Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwäche: Bestandsaufnahme und Versuch einer begrifflichen Klärung [1 ed.] 9783428463459, 9783428063451


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German Pages 171 Year 1987

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Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwäche: Bestandsaufnahme und Versuch einer begrifflichen Klärung [1 ed.]
 9783428463459, 9783428063451

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Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 108

Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwäche Bestandsaufnahme und Versuch einer begrifflichen Klärung

Von

Gertrud Weinriefer

Duncker & Humblot · Berlin

GERTRUD WEINRIEFER

Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwäche

Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 108

Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwäche Bestandsaufnahme und Versuch einer begriftlichen Klänmg

Von Dr. Gertrud Weinriefer

Duncker & Humblot / Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Weinriefer, Gertrud: Die Entmündigung wegen Geisteskrankheit und Geistesschwäche : Bestandsaufnahme u. Versuch e. begriffi. Klärung / von Gertrud Weinriefer. - Berlin : Duncker u. Humblot, 1987 (Schriften zum Bürgerlichen Recht; Bd. 108) Zugl.: Kiel, Univ., Diss., 1986 ISBN 3-428-06345-7 NE:GT

Die Arbeit wurde am 30. April 1986 abgeschlossen.

Alle Rechte vorbehalten © 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Irma Grininger, Berlin 62 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-06345-7

Vorwort

Die vorliegende Schrift wurde von dem Fachbereich Rechtswissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Ich danke Herrn Prof. Dr. Henke, der dieses Thema angeregt und die Arbeit geduldig gefördert und begleitet hat. Seinem Rat folgend, habe ich versucht, Wesen und Bedeutung des Rechtsinstituts "Entmündigung" dadurch besser zu verstehen und anschaulich zu machen, daß ich Gespräche mit Entmündigten, mit Vormündern und Ärzten geführt habe. Darüber hinaus habe ich an mündlichen Verhandlungen über Entmündigungen teilgenommen und Verfahrensakten ausgewertet. Ich habe dabei tatkräftige Unterstützung erfahren, vor allem von Mitarbeitern des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Kiel, des Amtsgerichts Kiel und von Herrn Richter am Amtsgericht Pohlenz, der mir mit nüchtern-wägendem, auf langjährige Berufserfahrung gründendem Urteil zur Seite gestanden hat. Nach ihrem gesetzlichen Leitbild soll die Entmündigung vom rechtsgeschäftlichen Handeln ausschließen. Die vielen von ihr betroffenen Menschen erfahren einen weiterreichenden Ausschluß, den die geringe Bedeutung dieses Rechtsinstituts in der rechts wissenschaftlichen Literatur und in der obergerichtlicnen Rechtsprechung nur unterstreicht. Dem juristischen Blickfeld entzogen, bleibt die Entmündigung Psychiatern und Sozial behörden überlassen, die sie in den Dienst einer unbestimmten und rechtlicher Kontrolle schwer zugänglichen Fürsorge gestellt haben. Die Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, dazu beizutragen, daß die Entmündigung auch wieder zu einem juristischen Thema wird. Gertrud Weinriejer

Inhaltsverzeichnis Einleitung

17 Erster Teil

Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung und der Einfluß der Medizin A.

B.

20

Die rechtsgeschichtlichen Vorbilder ...............................

20

I. Code Civil und preußisches Allgemeines Landrecht ..............

20

11. Die gemeinrechtliche Lehre ..................................

21

1. Geisteszustand und (rechtsgeschäftliche) Handlungsfahigkeit ....

21

2. Die Vormundschaft als Schutz für die Handlungsunfähigen .....

22

3. Das Verfahren ......................... :................

24

4. Die cura prodigi: Rechtsfürsorge durch Rechtsentziehung ......

24

III. Der richterliche Akt der Rechtsentziehung als Voraussetzung der Vormundschaft ...............................................

25

1. Modernes Rechtsdenken und römisch-rechtliche Tradition ......

25

2. Die Übereinstimmung medizinischer und rechtlicher Begriffe

26

3. Der Wandel in der Medizin und sein Einfluß auf das Recht

26

Zivilprozeßordnung und Bürgerliches Gesetzbuch ...................

27

I. Das Entmündigungsverfahren: Die Rechtsentziehung rückt in den Vordergrund ..............................................

27

1. Die Beratungen .........................................

28

2. Versuch eines Ausgleichs zwischen Rechtsentziehung und Fürsorge

29

11. Die Voraussetzungen der Entmündigung nach § 6 I Nr. I BGB ....

30

1. Geisteskrankheit: Grund für die Entmündigung und Ursache der natürlichen Geschäftsunfähigkeit ...........................

30

2. Die Stellungnahme der medizinischen Sachverständigen ........

31

3. Der weitere Gang der Beratungen ..........................

32

a) Der Anfang einer Unklarheit: § 6 I Nr. I im Verhältnis zu § 104 Nr. 2 BGB...........................................

32

8

C.

Inhaltsverzeichnis b) Geistesschwäche als Entmündigungsgrund ...•............

33

c) Das Auseinanderfallen von rechtlicher und medizinischer Terminologie ...........................................

33

d) Die Unklarheit der Rechtsbegriffe .......................

34

e) Der Zweck der Entmündigung. . ... .. . .. ... . .... .. . .. . ..

35

t) Trunksucht als Entmündigungsgrund - Zeichen für soziale Fürsorge durch das Recht ..............................

36

III. Die Vormundschaft als Kehrseite der Entmündigung .............

37

1. Keine Vormundschaft über Erwachsene ohne Entmündigung ...

37

2. Vormundschaft als "künstliches Familienverhältnis" ...........

38

3. Die Selbständigkeit des Vormunds .........................

39

4. Das Übergewicht der vermögensrechtlichen Vorschriften und die unbestimmte Befugnis zur Personensorge ....................

39

5. Die Pflegschaft im Gegensatz zur Vormundschaft: Das Prinzip der Freiwilligkeit ...........................................

40

Zusammenfassung und Ergebnis .................................

41

I. Die Entmündigung: Der Versuch, alte Rechtslehren geänderten Verhältnissen anzupassen ......................................

41

11. Verdeutlichung der Ergebnisse des 1. Teils: Entmündigung und Vormundschaft im Spiegel der Kritik und Rechtsvergleichung ........

43

1. Formelle, aber nicht materielle Gerechtigkeit .................

43

2. Liberales Ordnungsdenken, das den Gedanken der sozialen Fürsorge außer acht läßt ....................................

44

3. Das schweizerische Zivilgesetzbuch .........................

45

Zweiter Teil

Entmündigung und Psychiatrie A.

Grundlagen in der älteren Lehre der forensischen Psychiatrie

47 47

I. Die notwendige medizinische Entscheidungshilfe ................

47

1. Welche Frage soll der Sachverständige beantworten? ..........

47

2. Die Hoffnung auf eindeutige medizinische Befunde ...........

48

3. Grundannahmen der Psychiatrie ...........................

48

11. Die Grundlagen der "psychiatrischen" Auslegung des § 6 I Nr. 1 BGB

49

1. Der Gesetzeszweck ......................................

50

2. Die Tatbestandsmerkmale des § 6 I Nr. 1 BGB ...............

50

Inhaltsverzeichnis III. Die Psychopathie als Erweiterung der psychiatrischen Systematik

B.

C.

9

50

I. Der Begriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

a) Die Unterscheidung von Wertnorm und Durchschnittsnorm .

51

b) Gründe, weshalb die Psychopathie nicht als Krankheit gelten soll .................................................

52

2. Psychopathie als Geistesschwäche im Sinne des Rechts ........

52

a) Der Gesetzeszweck als Richtschnur ......................

53

b) Die Methode des Gutachters ...........................

53

c) Die Schwierigkeit, sich auf einen rein medizinischen Befund zu beschränken .........................................

54

d) Die Entmündigung als soziale Fürsorge ..................

55

IV. Zusammenfassung und Ergebnis ..............................

55

I. Unklarheiten auf beiden Seiten ............................

55

2. Das Ineinandergreifen von Recht und Psychiatrie .............

56

Systematik und Krankheitsbegriff der heutigen Psychiatrie ............

56

I. Die Grundlagen ...........................................

57

I. Die Aufgabe des Krankheitsbegriffs ........................

57

a) Wertnorm und Durchschnittsnorm ......................

58

b) Die naturwissenschaftliche Grundlage ....................

59

11. Die Tauglichkeit des Krankheitsbegriffs für das bürgerliche Recht ..

59

I. Der Zusammenhang zwischen rechtlicher Entlastung und Krankheit ...................................................

59

2. Die unscharfen Grenzen ..................................

60

3. Die Unterscheidung zwischen natürlicher Geschäftsunfahigkeit (§ 104 Nr. 2 BGB) und dem Rechtszustand, den die Entmündigung bewirkt ...........................................

60

a) Der Bezugspunkt der beiden Vorschriften .................

60

b) Die Sozialprognose als Gesichtspunkt für eine Entmündigung

61

4. Psychiatrische Systematik und Entmündigung ................

61

a) Psychische Variationen ................................

62

b) Psychosen ...........................................

62

5. Die Auffassung Langelüddekes: Alle Tatbestandsmerkmale des § 6 I Nr. I BGB sind Gegenstand der psychiatrischen Beurteilung

62

Der Psychiatriebegriff in der Kritik ...............................

64

I. Die Kritik Jaspers .........................................

64

10

Inhaltsverzeichnis 1. Wertnorm und Durchschnittsnorm .........................

64

2. Die Zeitgebundenheit des Krankheitsbegriffs .................

65

11. Die Antipsychiatrie ........................................

65

111. Die Thesen Foucaults ......................................

66

1. Geschichtliche Grundlagen ................................

66

2. Die Wandlung des Begriffs "Wahnsinn" .....................

67

3. Die Verbindung von Recht und Psychiatrie ..................

68

4. Der alte juristische Begriff der Geisteskrankheit und der neue, auf ihm aufbauende der Psychiatrie ............................

68

5. Geisteskrankheit als moralische Straffälligkeit D.

Zusammenfassung und Ergebnis .................................

69

I. Der Krankheitsbegriff der Psychiatrie - geprägt von medizinischen, sozialen und normativen Elementen ...........................

69

11. Die Auslegung des § 6 I Nr. I BGB in der forensischen Psychiatrie

70

IH. Die Aufgabenteilung zwischen dem Richter und dem Sachverständigen ....................................................

70

IV. Der Unterschied zwischen § 6 I Nr. I und § 104 Nr. 2 BGB ......

71

V. Geschäftsfähigkeit und "Sozialfähigkeit" .......................

71

Dritter Teil

Die Entmündigung in Rechtswissenschaft und Rechtsprechung

A.

73

Die Rechtswissenschaft im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs ..........................................

73

I. Psychiatrisch-juristische Zusammenarbeit ..................... .

73

1. Die Verbindung von Recht und Psychiatrie ................. .

2. Die Unfähigkeit, seine Angelegenheiten zu besorgen

74 74

3. Das Verhältnis des § 6 I Nr. I zu § 104 Nr. 2 BGB

75

11. Die Tatbestandsmerkmale des § 6 I Nr. I BGB als reine Rechtsbegriffe ................................................. .

75

1. Die fehlende Eignung des medizinischen Krankheitsbegriffs für die Entmündigung ......................................... .

75

2. Geisteskrankheit und Geistesschwäche als Rechtsbegriffe ...... .

76

III. Die vermittelnden Lösungsansätze ........................... .

77

In hal tsverzei ch nis

1. Die Formeln der "herrschenden Lehre"

77

2. Der Zweck als Richtschnur für die Auslegung

78

IV. Ergebnis .................................................

B.

C.

D.

11

78

1. Die Auffassung, geistige Störungen seien hirnorganisch bedingt, und ihre Folgen.. . . . . . .. . .. .. . . . . . . .. .. . . .. .. . . . . . . .. ...

79

2. Die Folgen eines juristisch-ökonomischen Krankheitsbegriffs ....

80

Das nationalsozialistische Verständnis .............................

81

I. Der Zusammenhang zwischen Entmündigung und Vormundschaft.

82

11. Die Auslegung des § 6 BGB .................................

82

111. Ergebnis ..................................................

83

1. Die medizinische Begründung .............................

83

2. Die Verbindung von Vormundschaft und Entmündigung. . . . . . .

83

Die Rechtsprechung des Reichsgerichts ............................

86

I. Die Entmündigung als Mittel des rechtsgeschäftlichen Schutzes ....

86

11. Die quantitative Ordnung im Tatbestand des § 6 I Nr. 1 BGB .....

86

1. Die Abgrenzung von Geisteskrankheit und Geistesschwäche ....

86

2. Der Umfang der Angelegenheiten ..........................

87

III. Die inhaltliche Bestimmung der Tatbestandsmerkmale des § 6 I Nr. I BGB ....................................................

87

1. Das Verhältnis von § 6 I Nr. 1 und § 104 Nr. 2 BGB .........

87

2. Geisteskrankheit und Geistesschwäche als medizinische Störung.

88

a) Die Psychopathie als Geistesschwäche im Sinne des Rechts ..

88

b) Der "Querulantenwahnsinn" als Entmündigungsgrund ......

88

3. Der Begriff der Angelegenheiten ...........................

90

IV. Ergebnis .................................................

91

1. Ungenügende inhaltliche Bestimmung .......................

91

2. Ansätze einer Auseinandersetzung mit der Psychiatrie .........

92

Rechtswissenschaft und Rechtsprechung nach 1945 ..................

93

I. Die Rechtswissenschaft .....................................

93

1. Der Zweck der Entmündigung ............................

93

2. Geisteskrankheit und Geistesschwäche ......................

93

3. Die Angelegenheiten .....................................

94

12

Inhaltsverzeichnis II. Die Rechtsprechung: Der Aufstieg der Ersatzformen 1. Die vorläufige Vormundschaft

94

............................

95

2. Die Zwangspflegschaft ...................................

96

a) Die rechtliche Begründung der Zwangspflegschaft .........

96

b) Die Stellung des geistig Gebrechlichen im Verfahren .......

97

c) Die Auswirkungen der Zwangspflegschaft auf die Vorschrift des § 6 I Nr. I BGB .....................................

98

III. Zusammenfassung und Ergebnis .............................

99

I. Die Ersatzformen - ein Prüfstein für die herkömmliche Auslegung des § 6 I Nr. I BGB .....................................

99

2. Rechtsverlust als Rechtsfürsorge ...........................

100

3. Der Begriff der Geschäftsfähigkeit .........................

101

Vierter Teil Die Entmündigung in der amtsgerichtIichen Praxis A.

102

Darstellung der Verfahren ......................................

102

I. Grundlagen der Untersuchung ...............................

102

II. Die Entmündigungsanträge: Die Antragsteller und ihre Beweggründe

103

1. Die privaten Antragsteller ................................

104

a) Entmündigungsanträge gegen ältere Menschen ............

lOS

b) Geistig Behinderte ....................................

106

c) Psychische Krankheit .................................

107

d) Trunksüchtige .......................................

108

2. Die Entmündigungsanträge der Staatsanwaltschaft ...........

108

a) Psychische Krankheit .................................

108

b) Andere Gründe ......................................

110

3. Die Anträge der Gemeinde gegen Trunksüchtige .............

110

III. Der Gang des Verfahrens nach der AntragsteIlung ..............

112

............................

112

2. Der Auftrag an den Gutachter ............................

1. Die vorläufige Vormundschaft

113

3. Die Anhörung der zu Entmündigenden .....................

113

a) Die Ermittlungen des Richters ..........................

114

b) Die Stellungnahmen der zu Entmündigenden .............

114

IV. Der Sachverständige .......................................

116

1. Die Gutachten für psychisch Kranke .......................

116

Inhaltsverzeichnis

B.

13

a) Vorläufige Vormundschaft und Aussetzung des Verfahrens ein von Sachverständigen empfohlener Entmündigungsersatz

116

b) Gutachten im Entmündigungs- und Unterbringungsverfahren

119

2. Die Gutachten für geistig Behinderte .......................

120

a) Völlig hilflose und pflegebedürftige Behinderte ............

120

b) Fälle, in denen eine soziale Betreuung angestrebt wird. .. . ..

121

3. Die Gutachten bei Trunksüchtigen .........................

122

V. Das Verfahren nach Erstellung des Gutachtens .................

123

1. Verfahren, die mit einer Entmündigung enden ...............

123

a) Psychisch Kranke ....................................

123

b) Geistig Behinderte

125

c) Trunksüchtige .......................................

126

2. Verfahren, die nicht mit einer Entmündigung abschließen ......

126

a) Ersatzformen ........................................ b) Anträge, die sich als unbegründet erweisen ...............

126 126

c) Pflegschaft an Stelle von Entmündigung .................

127

Auswertung ..................................................

129

I. Vormundschaft als Ziel der Entmündigung ....................

129

1. Die Vormundschaft bei psychisch Kranken -

Mittel der privatrechtlichen Unterbringung ................................

130

a) Vormundschaftliche Rechte, die keine Grundlage in der Entmündigung haben ....................................

131

b) Die Gefahr, daß das Vormundschaftsrecht die Entmündigungsgründe erweitert ......................................

131

c) Die Möglichkeit, den Mündel unterzubringen, als Entmündigungsgrund ..........................................

132

2. Die Vormundschaft als Ersatz der elterlichen Sorge bei geistig Behinderten ............................................

134

a) Fürsorgebedürfnis ohne notwendigen Rechtsverlust ........

134

b) Die in der Praxis fehlenden Grenzen zwischen Entmündigung und Pflegschaft ......................................

135

3. Die Vormundschaft für Jugendliche, die mit 18 Jahren noch nicht mündig werden sollen. . .. . .. . .. .. . . . . . . .. . ... .. .. . .. ... ..

136

a) Die Vormundschaft als Mittel der "pädagogischen Einwirkung"

136

b) Eine für nichtig erklärte Vorschrift des Bundessozialhilfegesetzes im Vergleich mit § 6 I Nr. 1 BGB .......................

137

11. Der Fürsorgegedanke als Verfahrensprinzip ....................

139

14

Inhaltsverzeichnis I. Die Entmündigung: Wohltat und nicht Eingriff

c.

2. Der zu Entmündigende als "Gegenstand" der Fürsorge ........

139 139

3. Der Entmündigungsantrag -

ein Präjudiz ..................

140

111. Die Entscheidungsmacht des Sachverständigen .................

141

I. Die Sachverständigenermittlung ...........................

141

2. Der Entmündigungsbeschluß: Das richterlich "beurkundete" Gutachten .................................................

142

IV. Die "Ersatzformen" der Entmündigung - insbesondere die vorläufige Vormundschaft. . . . . . . .. . .. . .. . . . . . . . . .. . .. . .. . . . . . . .. .. . ..

143

I. Die Absicht des Gesetzgebers .............................

144

2. Die Aussetzung nach § 681 ZPO - Mittel der "künstlichen Dehnung" des Entmündigungsverfahrens und der vorläufigen Vormundschaft ............................................

144

a) Die Begründung .....................................

144

b) Die Schwächen der Begründung ........................

145

3. Die Verbindung von Aussetzung und vorläufiger Vormundschaft

146

V. Die rechtspolitischen Vorschläge und das österreichische Sachwalterrecht: Bestätigung für die vorgefundene Praxis .................

147

I. Die "Psychiatrie-Enquete" ................................ 2. Die Empfehlungen der Kommission für das Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit ......................................... 3. Ein besonderes Rechtsinstitut für geistig Behinderte ........... 4. Das österreichische Sachwalterrecht ........................

147

Zusammenfassung und Ergebnis .................................

151

I. Die Vormundschaft: Ein Auffangbecken für persönliche und soziale Hilfen, zu denen gesetzlich nur die Entmündigung führt .........

151

11. Das medizinische Verständnis beherrscht die Entmündigung ......

152

111. Die Praxis: Vorwegnahme der Regelungen, die in der Reformdiskussion vorgeschlagen werden ..................................

152

148 148 149

Fünfter Teil Versuch einer begriffiichen Klärung

A.

Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme als Grundlage der begrifflichen Klärung .........................................................

154 154

Inhaltsverzeichnis

B.

15

I. Der Konflikt zwischen unterschiedlichen Bezugspunkten: Rechtsgeschäftliche oder persönliche und soziale Handlungsfähigkeit ......

154

11. Ein System persönlicher und sozialer Betreuung in den Begriffen des bürgerlichen Rechts ........................................

155

Der Zweck als Richtschnur der Auslegung des § 6 I Nr. I BGB I. Welches ist der Zweck der Vorschrift des § 6 I Nr. 1 BGB?

158 159

I. Die Systematik des Gesetzes ..............................

159

2. Hat die Personensorge des Vormunds Einfluß auf den Zweck der Entmündigung? .........................................

159

11. Die Begriffe Geisteskrankheit und Geistesschwäche .............

161

111. Das Unvermögen, seine Angelegenheiten zu besorgen ...........

163

IV. Ergebnis .................................................

164

Literaturverzeichnis .................................................

166

Einleitung Die Entmündigung erfülle ein "gesellschaftliches Ab- und Aussonderungsbedürfnis" gegenüber Alten und Kranken - diesen Zweck schreibt der AlternativKommentar l einem Rechtsinstitut zu, das noch nie in gutem Ruf stand und als besonders anfällig für "unlautere Machenschaften,,2 gilt. Wendungen wie diese bringen das Wort vom "bürgerlichen Tod" in eine nüchterne und zeitgemäße Form: "Der wird den Leichenduft nicht mehr los, der einmal auch nur vier Wochen bürgerlich tot gewesen ist", läßt Hauptmann in seinem Schauspiel "Vor Sonnenuntergang" den Geheimrat Clausen sagen, dessen um ihren Erbteil fürchtende Kinder seine Entmündigung betreiben, als er sich wieder verheiraten will 3. Mißtrauen und Angst sind verständlich, weil die Entmündigung den Menschen existentiell trifft. Sie macht ihn rechtlich zum Kind oder Minderjährigen (§§ 104 Nr. 3, 114 BGB) und unterstellt ihn einem Vormund (§ 1896 BGB). Der wegen Geisteskrankheit Entmündigte darf die Ehe nicht eingehen (§ 2 EheG mit § 104 Nr. 3 BGB), der wegen Geistesschwäche Entmündigte nur mit Einwilligung des Vormunds (§ 3 EheG), die elterliche Sorge ruht (§ 1673 1,11 BGB)4, und der Entmündigte verliert sein Wahlrecht (§ 13 Nr. 2 BWG). Klaren und einschneidenden Folgen stehen Voraussetzungen gegenüber, die wenig faßbar erscheinen und die Entmündigung deshalb bedrohlich machen. "Geisteskrankheit" und "Geistesschwäche" (§ 6 I Nr. 1 BGB) sind schillernde Begriffe, die in eine Wissenschaft verweisen, auf deren sachverständige Hilfe die Zivilprozeßordnung den Richter im Entmündigungsverfahren verpflichtet (§ 655), die aber an sie gerichtete Erwartungen selbst dämpft. So schreibt M. Bleuler in seinem "Lehrbuch der Psychiatrie": "Der Begriff der Geisteskrankheit läßt sich demnach nicht naturwissenschaftlich erfassen. Er ist an die persönliche Erfahrung des gesunden Menschen mit sich selbst und mit seinen Mitmenschen gebildet. Wen man von dieser Erfahrung aus nicht mehr begreifen, nicht mehr nachfühlen, nicht mehr dem eigenen Wesen verwandt empfinden kann, empfindet man als ,fremd' (alienus), als aus dem Bereich der menschlichen GemeinHuhn (1981), § 1986, Anm. 3. Baumbach/Lauterbachl Albers, ZPO (1985), § 654, Anm. I. 3 4. Akt, S. 81. 4 Dem wegen Geistesschwäche Entmündigten, der nach § 114 BGB beschränkt geschäftsfähig ist, räumt § 167311 BGB ein "Nebensorgerecht" ein (vgl. Palandt/Diederichsen (1986), § 1673, Anm. 3). Er hat, ohne zur Vertretung des Kindes berechtigt zu sein, neben dem gesetzlichen Vertreter ein Personensorgerecht (§ 1673 II S. 2). Bei Meinungsverschiedenheiten geht die Auffassung des gesetzlichen Vertreters jedoch vor (§ 1673 11 S. 3). I

2

2 Weinriefer

18

Einleitung schaft entrückt und in anderen Bereichen festgerückt (,verrückt'), als geisteskrank oder psychotisch" 5.

Mißtrauen und Vorsicht haben den Gesetzgeber bewogen, die Entmündigung der streitigen und nicht der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuzuweisen (§§ 645 ff ZPO): Die "schützenden Formen des Civilprozesses" sollten die Rechte des zu Entmündigenden "gegen Chikane und Eigennutz" sichern6 • Für den Gesetzgeber war die Entmündigung in erster Linie Verlust der bürgerlichen Selbständigkeit und nicht Fürsorge für Kranke. Der Charakter des Eingriffs und das Bestreben, vor ihm zu schützen, prägen deshalb das Verfahren: Der Entmündigungsantrag richtet sich "gegen" den zu Entmündigenden (vgl. § 646 ZPO), der sich mit Anfechtungsklage (§ 664 ZPO) und - bei deren Erfolglosigkeit - mit Berufung (§§ 511 ff ZPO) und Revision (§§ 545 ff ZPO) 7 gegen den Entmündigungsbeschluß (§ 645 ZPO) zur Wehr setzen kann. In der Verfahrensordnung erscheint die Entmündigung allein als Verlust. Dagegen wird sie im materiellen Recht zum bloßen Akt der Fürsorge, denn es herrscht die "allgemeine Meinung", die Entmündigung sei: "Schutz des zu Entmündigenden gegen Gefahren, welche ihm als Geisteskranken, Geistesschwachen, Verschwender oder Süchtigen in bezug auf seine ,Angelegenheiten' drohen"s. Allerdings ist es ein Schutz, vor dem man auch gerne bewahren möchte: Bundesgerichtshof9 , und Bundesverfassungsgericht lO billigen die Zwangspflegschaft, weil sie die Entmündigung erspare, die einschneidend auf die soziale und rechtliche Stellung und den seelischen Zustand wirke. Für Gernhuber ll ist die Entmündigung "von jeher" mit der "Atmosphäre der Diskriminierung" umgeben. Anderen Autoren gilt sie als "soziale Herabsetzung" 12; "gesellschaftliche Disqualifizierung" 13 oder "soziales Stigma" 14. Zwischen dem der Entmündigung zugeschriebenen Zweck - Schutz, Fürsorge - und den Folgen, welche sie nach den angeführten Stimmen der Literatur haben soll, besteht offensichtlich ein Widerspruch. Er ist nicht der einzige, auf den eine Bearbeitung zu diesem Thema stößt. Ein weiterer betrifft das wissenschaftliche Interesse, das ihm gilt. Der Theorienstreit, der um andere juristische (1979), S. 117. Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Band 2, Abteilung I, S. 407 ff. 7 Stein/ Jonas/Schlosser, ZPO (1976), § 672, Anm. 2. 8 Staudinger /Coing-Habermann (1980), § 6, Anm. I; Palandt/Heinrichs, § 6 Anm. I. 9 BGHZ 35, I (7). 10 BVerfGE 19, 93 (98). 11 Der Senior und sein Vermögenspfleger, FamRZ 1976, S. 189 (195). 12 Damrau, Das Österreichische Gesetz über die Sachwalterschaft für behinderte Personen, FamRZ 1982, S. 236 (237). 13 In der Beeck/Wuttke, "Geistesschwäche" und § 681 ZPO, NJW 1968, S. 2268 (2270). 14 Hendel, Die Gebrechlichkeitspflegschaft eine taugliche Ersatzform für die Entmündigung?, FamRZ 1982, S. 1058. 5 6

Einleitung

19

Fragestellungen geführt wird, fehlt hier. Zu den Begriffen "Geisteskrankheit" "Geistesschwäche" geben die Kommentare l5 im wesentlichen gleichlautende Definitionen: Darunter sei "jede Form geistiger Abartigkeit" zu verstehen. "Geisteskrankheit" bezeichne den schwereren, "Geistesschwäche" den leichteren Grad der Störung. Betont wird, daß es sich um Rechtsbegriffe handele, die von der medizinischen Terminologie unabhängig seien. Auch bei der weiteren Entmündigungsvoraussetzung, der Unfähigkeit, seine Angelegenheiten zu besorgen, gibt es keine Meinungsverschiedenheiten: "Als Angelegenheit im Sinne des § 6 kommen dabei Obliegenheiten aller Art in Betracht. Neben der Besorgung der Vermögensangelegenheiten fallen darunter insbesondere die Sorge für die eigene Person und die Familie sowie die Wahrnehmung der Pflichten im beruflichen, sozialen und öffentlichen Bereich" 16. Beim Schrifttum überwiegen Beiträge, die bis etwa 1930 verfaßt wurden 11. Die Kommentare beziehen sich häufig auf die ältere Rechtsprechung, vor allem des Reichsgerichts 18. Die geringe Beachtung, die dieses Rechtsinstitut erfährt, wäre nicht verwunderlich, wenn sie einer ebenso geringen praktischen Bedeutung entspräche. Aber die Statistik widerlegt diesen Erklärungsversuch. Das Statistische Jahrbuch für 1984 19 verzeichnet 10.000 Entmündigungsverfahren - eine Erhebung, die ein Bericht der "Kieler Nachrichten" vom 25.3.1985 mit der Schlagzeile unterstreicht: "Alle zwei Tage wird ein Neumünsteraner entmündigt". Die Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, den Gründen für diese Widersprüche in einer Bestandsaufnahme nachzugehen, um, darauf aufbauend, eine begriffliche Klärung der Tatbestandsmerkmale des § 6 I Nr. 1 BGB zu versuchen. Wichtigste Erkenntnisquelle war der "Blick in die Praxis": die beobachtende Teilnahme an mündlichen Verhandlungen in Entmündigungssachen und die Auswertung von Verfahrensakten. Die dabei gewonnenen Eindrücke haben nicht nur im 4. Teil ihren Niederschlag gefunden, sondern die Richtung für die ganze Arbeit gewiesen, die über das Rechtliche hinaus die Lehren der gerichtlichen Psychiatrie einbezieht. Die Beobachtung der Praxis hat gezeigt, daß "Geisteskrankheit", "Geistesschwäche" und die Unfähigkeit, seine "Angelegenheiten" zu besorgen, keine Begriffe sind, die allein die Beschäftigung mit Rechtsprechung und Schrifttum erschließt. Sie bilden eine Nahtstelle, an der Recht und Psychiatrie aufeinandertreffen und an der ihnen als "Rechtsbegriffen" eine schwierige Aufgabe zuwächst: Die richterliche, durch Rechtsmittel auch überprüfbare Entscheidung zu gewährleisten und nicht zum Einfallstor eines nur schwer zu kontrollierenden Sachverständigenurteils zu werden. 15 Staudinger/Coing-Habermann, § 6, Anm. 7; Palandt/Heinrichs, § 6 Anm. I; MüKoGitter (1984), § 6, Anm. 10; BGB-RGRK/Krüger-Nie\and (1982), § 6, Anm. 13. 16 MüKo-Gitter (1984), § 6, Anm. 16; Staudinger/Coing-Habermann, § 6, Anm. 18. 17 Vgl. die Übersicht bei Staudinger ICoing-Habermann, vor § 6. 18 Vgl. Palandt/Heinrichs (1985), § 6, Anm. 2. 19 A.a.O., S. 339, bezogen auf das Jahr 1981. Die Statistik verzeichnet nicht, wieviele Verfahren zur Entmündigung führten.



Erster Teil

Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung und der Einfluß der Medizin A. Die rechtsgeschichtIichen Vorbilder

Der französische Code Civil von 1804 1, dessen 11. Titel die Überschrift trägt: "De la majorite, de l'interdiction et du conseiljudicaire" wird zum Vorbild für die deutsche Sprachregelung: Mit "Entmündigung" übersetzt das badische Landrecht von 1809 das Wort "l'interdiction" (§§ 489 ft)2. Seit 1813 gehört dieser Begriff zum allgemeinen Sprachgebrauch3 • Die Zivilprozeßordnung von 1877 verwendet ihn zum ersten Mal reichseinheitlich, und er findet schließlich Eingang in das Bürgerliche Gesetzbuch. Die Vorschrift des § 6 BGB schafft die Voraussetzung, um durch richterlichen Akt auf die Geschäftsfähigkeit eines Menschen einzuwirken. Der Entmündigungsbeschluß begründet bei Geistesschwachen, Trunksüchtigen4 und Verschwendern den Zustand beschränkter Geschäftsfahigkeit, den das Gesetz sonst bei Erwachsenen nicht kennt. Aber selbst bei geisteskranken Volljährigen, die nach § 104 Nr. 2 BGB geschäftsunfahig sind, wirkt die Entmündigung konstitutiv, denn die so bewirkte Geschäftsunfähigkeit dauert im "lichten Augenblick" und sogar nach eingetretener Heilung an, weil erst die Aufhebung des Entmündigungsbeschlusses (§ 685 ZPO)5 wieder geschäftsfähig macht. I. Code Civil und preußisches Allgemeines Landrecht

Mit dieser Regelung kann das Bürgerliche Gesetzbuch nur an rechtsgeschichtlich jüngere Vorbilder, vor allem den französischen Code Civil 6 , anknüpfen. Dessen Art. 489 bestimmt: "Le majeur qui est dans un etat habituel d'imbecillite, de demance ou du fureur, doit etre interdit, meme lorsque cet etat presente des intervalles lucides".

Code Civil des Fran~aises, Edition Originale Et Seule Officielle 1804, Art. 489 ff. Landrecht für das Großherzogtum Baden, Amtliche Ausgabe 1867. J Jakob und Wilhe1m Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, S. 574. 4 Das Gesetz zur Neuregelung des VOlljährigkeitsalters vom 31. 7.1974 (BGBI. I, S. 1713), hat die Rauschgiftsucht als weiteren Entmündigungsgrund eingeführt. 5 Staudinger /Coing-Habermann (1980), § 6, Anm. 50. 6 Code Civil, Edition Originale Et Seule Officielle (1974). 1

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A. Die rechtsgeschichtlichen Vorbilder

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Das preußische Allgemeine Landrecht 7 von 1794 nimmt schon eine entsprechende Regelung vorweg, indem es im 1. Teil, 18. Titel, § 13 anordnet: "Wer für wahn- oder blödsinnig zu achten sei, muß der Richter, mit Zuziehung sachverständiger Ärzte, prüfen und festsetzen".

Für den "wahn- oder blödsinnig Erklärten" muß ein Vormund bestellt werden (ALR 11 18 § 12), und während der Dauer der Vormundschaft erkennt das Gesetz keinen "lichten Zwischenraum" an (ALR I 4 § 25). 11. Die gemeinrechtliche Lehre

Die genannten Gesetze kehren sich ab von den gemeinrechtlichen Lehren und dem darin fortgeltenden römischen Recht, das eine "Entmündigung", nämlich die durch richterliche Entscheidung erkannte Geschäftsunfähigkeit oder beschränkte Geschäftsfähigkeit, nicht kennt 8 • Das Bürgerliche Gesetzbuch setzt jedoch mit § 6 - verändert um diesen wesentlichen Punkt - eine lange Rechtstradition fort: Daß die Geschäftsfähigkeit eines Menschen nach dem Maß seiner geistigen Kräfte zu bestimmen sei. 1. Geisteszustand und (rechtsgeschäftliehe) Handlungsjähigkeit Das gemeine Recht verwendet anstelle des Begriffs der Geschäftsfähigkeit den der Handlungsfähigkeit 9 , den es wiederum von der Rechtsfähigkeit unterscheidet. Diese Aufteilung soll es ermöglichen, den "Hülfsbedürftigsten aller Menschen, den Kindern, den Wahnsinnigen, die Rechtshülfe zu leisten, die ihnen Not thut" 10. Jedes Rechtsgeschäft - definiert als "eine auf die Hervorbringung einer rechtlichen Wirkung gerichtete Privatwillenserklärung" 11 - setzt Handlungsfähigkeit voraus, deren "persönliche Bedingung" in den Worten Savignys 12 der "vollständig freye Vernunftgebrauch" ist. Wendt 13 verlangt "eine bestimmte intellektuelle Reife", die nicht bei allen Personen in gleichem Maße vorhanden sei und durch Alter und Gesundheit beeinflußt werde. Wahnsinnige und diejenigen, die sich im Zustand der Vernunftlosigkeit befinden sowie Kinder unter sieben Jahren sind deshalb handlungsunfähig l4 • Schering, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1876), Band 4. Levis, Die Entmündigung Geisteskranker (1901), S. 2 und 10; Stöcker, Empfiehlt es sich, das Rechtsinstitut der Entmündigung abzuschaffen?, DAV 1982, S. 720 (722). 9 Das BGB verwendet nicht den Ausdruck "HandlungsHihigkeit", weil dieser umfassend auch die Fähigkeit zur Begehung unerlaubter Handlungen und zur Verletzung obligatorischer Verpflichtungen einschließe. Der Begriff der Geschäftsfähigkeit soll dagegen nur die Fähigkeit meinen, Rechtsgeschäfte vorzunehmen (Mugdan, a.a.O., Motive I, S. 423). 10 Binding, Normen, 2. Bd. (1877), § 37, S. 49. 11 Windscheid, Pandekten (1900), § 69, S. 266 f. 12 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 3 (1840), § 106, S. 22. IJ Pandekten (1888), § 27, S. 43. 14 Puchta, Pandekten (1877), § 40, S. 76-78. 7

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I. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

So wie bei Kindern und Heranwachsenden die Entwicklungsstufen, gemessen am Alter, die Handlungsfähigkeit begrenzen, macht der Wahnsinn (furor) den Menschen - ohne weiteres - handlungsunfähig. Der Zustand des "furiosus" wirkt unmittelbar auf seine Rechtsstellung, weil er offenkundig ist 15: Es ist die "gänzliche Zerrüttung oder Blindheit des Geistes ... , gleichviel, ob sie dauernd oder vorübergehend, ob sie mit heftigen Ausbrüchen verbunden oder ob der Kranke still in sich versunken ist, also die Raserei und der Wahnsinn. Dieser Zustand ist also, wie Cicero bemerkt, auch bei einem Weisen denkbar und kann auch durch lichte Zwischenaugenblicke unterbrochen sein, so daß allerdings zwischen einem furor perpetuus und intermittens unterschieden werden kann" 16. Die im "vernünftigen Zustand", in den lichten Zwischenzeiten, vorgenommene Handlung ist wirksam, "wie wenn vor und nach derselben keine Vernunftlosigkeit vorhanden wäre" 17. Von dem Vernunftlosen zu unterscheiden ist der Geistesschwache (stultus, fatuus, insanus)18. Seinen Zustand bezeichnet die Sprache des 19. Jahrhunderts mit "Blödsinn", "einen Zustand, in den ein Weiser nicht verfallen kann und der auch keine lichten Zwischenaugenblicke zuläßt, aber doch darin milder ist als der furor, daß er nicht allen Gebrauch der Vernunft gänzlich aufhebt, sondern dem Blödsinnigen nur die rechte Besonnenheit in Verwaltung seiner Angelegenheiten unmöglich macht" 19. Die Geistesschwäche macht nicht unfähig zu freien Handlungen, aber sie kann, wenn sie einen hohen Grad erreicht, Fürsorge durch die Anordnung einer cura veranlassen 2o . 2. Die Vormundschaft als Schutz fiir die Handlungsunfähigen

Der Schutz, den das Recht den Handlungsunfähigen gewährt, bildet sich am Vorbild des unter väterlicher Gewalt stehenden Kindes 21 . Die Vormundschaft ersetzt die väterliche Gewalt; sie ist in den Worten Savignys ein "künstliches Familienverhältnis"22 , für das gilt, was die Familie nach gemeinrechtlicher Lehre überhaupt kennzeichnet: Sie ist die in "einem großen Naturzusammenhang begründete Lebensform", die sich nur unvollkommen in rechtlichen Regelungen umschreiben läße 3 • Ihre persönlichen Elemente stehen unter dem Schutz der Sitte und nicht des Rechts. Die väterliche Gewalt als "selbständiges FamilienKaser, Römisches Privatrecht (1983), § 14 IV, S. 77. Rudorff, 1832, Das Recht der Vormundschaft, Band I, § 16, S. 121. 17 Savigny, III, § 112, S. 85. " Savigny, III, § 112, S. 85 mit Fußnote I. 19 Rudorff, a.a.O., § 16, S. 123. 20 Savigny, S. 85. 21 Ders., a.a.O., Band I, § 55, S. 361 f. 22 S. 363. 2J S. 350. 15

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A. Die rechtsgeschichtlichen Vorbilder

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verhältnis,,24 hat eine tatsächliche Seite, nämlich die rechtlich unbegrenzte Macht zur Erziehung des Kindes, und eine juristische, die das Vermögen betrifft 25 . Die Vormundschaft als Ersatz der väterlichen Gewalt ist wie diese Sorge für Person und Vermögen, aber das Recht widmet sich ihr nur im Hinblick auf das Vermögen. Diese Aufteilung: Personensorge als rechtsfreier, Vermögenssorge als rechtlich geregelter Bereich, erklärt die Definition, die Puchta für die Vormundschaft als Rechtsinstitut gibt: "Vormundschaft ist das Verhältnis einer Person zu einer anderen, vermöge dessen jene die Vermögensangelegenheiten dieser, aus persönlichen Eigenschaften dazu untüchtigen, unter öffentlicher Autorität und Fürsorge zu leiten hat,,26.

Das Vermögen schließlich ist der "Inbegriff aller Rechte einer Person, als deren Subject wir sie als Einzelne, also außerhalb der natürlichen Verbindungen der Familie und des Volkes denken können" 27. Der Mensch wirkt dieser Lehre zufolge durch seine rechtsgeschäftlichen Handlungen nach außen. Fehlt die Handlungsfähigkeit, so ersetzt sie der Vater oder statt seiner der Vormund 28 . Von der Altersvormundschaft, welche an die Stelle der väterlichen Gewalt tritt (die römisch-rechtlichen Institute sind die tutela impuberum und die cu ra minorum 29), leitet sich der Schutz für die aus anderen Gründen Handlungsunfähigen ab: Die cura furiosi und die cura debilium personarum.Die Dauer der cura bestimmt sich nach der Dauer der Krankheit. Sie erlischt, "wenn der Wahnsinn oder Blödsinn aufbört, ohne daß es dazu eines Decretes der Obrigkeit bedarfdo . Bei der "intermittierenden" Geisteskrankheit bleibt der Curator bis zum Tode des Pflegebefohlenen im Amt, aber er muß sich während der lichten Zwischenräume aller Amtshandlungen enthalten 3!. Die juristische Gleichsetzung von Geisteskranken mit Kindern, die das Bürgerliche Gesetzbuch übernimmt (§§ 104, 114), erhält ihren Sinn, wenn man sie auf die gemeinrechtliche Lehre zurückführt. Danach sind Geisteskranke nicht in einem medinisch-psychologischen Zusammenhang wie Kinder, sondern sie haben unter einer rechtlichen Betrachtungsweise eines gemeinsam: Die fehlende Handlungsfähigkeit in Bezug au/ihr Vermögen. Was der Vormund für die Person des Mündels leisten soll, bleibt, ebenso wie bei der väterlichen Gewalt, ungeregelt. Deshalb behandelt Windscheid das Verhältnis zwischen Vormund und Mündel sowie das Recht, den Mündel zu vertreten und über sein Vermögen zu verfügen, im "Recht der Forderungen". Für ihn begründet die Vormundschaft 24 25 26 27

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S. 352. S. 353. Cursus der Institutionen, Band 3 (1857), § 297, S. 202. Puchta, Band 2 (1857), § 193, S. 302. Savigny, Band I, § 55, S. 362. Arndts (1883), Pandekten, § 440, S. 815 f. Weiske (1844), Rechtslexikon, Stichwort "cura", insbesondere S. 209 ff. Ders., S. 210.

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1. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

"ein Verpflichtungsverhältnis zwischen dem Mündel und dem Vormund in ähnlicher Weise, wie ein Verpflichtungsverhältnis durch den übernommenen Auftrag und die freiwillige Besorgung fremder Angelegenheiten begründet wird,,32. 3. Das Verfahren

Die Vormundschaftsbehörde bestellt - als Akt der freiwilligenGerichtsbarkeit - einen Vormund für den Geisteskranken. Ihr Beschluß ist nur für die Vormundschaft rechtlich bedeutsam 33 , wirkt aber nicht - wie später die Entmündigung des Bürgerlichen Gesetzbuchs - auf die Handlungsfahigkeit ein. Die Vormundschaft hört schließlich, auch hierin anders als die Vorschrift des § 6 BGB, auf, wenn der Geisteskranke geheilt ise4 • Schon die gemeinrechtliche Praxis weiß, daß der Zustand des Geisteskranken nicht immer offenkundig ist und daß die Gefahr eines Mißbrauchs besteht: "Wichtig und unschätzbar sind die Rechte, welche hier auf dem Spiele stehen; auch lehrt die Erfahrung, wie leicht gewissenlose Verwandte versucht werden, einen vielleicht nur an einem niederen Grade der Verstandesschwäche leidenden Menschen, der noch keineswegs unfähig ist, die Folgen seiner Handlung zu überlegen, durch das Mittel der Erklärung für dispositions unfähig zur Befriedigung ihres Eigennutzes und besonders ihrer Erblust zu mißbrauchen 35 ."

Im Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde muß deshalb der Geisteszustand durch "zwei verpflichtete gerichtliche Ärzte als Sachverständige,,36 untersucht werden. Aber erst die weitere Rechtsentwicklung wird die Prüfung dieser Frage- das Fehlen der Handlungsfahigkeit - verselbständigen und zum Gegenstand einer der Vormundschaft vorangehenden Entscheidung machen. 4. Die cura prodigi: Rechtsfürsorge durch Rechtsentziehung

Daß der Schutz des Geisteskranken erst einsetzt, wenn ein richterlicher Beschluß die Geschäftsfähigkeit entzieht oder einschränkt, hat also im römischen und gemeinen Recht keine Entsprechung, wohl aber in einem anderen Rechtsinstitut ein Vorbild: der cu ra prodigi bzw. der Prodigalitätserklärung. Die cura prodigi des römischen Rechts setzt ein, wenn eine Sachuntersuchung durch den Magistrat den Tatbestand der Verschwendung festgestellt hat. Das Verfahren schließt mit einem "interdictum", welches dem Verschwender das Recht nimmt, 32 Pandekten, 3. Band (1906), §§ 432 ff., S. 115 ff. In dieser Auflage aber aus dem Recht der Forderungen in den 3. Band (Fami1ien- und Erbrecht) übertragen. 3J Regeisberger (1893), Pandekten, 1. Band, § 64, S. 260; Puchta, Handbuch des nichtstreitigen Prozesses, 2. Thei1 (1821), § 297, S. 392. J4 Puchta, § 322, S. 445. 35 Ders., § 297, S. 392. 36 Ders., a.a.O.

A. Die rechtsgeschichtlichen Vorbilder

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über sein Vermögen zu verfügen und die Vermögensverwaltung einem curator überträge 7 • Die Verschwendung ist in der Vorstellung dieser Rechtslehre deutlich verschieden von der Geisteskrankheit - sie gilt als ein Fehler des Charakters und nicht des Verstandes. Dem Geisteskranken fehlt die Handlungsfähigkeit als Folge seines Zustands. Der Verschwender dagegen ist handlungsfähig, aber er macht von dieser Fähigkeit so Gebrauch, daß er seine eigene wirtschaftliche Existenz und die seiner Familie gefahrdees. Aus diesem Grund entzieht ihm ein richterlicher Beschluß die Handlungsfähigkeit. Während beim Geisteskranken der vom Vormund zu leistende Schutz im Vordergrund steht, ist es beim Verschwender die Notwendigkeit der Einschränkung. Er erhält erst in einem zweiten, dem Verfahren der Rechtsentziehung nachgeordneten Akt einen Vormund. Diese gemeinrechtliche Doktrin nimmt vorweg, was das BGB nicht nur für Verschwender, sondern auch für Geisteskranke und -schwache sowie für Trinker in § 6 BGB regeln wird: Die Entmündigung entzieht oder beschränkt die Geschäftsfahigkeit, und erst danach wird in einem von der Entmündigung losgelösten Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ein Vormund bestellt. III. Der richterliche Akt der Rechtsentziehung als Voraussetzung der Vormundschaft

Die weitere Rechtsentwicklung, die das Bürgerliche Gesetzbuch mit der Vorschrift des § 6 abschließt, hebt die unterschiedliche Behandlung von Geisteskranken und Verschwendern auf. Das preußische Allgemeine Landrecht macht die Vormundschaft abhängig von einer" Wahnsinnigkeits- oder Blödsinnigkeitserklärung" (2. Theil, 18. Titel §§ 12, 13), über die - genau wie beim Verschwender - der "ordentliche Richter" entscheidee9 • Zwei Gründe tragen diese Abkehr von der gemeinrechtlichen Lehre: Ein gerichtliches Verfahren soll den Betroffenen vor der unlauteren Einschränkung seiner Rechte sichern und der durch richterliches Erkenntnis begründete (bis zu seiner Aufhebung fortdauernde) Zustand der Handlungsunfähigkeit soll klare Verhältnisse für den Rechtsverkehr schaffen40 • 1. Modernes Rechtsdenken und römisch-rechtliche Tradition

Immer noch bleibt aber der Einfluß des römischen Rechts spürbar. Das Allgemeine Landrecht führt in der Übersetzung die Terminologie des römischen Rudorff, Das Recht der Vormundschaft, Band I, § 17, S. 136 f. Regelsberger, § 65, S. 261 f. 39 Arnold, Das gerichtliche Verfahren gegen Geisteskranke und Verschwender (1861), § 29, S.20. 40 Bornemann, Darstellung des Preussischen Civilrechts (1837), § 43, S. 249. 37

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I. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

Rechts fort. Die "Rasenden und Wahnsinnigen" entsprechen den "furiosi", die "Blödsinnigen" den "fatui" oder "mente capti". Auch über das Formale hinaus bleibt dieses Gesetzbuch dem römischen Rechtsdenken verhaftet. Die vom Kind in seiner Entwicklung durchlaufenen Stufen der Unmündigkeit und Minderjährigkeit, die wiederum nur seinen Reifegrad rechtlich bemessen, werden zum Vorbild für die Behandlung von geistig Gestörten und Verschwendern41 • Wahnsinnige und Blödsinnige stehen den Kindern gleich (ALR I 4 §§ 23,26 in Verbindung mit § 20 und I I §§ 30,31 in Verbindung mit I 5 § 14). Das Allgemeine Landrecht teilt schließlich auch das Verständnis dessen, was "Wahnsinn" und "Blödsinn" ausmachen, mit dem gemeinen Recht. Es begreift das Wesen der Handlungsfähigkeit als freien Gebrauch der Vernunft, und die rechtsgültige Willenserklärung beruht auf dem "Vermögen, mit Vernunft und Überlegung zu handeln" (ALR I 4 § 3). Die Willenserklärungen der Wahnsinnigen sind nichtig, weil sie "des Gebrauchs der Vernunft gänzlich beraubt sind" (ALR I 1 § 27), ebenso die der Blödsinnigen, weil ihnen "das Vermögen (ermangelt), die Folgen ihrer Handlungen zu überlegen" (ALR I 1 § 28). 2. Die Übereinstimmung medizinischer und rechtlicher Begriffe

An diesem Punkt der Rechtsentwicklung sind die Begriffe des Rechts "Wahnsinn" und "Blödsinn" - zugleich Begriffe der Medizin. Die Medizin 42 umschreibt näher, indem sie Untergruppen bildet und nach Ursachen sucht, aber sie bleibt dem Recht durch eine gemeinsame Grundauffassung verbunden. Ein Handbuch der gerichtlichen Medizin aus dem Jahre 1832 setzt in seinem Abschnitt über die "zweifelhaften Seelen-Zustände" die Seele mit der Vernunft gleich: "Was von der Seele überhaupt gilt, die wir, wenn wir sie als gemeinschaftlichen Ausdruck aller ihrer, vollkommen miteinander übereinstimmenden Äußerungen auffassen, die Vernunft nennen, gilt natürlich auch von ihren einzelnen Äußerungen ... ,,43. Zum Wesen dt>s gesunden Menschen gehört "ein ungetrübtes Bewußtsein von sich und seinen Verhältnissen, und eine freie Willensbestimmung, oder mit anderen Worten, der freie Gebrauch seiner Vernunft" - der Mangel daran ist, in der medizinischen Terminologie dieser Zeit, die "Seelenkrankheit" . 3. Der Wandel in der Medizin und sein Einfluß auf das Recht

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt die Psychiatrie, "die jetzt zu einem medizinischen Fach mit betont morphologischer Orientierung und posi41

42 43

Bornemann, § 43, S. 252 ff. Mende (1832), Handbuch der gerichtlichen Medizin, § CXLI, S. 125 ff. Mende, § CXL V, S. 127.

B. Zivilprozeßordnung und Bürgerliches Gesetzbuch

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tivistisch-naturwissenschaftlichem Denken geworden (ist)"44, ihre bisherigen Krankheitsbezeichnungen zu überwinden. An die Stelle einer nach dem symptomatischen Zustandsbild ("Raserei") getroffenen Einteilung, sollen - gestützt auf die Hoffnung, daß alle Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten seien Krankheitsbegriffe treten, die eine Diagnose ausdrücken45 • Die sich wandelnden Auffassungen in der Medizin spiegeln sich auch in den Gesetzen. Das preußische Recht gibt die Begriffe "Raserei", "Wahnsinn", "Blödsinn,,46 zugunsten des neuen Ausdrucks "geisteskrank" auf. § 81 Nr. 1 der Vormundschaftsordnung vom 5. Juli 1875 47 bestimmt: "Großjährige erhalten einen Vormund, wenn sie für geisteskrank erklärt sind". In Sprachgebrauch und Verfahrensgestaltung markiert schließlich die Civilprozeßordnung von 1877 die endgültige Abkehr vom gemeinen Recht. Schon der Entwurf verwendet in § 568 den Ausdruck "geisteskrank" und fügt nur noch erläuternd in Klammern dazu: "wahnsinnig, blödsinnig USW.,,48. Die Ci vii prozeßordnung schreibt einheitlich für das Deutsche Reich ein Entmündigungsverfahren vor, in dem selbständig und losgelöst von der Bestellung des Vormunds über die Frage befunden wird, ob jemand geisteskrank ist.

B. Zivilprozeßordnung und Bürgerliches Gesetzbuch

Während das gemeinrechtliche Denken vom Gedanken der Fürsorge bestimmt war, die der Vormund dem Geisteskranken gewähren sollte, verlagert sich in der weiteren Rechtsentwicklung der Schwerpunkt. Nicht mehr die Vormundschaft selbst verdient die größere Aufmerksamkeit, sondern ihre Voraussetzungen. Wer einen Vormund erhält, gewinnt nicht nur, sondern büßt zunächst Ruf und Rechte ein, weil man ihm bescheinigt, unfähig zu sein, für sich selbst zu handeln. I. Das Entmündigungsverfahren: Die Rechtsentziehung rückt in den Vordergrund

Die Civilprozeßordnung macht die Voraussetzungen der Vormundschaft zum Gegenstand eines selbständigen Verfahrens: der Entmündigung, und sie weist die Entscheidung darüber sogar der streitigen Gerichtsbarkeit zu. Schon in dieser Zuordnung soll deutlich werden, daß es nicht allein um Fürsorge geht, Tölle (1980), Die Entwicklung der deutschen Psychiatrie im 20. Jahrhundert, S. 13. Wyrsch (1979), Wege der Psychopathologie und Psychiatrie, S. 996; Bleuler, Dementia praecox (1911), S. 3 f. und 222. 46 ALR I I §§ 27, 29. 47 Gesetz-Sammlung (GS), S. 431. 48 Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen,Bd. 2, Abteilung I, S. 72. 44

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I. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

sondern auch um Einschränkung. Die freiwillige Gerichtsbarkeit, so erkennt die zeitgenössische Schrift Arnolds: "Das gerichtliche Verfahren gegen Geisteskranke und Verschwender", sei Vorsorge des Staates für Befestigung und Erhaltung von Rechten der Staatsangehörigen, könne aber ihrem Wesen nach nicht tätig werden, wenn es, wie bei der Entmündigung, um die Entziehung von Rechten gehe'. Zwar unterscheide sich das Entmündigungsverfahren vom typischen Zivilprozeß, in dem die Parteien um Ansprüche stritten, aber auch hier trete der das streitige Verfahren kennzeichnende Interessengegensatz auf. Selbst der Wahnsinnige oder Blödsinnige sei imstande, der Entziehung seiner Rechte zu widersprechen. An seiner Stelle könne auch ein Vertreter handeln und ihn gegen den Entmündigungsantrag verteidigen - etwa mit dem Einwand, daß die Geisteskrankheit nur vorübergehender Natur sei 2•

1. Die Beratungen Der Streit über die Zuweisung zur freiwilligen oder streitigen Gerichtsbarkeit bestimmt die Beratungen über die Civilprozeßordnung. Es stehen sich zwei Positionen gegenüber: Eine Seite setzt sich für weitgehende Rechte gegen die Entmündigung ein: Auch ein Geisteskranker soll nicht als Geisteskranker behandelt werden, bevor ein Zivilprozeß stattgefunden hat. Auf der anderen Seite will man berücksichtigen, daß es um kranke Menschen geht, ihnen aus Gründen der Fürsorge ein streitiges Verfahren ersparen und die freiwillige Gerichtsbarkeit entscheiden lassen. Das Ziel, strenge Rechtlichkeit zu gewähren, prägt den Entwurf der Civilprozeßordnung, dessen § 568 bestimmt: "Eine Person kann für geisteskrank (wahnsinnig, blödsinnig usw.) oder für einen Verschwender nur auf erhobene Klage durch Urteil erklärt werden.")

Über die Klage soll das Landgericht entscheiden (§ 569 des Entwurfs), und für den Beklagten muß ein Rechtsanwalt als Vertreter bestellt werden (§ 573 d. E.). Man begründet die vorgesehene Regelung mit der Schwere des Eingriffs: "Die wichtigen Folgen der Entmündigung erfordern dringend ein in den schützenden Formen des Civilprozesses verlaufendes kontradiktorisches Verfahren und lassen die größere Weitläufigkeit und Kostspieligkeit der Prozedur als bedeutungslos zurücktreten". Nur auf diese Weise ließen sich die Rechte des zu Entmündigenden "gegen Chikane und Eigennutz" verteidigen 4 • Während der Entwurf das Entmündigungsverfahren unterschiedslos dem streitigen Verfahren vor dem Landgericht zuweist, weil "sich eine praktische Grenze für Entmündigungen unzweifelhafter Natur schwerlich ziehen (lasse)"5, I

2 3 4

5

§ 26, S. 19. § 25, S. 18. Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Band 2, Abteilung I, S. 72. A.a.O., Begründung des Entwurfs, S. 407 ff. S. 408.

B. Zivilprozeßordnung und Bürgerliches Gesetzbuch

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argumentieren seine Gegner6 mit Blick auf die Erfahrungen der Praxis: 90 % aller vorkommenden Entmündigungen seien zweifellos und bedürften keines kostspieligen Verfahrens. Aber auch aus rechtlichen Erwägungen lehnen sie die vorgeschlagenen Bestimmungen ab: Die Entmündigung gehöre nicht in den Zivilprozeß, weil es keine widerstreitenden Parteiinteressen zwischen Kläger und Beklagtem gebe. "Auch würde es zu peinlichen Lagen und zu Ärgernissen führen, wenn Z.B. Kinder als Kläger gegen ihren geisteskranken Vater vor Gericht auftreten müßten". Sie wollen "die Vormundschaftsbehörde" darüber entscheiden lassen, ob jemand zu entmündigen sei. Deren Verfügung soll der Betroffene mit einer Klage vor dem Landgericht angreifen können 7• Die Befürworter des Entwurfs halten dagegen, daß die Entscheidung über die rechtliche Existenz der Persönlichkeit nur durch ein Richterkollegium getroffen werden dürfe. Wenn es um die wesentlichen Rechte einer Person gehe, dürften nicht die Kosten maßgebend sein8 • Die Klage vor dem Landgericht auf der einen und das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit auf der anderen Seite bezeichnen auf der Ebene des Prozeßrechts zwei Grundauffassungen über das Wesen der Entmündigung: Wer für ein streitiges Verfahren eintritt, begreift sie als Rechtsentzug, gegen den der Betroffene sich wie gegen jeden anderen Angriff zur Wehr setzen darf. Wer sie der freiwilligen Gerichtsbarkeit zuweisen will, versteht sie als Fürsorge für Kranke und mißt dem damit verbundenen Verlust der bürgerlichen Selbständigkeit eine geringere Bedeutung zu. 2. Versuch eines Ausgleichs zwischen Rechtsentziehung und Fürsorge

Das Gesetz sucht die Mitte zwischen beiden Positionen: das amtsgerichtliche Beschlußverfahren. Der Anwaltsprozeß vor dem Landgericht wird als Härte für den Kranken empfunden: Die Mehrzahl der Kranken befinde sich in Irrenanstalten und sei gar nicht transportfähig. Für diese, so die Begründung, "sei der schwerfällige und kostspielige Apparat (sc. des landgerichtlichen Verfahrens) nicht nötig, und für die heilbaren Fälle passe er nicht" 9. Das Amtsgericht gilt den Verfechtern dieser Regelung als das geeignetere, weil der Amtsrichter mit den lokalen und persönlichen Verhältnissen vertraut sei. Aus dem Beklagten wird nun der "zu Entmündigende" (vgl. §§ 653,654,656 ZPO), dessen Stellung im Verfahren das Reichsgericht später so umschreibt: "In dem Entmündigungsverfahren des Amtsgerichts nimmt der zu Entmündigende noch nicht, wie in dem darauffolgenden Anfechtungsverfahren, die Rechtsstellung einer Partei ein ... 6 7 8 9

A.a.O., Protokolle der Kommission, S. 763 fT., insbesondere S. 769-771.

S. 763. S. 768 f. S. 766 f.

I. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

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Soweit seine persönliche Vernehmung nach § 654 ZPO stattzufinden hat, dient diese nicht dazu, ihm Gelegenheit zu geben, als Partei aufzutreten und Parteirechte wahrzunehmen, sondern er bildet dabei den Gegenstand der Beobachtung durch den von dem zugezogenen Sachverständigen hierin unterstützten Richter" 10.

Der nicht gelöste Widerstreit zwischen Rechtsverlust und Fürsorge, den die

epo in den Vorschriften der §§ 645 ff. spiegelt, ist bis heute nicht ausgetragen

und setzt sich in der häufig vertretenen Ansicht fort, das Entmündigungsverfahren spiele sich nur äußerlich in der Form des bürgerlichen Rechtsstreits ab, gehöre aber "begrifflich" zur freiwilligen Gerichtsbarkeit 11. Diese Zwiespältigkeit wirkt sich auf die Position des "zu Entmündigenden" aus. Einig ist man sich lediglich darin, daß er nicht "bloßes Objekt der Untersuchung" sein dürfe, und auf dieser Grundlage wird ihm die ParteisteIlung zugesprochen 12 oder versagt 13. 11. Die Voraussetzungen der Entmündigung nach § 6 I Nr. 1 BGB

Der Verfahrensordnung folgt das einheitliche materielle Recht im Bürgerlichen Gesetzbuch. Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift des § 6 belegt noch einmal die hier aufgezeigte Entwicklung. Schon der erste Entwurf verzichtet ausdrücklich darauf, die geistigen Störungen mit "Wahnsinn", "Raserei" und "Blödsinn" zu klassifizieren: "Jeder Versuch einer derartigen Scheidung ist bedenklich und zwecklos; bedenklich, weil nach dem Stand der Seelen heil kunde die einzelnen Formen oder Stadien der Geistesstörung weder erschöpfend aufgezählt noch untereinander abgegrenzt werden können; zwecklos, weil weder die Verschiedenheit der äußeren Anzeichen noch der Umstand, ob die Störung vorzugsweise die eine oder die andere Seite der Geistestätigkeit ergreift, für die an einen solchen Zustand zu knüpfenden rechtlichen Folgen von maßgebender Bedeutung sein können" 14.

1. Geisteskrankheit: Grundfür die Entmündigung und Ursache der natürlichen Geschäftsunfähigkeit

Während der Begriff der Geisteskrankheit mit Rücksicht auf die Medizin nicht weiter unterteilt wird, definiert der erste Entwurf aber noch in § 28, was "Geisteskrankheit" vom Standpunkt des Rechts bedeutet: "Eine Person, welche des Vernunftgebrauchs beraubt ist, kann wegen Geisteskrankheit entmündigt werden" 15. RGZ 81, 193 (196 f.). Stein/Jonas/Schlosser, ZPO (1972), Vor § 645, Anm. III; Rosenberg/Schwab (1981), § 171 I I c, S. 1072. 12 Schlosser, a.a.O., Anm. III I. 13 Rosenberg/Schwab, § 171 12 e, S. 1075 f. 14 Mugdan, Motive I, S. 386. 15 Mugdan, S. LVII. 10 11

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Mit dieser Definition wird die Voraussetzung einer Entmündigung bestimmt und gleichlautend in § 68 (der - verändert - in die Vorschrift des § 104 BGB mündet) ein Grund für die Geschäftsunfahigkeit. Diese soll - mit oder ohne Entmündigung - immer dann eintreten, wenn die Fähigkeit zum Vernunftgebrauch fehlt 16. Geistesschwäche, "die ungenügende Entwicklung der geistigen Kräfte im Gegensatz zum Mangel der Fähigkeit regelrechter Willens bestimmung" 17, berührt nicht die Geschäftsfahigkeit und ist deshalb weder Grund für eine Entmündigung noch für eine Vormundschaft 18. § 1739 (des l. Entwurfs) sieht nur eine Pflegschaft wegen geistiger Gebrechlichkeit vor, die - ohne Einfluß auf die Geschäftsfahigkeit - Beistand in Vermögensangelegenheiten gewähren soll 19 • 2. Die Stellungnahme der medizinischen Sachverständigen

Die Stellungnahme der medizinischen Sachverständigen zu dem Entwurf gibt Zeugnis von dem Wandel, der in der Medizin eingesetzt hat, und dem Bemühen, die ärztliche Sicht für das Recht verbindlich zu machen. Die Sachverständigen begrüßen, daß § 28 nicht zwischen verschiedenen Zuständen und Graden der Geisteskrankheit unterscheide, aber sie lehnen jede rechtliche Bestimmung des Begriffs "Geisteskrankheit" ab: Nicht alle Geisteskranken seien des Vernunftgebrauchs beraubt, müßten aber aus "Rücksicht der Fürsorge" entmündigt werden. Wenn man die Fassung des § 28 "ernstlich und im Sinne der Psychiatrie (verstehe)", sei eine Entmündigung wegen Geisteskrankheit kaum jemals möglich. Der Stand der medizinischen Forschung soll zum Maßstab für das Recht werden. Die ärztlichen Definitionen der Geisteskrankheit, so betonen die Sachverständigen, seien "im wesentlichen nur Umschreibungen, nicht Erklärungen". Daher sei auch jeder Versuch einer rechtlichen Definition "von vornherein aussichtslos" 20.

S. LXXIV. S. 386. 18 In diesem Stadium der Beratungen ist die Entmündigung noch nicht alleinige Voraussetzung der Vormundschaft. Nach § 1727 des 1. Entwurfs sollte ein Volljähriger einen Vormund erhalten, wenn er des vormundschaftlichen Schutzes für bedürftig erklärt worden war (Mugdan, IV, S. CXXX). 19 IV, S. CXXXIII. 20 Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches (ZG) (1890), Bd. I, S. 54 f. 16 17

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I. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

3. Der weitere Gang der Beratungen Diese Stellungnahme bleibt nicht ohne Einfluß auf die weiteren Beratungen. Der zweite Entwurf nähert sich in § 14 21 der schließlich in § 6 I Nr. 1 Gesetz gewordenen Fassung: "Entmündigung findet statt: 1. wegen Geisteskrankheit, wenn der Kranke in Folge derselben seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag;

1. a) wegen Geistesschwäche, wenn der Geistesschwache in Folge derselben seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag."

a) Der Anfang einer Unklarheit: § 6 I Nr. 1 im Verhältnis zu § 104 Nr. 2 BGB Die Entmündigung soll nun Geschäftsunfahigkeit (§ 78 Nr. 1 des 2. Entwurfs) oder beschränkte Geschäftsfahigkeit (§ 88 des 2. Entwurfs) auslösen. In ihren Voraussetzungen unterscheidet sie sich jetzt aber von der "natürlichen Geschäftsunfähigkeit,,22, die § 104 Nr. 2 BGB umschreibt als den "Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit, der die freie Willensbestimmung ausschließt". Daß man auf eine nähere Bestimmung des Begriffs "Geisteskrankheit" verzichtet hat, ist ein Zugeständnis an die Medizin: "Der Versuch einer anderweiten gesetzlichen Definition derjenigen Form der Geisteskrankheit, die für die Zulässigkeit der Entmündigung zu fordern sei, verspreche nach dem geBenwärtigen Stande der medizinischen Wissenschaft keinen befriedigenden Erfolg" .

Immerhin bestehen Bedenken, die Entmündigung allein wegen einer Geisteskrankheit auszusprechen, es muß hinzukommen, daß die Krankheit unfähig macht, seine Angelegenheiten zu erledigen. Die Protokolle erläutern: "Der einfache und gebräuchliche Ausdruck ,Geisteskrankheit' gewähre aber auch dem medizinischen Sachverständigen und dem Richter genügend Anhalt, wenn sie daneben darauf hingewiesen würden, daß eine durch die Geisteskrankheit bewirkte Unfähigkeit des Kranken, seine Angelegenheiten zu besorgen, vorliegen müsse,,24.

An diesem Punkte werden die Gesetzesmaterialien unklar. Einerseits verzichtet die Kommission auf jegliche Definition des Entmündigungsgrundes "Geisteskrankheit", weil die Medizin keine klaren Aussagen machen könne, andererseits soll aber der "einfache und gebräuchliche Ausdruck Geisteskrankheit" genügend Anhalt geben, inhaltlich also festgelegt sein. 21 Mugdan I, S. LVII. Mugdan, S. LXXIV. 23 Ders., S. 586. 24 S. 586. 22

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b) Geistesschwäche als Entmündigungsgrund Die Unklarheiten setzen sich fort bei dem neuen Entmündigungsgrund "Geistesschwäche", der in § 14 aufgenommen wird, um weiteren Einwänden der medizinischen Sachverständigen Rechnung zu tragen. Diese hatten bemängelt, daß der Geistesschwache nach dem I. Entwurf25 allenfalls einen Pfleger erhalten konnte (und im Grundsatz nur mit seiner Zustimmung), während er aus ihrer Sicht aber "am dringendsten" den vormundschaftlichen Schutz brauche 26 . Die Vormundschaft für Geistesschwache sollte aber nicht den § 1727 (1. Entwurf)27 erweitern, der eine Vormundschaft für körperliche Gebrechen vorsah (die - wie bei der Pflegschaft des § 1739 - im Grundsatz von der Zustimmung des Betroffenen abhing), sondern, in Abkehr vom Prinzip der Freiwilligkeit, nach einer Entmündigung angeordnet werden 28 .

§ 14 Nr. I ades 2. Entwurfs greift diesen Vorschlag auf, aber der Begriff der Geistesschwäche unterscheidet sich völlig von der bisherigen Bestimmung als einer" ungenügenden Entwicklung der geistigen Kräfte", die im I. Entwurf kein Entmündigungsgrund war. Geistesschwäche wird nun als "besondere Art der Geisteskrankheit" verstanden, weil man unter Geisteskrankheit "auch die angeborenen Zustände geistiger Unvollkommenheit" erfasse. Die beiden Entmündigungsgründe sollen nur Grade einer Störung bezeichnen: Geisteskrankheit den schwereren, der Geschäftsunfahigkeit zur Folge hat, und Geistesschwäche den leichteren, der nur die beschränkte Geschäftsfahigkeit bewirkt 29 . c) Das Auseinanderfallen von rechtlicher und medizinischer Terminologie Damit löst sich die Kommission von einem Verständnis, das Recht und Medizin geeint hatten. Geistesschwäche war die bloße intellektuelle Schwäche und darin verschieden von der Geisteskrankheit, die das Recht ursprünglich mit "Raserei" und "Wahnsinn" umschrieb und die in der psychiatrischen Terminologie später unter dem Begriff der "Psychosen" erscheinen wird. Für das Recht soll von nun an nicht mehr entscheidend sein, ob vom psychiatrischen Standpunkt aus Geistesschwäche unter den Begriff der Geisteskrankheit fallt: Der Gesetzgeber, so die Protokolle, "müsse vielmehr damit rechnen, daß es Zustände geistiger Unvollkommenheit gebe, die nach gewöhnlicher Auffassung nicht unter den Begriff der Geisteskrankheit fielen, trotzdem aber dem Kranken die Besorgung seiner Angelegenheiten unmöglich machten und aus diesem Grund 25 26

27 28

29

Mugdan IV, S. CXXXIII. ZG IV, S. SOl f. Mugdan IV, S. CX XX. ZG IV, S. 502. Mugdan, Prot. I, S. 586.

3 Weinriefer

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I. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

die Entmündigung rechtfertigten. Der Unterschied der im Leben zwischen Geisteskrankheit und Geistesschwäche gemacht werde, genüge, um ihn zum Gegenstande zweier Entmündigungsfälle zu machen"JO. Endemann hat dieser Begründung entgegengehalten, sie sei für die Rechtsanwendung unbrauchbar: "Mit dem bloßen Hinweis auf den Laienstandpunkt kann in dieser überaus wichtigen Frage ein seiner Verantwortlichkeit bewußter Richter sich schwerlich für befriedigt erklären ... Der Hinweis auf den Unterschied, den derLaie im praktischen Leben macht, bringt aber auch nicht weiter. Denn es ist gänzlich unnachweisbar und unkontrollierbar, ob und welche Vorstellungen die sogenannte praktische Lebensauffassung über Geisteskrankheit hat; dem Richter ist doch nicht zuzumuten, sich der meist verkehrten Vorstellungsweise des Laien über ,das Verrücktsein' zu unterwerfen,,3!. Die Erläuterungen der Protokolle laufen auf einen gefährlichen Zirkel hinaus: Daß entmündigt werden darf, wer entmündigt werden soll. Denn die Begriffe "Geisteskrankheit" und "Geistesschwäche" sind völlig offen und bieten dem Richter keinen Entscheidungsmaßstab. d) Die Unklarheit der Rechtsbegriffe Die Beratungen zur Vorschrift des späteren § 6 BGB zeigen hier eine methodische Unklarheit im Umgang mit den Begriffen, die aus dem Gegenstand der Regelung erwächst. Zitelmann32 hat in seiner Schrift "Irrtum und Rechtsgeschäft" aus dem Jahre 1875 auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die entstehen, wenn das Gesetz Tatbestandsmerkmale aufnimmt, die nicht oder nicht allein dem Recht zugehören, sondern auch in eine andere Disziplin verweisen. Er nennt als "lehrendes Beispiel" die juristische Behandlung des "Irreseins", die zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung über den Irrtum wird. Zitelmann trifft eine methodische Unterscheidung in "reine Rechtsbegriffe", nämlich solche, die nur das Recht sich schafft, und eine zweite, nicht näher bezeichnete Art von Rechtsbegriffen, die sowohl im juristischen als auch im außerjuristischen Bereich verwendet werden. Bei den letzteren habe, so Zitelmann, der Gesetzgeber die Möglichkeit, den faktischen Begriff in einen juristisch-technischen zu verwandeln, indem er Merkmale nehme oder neue hinzusetze, oder ihn ohne Verwandlung in der Gestalt aufzunehmen, wie das Leben ihn biete. Der "Irrsinn" gehöre zu den Begriffen, die das Recht nicht bestimmen könne, die Entscheidung liege beim Arzt. Was Geisteskrankheit sei, unterliege dem Wandel der Medizin, während der Rechtssatz, dessen Element sie sei, beständig bleibe, nämlich die vom römischen Recht her geltende Regel: Der Geisteskranke ist handlungsunfähig. Seine Ausführungen gipfeln in dem Satz: "Der Begriff des Irrsinns im 30

31 32

S. 586. Bürgerliches Recht, I. Band (1899), § 34, S. 159 f., Fußnoten bund d. S. 16-19.

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Gesetz ist eben nichts anderes als ein leeres Gefäß, in welches die jeweilige Specialwissenschaft den Inhalt erst hineinzugießen hat,,33. Zu dieser klaren Haltung hat sich die Kommission bei den Beratungen des BGB nicht entschließen können. Sie sucht einen von der Medizin unabhängigen Standpunkt zu behaupten, weil es Zustände gebe, die auch dann, wenn sie nicht unter den Begriff der Geisteskrankheit fielen, dem Betroffenen die Erledigung seiner Angelegenheiten unmöglich machten. Man will also nicht, wie Zitelmann fordert, der Medizin ein "Blankett" ausstellen, welches diese ausfüllt. Die Entmündigung soll auch unabhängig von psychiatrischen Diagnosen ausgesprochen werden können, wenn rechtlicher Schutz notwendig ist. Will das Recht sich von der medizinischen Sichtweise freimachen und nicht nur die Erkenntnisse dieser Wissenschaft übernehmen, müssen jedoch Ziel und Inhalt des zu gewährenden Schutzes feststehen. Erst dann weiß der Richter, was er von der Medizin wissen will und wie er ein ärztliches Gutachten für seine Entscheidung verwerten kann. Was aber ist der Zweck der Entmündigung aus der Sicht des Gesetzgebers im 19. Jahrhundert? e) Der Zweck der Entmündigung Die Vorentwürfe der Redaktoren äußern sich noch über die Aufgabe der Entmündigung. Sie knüpfen an die Geschäftsfähigkeit an und definieren sie - darin Windscheid 34 folgend - als die Fähigkeit, durch Willenserklärung diejenige rechtliche Wirkung zu erzeugen, auf deren Hervorbringung die Willenserklärung gerichtet ist. "Willensfähigkeit und Willensvermögen" gelten als die "natürlichen Voraussetzungen" der Fähigkeit zum Handeln mit rechtlicher Wirkung. Sie fehlen bei Kindern und Personen, die des Vernunftgebrauchs beraubt sind 35 . Die Entmündigung hat - von diesem Grundsatz ausgehend - zwei Funktionen: Sie soll erstens gewährleisten, daß die Bevormundung nicht "kurzer Hand", sondern erst dann eingeleitet wird, wenn ein Gericht die"abnorme Geistesbeschaffenheit" nach einer Sachuntersuchung feststellt 36. Zweitens soll sie die natürliche Geschäftsunfähigkeit nicht nur deklarieren, sondern mit Rücksicht auf die Rechtssicherheit einen "juristischen Zustand der Geschäftsunfähigkeit,,37 begründen, der während der Dauer der Entmündigung fortdauert unabhängig also von "lichten Zwischenräumen". aa) In diesem Sinne versteht auch die erste Kommission das Institut der Entmündigung38 . Der Standpunkt der zweiten ist dagegen nicht mehr zu bestimmen, Zitelmann, S. 19. Lehrbuch des Pandektenrechts (1900), I. Band, § 71, S. 277. 35 Die Vorentwürfe der Redaktoren zum BGB (Verfasser Gebhard), hrsg. von Schubert (1981), Allgemeiner Teil, Teil 2, S. 31. 36 A.a.O., Allgemeiner Teil, Teil I, S. 471. 37 A.a.O., Allgemeiner Teil, Teil 2, S. 34: In diesem Stadium der Gesetzesarbeiten war der Zustand beschränkter Geschäftsfähigkeit als Folge der Entmündigung noch nicht vorgesehen. 33

34

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I. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

weil sich jetzt rechtliche und medizinische Gesichtspunkte vermengen. Die Entmündigung bleibt zwar weiterhin auf das Rechtsgeschäft bezogen, denn der gleichlautend in § 104 BG B übergehende § 78 des zweiten Entwurfs regelt im Abschnitt "Rechtsgeschäfte" die Geschäftsfähigkeit und versagt sie dem wegen Geisteskrankheit Entmündigten. Aber der Entwurf verzichtet darauf, den Begriff der Geisteskrankheit wie bisher zu umgrenzen und läßt ihn - in der vagen Hoffnung, die Praxis werde ihn ausfüllen können -, offen. Solange der Geisteskranke - rechtlich - als eine Person beschrieben wurde,,,we1che des Vernunftgebrauchs beraubt ist" (§ 28 des I. Entwurfs), schlug diese Definition die Brücke zum rechtsgeschäftlichen Handeln: Die Willenserklärung setzt Handlungsfahigkeit voraus, und diese wiederum besteht im freien Gebrauch der Vernunft, zu dem Kinder und Geisteskranke nicht imstande sind. Ihre Willenserklärungen haben daher keine Gültigkeit. Der unbestimmte Begriff der "Geisteskrankheit", auf den sich der zweite Entwurf festlegt, hat keinen rechtlichen Bezugspunkt mehr. Er ist nicht länger gleichbedeutend mit rechtsgeschäftlicher Handlungsunfähigkeit - wie noch in § 28, der ihn über seinen Wortlaut mit der Willenserklärung verknüpfte -, sondern läßt sich mit beliebigen Inhalten füllen. bb) Man mag einwenden, daß das Gesetz auch für die Willenserklärung keine psychischen Merkmale bestimmt, sondern auf ein nicht formuliertes Grundverständnis setzt, das im Brennpunkt von Geschäftsfähigkeit und Irrtum zu klären ist. Insofern könnte auch der Begriff der Geisteskrankheit bei aller Unschärfe in den rechtsgeschäftlichen Bezug eingebunden bleiben. Was ihn jedoch davon trennt, ist der als Einschränkung gedachte Zusatz in § 78, der Betreffende müsse nicht nur geisteskrank, sondern auch außerstande sein, seine Angelegenheiten zu erledigen. Der Begriff der "Angelegenheiten" ist von schillernder Weite, und die Materialien präzisieren ihn an keiner Stelle. Betrachtet man allein den Tatbestand des § 78 (und späteren § 6 BGB) - ohne auf den Zusammenhang mit der Geschäftsfähigkeit zu sehen - so erhält diese Vorschrift eine selbständige, aber unklare Bedeutung: Wer geisteskrank ist und seine Angelegenheiten nicht erledigen kann, darf entmündigt werden; die Entscheidung darüber hängt von zwei unbestimmten Rechtsbegriffen ab, die eine Fülle von Auslegungsmöglichkeiten eröffnen: Zu den Angelegenheiten können rechtsgeschäftliche zählen, aber auch soziale, politische und medizinische. f) Trunksucht als Entmündigungsgrund Zeichen für soziale Fürsorge durch das Recht

Der unklare Begriff der "Angelegenheiten" bewirkt eine Verselbständigung der Entmündigung, die nun nicht mehr allein dazu dient, den Bereich rechtlicher Handlungsfahigkeit abzugrenzen. Sie gibt jetzt die Grundlage für eine nicht 38

Mugdan I, S. 385.

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näher bestimmte und damit beliebige Fürsorge durch den Vormund, den jeder Entmündigte erhält (§ 1896 BGB). Beleg für die Richtigkeit dieser These ist ein Entmündigungsgrund, den erst der zweite Entwurf vorschlägt: die Trunksucht. Diesem Entmündigungsgrund wird eine über das Rechtsgeschäftliche hinausgehende Aufgabe zugewiesen. Ausdrücklich verwirft die Kommission den Einwand, damit werde die Grenze des Privatrechts überschritten. Die Protokolle berichten: "Die Trunksucht stelle eine so ernste Krankheit des Volkskörpers dar, und das Verlangen der öffentlichen Meinung nach gesetzlicher Bekämpfung des Übels sei ein so dringendes, daß auch die Privatrechtskodifikation sich der Aufgabe nicht entziehen könne, mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln zur Erreichung dieses Ziels mitzuwirken ... Die Entmündigung des Trinkers sei das geeignete privatrechtliche Mittel, um seine Unterbringung in einer Heilanstalt zu ermöglichen. Die Gleichstellung seiner Person mit den Geisteskranken und Verschwendern werde einen heilsamen erziehlichen Einfluß auf die Bevölkerung ausüben,,39. Damit öffnet man sich einer Zeitströmung, nach der die Entmündigung nicht nur die Voraussetzungen und Grenzen rechtsgeschäftlichen Handeins bestimmt, sondern auch Mittel sozialer Fürsorge und Lenkung sein soll. Aber die Zugeständnisse sind halbherzig, denn nach wie vor bleibt die Entmündigung in der Systematik des Gesetzes dem rechtsgeschäftlichen Bereich verhaftet. Dem wegen Geisteskrankheit Entmündigten versagt § 104 Nr. 3 die Geschäftsfähigkeit, und § 114 schränkt sie bei den anderen Entmündigungsgründen (Geistesschwäche, Trunksucht, Verschwendung) ein. Lediglich die offenen Begriffe des § 6 deuten das Spannungsverhältnis an, indem eine zurückhaltende, sich auf das Greifbare (nämlich das Rechtsgeschäftliche) beschränkende Richtung mit einer weitergehenden, sich sozialen Bedürfnissen aufschließenden Strömung, konkurriert. III. Die Vormundschaft als Kehrseite der Entmündigung

Die Vormundschaft ist die Kehrseite der Entmündigung. Sie füllt die durch diesen Eingriff geschaffene Lücke, weil die entzogene oder eingeschränkte Handlungsfähigkeit auf den Vormund übergeht 40 • Die Tragweite der Entmündigung erschließt sich deshalb erst im Vormundschaftsrecht. 1. Keine Vormundschaft über Erwachsene ohne Entmündigung

Das BGB macht in § 1896 jede Vormundschaft über Volljährige von einer Entmündigung abhängig, und nur ausnahmsweise, im laufenden Entmündigungsverfahren, kann eine vorläufige Vormundschaft ohne diesen Akt angeordnet 39 40

Mugdan, Protokolle I, S. 587. Mugdan Motive IV, S. 650 f.

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I. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

werden, wenn Person oder Vermögen erheblich gefährdet sind (§ 1906 in Verbindung mit § 114). Daß nur die Entmündigung die Vormundschaft auslösen soll, erklärt die Denkschrift zum BGB 41 mit der Vorsicht, die sich der Gesetzgeber auferlegt habe. Die Vormundschaft sei ein so weitgehender Eingriff in die "persönlichen und Lebensverhältnisse" , daß sie sich nur rechtfertige, wenn ein gerichtliches Entmündigungsverfahren der Gefahr des Mißbrauchs vorbeuge. Während sich in § 6 bereits die Lösung von einem engen privatrechtlichen Rahmen abzeichnet, bleibt das Vormundschaftsrecht dem traditionellen, Im gemeinen Recht wurzelnden Denken treu. 2. Vormundschaft als "künstliches Familienverhältnis"

Die Vormundschaft ist nach gemeinem Recht in ihrem Kern ein Ersatz der elterlichen Gewalt, in den Worten Savignys "künstliches Familienverhältnis"42, aber gebunden an die Mitwirkung und Aufsicht des Staates, der die Obervormundschaft führt 43 . Das BGB übernimmt diese Grundsätze und entscheidet sich damit gegen polizei- und wohlfahrtsstaatliche Ziele, die noch das preußische Allgemeine Landrecht verfolgt hatte, indem es die Vormundschaft zum Imtrument staatlicher Fürsorge ausbildete und den Vormund zum "Bevollmächtigten der Obrigkeit" machte44 • Das ALR 45 bestimmte im 2. Teil, 18. Titel, § 1 und § 3: "Personen, welche für sich selbst zu sorgen nicht im Stande sind, stehen unter der besonderen Aufsicht und Vorsorge des Staates." "Diejenigen, welchen der Staat die Sorge für seine Pflegebefohlenen in Ansehung aller ihrer Angelegenheiten aufgetragen hat, werden Vormünder genannt."

Die Vormundschaft des BGB hat dagegen ihr Leitbild in der elterlichen Gewalt 46 • Deshalb bestimmen sich das Recht und die Pflicht, für die Person des Mündels zu sorgen, nach den Vorschriften der §§ 1631 bis 1633, die das Verhältnis der Eltern zum Kind regeln. Daß das BGB Kinder, Minderjährige und Entmündigte (§§ 104, 114) unter dem Gesichtspunkt fehlender oder eingeschränkter Geschäftsfähigkeit gleichstellt, setzt sich auch im Familienrecht fort: Die Vormundschaft für Volljährige unterscheidet sich in ihrer Struktur nicht von der Altersvormundschaft. Sie leitet sich von ihr ab und folgt - um einige Vorschriften ergänzt (§§ 1897 ff.) - im Grundsatz ihren Bestimmungen (über § 1897)47. 41

42 43 44

45 46 47

Mugdan IV, S. 1185. System I, § 55, S. 363. Endemann (1908), Familienrecht, § 212, S. 714. Peukert (1984), Der sozialgeschichtliche Sinn und Sinnwandel der Entmündigung, S. 73. Abgedruckt bei Schering, Preuss. Landrecht, Bd. 3. Endemann, a.a.O., S. 715. Mugdan IV, Motive, S. 651.

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3. Die Selbständigkeit des Vormunds

Das BGB bekennt sich zur Selbständigkeit des Vormunds 48 , der nicht, wie im preußischen Landrecht, Bevollmächtigter des Staates ist 49 , sondern eigenverantwortlich für Person und Vermögen des Mündels zu sorgen hat. Ausdruck einer liberalen Rechtsidee, die den staatlichen Einfluß gering halten will, ist ferner das (ursprüngliche) System des privaten Einzelvormundsso, das erst das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz von 1922 (RGBl. I, S. 633) ändert und um die Amts- und Vereinsvormundschaft, heute in §§ 37 und 53 JWG geregelt, erweitert. Die Vormundschaft des BGB ist eine Einheit aus Fürsorge durch den Vormund und staatlicher Aufsicht, der Obervormundschaft, die bei den Amtsgerichten geführt wird. Das Vormundschaftsgericht bestellt den Vormund (§ 1837), genehmigt Rechtsgeschäfte (insbesondere §§ 1821, 1822) und läßt sich Rechnung legen (§ 1840). Die Obervormundschaft gehört zur freiwilligen Gerichtsbarkeit (§§ 35 ff. FGG), der rechtsfürsorgenden Tätigkeit des Staatesim Gegensatz zur Entmündigung als dem rechtsentziehenden Akt, der dem Zivilprozeß zugewiesen ist. 4. Das Übergewicht der vermögensrechtlichen Vorschriften und die unbestimmte Befugnis zur Personensorge

Das BGB regelt die vermögensrechtlichen Befugnisse des Vormunds eingehend (§§ 1802 bis 1824): Die Anlegung von Mündelgeldern (§ 1807), die Verfügung über Forderungen und Wertpapiere (§ 1812), die Hinterlegung und Umschreibung von Inhaberpapieren (§§ 1814, 1815), die Sperrung von Buchforderungen (§ 1816), die Verfügung über Grundstücke und Schiffe (§ 1821 Nr. 1 und 3) - um eine beispielhafte Aufzählung zu geben. Mit größter Genauigkeit gibt das Gesetz dem Vormund auf, was er für das Vermögen des Mündels zu leisten hat, läßt ihm aber bei der Personensorge weitgehende Freiheit. Die Verweisung des § 1800 auf die §§ 1631 bis 1633 räumt ihm die gleiche Stellung wie den Eltern ein und weist ihm deren ebenso umfassende wie inhaltlich unbestimmten Rechte und Pflichten zu: Pflege, Erziehung, Beaufsichtigung und Aufenthaltsbestimmung. Das Übergewicht der vermögensrechtlichen Vorschriften zeigt erneut den Einfluß des gemeinen Rechts, das die väterliche Gewalt (im BGB die elterliche Sorge), welche die Vormundschaft ersetzt, in einen juristisch bedeutsamen vermögensrechtlichen Teil und in einen tatsächlichen, rechtlich ungeregelten der Personensorge spaltet 51 • Mugdan IV, Motive, S. 535. ALR 2. Teil, 18. Titel, § 235: "In allen diesen Beziehungen sind die Vormünder als Bevollmächtigte des Staates anzusehen" (abgedruckt bei Schering, Preuss. Landrecht, Bd. 3). 50 Peukert, a.a.O., S. 73. 51 Savigny, Bd. I, § 54, S. 353. 48

49

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I. Teil: Die Entwicklung des Rechtsinstituts der Entmündigung

Daß der Vormund die elterliche Sorge ausübt, ist die konsequente Fortführung des gesetzlichen Grundverständnisses über Vormundschaft und - wenn es um Minderjährige geht - auch lebensnah. Bei der Personensorge erweist sich aber zugleich, daß das Modell der Altersvormundschaft, das sich am ElternKindverhältnis ausrichtet, nicht in jeder Hinsicht auf die Vormundschaft über Erwachsene übertragen werden kann. "Pflege", "Erziehung" und "Aufsicht" als Kennzeichen elterlicher Sorge entsprechen den Bedürfnissen des Kindes und wurzeln in seiner natürlichen Abhängigkeit von den Eltern. Sie passen nicht für den Erwachsenen, der auch als geistig Kranker kein Kind mehr ist. Deshalb soll er, wie die Motive 52 hervorheben, nicht in dem Maß der Personensorge unterstehen wie der Minderjährige. Die Frage aber, wie der Vormund die Personensorge gegenüber einem Entmündigten auszuüben hat, bleibt unbeantwortet. Daß sie offen ist, verdeckt eine doppeldeutige Regelung: Einerseits gelten über die Generalverweisung des § 1897 auf 1800 auch die §§ 1631 bis 1633, andererseits begrenzt § 1901 die Personensorge auf den "Zweck der Vormundschaft". Die Motive 53 erläutern dazu: "Dieser Zweck beschränkt sich auf die notwendige gesetzliche Vertretung in persönlichen Angelegenheiten sowie auf die Veranstaltung der erforderlichen Pflege, der etwaigen Heilung, Beaufsichtigung und Sicherung des Mündels."

5. Die Pflegschaft im Gegensatz zur Vormundschaft: Das Prinzip der Freiwilligkeit Die Vormundschaft des BGB teilt sich in die "Vormundschaft im technischen Sinn", nämlich Altersvormundschaft und Vormundschaft über Entmündigte, und die Pflegschaft, die über die Verweisung des § 1915 den Bestimmungen des Vormundschaftsrechts folgt; deshalb ist der Pfleger, wie der Vormund, gesetzlicher Vertreter innerhalb seines Aufgabenkreises (§ 1793)54. Nach ihren Voraussetzungen und Zielen sind beide Institute jedoch deutlich verschieden: Die Vormundschaft wird durch eine Entmündigung aufgezwungen, die Pflegschaft tritt - im Grundsatz - nur ein, wenn der Betroffene ihr zustimmt (§ 1910 Abs. 3). Während der Vormund allgemein für Person und Vermögen zu sorgen hat, darf der Pfleger nur Hilfe für "besondere Angelegenheiten" leisten 55 • Die Pflegschaft entzieht oder beschränkt nicht die Geschäftsfähigkeit, auch nicht, um widersprechende Rechtshandlungen zu verhindern 56 : Mugdan IV, Motive, S. 656. S. 656. 54 Mugdan IV, Motive, S. 535 und 663. 55 S. 663. Der Grundsatz, daß die Pflegschaft nur für "besondere Angelegenheiten" angeordnet werden darf, ist allerdings in § 1910 Abs. 1 (bei körperlichen Leiden) durchbrochen, weil nach dieser Vorschrift ein Pfleger für Person und Vermögen sorgen darf. S