte sich innerhalb dieser Landschaft an der Nordseite des Trondheim-Fjords eine Umschichtung vollzogen: Die Ackerbauzonen hatten an Zahl und Bewohnerschaft verloren, die Küstenplätze gewonnen. Der Anteil der einen war von 56,5 °/o auf 43,5 % gesunken, der Anteil der anderen von 43 °/o auf 57 °/o gestiegen. Der Autor dieser Studie hatte «keinen Zweifel, daß der Seefisch der entscheidende Faktor» unter den Gründen dieser Umsiedlung war: Der Getreidebau lohnte nicht mehr, der Seefisch (Dorsch) barg die größeren Chancen 105 ). Im internationalen Vergleich, das zeigt wohl auch dieser Kurzbericht, nimmt die nordische Wüstungsforschung schon durch das bisher Geleistete einen hervorragenden Platz ein. Es ist beabsichtigt, so wird berichtet 106 ), die Regionalstudien auszubauen und in einen inter-nordischen Vergleich einzubringen, wobei als Vergleichskriterien an geographische und wirtschaftliche Faktoren gedacht ist, wie Bodenfruchtbarkeit und Bodenrelief, Klima, bestelltes Land, Getreideerzeugung, Landrente, Entfernung von Märkten und von anderen Zentren. Diese Daten sollen für jeden einzelnen Hof registriert und mit Hilfe eines Computers analysiert werden. Man hofft, daß auf diese Weise das Erscheinungsbild und die Wirkungen der spätmittelalterlichen Agrarkrisis, wenn auch nicht deren Basisursachen, sich deutlicher zeigen werden. Sollte dies gelingen, so würde die nordische Wüstungsforschung eine weitere Pionierleistung für die internationale Forschung erbringen.
England Im Jahre 1952 wurde in England eine Forschungsgruppe für mittelalterliche Wüstungen (Deserted Medieval Village Research Group, D.M.V.R.G.) begründet, die sich zur Aufgabe stellte, die Wüstungsforschung voranzutreiben und zu koordinieren. Sie führte eine Anzahl Archäologen, Historiker, Geographen, Architekten und andere Spezialisten zusammen, stützt sich auf ein Netz örtlicher Korrespondenten, gibt in der Regel jedes Jahr einen Annual Report heraus und veröffentlichte Listen der bereits erfaßten «wüsten Orte» 107|. Das sind in England bisher mehr als 2000, die sich bei weiterer Suche im nächsten Jahrzehnt (bis etwa 1985) noch um etwa 1 0 0 0 1500 vermehren dürften, so daß die Gesamtzahl der Ortswüstungen in England unter Einschluß der Kleinsiedlungen (Weiler) sich auf etwa 4 0 0 0 stellen dürfte. Die Mehrzahl dieser Orte verschwancT in der Zeit vom Schwarzen Tod bis etwa 1480; einige wenige Siedlungen gingen vor 1350 verloren, recht viele (im Vergleich zum Kontinent) noch zwischen 1480 und etwa 1520. Einige Grafschaften verloren bis zu 20 v.H. der in den Steuertaxen des Jahres 1334 als bestehend aufgeführten Ortschaf-
105) Auf die Konkurrenz zwischen Fisch und Getreide um Menschen, Siedelplätze und sogar den Boden (!), wie sich bei der Ausbreitung künstlicher Fischteiche im mittleren Deutschland zeigte, wird noch zurückzukommen sein (unten S. 53). LOE ) H . SALVESEN, Report 2 0 / 2 1 der Jahre 1 9 7 2 / 7 3 der Medieval Village Research Group, von der sogleich näheres berichtet werden soll. 107) Als «wüster Ort» (deserted village) wurde für die Zwecke koordinierter Forschung ein Ort bezeichnet, von dem nicht mehr als eine Kirche, ein Gutshaus (manor), eine Farm und eine Pfarrei verblieben sind. Um auch partielle Wüstungen noch in den Griff zu bekommen, wurden neben den wüsten Orten noch die «sehr geschrumpften» Orte (very shrunk) herausgestellt, womit Orte bezeichnet werden, von denen bis zu 6 Häuser erhalten sind. Nach vorläufiger Schätzung gibt es in England etwa 1 0 0 0 0 solcher «sehr geschrumpften Orte».
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ten (Insel Wight 22 v.H.); andere zwischen 5 und 10 v.H. und einige - nicht wenige - so gut wie keine 108 ). M A U R I C E B E R E S F O R D 1 0 9 ) , dem die englische Wüstungsforschung die erste zusammenfassende Darstellung verdankt, führte die starke Streuung der Wüstungsvorkommen zur Hauptsache auf die Eignung der Böden und Lagen für Getreidebau und Weidewirtschaft zurück. Die Weidezonen erlitten die geringsten Verluste, die Getreidebauzonen die stärksten. In den Marschen des südlichen und westlichen Englands sind Wüstungen überaus selten; sie häufen sich in den Midlands, wo Boden und Klima dem Landwirt freiere Hand bei der Wahl zwischen Ackerbau und Weide lassen. Dort wirkten sich daher auch alle Umstände, die den Getreidebau benachteiligten, in besonderer Schärfe aus. Dort vor allem wichen Felder den Weiden. J O H N S A L T MARSH110) hatte schon vordem beobachtet, daß auch «Grenzböden» stark gefährdet waren. An einem einzigen Nachmittag, so berichtete er, wäre er auf dem sterilen Boden des südlichen Norfolk den Ruinen von 5 Kirchen begegnet, die wohl sämtlich - in der Wüstungsperiode - dem Sand zum Opfer gefallen wären. M. P O S T A N 1 1 1 ) ergänzte diese Beobachtungen noch nach einer dritten Seite hin. Er wies auf die Anfälligkeit der Kleinstellen hin. Auf vielen Gütern hätte die Zahl der Kleinstellenbesitzer und Häusler gegen Ende des 13. Jahrhunderts die Zahl der Bauern erreicht oder übertroffen. In den beiden folgenden Jahrhunderten verringerte sich in 130 Herrschaften, die über 16 Grafschaften verteilt waren, die Zahl der Kleinstellen unter 5 acres (2 ha) um fast 35 v.H., die Zahl der anderen Besitzungen nur um etwa 10 v.H. In den Gutsrechnungen steht der englischen Forschung ein Material zur Verfügung, wie es der- deutsche Historiker nicht besitzt. Es läßt uns den Wüstungsprozeß gleichsam miterleben. Einige Beispiele, den Registern der Herrschaft Wilburton entnommen112), mögen dies verdeutlichen (in Klammern die Jahreszahl der Eintragung): (1364) J. W., der eine volle Hufe innehatte, hat sich aus dem Gutsbereich entfernt und besagtes Land aufgegeben, das in des Herren Hand verblieb, da ein neuer Pächter sich nicht fand. (1365) N. R. hat das Land aufgegeben (omnino reliquit); seine Güter, darunter Rinder, Schweine, Haushaltungsgegenstände im Gesamtwert von 33 s 10 d, sind in des Herren Hand verblieben. (1366) H. G., der eine halbe Hufe und eine Hütte innehatte, hat sich aus dem Gutsbezirk entfernt; seine Güter und Ernten sind in des Herren Hand verblieben. (1366) R. O., der eine volle Hufe bewirtschaftete, hat sich entfernt. (1371) S. T. übernimmt auf Lebenszeit eine halbe Hufe, die in des Herren
108) Uber den Stand der englischen Forschung berichtete zuletzt J. G. HURST, Wandlungen des mittelalterlichen Dorfes in England, in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel, Festschr. f. W. ABEL, I, 1974, S. 237 ff. (Schriftenr. f. Ländl. Sozialfragen, hsg. v. d. Agrarsozialen Ges. Nr. 70, 1974). Dort findet sich auch eine vortrefflich zusammengestellte Bibliographie der wichtigsten englischen Veröffentlichungen zur Wüstungsfrage. 109) M. W. BERESFORD, The Lost Villages of England, 1954, 4. überarbeitete Auflage 1963, zusammenfassend DERS.: Villages désertés: bilan de la recherche anglaise, in: Villages Désertés et Histoire Economique, XI e -XVIII e siècle, École Prat. Des Hautes Études, VI. Sect., Paris 1965, S. 533 ff. Eine vollständige Zusammenstellung der Ergebnisse der neueren historischen und archäologischen Forschungen in England bis zum Stand vom Jahre 1968 enthält das Buch von M. BERESEORD und J. G. H U R S T , Deserted Medieval Villages, 1. Aufl. 1971, 2. überarb. Aufl. 1973. 110) J. SALTMARSH, Plague and economic decline in England in the later Middle Ages, in: The Cambridge Historical lournal, VII, 1941/43, S. 24. 111 ) M. POSTAN, The Fifteenth Century, in: The Economic History Review, IX, 1939, S. 160 f.; DERS. Some Economic Evidence of Declining Population in the Later Middle Ages, ebenda 2. Serie, vol. II, 1950, S. 238 ff. 112) F. W. MAITLAND, History of a Cambridgeshire Manor, in: The English Historical Review, 9, 1894, S. 423.
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
Hand mangels eines Pächters verblieb; er zahlt keine Abgaben (flnes), da er das Land unwillig übernimmt (quia invito capit). (1384) W. S. übergibt eine Hütte und zwei acres Land, das er für 5 s jährlich innehatte, weil es zu teuer war (eo quod nimis cara); es wurde J. P. und seiner Frau für 3 s jährlich übergeben . . . Die englische Landwirtschaft war im Rückgang - trotz der Zunahme der Schafweiden und «enclosures», die betrieblich und auf den Geldertrag gesehen einen Fortschritt beinhalten mochten. M. P O S T A N , der die Rechnungsbücher von mehreren hundert Grundherrschaften überprüfte, urteilte über das späte Mittelalter wie folgt 113 ): Nicht nur ging der Eigenbau der Grundherren zurück; «auf den meisten Gütern, von denen uns Nachrichten vorliegen, wurde mehr Land aus der grundherrlichen Eigenwirtschaft zurückgezogen, als an Pächter ausgegeben wurde. Mit anderen Worten: Die Ackerflächen gingen auch absolut genommen zurück . . . Von den 450 Grundherrschaften, deren Rechnungsbücher für das 15. Jahrhundert geprüft wurden, zeigen über 400 einen Rückgang des in den Händen von Pächtern befindlichen Landes und einen korrespondierenden Fall der Renten. Der allgemeine Eindruck ist daher der, daß die Nachfrage nach Land hinter dem Angebot von Land weit zurückblieb. Obwohl in einigen Landschaften noch Neuland urbar gemacht wurde, war die große Kolonisationsperiode definitiv abgeschlossen. Nirgends finden wir größere Landstrecken umgebrochen und besiedelt in einem Ausmaß, das den großen kolonisatorischen Unternehmungen des späten 12. und 13. Jahrhunderts vergleichbar wäre.» Frankreich In Frankreich wütete der hundertjährige Krieg mit England; im Norden von Paris erhoben sich die Bauern in blutigem Aufstand (Jacquerie, 1358). Weite Landschaften waren verwüstet, Schlösser geplündert, Dörfer verbrannt. Zeitgenossen schilderten das Elend in düstersten Farben. «Von der Loire bis zur Seine, von der Seine bis zur Somme sind die Bauern tot oder flüchtig, die Äcker brach und oline Besteller», so schrieb BASIN. «Mit eigenen Augen habe ich gesehen, wie die großen Ebenen der Champagne, der Brie, der Beauce, die Bezirke des Gätinais, von Chartres, Dreux, Maine und Perche, das Vexin und Beauvaisis, die Landschaft Caux von der Seine bis Amiens und Abbeville, die Bezirke von Soisson und Valois, der ganze Landstrich bis Laon und sogar bis zum Hennegau verlassen, brach, entvölkert und von Brombeeren und Gebüsch bedeckt dalagen . . . Auf bebautes Feld stieß man nur noch in der unmittelbaren Umgebung von Städten, befestigten Plätzen oder Schlössern, in dem Umkreis, den der Blick eines Wächters von einem Turm oder sonst einer erhöhten Stelle umfassen konnte, der den Auftrag hatte, die Annäherung der Räuberbanden zu melden . ..» Auch französische Historiker begnügten sich lange mit dem Hinweis auf den Krieg, um den Niedergang französischer Wirtschaft im Spätmittelalter zu schildern und zu begründen 114 ). Doch machte schon d'AvENEL darauf aufmerksam, daß, wenn ) M. POSTAN, The Fifteenth Century, in: The Economie History Review, IX, 1939, S. 160 f. ) So etwa HENRI SEE, der auch Basin zitierte (Französische Wirtschaftsgeschichte, 1. Bd., Jena 1930, S. 36). Bei Henri Sée hat noch an allem Unglück Frankreichs im ausgehenden Mittelalter der Krieg schuld; Pest, Preisfall, Lohnsteigerung werden mit keinem Wort erwähnt, nur in einem Nebensatz findet sich noch die Bemerkung, die aber nicht weiter verfolgt wird: «Selbst in der Bretagne, also in einer vom Mittelpunkt der Feindseligkeiten eigentlich doch entfernten Gegend, lassen sich Herrschaften feststellen, die ganz zerstört sind oder wenigstens in ihren Einkünften schwer gelitten haben.» - Zum Pest-, Preis- und Trendproblem nahmen u. a. bereits in der älteren Literatur Stellung: D'AVENEL, Histoire Économique de la propriété . . . II. Bd., 2. Aufl. 1914, S. 517 ff.; EDOUARD PERROY, A l'origine d'une Économie contractée: Les crises de XIV e siècle, in: Annales (Économies, Sociétés, Civilisations), 4, 1949, S. 166 S.; M A R C BLOCH, Les caractères originaux de l'histoire rurale française, Oslo 1931, S. 117 £E. ; R O G E R G R A N D , L'agriculture au Moyen Age, Paris 1950, S. 663 ff. 113
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der Krieg die Wurzel des allgemeinen Unglücks gewesen wäre, die Preise, mit Vorrang die Preise der wichtigsten Lebensmittel, hätten steigen müssen - wie denn auch die Chronik von Froissant zum Jahre 1346 berichtet: «Das Land war durch die Engländer und die Verbündeten so zerstört, daß die große Armee der Franzosen keine Lebensmittel mehr fand und Hunger litt»; tatsächlich war aber die langfristige Entwicklung abwärts gerichtet, nach d'AvENEL's Preiszusammenstellungen sogar schärfer noch als in England und im westlichen Deutschland 1 1 5 ). Nicht minder widerspricht den vermuteten Kriegswirkungen die Entwicklung der Löhne. Wäre Sachkapital und Bodennutzung in solchem Umfang zerstört worden, wie die düsteren Schilderungen der Zeitgenossen vermuten lassen, dann hätten die Löhne sinken müssen; tatsächlich stiegen sie. «Niemals vorher», so ließ sich d'AvENEL vernehmen, «waren die Löhne so hoch wie in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.» D ' A V E N E L ' S Ziffern, noch nicht sonderlich fest begründet, wurden von der neueren Forschung in ihrem Grundzug bestätigt (in Einzelheiten modifiziert). Vergeblich versuchten die öffentlichen Gewalten der Lohnsteigerung Einhalt zu gebieten. Lohntaxen, Luxusgesetze, Arbeitsverpflichtungen versagten, selbst die «Halbpacht», eine Art kombinierter Arbeits-Pachtvertrag, erbrachte dem Eigentümer u m 1430 in der Provence nur noch Vi, J /s oder sogar nur Vs und Vs des Rohertrages der Grundstücke und Hofstellen. Solche Nachrichten ließen auf den Bevölkerungsrückgang aufmerken, der, wenn überhaupt, nur zum Teil dem Krieg zur Last gelegt werden kann. So konnte schon vor Jahrzehnten von einem Alpenbezirk (Oisans, südlich Grenoble) nachgewiesen werden, daß dort die Zahl der Höfe (Feuerstellen) in den Jahren 1 3 3 9 - 1 4 2 8 von 2 828 auf 1 3 0 6 oder auf 46 °/o sank und in den folgenden Jahren der Niedergang sich in noch verstärktem Tempo fortsetzte 119 ). In der Languedoc, tief im Süden Frankreichs, waren Städte und Dörfer im Niedergang. In Toulouse und Montpellier sank zwischen der Mitte des 14. und der Mitte des 15. Jahrhunderts die Zahl der Steuerpflichtigen u m die Hälfte und mehr; in den Dörfern zeigte sich ähnliches, hier noch bestätigt durch den Rückgang der Kommunianten, den die Kirchenregister aufweisen. L E R O Y L A P U R I E schätzte, daß die Bevölkerung des Languedoc um 1328 1 5 0 0 0 0 0 Bewohner zählte, u m 1450 nur 1 0 0 0 0 0 0 , um V3 weniger 117 ). Aber schon im Languedoc zeichnet sich das merkwürdige, die französischen Wüstungen kennzeichnende Phänomen ab, daß nur wenige der Wüstungen des Spätmittelalters sich in Dauerwüstungen verwandelten. Die verlassenen Dörfer wurden wieder aufgebaut, die verwilderten Felder wieder in Kultur genommen, die Orte und die Landschaften verwandelten sich zurück - und voran - in einer Weise, die durch den großen Wüstungsprozeß nur unterbrochen, nicht aber auf ein Niveau geschoben worden war, wie es in Deutschland und in England beobachtet werden konnte. U n d dies geschah, wie die neuere Wüstungsforschung zeigte, im weitaus größten Teil Frankreichs. Nur Elsaß und Lothringen und vielleicht noch die Provence heben sich deutlicher von dieser allgemeineren Entwicklung ab. Im Elsaß insbesondere war die Zahl der Dauerwüstungen groß. Sie reicht an die Häufung der Dauerwüstungen in den am stärksten heimgesuchten deutschen Landschaften heran 1 1 8 ).
115) vg] di e Grafik in meinem Buch: Agrarkrisen und Agrarkonjunktur . . ., 2. Aufl., 1966, S. 55. 116) A. ALLIX, L'Oisans au Moyen Age, Paris 1929; DERS. L'évolution rurale des Alpes, in: Annales d'Histoire Économique et Sociale, 5, 1933, S. 141 f. (mit weiteren Literaturhinweisen). 117
) E. LE ROY LADURIE, Les paysans de Languedoc, 1,1966, S. 144.
et E. L E R O Y LADURIE in dem Sammelband, den F. BRAUDEL der 3 . Internationalen Konferenz der Wirtschaftshistoriker in München im August 1965 vorlegte: Villages Désertés et Histoire Economique XI e -XVIII« siècle: Le cas français: vue d'ensemble, S. 127 ff. 118
) J . - M . PESEZ
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Andeie Länder Für die Schweiz meinte noch H. A M M A N N (1955), daß dort im Spätmittelalter nur wenige Wüstungen entstanden seien119). Diese Angabe muß zumindest für Teile der Schweiz bezweifelt werden. Im Kanton Schafihausen wies W. Z I M M E R M A N N 1 2 0 ) mehrere totale und einige partielle Ortswüstungen nach, die von einem noch häufigeren Anfall von Flurwüstungen begleitet waren. Eine Uberprüfung der Raumanteile von Ackerbau und Wald ergab in diesem Kanton - wie in so vielen anderen Teilen Europas - , daß ein erstes Waldminimum in das beginnende 14. Jahrhundert (ein zweites in das ausgehende 18.) und ein Waldmaximum in die spätmittelalterliche Wüstungsperiode fiel. In den Alpengebieten, wo die Dauersiedlungen um 1300 in größere Höhen hinaufgeklettert waren als je zuvor, sank die Siedlungsgrenze121). In den Mittelmeeiländem verschwanden im 14./15. Jahrhundert zahlreiche Orte teils auf Dauer, teils auf Zeit. Für Griechenland unterschied der Berichterstatter zum 3. Internationalen Historikerkongreß in München (1965) zwei Zeitspannen mit gehäuften Ortschaftsverlusten, das 14. und das 19. Jahrhundert. Die erste dieser Zeitspannen, die hier allein interessiert, umspannte 456 verlassene Orte mit deutlicher Steigerung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts (322) gegenüber der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (136) und mit noch größerem Abstand zu den Wüstungen des 11.-13. Jahrhunderts, die je Jahrhundert nur mit etwa 60 verlassenen Orten nachgewiesen werden konnten 122 ). In Italien verschwanden im Verlaufe des 14. und des 15. Jahrhunderts in der Toskana etwa 1 0 % , im Distrikt um Rom 25 °/o und in Sardinien etwa die Hälfte aller ländlichen Siedlungen des Hochmittelalters123). In Spanien entstanden in der Provinz Navarra rund 60 °/o aller nachweisbaren Ortswüstun-gen in der Zeit zwischen 1348 und 1500124). Aber wie in anderen Ländern waren auch im südlichen" Europa die regionalen Unterschiede des Ortschaftsverlustes groß und überdies gilt auch hier die Regel, daß die verlassenen Orte nur einen schwachen Eindrück vom Ausmaß des Wüstungsprozesses vermitteln. In einigen genauer untersuchten Territorien d^r Toskana betrug der Ortschaftsverlust im 14./15. Jahrhundert etwa 20 % , aber der Verlust an Feuerstellen um 70 °/o. Die Bevölkerung dieser Territorien verringerte sich im Verlauf der beiden Jahrhunderte um rund 2/3125). Für Österreich liegt eine zusammenfassende, leider zu einseitig auf geographische Blickpunkte ausgerichtete Betrachtung der Wüstungsliteratur schon aus dem Jahre 1934 vor126). An Regionalstudien mit erweitertem Blickfeld, das auch noch andere Umstände oder Bedingungen der Wüstungen mit umfaßte, seien genannt: H . K L E I N
) Von mir noch übernommen in die 2. Aufl. dieses Buches S. 38, Anm. 162. I2OJ -YV. ZIMMERMANN, Schaffhauser Ackerbau durch die Jahrhunderte, 1974, mit einer Wüstungskarte S. 73 und aufschlußreichen Ausführungen zur «Abhängigkeit des FreilandWald-Verhältnisses vom Menschen» S. 70 ff. 121 ) A. AIXIX, L'évolution rurale des Alpes, in: Annales d'Histoire Êcon. et Sociale, 5, 1933, S. 141 f.; A. DOPSCH, Die ältere Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bauern in den Alpenländern Österreichs, Oslo 1930, S. 133 f. 119
122
) H . A N T O N I A D I S - B I B I C O U , a . a . O . , S . 3 4 3 ff.
j CH. KLAPISCH-ZUBER et J. DAY, Villages désertés en Italie, ebenda, S. 419 fï. 124 ) N. CABRILLANA, Villages désertés en Espagne, ebenda, S. 461 ff. 125 ) E. FIUMI, La popolazione del territorio volterrano-sangimignanese ed il problema demografico dell'età comunale in: Studi in onore di A. FANÉ ANI, I, 1962, S. 249. Die beiden Territorien umfaßten ein Gebiet von rd. 40.000 ha, etwa 1,7 °/o der Fläche Toskanas. 12s ) A. BECKER, Die geographische Wertung der Wüstungen, in: Mitt. d. Geogr. Ges. in Wien, 77, 1934, ergänzend dazu F. HUTER, Die agrargesch. Forsch, in Österreich seit 1945, in: Zeitschr. f. Agrargesch. u. Agrarsoziologie, 1953, S. 155 ff. 123
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für das Salzburger Land 127 ), W. P O N G R A T Z für das obere Wald viertel 128 ), O. L A M P R E C H T für die Steiermark 129 ) und J . K. H O M A für das nördliche Burgenland 130 ). O. P I C K L zeigte am Beispiel eines Dorfes (Söding im Södingtal, westlich von Graz), welches Ausmaß der Wüstungsprozeß annehmen konnte: Das Dorf umfaßte zu Beginn des 14. Jahrhunderts 45 Besitzeinheiten (Familien), um 1380 26 und um 1400 nur 16, d. h. nur Vs der ursprünglichen Einheiten 131 ). In der Tschechoslowakei wurde die Untersuchung mittelalterlicher Wüstungen in den Staatsplan für Elementarforschung im Bereich der Gesellschaftswissenschaften aufgenommen. Für Böhmen konnten bisher mehr als 3000, für Mähren annähernd 1400 verlassene mittelalterliche Siedlungen festgestellt werden. Etwa 60 °/o der Wüstungen in Mähren dürften dem Spätmittelalter mit Schwerpunkt im 15. Jahrhundert, vermutlich mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung gegenüber den Wüstungen in Deutschland, zuzuordnen sein 132 ). In Ungarn erweckten die Puszten schon früh die Aufmerksamkeit der Siedlungshistoriker. Das Wort «puszta», das ursprünglich das steppenartige Gebiet der ungarischen Tiefebene meinte, wurde seit dem 14. Jahrhundert auch für verlassene Bauernhöfe (deserta sessio) gebraucht133). Um das Jahr 1400 sollen in vielen Dörfern 2 0 - 4 0 °/o der Hufen nicht besetzt gewesen sein 134 ). Riesige Weidezonen breiteten sich zwischen Donau und Theiß aus. Rinderherden zu vielen. Hunderten von Tieren wurden von den Bürgern der Marktflecken, wie Debrecen, gehalten und über Wien und andere Städte bis weit in den Westen, nach Venedig, Nürnberg, Augsburg und bis nach Köln, getrieben 135 ). Um das Jahr 1480 soll die Lebendviehausfuhr Ungarns nach dem Westen 5 5 - 6 6 °/o der ungarischen Gesamtausfuhr nach dem Westen ausgemacht haben 136 ). Im Nordwesten Europas, in den Niederlanden und Belgien, ist die Zahl der permanenten und totalen Ortswüstungen gering und die Zahl der temporären und partiellen Wüstungen des Spätmittelalters bescheiden: «The European agricultural depression of the fourteenth Century was less pronounced in Brabant and the rest of the Low Countries than in England, France and Germany», so urteilte VAN DER WEE in Ubereinstifnmung mit den Historikern, die sich in den Niederlanden und Belgien
M ) H. KLEIN, Das Große Sterben von 1348/49 und seine Auswirkung auf die Besiedelung der Ostalpenländer, in: Mitt. d. Ges. f. Salzburger Landeskunde, 100, 1960, S. 91 ff. LAS) W. PONGRATZ, Zur Frage der partiellen Ortswüstungen im oberen Waldviertel, in: Jhb. f. Landeskunde von Niederösterreich, 32, 1955/56. 129 ) O. LAMPRECHT, Zur Wüstungskunde in der Steiermark, in: 35. Jhb. d. II. Bundesgymn. Graz 1936/37 (mit weiterem Schrifttum). 13°) J. K. HOMA, Die Wüstungen des nördlichen Burgenlandes, in: Mitt. d. österr. Staatsarchivs, 3. Erg. Bd. 1951. 131 ) O. PICKL, Die Ursachen der sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche des 14./15. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Steiermark und Kärntens,
F e s t s c h r . f. F . TREMEL, 1 9 6 7 .
) R. E. LOB, Z u m Stand der Wüstungsforschung in der CSSR, in: Geogr. Zeitschr., 60, S. 2 8 6 ff. 133 ) P. GUNST, Das ungarische Wort «puszta» und seine Bedeutung, in: Wirtschaftliche und soziale Strukturen im säkularen Wandel, Festschr. f. W. ABEL, I, 1974, S. 212 ff. (Schriftenr. f. ländl. Sozialfragen, hsg. v. d. Agrarsozialen Ges. Nr. 70). 134 ) A. DOMANOVSZKY, Zur Geschichte der Gutsherrschaft in Ungarn, in: Wirtschaft und Kultur, Festschr. f. A. DOPSCH, 1938, S. 455. 135 ) In einem Edikt des Kölner Rates vom 24. X. 1492 wird davon gesprochen, daß unter den «allerlei Ochsen», die «hier zum Markt gebracht werden», sich auch ungarische und polnische befinden (W. ABEL, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur . . . , 2. Aufl., 1966, S. 72). 136 ) Führend in der Forschung Z. B. PACH, von dessen verschiedenen hierhin gehörenden Arbeiten nur genannt sei: Das Entwicklungsniveau der feudalen Agrarverhältnisse in Ungarn in der zweiten Hälfte des XV. Jhdts., in: Studia Hist. Acad. Scient. Hungarica, 46, 1960. 132
1972,
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
eingehender mit den Krisenerscheinungen des Spätmittelalters beschäftigt haben 137 ). Es scheint, daß die Pestwellen des 14./15. Jahrhunderts die Völker im Nordwesten Europas weniger hart als in anderen Ländern trafen. Auch ist es nicht unwahrscheinlich, daß die früh entwickelten gewerblichen Aktivitäten und die hohe Kaufkraft der Städter in Flandern und Brabant den Landbau stützten. Die Preise der Agrarprodukte sanken kaum; Vieh und animalische Erzeugnisse wurden begehrt. Die Herren spürten zwar den Ausfall an Zinsen, den die Zinsermäßigungen und die temporären Wüstungen mit sich brachten, doch befanden sich die Bauern, wie es scheint, in einer (relativ) glücklichen Lage, da ihnen neben den Zinsermäßigungen auch noch der Vorteil der nahen und kaufkräftigen Märkte zugute kam. Sie intensivierten Viehhaltung und Ackerbau, bauten Futterpflanzen an und brachten in die Brache auch schon Erbsen und andere Leguminosen ein. Weiter im Osten gab es solche Ausweichmöglichkeiten noch nicht. In den marktfemen, dünn besiedelten Landschaften des alten Polens dürfte darum auch die Ungunst der agraren Preise, die in den deutschen Territorien zu spüren ist, kaum gestört haben. Wüstungen fehlten zwar auch in Polen nicht, doch neigt die polnische Forschung dazu, diese Wüstungen mit Vorrang dem Ausbau der herrschaftlichen Güter zuzuordnen, der in voller Stärke erst im 16. Jahrhundert einsetzte. Damit läßt sich schlecht vereinigen, daß, wie MIELCZARSKI und SZAFLIK nachwiesen, bereits im Jahre 1510 im Bistum Posen 34 °/o, auf den Gütern des Erzbistums Gnesen im Jahre 1512 26,5 °/o, in der Starostei Chsciny (Wojewodschaft Sandomierz, Kleinpolen) im Jahre 1508 31 °/o, in Polen insgesamt nach der Schätzung dieser Autoren schon in diesen Jahren ein Drittel der Bauernhufen wüst und d. h. auch hier unbesetzt, vielleicht verödet waren 1 3 8 ). Vermutlich sind diese Wüstungen den «drei Geissein» des Mittelalters, den Seuchen, Kriegen und Mißernten zuzuordnen. Es mag auch sein, daß der Höhepunkt der spätmittelalterlichen Wüstungen in Polen erst in das ausgehende 15. Jahrhundert fiel und das «große Sterben» der Mitte des 14. Jahrhunderts in Polen weniger Opfer als die folgenden Seuchen forderte. Aber das ist noch nicht völlig geklärt, zumal 4 im Moskauer Raum die Masse der Wüstungen, die hier bis zu 50°/o und mehr der Siedlungen umfaßte, eindeutig der zweiten Hälfte des 14. und der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zuzuordnen ist und bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wenn auch nur mit bescheidenen Anfängen, der Wiederaufbau begann 130 ). Zusammenfassend kann festgestellt werden: Verlassene Wohnplätze und verödete Felder gab es in ganz Europa im ausgehenden Mittelalter in großer Zahl. Noch läßt 137) H. van der WEE, The Growth of the Antwerp Market and the European Economy (fourteenth-sixteenth centuries), II, 1963, S. 7. Zu den hier angeschnittenen Themen seien noch genannt: H. v. WERVEKE, De zwarte Dood in de Zuidelijke Nederlanden (1349-1351), in: Mededel. v. d. Koninklijke Vlaamse Acad. v. Wetenschappen, Klasse der Letteren, XII, 3, 1950; T. S. JANSMA, De «Wüstungen» der Late Middeleeuwen, in: Landbouwgeschiedenis, I960, S. 123 ff.; SUCHER V. BATH, Woeste Erven in Twente gedurende de Late Middeleeuwen?, in: Meded. v. d. Vereeniging tot Beoefening van Overijsselsch Regt en Geschiedenis, 1958, S. 93 ff.; DERS., in: A.A.G. Bijdiagen, 11, 1964, S. 69; A. VERHULST, L'Économie rurale de la Flandre et la dépression écon. du Bas Moyen Âge, in: Studia Hist. Gandensia, 7, 1964, S. 68 S.; DERS., Bronnen en Problemen betreffende de Flaamse Landbouw in de Late Middeleeuwen (XIIIE—XVe eeuw), in: Ceres en Clio, Wageningen 1964, S. 205 ff.; L. GENICOT, La crise agricole du Bas Moyen Âge dans le Namurois, in: Centre belge d'hist. rurale, 9, 1970. 138) In deutscher Ubersetzung liegt vor W. RUSINSKI, Wüstungen, ein Agrarproblem des feudalen Europas, in: Acta Poloniae Hist., V., 1962, S. 48 ff. Für die Arbeiten aus den Federn
v o n SAMSONOWICZ, MALOWIST, ZIENTARA, SENKOWSKI, MIELCZARSKI u n d SZAÏLIK v e r d a n k e
ich Auszüge P. KRIEDTE, Mitarbeiter im Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen. 139) C. GOEHRKE, Die Wüstungen in der Moskauer Rus', in: Quellen und Stud. z. Gesch. d. östlichen Europa, 1,1968, S. 78 und passim.
I. Die Siedlungen
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sich der Umfang der Dauerwüstungen nicht übersehen, zumal ihr Ausmaß erheblich zwischen den Ländern und zwischen den Landschaften wechselt. Doch fehlten sie nicht, und noch wichtiger ist die Erkenntnis, daß der Wüstungsprozeß sich nicht auf diese Wüstungen beschränkte, sondern andere Siedlungen einbeschloß, die in Resten bestehen blieben (Teilwüstungen) oder nur zeitweilig verlassen waren (Zeitwüstungen) und heute durch nichts mehr von dem Rückgang künden, den auch sie in der Wüstungsperiode erlitten. «Es lag in der Natur der Dinge», so meinten englische Beobachter schon vor vielen Jahren 140 ), «daß die Kräfte, die im 14. und 15. Jahrhundert am Werke waren, sich ebenso wahrscheinlich in einem Teilrückgang einer Siedlung wie in ihrer völligen Aufgabe auswirkten. Auch dort, wo die Entvölkerung schließlich eine vollständige war, handelte es sich offenbar nur um den Abschluß eines Prozesses».
3. Siedlungskonzentration und Entsiedlung in Deutschland Die Dorfballungstheorie Man findet im deutschen Schrifttum seit langem und auch heute noch zuweilen eine Darstellung, die den Wüstungsvorgang in eine einfache Umsiedlung auflöst. Unterstellt wird ausdrücklich oder stillschweigend, daß die Bevölkerung im ausgehenden Mittelalter die gleiche geblieben oder gar noch gewachsen sei, so daß der Wüstungsvorgang sich als eine Ballung darstellt: einige Dörfer wurden leer, die anderen (und die Städte!) um so voller. Die Parallele zum 19./20. Jahrhundert liegt nahe, und wie im Zeitalter des Industrialismus die Ballung der Menschen in Städten und Großdörfern Symptom (oder Bedingung) wirtschaftlichen «Fortschrittes» war, so wird dann auch wohl geschlossen, daß die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters nur Zeichen ^ines nötigen und nützlichen Wanderungsvorganges gewesen wären. Den Weg zu solcher Deutung wies wohl als erster der hessische Wüstungsforscher WAGNER141). «In dem Umstand», so schrieb er, «daß die Geschichte über Zeit und Weise der Ausgänge nicht berichtet, scheint der Beweis zu liegen, daß die Orte nicht plötzlich und in auffallender Weise, sondern in ihren Bestandteilen meistens nur allmählich verschwunden sind, indem die Einwohner ihre Häuser, vielleicht schon in Folge eines Brandes in der Zahl verringert, oder um mehr Schutz zu finden, oder auch, um einer Kirche näher zu sein, einem größeren Orte angebaut haben, wo sie neuer und schöner wieder erstanden und so den alten Satz bestätigen: Vernichtung ist der Anfang neuen Lebens». «Auch hier», so wird diese Auffassung in einer Wüstungskunde des Kreises Holzminden noch bestimmter vertreten142), «hat sich wie im übrigen Deutschland die Bevölkerung namentlich im Ausgang des Mittelalters und im Anfang der neueren Zeit in einer allmählich abnehmenden Zahl von Ortschaften zusammengedrängt, aber so, daß mit der sich verringernden Zahl der Orte die Bevölkerungszahl der noch bestehenden Orte sich nicht unbedeutend vermehrt hat.» Die Beispiele solcher Darstellungen des Wüstungsvorgangs ließen sich leicht vermehren. Sie gipfeln in der These: «Das Streben nach Auseinanderwohnen, das die Menschen des Ausbauzeitalters beherrscht hatte, wurde nunmehr abgelöst von der entgegengesetzten Bewegung143.»
140) J . G . H U R S T und J . GOLSON, Deserted Medieval Villages, Bericht vor dem Königl. Archäolog. Inst, am 4. III. 1953, Manuskr. S. 9. 1 4 1 ) W A G N E R , Oberhessen . . . , S. VI. 142) H. D Ü R R E , Die Wüstungen des Kreises Holzminden, in: Zeitschr. d. hist. Ver. f. Niedersachsen, 1878, S. 175. 143) K. SCHNEIDER, Beiträge zur Siedlungsgeographie des Meißner Gebiets, Diss. Göttingen, 1926, S. 27.
Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
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Man fragt sich, welche Gründe die Bewohner der Wüstungsdörfer zu solcher Verlegung ihrer Wohnstätten veranlaßt haben könnten. Die Neigung zum «Beisammenwohnen» bedarf wohl einer Begründung, denn sie hat nicht die Vereinzelung der Siedlungen im Ausbauzeitalter verhindern können und kann somit für sich allein auch nicht die Ballung der Wohnstätten in der Wüstungsperiode erklären. So meinte auch W A G N E R ergänzend, daß die Anziehungskraft der Kirchen die Umsiedlung ausgelöst hätte. Viele Ortschaften überstanden indes die Wüstungsperiode, ohne je eine Kirche besessen zu haben, während zahlreiche Kirch- und Pfarrdörfer zugrunde gingen. Zudem wußte, wie L A P P E entgegnete 144 ), der Bauer «damals so gut wie heute, daß es bequemer ist, einmal in der Woche einen weiten Weg zur Kirche als täglich zu den Feldern zu machen». Einleuchtender erscheint das Schutzargument, das W A G N E R ebenfalls vorbrachte, aber auch schon v. J U S T I anführte. «Unsere Vorfahren», so schrieb v. JUSTI145), «haben allerdings also gewohnet, wie es der rechte Nutzen und das Aufnehmen der Landwirthschaft erfordert . . . Das unseelige Faustrecht in dem mittleren Zeitalter hat verursacht, daß faßt allenthalben unsere Dörfer garnicht (mehr) eine solche Einrichtung haben als es der wahre Vortheil und der Flor der Landwirthschaft erfordert. Bey diesen unglücklichen Befehdungen der Edelleute und Städte gegeneinander wurden die Landwohnungen beständig abgebrannt und verwüstet. Die Landleute sahen sich also genöthiget, ihre Wohnungen nahe beyeinander anzubauen, damit sie sich desto besser gegen feindliche Angriffe verteidigen konnten.» Sicher sind im ausgehenden Mittelalter viele Landbewohner aus früheren Hofplätzen abgewandert, um in größerer Gemeinschaft Schutz und Sicherheit zu finden, aber das lockendere Ziel war bei solchen Motiven wohl die Stadt. Auch waren es nicht immer die kleinsten Orte, die eingingen 146 ), und nicht die Siedlungen in der gefährdetsten Lage. Im Harz und Thüringerwald, im Frankenwald und Westerwald weisen die höher gelegenen Landschaften einen größeren Ortschaftsverlust auf als die Vorlande, die streifenden Kriegsscharen viel leichter zugänglich waren. In Waldund Sumpflandschaften gingen gerade die entlegeneren Dörfer vielfach ein und in den Alpengebieteq sank die Siedlungsgrenze. Das alles paßt nicht zu der Schutztheorie. Völlig abwegig ist die Behauptung, daß man die Ortschaften zusammengelegt hätte, um Ackerland zu gewinnen 147 ). Durch die Anlage von Wohnstätten im neuen
144
) LAPPE, a . a . O . , S. 1 7 .
) JOH. H. G. v. JUSTI, Abhandlungen von der Macht, Glückseeligkeit und Credit eines Staates . . 1 7 6 0 , S. 8. 146) YGJ E T W A K. MEYER, Die Wüstungen der Grafschaft Stolberg-Stolberg-Roßla und der Grafschaft Hohenstein, in: Zeitschr. d. Harz-Vereins . . ., 4. Jg., 1871, S. 259: «Zahlreiche Pfarrdörfer gingen ein und die Wüstung Schwiderschwende war nach alten Berichten ein wohlgebauter und stark bewohnter Marktflecken.» Die Vielzahl der Wüstungen, so meinte DEIST a.a.O., S. 63, verleite zunächst zu der Annahme, daß es sich wohl zumeist bei den Wüstungen u m einzelne Höfe gehandelt habe. W o aber eine Kirche oder ein Pfarrer uns überliefert sind, habe doch sicher ein größeres Dorf bestanden. Die gleiche Annahme sei berechtigt, wenn in den Quellen eine größere Anzahl von Hufen oder Höfen angegeben werden. Auf solche Weise ergebe sich für 49 von insgesamt 100 nachweisbaren Wüstungen (an der hessisch-thüringischen Grenze) ein einwandfreier Nachweis dafür, daß sie wirklich Dörfer waren. Nach REISCHEL a.a.O., S. 272, hatte die Größe eines Ortes überhaupt keinen Einfluß auf das Wüstwerden. Das heißt nun allerdings, einige richtige Beobachtungen unzulässig verallgemeinern. Unter Umständen konnte auch ein geringer Umfang für das Eingehen eines Ortes mitverantwortlich sein. 147 ) Bei KÄTELHÖN, Oberes Lahngebiet, S. 46, findet sich diese Behauptung in folgender Form: Die Besiedlung hätte zuerst das günstig gelegene offene und flache Land bevorzugt, also die Ebenen und Talweitungen, wo die Siedlungen «nun ziemlich regellos über das Land zerstreut lagen. Zunächst wird der Gesichtspunkt maßgebend gewesen sein, das zu bebauende 145
I. Die Siedlungen
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Dorf mußte ebenso viel Boden verloren gehen wie in den alten Dörfern durch den Abbruch der Gebäude gewonnen werden konnte. Auch sind nachweislich die Felder der verlassenen Siedlungen häufig vergrast, verwildert und mithin dem Ackerbau verloren gegangen. Und wenn auch die alten Fluren weiter bebaut wurden, so mußte doch mit der Zusammenlegung der Dörfer die Entfernung zu den Gemarkungen wachsen. Die ferner gelegenen Felder konnten daher nur entweder mit geringerer Intensität, also etwa durch Feldgraswirtschaft, oder mit höheren Kosten und Mühen genutzt werden. Der betrieblich zweckmäßige Standort für bäuerliche Wohn- und Wirtschaftsgebäude liegt nun einmal, wie schon v. J U S T I erkannte, inmitten oder zumindest in der Nähe der bewirtschafteten Felder. Eine Variante dieser Theorie vertraten M O R T E N S E N und SCHARLAU in ihren frühen Arbeiten zur Wüstungsfrage (später abgeschwächt)148). Sie sahen die treibenden Kräfte des Wüstungsprozesses in Bemühungen zur Verbesserung der bäuerlichen Wirtschafts- und Betriebsformen. Die Langstreifenflur, so meinten sie, wurde von der Gewannflur abgelöst. Die Gewannflur bedeutete wirtschaftlichen Fortschritt, da sie die bis dahin zersplitterten Einzelfluren zu größeren Komplexen zusammenfaßte und den Ubergang zur Dreifelderwirtschaft ermöglichte, die gegenüber früheren Wirtschaftsformen ein intensiveres Bodennutzungssystem darstellte. Im Zusammenhang hiermit entstanden auf den abseits gelegenen Ackerstücken Flurwüstungen und, da die Großfelderwirtschaft zentrale Orte voraussetzte, in den abseits gelegenen Bezirken Ortswüstungen. Diese Theorie entbehrt nicht der inneren Logik, doch steht sie mit den historischen Tatsachen nicht im Einklang. Sie setzt voraus, daß die Bevölkerung der verbliebenen Orte um den Zuzug aus den aufgegebenen Siedlungen wuchs und die Felder der weiterbestehenden Orte erweitert wurden. Das konnte bisher in den Getreideanbaugebieten nicht festgestellt werden. In wirtschaftlich erschlossenen, dicht besiedelten Landschaften ist eine ländliche Umsiedlung größeren Ausmaßes, wie sie tatsächlich ausgangs des Mittelalters stattfand, garnicht denkbar - es sei denn, man nehme an, daß von Grund- oder Landesherren ein Zwang ausgeübt worden sei. Solcher Zwang war mit dem Bauernlegen der Cisterziepser im 12. und 13. Jahrhundert und verstärkt und in anderer Form mit der Ausbildung von Gutsherrschaften seit dem 16. Jahrhundert verbunden, doch für die Wüstungsperiode, die ja auch in Deutschland übereinstimmend in das ausgehende Mittelalter verlegt wird 149 ), läßt sich solche erzwungene Aus- oder Umsiedlung nur
Land möglichst in der Nähe der Behausung zu haben, also die kleine Gruppensiedlung wurde die Regel. Es war natürlich, daß die Ansiedlung selbst dabei auf gutem, ertragsfähigem Boden lag, der dadurch der Bebauung entzogen wurde. Als nun bei der steigenden Bevölkerungszahl mehr Brotland benötigt wurde, und das Verkehrsbedürfnis wuchs, sah man die Unzweckmäßigkeit der Ortsanlage ein und suchte dem dadurch zu steuern, daß man sich zu größeren Ortschaften zusammenschloß und von hier aus das alte Land weiter bebaute». In dieser Argumentation wird also auch unterstellt, daß die Bevölkerung in der Zeit der Wüstungshäufung wuchs. In der Tat ist die Bevölkerungsbewegung von entscheidender Bedeutung für den Wüstungsvorgang gewesen, nur daß die Bevölkerung Deutschlands im Westen wie im Osten damals nicht wuchs, sondern abnahm. Solange diese Erkenntnis sich nicht durchsetzen wird, kann der Wüstungshergang nicht verstanden werden. 14S) H. MORTENSEN, Neue Beobachtungen über Wüstungs-Bandfluren und ihre Bedeutung für die mittelalterliche Kulturlandschaft, in: Ber. z. dt. Landeskunde, 10, 1951; K. SCHARLAU, Ergebnisse und Ausblicke der heutigen Wüstungsforschung, in: Bl. f. dt. Landesgesch., 93, 1 9 5 7 , S . 5 5 f. I49 ) SCHLÜTER, Nordöstl. Thüringen, S. 206, hielt einen genauen (literarischen) Nachweis der Zeit des Wüstwerdens deutscher Orte für überflüssig, da die Lokalforscher, wie er sagte, durchweg die gleiche Ansicht über die Zeit des Wüstwerdens hätten. Da dies aber nicht leicht zu erkennen ist, schien es doch richtig, oben eine Reihe von Nachrichten über die zeitliche Begrenzung der Wüstungsperiode bei den einzelnen Forschern zusammenzustellen.
4 Abel, Wüstungen
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
in wenigen Fällen nachweisen oder auch nur vermuten 150 ). Läßt man indes die unbewiesene und unwahrscheinliche Annahme einer nur geographischen Bevölkerungsbewegung fallen, dann wird die «Dorfballung» des ausgehenden Mittelalters sofort verständlicher. Hatte sich die Bevölkerung der Wüstungslandschaften tatsächlich verringert, waren im Zuzugsort Hufen und Häuser frei geworden und im Wüstungsdorf vielleicht infolge einer Pest die Bewohner schon zur Hälfte oder darüber ausgestorben, dann war für die letzten Insassen des alten Dorfes die Ubersiedlung in den Nachbarort nicht schwer. Welche Motive zu solchem Umzug letztlich den Ausschlag gaben, mag zunächst noch dahingestellt bleiben. Vielleicht war der Acker dort fruchtbarer oder die Belastung geringer, vielleicht bot das Zieldorf wirklich größeren Schutz vor Feinden oder auch nur mehr Annehmlichkeiten geselligen Lebens als die halb verödete alte Siedlung: solche Überlegungen konnten zu einer Massenwanderung doch erst führen in einer entvölkerten Landschaft. Einige Beispiele mögen die Art solcher Umsiedlung und zugleich die Möglichkeiten verdeutlichen, welche Quellen und Beobachtungen der Auslegung bieten. Ein erstes Beispiel sei aus der Magdeburger Börde gebracht 151 ): Das Dorf Könnern, dessen Feldmark nur 9 Hufen umfaßte, wurde um die Mitte des 14. Jahrhunderts wüst. Die letzten Bewohner zogen vermutlich in das benachbarte Dorf Niederndodeleben, in dessen Besitz sich später acht Zehntel der Gemarkung des alten Dorfes Könnern befinden. Die Einwohnerschaft des Dorfes Niederndodeleben nahm trotz des Zuzuges ab, denn vor 1363 weisen die Zinsregister des Dorfes N. 33 Hofwirte aus, im Jahre 1363 nur 10 Hofwirte, und zwar durchweg neue Namen, und erst im Jahre 1383 wieder 25 Hofwirte. Die Einwanderung hielt also nur den Rückgang des Zuzugsdorfes auf, wie sich in diesem Falle dank der gerade für die entscheidenden Jahre erhaltenen Zinsregister eindeutig zeigen läßt. - Solche Nachrichten liegen indessen nur selten vor, und der Bearbeiter von Wüstungen sieht sich daher gezwungen, aus anderen Umständen Schlüsse zu ziehen. Ein zweites Beispiel mag zeigen, wie einer der ersten Wüstungsforscher, der Pfälzer Geometer J O H . H O F M A N N , das Zusammenwachsen der vier Pfälzer Kleinsiedlungen Morbach, Herhausen, Zinckweiler und Mettweiler zu einem Großdorf (Mettweiler) deutete: «Diese vier Dörfer», so schrieb H O F M A N N im Jahre 1585 152 ), «weil sie so nahe beisammen gelegen, haben wohl untergehen müssen, denn der Ort daselbst so gar gut und fruchtbar nicht ist, daß sie sich alle hätten erziehen können. Nun aber habens die itzigen Einwohner des Orts (Mettweiler) desto besser, indem sie die Güter allein unter sich haben, davon hiebevor so viel Dörfer sich haben ernähren müssen». Wie man sieht, hielt H O F M A N N es für selbstverständlich, daß das allein verbliebene Dorf weniger Einwohner hatte als ehedem die vier Dörfer zusammen,- wäre es anders gewesen, hätten sich ja die «itzigen Einwohner» Mettweilers nicht besser ernähren können. - Mitunter läßt sich aus dem Schicksal der Flur auf die Abnahme der Bevölkerung schließen 153 ): Das Dorf Südschauen im Kreis Grafschaft Wernigerode, dessen fruchtbare Flur die ansehnliche Zahl von 54V2 Hufen umfaßte, wurde in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wüst. Die letzten Bewohner verzogen vermutlich nach dem benachbarten größeren Ort Wasserleben, wo sie hinter stärkerer Wehr größere Sicherheit fanden und zudem 150) Durch den landesherrlichen Eingriff sind um 1400 im Samland preußische Dörfer zusammengelegt worden, um ihnen deutschen Charakter aufzuzwingen. H . MORTENSEN, Siedlungsgeographie des Samlandes, in: Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde, 22, 1919-24, S. 343. (Auf die Frage des Bauernlegens wird später noch in anderem Zusammenhang eingegangen werden.) 1 5 1 ) DANNEIL (Pastor zu Niederndodeleben) in: Geschichtsbl. f. Stadt und Land Magdeburg, 3. Jg. 1868, S. 260. 152) Zit. nach HÄBERLE, Rheinpfalz, S. 71. 153 j JACOBS, Wernigerode, S. 73.
I. Die Siedlungen
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von den besonders schweren Lasten befreit waren, die auf der Südschauischen Flur ruhten. Die Felder des Dorfes Südschauen verfielen und wurden nur noch als Weiden und Wiesen genutzt. Die Umsiedler müssen also an neuer Stelle Ackerbau aufgenommen haben, denn von Fleisch und tierischen Erzeugnissen werden sie nicht allein gelebt haben. Sie wählten - eine andere Möglichkeit ist kaum denkbar - jene Felder der Gemarkung Wasserleben, deren Besteller verstorben oder verzogen waren. Schwieriger zu deuten ist der folgende, in den Quellen häufig wiederkehrende Fall, wo nur von Zinszahlungen für die wüsten Hufen, nicht aber von dem Schicksal der Einwohner des aufgegebenen Dorfes oder der Art der Bewirtschaftung der Wüstung gesprochen wird: Trimlingen im Eicheltal (Lothringen], einst ein stattlicher Ort, zeigte um 1350 die ersten Spuren des Niedergangs, da von den 42 Zinsleuten des Dorfes nur etwa 8 noch im Orte, 8 im benachbarten Städtchen Diemeringen und die restlichen in Ortschaften der Umgebung wohnten. SCHLOSSER154) vermutet m. E. zu Recht, daß der Grund und Boden, der später völlig den Bewohnern der Nachbarorte gehörte, zum Teil schon damals von Nachbarn auf billige Weise an sich gebracht, zum andern Teil noch in den Händen der alten Familien gewesen sei, die sich in jenen Nachbarorten niedergelassen hätten. Es waren die Jahre des «Schwarzen Todes», der ringsum in Deutschland - und im Ausland - die Dörfer geleert hatte. (Um die Mitte des 15. Jahrhunderts ging der sehr herabgekommene Ort schließlich ganz ein. Den Gnadenstoß gaben ihm vermutlich die Einfälle der Armagnaken in den Jahren 1439 und 1444.) Partielle Wüstungen Wie klein auch die noch verbliebenen Orte in Deutschland waren, zeigt eine Untersuchung an der hessisch-thüringischen Grenze. Das Dorf Hönebach, das vor dem zweiten Weltkrieg (1925) 142 Haushaltungen zählte, hatte im Jahre 1569 40, 1538 13 uncj im Jahr 1466, also zur Zeit der größten Wüstungshäufung, nur 4 «Hausgesessene». Obersuhl besaß im Jahre 1925 492 Haushaltungen, im Jahre 1569 83 und 1466 nur 28 156 ). Diese Ziffern entsprechen nicht dem Bilde, das die Konzentrationstheorie von den in der Wüstungsperiode verbliebenen Dörfern entwarf. Sie lassen eher vermuten, daß auch in diesen Siedlungen sich im 15. Jahrhundert unbesetzte Hufen befanden, deren frühere Besitzer gestorben oder verzogen waren. So war es denn auch wirklich. In Niederösterreich, wo in den beiden letzten Jahrhunderten des Mittelalters rund 40 v.H. der Ortschaften verloren gingen, befanden sich auch diejenigen Siedlungen, die die Wüstungsperiode überdauerten, am Ende des 15. Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen «im tiefen Verfall 156 ); im oberen Waldviertel waren neben jeder fünften Vollwüstung noch zusätzlich in einer Siedlungsgruppe 15 %>, in einer anderen 11 °/o der Zinsobjekte nicht bestiftet 157 ). Auch am Oberrhein, im Schwarzwald, in Württemberg und Schwaben gab es halbleere Dörfer in großer Zahl 158 ). Die Mark Brandenburg war ein «öde, wust land», das sein Vorbesitzer, der Markgraf Otto, an Kaiser Karl den IV. verkauft haben soll, weil «er
154 ) H. SCHLOSSER, Das abgegangene Dorf Trimlingen im eigentlichen Eicheltale . . ., in: Bausteine zur Els.-Lothr. Gesch. u. Landeskunde, 7. Heft, Zabern 1903. 155
| D E I S T , a . a . O . , S. 6 4 .
15B
) G R U N D , a . a . O . , S. 1 2 4 f.
157) W. PONGRATZ, Zur Frage der partiellen Ortswüstungen im Oberen Waldviertel, in: Jhb. f. Landeskunde von Niederösterreich, 32, 1955/56. I58J YGI NEBEN den oben S. 7 f. gebrachten Nachrichten F. J. MONE, Beiträge zur Gesch. d. Volksw. aus Urkunden 1859, S. 111.
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
sähe, das er mehr Mühe und Sorgen davon hatte van Nutzes» 159 ). Als Karl das große Landregister anlegen ließ; das, wie R A N K E sagte, eine «Art Domesdaybook von Brandenburg» darstellt, da zeigte sich, daß die Dörfer wirklich nur geringe Zinsen aufbringen konnten, weil sie zum Drittel, zur Hälfte und viele ganz von Bauern entblößt waren. Ein Menschenalter nach dieser großen Landaufnahme, im Jahre 1409, erklärte der Bischof von Havelberg 160 ), daß in den Kapitelsdörfern der Ackerbau fast völlig aufgehört hätte. Im Amte Grevesmühlen in Mecklenburg wiesen von 81 Dörfern, deren Bestand an besetzten Hufen sich vom Beginn des 15. Jahrhunderts an verfolgen läßt, 48 Dörfer noch im Verlaufe des gleichen Jahrhunderts eine derart starke Abnahme auf, daß man dieses 15. Jahrhundert nach Meinung des Bearbeiters als «Vorspiel des Dreißigjährigen Krieges» bezeichnen könnte 161 ). In den Wettinischen Landen zwischen Elbe und Saale gab es wie anderswo zahlreiche Vollwüstungen, die bisher allein die Aufmerksamkeit der Wüstungsforscher gefesselt haben. Doch daneben sah das 15. Jahrhundert eine Fülle von Teilwüstungen, die sich zwar nie ganz zu Vollwüstungen auswuchsen, doch wie diese Symptome des gleichen Entsiedlungs- und Entvölkerungsvorganges waren und deshalb für eine historische Würdigung des Wüstungsproblems nicht weniger wichtig sind. So zählte man im Amte Wittenberg im Jahre 1474 in 30 Ortschaften neben 869 Hufen bebauten Landes 94 wüste Hufen. Im Amte Schweinitz stellte sich das Verhältnis im gleichen Jahre wie 605 zu 68, im Dorfe Bucko (später Hohenbucko) wie 20 zu 9, wozu noch eine totale Flurwüstung im Umfang von 16 Hufen kam, die die Buckoer Bauern «zusammen trieben» 162 ). In Schlesien waren im Jahre 1443 nach einem zu Steuerzwecken aufgenommenen Hufenregister allein im Breslauer und Neumarkter Bezirk 7 Dörfer ganz und eines zur Hälfte unbewohnt: ungefähr 800 Hufen Land lagen in diesen beiden Bezirken wüst 163 ). Das sind zwar nur Einzelnachrichten, doch geben sie ein richtigeres Bild der allgemeinen Entwicklung als die Theorien der Bevölkerungsballung, der Bevölkerungszunahme oder gar der Übervölkerung, welch letztere L A M P R E C H T vertrat, um damit Ubelstände zu begründen, die ganz andere Ursachen hatten 164 ). Die Landbevölkerung Deutschlands nahm im ausgehenden Mittelalter, zumindest zwischen der Mitte des 14. und der Mitte des 15. Jahrhunderts ab. Sicherlich gab es hierbei Unterschiede des Ausmaßes, denn in Ost- und West-, Nord- und Süddeutschland wirkten nicht überall die gleichen Kräfte in gleicher Stärke. Es mag auch sein, daß sich hier und da in ) TH. KANTZOW, Chronik von Pommern, herausg. v. GAEBEL, 1897, S. 226. ) Nach G. SCHMOLLER, Die histor. Entw. des Fleischkonsums . . ., in: Zeitschr. f. d. ges. Staatsw., 27, 1871, S. 300. , e l ) H. MAYBAUM, Die Entstehung der Gutsherrschaft im nordwestl. Mecklenburg, in: Beihefte z. Viertelj. f. Soz. und Wirtschaftsgesch., 6. Heft, 1926, S. 112 f. 182 ) ED. O. SCHULZE, Die Kolonisierung und Germanisierung der Gebiete zwischen Elbe und Saale, Leipzig 1896, S. 170. 163 ) J. JUNGNITZ, Geschichte der Dörfer Ober- und Nieder-Mois, Breslau 1885, S. 35 f. 164 j Im Art. «Grundbesitz (Geschichte)» im Handw. d. Staatsw., 3. Aufl., Bd. 5, S. 123 f., meinte LAMPRECHT, daß infolge des Aufhörens der östlichen Kolonisation und der Stockung der Abwanderung in die Städte die Bevölkerung des platten Landes «reißend» zugenommen hätte, woraus sich dann bald beängstigende Folgen ergaben: Zerfall der alten Markgenossenschaften, Zersplitterung der Hufen, Aufkommen eines ländlichen Proletariats. Demgegenüber betonte schon SCHULZE, a.a.O., S. 169, daß er von einer großen Zersplitterung der Hufen in seinem Gebiet (zwischen Elbe und Saale) nichts erfahren hätte. Wohl aber wären häufig mehrere Hufen im Besitz eines Bauern vereinigt gewesen. Das gleiche trifft auch für andere Landschaften zu (vgl. unten S. 63). Weit umfassender und eindringlicher ist die Darstellung, die LAMPRECHT von der Notlage der deutschen Bauern im ausgehenden Mittelalter in der «Deutschen Geschichte», 5. Bd. (5. Aufl., Berlin 1921) gab. Doch auch hier führt er sie im wesentlichen auf «Übervölkerung» zurück. 159
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einzelnen Gebieten, die weder von Seuchen noch Kriegen noch der Agrarkrisis des ausgehenden Mittelalters sonderlich berührt wurden, abweichende Bewegungen einstellten. Doch solche Abweichungen bedeuten wenig gegenüber der allgemeineren Entwicklung, die sich von der südlichen Ostmark des Reiches über die Mutterlande bis in die Randgebiete des deutschen Volkstums im Nordosten verfolgen läßt. Es sei daran erinnert, daß in einer Zeit, als auch in Altdeutschland die Bevölkerung noch kräftig wuchs, viele Tausende deutscher Bauern, Bürger und Ritter in die Lande des Deutschen Rittersordens geströmt waren. Es ist noch nicht völlig geklärt, wann dieser Siedlerstrom versiegte, doch steht heute schon fest, daß die ältere Forschergeneration irrte, wenn sie in der Schlacht von Tannenberg die Wende sah. E R N S T MÜLLER 1 6 5 ) verlegte das Nachlassen der deutschen Einwanderung zurück an das Ende des 14. Jahrhunderts, andere Forscher setzten es um 1350 an 166 ), K A S I S K E 1 6 7 ) und HARMJANZ168) noch früher. Nach dem letztgenannten Autor, dessen Schlüsse sich am besten mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit decken, stockte die Einwanderung aus Altdeutschland bereits um 1330/50 völlig. Schon damals fehlten deutsche Siedler, was den Orden dazu nötigte, Masovier ins Land zu holen, die insbesondere in der großen Wildnis östlich der Alle-Deime-Linie angesetzt wurden. Und wenn auch noch viele Burgen, Dörfer und Städte neu angelegt wurden, so stellten sich doch schon vielerorts, wie etwa im Samland, Verfallserscheinungen ein 169 ), die sich nach 1410, wie allgemeiner bekannt ist, rasch vermehrten. Im Jahre 1419 waren bereits von den insgesamt 3 1 5 2 5 Hufen des Ordens 6561 oder 21 v. H. unbesetzt. 20 Jahre später (1437/38) lagen in Pommerellen 42 v.H., im Golluber Gebiet und in der Komturei Straßburg über die Hälfte, in der Komturei Schwetz wohl 80 v.H. der Ordenshufen wüst 170 ). Nun entsprach zwar nicht jeder unbesetzten Hufe der Zinsregister der Verlust einer bäuerlichen Familie oder Teilfamilie, doch lassen diese Ziffern keinen Zweifel an einem überaus starken Rückgang der Bevölkerung des Landes. L O T A R W E B E R schätzte die Einwohnerschaft des Landes für das Jahr 1410 auf 730000 Seelen, für das Jahr 1466 auf weniger als die Hälfte, und die folgenden Jahre brachten noch weitere Verminderung 171 ). Anders als die große Mehrzahl der Wüstungen im Altreich wurden die zerstörten und verlassenen Dörfer des Ordenslandes m i t nur wenigen Ausnahmen später wieder aufgebaut 1 7 2 ), und in den weitaus meisten Fällen wuchsen sich nicht einmal vorübergehend die «partiellen» Ortswüstungen zu «totalen» aus. Daraus folgerte schon MORTENSEN173), daß das endgültige Eingehen eines Dorfes gegenüber dem anhaltenden Rückgang der Bevölkerung «ein ganz
165 ) E. MÜLLER, Bevölkerungsgesch. u. Wanderungsforsch, in der Prov. Ostpreußen, in «Altpreuß. Forsch.», 13. Jg., 1936, S. 105 f. 168) v g l K. RIEL, Die Siedlungstätigkeit des Deutschen Ordens in Preußen in der Zeit von 1 4 1 0 - 1 4 6 6 , in: Altpreuß. Forsch., 14. Jg., 1937, S. 267. 1 6 7 ) K. KASISKE, Die Siedlungstätigkeit des Deutschen Ordens im östlichen Preußen bis 1410, zit. nach RIEL, a.a.O., S. 267. , 6 8 ) H. HARMJANZ, Ostpreußische Bauern, Königsberg i. Pr. 1938, S. 41. 169 ) H. MORTENSEN, Siedlungsgeographie des Samlandes, in «Forsch, z. deutsch. Landes- u. Volkskunde», 22. Bd., 1 9 1 9 - 2 4 , S. 334. 170 ) G. AUBIN, Zur Gesch. d. gutsherrl.-bäuerlichen Verhältn. in Ostpreußen, Leipzig 1911, S. 72 f. 171 ) L. WEBER, Preußen vor 500 Jahren, Danzig 1878, S. 124. 172 ) Nach WEBER, a.a.O., S. 318, sollen von den rund 1 4 0 0 Zinsdörfern, die der Deutsche Orden anlegte, k a u m 1 v. H. dauernd eingegangen sein. Doch gab es zumindest in Teilgebieten wohl m e h r totale Ortswüstungen, als WEBER anzunehmen geneigt war, vgl. P. GERMERSHAUSEN, Siedlungsentwicklung der preußischen Ä m t e r Holland, Liebstadt und Mohrungen v o m 13. bis z u m 17. Jahrhundert, in: Wiss. Beitr. z. Gesch. u. Landeskunde Ost-Mitteleuropas, 87, 1970. 173
) MORTENSEN, a . a . O . , S. 3 4 5 .
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Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
unwichtiger Vorgang» war, der nur den Abschluß einer langen Entwicklung darstellte, und weiter: daß die Zahl der Vollwüstungen «immer nur einen Anhalt für das Mindestmaß des Rückganges» ergäbe, «da wir annehmen dürfen, daß auch in anderen als in den völlig eingegangenen Dörfern ein Bevölkerungsrückgang stattgefunden hat. Wenn also beispielsweise in einem Gebiet zu einer Zeit ein Viertel der vorhandenen Siedlungen eingehen, so ist es sicher, daß auch in den anderen Dörfern ein sehr großer Bevölkerungsrückgang stattgefunden hat, so daß also der Gesamtrückgang weit über die Hälfte beträgt». Diese Annahme stellt das genaue Gegenstück zur Konzentrationstheorie dar, die für das Altreich so oft vertreten wurde. Sie kommt, wie gezeigt werden konnte, der wirklichen Entwicklung näher als jene Theorie, die behauptete, daß in denjenigen Dörfern, die die Wüstungsperiode überstanden, im Zuge des Wüstwerdens der Nachbarsiedlungen eine Bevölkerungszuwachs eingetreten wäre. Die Wanderungsbewegung zwischen ländlichen Siedlungen, an der es nicht fehlte, wurde weit überdeckt von dem Rückgang der Bevölkerung.
Im Westen und Norden Europas gab es den Irrweg nicht, den in Deutschland die Ballungstheoretiker beschritten. Dort wird seit langem der Bevölkerungsrückgang gesehen, der mit den Pesten und Seuchen des 14. Jahrhunderts, vielleicht auch schon mit den Mißernten um das Jahr 1315 einsetzte und bis in das 15. Jahrhundert dauerte. Aus England liegen die Berechnungen R U S S E L L ' S vor 174 ]. Sie bauen auf den post-mortem-Inquisitionen königlicher Beamter auf, die R U S S E L L instand setzten, Lebenserwartungs und Absterbetabellen der in England zwischen 1276 und 1450 Geborenen zu ermitteln. Im Verein mit anderen Nachrichten führten sie ihn zu dem Schluß, daß die Bevölkerung Englands von 3,8 Millionen im Jahre 1348 über 2,7 Millionen im Jahre 1360/61, 2,25 Millionen im Jahre 1374 auf etwa 2,1 Millionen um 1430 sank. R U S S E L L ' S Berechnungen, die zur historischen Bevölkerungsstatistik den wichtigsten Beitrag der letzten Jahrzehnte darstellen, wurden auf Grund ganz anderen Materials (Preise, Löhne, Renten, Bestand an besetzten Höfen etc.) von P O S T A N 1 7 5 ) im Grandzug bestätigt und dahin ergänzt, daß der Rückgang der englischen Bevölkerung «irgendwann in den ersten zwanzig Jahren» des 14. Jahrhunderts begann, um 1350 sich verstärkte und im 15. Jahrhundert unter heftigen Schwankungen in einen wenig prohonzierten, weder steigenden noch fallenden Trend auslief. Den Wendepunkt zur wiederansteigenden Bevölkerung schien P O S T A N um 1470 annehmen zu wollen (was sich mit den weiter unten folgenden Ermittlungen aus Deutschland bestens decken würde). Es erübrigt sich, noch weitere Länder ins Blickfeld zu ziehen. Das tat bereits HELL E I N E R in einer Studie, die Portugal, Spanien, Italien, die Schweiz, Frankreich, die Niederlande, Deutschland und England einbeschloß 176 ). Ein Urteil, zusammengefaßt für viele Länder, vermochte freilich auch er nicht abzugeben. Die Unterschiede zwischen den Ländern und in ihnen waren zu groß, die vorliegenden Nachrichten - aus Klöstern, Ratsherrengruppen, Städten, Landschaften - zu wenig repräsentativ und die vorhandenen Daten zu vereinzelt, um sie in Trendanalysen für längere Zeitabschnitte einzubringen. Doch meinte er, daß die von R U S S E L L für den ersten Durchzug der Pest in England nachgewiesenen Sterbefallziffern für den Kontinent wohl noch zu niedrig seien und - noch wichtiger - «its demographic aftermath was probably more serious than is generally realized» 177 ). Das kann von der Wüstungsforschung her nur bestätigt werden. Es gab Räume, wie in Teilen der Toskana und Niedersachsen, die langfristig 2 /3- 3 /4 der Bevölkerung verloren. Das war zwar gewiß
) J. C. RUSSELL, British Medieval Population, Albuquerque 1948. ) M. POSTAN, Some Economic Evidence of Declining Population in the Later Middle Ages, in: The Economic History Review, II, 1950, S. 245. 179 ) K. F. HELLEINER, The Population of Europe from the Black Death to the Eve of the Vital Revolution, in: The Cambridge Econom. Hist, of Europe, IV, 1967, S. 1 ff. 177 ) HELLEINER, a.a.O., S. 9. 174
175
I. Die Siedlungen
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nicht die Regel, darf aber auch nicht übersehen werden, wenn zum Bevölkerungsrückgang im spätmittelalterlichen Europa Stellung genommen wird. Zur Entwicklung deutscher Städte im Spätmittelalter Wiederholt schon wurde von Wüstungsforschern festgestellt, daß die Zahl der untergegangenen Dörfer in der Nähe der Städte besonders hoch ist. Einige Beispiele seien angeführt: Es haben «aufgesogen» Kalbe a. d. Saale 20 Dörfer, Burg 19, Barby 15, Quedlinburg und Großsalza je 13 178 ); im nordöstlichen Thüringen häufen sich die Wüstungen in der Nähe von Sangerhausen, Wallhausen, Kelbra, Querfurt 179 ); in der Mittelmark um Brandenburg, Treuenbrietzen, Beelitz, Rathenow 180 ); in Niederösterreich um Hainburg, Tulln und Wiener Neustadt 181 ). Diese Wüstungen, denen die Städte ihre ausgedehnten Feldmarken verdanken, lassen sich zum größten Teil als Begleiterscheinungen echter Ballung deuten, d. h. als Folge von Umsiedlungen in einer Landschaft, deren Gesamtbevölkerung wuchs. Sie fallen in die Zeit aufblühenden Städtewesens, als zahlreiche Orte, wie etwa Aachen, Köln und Trier, nicht nur dörfliche Vororte in ihre Befestigungen einbezogen - solche «Eingemeindungen» sind nach BESCHORNER182) nur «Scheinwüstungen» —, sondern auch durch Zuzug vom Lande schier täglich zunahmen 183 ). Zum Teil gaben die Dörfler ihre alten Behausungen wohl aus eigenem Antrieb auf, weil die Stadtmauern größere Sicherheit und die städtische Sozial- und Wirtschaftsverfassung breitere Entfaltungsmöglichkeiten boten als das flache Land; zum Teil wurden sie zur Ubersiedlung gezwungen, weil geistliche oder weltliche Stadtherren die Wirtschafts- und Wehrkraft ihrer Städte zu heben trachteten. Namen der Straßen, in denen sich die Neuankömmlinge niederließen, lang erhaltene Korporationen der ehemaligen Dorfgenossen, ja selbst Häuser, die von der aufgegebenen Siedlung in die Stadt überführt wurden 184 ), zeugen von solcher Umsiedlung in der Frühzeit städtischer Entwicklung, dem 11. bis beginnenden 14. Jahrhundert. Leider ist nicht immer mit genügender Sorgfalt die Zeit des Untergangs der Dörfer im Stadtfelde ermittelt worden. Einige Wüstungsforscher scheinen der Ansicht zuzuneigen, sie seien in der Wüstungsperiode, also in der Zeit von etwa Mitte des 14. bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts entstanden. Das dürfte für die große Mehrzahl der stadtnächsten Wüstungen nicht zutreffen; sie reichen in das 13., 12. und 11. Jahrhundert zurück, wie auch von GRUND, REISCHEL und einigen anderen Forschern betont wurde. Sie entstanden in einer Zeit, in der nicht nur die Städte wuchsen, sondern auch auf dem Lande aufs emsigste gerodet und viele Hunderte von Dörfern neu begründet wurden. Der Wüstungsprozeß erfaßte in dieser Periode neben den «Zufalls»- und «Katastrophenwüstungen», die zu keiner Zeit fehlen, die im engsten Einflußbereich der Städte gelegenen Dörfer, die in der T a t nur «eingemeindet» wurden, wenngleich dieser Vorgang damals noch vielfach mit einer Umsiedlung der Dörfler verknüpft war. Die Tatsache dieser Umsiedlung, also die Aufgabe der alten W o h n - und Wirtschafts-
17B
) REISCHEL, S a c h s e n , S. 2 6 2 .
J SCHLÜTER, Nordöstliches Thüringen, S. 213. 180 ) W . GLEY, Die Besiedlung der Mittelmark . . ., in: Forsch, z. Deutscht, der Ostmarken, Heft 1 , 1 9 2 6 , S. 117. 1S1 ) GRUND, Wiener Becken, S. 135. 182 ) H. BESCHORNER, Historische Geographie, in: Handb. d. geogr. Wiss., herausg. v. KENDE, 1914, S. 356. , 8 S ) So wird v o m Ende des 13. Jahrhunderts aus Bonn a. Rh. berichtet (B. KUSKE, Die rheinischen Städte, in: Gesch. der Rheinlande, II, 1922, S. 66). 184 ) In der Adelheidstraße in Quedlinburg hat noch im 19. Jahrhundert ein Haus gestanden, das vor Jahrhunderten von einem Hof der Wüstung Groß-Orden in die Stadt überführt wor179
d e n w a r (REISCHEL, S a c h s e n , S. 3 5 0 ) .
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• Erster Teil: der Wüstungsvorgang
gebäude berührt nicht das Wesen des Vorgangs und erklärt sich leicht aus der Bauart und -weise jener Zeit: die meisten Gebäude bestanden noch ausschließlich aus Holz und Lehm und stellten nicht Werte dar, die aufzugeben schwer fiel. - Da die Wüstungen des 11.-13. Jahrhunderts nicht den Gegenstand dieser Untersuchung bilden, sollte auf sie nur kurz hingewiesen werden. Eine der besten Monographien zu dem Problem der stadtnahen Wüstungen ist die Arbeit von U H L E M A N N über das Werden der Kleinstadt Taucha185. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, daß die drei wüsten Gemarkungen in der Umgebung von Taucha im 12. und 13. Jahrhundert entstanden sind, und zwar «nach Art einer planmäßigen Abwanderung und Konzentration in die nahe gelegene größere Stadt». Die Einwanderung aus dem näheren Stadtbereich setzte sich, wenn auch wohl abgeschwächt, nach der Mitte des 14. Jahrhunderts fort. Zugleich vergrößerte sich jedoch die Einwanderung aus der Ferne, die vordem nur geringe Bedeutung gehabt hatte. So blieb auch im späteren Mittelalter der Zuzug in die Städte bedeutend. In Frankfurt a. M. betrug die Zahl der neu ins Bürgerrecht aufgenommenen Fremden zwischen 1430 und 1500 insgesamt 6 2 5 2 , das sind im jährlichen Durchschnitt 48. In Hamburg wurden im Durchschnitt der Jahre 1 2 7 7 - 1 3 0 0 je 31 Personen eingebürgert, im Durchschnitt der Jahre 1 4 0 1 - 1 4 2 0 je 107, von 1 4 2 1 - 1 4 4 0 je 86, von 1 4 6 1 1480 je 74. In Quakenburg wanderten in den Jahren 1 4 6 2 - 1 4 9 3 je 74 Neubürger ein, in Dortmund in der Zeit von 1 2 9 5 - 1 3 5 0 je 23, in den Jahren 1 3 5 1 - 1 4 0 0 je 38. In der Rechtstadt Danzig wurden in den Jahren 1 3 7 0 - 1 3 7 9 je 192, in den folgenden Jahren durchweg noch über 160 Neubürger aufgenommen 186 ). Da neben solchen Einbürgerungsziffern auch noch manche andere Zeichen, wie etwa neu auftauchende Bürgernamen, auf ständige und bedeutende Einwanderung in die Städte schließen lassen, liegt es nicht ferne, von einem «Aufblühen der Städte» zu sprechen und von da aus die Agrarkrisentheorie, die hier vertreten wird, abzuwehren. Denn, so meinte auch T H E O D O R MAYER 1 8 7 ), unmöglich könnte durch Jahrhunderte hindurch das eine Glied der Volkswirtschaft, die Stadtwirtschaft, zu immer höherer Blüte gelangt sein, während das andere, die Landwirtschaft, verfiel. Aber wuchs denn wirklich^ die Einwohnerzahl der Städte? Das muß zumindest für Deutschland bestritten werden. Köln188), nächst Wien die größte deutsche Stadt des Spätmittelalters, zählte um die Mitte des Jahrhunderts etwa 35 000 Einwohner, nahm dann, wie schon SCHMOLLER feststellte, «erheblich» ab189) und erreichte erst um das Jahr 1574 wieder die Ziffer von etwa 37000 Bewohnern. Von den zwei oder drei Ostseestädten, die um das Jahr 1400 über 20000 Einwohner bargen, nahm Lübecks190) Bevölkerung im Laufe des 15. Jahrhunderts in geringem Umfang zu: sie wuchs von etwa 22300 am Ende des 14. Jahrhunderts auf etwa 23 700 am Ende des 15. Jahrhunderts. Die Bewohnerschaft Danzigs vermehrte sich nicht, wie aus dürftigen Unterlagen geschlossen wurde, von 18000 im Jahre 1416 auf 50000 im Jahre 1500191). WEBER, der den Trugschluß der älteren Rechnungen schon vor drei Menschenaltem aufdeckte, schloß aus 14.
185 )W. UHLEMANN, Taucha. Das Werden einer Kleinstadt auf flurgeschichtlicher Grundlage, in Obersächs. Heimatstudien, hrsg. v. R. KÖTZSCHKE, 2. Heft, Crimmitschau 1924. Zusammenfassend, aber leider nicht zwischen hohem und spätem Mittelalter unterscheidend, jetzt H. FISCHER, Die Siedlungsverlegung im Zeitalter der Stadtbildung, in Wiener Rechtsgesch. Arbeiten, Bd. 1, Wien 1952. 186) Die Ziffern finden sich zusammengestellt bei KULISCHER, Allgem. Wirtschaftsgesch., I, S. 170, und bei E. KEYSER, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands, 1938, S. 207 f. 187) TH. MAYER, Deutsche Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters, 1928, S. 110 f. 188) R. BANCK, Die Bevölkerungszahl der Stadt Köln in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh., in: Beiträge zur Gesch. vorn. Kölns und der Rheinlande, 1895, S. 330. 189) G. SCHMOLLER, Deutsches Städtewesen in älterer Zeit, 1922, S. 65. 19°) REISNER, Die Einwohnerzahl deutscher Städte in früheren Jahrhunderten. Mit bes. Berücksichtigung Lübecks. 1903, passim. 191) JASTROW, Die Volkszahl deutscher Städte des Mittelalters, 1886, S. 106 f.
I. Die Siedlungen
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mancherlei Nachrichten - so auch aus der Tatsache, daß die rund 5000 Einwohner der zerstörten Jungstadt in der Recht- und Altstadt Aufnahme finden konnten - , daß die Bevölkerung der drei Städte Danzig von etwa 30000 Seelen zu Beginn auf rund 25000 um die Mitte des 15. Jahrhunderts abnahm 192 ). Die Einwohnerzahl Hamburgs soll nach den Berechnungen LAURENTS193), die auf den im Jahre 1842 verbrannten hamburgischen Bürgerbücher aufbauten, von 22000 im Jahre 1419 auf 12000 im Jahre 1526 gesunken sein. Vermutlich sind beide Ziffern zu hoch gegriffen, doch wird davon ihr Verhältnis zueinander nicht berührt, da beide Zahlen nach dem gleichen Verfahren gewonnen wurden. Von den binnenländischen Großstädten des hohen Mittelalters (20000 Einwohner und darüber) erreichten Straßburg und Soest ihre höchste Blüte im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert194),- Ziffern zur Bevölkerungsbewegung sind nicht bekannt geworden. Auch für Magdeburg, wohl bis zur Zerstörung durch Tilly die größte Binnenstadt Norddeutschlands, sind Berechnungen der Bevölkerungsbewegung nicht durchgeführt worden,- die Chronisten berichten, daß an der Pest des Jahres 1450 8 000 Menschen, ein Drittel der Einwohnerschaft, starben 195 ). Worms und Speyer waren im Verfall: Worms hatte um 1300 noch etwa 20000 Einwohner besessen, zwei Jahrhunderte später zählte es weniger als die Hälfte (6000- 8000); Speyer hatte um 1300 mindestens 25000 Bewohner beherbergt, um 1500 barg die Stadt nur 7 0 0 0 - 1 0 0 0 0 Menschen in ihren Mauern 196 ). Die Einwohnerschaft von Ulm 197 ) hielt sich zwischen 1427 und 1499 auf annähernd gleicher Höhe (20000). Regensburg198), im 11. und 12. Jahrhundert die größte Stadt Süddeutschlands, zählte um 1300 noch etwa 20000 Bewohner; inzwischen hatte Wien 199 ) die Stadt überflügelt, doch auch die Bevölkerung Wiens dürfte zumindest in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts kaum noch gewachsen sein. Nürnberg200) ging zwischen 1400 und 1450 wahrscheinlich, zwischen 1431 (etwa 22 797 Bewohner) und 1449 (etwa 20211) nachweislich zurück; ein neuer Aufschwung begann erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.
) L. WEBER, Preußen vor 500 Jahren, 1878, S. 212. ) G. STRAKOSCH-GRASSMANN, Die Volkszahl der deutschen Städte in Vergangenheit und Gegenwart, in: Neunter Jahresbericht des städt. K. Franz-Josephs-Realgymnasium in Kornneuburg, 1907, S. 30; vgl. auch H. FLAMM, Der wirtschaftliche Niedergang Freiburgs im Breisgau . . . , in: Volksw. Abhandl. der Bad. Hochsch., VIII, 3,1905, S. 37. 194 ) SCHMOLLER, a.a.O., S. 77. Straßburg hatte nach einer Zählung, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stattgefunden haben dürfte, rund 21000 Einwohner. Soest besaß im 14. Jahrhundert Verkaufsstände für je 75 Bäcker und Fleischer und für 33 Butterverkäufer 192 193
(STRAKOSCH-GRASSMANN, a . a . O . , S. 6 6 , 6 8 ) . 1 9 5 ) STRAKOSCH-GRASSMANN, a . a . O . , S. 4 4 .
196 ) H. BOOS, Gesch. d. rhein. Städtekultur, III, 2. Ausg., 1899, S. 43 f.; vgl. auch SCHMOLLER, a.a.O., S. 80 f. 197 ) C. A. KORNBECK, Ulmische Miscellen, in: Württemb. Vierteljahreshefte für Landesgesch., Jg. VIII, 1885, S. 73 f. 198
) STRAKOSCH-GRASSMANN, a . a . O . , S. 5 9 .
) Im Jahre 1369 befahl RUDOLF IV. den Wiederaufbau der durch Pest und Feuersbrünste verödeten Häuser und Hofstätten in Wien und den Wiener Vorstädten; er gewährte für Neubauten dreijährige Steuerfreiheit und verfügte, daß der Grundbesitz derjenigen, die binnen Jahr und Tag mit dem anbefohlenen Bau noch nicht begonnen hätten, ihm und der Stadt verfallen sollte. Gleichwohl sollen weder Bevölkerung noch Gewerbefleiß sich vermehrt haben (G. PROBSST, Die Stadt Wien, 1926, S. 30, 81). 200 ) C. OTT, Bevölkerungsstatistik der Stadt und Landschaft Nürnberg in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Berlin 1907, S. 47. OTT verweist weiter auf KERN, der im zweiten Bande der Städtechronik auf S. 27 durch indirekte Schlüsse zu der Uberzeugung kommt, daß die Einwohnerzahl Nürnbergs zu Anfang des 15. Jahrhunderts eine höhere als die vom Jahre 1449 war. Nach CELTIS soll Nürnberg bekanntlich am Ende des 15. Jahrhunderts 52000 Einwohner gehabt haben. Es besteht kein Zweifel, daß diese Ziffer wie so viele andere Angaben älterer Schriftsteller viel zu hoch gegriffen worden ist. Manche Zeichen deuten darauf hin, daß Nürnbergs Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wieder wuchs, aber die Zunahme war eine weit bescheidenere, als CELTIS - und manche neueren Autoren - versichern. 199
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Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
Von den Städten, die im 14. oder 15. Jahrhundert eine Bevölkerungszahl zwischen 10000 und 2 0 0 0 0 erreichten, zählte Augsburg 201 ) im Jahre 1364 5 176 Steuerzahler, im Jahre 1428 nur 4 1 0 6 und noch im Jahre 1475 nur 4485. Die Zahl der Wohnhäuser verringerte sich von 2 2 4 9 im Jahre 1364 auf 1 867 im Jahre 1408, um alsdann in langsamer Folge wieder zu steigen. Schwere Seuchen suchten die Stadt heim; die Pest des Jahres 1402 soll 4 6 0 0 Opfer gefordert haben, aus dem Jahre 1463 wird gar von 11 000 Todesfällen berichtet. Der nachhaltige Anstieg der Bevölkerungsziffer, der das folgende Jahrhundert überdauerte, begann erst im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. In Frankfurt a. M. 202 ) wurden im Jahre 1420 165 wüste Häuser gezählt, im Jahre 1428 schon 218 und 1463 gar 403; die Bevölkerung dürfte sich von 9 0 0 0 bis 10000 in den Jahren 1 3 8 0 - 8 9 auf 7 6 0 0 um 1500 verringert haben. Das «goldene» Mainz 203 ) barg um die Mitte des 15. Jahrhunderts nur etwa 5 750 Bewohner. Mühlhausen i. Th. 204 ) verlor von den etwa 9 0 7 5 Einwohnern, die es im Jahre 1418/19 besessen hatte, rund ein Zehntel bis zu den Jahren 1504/12 (8247). Nur Rostock 205 ) nimmt in der Gruppe dieser Großstädte «zweiter Ordnung» eine Sonderstellung ein; hier vermehrte sich gerade in den kritischen Jahrzehnten die Bevölkerung von etwa 11000 Seelen (im Jahre 1378) auf etwa 14 000 (im Jahre 1410).
Stärker wohl noch beeindruckt das Bild, das sich von der Bevölkerungsbewegung in den Städten zwischen 2 0 0 0 und 10000 Einwohnern gewinnen läßt. Freilich sind es nur 16 Orte für die Ziffern zur Hand liegen 206 ) - und mehr als 30 dürften sich selbst noch im Spätmittelalter in diese Größenklasse einreihen lassen - , doch ist die dominierende Tendenz so eindeutig und so ähnlich auch der Bevölkerungsbewegung in den größeren Städten, daß versucht werden kann, zu einem Gesamtergebnis zu gelangen. Es bezieht sich auf 29 Städte, für die zwei (oder mehr) Bevölkerungszahlen oder Zahlen der Bürger, Steuerzahler, Hausbesitzer, Häuser ermittelt werden konnten. Der Umrechnungsschlüssel, der es erlaubt, die letztgenannten Teilgruppen in Einwohnerzahlen umzurechnen, ist umstritten und sicher auch für die einzelnen Städte verschieden. Da es hier aber nicht auf die absolute Höhe der Bevölkerung ankommt, sondern nur auf die Bevölkerungsbewegung, genügt es, mit einem einheitlichen Schlüssel zu arbeiten; es sei die Ziffer 7 gewählt. Multipliziert man die Teilgruppen mit diesem 4 Faktor, addiert man ferner die Ziffern der Anfangs- und die der Endjahre, so erhält man für diese 29 Städte einen Bevölkerungsanfangsbestand von 334775 Seelen, einen Endbestand in Höhe von 270013 oder 81 v. H. Freilich stammen die Anfangsziffern der einzelnen Städte aus sehr verschiedenen Jahren (1300-1444), und das gleiche gilt für die Endziffern (1410 bis 1530); überdies ist die Zeitspanne, die von den Ziffern umschlossen wird, für die einzelnen Städte verschieden lang. Das Verfahren ist also gewiß schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt. Versucht man, die Rechnung dadurch zu verfeinern, daß in die Liste nur Städte aufgenommen werden, deren Anfangs- und Endziffern durch einen längeren Zeitraum voneinander getrennt sind oder ähnliche Zeitspannen überbrücken, so verschiebt sich jedoch das Bild nicht wesentlich. So dürfte doch trotz der Bedenken gegen das Verfahren der Schluß gerechtfertigt sein, daß von etwa 1 3 7 0 - 1 4 7 0 die städtische Bevölkerung Deutschlands in Orten mit mehr als 2 0 0 0 Einwohnern zwischen 15 und 20 v.H. abnahm. 201
) STRAKOSCH-GRASSMANN, a . a . O . , S. 3 .
202
J K . BÜCHER, D i e E n t s t e h u n g d e r V o l k s w . , I, 17. A u f l . , 1 9 2 6 , S. 4 0 0 ;
STRAKOSCH-GRASS-
MANN, a.a.O., S. 21. 20S ) Boos, a.a.O., S. 43. 204 ) A. VETTER, Bevölkerungsverhältnisse der ehem. Fr. Reichsstadt Mühlhausen in Th. im 15. und 16. Jahrhundert, in: Leipz. hist. Abhandl., XVII, 1910, S. 39. 205 ) PAASCHE, Die städtische Bevölkerung früherer Jahrhunderte, in: Jahrb. f. Nat. u. Stat., N. F. 5 , 1 8 8 2 . 206 ) Die Orte wurden in der 2. Aufl. dieses Buches (von 1955) genannt. Es sei hier darauf verzichtet, da die Entwicklung der städtischen Bevölkerung doch nur den Hintergrund für die Ausführungen zu den ländlichen Wüstungen bilden soll.
I. Die Siedlungen
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Die W a h l der Jahre 1370 u n d 1470 wird durch den U m s t a n d nahegelegt, daß sie die M i t t e der aus den einzelnen Städten vorliegenden Bevölkerungsanfangsziffern (Jahre 1300-1444) u n d Endziffern (Jahre 1410-1530) bilden, sowie auch der Verteilung der Anfangs- u n d Endjahre recht gut entsprechen. Da indessen, wie noch aus anderen Nachrichten zu zeigen sein wird, der Bevölkerungsrückgang vor 1370 einsetzte, darf gesagt werden, daß die deutschen Städte der Größenordnung von mehr als 2000 Einwohnern von der ersten Hälfte des 14. bis zur letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts m e h r als ein Fünftel ihrer Bewohnerschaft verloren. Die große Masse der mittelalterlichen Städte besaß weniger als 2000 Einwohner. Uber sie ist a m wenigsten bekannt. Es m a g sein, daß ein Teil dieser kleinen Orte durch Zuzug oder Geburtenüberschuß auch i m ausgehenden Mittelalter noch wuchs,andere aber, wie etwa die von G O T H E I N untersuchten kleinen Schwarzwaldstädte 207 ), teilten das Schicksal der größeren Städte u n d der Dörfer. Auch in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, in England u n d den nordischen Ländern n a h m e n n u r wenige Städte i m späten Mittelalter noch zu. Die größere Zahl erreichte den Bevölkerungshöhepunkt zwischen 1300 u n d 1350. D a n n stockte die Entwicklung, so daß die Bevölkerung der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erst im 16., in vielen Fällen erst im 18. Jahrhundert wieder erreicht wurde. Häufiger als von Erweiterungen des bebauten städtischen Raumes ist i m ausgehenden Mittelalter von Lücken i n m i t t e n von Wall u n d M a u e r n die Rede. Das Wort von den «partiellen Wüstungen», das f ü r die ländlichen Siedlungen gebraucht wird, ließe sich auch auf viele Städte ausdehnen 2 0 8 ).
207
) E. GOTHEIN, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes, I, 1892, S. 661. ) So urteilte K. HELLEINER, der als einer der ersten das Bevölkerungsgeschehen über Ländergrenzen hinweg im europäischen Raum verfolgte, bereits in einer frühen Arbeit: Europas Bevölkerung und Wirtschaft im späten Mittelalter, in: Mitt. d. Inst. f. österr. Gesch. Forsch., 62, 1954, S. 264 ff., später ergänzt durch weitere Nachrichten in: The Cambridge Econ. Hist. of Europe, IV, 1967, S. 1 ff. Für Deutschland sei nur noch auf das bekannte Werk von H. PLANITZ verwiesen: Die deutsche Stadt im Mittelalter, 1954, insb. S. 198 ff. Weitere Literaturangaben erübrigen sich, da die Entwicklung der städtischen Bevölkerung nur zum besseren Verständnis der ländlichen Siedlungs- und Wirtschaftsverhältnisse herangezogen wird. 208
II. Wandlungen der Bodennutzung Spezialkulturen, Vieh- und Teidiwirtschaft Die Nachrichten von der Bevölkerungsbewegung in deutschen Städten im ausgehenden Mittelalter lassen es angezeigt erscheinen, das Wort von einer «Blüte des spätmittelalterlichen Städtelebens» mit Vorsicht zu gebrauchen. Das Leben in den Städten entwickelte sich nicht voran; es verdorrte eher, um im Bilde zu bleiben, und das mußte sich verhängnisvoll auch auf die mit den Städten durch die Bande des Verkehrs verknüpfte Wirtschaft des flachen Landes auswirken. Das Zwischenglied im Wirkungszusammenhang bildeten Bedarfs- und Preisverschiebungen, die durch den Bevölkerungsschwund ausgelöst wurden und mit Vorrang den Getreidebau, die Grundlage europäischer Landwirtschaft ehedem wie noch jetzt, in eine schwere Krisis stürzten. Doch anders als das Leben in den Städten entwickelten sich Teile der städtischen Wirtschaft; ihre Blüte steht den Historikern vor Augen, die die spätmittelalterlichen Städte preisen. Man denkt an die Leistungen der Städte auf dem Gebiete des Bauwesens, an den Aufschwung von Handel und Gewerbe, an die Zunahme der bürgerlichen Vermögen und vielleicht - wenngleich leider viel seltener auch an die Steigerung der Löhne und lohnähnlichen Einkommen, die sich gerade im ausgehenden 14. und im 15. Jahrhundert durchsetzte. Das alles, so meint man wohl, kann unmöglich ohne Einfluß auf die Landwirtschaft geblieben sein. Und in der Tat, die Wirkungen blieben nicht aus, nur trafen die positiven Kraftströme lediglich die elastischer nachgefragten Erzeugnisse der Landwirtschaft: das waren neben einigen Handels- und Industriepflanzen, neben Wein und Obst auch Wolle, Fleisch und Fische. Anders als der Getreidebau erlebten diese Zweige der Landwirtschaft im ausgehenden Mittelalter in Deutschland - und zum Teil auch im Ausland - eine späte Blüt|. Der Weinbau erreichte im späteren Mittealter in den deutschen Landen eine größere Ausdehnung als je zuvor oder später1). Rheinabwärts breiteten sich Rebenanlagen bis nahe an die niederländischen Grenzen aus; im Sauerland und um Magdeburg pflanzte man Wein, um Münster wurden Rebenanlagen während der Wiedertäuferkämpfe vernichtet. Im Werra- und Fuldatal, um Frankfurt a. M. und in ganz Hessen bedeckte der Wein bedeutende Flächen,- am Rande des Harz, im thüringischen Hügelland, an den Ufern der Elbe und der Havel gewann man Wein. «Wo in trägen Windungen die bläuliche Havel dahinschleicht», so schrieb im Jahre 1508 der Brandenburger G E O R G SABINUS 2 ), «da liegt an ihren bewegten Wassern ein hoher Berg, sein Rücken, bis hinauf mit rankenden Reben bedeckt, läßt aus sandigem Boden süßen Wein quellen, so süß, wie er an den schäumenden Wogen des Rheins gedeiht und auf den fetten Fluren von Worms». Ob der Havelwein die Süße des Rheingauers erreichte, bleibe dahingestellt, doch Tatsache ist, daß bis nach Schleswig-Holstein hinauf und tief in den Osten hinein Wein angebaut wurde. Bei Elmshorn fand man beim Bau einer Eisenbahn (1843) «ganze Lagen wohlerhaltener Weinreben»; bei Itzehoe und Preetz gab es Weinkulturen 3 ). Längs der Weichsel und bei Osterode weisen die Ämterbücher des Deutschen Ritterordens zu Beginn des 15. Jahrhunderts mindestens 80 Weingärten aus, deren Erzeugnis nicht für zu schlecht gehalten wurde, *) Eine Karte der Verteilung der Weinbauorte in Deutschland während des Spätmittelalters wurde mitgeteilt in: W . ABEL, Geschichte der deutschen Landwirtschaft . . ., 3. Aufl., 1976, ebenda noch weitere Mitteilungen und Belege. 2 ) J. WIMMER, Geschichte des deutschen Bodens . . 1 9 0 5 , S. 263 f. 3) J. B. NORDHOPF, Der vormalige Weinbau in Norddeutschland, 1877.
II. Wandlungen der Bodennutzung
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um es (1394) dem Papst und dem König von England zu verehren. Diese Weingärten, so urteilte der ostpreußische Historiker WEBER4), warfen eine verhältnismäßig hohe Rente ab, da die Weinpreise im Verhältnis zu den Preisen des Ackerbaues und insbesondere des Getreidebaues hoch gewesen wären. Die gleiche Meinung vertrat für Niederösterreich der Wiener Geograph G R U N D 5 ) . Er wies nach, daß im Gegensatz zu den Ackerbauorten der Ebene die Weinorte sich in Niederösterreich zu Beginn des 16. Jahrhunderts in nur wenig geschädigtem Zustande befanden. Die Kirche, die jederzeit bemüht war, den Unterhalt der Geistlichen auf das beste sicherzustellen, fundierte im 15. Jahrhundert zahlreiche Pfründen auf Weingärten; auch der Wirtschaftsbetrieb der Klöster wurde in Niederösterreich vielfach auf den Weinbau umgestellt. Im südwestdeutschen Weinanbaugebiet soll sich der Weinbau in der spätmittelalterlichen Wüstungsperiode «geradezu in einer Hausse» befunden haben. Das verlautete auf einer Arbeitstagung der württembergischen Geschichts- und Altertumsvereine6). Die Weinpreise waren im Mittel der Jahre - bei heftigen Schwankungen - im Verhältnis zu den Getreidepreisen hoch; ein Morgen Weingarten kostete nicht selten das Vierfache eines Morgens Acker. Die Weinbaudörfer des Remstals wirkten im 15. Jahrhundert «geradezu als Menschensog»; ein einzelnes Dorf (Beutelsbach) wuchs im Verlauf des 15. Jahrhunderts auf das Dreifache seiner Häuserzahl an. Auch um Frankfurt a. M. dehnten sich (seit etwa 1380) die Rebenpflanzungen über einen großen Teil der städtischen Gemarkung aus, weil, wie ein Frankfurter Historiker, der Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge hatte, richtig urteilte7), infolge der niedrigen Getreidepreise der Acker seinen Mann nicht mehr ernährte und der Weinbau einträglicher war. Dem widerspricht nicht, daß im Jahre 1501 der Rat von Frankfurt verbot, ohne seine Erlaubnis noch weiter Äcker in Weingärten umzuwandeln, weil, wie er sagte, der Weinbau zu kostspielig und im Ertrag zu unsicher sei. Um die Wende zum 16. Jahrhundert näherte sich die Sonderkonjunktur des Weinbaues - und die Krisis des Getreidebaues - ihrem Ende. Es begann die Zeit, in der auch ohne behördliche Eingriffe vielerorts Weinland in Getreideland zurückverwandelt wurde, weil die Bevölkerung stark zunahm und in einem wachsenden Gemeinwesen Getreide dringlicher als Wein gebraucht wird8). Zum Wein gesellte sich das Obst. In der Gegend um Erfurt, deren Bewohner schon damals des «Heiligen Römischen Reiches Gärtner» genannt wurden, und besonders im Rheingau dehnte sich der Obstbau aus. Nach einem Bericht vom Ende des 14. Jahrhunderts, der am Ende des 15. von einem guten Kenner der rheinischen Landschaft kommentiert wurde, gediehen dort Nüsse, Äpfel, Kirschen, Birnen und viele andere Arten Obst wunderbar und warfen ihren Anbauern auch reichen Nutzen ab. «Das Volk der Landschaft ist reich und tapfer», so schrieb J. B U T Z B A C H in den Jahren 1496/7; «ich weiß einen Landmann, der in einem Jahr nur aus seinen Kirschen 30 Gulden auf dem Markt zu Mainz erlöste»9). 4
) L. WEBER, Preußen vor 500 Jahren, 1878, S. 239.
5
) G R U N D , a . a . O . , S. 1 0 8 ff.
) Protokoll der 30. Sitzung des Arbeitskreises für Landes- und Heimatgeschichte am 2. XII. 1967 in Stuttgart (Manuskr. S. 7, Ref. F. PIETSCH). 7 ) G. L. KRIEGK, Deutsches Bürgerthum im Mittelalter, 1868, S. 280 f. ; vgl. auch F. BODE, Geschichte der Stadt Frankfurt a. M., 3. Aufl., 1929, S. 93. 8 ) Belege für solche Rückverwandlung von Weinland in Ackerland, das wieder dem Getreidebau dienen sollte, und auch die gleiche Begründung, die oben für solche Rückverwandlung im 16. Jahrhundert gegeben wurde, finden sich bei G. LANDAU, Beitr. z. Gesch. d. Weinbaues in Alt-Hessen, in: Zeitschr. d. Ver. f. hess. Gesch. u. Landeskunde, 3, 1843, S. 190. 6
9
) D i e B e r i c h t e d e s BARTHOLOMEUS ANGELUS ( E n d e d e s 1 4 . J a h r h u n d e r t s ) u n d d e s JOHANNES
BUTZBACH aus den Jahren 1496/97 wurden im Auszug mitgeteilt von FR. OTTO, in: Annalen der Ver. f. Nassauische Altertumskunde und Geschichte, 17,1882, S. 11 f.
52
• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
Handelsgewächse und Industiiepflanzen, wie Hopfen, Ölpflanzen, Flachs und Hanf, Waid und Krapp, erfreuten sich im ausgehenden Mittelalter besonderer Pflege. Der Flachsbau, der im Moselland wohl schon im 12. und 13. Jahrhundert im Zuge der Verdichtung der Siedlungen abgenommen hatte 10 ), scheint im 15. Jahrhundert seinen Anteil an den Kulturflächen hier und da vermehrt zu haben 11 ). Waid drängte in Thüringen und besonders um Erfurt das Getreide zurück 12 ); der Anbau von Krapp, der das sehr geschätzte Türkischrot lieferte, nahm nachweislich um Speyer in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu 13 ). Es mag sein, daß solche Sonderkulturen auch ländliche Siedlungen stützten. Das wurde für Teile des Voralpenlandes mit der dort blühenden Leinen- und Barchendindustrie vermutet, doch bedarf dies wohl noch weiterer Studien. Denn auch den Intensivkulturen stellten sich viele Hemmungen in den Weg. Neben Kriegen, Fehden und den anderen Plagen, die im ausgehenden Mittelalter jede landwirtschaftliche Tätigkeit empfindlich störten, waren es bei jenen Kulturen insbesondere die beträchtlichen Schwankungen der Erträge und die hohen Sach- und Arbeitskosten, die bei nicht immer gleidi günstigen Erlöspreisen ihre Ausdehnung hinderten. Das erfährt man u. a. aus dem Bericht eines sächsischen Ritters vom Jahre 1474, der einen «Hopfengarten» besaß und hierzu schrieb14): Er hätte im Jahre 1474 an 100 Malter Hopfen geerntet, in schlechten Jahren dagegen nur 50, zuweilen kaum 30 Malter, die erbäten die Bebauer. «Auch muß ich», so fügte er hinzu, «wohl für 3 neue Schock Groschen Hopfenstangen kaufen und 3 neue Schock Groschen an Löhnen geben, den Hopfen an die Stangen zu weisen . . .» Auf die hohen Löhne der Zeit, die durch den Menschenmangel begründet waren, wird später noch ausführlich zurückzukommen sein. Sie hatten zur Folge, daß alle Sachmittel und Arbeitsleistungen, die nicht durch Frondienste gewonnen wurden, teuer bezahlt werden mußten. - In Bauernwirtschaften hatten solche Ausgaben zwar geringeres Gewicht, doch wurden die Erlösschwankungen nicht weniger stark verspürt. «Wenn der Hopfen gilt», so berichtete der Ritter von seinen Bauern, «dann kommen meine Bauern aus . . ., doch wenn er nicht gilt, so haben sie nichts und sind arme Leute.» Kräftigen Rückhalt an der Kaufkraft der Städter fanden auch animalische Produkte, wie Fleisch und Wolle. Die Höhe des Fleischverzehrs in den spätmittelalterlichen Städten übersteigt fast unsere Vorstellungskraft. Hunderte von Tieren wurden bei den Festlichkeiten der reichen Bürger verzehrt 1 5 ); zwei Fleischgerichte täglich - mit Ausnahme natürlich der Fastentage - pflegten auch den Arbeitern, Gesellen und Knechten in weiten Teilen Deutschlands im 15. Jahrhundert gereicht zu werden 10 ).
) LAMPRECHT, Deutsches Wirtschaftsleben . . . , I, S. 563. " ) So in Oberfranken nach WIMMER, a.a.O., S. 249. 12) TH. NEUBAUER, Wirtschaftsleben im mittelalterlichen Erfurt, I, in: Viertelj. f. Sozial- u. Wirtschaftsgesch., 12,1914, S. 527. 13) F. J. MONE, Zur Gesch. d. deutsch. Volkswirtschaft, in: Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins, 10,1859, S. 273. 1 4 ) SEIFFART von LÜTTICHAU auf Groß-Kmehlen in einem Bericht, der auszugsweise gebracht wurde von E. SCHULZE, Die Kolonisierung und Germanisierung der Gebiete zwischen Elbe und Saale, 1896, Beilagen S. 381. 15) Hier nur ein Beispiel: Auf der Hochzeit des Zinkenbläsers BARUCH mit der Tochter des Bäckers V E I T GUNDLINGER in Augsburg im Jahre 1493 wurden von den insgesamt eingeladenen 720 Personen in 8 Tagen verzehrt: 20 Ochsen, 49 Zicklein, 500 Stück Federvieh, 30 Hirsche, 15 Auerhähne, 46 gemästete Kälber, 900 Würste, 95 gemästete Schweine, 25 Pfauen, 1006 Gänse, 15 000 Hechte, Barben, Aale, Forellen und Krebse (A. SCHULTZ, Deutsches Leben im 14. und 15. Jahrh., Große Ausg., 1,1892, S. 270). ie ) Vgl. W. ABEL, Wandlungen des Fleischverbrauchs und der Fleischversorgung in Deutschland seit dem ausgehenden Mittelalter, in: Berichte über Landwirtschaft, 22, 1937, S. 414 f. 10
II. Wandlungen der Bodennutzung
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Dem entsprach die Ausdehnung der Schweine-, Schaf- und Rinderhaltung in den Städten und auf dem Lande. Die Schweine fanden in den Wäldern reichlich Nahrung, die Schafe und Rinder auf den Weiden, die sich im Spätmittelalter um die wüstgefallenen Gemarkungen und Äcker sehr vermehrt hatten. Im Moselland, wo schon seit dem 12. Jahrhundert unter dem anregenden Einfluß des deutschen Wollengewerbes die Schafhaltung kräftig zugenommen hatte, begann man bereits Zuchtböcke aus Gotland17) und England18) kommen zu lassen, um die heimischen Rassen zu verbessern. Im schwäbischen Raum entstanden Schäfereien, die Herden mit z.T. über 1000 Schafe umfaßten. Solche «Schafhöfe» hatten nicht etwa Bauern vertrieben, wie vielfach den zur gleichen Zeit entstehenden englischen Schaffarmen nachgesagt wurde. Sie entstanden auf den Fluren abgegangener oder stark reduzierter Siedlungen «als Reaktion der Herrschaft auf das vorausgegangene Wüstfallen einzelner Höfe oder ganzer Siedlungen»19). Noch auffälliger als die Ausweitung der Viehhaltung ist der Ausbau der Teichwirtschaft. Zwar gab es die künstlichen Teiche schon seit langem, doch im Spätmittelalter entstanden solche Teiche neu und in großer Zahl in einer breiten Zone, die sich von Böhmen, Polen, Schlesien über die Lausitz, die Oberpfalz, Franken, Württemberg bis nach Lothringen erstreckte, und in einer Art Sekundärzentrum in Holstein. Die Anlage der Teiche, die viel Arbeit erforderte, war nicht billig. Vom Kloster Michelsberg in Bamberg erfährt man, daß im fahre 1486 für die Herstellung eines Weihers, der 20 ha bedeckte, 2350 rheinische Goldgulden ausgegeben wurden, was einer Silbermenge von mehr als 61 kg feinen Silbers oder dem Gegenwert von 4000 Doppelzentnern Roggen entsprach. Aber die Bodenkosten entfielen weithin, da es an wüstgefallenen Äckern nicht mangelte, und die Erlöse waren hoch. Es heißt, daß der Bischof von Meißen eine Schuldenlast, die er bei seinem Amtsantritt im Jahre 1487 in der Höhe von über 21 000 rheinischen Gulden vorfand, durch die Einrichtung von Teichen und die Verwandlung von Busch und Wald in Wiesen und Weiden bis zu seinem Tode im Jahre 1518 völlig getilgt habe20). Man k^nn solche Entwicklungen nicht als späte Blüte «der Landwirtschaft» kennzeichnen. Gewiß mag es im Einzelfall schwierig sein, die Ursachen von Wüstungen und ihre Folgeerscheinungen auseinander zu halten. Es mag sein, daß hier und da nicht nur die ertragreicheren Sonderkulturen, sondern auch Vieh und Fisch das Getreide «verdrängten», doch die Regel war dies nicht. Die Regel war, daß für wüstgewordene Äcker eine andere Nutzung gesucht und gefunden wurde.
Deutsche Wirtschaftsgeschichte, I I I , 1 8 9 9 , S. 3 5 8 . v. G Ü L I C H , Geschichtl. Darstell, des Handels . . ., II, 1830, S. 161. 19) Um die Herausarbeitung dieser Stufenfolge der Entstehung der spätmittelalterlichen Großschäfereien in Südwestdeutschland hat sich besonders H. JÄNICHEN mit mehreren Arbeiten, die hier nicht im einzelnen zitiert werden können, verdient gemacht. Eine Zusammenfassung (mit Literaturangaben), ergänzt durch eigene Forschungen, findet sich bei H. GREES, Die Auswirkung von Wüstungsvorgängen auf die überdauernden Siedlungen, in: Beiträge zur Genese der Siedlungs- und Agrarlandschaft in Europa, Geogr. Zeitschr., Beiheft 18, 1968, S. 50 ff. Das oben im Wortlaut gebrachte Zitat wurde entnommen den Diskussionsbeiträgen auf der 30. Sitzung des Arbeitskreises für (württembergische) Landes- und Heimatgeschichte im Dezember 1967 in Stuttgart, Manuskr. S. 12. 2 0 ) H . HITZBLECK, Die Bedeutung des Fisches für die Ernährungswirtschaft Mitteleuropas in vorindustrieller Zeit unter besonderer Berücksichtigung Niedersachsens, Diss. Göttingen 1971, S. 11 ff., in dem Kapitel, das den Titel trägt: «Der Aufschwung der Fischereiwirtschaft im Spätmittelalter». 17
) INAMA-STEKNEGG,
18
J G.
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Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
Der Rüdegang des Getreidebaues Der Chronist des Zimmerngeschlechtes21) hielt «den Nachkommen zum Gedächtnis» fest, daß vor vielen Jahren das Dorf Engelswies ein mächtig und gut Dorf gewesen sei, doch «wie auch andere Dörfer mere, als Grubstetten, Reinstetten, Oberstetten und Haldenstetten (sämtlich bei Meßkirch im badischen Land) vor vil Jaren durch Krieg und sterbende Leuf also verwüstet und zergangen, daß derzeit nit mehr dann die vier Mauren der Kirchen sampt dem Vronaltar steen bliben, des Dorfs aber keine Vestigia mehr vorhanden gewesen». Die Freiherrn von Zimmern hätten die wüsten Plätze erworben, als alles überwachsen und eine solche Wildnis war, daß man einen Hirschplan und die beste Lust mit allerlei Waidwerk daselbst hatte. «Und dieweil aber», so fuhr der Chronist fort, «dozumal reuten und stocken nit im Prauch gewesen, hat der alt Herr (Werner von Zimmern) diese Wiltnus zu keinem Nutz richten, sondern das alles uf ain Widerlosung und ain tausendt Guldin Hauptguets verpfendet. Die und das ganz Territorium daselbs haben die Purger zu Möskirch mit irem Vieh beschlagen und nach irem Gefallen genutzt und genosen». Das ist die Nachricht eines Chronisten. Ihr sei der Bericht eines Siedlungshistorikers zur Seite gestellt, der auf archivalischen Funden und sauberer Feldarbeit aufbaut. Er bezieht sich auf das alte Amt Aerzen des Landkreises Hameln-Pyrmont im niedersächsischen Weserbergland mit 15 Gemarkungen und 26 Siedlungsplätzen (nach dem Stand des 17. Jahrhunderts). Dort lagen gegen Ende der Wüstungsperiode mit großer Wahrscheinlichkeit etwa 70 °/o der hochmittelalterlichen Äcker wüst 22 ). «Curia et agri in toto vacabant et fuit pascua pecorum». Dieser Satz eines Konstanzer Urbar vom Jahre 1383 23 ) ist das Leitwort einer Epoche, die zu den trübsten in der Geschichte der deutschen Landwirtschaft zählt. Wo niemand sich mehr fand, die verlassenen Felder zu bestellen, da bedeckten sich die Gründe mit Busch und Strauch, Heide, Kraut und Gras, das nur den Tieren noch Nahrung bot. Einige Belege aus niederösterreichischen Urbarien: Die Gemein zu Lessdorf von Sechzig Jauch Ackhern bräudhens zu einer Waid. Im Jahre 1441 heißt es von Tiefenthal: vicini in Tyemdorff (Diendorf) . . . serviunt . . . de curia desolata und ist nun ain Waid; 1459/62 wird von «aim paumgarten» gesprochen, der vordem ein Acker gewesen sei. Aus solchen und ähnlichen Nachrichten schloß schon GRUND24), daß in den meisten Fällen in den verlassenen Gebieten Wiesen und Hutweiden entstanden. Uber die Wüstungen des Nordthüringgaues urteilte HERTEL25) : «Zumeist wurden die wüsten Dorfmarken überhaupt nicht mehr bebaut, sondern wurden Weide». In der Altmark wurde z. B. die u m 1444 wüstgewordene Feldmark von Mildenhöft von dem benachbarten Dorf Zienau aus als Weide benutzt, wie aus einer Urkunde v o m Jahre 1487 hervorgeht, in der der Erzbischof von Magdeburg dem Kloster Neuendorf «5 Lübsche punth von der wüsten Dörpstede Mildehoueth, die die gemeyne des dorpes Synou von der weyde plegen zu geben», überließ. Die wüste Feldmark von Parchau wurde von den Bauern des benachbarten Zethlingen noch im 17. und 18. Jahrhundert als
21
)
GRAF FROBEN v .
ZIMMERN. E r v e r f a ß t e
die auch
für die Wirtschaftsgeschichte
nicht
unwichtige Chronik m i t Hilfe seines Sekretärs in den Jahren 1 5 6 4 - 6 6 , hier zitiert nach der v o n K. BARACK b e s . 2 . A u s g . , h s g . v . P. HERMANN, II, 1 9 3 1 , S. 4 4 2 . 22 ) H.-R. MARTEN, Die Entwicklung der Kulturlandschaft im alten A m t Aerzen des Landkreises Hameln-Pyrmont, in: Göttinger Geogr. AbhandL, 53, 1969, S. 61. 23 ) Urbar des Domkapitels Konstanz, Auszug bei F. J. MONE, Beitr. z. Gesch. d. Volksw. . . . , 1859, S. 111 f. Daselbst weitere Nachrichten von verlassenen Gütern am Oberrhein, die als Weiden benutzt wurden. 24 ) GRUND, a.a.O., S. 136. Vgl. auch A. BECKER, Die geogr. Wertung der Wüstungen, in: Mitt. d. Geogr. Gesellsch. in Wien, 77, 1934, S. 150, der auf folgende Nachricht verweist: Die Gründe des öden Dorfes Steinabrunn wurden 1565 «für ein waidt gebraucht». 25
) HERTEL, a . a . O . , S. X X X .
II. Wandlungen der Bodennutzung
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Weide gebraucht26). «Häufiger noch (als sie verholzten) vergrasten die Äcker» auch im Kreis Grafschaft Wernigerode, was unter anderem nachweisbar ist für die wüsten Dorfmarken Berdingerode, Südschauen, Thiderzingerode27). Aus den Gebieten zwischen Elbe und Saale stammen Nachrichten wie die folgenden: Die Leute fruchtigen ihre Güter nicht zur Hälfte, nur zum Drittel oder wenig; die Hufen liegen wüst, im Wildbann, in der Wildhatz; viele Hufen sind wüst und mit Heide bewachsen28). Nicht anders wurden in den brandenburgischen Kreisen Templin und Ruppin29) sowie in der ganzen Mittelmark30) viele Feldmarken als dürftige Hutungen genutzt. Ein Wüstungsforscher31) sieht gar die Hauptursache (!) für das Eingehen der Dörfer im «Übergang vom Ackerbau zur Viehwirtschaft», wobei freilich der Kausalzusammenhang auf den Kopf gestellt wird. Mit Recht schloß MORTENSEN32) aus dem Umstand, daß für wüstes Land auch im Samland oft nur geringer Zins gezahlt wurde, auf eine verhältnismäßig geringe Bewirtschaftung. Eine Nutzung der wüsten Ländereien nur als Viehweiden wollte er indessen nicht zugeben, da sie «infolge der damaligen Flurverfassung (Gemengelage, also sicher Flurzwang) nicht für wahrscheinlich» gelten könne. Die obigen Nachrichten zeigen zur Genüge, daß die Gemengelage der Felder und der Flurzwang kein ernstliches Hindernis für den Ubergang zur Weidewirtschaft bildeten, sofern die Verhältnisse sie erzwangen. Wurden ganze Gemarkungen wüst, so entfiel dies Hemmnis auch ohne weiteres. Wurden nur wenige Höfe in einem Dorfe leer, so konnten die verlassenen Felder natürlich unter Umständen in der alten Weise von den Nachbarn weiter bewirtschaftet werden. Reichte deren Arbeitskraft aber nicht hin und fand sich auch keine Hilfe, etwa in Gestalt eines «Ersatzmannes», so mußte ein Teil der Dorfgemarkung aus dem Bestellungsplan ausgeschieden werden. Da lag es nahe, daß die im Dorfe verbliebenen Bauern einen Feldertausch vornahmen derart, daß sie ungünstig gelegene oder weniger fruchtbare Parzellen aus dem eigenen Besitz gegen bessere aus dem Besitz der wüsten Höfe auswechselten und so einen Teil ihrer eigenen Felder wüst werden ließen. Die vielen Nachrichten über das von Bauern okkupierte Land deuten hierauf hin. Eine überraschende Bestätigung fanden die urkundlichen Nachrichten durch die Analyse von Pflanzenpollen in Mooren. Die Untersuchungen der in den Mooren befindlichen Pollen führten zunächst dazu, den Ablauf der nacheiszeitlichen Waldund Vegetationsgeschichte zu rekonstruieren, dann aber auch, seitdem der pollenanalytiscjie Nachweis des Getreideanbaues gelungen war ( F I R B A S 1937), den Gang der Besiedlung und den Ausbau des Landes im Hochmittelalter sowie die Abnahme der Kulturflächen und das Vordringen von Busch und Wald im Spätmittelalter zu verfolgen. Für den Oberharz sind solche Beziehungen erwiesen 33 ); für die Sudetengebirge34) und Teile des nordeuropäischen Flachlandes 35 ) wahrscheinlich gemacht. Aus dem Mecklenbruch im Solling gewann FIRBAS36) ein Diagramm, das er wie folgt deutete: 1. Beginn der geschlossenen Getreidekurve um 700 n. Chr. oder etwas früher,- Rodungen der Talböden der Tieflagen; Besiedlung der Gebirgsränder (-hausen = Siedlungen) zwischen 500-800 n. Chr. 26)
ZAHN, Wüstungen der Altmark, S. 142, 167.
")
JACOBS, a . a . O . , S. 10.
28)
SCHULZE, a . a . O . , S. 1 7 0 f.
29j
SORG, a.a.O., S. 23 f. 30 ) GLEY, M i t t e l m a r k , S. 117. 31)
BECKER, W e s t e r w a l d , S. 6 4 .
32j
MORTENSEN, a . a . O . , S. 3 4 2 .
33)
F. FIRBAS,
H. LOSERT und FR. BROIHAN, Untersuchungen zur jüngeren Vegetationsgeschichte im Oberharz, in: Planta, Arch. f. wiss. Botanik, 30, 1939, S. 433 f. 3 4 ) F. FIRBAS und H. LOSERT, Untersuchungen über die Entstehung der heutigen Waldstufen in den Sudeten, in: Planta, 36, S. 483. 35) H. SCHMITZ, Klima, Vegetation und Besiedlung, in: Archaeologica Geographica, Jg. 3, 1952, S. 17 f. 36) F. FIRBAS, Spät- und nacheiszeitliche Waldgeschichte Mitteleuropas nördlich der Alpen, 2. Bd.: Waldgeschichte der einzelnen Landschaften, Jena 1952, S. 79 ff.
5 Abel, Wüstungen
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
2. Erste große Rodungen der Gebirgswälder, Ausbreitung von Betula und Corylus in den Lichtungen, starker Abfall von Fagus, Zunahme von Quercus. - Entstehung der mit Ackerbau verbundenen «Hägersiedlungen» im inneren Solling vom 11.-13. Jahrhundert; in einem Umkreis von 10 km um das Mecklenbruch-Moor 16 solche Siedlungen. 3. Beschränkte Wiederausbreitung der Buchenwälder. - Rückgang der Besiedlung, Aufgabe der Bergdörfer, die zu Wüstungen werden, im 13.-15. Jahrhundert. 4. Neuerlicher Rückgang der Buchenwälder. Waldschutzverordnungen seit dem 16. Jahrhundert. Maximum der Getreidekurve um die Mitte und in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ähnliche Untersuchungen wurde von OVERBECK und G R I E Z im Roten der Hochfläche der Rhön ( 8 0 0 m) durchgeführt. Professor OVERBECK stellte Buch einen vereinfachten Auszug des Pollendiagramms zur Verfügung, ausgezeichneten Einblick in die Verknüpfung von Vegetations- und geschichte gewährt.
Moor auf für dieses der einen Siedlungs-
II. Wandlungen der Bodennutzung
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Zur Erläuterung des Diagramms führte OVERBECK aus: «Bei der Auswertung der in den Torfschichten fossil enthaltenen Pollenkörner ist zu beachten, daß diese zwar zum Teil der Moorvegetation selber entstammen, im wesentlichen aber aus der näheren und weiteren Umgebung herzugeweht sind. Indem also der Pollenniederschlag Jahr um Jahr von der emporwachsenden Mooroberfläche aufgenommen wird, ermöglicht seine schrittweise durchgeführte qualitative und quantitative Analyse in gewissen Grenzen eine Rekonstruktion der Vegetationsgeschichte. Hierzu dient das Pollendiagramm. Die Summe sämtlicher gezählter Waldbaumpollen wird dabei in jeder Probe gleich 100 gesetzt und der Prozentanteil der einzelnen Baumarten (oder Gattungen) auf der horizontalen Achse verzeichnet. Die Hasel wird hierbei aus guten Gründen gesondert auf die Summe der übrigen Holzarten bezogen,- das Gleiche gilt für alle Nichtbaumpollen." Das Diagramm selbst wurde von O V E R B E C K wie folgt beschrieben 37 ): «Spalte 1 enthält die Tiefenangaben für die Moorhorizonte. - In Spalte 2 sind als RFI-III Horizonte eingetragen, an denen sich jedesmal ein auffallender Wechsel von stärkerer zu schwächerer Torfzersetzung vollzieht, der als eine Folge von Klimaänderungen anzusehen ist. Hierbei entspricht RFIII dem «Grenzhorizont» nach C . A. W E B E R , der allgemein an die Wende von der Bronze- zur Eisenzeit (600 v. Chr.) gesetzt wird. Spalte 3 gibt die ungefähre Altersstellung der einzelnen Horizonte an. Diese Datierungen wurden zunächst unabhängig von den pollenanalytischen Befunden und ihren Verknüpfungen mit archivalischen Daten zur Siedlungsgeschichte errechnet und gründen sich lediglich auf die Mächtigkeit und Zersetzung der Torfschichten. - Der Verlauf der die Siedlung anzeigenden Pollenkurven (Spalte 4 Getreide, Spalte 5 Wegerich) stimmt nun aber so gut nicht nur mit den archivalischen Belegen, sondern auch mit der unabhängig errechneten Zeitskala überein, daß deren Richtigkeit kaum bezweifelt werden kann. - Die geschlossene Getreidepollenkurve beginnt etwa kurz vor 500; schon um diese Zeit müssen, und zwar wahrscheinlich nicht nur auf die Tieflagen beschränkt, Siedlungen bestanden haben. Sehr deutlich hebt sich dann durch stärkere Frequenz des Getreidepollens die historisch für die Zeit nach der Gründung des Klosters Fulda (744) belegte Periode bis etwa 1300 heraus, in der schließlich durch Rodung und Siedlung in größerem Umfang die Hohe Rhön erschlossen wird. Ebenso klar kommt durch den Rückgang der Getreidekurve die geschichtlich zwischen 1350 und 1500 nachgewiesene Wüstungsperiode zum Ausdruck. Ab 1500 macht sich ein neuer Vorstoß der Siedlungsanzeiger bemerkbar, bis nachfolgend der abermalige Siedlungsrückschlag während des 30jährigen Krieges im Diagramm bemerkbar wird. Hier tritt durch den Getreiderückgang offenbar die völlige Zerstörung und Aufgabe des Dorfes Mohr, das ganz nahe dem Roten Moor gelegen war, in Erscheinung. Spalte 6 und 7 geben den Verlauf der in diesem Zusammenhang wichtigsten Baumpollenkurven wieder. - In den höheren Lagen der Rhön herrscht der Buchenwald. Wenn von etwa 800 ab ein für lange Zeit ziemlich stetiger Rückgang der Buchenkurve zu verzeichnen ist, so ist das ein Ausdruck der allmählich größer werdenden Rodungsflächen und der Auflichtung der Walddecke, wobei zugleich die Lichtholzarten Birke und Hasel eine starke Ausbreitung erfahren. Interessant ist der Kurvenverlauf während der Wüstungsperiode von etwa 1350 bis 1500. In dieser Zeit breitet sich auf den Wüstungen und im licht geschlagenen Plenterwald die Birke als Pionierholz offenbar besonders rasch aus, und auch die lichtliebende Hasel gewinnt an weiterer Bedeutung. Schließlich muß es aber gegen Ende dieses rund 150 Jahre währen-
37) Diagramm und Text wurden von OVERBECK für die Leser dieses Buches angefertigt, wofür ihm auch an dieser Stelle gedankt sei. Die Gesamtergebnisse der Untersuchung sollten in der Zeitschrift Floia mitgeteilt werden (F. OVERBECK und I. G R I E Z , Mooruntersuchungen zur Rekurrenzflächenfrage und Siedlungsgeschichte in der Rhön).
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• Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
den Abschnittes in der Nähe des Moores zu einer Regeneration des Buchenhochwaldes gekommen sein, die zu einem ausgeprägten sekundären Buchen-Maximum führt, während Birke und Hasel unter der Schattendecke wieder zurückgegangen sind.» Soweit die Ausführungen OVERBECK'S. Zur Siedlungsgeschichte der Rhön sei noch hinzugefügt, daß für den Kreis Gersfeld 25, für die Kreise Fulda und Hünfeld 97 und 51 wüst gewordene Orte nachgewiesen werden konnten. Als um das Jahr 1500 Rodung und Siedlung wieder einsetzten, wurden viele der alten Wüstungen, wie Wüstensachsen, Seiferts, Thaiden, Batten, Wickers, Brand wiederbesiedelt, zum andern aber auch neue Orte gegründet, so Wildflecken («Waldflecken») 1534, Oberbach 1535, Sandberg (575 m) 1544 und Rommers (570 m) 1558. Das Pollendiagramm zeigt, daß Rückschläge und Wieder- oder Neugewinnungen im Siedlungsbereich von Rückschlägen und Wiederzunahme des Getreidebaues begleitet wurden. Und nun wieder einige Kurznachrichten aus dem Ausland: In Norwegen verminderte sich der Getreideanbau derart, daß trotz stark gesunkener Bevölkerung Getreide eingeführt werden mußte. Im Bezirk Voss östlich von Bergen beliefen sich die Getreideabgaben der Bauern im Jahre 1329 auf rd. 36 °/o, um das Jahr 1500 nur noch auf 12°/o ihrer Zins- und Schuldzahlungen; animalische Produkte hatten ihren Platz eingenommen. Für England liegen die Urteile POSTAN'S und BERESFORD'S vor. Aus den zahlreichen, in schon über 500 Fällen ausgewerteten Gutsrollen des ausgehenden 14. und des 15. Jahrhunderts geht eindeutig hervor, daß der Getreidebau abnahm und die Vieh-, besonders die Schafhaltung zunahm. Auf die Frage nach den Ursachen solchen Geschehens antwortete einige Jahrzehnte später J. HALES in den «Gesprächen über die in der Bevölkerung verbreiteten Klagen» (um 1549, vielleicht schon früher): «Die Ursachen hierfür sind darin zu sehen, daß die Weidewirtschaft geringe Kosten und geringe Arbeit verursacht, während diese beim Ackerbau dem Besitzer einen großen Teil seines Verdienstes verzehren . . . Während alles, was durch Weidewirtschaft erzeugt wird, zum höchsten Preis verkauft werden kann, verhält es sich mit den Dingen, die durch Ackerwirtschaft produziert werden, genau umgekehrt. Denn diese erfordert einen großen Aufwand von Dienstleuten und Arbeit; sie bringt, wenn das Korn einigermaßen billig ist, kaum die Unkosten ein . . . Und das veranlaßt eben jedermann, den Ackerbau aufzugeben und sich der Weidewirtschaft zuzuwenden.»
E2S3 Freie Wirtschaft und Gärtnerei
^ m
H I N FruchtwechselWirtschaft stärkerer Hackfruchtbau
Forstwirtschaft
[ZZ]
Koppelwirtschaft Dreifelder-" Weidewirtschaft FelagrasWirtschaft Wirtschaft reiner Getreidebau
Abbildung 4
II. Wandlungen der Bodennutzung
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Einer der ersten Nationalökonomen, der dem Einfluß der Preise auf Ackerbau und Viehhaltung nachging, war JOHANN H E I N R I C H VON T H Ü N E N ( 1 7 8 3 - 1 8 5 0 ) . In seinem Werk «Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft und Nationalökonomie» findet sich eine Darstellung, die mit einigen Abstrichen auf die Verhältnisse des ausgehenden Mittelalters zutrifft. Er zeigt, wie unter dem Einfluß sinkender Preise des Getreides die Fläche der intensiven, arbeits- und kapitalaufwendigen Betriebssysteme schrumpft und die Weide sich ausdehnt (Bild S. 58). Die Intensivstsysteme finden sich nur in ersten Ansätzen im späten Mittelalter (so in Flandern/Brabant, der Industrieecke des Kontinents). Die Koppelwirtschaft war noch nicht zu der geregelten Form fortgebildet, die T H Ü N E N kannte; die «Konkurrenz» der Betriebssysteme beschränkte sich also wesentlich auf die Dreifelderwirtschaft, einige Zwischenformen zur Weide und die reine Weidewirtschaft. Aber im Grundzug spiegelt doch T H Ü N E N ' S Konstruktion, was im späten Mittelalter geschah: Der Getreidebau schrumpfte und die Weidewirtschaft breitete sich aus (wobei hier noch dahingestellt bleiben mag, inwieweit die Preise daran Schuld trugen oder die Abgaben und Kosten des Landbaues oder der alles überschattende Bevölkerungsrückgang).
III. Wüste Fluren 1. Begriffe und der historische Befund «Wüst» und «Wüstung» in den deutschen Quellen Umfang und Bedeutung des Geschehens auf den Feldern wurde lange verkannt. Als die Wüstungsforschung einsetzte, glaubte man die Aufgabe der Untersuchungen erschöpft, wenn Zahl, Name und Lage, allenfalls noch Zeitpunkt und Ursache der Dorfwüstungen festgestellt worden waren. Die zahlreichen Nachrichten, die von wüsten Fluren künden, brauchten bei solcher Fragestellung nur insoweit ausgewertet zu werden, als sie Aufschlüsse über die Siedlungen gewährten, die den Fluren einstmals zugehörten. So kam es, daß viele Berichte über das Schicksal der Fluren unbeachtet blieben und sich eine falsche Auffassung vom Wüstungsvorgang einstellte, die in der folgenden Wüstungsdefinition wiederkehrt: «Von einer Wüstung sprechen wir dann, wenn irgendwo ein Hof oder Dorf, das früher besiedelt war, verödet, aufgelassen und vielfach ganz vom Erdboden verschwunden ist, während die Felder gewöhnlich von anderen Wirtschaften übernommen wurden»1). Mit Recht wies schon S C H A R L A U 2 ) darauf hin, daß der Ausdruck Wüstung in den Registern und Urkunden des späten Mittelalters, sofern er ohne Zusatz dasteht, sich in erster Linie auf die Fluren, nicht ohne weiteres auch auf die Siedlungen bezieht. Der Grund ist darin zu sehen, daß im Sozial- und Wirtschaftsbereiche des Dorfes die Gebäude dem Boden und nicht umgekehrt der Boden den Gebäuden dient. Nicht aus den Häusern, sondern aus der Nutzung der Gärten, Felder, Wiesen und Wälder zogen die Bauern und die Zins- sowie Zehntberechtigten ihren Lebensunterhalt. Da die Aufzeichnungen der letzteren die wichtigsten Quellen der Wüstungsforschung darstellen, so spricht schon die Vermutung dafür, daß die Bezeichnung Wüstung in der Regel - sofern nicht durch einen Zusatz ausdrücklich auf Gebäude verwiesen wird - sich zunächst nur für Ländereien versteht, von denen gesagt werden soll, daß sie entweder unbesetzt oder nicht mehr rechtmäßig besetzt oder auch außer Kultur gekommen, brachliegend, pfleglos, verwildert sind. Eine genauere Prüfung der schriftlichen Aufzeichnungen bestätigt dies. Es sei auf SCHARLAU verwiesen, der bereits die erforderlichen Belege brachte. Nur ergänzend sei mitgeteilt, daß in sächsischen Quellen der Begriff wüst in folgenden Zusammensetzungen auftritt: «Ist tot, das Gut ist wüst», «ist davongezogen, das Gut liegt wüste», «lebet zwar noch, das Gut aber ist wüste». Hier bezieht sich der Ausdruck wüst offensichtlich auf den Wirtschaftsbetrieb, während die Gebäude noch stehen mögen. Genauer noch wird der gleiche Tatbestand in folgender Weise umschrieben: Einige Güter seien zwar bewohnt, aber, weil weder Vieh noch Aussaat vorhanden, den wüsten gleich zu achten, und die Leute nur die blosse Herberge darinnen haben.
Ergänzend fügte M. B O R N hinzu 3 ), daß noch zwischen Wüstung und wüst zu unterscheiden sei. Der Ausdruck «Wüstung» beziehe sich in den Quellen des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit auf verlassene Orte oder größere Flurteile, bei denen eine Minderung der Steuerleistungen von Änderungen oder einem Unsicherwerden der Besitz- und Nutzungsrechte begleitet werde, während «wüst» Objekte meine, von denen nicht die vollen Steuerabgaben anfallen oder die sich in extensivierter Bewirtschaftung befinden, ohne daß es dadurch schon zu einer rechtswirksamen Änderung ') TH. MAYER, Deutsche Wirtschaftsgesch. d. Mittelalters, 1928, S. 111. 2 ) SCHARLAU, a.a.O., S. 6 f., siehe oben S. 4. ®) M. BORN, Wüstungen und Sozialbrache, in: Erdkunde, 22, 1968, S. 146 ff.
III. Wüste Fluren
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der Besitzverhältnisse in einem größeren Siedlungskomplex (Dorf oder Flur) gekommen sei. Auch dies dürfte zutreffen, doch ist wichtiger, daß in beiden Fällen eine besitz- (oder steuerrechtliche) Komponente des Begriffes und eine betriebs- (oder hauswirtschaftliche) zu unterscheiden ist. Beides kann zusammenfallen oder getrennt bleiben: Keinesfalls darf ohne weiteres angenommen werden, daß alle wüsten Ländereien vollständig verödet waren, wie die Bedeutung des Wortes wüst im heutigen Sprachgebrauch nahelegt 4 ). Am nächsten kommt diesem komplexen Wüstungsbegriff der nordische Begriff des 0degärd. Auch dieses Wort meint nicht vorweg und ohne weiteres einen Hof, der verlassen und verödet war, sondern eine Besitzeinheit, die nicht mehr als solche bestand, vielleicht in einer größeren Einheit aufgegangen, vielleicht auch ganz oder zum Teil verödet war, doch in jedem Fall durch ihre Veränderung auch die herrschaftlichen Einkünfte berührte 5 ). Die Ausdrücke «deserted villages» und «villages désertés» sind auf die Siedlungen bezogen, die zunächst wie auch in Deutschland - als Dauerwüstungen allein interessierten. Flurwüstungen kamen erst ins Blickfeld, als man auf die fossilen Äcker im Wald- und Buschland, in England auch im Weideland, aufmerksam wurde. Man begann diese Äcker zu vermessen und zu kartieren, wobei in Deutschland MORTENSEN und SCHARLAU Pionierdienste leisteten. Doch so wichtig diese Arbeiten auch für mancherlei Fragen sind (nach der Flurverfassung, der Art der Nutzung, der Form der Pflüge u.a.m.), konnten doch die wenigen noch erkennbaren Flurwüstungen weder das Ausmaß der wüst gefallenen Äcker aufweisen noch den Prozeß erhellen, der bis zur völligen Aufgabe der Nutzung führen konnte, aber nicht bis zu diesem Ende führen mußte. Ausmaß und Prozesse, Widerstände und begünstigende Umstände des Wüstwerdens von Fluren können nur in Verbindung von landschaftlich-anschaulicher und archivalischer Forschung gezeigt werden.
Besitzkonstanz und Besitzwechsel In einigen wenigen Fällen hatte der Untergang der Siedlung geringen Einfluß auf die rechtliche^ und wirtschaftlichen Verhältnisse der Fluren. Wanderte eine Gemeinde geschlossen in die nächste Ortschaft aus, so behielt sie ihre Felder, Weiden und Holzungen, bewirtschaftete sie weiter und sorgte auch vom neuen Wohnsitze aus für die Erfüllung der Gemeinschaftsaufgaben, die in alter Zeit der Dorfgemeinde oblagen. So mußte das Brachfeld abgesteckt und durch Zäune abgeschlossen werden, um dem weidenden Vieh den Ubertritt in die Kornfelder zu verwehren. Flurvergehen waren zu verhüten und zu bestrafen, und für die Wahrung der Grundstücks- und Gemarkungsgrenzen mußte eifriger noch als von der alten Siedlung aus gesorgt werden, da die größere Entfernung der neuen Wohnstätten von den Feldern und Weiden Ubergriffe der Nachbarn begünstigte. Die Erfüllung solcher Aufgaben oblag der Gesamtheit der in der alten Gemarkung berechtigten Bauern, die deshalb auch in der neuen Umgebung zusammenhielten, häufig in besonderen Straßen und Vierteln wohnten und in Recht, Sitten und Gebräuchen ihre Eigenheiten wahrten. Sie hatten einen Vorsteher, Bauermeister, Schulzen oder Bürgermeister, der gewählt oder nach festgelegter Reihenfolge aus dem Kreis der Genossen bestimmt oder vom Grundherrn eingesetzt wurde. Sie kamen von Zeit zu Zeit zur Beratung über alle die alte Gemarkung und ihre Gemeinde berührenden Angelegenheiten zum Bauernding oder Bauerngericht zusammen, an das sich wohl auch ein Essen oder Umtrunk schloß. Sie sorgten für Saat und Ernte, für Fruchtfolge, Weide und Holzeinschlag wie selbstän-
4 ) Nachdrücklich auch auf Grund seiner Quellen betont von H. HILDEBRANDT, Die spätmittelalterliche Wüstungsperiode und ihre Auswirkungen auf die Kulturlandschaft im Landkreis Hünfeld, in: Heimatkalender des Landkreises Hünfeld, 1971, S. 122. 5 ) H. BJORKVIK, Noreg, in: 0degärder og Ny Bosetning . . . , 1964, S. 37.
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Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
dige Gemeinden, die sie im Grunde trotz mancher Einschränkungen auch blieben. Solche «Wüstungsgemeinden", auch Erbschaften oder einfach Sondergemeinden genannt, lassen sich in einigen Städten und Dörfern bis in das 19. Jahrhundert, bis in die Zeit der Feldbereinigung und -Zusammenlegung nachweisen 6 ). Doch darf aus solchen Nachweisungen nicht geschlossen werden, daß «weitaus die meisten Wüstungen in der gleichen Weise wie vor der Verödung der zugehörigen Ortschaft bebaut wurden und nicht einmal eine Unterbrechung der Bestellung in den meisten Fällen eintrat» 7 ). Zu solchem Schluß reicht der Nachweis von Wüstungskommunen nicht hin. Dazu ist ihre Zahl im Verhältnis zu der Ziffer der insgesamt untergegangenen Siedlungen zu gering, und zum andern verbürgt selbst solch Fortbestand einer Bauemgemeinschaft noch nicht die Kontinuität des Besitzes und die gleiche Bewirtschaftung in den Jahren und Jahrzehnten des Untergangs der zugehörigen Siedlung. In einigen Dorfgemarkungen waren nachweislich trotz des Bestandes einer Rechtsgemeinschaft der Flurbesitzer die alten Felder im ausgehenden Mittelalter vergrast und verwildert, so daß die Korporation der Besitzer ursprünglich wohl nur die Aufgabe gehabt hatte, den Besitz zu wahren und vielleicht noch die Weideverhältnisse auf der wüsten Flur zu regeln 8 ). In anderen Gemarkungen war schon vor der Umsiedlung eine Verschiebung der Besitzverhältnisse und ein Rückgang des Ackerbaus eingetreten. Hufen waren frei geworden und von den Nachbarn mit übernommen worden9) oder unbesetzt geblieben. In solchen Fällen war es für die Bewohner der Nachbargemeinde ein Leichtes, in der wüsten Gemarkung Land zu erwerben und in die Rechtsgemeinschaft der Wüstungsbauern aufgenommen zu werden 10 ). Man verkennt die Eigenart solcher Wüstungsgemeinden, denkt man sie sich erwachsen nur aus den Bluts- und Freundschaftsbeziehungen der alten Dorfgenossen untereinander. Vielmehr gehörten der Genossenschaft alle diejenigen an, die Hufen in der wüsten Gemarkung besaßen, gleichgültig wie der Besitz erworben war. Entsprechend gab es soviele Genossenrechte, als Hufen vorhanden waren. Wurden Hufen geteilt, so traten die Besitzer entweder abwechselnd der Genossenschaft als Mitglied bei, oder sie ernannten aus ihrer Mitte jemand, der ihre Interessen in der Genossenschaft
") J. LAPPE, Die Wüstungen der Provinz Westfalen, Einl., S. 4 0 f. BESCHORNER, Wüstungsverzeichnisse, S. 1 0 f.; REISCHEL, Sachsen, S. 2 8 1 f. ; ZAHN, Altmark, S. 9 5 f. 7) So meinte LAPPE, Wüstungen der Provinz Westfalen, S. 2 2 f. LAPPE'S Buch ist trotz der großen Materialfülle, die es vor anderen auszeichnet, zu einseitig auf den Beweis vorgefaßter Meinungen ausgerichtet. Auf die Flurwüstungen wird kaum eingegangen, da sie in das Bild, das LAPPE von dem Wüstungsvorgang entwirft, sich nicht recht einfügen lassen. Das rügte schon WOPFNER in seiner Besprechung des Buches (Zeitschr. d. Savigny-Stift., German. Abt., 1916, 37, S. 590), wobei WOPFNER enschuldigend hinzufügte, daß LAPPE «bei dem gegenwärtigen Stand der Literatur auch außerstande» gewesen sei, sich mit dieser Art von Wüstungen, deren Zahl nicht unbedeutend gewesen sei, zu beschäftigen. 8) So dauerte z. B. das 1356 zuletzt erwähnte Kirchdorf Steinbruch (Kreis Grafschaft Wernigerrode) als Rechtsgemeinde noch im benachbarten Dorfe Drübek fort in Gestalt der Genossenschaft der «Herren vom Steinbruche», die noch im 18. Jahrhundert feierlich die Steinbrucher Fluren zu umziehen pflegte. Nachweislich waren die Steinbrucher Felder im 15. Jahrhundert zum Teil vergrast und verholzt und hatten höchstens als Weiden genutzt werden kön-
nen. (JACOBS, Wernigerode, S. 15, 70.)
9) Ein Beispiel nur für viele: Im später völlig eingegangenen Dorfe Elgau im Nordthüringgau besaßen 1397 «Gevehar, Ude, Claus fratres dicti Gutmann coniuncta manu IUI mansos in campo Elgaw et I curiam desertam ibidem» (HERTEL, Nordthüringgau, S. XXIX). 10) Vgl. z. B. ZAHN, Altmark, S. 95: Unter den «Ackerleuten des Kalbauischen Feldes», einer Wüstungsgenossenschaft in Tangermünde, befanden sich - nachweisbar freilich erst im 17. Jahrhundert - eine große Zahl reicher Tangermünder Patrizier, die unmöglich alle aus dem wüst gewordenen Deutsch-Kalbau stammen konnten. (Vgl. auch ebenda S. 47.)
III. Wüste Fluren
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wahrnahm 11 ). Der gemeinsame Besitz in der verlassenen Gemarkung hielt also diese Korporationen zusammen; die gleiche Herkunft der Erstbesitzer war nicht notwendig Voraussetzung, sondern, sofern sie überhaupt vorlag, nur ein Anlaß unter anderen zu ihrer Entstehung. Doch kam es überhaupt im Verhältnis zur Anzahl der eingegangenen Siedlungen in nur wenigen Fällen zur Bildung von Wüstungsgemeinden. Viel häufiger berichten die Zinsregister, daß Bauern der Nachbardörfer für Ländereien in der wüsten Gemarkung Zins zahlten, ohne daß die Pflichtigen durch andere Bande als jene, die sich aus der nachbarschaftlichen Nutzung und der gemeinsamen Grundherrschaft von selbst ergaben, zusammengehalten wurden. Auch in solchen Fällen mag es sich zum Teil um Altbesitzer gehandelt haben, die unter Wahrung ihrer Besitzrechte in die Nachbarorte übergesiedelt waren; noch näher liegt aber hier die Vermutung, daß die Besitzrechte durch Kauf, Tausch, Erbschaft, Belehnung oder einfache Okkupation von den Bewohnern der Nachbarorte erworben worden waren. So urteilte auch LAPPE, a.a.O., S. 69, anders REISCHEL, Sachsen, S. 298, der allein aus dem Umstand, daß Bauern umliegender Dörfer von wüsten Gemarkungen Zinsen zahlten, schloß, daß sie selbst oder ihre Vorfahren aus den wüsten Dörfern stammten. Das ist ein Schluß, der immer wieder in der Wüstungsliteratur gezogen wurde, obwohl die Tatsache der Zinszahlung über die Herkunft des Besitzers gar nichts aussagt, und auch die nahe Lage des neuen Hofes zu den Feldern, die mitunter zur Stütze der Theorie der Umsiedlung herangezogen wird, nur zu bedeuten braucht, daß der nächstwohnende Bauer im noch bewohnten Dorf einen natürlichen Vorsprung beim Erwerb des Landes hatte.
Mitunter vergrößerten sich die Höfe in den verbliebenen Dörfern um ein Vielfaches. So besaßen z. B. in 11 Barnim-Dörfern des Klosters Zinna (Mittelmark), deren Hofstellen bei der ersten Ansiedlung deutscher Bauern mit 2 und höchstens 3 Hufen ausgestattet worden sein dürften, im Jahre 1471 über die Hälfte der Höfe (145 von insgesamt 232) 4 Hufen und mehr: 84 Höfe waren auf 4 Hufen angewachsen, 33 Höfe auf 5, 15 Höfe auf 6, 8 Höfe auf 7, 3 Höfe auf 8, 1 Hof auf 9 und 1 Hof auf 10 Hufen 12 ). Im Samland saßen im Durchschnitt von 6 Kammerämtern um 1400 auf je 100 Hufen 84 Bauern, im Jahre 1536 nur 59. Die Hufe zu 15 ha angenommen, entfiel um 1400 auf eine Bauernstelle 18 ha, um 1536 dagegen im Durchschnitt 25 ha und in Einzelfällen natürlich weitaus mehr 13 ). Daß solche Vergrößerung der Stellen sich nicht immer auf streng legale Weise vollzog, bestätigt eine Untersuchung des Mainzer Erzstiftes in allen Ämtern des Eichsfeldes, die am Ende des 16. Jahrhunderts vorgenommen wurde. Sie ergab, daß neben den Gemeinden sich zahlreiche Einzelpersonen im Besitze von Liegenschaften und Weiderechten befanden, die sie selbst oder ihre Vorfahren einfach okkupiert hatten, nachdem die rechtmäßigen Besitzer abgezogen oder verstorben waren 14 ). Einen Wüstungskatalog in dreifacher Gliederung führte W. PRANGE15) vor. An Hand von Registern des Herzogtums Lauenburg zeigte er, daß Höfe, Dörfer und Fluren in ganz verschiedenem Umfang von dem Wüstungsprozeß betroffen wurden. « ) LAPPE, a . a . O . , S. 4 0 f. 12
) GLEY, a . a . O . , S. 8 0 f.
) MORTENSEN, a.a.O., S. 339. MORTENSEN machte auch darauf aufmerksam, daß eine U m siedlung der alten Besitzer in die Nachbardörfer schon deshalb nicht angenommen werden könnte, weil sich aus den Amtsrechnungen erkennen ließe, daß die Einwohner der benachbarten Dörfer in ihrem W o h n o r t ihr normales Bauernerbe hatten, während sie im anderen Falle in ihrem Wohnorte als besitzlos aufgeführt sein müßten. 14 ) MÜLLER, Frankenkolonisation, S. 68. Uber die Bedeutung der Wüstungen für die Entstehung der ostdeutschen Gutsbetriebe siehe unten S. 76. 15 ) W . PRANGE, Siedlungsgeschichte des Landes Lauenburg im Mittelalter, in: Quellen und Forsch, z. Gesch. Schleswig-Holsteins, 41, 1960, S. 338 ff. 13
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Erster Teil: Der Wüstungsvorgang
An der Spitze lagen, jeweils gemessen an der Gesamtzahl der Objekte, die verlassenen Höfe; es folgten die wüsten Orte und alsdann erst schlössen sich die wüsten Äcker an. Die Höfe wurden mithin größer. Es verschob sich die Mensch/Landrelation zugunsten der besessenen und bewirtschafteten Flächen. Vielleicht stiegen auch die Erträge je Einheit der eingesetzten Arbeitskräfte, doch ist dies nicht sicher, da sich auch die Möglichkeit, vielleicht Notwendigkeit einer extensiveren Bewirtschaftung der hinzugekommenen Areale anbot.
Extensivierungsprozesse Unter der Intensität des Landbaus versteht man die Aufwendungen von Arbeit und Kapital, die auf einer bestimmten Bodenfläche getätigt werden, unter Intensivierung ein Mehr, unter Extensivierung ein Weniger an solchen Aufwendungen auf der gleichen Bodenfläche. Das ist die Sprache der landwirtschaftlichen Betriebslehre. Man sollte sich auch in geschichtlichen Darstellungen an sie halten und nicht Erscheinungen des naturalen Aufwandes mit solchen des Nutzens oder der Rentabilität verwechseln, wie es im wüstungsgeschichtlichen Schrifttum geschah, als man daran zweifelte, ob die Ausbreitung der Weiden im Spätmittelalter oder gar des Waldes als Extensivierungserscheinungen zu bezeichnen seien. Wenn Vieh und Wald hier und da einen höheren Nutzen als der Getreidebau abwarfen, war dies durch die relativen Kosten und Erlöse bestimmt. Leider sind die Nachrichten über die Extensivierungsprozesse, die den Anfall wüster Fluren begleiteten, dürftig. Man kennt genauer nur die Endstationen der Prozesse, die Weide und den Wald, viel weniger die Zwischenstationen, die es sicher auch noch zwischen dem vollgenutzten Acker und der extensiv genutzten Weide gab. Man kann sie nur rekonstruieren und mit einigen Belegen versehen, etwa in der folgenden Weise: Voran steht in der Skala der Nutzungsarten die ununterbrochene Bewirtschaftung der Felder in der Form der Drei-, Zwei- oder Mehrfelderwirtschaft, wie sie, regional verschieden, landesüblich war. Das darf für einige Grundstücke wüster Höfe oder Gemarkungen unterstellt werden, die günstig zu den Höfen resistenter Siedlungen lagen. Aber solche Fälle dürfen nicht überschätzt werden; es mangelte im Spätmittelalter an Arbeitskräften und Geräten. Viel häufiger dürfte eine Bewirtschaftung in der Form der Feldgras- oder Ackerweidewirtschaft gewesen sein, wie sie in dem schon einmal zitierten Weistum Katzenbach vom Jahre 1499 aufscheint: «Wüste Felder, die man nennet Außenfelder, werden zum Teil in drei, vier oder zehn Jahren einmal gebauet» 16 ). In Norddeutschland klagte man noch um 1800 über «die durch die weiten Feldmarken sehr herabgekommene Kultur» 17 ); aus dem Landesteil Birkenfeld wurde gemeldet 18 ), daß noch vor anderthalb Jahrhunderten die Äcker wüstliegender Ortschaften von den Nachbargemeinden nur abschnittsweise zwei Jahre mit Getreide bestellt und dann als Brachweide liegengelassen wurden, zehn, zwölf, ja mitunter fünfzehn und zwanzig Jahre lang. Weit häufiger als im 18. Jahrhundert waren solche Feld- oder Brachweiden im Spätmittelalter. Das geht schon aus der Vielzahl der Bezeichnungen hervor, die man für sie hatte, Wild- oder Schiffelland an der Mosel, Bergland in Oberhessen (im Unterschied zum Bauland der Ebenen und niederen Hänge), im Spessart Wildfelder, in Niedersachsen Heideland,
16) GRIMM, Weistümer, V, S. 666, oben S. 27 bereits als deutsches Gegenstück zum schwedischen utjord angeführt. 17) A. Frh. v. HAXTHAUSEN, Uber die Agrarverfassung in Norddeutschland . . ., 1 8 2 9 , S. 1 6 1 . 1 8 ) W . MÜLLER-WILLE, Die Ackerfluren im Landesteil Birkenfeld und ihre Wandlungen seit dem 17. und 18. Jahrhundert, 1936, S. 59 f.
III. Wüste Fluren
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in Mecklenburg Butenland, in Norddeutschland Ledungen oder Außenland, das, wie berichtete 19 ) auf geringeren Böden nur in jedem sechsten, neunten oder zwölften Jahr Roggen trug. Aus dem Landkreis Hünfeld im hessischen Bergland erfährt man auch, wie Zeitgenossen solche Nutzungen sahen. Die Gelegenheit dazu ergab ein Streit um die Nutzung einer wüsten Gemarkung. KOPPE
Nach einem Prozeßprotokoll von 1537/38 20 ) hatte die Gemeinde Geismar bereits seit Menschengedenken in den angrenzenden Fluren von zwei Ortswüstungen Vieh gehütet. Eine in das Protokoll aufgenommene Zeugenaussage belegt dazu noch eine ungeregelte Ackerweidewirtschaft auf den umstrittenen Ländereien. Es heißt da: «Sagt er hab nicht Frucht daran gehabt, aber daran gehut und gesehen seyn Nachbur, nämlich (folgen Namen) daran eren (ackern) so lang, das die Ecker selbest nicht mer Frucht wollten, und hab gesehen mer dan einmal Weis, Haber und Dinckel heym füren".
Die nächste Stufe war die reine Weide. Sie ist so häufig belegt, daß sie wohl als die breiteste Stufe im Treppenabfall der Intensität des Landbaues anzusprechen ist, doch in vielen Fällen blieb es nicht einmal bei der Weide. Ein Beispiel hierfür: Das Dorf Ludolfshausen in der Südostecke des Göttinger Kreises, im 16. Jahrhundert wieder aufgebaut, war im 15. Jahrhundert vollkommen verödet. Ein Kloster, dem der Ort verpfändet war, nutzte die Gemarkung als Weide für Rinder und Schafe. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde aber auch der Viehauftrieb eingestellt, weil Wölfe und Wildschweine sich zu stark vermehrt hatten. Eine «dichte, große Holzung» bedeckte die Gemarkung. In diesem Fall hielt sich der Wald nicht lange. Der Ort wurde wieder aufgebaut. U m die Mitte des 16. Jahrhunderts fanden sich einige Bauern, die die Häuser wieder errichteten und Bäume und Büsche beseitigten. Doch in nicht wenigen Fällen blieb der Wald auch stehen und bedeckt noch heute die Spuren alten Ackerbaues. So breitete der Wald sich im Spätmittelalter aus. Leider fehlt es noch an einer Gesamtaufnahme der verwaldeten Kulturen in Deutschland. Man hat bisher nur Beispiele z u j Hand wie etwa diese: Im Diemel-Weserwinkel des Kreises Hofgeismar, wo der Wald am Ende des 13. Jahrhunderts bis auf die Kerne des heutigen Reinhardswaldes zurückgedrängt war, verdoppelte die Waldfläche ihr Areal zwischen den Jahren 1290 und 1430. Im Harzvorland konnten 5 100 ha mittelalterlichen Ackerlandes unter Wald nachgewiesen werden. Auch im südlichen Vorland der Rhön westlich von Kissingen, auf der fränkischen Gäufläche, in Thüringen, im Kreis Schaffhausen und in vielen anderen Landschaften erreichte der Wald zum anderen Mal ein Höchstmaß an Ausdehnung seit Beginn der großen Rodungen des Hochmittelalters. Auf Einzelbelege sei hier verzichtet. Eine zusammenfassende Darstellung brachte bereits H. JÄGER, Die Ausdehnung der Wälder in Mitteleuropa über offenes Siedlungsland, in: Géographie et Histoires Agraires, in: Actes du Colloque International . . ., Nançy, 1959, S. 300 ff.; DERS., Zur Entstehung der heutigen großen Forsten in Deutschland, in: Ber. z. dtsch. Landeskunde, 13, 1954, S. 156 ff. M a n darf sich freilich diese großen Waldflächen des Spätmittelalters nicht in der Art der geschlossenen Waldbestände späterer Zeit vorstellen. Es dürfte sich in vielen Fällen um «Mischzonen» von Wald und Weide gehandelt haben, die sich erst später schärfer gliederten. Darauf machte mit Recht H. MORTENSEN, Neue Beobachtungen über Wüstungs-Bandfluren und ihre Bedeutung für die mittelalterliche Kulturlandschaft, in: Ber. z. dtsch. Landeskunde, 10, 1951, S. 349 ff., aufmerksam.
19 ) J. G. KOPPE, Mitt. über die Gesch. d. Ackerbaues in Norddeutschland, bes. in Preußen im 18. und 19. Jahrhundert, 1860, S. 6 f. 20 ) H. HILDEBRANDT, Die spätmittelalterliche Wüstungsperiode und ihre Auswirkungen auf die Kulturlandschaft im Landkreis Hünfeld, in: Heimatkalender des Landkreises Hünfeld, 1971, S. 126.
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2. Anfall und Heimfall der wüsten Fluren Landflucht und Land sterben Wie Sterbefälle, insbesondere die großen Landsterben, auf die Orte wirkten, ist durch mündliche und schriftliche Uberlieferung vielfach festgehalten worden. Hier und da, wie etwa bei der Marienkapelle von Henningen im Kreise Gardelegen, kündet auch noch ein Massengrab von den Seuchen des ausgehenden Mittelalters 21 ). Beim Bau der Autobahn Berlin-Hannover stieß man auf ein Gräberfeld, das zu dem im Spätmittelalter wüstgewordenen Dorf Reckahn gehörte. Die Ausgrabung verriet «überstürzte Bestattungen», die der Berichterstatter wohl nicht zu Unrecht auf das «Große Sterben» von 1348/50 zurückführte 22 ). Auch dieser Fall sei noch notiert: In einer südtiroler Notariatsakte findet sich unter dem Jahr 1380 ein Eintrag, daß ein Bauer, Nikiein mit Namen, erklärte: «Nach dem großen Sterben kam er dahin (auf den Hof Planetsch) und fand niemand darinnen, nur eine alte Frau und ein kleines Kindel, ihren Enkel. Da er auch ein kleines Kindel hatte, verheirateten sie die Kinder miteinander und hielt er, Nikiein, den Hof an der Kindlein Statt inne» 23 ).
Die vielen Seuchen und Sterbefälle des Spätmittelalters lassen für die Vermutung geringen Raum, daß Bauernhöfe sich über viele Generationen in der gleichen Familie hielten. Man darf sich nicht allein auf Recht und Ordnung verlassen, die vielleicht den Besitzübergang im Erbwege stützten. Wenn kein Erbe vorhanden war, der den Hof übernehmen konnte (oder wollte), halfen weder Sitte noch Recht. Es gibt leider noch zu wenige Auswertungen von Hofübergängen im Spätmittelalter, aber auch das Wenige, das bereits vorliegt, spricht doch deutlich genug: In der Grundherrschaft des Klosters Murbach im Oberelsaß, deren Besitzungen sich von den Hochvogesen bis in die Iiiebene erstreckten, zeigte sich, daß in einem abgelegenen Gebirgsdorf von 32 berichteten Hofübergängen zwischen 1454 und 1495 6 an einen Inhaber gleichen Namens, \26 an einen Inhaber fremden Namens erfolgten. Auf den in der Ebene liegenden Bauernhöfen des Dinghofes Obereisheim hielten sich in den 14 Jahren von 1 4 4 7 - 1 4 6 1 nur 8 Familien; auf 5 Höfen tauchten fremde Namen auf. Zwischen 1461 und 1528, also in 67 Jahren, waren sämtliche in der ersten Aufzeichnung genannten Familien verschwunden. Werden auch noch spätere Zeiten miteinbeschlossen, so ergibt sich aus diesen bisher leider noch so seltenen statistischen Ermittlungen 24 ), daß die Zahl der Gutsübergänge an einen direkten männlichen Erben nur etwa ein Fünftel der Gesamtzahl der Ubergänge betrug. Doch waren es nicht nur die Sterbefälle, die die Höfe leerten. Auch die Abwanderung von Bauern und Bauernsöhnen wirkten mit. «Unsere Bauern, die zwei oder drei Söhne haben, behalten einen bei sich, die anderen schicken sie oder laufen nach ihrem Willen in die Städte zu den Bürgern, zu dienen oder lernen ein Handwerk», so klagten bereits damals die preußischen Stände 25 ).
21 ) G. REISCHEL, Die Wüstungen der Provinz Sachsen und des Freistaats Anhalt, in: Jahrb. d. Hist. Komm. f. d. Prov. Sachsen und für Anhalt, II, 1926, S. 347. 22 ) L. SCHOTT, Ergebnisse der anthropologischen Untersuchung des hochmittelalterlichen Skelettgräberfeldes von Reckahn, in: Zeitschr. f. Agrargesch. u. Agrarsoziologie, 15, 1967, S. 1. 23 ) G. FRANZ, Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes im Mittelalter, 1967, S. 483. 24 ) J. KÜHN, Das Bauerngut der alten Grundherrschaft, in: Leipziger Hist. Abh., 28, 1912, S. 41 ff. 25 ) H. STEFFEN, Beiträge z. Gesch. d. ländlichen Gesindes in Preußen am Ausgang des Mittelalters, Diss. Königsberg 1903, S. 177 f.
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Freizügigkeitsbescbränkungen im Spätmittelaltei So war es nicht zuletzt die Landflucht, die den Bestand der Dörfer gefährdete, und gegen sie, die menschlicher Einwirkung zugänglich war, richteten sich nun auch Abwehrmaßnahmen: Ein Kampf gegen die Landflucht begann, bei dem - vorübergehend oder auf lange Dauer - die Bauern in weiten Teilen Europas die Chance und das Recht der Freizügigkeit verloren. Lohnmaxima waren der harmlose Beginn (Frankreich, England, Tirol 1349 bis 1351). Einen Schritt weiter ging das englische Parlament, wo Höchstlöhne mit Zwangsarbeit für Müßiggänger verkoppelt wurden und die Übernahme gewerblicher Arbeit durch Leute vom Lande sowie die Entfernung vom Hofe ohne einen «Erlaubnisschein» des Grundherrn verboten wurde (1349/50, verschärft 1388). In Schweden konnten (seit 1442) kontraktbrüchige Bauern «mit Gewalt» zurückgeholt werden; in Norwegen wurde für alle, die auf dem Lande geboren waren, die Landarbeit zur Pflicht. In Teilen Dänemarks entwickelte sich aus solchem oder ähnlichem Beginn eine neue Art der Leibeigenschaft (vornedskap), und so geschah es auch im Osten Europas, wo nicht ohne Zusammenhang zur Wüstungsperiode, Erbuntertänigkeit oder wirkliche Knechtschaft die große Masse der Bauern an Scholle und Herrn band. Der Höhepunkt der osteuropäischen Bauernunterdrückung fällt zwar in eine spätere Zeit [16.-19. Jahrhundert), doch reichen die Anfänge bis in das späte Mittelalter - oder noch weiter - zurück. So verboten in Böhmen bereits Erlasse der Jahre 1453 und 1479 die Aufnahme flüchtender Bauern und seit 1485 mußten auch königliche Städte die Entlaufenen herausgeben. Von hier aus war es nur ein kleiner Schritt zur Schollenpflicht und Erbuntertänigkeit, die in Böhmen/Mähren wie im gesamten mittleren Osten zur Regel wurde. Im polnisch-russischen Raum schlug das größere Maß an Bindung in eine andere Rechtsfigur, die «Leibeigenschaft», um, doch reichen auch von der Knechtschaft des russischen Bauern noch gewisse, wenn auch dünne Fäden in das westliche Europa und in die Wüstungsperiode zurück. Freilich* sind die Fäden nicht nur dünn, sondern auch noch kaum entwirrt, denn noch haben sich nur wenige gefunden, die die emsige nationale Forschung der letzten Jahre zueinander in Beziehung gebracht hätten. Darum kann hier auch nur soviel gesagt werden, daß die entscheidenden Impulse zur Ausbildung der Erbuntertänigkeit im östlichen Deutschland und der Leibeigenschaft in Polen/Rußland in das 16. Jahrhundert, also eine Zeit ansteigender Agrarkonjunktur, wachsender Exporte, zunehmenden Binnenabsatzes fielen. Damals setzte sich die Gutsherrschaft durch, und auf die Gutsherrschaft und ihren Arbeitsbedarf wurde denn auch die Ausbildung der Erbuntertänigkeit in Deutschland sowie die Ausbildung der Leibeigenschaft in Polen/Rußland seit langem bezogen. Aber auch die Gutsherrschaft reicht über den okkupierten Boden - in die Wüstungsperiode zurück, so daß sich sogar eine doppelte Beziehung zur Wüstungsperiode ergäbe: über den Boden, der im späten Mittelalter anfiel, und über die Freiheitsbeschränkungen, die damals begannen. Das alles bedürfte jedoch noch genauerer Prüfung, wobei insbesondere auch die skandinavische und die neuere polnisch-russische Literatur (Grekow, Malowist u. a.) herangezogen werden sollte, um das bisher zu sehr in nationalem Rahmen gesehene Bild der spät- und nachmittelalterlichen «Agrarrevolution» (eine Revolution mit feudalem Vorzeichen!) abzurunden und zu vertiefen.
In Deutschland, dem Land der Mitte, kreuzten sich die Strömungen des westlichen und des östlichen Raumes. Ursprünglich hatte jeder Freie das Recht gehabt, ungehindert von Haus und Hof abzuziehen. In den Weistümern des späten Mittelalters klingt dieses Recht noch vielfach an. So bestimmte ein Taiding von Tattendorf [Niederösterreich um 1450 26 )]: «Ob ain armer mann auf den Grünten in abnemen kämb und den Grünt nimmer vermocht und sagt dem Richter auf, er sols aufnemen und 2a) Niederösterreichische Weistümer, herausg. v. WINTER, S. 401, zit. auch von GRUND, a.a.O., S. 132.
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darzue vom aigen pelaiten auf zwo Meil, widersagt im der Richter das, so nemb der armb Mann sein Hausslüssel und werf dem Richter über sein Thor in den Hof, er ist damit ledig.» Es wird auch wohl bestimmt, daß der Herr den Wegziehenden nicht nur ungehindert ziehen lassen, sondern auch behilflich sein sollte, «dem Man vort zu helfen, und dat umb seines getruwen Thiensts willen, he him gethan het, uff dass he sich do bass behelffen möge» 27 ). Eine noch ausführlichere Anweisung gibt das Weistum von Michelbach vom Jahre 151428): «Item on iemandts uss dem Dorff von Michelbach nit geblieben wolte oder kunte lind anders wohin zehen wolt, der soll viertzehn Tagen zuvor an seinen Grundhern bezalen, so er in etwas schuldigh were, und darnach in dem Dorff den Nachbarn desgleichen, und so er dan sein Gut geladen hait hinwegh zu fueren und sich begebe, dass er beliebt halten und ime begegnet seine Grundtherrn, so sali des Grundtherrn Knecht abstain von sinem Pferde und sali dem armen Man helfen, so er ime allein nit gehelfen kunne, sali der Grundtherr auch mit einem Beine abstaen und mit den andern Fuiss in dem Styechrep beliben ime helfen, und so ime geholfen ist, sali der Grundherr zu ime sprechen: Far hyn geleyde und komme über Jaire mit Gelück widerumb.» Doch werden im späten Mittelalter auch schon Versuche spürbar, den Abzug der «Landräumigen» zu erschweren. Bei manchen Erblehen wurden für den Abzug bereits Abgaben gefordert, die den Todfallgebühren gleichkamen; bei Zeitpachtgütern wurden für den Fall der vorzeitigen Aufgabe der Pacht schon hier und da Konventionalstrafen festgesetzt 29 ). Wollte der Inhaber hofhöriger Güter sein Hofgut aufgeben, so mußte die Erlaubnis der Grundherrschaft eingeholt werden, die in wachsendem Maße an erschwerende Bedingungen geknüpft wurde 30 ). Leibeigenen wurden förmliche Treueverpflichtungen abverlangt. In einigen bayerischen Klostergrundherrschaften verpflichtete sich der Aussteller einer solchen Urkunde, daß er und seine Familienangehörigen ihrer Eigenhörigkeit immer eingedenk sein, hinter dem Kloster sitzen und niemals in Städte oder Märkte abwandern wollten. Täten sie dies dennoch, so wären Strafen und Bußen, zumeist Geldbußen, fällig 31 ). Ähnliches geschah in Oberschwaben. In der Klostergrundherrschaft Schussenried verpflichteten sich während eines knappeil halben Jahrhunderts mehr als 300 Personen eidlich, sich, ihre Frauen und Kinder sowie ihre Güter dem Kloster nicht zu entfremden. Im Falle des Eidbruchs wurde der Einzug des Vermögens, die Enterbung der Kinder und den Nachbarn die Gesamthaftung für die Verpflichtungen des Flüchtigen angedroht 32 ). " ) Landrecht des Hofes Pronzfeld v. J. 1476 (GRIMM, Weistümer II, 558). 28 j GRIMM, Weistümer, V, 669. Ähnliche Weistumsstellen II, 548; II, 68 ; V, 443; VI, 378. Vgl. auch A. HAGELSTANGE, Süddeutsches Bauernleben im Mittelalter, 1898, S. 16 f., A. SCHULTZ, Deutsches Leben im 14. und 15. Jahrhundert, Große Ausg. I, 1892, S. 177 f. 2») MONE, Zur Gesch. der Volkswirtschaft. . ., 1859, S. 162. 30) HAGELSTANGE, a.a.O., S. 16 f. trug bereits Belegstellen hierfür aus G R I M M ' S Weistümeredition zusammen. Ergänzend sei auf eine Bestätigung der Tiroler Landesordnung über die Rechtsverhältnisse der Bauern und Handwerker durch Markgraf Ludwig von Brandenburg vom 9.1.1352 hingewiesen, in der geboten wurde, daß alle Bauleute bei ihren Höfen und Gütern, es seien Zinsgüter oder andere Güter, bleiben sollen. Ziehe ein Baumann von seines Herrn Gut ohne dessen Willen hinter einen andern Herrn oder in ein anderes Gericht, so möge der Herr, von dem der Baumann gezogen sei, seinem Baumann nachfahren und ihn von dem, hinter den er gefahren sei, zurückfordern. Folge dieser nicht der Forderung, so sei er zu 50 Pfund Berner Münze Poene verfallen . . . (G. FRANZ, Quellen zur Geschichte des Deutschen Bauernstandes im Mittelalter, 1967, S. 468). 31) G. KIRCHNER, Probleme der spätmittelalterlichen Klostergrundherrschaft in Bayern: Landflucht und bäuerliches Erbrecht in: Zeitschr. f. bayerische Landesgeschichte, 19, 1956, S. 1. ff. 32) Die Urkunden des Klosters Schussenried wurden von einer Saarbrücker Arbeitsgruppe unter Leitung von P. BLICKLE aufgearbeitet: Die spätmittelalterliche Leibeigenschaft in Oberschwaben, in: Zeitschr. f. Agrargesch. u. Agrarsoziologie, 22, 1974, S. 9 ff.
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«Der Tenor der Urkunden läßt keinen Zweifel daran, daß sich die Schussenrieder Bauern vor und nach 1386 - und möglicherweise noch über 1400 hinaus - scharenweise durch Flucht dem Kloster entzogen» (BLICKLE) . Später wurden die Lasten in Schussenried erleichtert. In einem Vertrag des Klosters Schussenried mit seiner Untertanenschaft im Jahre 1439 verzichtete das Kloster u. a. auf den Halbteil der Verlassenschaft eines Leibeigenen zugunsten einer bescheideneren Abgabe, des sog. Hauptrechtes, und einer einmaligen Abfindung an das Kloster in der Höhe eines halben Jahreszinses. Es zeigt sich auch in diesem Fall, daß das Verhalten der Herren (Grund-, Leibund Gerichtsherren) gegenüber ihren Bauern nicht auf einer Linie fixiert war. Es wechselte zwischen Straffung und Lockerung der Bindungen auch noch während der langanhaltenden Agrarkrisis des Spätmittelalters, wobei neben objektiven Umständen und Bedingungen auch sehr persönlich gefärbte Urteile über das Für und Wider bestimmter Maßnahmen in die Entscheidungen der Herren eingegangen sein dürften. Das war anders im deutschen Osten, wo sich aus bescheidenen Anfängen heraus eine immer stärker werdende Fesselung der Bauern entwickelte.
Auf Rügen war im 15. Jahrhundert die Freizügigkeit dadurch beschränkt, daß der Bauer der Herrschaft an seiner Statt einen ebenso tüchtigen «Wehrsmann» auf den Hof verschaffte 33 ). Ähnliche Bestimmungen gab es im Ordensland seit 1390 34 ). Sie erwuchsen wohl aus dem Gedanken, daß einem Rechte des Bauern auf dauernden Besitz seines Hofes auch die Verpflichtung zu seiner dauernden Bewirtschaftung entsprechen müsse, doch waren sie zunächst ohne große praktische Bedeutung, da es im Zeitalter der Kolonisation den Abzugswilligen nicht schwer fallen konnte, «aus der großen Menge, die Jahr für Jahr ins Land strömte, eine geeignete Persönlichkeit zu finden, die mit Freude bereit war, sich lieber auf eine schon in Kultur gebrachte Stelle zu setzen, als selbst mit Mühe den Wald zu roden und Neuland zu beackern» 35 ). Das änderte sich jedoch seit etwa der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert, als die Einwanderung versiegte und auch im Osten die Menschen knapp wurden. So ist es kein Zufall, daß die vordem wohl nur gewohnheitsrechtlich geltende Bestimmung im Jahre 1390 erstmals in einer Handfeste auftritt: Ein Bauer dürfe erst dann seinen Hof verlassen, wenn er - abgesehen natürlich von der Zahlung der Zinsrückstände seinen Acker und Hof mit einem anderen Bauern besetzt und damit seine Stelle in «währende Hand» gebracht habe. Wenige Jahrzehnte später wird diese, hier noch in einer einzelnen Urkunde auftretende Bestimmung von den «Ehrbarleuten» bereits als Landesgesetz gefordert und durchgesetzt. Doch immer noch blieb auch in Preußen der deutsche Bauer grundsätzlich frei. Die Landesordnungen der Jahre 1427, 1441, 1444 und 1445 bestimmten: «Wenn ein Bauer sein Erbe in währende Hände bringt zur rechten Zeit und zur Genüge und bezahlt seinem Herrn, was er schuldig (d. h. an Zinsen), so mag er ziehen, wohin er will.» Es wird zwar gesagt, daß der Bauer eines Abschiedsbriefes bedürfe, um von anderen Grundherren oder von den Städten aufgenommen werden zu können, doch stand dem Bauern gegen die willkürliche Zurückhaltung des Briefes der Weg der Klage offen. Erst die Landesordnung vom Jahre 1526 brachte (in der Auslegung A U B I N ' S ) die Schollenpflichtigkeit des männlichen Teiles der deutschen Bauernbevölkerung. Es fehlt in dieser Ordnung jeder Hinweis darauf, daß der Bauer nach Stellung eines Ersatzmannes frei von seiner Herrschaft scheiden könne. Sie spricht nur von einem 33 ) C. J. FUCHS, Der Untergang des Bauernstandes und das Aufkommen der Gutsherrschaften (Abh. aus d. Staatsw. Sem. Straßburg, H. 6), 1888, S. 51. 34 ) G. AUBIN, Zur Gesch. d. gutsherrl.-bäuerlichen Verhältn. in Ostpreußen . . Leipzig 1911, S. 86 f., 129; H. PLEHN, Zur Gesch. der Agrarverfassung von Ost- und Westpreußen, in: Forsch, z. Brand, u. Preuß. Gesch., 1904, Bd. 17, S. 383 f.; 1905, Bd. 18, S. 61 f. 35
) AUBIN, a . a . O . , S. 8 8 .
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Abschiedsbriefe, ohne den kein Bauer aufgenommen werden dürfe; unter welchen Voraussetzungen der Schein ausgestellt werden soll, wird nicht mehr gesagt, ist somit offenbar in das Belieben des Herrn gestellt. Zugleich verschärften sich die Strafen, die den, entlaufenen Bauern und Dienstboten drohten. Nach der Landesordnung von 1494 mußte ein entlaufener Bauer seinem Herrn ausgeliefert werden, der ihn aufhängen lassen konnte; ein flüchtiger Dienstbote sollte mit einem Ohr an den Schandpfahl genagelt und ihm ein Messer gegeben werden, damit er sich selbst abschnitte; kein Knecht durfte nach Ablauf seines Dienstverhältnisses länger als 14 Tage müßig gehen, sondern mußte eine neue Stelle annehmen. Darüber hinaus bestimmte die Landesordnung von 1503, daß ein Knecht oder eine Magd, die länger als 13 Tage nicht arbeiteten, verhaftet und ihrem Herrn überliefert werden sollten, der sie in Ketten legen oder ein Jahr umsonst dienen lassen konnte36). Aber auch dort, wo die Bauern noch das Recht der Freizügigkeit zu wahren imstande waren, sahen sie sich doch faktisch Beschränkungen unterworfen. Nicht ohne Grund wird in den Weistümern und Ordnungen des ausgehenden Mittelalters immer wieder gefordert, daß der Bauer seinen Zins- und Schatzverpflichtungen nachgekommen sein müßte, bevor er den Hof 'verlassen dürfte. Hatten sich die Verpflichtungen zu großen Rückständen gehäuft, so bedeutete dies eine Fessel, die schwerer zu lösen war als die rechtlichen Behinderungen der Freizügigkeit. In solchen Fällen blieb nur der Weg des «Entlaufens». Wenn in der symbolreichen Sprache des Mittelalters verlangt wird, daß der stadtsüchtige Bauer in aller Öffentlichkeit «sin Blunder uff laden» solle, daß er «die Tiechsel hinwertz [kehren solle), in welche Richsstatt oder Richshof er denn ziechen wil», daß er nicht heimlich, sondern «zu schonen Mittagh» abrücken solle 37 ), so spricht dies deutlich genug für die auch sonst belegbare Tatsache, daß auch der heimliche Fortzug von Haus und Hof noch ein Mittel - freilich ein letztes - war, um zur Stadt oder günstigeren Landbedingungen zu gelangen. Der Heimfall dei wüsten Fluren \
Nach altgermanischem Recht hatte die bäuerliche Genossenschaft einen Heimfallanspruch an den wüsten Äckern. Viele Sprichwörter zeugen von diesem Grundsatz: «Was in zehn Jahren nicht gedüngt ist, Busch und Berg, das soll gemeine Weide sein»; «Was sich auf dem gerotteten Feld von Bäumen über Strauches Höhe erhebt, wird wieder markmäßig»; wieder zur Allmende gehört der Boden, wenn der Busch so dick und stark herangewachsen, daß zwei Ochsen mit dem Pfluge das Gestrüpp nicht mehr niederzudrücken vermögen oder sich in dem neuen Walde aus dem Gesicht verlieren 38 ). Das bäuerliche Heimfallsrecht war nur die Ergänzung zu jenem anderen Rechtssatz gewesen, nach dem durch eigene Rodung Land zu Eigentum erworben werden konnte. Wie einst durch die Arbeit des ersten Umbruchs Wildland in Einzeleigentum überführt werden konnte, so mußte, um eigen zu bleiben, der Acker vor der Verwilderung geschützt werden. In den Weistümern des späten Mittelalters wird nur recht selten noch auf das altbäuerliche Heimfallsrecht verwiesen. Wenn dies geschieht, so bezweckt die Wei36) Hier zitiert nach F. L. CARSTEN, Die Entstehung Preußens, 1968, S. 92, der die Akten des Ständetages Preußens V, Nr. 1 4 2 / 4 3 (für 1494) und ebenda V, Nr. 168 (für 1503) heranzog. Vgl. als Beispiel für das Ersuchen um Auslieferung eines entflohenen adligen Bauern die Urkunde bei G. FRANZ, Quellen zur Gesch. des Deutschen Bauernstandes im Mittelalter, 1967, S. 5 7 8 . 37) Belegstellen bei HAGELSTANGE, a.a.O., S. 16 f. 38 j ED. GRAF, Deutsche Rechtssprichwörter, 1869, S. 71; J. GRIMM, Deutsche Rechtsaltertümer, 4. Ausg., II, 1899, S. 48; vgl. auch K. v. AMIRA, Grundr. d. germ. Rechts, 1913, 3. Aufl., S. 193 f.
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sung, Ansprüche der Grundherrschaft abzuwehren, die als Mitwerber um die Nutzung oder den Besitz der wüsten Fluren gefürchtet wurde: «Wir melden auch das», so heißt es im Weistum Gumpendorf [Niederösterreich 1435 39 )], «daz wir unser Viech aus und in treiben und halten süllen auf Gütern die ungepaut und öd ligent an alle Phentung.» Vielleicht erlaubten hier und da noch das Fehlen neuer Rechtsweisung, die Schwäche der Grundherrschaft oder innerherrschaftliche Zwistigkeiten, daß sich die bäuerlichen Genossenschaften der unbeschwerten Nutzung der wüsten Äcker erfreuten. Darauf deutet, daß in manchen Grund- und Landesherrschaften die Registrierung der wüsten Äcker und Höfe jahrzehnte-, ja jahrhundertelang hinausgezögert wurde 40 ); auch stritten sich nicht selten die angrenzenden Bauernschaften lange und erbittert um den Besitz der Wüstungen, ohne daß eine Herrschaft sich eingemischt zu haben scheint 41 ). Die Regel war dies jedoch nicht mehr. Den bäuerlichen Ansprüchen traten andere entgegen, die in dem Ritterwort zum Ausdruck gelangten: «Wenn das Holz reicht dem Ritter an den Sporn, hat der Bauer sein Recht verloren.» So ist auch das Recht der Wüstungen, das in den im späten Mittelalter aufgezeichneten Weistümern gewiesen wird, in erster Linie auf die Wahrung grundherrschaftlicher Belange ausgerichtet. Wüste Hufen und Äcker fallen an die Herrschaft zurück, so heißt es ringsum in Altdeutschland, und entsprechend bestimmen die neudeutschen Landesverordnungen: Wüste Höfe zu besetzen, mag sich die Herrschaft unterwinden. Einschränkend wird vielfach noch eine Frist gesetzt, ein halb bis ein Jahr in Preußen, bis zu drei Jahren in Altdeutschland; nach Ablauf dieser Zeit sollten weder der ehemalige Besitzer noch seine Erben Besitzrechte mehr geltend machen können. Hier einige Beispiele aus dem gewiesenen und geschriebenen Recht: «Ein gut, das ledig wirt von Absterbens wegen eines Hubers, mag sin Erben oder Nachkommen in Jarsfrist besetzen mit einem andern Huber, wo nit, so wer es dem Thumprobst verfallen, welches Gut aber ufgeben wirt, sol man in einem besetzen, oder es war auch verfallen» [Dinghof zu Wolfschwiler im Oberelsaß 143842]]; «Hat ein Lehnmann sein Gut nicht gebauet im dritten Jahr, da soll eine Wüstung sein» [Weistum zu Neef 165343)]. «All die Gueter die hie erblos werden sein der Herrschaft verfallen» [Taiding von Tattendorf in Niederösterreich 145044)]. «Ob ain Guet Wisen oder Äcker der Obrigkeit haimbföllig und öd oder sunst ligent gelassen und inner Jarsz Frist nit gestift oder erpauet wirdet, so mag sich die Obrigkait für sich selbst solliches Guets Wisen oder Acker underwinden» [Taiding von Zwölfäxing in Niederösterreich 156945)]. Die Preußische Landesordnung vom Jahre 1467 bestimmte46), daß die (Landes) Herrschaft oder jedermann sonst, der da wüste Hufen auf dem Lande hätte und nicht besetzen könnte, solche Erbe je eher wie besser, so als Recht ist, aufbieten lasse, und fährt fort: «So das geschehen ist, soll man solche wüste Hufen und Erbe denjenigen, die noch im Lande sind, noch ein halbes Jahr offen halten, und denjenigen, die außer Landes sind, ein ganzes Jahr; kommen sie dann nicht oder bringen sie sie sonst nicht in währende Hand, so mag sich dann die Herrschaft, unter denen die Erbe gelegen sind, unterwinden, sie zu besetzen.» ) Zit. nach G R U N D , a.a.O., S. 136. ) Vgl. das oben aus dem Eichsfeld gebrachte Beispiel auf S. 63. 41 j Vgl. HERTEL, Nordthüringgau, S. XXX; F. T H U D I C H U M , Rechtsgeschichte der Wetterau, I, 1867, S. 85 f. Die unter den altmärkischen Flurnamen häufig vorkommende Bezeichnung «Streitland» deutet noch auf solche Teile der wüsten Gemarkungen, um deren Besitz verschiedene Ortschaften gestritten haben (ZAHN, Wüstungen der Altmark, S. XXIV). 42) G R I M M , Weistümer, I, S. 650. 43 j G R I M M , Weistümer, II, S. 422. " ) G R U N D , a.a.O., S. 132. 45) G R U N D , a.a.O., S. 132. 4 B ) HANS PLEHN, Zur Gesch. d. Agrarverf. von Ost- und Westpreußen, in «Forsch z. Brand, und Pr. Gesch.», 1904, Bd. 17, S . 99. Vgl. zum Heimfallrecht auch LAMPRECHT, Deutsches Wirtschaftsleben . . ., I, S . 750; R I C H . SCHRÖDER, Lehrbuch der deutsch. Rechtsg., 7. Aufl., Berlin 1932, S. 456. 39
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6 Abel, W ü s t u n g e n
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Die Wandlung des Wüstungsrechtes, die sich im späten Mittelalter vollendete, war nur ein Teil einer allgemeineren Rechtsentwicklung, die in verschiedenen Bereichen der ländlichen Sozialverfassung alte Bauernrechte und -freiheiten, sofern sie für die Herrschaft Nutzungswert besaßen, einengte oder beseitigte. So häuften sich, um nur auf die nächstliegende Parallele zu weisen, im 15. Jahrhundert auch die Klagen über die Beeinträchtigung und Minderung des ursprünglichen Allmendlandes (« Man bannt ihnen die Wälder, man nimmt ihnen die Tagweide, da ist nirgends Gnade», heißt es in der Reformation des Kaisers Sigmund). Das geschah auch in anderen Ländern. Große Strecken Landes wurden in dieser Zeit in England von den Grundherren eingehegt, also aus der Gemengelage mit anderen Grundstücken herausgenommen und, soweit die Einhegung Allmendeland betraf, in Sondereigentum überführt. Das geschah zu dem Zwecke, Schafzuchtbetriebe aufzubauen, die damals größeren Nutzen versprachen als die Getreidewirtschaften kleiner und mittlerer Bauern. Auch in Deutschland stand das Schaf im Vordergrund mancher weitgreifender Pläne und Versuche, doch ging hier die Initiative zum Aufbau großer Schäfereien weniger von den großen Grundherren aus als von den kleinen Rittern des Ostens und von mittleren Klöstern, städtischen Bürgern und auch manchen Bauernschaften im Westen, wobei letztere für die Weidegründe, gleich ob es sich um altes Weideland oder neues Wüstland handelte, Zins und Abgaben an die Herrschaft zu zahlen hatten. Deutlicher als in England ist in Deutschland zu erkennen, daß der Ausbau der Viehwirtschaft von den Beteiligten nicht als Ideallösung empfunden wurde, sondern nur als Notbehelf, da anders das Allmendland sowie das massenhaft anfallende Wüstland nicht zu verwerten war. Denn «reuten und stocken» war in der Wüstungsperiode «nit im prauch» (Zimmerische Chronik). War ein Bauernhof wüst geworden, so fand sich nur schwer ein Mann, der es unternahm, die Gründe zu säubern, die Äcker in Kultur zu bringen und die Gebäude auszubessern oder gar neu zu errichten. So erklären sich auch die Versuche, Bauerngüter zwangsweise in «währender Hand» zu halten, sei es, daß die Herrschaft eine «Baiipflicht» des Besitzers konstruierte, sei es, daß beim Abzug des Bauern die Stellung eines Ersatzmannes gefordert wurde, sei es schließlich, daß der Genossenschaft der Bauern die Verpflichtung auferlegt wurde, für den Bau ledig gewordener Höfe Sorge zu tragen: «Ist ein Lehen lidig worden, das man nit buwet, so mag ein Probst die Huber und Hoflüt zwingen, das Gut zu buwen, und inn ein genügsamen Zinsmann und Lehnmann zu geben 47 ). Darum ist es auch falsch, die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters auf Willkürakte der Grundherren zurückzuführen. Eine «Abmeierung» der Bauern, wie sie im 16. Jahrhundert in Nordwestdeutschland üblich wurde, ein «Bauernlegen», wie es in Ostdeutschland in Brauch kam, lag im 14. und 15. Jahrhundert den Grund- und Landesherren fern. Noch galt das Kolonisationsprinzip. Zinsende Bauern waren nützlicher als leere Bauernhöfe, mittlere Siedlerstellen galten für erstrebenswerter als selbst die rentabelste aller Wirtschaftsformen des ausgehenden Mittelalters, die auf Vorwerken betriebene oder von Schäfern in Anteilswirtschaft durchgeführte Aufzucht, Haltung und Verwertung von Schafherden. Noch standen die Preise des Getreides zu niedrig für die Erweiterung der Getreideflächen. Noch gab es Boden im Uberfluß, noch waren die Menschen knapp und nicht das Land. Erst als die Bevölkerung wieder wuchs und die Getreidepreise anzogen, stellten sich die wichtigsten Voraussetzungen für den Aufbau jener Gutswirtschaften ein, die dem ostdeutschen Bauemland und Bauernstand zum Verhängnis wurden. 47) Fronhof zu Kotzheim im Oberelsaß 1510; G R I M M , Weistümer, I , S. 663. Zur Baupflicht vgl. auch G R I M M , a.a.O., S. 650, F. J. M O N E , Zur Gesch. d. Volksw., in Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins, 10. Bd., 1859, S. 162.
IV. Der Wiederaufbau
Bevölkerungszunahme, Rekultivierung und Neulandgewinnung Es ist unmöglich, auf das Jahrzehnt genau die Zeit anzugeben, in der sich in Deutschland oder auch nur in einzelnen Teilen des Reiches die Bevölkerungsbewegung wieder umkehrte. Schon in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts wurde hier und da wieder zu roden begonnen; vor dem großen Bauernkrieg nahm die Bevölkerung in Altdeutschland sichtbar zu, und wenige Jahre nach Beendigung des Aufstandes, der an die hunderttausend Menschen hinweggerafft haben soll, steckte Westdeutschland «schon wieder so voller Leute, daß niemand bei ihnen einkommen konnte» (SEB. F R A N C K ) . Schier auf den Bäumen, so meinte JOH. A V E N T I N U S , schienen damals die Leute zu wachsen, und der Chronist des Zimmerngeschlechtes schrieb um die Mitte des 16. Jahrhunderts, daß zu seiner Zeit sich das Volk in Schwaben wie auch in allen Landen so heftig gemehrt und zugenommen hätte, daß die Ländereien mehr denn in Menschengedächtnis aufgetan und schier kein Winkel, auch in den rauhesten Wäldern und höchsten Gebirgen, unausgereutet und unbewohnet blieb. Man erhält eine Vorstellung von dem Ausmaß der Bevölkerungszunahme, wenn man von BEHRE1) hört, daß sich in der Mark die ländliche Bevölkerung von rund 200000 Menschen in der Mitte des 16. Jahrhunderts auf etwa 2 4 0 0 0 0 - 3 0 0 0 0 0 um 1618 vermehrte, oder von W. DELIUS2), daß in 97 Dörfern des Saalekreises die Zahl der Hauswirte zwischen den Jahren 1563 und 1583 um rund 11 v.H. zunahm, oder von HOMBERG3), daß im oberen Sauerland die Zahl der Bewohner von etwa 12850 im Jahre 1536 auf 17500 im Jahre 1618, also um mehr als ein Drittel wuchs. Eine Arbeit, die viele Einzelstudien zusammenfaßt, legte ein Jenenser Forscher vor4). Der Darstellung ist zu entnehmen, daß in einem Gebiet von annähernd 100000 qkm mit 676» Städten und 14193 Dörfern die jährliche Zunahme der Bevölkerung im Durchschnitt der Jahre 1520/1530 0,71 °/o, um die Mitte des 16. Jahrhunderts 0,62