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German Pages 228 Year 1995
MANFRED BALDUS
Die Einheit der Rechtsordnung
Schriften zur Rechtstheorie Heft 168
Die Einheit der Rechtsordnung Bedeutungen einer juristischen Formel in Rechtstheorie, Zivil- und Staatsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts
Von Manfred Baldus
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Baldus, Manfred: Die Einheit der Rechtsordnung : Bedeutung einer juristischen Formel in Rechtstheorie, Zivil- und Staatsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts / von Manfred Baldus. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 168) Zugl.: Frankfurt (Main), Univ., Diss., 1993/94 ISBN 3-428-08370-9 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-08370-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Die historische Untersuchung des Entwicklungsganges einer Wissenschaft ist sehr notwendig, wenn die aufgespeicherten Sätze nicht allmählich zu einem System von halb verstandenen Rezepten oder gar zu einem System von Vorurteilen werden sollen. Die historische Untersuchung fördert nicht nur das Verständnis des Vorhandenen, sondern legt auch die Möglichkeit des Neuen nahe, indem sich das Vorhandene eben teilweise als konventionell und zufällig erweist.
Emst Mach
Vorwort Anlaß der vorliegenden Untersuchung war die Beobachtung, daß Rechtspraxis und Rechtstheorie die Formel von der Einheit der Rechtsordnung gerne verwenden, ohne daß dabei aber sogleich einsichtig wäre, welcher genaue Bedeutungsgehalt sich hinter ihr verbirgt. Oft keimte der Verdacht, ihr Gebrauch diene nur dazu, schwierigen und komplexen Grundproblemen der Rechtsarbeit aus dem Wege zu gehen. Der Versuch, die Einheitsformel in ein helleres Licht zu stellen, sollte zuerst durch eine präzise Analyse der dogmatischen Probleme erfolgen, deren Lösungen die Formel als tragendes Begründungselement enthalten. Herr Prof. Dr. Bernhard Schlink, der mich schon bei meinen ersten wissenschaftlichen Versuchen unterstützte und förderte, regte demgegenüber mit überzeugenden Argumenten an, zunächst eine Bestandsaufnahme der Formelverwendungen in der Rechtstheorie und Staatsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts zu erarbeiten. Auf Herrn Prof. Dr. Michael Stolleis Rat und Einfluß ist es zurückzuführen, daß dabei dann auch tatsächlich eine historische Perspektive eingenommen und durchgehalten wurde. Ihnen beiden danke ich von Herzen. Anteil an dieser Arbeit nahm auch Prof. Dr. Walter Pauly, inzwischen Staatsrechtslehrer in Halle. An die zahlreichen Gespräche während seiner Frankfurter Zeit denke ich gerne zurück. Diese Arbeit entstand in der Zeit zwischen Herbst 1991 und Sommer 1993 mit Hilfe eines großzügigen Stipendiums der Stiftung Volkswagenwerk und im Rahmen des Frankfurter Graduiertenkollegs für Rechtsgeschichte, das auch Mittel zu ihrer Drucklegung bereitstellte. Im Wintersemester 1993/94 lag sie der Frankfurter rechtswissenschaftlichen Fakultät als Dissertation vor. Dank gilt an dieser Stelle auch meiner Mutter, die mich in einem schwierigen Moment von allen Sorgen des Alltags freihielt und so einen zügigen Abschluß der Arbeit im ruhigen Westerwald ermöglichte. Schließlich danke ich Helge. Durch sie durfte ich immer wieder erfahren, daß die Beschäftigung mit den Grundfragen des Rechtsdenkens den Reichtum des Lebens eben doch nicht ausschöpft. Gewidmet ist diese Untersuchung meinem Vater, der im Jahre 1987 viel zu früh starb. So spannungsreich unser Verhältnis in seinen letzten Jahren auch war, er würde sich über meine Arbeit sehr freuen. Hamburg im September 1994 Manfred Baldus
Inhaltsverzeichnis Α. Einleitung I. Verwendungen der Formel von der Einheit der Rechtsordnung in Rechtspraxis und -Wissenschaft der Gegenwart (Problemstellung) II. Eigenarten und Methodik einer Verwendungsanalyse III. Sachliche und zeitliche Begrenzungen der Untersuchung B. Einheitsformeln in Rechtstheorie und Zivil rechts Wissenschaft I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19.Jahrhundert 1. Die systematische Einheit des positiven Rechts durch Rückführung der positiven Rechtssätze auf einen einzigen Grundsatz (Thibaut 1797,1798 und 1809, Kohlschütter 1798, Feuerbach 1804, K.S.Zachariae 1806, Seidensticker 1807) 2. Die Vorstellung einer systematischen Einheit des positiven Rechts als Nachhall naturrechtlichen Denkens bei der wissenschaftlichen Ordnung des positiven Rechts 3. Die Herkunft der Vorstellung einer systematischen Einheit des positiven Rechts aus dem kantianischen Wissenschaftsverständnis 4. Zusammenfassung II. Kodifikationsstreit 1. Die Einheit des Rechts durch ein Gesetzbuch (Thibaut 1814, Gönner 1815) 2. Die organische Einheit des Gesetzbuchs (Savigny 1814) III. Historische Rechtsschule 1. Die dem Recht inwohnende Einheit (Savigny 1815) 2. Die ursprüngliche Einheit des Deutschen Rechts (Eichhorn 1815) 3. Puchtas Vorstellung einer Einheit des Rechts im Rahmen seiner Theorie über die Perioden in der Rechtsgeschichte (1823) 4. Die dem Recht inwohnende, zu enthüllende und zu vollendende Einheit des Rechts (Savigny 1840) 5. Die Einheit des Rechts durch die Einheit des Volksgeists (Savigny 1840, Puchta 1841) 6. Die organische Einheit von deutschem und römischem Recht sowie die einheitliche Fortbildung des deutschen Rechtswesens durch Volksrecht und Juristenrecht (Beseler 1843) 7. Die Einheit des Rechtsorganismus (Puchta 1841, Ihering 1852) 8. Zusammenfassung IV. Juristischer Positivismus und Neukantianismus 1. Die Einheit des Rechts durch einen Allgemeinen Teil der Rechtswissenschaft (Merkel 1874) 2. Die Einheit des Rechts durch den Begriff des Rechts (Stammler 1911) V. Interessenjurisprudenz und frühe Rechtssoziologie 1. Die Einheit des Rechts als Widerspruchslosigkeit des Gesetzesinhalts (Heck 1905-1932) 2. Die Einheit des Rechts durch den einheitlichen Staatswillen (Ehrlich 1917)
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Inhaltsverzeichnis
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft I. Überleitung II. Staatsrechtswissenschaft im Vormärz 1. Die systematische Einheit des deutschen Staatsrechts (Klüber 1803 - 1840) 2. Die Einheit eines gemeinen deutschen Staatsrechts (Maurenbrecher 1837) III. S taatsrechtswissenschaftlicher Positivismus 1. Die Persönlichkeit des Staates als einheitlicher . Grundgedanke des staatsrechtlichen Systems (Albrecht 1837 und Gerber 1846- 1865) 2. Der einheiliche Wille der Staatsperson (Jellinek 1887 und 1919) IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979) 1. Kelsens Deutung des einheitlichen Staats willens 2. Die Genese seines Einheitskonzepts bis zur ersten Auflage der "Reinen Rechtslehre" im Jahre 1934 3. Kelsens formalistische Theorie einer identitätsstiftenden Einheit der Rechtsordnung 4. Die Problematik einer materiellen Einheit der Rechtsordnung 5. Die Einheit der Erkenntnis als juristisches Konstruktionsprinzip 6. Die Einheit der Rechsordnung und Kelsens Staatsbegriffe 7. Zusammenfassung V . Weimarer Staatsrechtslehre 1. Die verstehende Einheit des Rechtsstoffs und die Kritik an der lückenfüllenden Einheit des Rechtssystems (Triepel 1926) 2. Die Einheit der Rechtsordnung durch die empirische Realität des Staatswillens (Heller 1927 -1934) 3. Die Einheit des Rechts aufgrund der objektiven Wertgesetzlichkeit des Geistes (Smend 1928 und 1933)
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VI. Engischs "Die Einheit der Rechtsordnung" (1935) 1. Engischs Fragestellung 2. Die Einheit der Rechtsordnung durch Stufenbau- und Grundnormlehre 3. Die Einheit der Rechtsordnung im Sinne inhaltlicher Zusammenhänge und Kongruenzen innerhalb der Rechtsordnung 4. Die Bedeutung der inhaltlichen Einheit der Rechtsordnung für die Rechtsdogmatik 5. Zusammenfassung
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D.
Resümee
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E.
Literaturverzeichnis
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Α. Einleitung Ι. Verwendungen der Formel von der Einheit der Rechtsordnung in Rechtspraxis und -Wissenschaft der Gegenwart (Problemstellung) a) Von der Einheit der Rechtsordnung ist nicht selten die Rede. So entschied etwa das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil über die Nichtigkeit von § 8 Ziff. 6 des Gewerbesteuergesetzes in der Fassung vom 30.4.1952, daß es u.a. im Interesse der Einheit der Rechtsordnung liege, die Ordnungsstruktur des Zivilrechts auch im Steuerrecht zu achten 1 . In der gleichen Weise begründete das Bundesverwaltungsgericht die Auslegung von §3 des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen, bei der die Interessenwertung des Gesetzgebers im Privatrecht zu beachten sei: Die "Einheit der Rechtsordnung" gebiete, dieser Interessenwertung auch bei Gewährung von Doppelnamen durch den Staat Rechnung zu tragen 2. In höchstrichterlichen Entscheidungen wird aber von der Einheit der Rechtsordnung nicht nur dann gesprochen, wenn es darum geht, die Geltungserstreckung von Strukturen und Werten aus einem Teilbereich der Rechtsordnung auf andere Teilbereiche zu rechtfertigen. Die Einheit der Rechtsordnung verlange auch, Gesetzesbegriffen mit demselben Wortlaut, unbesehen ihrer Stellung in den jeweiligen Bereichen der Rechtsordnung, den jeweils gleichen Inhalt beizulegen. So entschied das Verfassunsgericht, daß es Aufgabe der Verfassungsorgane sei, "die Einheitlichkeit der Rechtsordnung für alle Staatsbürger zu gewährleisten" 3 . Das Gericht übertrug daher die Auslegung des Gewissensbegriffs in Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz auf den Begriff des Gewissens im damaligen § 9 des Wehrpflichtgesetzes. Ähnlich argumentierte ein Zivilsenat des BGH: Bei der Auslegung von § 41 Abs. 3 Nr. 5 des Patentgesetzes griff er auf den zum Teil wortlautgleichen § 551 Nr.7 ZPO zurück und sah es dabei aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung als geboten an, "daß die genannten Vorschriften auch grundsätzlich in gleicher Weise ausgelegt werden" 4 . In der Literatur fand diese Rechtsprechung teilweise Billigung: Der Wechsel des Sinngehalts gleichnamiger Begriffe sei der Einheit der Rechtsordnung abträglich 5 . Es gab aber auch Stimmen, die daran wiederum kritisierten, daß Rechts1
BVerfG 13, 331 (340).
2
BVerwG 17, 207 (209).
3
BVerfG 12,45(54).
4
BGH Ζ 39, 333 (339). Ein weiteres Beispiel für diese Argumentations weise findet sich in BGH St 6, 41 (49), wonach der Begriff der Geringwertigkeit in § 264a und § 248a StGB nur "einheitlich" ausgelegt werden könne. 5
Engisch 1977,S.297.
Α. Einleitung
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Sätzen unter Umständen trotz des gleichen Wortlauts innerhalb des Rechtssystems je ein individueller Sinngehalt zukomme 6 . Der Gedanke von der Einheit der Rechtsordnung taucht ferner beim Problem eines einheitlichen Rechtswidrigkeitsurteils auf. Bedeutende Beispiele für diesen Problemkomplex geben der Ausschluß der strafrechtlichen Verantwortung durch Rechtfertigungsgründe, die dem Zivil- oder Verwaltungsrecht entstammen7, die Verneinung einer zivilrechtlichen Haftung für ein Handeln, das durch eine öffentlich-rechtliche Genehmigung gedeckt ist 8 oder das aufgrund der ordnungsbehördlichen Generalklausel ausgesprochene Verbot eines Betriebes, für den zuvor eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung erteilt wurde 9 . Dabei geht es immer um die Frage, ob ein und dasselbe menschliche Verhalten nach einem Teilgebiet der Rechtsordnung als erlaubt, nach einem anderen Gebiet hingegen als verboten anzusehen, der Rechtswidrigkeitsbegriff also nach Teilbereichsordnungen aufzuspalten i s t 1 0 , oder ob dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung zufolge dieses Verhalten entweder nur rechtmäßig oder nur rechtswidrig sein kann 1 1 . Ein anderer, zwar nicht die Problematik eines einheitlichen Rechtswidrigkeitsurteils, aber auch das Konkurrenzverhältnis zweier Normen betreffender Anwendungsfall der Formel von der Einheit der Rechtsordnung liefern die Normen des Art. 24 Abs. 1 GG und Art. 177 EWGV. Art. 24 Abs.l GG gestattet dem Bund, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen, Art. 177 EWGV regelt aus Sicht des Gemeinschaftsrechts, welche Befugnisse der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaft bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts in Anspruch nehmen darf. Hinsichtlich des Umfangs der Befugnisse, die auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden, sind beide Vorschriften unvereinbar, und, so wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur argumentiert, solchen Unvereinbarkeiten stehe "innerhalb ein und derselben Rechtsordnung das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung entgegen" 12 . Schließlich fällt die Rede von der Einheit der Rechtsordnung noch als Argument zur Begründung verfassungskonformer Gesetzesauslegung auf. So entschied das Bayerische Verfassungsgericht, daß das Rechtssystem des Staates "eine Einheit bildet, die von der Verfassung und den in ihr enthaltenen Grundgedanken beherrscht wird. Mithin ist nur eine solche Auslegung gesetz6
Würtenberger
7
Nachweise z.B. bei Maurach/Zipf
8
Dazu Wagner 1989, S.90ff. m.w.N.
1966, S.22. 1987, § 25 IV.
9 Dazu Kloepfer 1987, S.13 und Peine 1990, S.210; zu verwaltungsrechtlichen Kollisionen allgemein Blumenwitz (1971). 1 0
Nachweise bei Wagner 1989, S.90, Fn. 132.
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Erörterung und Nachweise dieser Auffassung ebenfalls bei Wagner a.a.O., S.92f. Grundsätzlich zum Problemkomplex eines einheitlichen Rechtswidrigkeitsurteils Kirchhof (1978). Vorstehende Nachweise widerlegen auch Bulygins Behauptung, daß es einen Juristen im Unterschied zum Rechtstheoretiker nicht interessieren würde, wenn etwa eine Norm des Zivil- oder Verwaltungsrechts einer Strafnorm widerspräche - er sähe "darin überhaupt keinen Widerspruch" (1967, S.332). 1 2
Schilling 1990, S.171.
I. Verwendung der Formel von der Einheit der Rechtsordnung
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licher Bestimmungen zulässig, die mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist, nicht aber eine solche, die ihr widerspricht" 13 . In vielen Literaturbeiträgen wurde diese Sichtweise übernommen: In der Einheit der Rechtsordnung finde die verfassungskonforme Auslegung Grund und Rechtfertigung 14 . Nur vereinzelt traten abweichende Ansätze auf: Die verfassungskonforme Auslegung könne allein mit dem Stufenbau der Rechtsordnung erklärt werden 15 . b) Die vorstehenden Stellungnahmen zu Funktion und Sinn des Arguments von der Einheit der Rechtsordnung lassen sich leicht vermehren. Manche sehen in dieser Einheit noch die unerläßliche Voraussetzung des juristischen Systemdenkens 16 , deuten sie "im Sinne einer rechtspolitischen Gesetzgebungsmaxime" 17 oder erkennen in ihr den allgemeingültigen Grund für die Verwendung von Kollisionsregeln 18 . Kennzeichen sämtlicher Anwendungsfalle ist aber, daß die Formel von der Einheit der Rechtsordnung oft als begründungstragende Argumentationsfigur dient, dabei jedoch ebenso oft ungeklärt bleibt, welcher genaue Gehalt dieser Formel zukommt, worin sie selbst ihren Grund hat oder warum im konkreten Fall dieses oder jenes aus ihr zu folgern ist. Gleichgültig, ob es sich um die eben zitierten Fälle oder um Wertungsübertragungen zwischen unterschiedlichen Rechtsgebieten, um Auslegung wortlautgleicher Begriffe in verschiedenen Gesetzen, Auflösung von Widersprüchen zwischen gleichrangigen bzw. die inhaltliche Angleichung verschiedenrangiger Normen handelt - hofft man vergebens zu erfahren, was es mit diesem Begriff überhaupt auf sich hat. Manchmal fallt es nicht leicht, dem Eindruck zu entgehen, als würde der Begriff, zur feierlichen Verzierung dienend, geflissentlich eingestreut, um eine stimmungshebende und allem Zweifel enthobene Aussage über das Gesamt der Rechtsordnung zu treffen 19 . Gewiß, es gibt auch Versuche, den Gehalt der Formel von der Einheit der Rechtsordnung präziser zu bestimmen. Doch ein klareres Bild entsteht dadurch nicht. Die verwirrende Vielfalt der Bedeutungsvarianten reicht von der Forderung nach Widerspruchsfreiheit 20 und Lückenlosigkeit 21 über das Gebot
1 3 VGH Ε II 41 (54). Eine ähnliche Argumentation deutet sich in einer Entscheidung des BVerfG an (E 51, 3o4 (322)). 1 4 Eckardt, W.-D. 1964, S.44; Bogs 1966, S.22; Burmeister S.5o8ff; Göldner 1969, S.52ff; a.A. Bettermann 1986, S.25f. 1 5
Michel 1961, S.276.
1 6
Canaris 1969, S. 13.
1966, S.87ff; Spanner 1966,
1 7
Bockel 1993, S. 100. In dieselbe Richtung zeigt auch ein Urteil des BayOLG, demzufolge der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung den Richter nicht legitimiere, "eine gesetzliche Bestimmung entgegen ihrem Wortlaut in eine nach seiner Auffassung widerspruchsfreie Übereinstimmung zu bringen". Die Wahrung einer einheitlichen Rechtsordnung sei "primär Aufgabe des Gesetzgebers" (NJW 1990, S.2332 (2333)). 1 8 Laubinger 1985, S.208: "Daß es Kollisionsregeln gibt, verlangt das Postulat der Einheit der Rechtsordnung". 1 9
Gute Beispiele dafür sind Meyer 1984, S.167 oder Rehbock 1988, S. 107.
So die oben vorgestellte Rechtsprechung. Ebenfalls Jarass 1991, S.260. Nach Ossenbühl gehört es sogar "zum Wesen einer Rechtsordnung, daß sie eine widerspruchslose Einheit bildet" (1992, S.169).
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Α. Einleitung
der Gleichbehandlung 22 bis hin zur Deutung als rechtslogisches 23 , axiologisches 24 oder moralisches 25 Postulat. Gelegentlich wird in ihr auch die "theoretische Dimension der Rechtseinheit" 26 gesehen oder gar beides, "Rechtseinheit" und "Einheit der Rechtsordnung", miteinander identifiziert 27 . Andere wiederum behaupten, daß der Stufenbau der Rechtsordnung ein ihr wesentliches Element sei^ 8 . Auch fehlt nicht der Hinweis, daß die Einheit der Rechtsordnung "allenfalls in einem ganz bestimmten, geschichtlichgesellschaftlichen Arrangement von Institutionen, Organisationen und sonstigen sozialen Systemen erblickt werden kann, das mit den Mitteln des Rechts etabliert worden i s t " 2 9 . Sodann wird die Einheit der Rechtsordnung auch als "innere Verbindung der einzelnen Rechtssätze untereinander" umschrieben, die die Rechtsdogmatik "darlegen und, wo problematisch, bewerkstelligen" müsse 30 . Angesichts dieser irritierenden Lage mag es nicht mehr überraschen, wenn schließlich dazu aufgefordert wird, die Einheitsvorstellung gänzlich zu verabschieden. Die Einheit der Rechtsordnung fehle schon in tatsächlicher Hinsicht 3 1 . Sie sei Beispiel für einen irrationalistischen Holismus in der Rechtsarbeit, "der ohne Schaden für deren Sache aufgegeben werden" könne, "der im Interesse rechtsstaatlichen Handelns der Juristen aufgegeben werden sollte" 3 2 . Wie es nun auch immer um die Richtigkeit dieses Verdikts bestellt ?ι
Bockel definiert das "Postulat der 'Einheit der Rechtsordnung'" zunächst als widerspruchsfreie Rechtsordnung (1993, S.101), ergänzt aber, daß "der Begriff 'Einheit der Rechtsordnung* sich auf eine gewisse Freiheit von Norm Widersprüchen, auf Lückenlosigkeit und systematische Rechtssetzung beschränken" sollte (ebd.). 2 2 Günther 1983, S.91. 2 3
Hanack 1962, S.107.
Canaris 1969, S. 16; vgl. auch Renck: das Einheitspostulat liege unserer Rechtsordnung axiomatisch zugrunde (1970, S.770); Weinberger bezeichnet sogar die "rationale Einheitlichkeit des Nonmensystems" als "logisches Postulat", sieht aber in der "axiologisch-teleologischen Einheitlichkeit des Rechtssystems" auch ein Idealpostulat und eine nützliche Argumentationsform (1988, S.245). Ebenfalls März (1989, S.101): die Einheit der Rechtsordnung als "unverzichtbares Axiom: als Lehrsatz, der eines Beweises weder fähig noch bedürftig ist, weil er von jedermann allgemein anerkannt und als richtig zugegeben wird". Coing 1951, S.485; Raiser 1964, S. 1206. Canaris sieht die Einheit der Rechtsordnung auch als "Verwirklichung der 'generalisierenden Tendenz" der Gerechtigkeit" (1969, S.17). Ähnlich begründet Dürig die Drittwirkung der Grundrechte bei "wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Begriffen und Generalklauseln des Privatrechts". Diese Drittwirkung wahre die "Einheit des Gesamtrechts in der Rechtsmoral" (1956, S.176f.). 2 6
Gr awert 1991, S.210 Fn. 3.
Schulte 1986. Dies ergibt sich aus seinem Vorwort, wo er von der "Einheit der Rechtsordnung", dann aber (S.18ff.) im gleichen Sinnzusammenhang nur noch von "Rechtseinheit" spricht. Ebenso Becker (1990, Sp. 283). Eckhardt 1961/62, S.82; ähnlich Renck: die Normenhierarchie sei conditio sine qua non der Einheit der Rechtsordnung (1970, S.771); so auch H Dreier: mit dem Einheitsgedanken verbinde sich die Vorstellung der Rechtsordnung als Normenhierarchie. Der Jurist gehe von der Einheit der Rechtordnung aus und wirke auf sie hin (1991, S.l). 2 9
Krawietz
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Robbers 1990, S.170.
1985, S.267.
3 1 Peine 1983, S.26f.; 1990, S.210. Mit der gleichen Argumentation wird auch immer häufiger die Einheit des Zivilrechts in Frage gestellt (Joerges 1983, S.59; Teubner 1989, S.129 m.w.N.). 3 2
Müller 1986, S.4.
L Verwendung der Formel von der Einheit der Rechtsordnung
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sein mag, die Auffassung, die Einheit der Rechtsordnung gehöre zum "gesicherten Bestand rechtsphilosophischer Einsichten" 33 » dürfte angesichts der außergewöhnlichen Vielfalt von Erklärungsversuchen zu bezweifeln sein. Einleuchtender wirken dagegen die Bemerkungen, daß es sich bei der Einheit der Rechtsordnung um ein umstrittenes 34 , insgesamt komplexes, vielschichtiges 3 5 ' leider verhältnismäßig wenig erörtertes 36 Theorem handele, bei dem offen bleibe, worauf es beruhe 37 · c) Eine solche Lage beunruhigt, fordert und rechtfertigt aber auch den Versuch, die so häufig gebrauchte Formel in ein helleres Licht zu stellen 38 . Ein solches Vorhaben ließe sich auf verschiedenen Wegen verfolgen. Man könnte zuerst daran denken, analytisch, also begriffszergliedernd vorzugehen. Die Ausdrücke "Einheit" und "Rechtsordnung" müßten dann zunächst für sich untersucht werden, um danach die Möglichkeiten einer Verknüpfung zu überprüfen. Eine solche Vorgehensweise liefe jedoch Gefahr, ein hochtheoretisches Unternehmen zu werden und am Ende nur einen Begriff zu liefern, der infolge seiner enormen Abstraktionshöhe weitgehend unkenntlich bliebe. Aussichtsreicher scheint zu sein, die Sachprobleme, bei deren Lösung der Begriff der Einheit der Rechtsordnung als Argument eingesetzt wird, in der Hoffnung darauf zu analysieren, daß die vielfachen Verwendungsweisen auf einen gemeinsamen Kern oder gleiche Grundstrukturen weisen. Doch abgesehen davon, daß ein solcher Weg äußerst umfangreiche Detailuntersuchungen erforderte, bestünde hier das Risiko, daß das einzelne Sachproblem mit all seinen Schattierungen zu sehr in den Vordergrund träte und die übergreifende Fragestellung nach dem Sinn, der hinter der Rede von der Einheit der Rechtsordnung steckt, unterbelichtet bliebe. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet der naheliegende Gedanke, daß dem begriffszergliedernden wie dem an den Sachproblemen orientierten Ansatz eine historische Vergewisserung gut täte. Insbesondere eine Untersuchung der bisher in der Geschichte des juristischen Denkens erfolgten Verwendungen der Einheitsformel könnte die hilfreiche Erkenntnis liefern, welche Bedeutungsgehalte in diesem Ausdruck schlummern und vielleicht auch heute noch unbewußt mitgeschleppt werden. Damit würde auch eine GrundlaCanaris 1983, S. 16. Wieacker merkt an, die Akten dazu seien noch nicht geschlossen (1970, S.108, Fn.7). 3 4
Krawietz
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Eckardt
1985, S.233. 1961/62, S.44, Fn.12.
3 6
Canaris 1983, S. 16.
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Michel 1961, S.276.
οο
Eine eingehendere Begriffsanalyse fehlt bisher. Eine zusammenhängende Darstellung der Einheitsvorstellung findet sich lediglich in der später noch zu besprechenden Schrift Eugen Ehrlichs über "Die juristische Logik" aus dem Jahre 1917. Die dort erzählte Geschichte setzt schon mit der römischen Antike ein und reicht bis in die Neuzeit, ist aber dennoch sehr knapp und infolgedessen nur mit groben Strichen gezeichnet. Entscheidend ist bei dieser Arbeit, daß der Autor es unterläßt, die jeweilige Verwendung der Formel von der, wie er sagt, "Einheit des Rechts" in den Quellen nachzuweisen und im Zusammenhang mit der abgehandelten Epoche zu erörtern. Vielmehr definiert Ehrlich selbst einen Begriff der Einheit des Rechts, um damit bestimmte Phänomene in der Rechtsgeschichte, insbesondere in der Geschichte des juristischen Denkens zu erfassen.
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Α. Einleitung
ge geschaffen, die eine Einordnung gegenwärtiger Verwendungsweisen in das Koordinatenfeld rechtswissenschaftlicher und -theoretischer Traditionen erlaubte. Eine solche begriffsanalytische Arbeit könnte also darüber aufklären, welche bisher betretenen Wege, eine Einheit der Rechtsordnung zu denken, aus diesem oder jenem Grund zu Irrwegen wurden, welche sich zumindest ein Stück weit als gangbar erwiesen und schließlich, welche weiterzuführen versprechen. Kurz: Indem die geschichtlichen Gründe der Einheitsformel erforscht, deren Gehalte freigelegt und in die Sprache der Gegenwart übersetzt werden, scheint am ehesten ein Ansatzpunkt für die Frage zu gewinnen, wie bei dem gegenwärtigen Kenntnisstand in der Allgemeinen Rechts- und juristischen Methodenlehre eine Einheit der Rechtsordnung sinnvoll gedacht und begründet angenommen werden kann.
II. Eigenarten und Methodik einer Verwendungsanalyse
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II. Eigenarten und Methodik einer Verwendunsanalyse a) Es bedarf keiner ausführlichen Darlegung und es versteht sich beinahe von selbst, daß die hier beabsichtigte Untersuchung nicht darauf zielt, den Begriff der Einheit der Rechtsordnung zu eruieren, der alle anderen Begriffsbildungen zu überflügeln sucht und vielleicht sogar eine auf ein historisches Resümee gestützte dogmatische Verbindlichkeit fordert 1 . Diese Untersuchung zielt lediglich darauf, Bedeutungsgehalte der Rede von der Einheit der Rechtsordnung herauszuarbeiten, sie im Hinblick auf ihre argumentativen und theoretischen Voraussetzungen zu problematisieren und in ihr historisches Bezugsfeld einzubetten. Ferner ist klarzustellen, daß dann, wenn hier von "Begriff gesprochen wird, weder idealistische Überhöhungen noch begriffsrealistische Spekulationen im Spiele sind. Die Verwendungsweise des Wortes "Begriff 1 knüpft an den heute üblichen Sprachgebrauch an. "Begriff 1 wird als "Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken" 2 verstanden, die dann erschließbar ist, wenn die Verwendung des sprachlichen Ausdrucks und Zeichens in der Sprache analysiert wird 3 . Solche Erwartungen zu hegen, war noch in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts eine bare Selbstverständlichkeit. So formulierte Holstein: "Gegenüber der Sorge der Positivisten, jenseits des positiven Rechts sofort in ein wissenschaftlich völlig ungangbares Terrain subjektiver Spekulation zu kommen und damit reiner Willkür ausgeliefert zu sein, muß betont werden, daß wir schon längst eine zu klarster Sauberkeit und Exaktheit entwickelte begriffsgeschichtliche Methode haben, deren sich alle Geisteswissenschaften in weitesten Umfange bedienen"(1927, S.55). Man vergegenwärtige sich zudem die fundamentale methodische Bedeutung, die Begriffsgeschichte für Schmitt in den allesamt in den zwanziger Jahren erschienenen Schriften über die "Diktatur", den "Begriff des Politischen" oder die "Geistesgeschichtlichen Grundlagen des Parlamentarismus" hatte. Schmitts verabsolutierte dabei allerdings ein mögliches Begriffsverständnis, um von dieser Warte aus dann die Kritik gegen andere Begriffsdeutungen zu führen (sehr frühe Kritik vor allem von Schwinge 1930, S.19; zur Kritik auch Friedrich 1977, S.206: "ideengeschichliches Reduktion sverfahren"; Meier 1988, S.537ff. und S.605f.) Aber selbst Kelsen griff auf begriffsgeschichtliche Methodik zurück. So glaubt er 1913, daß nur durch eine Geschichte des Begriffs des öffentlichen Rechts die beispiellose Unklarheit begreiflich werden könne, "in welche die Rechtswissenschaft mit ihren Fundamenten geraten" sei (1913a, S. 55f.). Seinem Souveränitätsbegriff legt er zugrunde, daß "als fester Kern, als ruhender Pol in der Flucht wechselnder Erscheinungsformen der Souveränitätstheorie der Satz erfaßt" werde, daß "der Staat als ein an höchster Stelle Stehendes erkannt werden könne und müsse" (1920, S.5). In gleicher Weise geht Kelsen in seinem Voitrag über die Verfassungsgerichtsbarkeit vor: um den Begriff der Verfassung zu bestimmen, müsse "man aus den mannigfachen Modifikationen, die der Begriff der Verfassung erfahren" habe, "den festen unberührt gebliebenen Kern" herausschälen (1929, S.1819). 2 Haller 1972, Sp. 784: durch den Einfluß J.St.Miirs (A System of Logic, 1843) sei die Theorie des Begriffs mehr und mehr durch eine Theorie der sprachlichen Zeichen (Namen) und ihrer Bedeutung bzw. Konnotation ersetzt worden. Heute habe sich die Tendenz durchgesetzt, "Begriffe qua Bedeutungen als Regeln der Verwendung und Anwendung von sprachlichen Zeichen zu explizieren und damit ihre Abhängigkeit vom Kontext eines sprachlichen Systems, einer Theorie u.s.w. zu berücksichtigen"(Haller a.a.O.). Vgl. auch Herberger/Simon, die unter Begriffen Aussagen verstehen, die den Wahrheitswert wahr oder falsch haben. Die von ihnen vorgeschlagene Redeweise sei aber nur als praktisch brauchbare Übereinkunft gemeint (1980, S.247). α 3 Gagnér formulierte, daß die Begriffsanalyse "die Analyse der Wortverwendung" sei (1960, S.55, Fn.l). Er bezieht sich dabei auf Wittgenstein, demzufolge man "für eine große Klasse von Fällen" die "Benützung des Wortes 'Bedeutung"" so erklären kann: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache" (1958, Nr.43). Müller geht davon aus, daß die Spontansprache das sage, was Wittgenstein mit "Bedeutung" gemeint habe: "Ein Ausdruck "bedeutet' das, was ich mit ihm be-deute: worauf ich, mit seiner Hilfe, handelnd hindeute, zeige. Er repräsentiert nicht, sondern erzeugt die Verbindung zwischen Sprache (in die er gehört) und äußerer Wirklichkeit, die ich, ihn in bestimmter Weise und Lage gebrauchend, herstelle" (Müller 1975, S.lllf.). Koch hat die Plau-
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18
Α. Einleitung
Die so begründete Analyse der Verwendungsregeln, unter denen die Rede von der Einheit der Rechtsordnung steht, darf also nicht mit einer bloßen Terminologiegeschichte verwechselt werden. Sie will mehr als nur über das Schicksal von Worten berichten. Ihr geht es gerade um die Bedeutungen und Gehalte, die zu bezeichnen die Worte dienen. Daher muß sie auch solchen Gedankengängen genügend Aufmerksamkeit schenken, die nicht mit "Einheit der Rechtsordnung", dafür aber mit "Einheit des Rechts" oder "Einheit des Rechtssystems" benannt werden oder vielleicht mit Denkweisen verwandt oder ihnen ähnlich sind, die an anderer Stelle und von anderen Autoren explizit als "Einheit der Rechtsordnung" bezeichnet werden 4 . Ebensowenig handelt es sich bei der hier beabsichtigten Untersuchung um eine Problem-, Ideen-, oder Dogmengeschichte. Denn eine Problemgeschichte muß notwendigerweise die Identität eines Problems voraussetzen, das im geschichtlichen Verlauf auf je verschiedene Weise zu lösen unternommen wurde. Und eine Ideengeschichte kommt nicht umhin, eine kontinuierlich wiederkehrende Grundidee anzunehmen, einen einheitlichen Grundgedanken, der irgendwann entstanden ist, sich dann entfaltet und verzweigt hat. Eine Verwendungsanalyse ist dagegen weniger festgelegt, da ein sprachlicher Ausdruck mehrere, nicht identische Probleme und Ideen bergen und auf sie bezogen bleiben kann. Aus diesen Gründen wird hier auch keine juristische Dogmengeschichte konzipiert, keine Beschreibung und Erklärung von feststehenden Regeln oder Lehrsätzen, die bei bestimmten Problemstellungen als Lösungskonzepte eingesetzt wurden. Ein Begriff kann zwar auf ein Dogma hinweisen, er muß es aber nicht. Zu den Grundfragen dieser Arbeit gehört es ja gerade, ob die Formel von der "Einheit der Rechtsordnung" ein bestimmtes Dogma erfaßt oder ob sie eher eine Vielzahl von Bedeutungen bündelt Am nächsten kommt die proponierte Untersuchung noch einer juristischen Begriffsgeschichte, von der man dann sprechen kann, wenn die herausgearbeiteten Begriffe in einem sachlichen, über bloße terminologische Ähnlichkeiten hinausgehenden Zusammenhang stehen, sich also ein allen Verwendungen der juristischen Formel gemeinsamer Kern herausschälen läßt. Insofern schließt sich der hier gewählte Ansatz Coings Auffassung an, wonach die Forschungsarbeit, die auf die Geschichte einzelner Begriffe, Lehrsätze und Regeln gerichtet ist, der Auslegung des geltenden Rechts eine wesentliche Hilfe bieten kann, "indem sie der immer wieder zu beobachtenden Tendenz, solche Begriffe und Lehrsätze absolut zu setzen, entgegenwirkt, sie immer wieder relativiert" 5 · sibilität von Wittgensteins Gebrauchstheorie der Bedeutung eingehend begründet (1977, S.39f.). Zu dieser Theorie Wittgensteins auch Janik/Toulmin (1985, S.301). 4 Eine begriffshistorische Studie kommt zu dem Ergebnis, daß der Begriff der "Rechtsordnung" erst um die Wende zum 20. Jahrhundert omnipräsent gewesen sei (Gehring 1992, Sp.305). 5 1977, S.177. Coing äußert sogar die Auffassung, daß dann, wenn die funktionelle Bedeutung der Begriffe nicht außer acht gelassen werde, die "juristische Begriffsgeschichte u.s.w. für die Anwendung des geltenden Rechts oft unentbehrlich" sei (a.a.O., S.178). Zu beachten ist aber auch Kosellecks starkes Argument, daß Begriffe nur veralten, aber keine Geschichte haben, daß das jeweils mit dem Begriff Gemeinte mit dem Akt der Begriffsbildung feststeht und somit der geschichtlichen Veränderung entzogen ist. Nur Worte könnten neue Bedeutungen gewinnen, sofern mit ihnen neue Sachverhalte ausgedrückt würden (1983, S.14). Merkwürdigerweise spricht Kosel-
II. Eigenarten und Methodik einer Verwendungsanalyse
19
b) Die Annäherung an den jeweiligen Gehalt einer Einheitsformel hat sich zunächst terminologisch zu orientieren und Ausschau zu halten nach Fällen, in denen ein Autor von der Einheit der Rechtsordnung spricht oder einen ähnlichen Ausdruck einsetzt. Die damit erfolgende Konzentration auf die sprachliche Erscheinung ist notwendig, soll der Untersuchungsansatz nicht bis zur Uferlosigkeit entgrenzt werden. Die Bedeutung der so gefundenen Ausdrücke ist dann textimmanent zu rekonstruieren 6 . Das dabei auftretende Problem, bei der Deutung historischer Verwendungen eines Wortes die eigene Voreingenommenheit gegenüber den Texten nie ganz ablegen zu können und auf diese Weise das Gemeinte zu verfehlen, kann weder umgangen noch gelöst werden. Es bleibt nur, sich die eigene Vorurteilshaftigkeit bewußt zu machen und so den Bedeutungsgehalten historischer Texte möglichst nahe zu kommen 7 . Doch nicht nur beim Akt des Verstehens ist der Interpret seiner Zeit und den eigenen Erfahrungen verhaftet, sondern auch dann, wenn es darum geht, den Zeitgenossen die ermittelten Bedeutungen historischer Wortverwendungen mitzuteilen. Eine Rekonstruktion und Reformulierung historischer Sprachgewohnheiten bedarf daher moderner Kategorien und Definitionen, um vergangene Begriffe zu entschlüsseln und sie den Zeitgenossen verständlich zu machen 8 . Wenn Begriffe nicht übersetzt und umschrieben werden, bleibt ihre Analyse stumm 9 . Die Daten, mit deren Hilfe die Interpretation erfolgt, sind natürlich nicht allein den untersuchten Texten selbst, sondern auch den Bereichen zu entnehmen, die in ihnen nicht direkt angesprochen werden. Abgesehen davon, daß Sprache nur eine relative Eigenständigkeit besitzt und nicht im individuellen Belieben eines jeden Sprechenden steht 1 0 , gebieten insbesondere die Erfahrungen mit juristischen Ausdrücken und Formeln einen Vergleich der herleck aber selbst von einem "Begriffswandel" (1983, S.20), den es bei seinen Prämissen streng genommen gar nicht geben kann. In den Disziplinen der Philosophie und der Geschichtswissenschaft sind trotz dieser Bedenken feindifferenzierte methodische Instrumentarien begriffsgeschichtlicher Forschung entwickelt worden. Ihre Grundlage in der allgemeinen Geschichtswissenschaft lieferte Koselleck 1972 selbst, der seine Theorie der Begriffsgeschichte insbesondere vor dem Hintergrund des politisch-sozialen Sprachgebrauchs seit der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts entwickelte. Wichtige Vertreter der philosophischen Begriffsgeschichte sind Eucken (1879), Rothacker (1955) und Ritter (1967), während Gadamer (1971) Bedenken gegen allzu hohe Ansprüche an die Begriffsgeschichte in der Geschichte der Philosophie geltend macht. 6 Die hier beabsichtigte rationale Rekonstruktion richtet sich nach den von Stegmüller formulierten Prinzipien (1970, S.2). Für die interessierende Einheitsformel folgt daraus, daß ihre Interpretation mit den Grundideen des jeweiligen Autors in Einklang bleiben und mittels möglichst präziser Begriffe dargestellt werden muß. Der jeweilige Einheitsbegriff soll zudem, soweit möglich, als in sich konsistentes Theorem entwickelt werden. 7
Vgl. dazu Gadamer 1990, S.270f., 274.
8
Vgl. dazu Coing 1959, S.47; Gadamer 1975, S.280. Zu dem großen Methodenproblem der rechtsgeschichtlichen Forschung, das sich vor allem an der Frage entzündete, ob Begriffe der Gegenwart benutzt werden dürfen, um mittelalterliche Verhältnisse zu umschreiben, vgl. die frühen Stellungnahmen von Kern 1919, S.8f.; femer Schmitt 1928, S.45 und Brunner 1939, S.138, 142f. 9 1 0
Koselleck 1983, S. 13. Hofmann 1974,S.35f.
20
Α. Einleitung
ausgearbeiteten Bedeutungen mit Aussagen anderer Denker. Denn juristische Begriffe gehen regelmäßig aus der offenen oder verdeckten Auseinandersetzung mit zeitgenössischen oder vergangenen Denkanstrengungen hervor. Da ferner vorausgesetzt werden muß, daß Recht sich die Aufgabe stellt, gesellschaftliche Ordnungsprobleme zu lösen, soll schließlich versucht werden, die untersuchten Begriffe in ihren real- wie geistesgeschichtlichen Horizont zu stellen 1 1 .
1 1 Vgl. dazu Coing 1977, S. 178. Nicht einzusehen ist Hofmanns Auffassung von einem "Vorrang kritischer Untersuchungen der Sprachtradititon vor ergänzenden Deutungen aus der sozialen, politischen und juristischen Funktion ihrer jeweiligen Realsituation" (1974, S.36).
III. Sachliche und zeitliche Begrenzungen der Untersuchung
21
III. Sachliche und zeitliche Begrenzungen der Untersuchung Das beschriebene Untersuchungskonzept ist in mehrfacher Hinsicht zu begrenzen. Die erste Einschränkung ergibt sich aus dem Vorhaben selbst. Wenn die Bedeutungen der in der Geschichte des Rechtsdenkens verwendeten Formeln von der Einheit des Rechts und der Rechtsordnung ermittelt werden sollen, so soll nicht all das gesammelt und wiedergegeben werden, was irgendwann einmal von irgend jemandem zum Einheitsthema kundgegeben wurde. Im Vordergrund dieser Arbeit steht das Interesse, Bedeutungsgehalte eines juristischen Ausdrucks in der Überlieferung der Rechtswissenwissenschaft aufzuspüren, ihren geistes- und realgeschichtlichen Hintergründen nachzuforschen und unter Umständen vorzufindende Entwicklungslinien aufzuzeigen. Ein solches Anliegen verlangt und verträgt eine Auswahl: In erster Linie sollen Werke von Klassikern der Rechtswissenschaft herangezogen werden, also literarische Äußerungen der Juristen, die aus heutiger Sicht das juristische Denken ihrer Zeit maßgeblich beeinflußten und daher als Repräsentanten ihrer Zeit gelten. Das heißt natürlich nicht, daß diese Autoren hinsichtlich ihres gesamten Werkes gewürdigt werden sollen, sondern nur soweit, als es für ihr Verständnis von der Einheit der Rechtsordnung notwendig ist 1 . Es ist aber noch eine weitere Beschränkung notwendig. Ein so allgemeines und in vielen Bereichen der Rechtsordnung verwendetes Theorem wie das der Einheit der Rechtsordnung birgt die große Gefahr, daß sich seine Analyse unweigerlich in der Vielfalt rechtswissenschaftlicher Teildisziplinen zu verlieren droht. Um dieser Gefahr zu entgehen, ist zunächst zu beachten, daß es sich bei der Einheit der Rechtsordnung um eine Vorstellung handelt, die alle Rechtsgebiete übergreift und eine grundlegende Eigenschaft der gesamten Rechtsordnung betrifft Damit fällt sie typischer- und traditionellerweise in den Kompetenzbereich von Rechtsphilosophie und -theorie, so daß ihre Verwendungsanalyse auf diesen Gebieten erfolgen muß 2 . Zu vermuten ist aber, daß damit Gehalt und Problematik des Begriffs der Einheit der Rechtsordnung 1 Gewiß warnt Wyduckel (1992, S.405) zu Recht davor, daß eine Beschränkung des Zugriffs auf Klassiker zu "perspektivischen Verzerrungen" führen kann, wenn einzelne Autoren zum Maßstab für die Gesamtentwicklung erhoben werden. Dieser Gefahr läßt sich aber dadurch entgehen, daß das Denken dieser herausragenden Autoren in ausreichendem Maße in den Gesamtkontext der historischen Entwicklung eingebettet wird. 2 Bisher hat sich noch keine sichere Definition von "Rechtstheorie" herausgebildet, geschweige denn eine präzise Bestimmung ihres Unterschiedes zur "Rechtsphilosophie" (vgl. Kaufmann 1977, S.l 1). Maihofer bezeichnet mit "Theorien des Rechts" "Einsichten in das, was Recht ist. Antworten also auf die Fragen nach dem Grund wie dem Gegenstand, dem Ziel wie dem Maß des Rechts" (1985, S.l 16). RDreier versteht Rechtstheorie konkreter als juristische Theorie des Rechts und der Rechtswissenschaft, deren Forschungsinteresse durch ihren Dogmatikbezug definiert ist (1990, S.22f.). Nach Broekman bemüht sich Rechtstheorie um "Analyse, Bestimmung und Legitimation des positiven Rechts sowie seines Zusammenhangs mit anderen Disziplinen" (1992a, Sp.342f). Im Unterschied zu Dreier bezieht sich nach Broekman Rechtstheorie nicht allein auf die herrschende Dogmatik, wodurch sie geradezu identisch werde mit der Rechtslehre, sondern beanspruche eine eigenständige Theoretizität (a.a.O., S.345). Die Eigenart der Rechtsphilosophie sieht Broekman dagegen darin, daß es ihr um ein philosophisches Rechtsverständnis gehe, also um die Einordnung eines positiven Rechts in transzendentale Ordnungen, nicht um das Recht der Rechtswissenschaft oder der juristischen Praxis einer Zeit (1992b, Sp.324).
22
Α. Einleitung
nicht erschöpfend analysiert wäre. Schon mehrfach wurde eher beiläufig behauptet, daß erst in dem Augenblick, in dem die Rechtsnormen allesamt auf das Organ einer einheitlichen Staatsgewalt als ihrem alleinigen Urheber zurückgeführt wurden, die Vorstellung Anhänger gewinnen konnte, daß diese Normen eine - eben staatlich vermittelte - Einheit darstellen 3. Die auf diesen Gedanken gestützte Hypothese, daß die Herausbildung einer zentralen Gewalt, die die staatliche Einheit verbürgt, der realgeschichtliche Hintergrund der Vorstellung von der Einheit der Rechtsordnung ist, könnte durch eine Untersuchung überprüft werden, die auf dem Gebiete der Staatsrechtswissenschaft und der aus ihr hervorgehenden Rechtstheorie erfolgt Denn die staatsrechtswissenschaftliche Disziplin ist schon aufgrund ihres Selbstverständnisses gehalten, sich über die historische Ordnungsmacht Rechenschaft abzulegen, die ihren Gegenstand erzeugt. Die Staatsrechtswissenschaft braucht einen Begriff des Staates und zudem eine Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Rechtsordnung sowie ihrer Eigenschaften 4. Eine zeitliche Eingrenzung der geplanten Untersuchung wird zunächst durch den Gegenwartsbezug der zugrunde liegenden Fragestellung nahegelegt. Die Erkenntnis, daß die Epoche der modernen Rechtswissenschaft um die Wende zum 19.Jahrhundert einsetzte5 und sich viele Formen und Gehalte des gegenwärtigen juristischen Denkens nur unter Berücksichtigung des im vorigen Jahrhunderts herrschenden Rechtsdenkens zureichend verstehen lassen, gestattet es, mit der Untersuchung an der Wende zum 19.Jahrhundert zu beginnen. Ein zweiter Grund für diese zeitliche Begrenzung wird vom Thema der Arbeit selbst vorgegeben. Denn gerade in der Zeit um 1800 - dies wird das erste Kapitel der Arbeit zeigen - treten die Formeln von der "systematischen" und "wissenschaftlichen Einheit des Rechts" oder der "Einheit des Rechtssystems" auf, die als Vorläufer des Begriffs der Einheit der Rechtsordnung betrachtet werden können. Enden soll die Untersuchung mit dem Jahr 1935, in dem der Rede von der Einheit der Rechtsordnung durch das Erscheinen von Karl Engischs gleichlautender Schrift ein Bedeutungsgehalt zuwuchs, an dem 3 Romano 1975, S. 90; Vgl auch Preuß, der z.B. davon spricht, daß die staatsrechtliche "Rechte" einer auf Konsens und Integration gerichteten Neukonzeption des Verfassungsrechts "die im Staat und seiner Autorität institutionalisierten Einheit des Rechts" entgegengesetzt hätte (1988, S.365). Einen Zusammenhang zwischen Staatsauffassung und Vorstellung einer Einheit der Rechtsordnung stellt auch Robbers her: die Rechtsdogmatik gewährleiste "über die Wahrung der Einheit der Rechtsordnung ... die Einheit des Staates" (1990, S.170). 4 Vgl. nur Jellinek (1887, S.189): "Alle staatsrechtliche Untersuchung muß beginnen mit der Feststellung des Staatsbegriffs.... Alles Staatsrecht ist eben Recht des Staates und daher muß irgend eine Vorstellung von dem Wesen, um dessen Recht es sich handelt, a priori gegeben sein" (ähnlich auch in 1912, S.12). Smend schreibt: Ohne "begründetes Wissen vom Staat gibt es auf Dauer auch keine fruchtbare Staatsrechtstheorie" (1928, S.121). Weitere Gründe, die es triftig erscheinen lassen, die Untersuchung auch auf dem Gebiet der Staatsrechtswissenschaft durchzuführen, sind im Kapitel C.I. aufgeführt. 5 Zur Neubegründung einer methodenbewußten systematischen Rechtswissenschaft als das eigentliche Wesen der historischen Schule Wieacker 1967a, S.367ff; ders. auch in 1967b, S.6 bis 12. Dazu ebenfalls Schröder (1979, S.82 bis 212). Stühler (1978) bestreitet die Neugriindungsthese nicht, im Gegensatz zu Wieacker sieht er aber nicht in Savigny den Gründungsvater der modernen Rechtswissenschaft, sondern mißt Feuerbach den entscheidenden Anteil an der Reform der Rechtswissenschaft um 1800 bei (a.a.O., S.220,238). Gegen Stühlers Auffassung hat wiederum Schröder gewichtige Einwände vorgebracht (1980).
III. Sachliche und zeitliche Begrenzungen der Untersuchung
23
sich selbst noch die gegenwärtige Rechtswissenschaft orientiert 6 . Von dieser zeitlichen Begrenzung ist lediglich Hans Kelsen auszunehmen. Als Engischs Schrift publiziert wurde, hatte Kelsen zwar schon wesentliche Elemente seines Einheitsverständnisses formuliert. In den Jahren danach nahm er aber mehrere wichtige Revisionen und Ergänzungen vor, die beachtet werden müssen, wenn sein Konzept einer Einheit der Rechtsordnung zutreffend gedeutet werden soll.
6
den.
Als Beleg können dafür die in den Fußnoten 14 und 16 aufgeführten Autoren genannt wer-
Β. Einheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert 1. Die systematische Einheit des positiven Rechts durch Rückführung der Rechtssätze auf einen einzigen Grundsatz (Thibaut 1797,1798 und 1809, Kohlschütter 1798, Feuerbach 1804, K.S.Zachariae 1806, Seidensticker 1807)
a) In seiner Encyklopädie aus dem Jahre 1797 bestimmt Thibaut "Wissenschaft in engerer Bedeutung" als einen "Inbegriff systematisch geordneter Sätze, deren wissenschaftliche Verbindung unter einem gemeinschaftlichen höheren Grundsatz entstanden ist, und deren Wahrheit zuletzt auf der Wahrheit des gemeinschaftlichen höheren Grundsatzes beruhet" 1 . Wissenschaft in "allgemeinster Bedeutung" finde dagegen nur dort statt, "wo die systematische Ordnung (d.h. die Zurückführung auf Arten und Gattungen) und die Zuammenfassung unter einen höchsten Begriff' 2 vorhanden ist. Ähnlich wie Thibaut sieht Kohlschütter in seinen "Vorlesungen über den Begriff der Rechtswissenschaft" aus dem Jahre 1798 die Eigenart einer philosophischen Wissenschaft darin, daß alle ihre Sätze auf einen höchsten Grundsatz zurückgehen. "Denn wie könnte ein genauerer Zusammenhang unter den Sätzen einer Wissenschaft bewürkt werden", so begründet Kohlschütter, "als durch einen höchsten Grundsatz, der sie alle auf das vollkommenste in sich vereinigt?" 3 . Doch während Kohlschütter diesen Maßstab tatsächlich auf die Jurisprudenz zu übertragen und für sie einen solchen Grundsatz zu formulieren versucht 4 , glaubt Thibaut, daß schon das Bemühen, die Sätze der Rechtswissenschaft auf einige wenige einfache Grundsätze zurückzuführen, "unerfüllt und fruchtlos bleiben" muß, sobald man unter Rechtswissenschaft nicht nur "einen Inbegriff von Rechtsgrundsätzen, sondern zugleich ein System mannigfaltiger Rechte 1
Thibaut 1797, S.If.
2
A.a.O., S.l.
3 1798, S. 105. Auch Konopak definiert Wissenschaft als systematisch geordnetes Ganzes eines Mannigfaltigen der Erkenntnis, d.h. "ein solches Ganzes, in welchem die einzelnen Sätze alle von Einem höchsten Grundsätze, abgeleitet sind" (1800, S.38). Er legt diesen Begriff auch der Rechtswissenschaft zugrunde, ohne aber in seiner Schrift "Über den Begriff und Zweck einer Enzyklopädie im Allgemeinen und Enzyklopädie der Rechtswissenschaft insbesondere" die Gesamtheit des Rechtsstoffs nach einem solchen höchsten Grundsatz zu ordnen. Er sucht die Abfassung einer Enzyklopädie überhaupt zu rechtfertigen. 4 Kohlschütter zufolge ist der Satz "Kein Mensch darf die Würde des anderen durch äussere Handlungen verletzen" der höchste Grundsatz der Rechtswissenschaft (a.a.O., S.106). Auf dieser Grundlage baut er dann eine materiale Rechtslehre auf.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
25
und Verbindlichkeiten versteht", die auf "zufälligen Thatumständen" beruhen 5 . Dieser Sicht bleibt Thibaut auch in seinem 1798 veröffentlichten Aufsatz "Über den Einfluß der Philosophie auf die Auslegung der positiven Gesetze" treu. Thibaut, der "das positive Recht durch die Geschichte und außerdem noch hin und wieder mit Hülfe der Philosophie im eigentlichen Verstände erklärt wissen" will, sieht die philosophische Interpretation an drei Voraussetzungen geknüpft 6 : zunächst daran, daß es eine praktische Vernunft gibt, eine Stimme über Recht und Unrecht im Menschen 7 , daß diese Überzeugungen von Recht und Unrecht ferner durch "systematische Verbindung allein durchgängige Gewißheit, vollkommene Harmonie und Consequenz erhalten", und daß endlich die Vorschriften dieser praktischen Vernunft, "zur wissenschaftlichen Einheit des Systems erhoben", aus höheren "niemals deutlich vorschwebenden Gründen abgeleitet werden können" 8 . Diese philosophische Inteipretation, die dazu diene, das Verständnis des postitiven Rechts zu fördern^, dürfe jedoch nicht mit einer ausschließlich logischen Bearbeitung des positiven Rechts verwechselt werden. Die Logik sei für die wissenschaftliche Behandlung des positiven Rechts zwar unentbehrlich, doch jeder wüßte, "wie unendlich das Bestreben nach logischer Einheit der Rechtswissenschaft geschadet" habe, wie "leer und geistlos unter den Händen der Axiomatiker so mancher Rechtstheil geworden" sei 1 0 . Den Juristen solle endlich begreiflich werden, "daß ein bloß abstrahierter Gattungsbegriff' nur die Aufgabe habe, "verschiedenartige Materialien eine gewisse formale Einheit zu geben, die untergeordneten Teile zusammenzuhalten" 11 . Thibaut erörtert zwei Wege, um bei der Darstellung des positiven Rechts eine solche Einheit zu erreichen, die nicht am schädlichen Einfluß der logischen Bearbeitung krankt, unter der also nicht "das Ganze im höchsten Grade seelenlos" 12 wird. Ein Weg führt zu einem Vergleich des positiven Rechts mit dem Ideal einer vollkommenen Gesetzgebung. Dadurch komme "eine Einheit für den raisonnierenden Verstand in das positive Recht; überall Haltung, Form und Zusammenhang" 13 . Thibaut dämpft aber sogleich jede Hoffnung, auf diese Weise tatsächlich eine Einheit im positiven Recht zu erreichen. Denn dies wäre nur möglich, wenn sich dieses Ideal einer vollkommenen Gesetzgebung auch wirklich aufweisen ließe. "In einer Zeit" aber, so fragt Thibaut drängend, "wo die ganze Philosophie im Schwanken, die philosophische Wahrheit kaum im Werden, wo die Existenz des Naturrechts, der erste Grundsatz, jeder Theil desselben, wo alles überall in 5
Thibaut 1797, S.51.
6
A.a.O., S. 134.
7
A.a.O., S.135.
8
Ebd.
9 A.a.O., S.139f.: durch die philosophische Interpretation sei es möglich, "theils den Gründen der Gesetze nachzuforschen, theils die Gründe derselben einzusehen". 1 0
A.a.O., S. 147.
11
A.a.O., S.151.
1 2
Ebd.
1 3
A.a.O., S.166.
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
26
Gährung, kein Satz unbestritten und ausgemacht ist: in einer solchen Zeit sollen wir anwenden, erläutern, ohne unser Raisonnement an einen irgend festen Punct heften zu können?" 14 . In den Augen Thibauts bleibt daher nur die Möglichkeit, sich ausschließlich den realen Äußerungen des Gesetzgebers zuzuwenden und das positive Recht systematisch-historisch zu behandeln. Eine solche Bearbeitung, "welche sich zu den höchsten Grundsätzen des Gesetzgebers erhebt, und diese mit den übrigen Grundsätzen desselben zur Einheit des Systems verbindet", ist für ihn die einzige, "welche sich mit der Natur des positiven Rechts verträgt" 15 . Würdigt man die vorstehenden Äußerungen Thibauts, so fällt auf, daß er den Ausdruck "Einheit des Systems" als Form für die Ordnung von Sätzen des natürlichen oder des positiven Rechts gebraucht - "System" hatte dabei, dem damaligen Sprachgebrauch entsprechend, die Bedeutung von Lehrbuch oder wissenschaftlicher Dartellung. Die Vorschriften der praktischen Vernunft oder die Grundsätze des Gesetzgebers werden zur Einheit des Systems verbunden, indem jene von "höheren Grundsätzen", diese von "höchsten Grundsätzen" abgeleitet werden. Diese Einheit des Systems entsteht also, wenn eine Vielzahl von Sätzen in ein hierarchisch bestimmtes Verhältnis gebracht wird. Motiviert scheint diese Vorstellung von dem Bedürfnis, mit Hilfe einer bestimmten Form den zu bearbeitenden Stoff, also die Sätze des positiven Rechts, aus Darstellungsgründen in einen möglichst straffen und festen Zusammenhang zu bringen 16 . Dabei betont Thibaut abweichend von Kohlschütter, daß dieser Zusammenhang des positiven Rechts nicht mit Hilfe des idealen Rechts erreicht werden kann, etwa, indem die positiven Rechtssätze auf die höchsten Grundsätze oder sogar den höchsten Grundsatz eines naturrechtlichen Systems bezogen werden. Die Philosophie ist zu sehr "im Schwanken", als daß sie die notwendige Grundlage für die Einheit eines Systems des positiven Rechts liefern könnte. Thibaut rekurriert auf die "höchsten Grundsätze des Gesetzgebers", sucht also die einheitsbildenden Elemente innerhalb des positiven Rechts selbst zu finden. An der Formulierung von der "wissenschaftlichen Einheit des Systems" wird ferner erkennbar, daß Thibaut der Jurisprudenz den Status der Wissenschaftlichkeit auch dann zubilligt, wenn sie zwar nicht imstande ist, alle positiven Rechtssätze aus einem einzigen 1 4
A.a.O., S.168.
1 5
A.a.O., S.l75.
1 6 Auch in Grimms Nachschrift von Savignys Methodologievorlesung aus dem Wintersemester 1802/03 ist die Rede davon, daß dann, wenn die systematische Bearbeitung der Jurisprudenz "wahres Verdienst" haben soll, "ihr innerer Zusammenhang eine Einheit produzieren" müsse (S.l6). Oder: "Alles System führt auf Philosophie hin. Die Darstellung eines historischen Systems führt auf eine Einheit, auf ein Ideal, worauf sie sich gründet hin" (S.48). Diese Formulierungen können aber Savigny nicht unmittelbar zugeschrieben werden. Jakobs hat sogar zu zeigen unternommen, daß Grimm gerade hinsichtlich des von S.l6 der Mitschrift genommenen Zitats so geschrieben habe, wie Savigny nicht geredet haben konnte (1992, S.276ff.). Da die Grimmsche Mitschrift keinesfalls, wie Kantorowicz noch meinte, als Quelle "hohen Ranges" (1933, S.466) anzusehen ist und das Denken Savignys aufgrund dieses Dokuments nur mit einer Vielzahl von Annahmen und Deutungsvariablen rekonstruiert werden kann, soll hier die Interpretation und die Einordnung der Savignyschen Vorlesung in den Kontext der Äußerungen anderer Autoren jener Zeit unterbleiben.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
27
Grundsatz abzuleiten, sondern diese schon auf einige wenige Grundsätze zurückführen kann. b) Diese Thibautsche Vorstellung, die Sätze des positiven Rechts in Beziehung zu setzen mit allgemeinen, höheren, gar höchsten aus dem positiven Recht selbst gewonnenen Sätzen, die als wissenschaftliche Form bei der Bearbeitung des dargebotenen Stoffs geltend gemacht wird, nimmt auch in Feuerbachs Landshuter Antrittsvorlesung "Über die Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnis zur positiven Rechtswissenschaft" aus dem Jahre 1804 den Rang eines zentralen Denkelementes ein. "Der Stoff der Wissenschaft", so Feuerbach, "sind die positiven Gesetze selbst" 17 . Dieser auf empirischem Wege ermittelte Stoff müsse nun auch "in wissenschaftlicher Gestalt und Form dargestellt werden". Und dies geschehe durch die Beachtung der "formellen Bedingungen einer Wissenschaft überhaupt", zu der u.a. "der innere Zusammenhang der Rechtssätze" gehöre 18 . Um diese Bedingung zu erfüllen, müssten "die einzelnen Sätze durch inneren Kausalzusammenhang untereinander verkettet, das Besondere muß durch das Allgemeine, das Allgemeine durch das Allgemeinste begründet, in ihm enthalten, als notwendige Wahrheit von ihm abgeleitet sein". Nur so erhebe sich "auch die Jurisprudenz zur Wissenschaft; ohne dieses" sei "sie nichts als eine Last für das Gedächtnis, ein trauriger abschreckender Schutthaufen roher und zertrümmerter Materialien, die für den Staat nutzlos und der Vernunft ein Greuel sind" 1 9 . Der "unwissende stumpfsinnige Oberflächler" jammere über das Chaos der Empirie, der "echte Rechtsgelehrte" sehe in dieser scheinbaren Verwirrung Ordnung, in dieser Zerstreung Einheit, in diesem Chaos die Seele der Vernunft, die Übereinstimmung und Harmonie" 20 . Wenn bei Feuerbach davon die Rede ist, daß das Besondere vom "Allgemeinsten" abgeleitet sein muß und sich nur auf diese Weise die Jurisprudenz als Wissenschaft ausweisen kann, so tritt dabei das von Thibaut und Kohlschütter gebrauchte Wissenschaftskriterium hervor, eine Vielheit von Sätzen auf einen einzigen Grundsatz zurückzuführen. Doch im Gegensatz zu Thibaut problematisiert Feuerbach nicht, was denn überhaupt unter diesem "Allgemeinsten" vorzustellen ist. Auch bleibt die Frage unbeantwortet, ob und wie es denn möglich sein soll, alle einzelnen Rechtssätze aus einem "Allgemeinsten" abzuleiten. c) Einem Teil dieser Fragen geht K.S. Zachariae in seiner Schrift über "Die Wissenschaft der Gesetzgebung" aus dem Jahre 1806 nach, in der er eine solche Wissenschaft als Einleitung zu einem allgemeinen Gesetzbuch zu begründen und zu beschreiben sucht. Zu einer "einfachen Wissenschaft" gehört 1 7
1804, S.74.
1 8
A.a.O., S.80.
1 9
Beide Zitate a.a.O., S.87.
2 0
A.a.O., S.89. Fast wortgleich heißt es auf S.93f.: Damit aber schließlich ein "Inbegriff von gegebenen und in sich verbundenen Erkenntnissen ... in den vollen Rang einer Wissenschaft" eintritt, muß er "sich auch noch die Form des äußeren oder systematischen Zusammenhangs" aneignen. Denn "jede Verworrenheit und Disharmonie ist Beleidigung der Vernunft, deren höchste Aufgabe für alles, für das Erkennen wie für das Handeln, Übereinstimmung und Einheit ist".
Β. Einheitsfoieln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
28
für ihn, daß sich ihre Grundsätze "aus einem einigen Princip" ableiten lassen 2 1 . Bei einer "zusammengesetzten Wissenschaft" hingegen beruhten die Grundsätze "auf verschiedenen Prinzipien" und bildeten "nur in so fern ein wissenschaftliches Ganzes, als sie sich auf einen und denselben Zweck" bezögen 2 2 . Die Fundierung der von Zachariae zu den zusammengesetzten Wissenschaften gezählten 23 "Gesetzgebungswissenschaft" anhand des von ihm selbst vorangestellten Kriteriums sei allerdings "ein schwieriger Gegenstand der Untersuchung", da die Prinzipien des positiven Rechts "so mannigfaltig und so reichhaltig an Folgerungen" seien 2 ! Dennoch will sich Zachariae nicht wie Thibaut mit der Zurückführung des positiven Rechts auf einige wenige Grundsätze begnügen. Im "menschlichen Geiste" liege "ein organisierendes Princip", "vermöge dessen eine Idee, die mit einem ganzen System von Vorstellungen als Grundsatz, oder als Resultat in der unmittelbaren Verbindung stehet, sobald sie einmal gefunden und auch nur unvollkommen in der Erfahrung angedeutet ist, gleichsam von selbst das ganze System herbeiführt und eine immer consequentere Darstelllung dieses Systems zur Folge hat" 2 5 . Diese als Grundsatz fungierende Idee dürfe aber nicht als subjektive Prämisse des Rechtsbearbeiters vorausgesetzt werden, sondern könne nur durch gesetzgeberisches Handeln real werden. Zachariae bleibt daher nur das Postulat, daß einer jeden Gesetzgebung "die Idee eines Systems zum Grunde liegen" müsse, wohingegen das Gesetz selbst "nur die Folgen dieser Idee, nicht aber die Gründe, auf welchen die systematische Einheit des Ganzen beruht, enthalten soll" 2 6 . d) Ein Jahr nach Zachariaes "Wissenschaft der Gesetzgebung" äußert sich Seidensticker in seinem "Entwurf eines Systems des Pandektenrechts zu Vorlesungen" ebenfalls zur Problematik des einen Grundsatzes, von dem das positive Recht aus wissenschaftlichen Ordnungs- und Darstellungsgründen ableitbar sein soll. Doch bei ihm scheint eine noch tiefliegendere Skepsis gegenüber dieser Ordnungsidee vorzuherrschen als bei Thibaut. Seidensticker erklärt, eine "systematische Darstellung des Pandectenrechts versucht" zu haben, er habe dabei aber "gar wohl bedacht, wie wenig es die Natur einer positiven Wissenschaft" erlaube, "sie in der Art und Weise systematisch zu behandeln, daß darin, wie im Felde der Spekulation, alles aus Einem Grundsatze abgeleitet" werde 2 7 . Zu einer solchen Behandlung sei die Jurisprudenz "schon um deswillen nicht fähig, weil sie nicht bloß von idealer, sondern 2 1
A.a.O., S.32.
2 2
Ebd. Zachariae unterscheidet nur terminologisch zwischen Prinzip und Zweck. An anderer Stelle sagt er, daß dann, wenn "von einem höchsten Principe der Wissenschaft die Rede sein" soll, "darunter nur die Aufgabe der Wissenschaft, der Zweck derselben, verstanden werden" könne (a.a.O., S.33). 2 3
A.a.O., S.32.
2 4
A.a.O., S.77.
2 5
A.a.O., S.75.
2 6
A.a.O., S.323.
2 7
Seidensticker
1807, S.III.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
29
zugleich auch von realer Beschaffenheit" sei 2 8 . Wissenschaftlich werde ein Rechtssystem dadurch, "daß es nach idealen Theilungsgründen organisiert ist, d.h. nach solchen, welche der Rechtsbegriff darbietet, so wie ihn die Vernunft giebt, oder wie ihn die Gesetzgebung nach legislatorischen Gründen und Motiven suppliert oder modificiert" habe 29 . Im positiven Recht seien rein wissenschaftliche Systeme "wegen des realen Stoffs" nicht möglich. Es komme vielmehr darauf an, "daß ein System des positiven Rechts nicht ohne Noth und nicht am Unrechten Orte classificierend werde" 3 0 . e) Auch wenn Seidensticker diese Vorstellung des "Einen Grundsatzes", von dem alles abgeleitet werden soll, entschieden ablehnt, deutlich wird an seinen Ausführungen, daß es sich bei diesem "einen Grundsatz" um ein Problem gehandelt haben muß, an dem in der damaligen Rechtswissenschaft nicht achtlos und gleichgültig vorbeigegangen werden konnte. Dies wird nochmals durch Thibaut unterstrichen, der in die dritte Auflage seines Systems des Pandektenrechts aus dem Jahre 1809 die Forderung einfügt, daß ein Rechtssystem "den Inhalt der Gesetze in einer systematischen Einheit darstellen" müsse 31 . Zunächst klingt es so, als mache er sich Zachariaes Postulat zu eigen, wenn er schreibt, daß diese systematische Einheit auch "materiell seyn" und "jeder einzelne Satz aus der höchsten Rechtsregel abgeleitet werden" solle, vorausgesetzt, daß die "Verfasser des positiven Rechts von einem Rechtsprinzip ausgegangen und bey dessen Durchführung consequent geblieben" seien 32 . Doch Thibaut fügt sogleich skeptisch an, daß bei "dem Zustand aller bisherigen Gesetzbücher" die "Darstellung in einer materiellen Einheit zu einer völligen Verbildung und Umschaffung des positiven Rechts führen" würde 3 3 . Anders als Seidensticker zieht Thibaut aber nicht die sich aufdrängende Konsequenz, die Vorstellung einer systematischen Einheit des positiven Rechts ganz aufzugeben. Statt dessen schlägt er vor, sich auf eine "formale Einheit" zu beschränken, und "das Mannigfaltige des positiven Rechts durch Zurückführung auf Arten und Gattungen möglichst zu vereinfachen suchen" 3 4 . A.a.O., S.IIIf. Optimistischer war zur selben Zeit noch Mühlenbruch, der meinte, daß es zur leichteren Erlangung der Kenntnisse der Gesetze zweckmäßig sei, die rechtlichen Wahrheiten "in eine wissenschaftliche Ordnung oder in ein System" zu bringen. Ein Rechtssystem könne "so mannigfaltig sein als der Inhalt der Gesetze" und richte "sich hauptsächlich nach dem Prinzip, wclches als höchster Einteilungsgrund angenommen" werde (1807, S.30). 2 9
Seidensticker
3 0
A.a.O., S.VI.
1807, S.V.
3 1 1809, S.7. Thibaut unterscheidet hier also zwischen "Rechtssystem" als einem Lehrbuch und der systematischen Einheit des positiven Rechts, die in diesem Lehrbuch zum Ausdruck kommen soll. 3 2 Ebd. Zur gleichen Zeit schreibt auch Wenck, daß Rechtswissenschaft dann entstehe, wenn "die Sätze des objektiven Rechts wissenschaftlich angeordnet und auf ein höchstes Prinzip zurückgeführt" werden (1810, S.12). 3 3 3 4
Thibaut 1809, S.7.
Thibaut 1807, S.7. Diese Abstraktion müsse auf den Begriff des Gesetzes führen und dieser dann in alle seine einzelnen Teile aufgelöst werden. "Die Erörterungen über die Gesetze überhaupt ... sind dann der Gegenstand des allgemeinen, die Vorschriften der Gesetze über besondere Rechtsverhältnisse der Gegenstand des besonderen Theils" (ebd.). Noch rund zehn Jahre später findet sich
30
Β.
i n h i s f o n l n in Rechtsthorie und Zivilrechtswissenschaft
0 Betrachtet man nun die vorstehend angeführten Äußerungen rechtswissenschaftlicher Autoren um die Wende zum 19. Jahrhundert zusammenfassend, so ist zunächst ihr stetes Bemühen hervorzuheben, eine Form zu finden, mit der der gesamte Umfang der positiven Rechtssätze zum Zwecke der Ordnung und Darstellung in einen durchgehenden Zusammenhang gebracht werden kann. Die Autoren diskutieren, ob dieser Zusammenhang durch die Rückführung aller Rechtssätze auf einen einzigen höchsten Grundsatz entstehen kann. Die fundamentale Bedeutung dieser Vorstellung einer auf den Stoff der Rechtswissenschaft, also an die Unzahl der Rechtssätze herangetragenen Form liegt in ihrer Funktion als Wissenschaftskriterium der Jurisprudenz. Falls die Ordnung des Materials gemäß dieser manchmal als "systematische Einheit" bezeichneten Form gelingt, kann die Jurisprudenz als Wissenschaft gelten. Der Vcrsuch, dieses Wissenschaftskriterium umzusetzen, konfrontierte die Autoren jedoch mit einem intrikaten Problem. Denn einerseits lehnen die Autoren es ab, sich bei der Suche nach diesem einen Grundsatz auf das Gebiet des Naturrechts zu begeben. Zum anderen zwingt sie die Mannigfaltigkeit der empirischen Rechtswirklichkeit zu der Erkenntnis, daß die unendlich scheinende Fülle der Rechtssätze allenfalls auf einige wenige Grundsätze, nicht aber auf einen einzigen obersten Grundsatz zurückgeführt werden kann. Für diese Rückführung der Rechtssätze auf einige wenige Grundsätze wird zum Teil der Ausdruck "Einheit des Systems" gebraucht, der Terminus "System" dabei in Entsprechung zum damals üblichen Sprachgebrauch verstanden als Lehrbuch oder Lchrvortrag. 2. Die Vorstellung einer systematischen Einheit des positiven Rechts als Nachhall naturrechtlichen Denkens bei der wissenschaftlichen Ordnung des positiven Rechts
a) Die vorstehende zusammenfassende Betrachtung leitet zu der Frage, wann die im Sinne einer Rückführung von positiven Rechtssätzen auf einen einzigen obersten Grundsatz, ein höchstes Prinzip oder letzte Rechtsregel verstandene und als Wissenschaftskriterium verwendete Rede von der systematischen Einheit des positiven Rechts zum ersten Mal aufgetreten ist und wo ihre geistes- wie realgeschichtlichen Wurzeln zu verorten sind. Bisher wurde schon mehrfach auf das rationalistische Vernunftrecht, aber auch auf die Philosophie des deutschen Idealismus als Grundlage der hier interessierenden bei Falck die Formulierung, wonach es bei einer Wissenschaft wie der Jurisprudenz, die ihren Inhalt aus Erfahrung und Geschichte schöpfe, unmöglich sei, "alle einzelne Sätze der Disciplin auf Ein höchstes Princip" zurückzuführen oder aus demselben abzuleiten (1821, S.30f.). Dennoch dürfe man der Jurisprudenz "den Namen: Wissenschaft" nicht versagen (a.a.O., S.31, Fn.20). Ähnlich Wening: Iis könne keine Rede davon sein, "daß das Wissen der Rechtsgelehrten bloß ein Aggregat positiver Normen enthalte", die Rechtswissenschaft sei "eine vollkommene, und durch innere Kinheit begründete Wissenschaft". So "verschieden und mannigfaltig auch die bestehenden Rechte und Gesetze seyn mögen, sie fügen sich alle durch die Zurückleitung auf die letzten Gründe zu einem großen Ganzen". Der Irrtum, die Würde der Jurisprudenz zu verkennen, rühre daher, "daß man das Willkürliche, Positive, welches zur äußeren Bildung des Rechts notwendig hinzutritt, als das innere Wesen" der Rechtswissenschaft ansähe (1821, S.106).
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
31
Einheitsvorstellung hingewiesen 35 . Sucht man diesen Erklärungen nachzugehen und sie detailliert zu überprüfen, so ergibt sich im Hinblick auf die terminologischen Gewohnheiten in den Jahrzehnten vor der Jahrhundertwende folgendes vorläufiges Bild: man sprach gewiß auch von "System" oder "systematischer Methode", verband diese Ausdrücke aber nicht mit dem Terminus "Einheit". Christian Wolff etwa schreibt, daß "eine beständige Verbindung zwischen allen Verbindlichkeiten und Rechten" sei, "daß eines aus dem andern durch eine ununterbrochene Reihe von Schlüssen hergeleitet werden kann; und also alle einen Inbegriff verbundener Wahrheiten ausmachen, welches ein System genennet wird, und von uns eine wahres System" 36 . Nach Friedrich Carl von Moser erfordert System "Vollständigkeit, Fundament, Ordnung, Übereinstimmung der Theile zu dem Ganzen" 37 und Schott zufolge gehört zur systematischen Methode, die "aus den Gesetzen herausgezogenen Wahrheiten und Sätze in einem gewissen Zusammenhange" vorzutragen 38 . Hufeland stellt schließlich einem "System mit wissenschaftlichem Zusammenhang" "bloße Classification und tabellarische Anordnungen" gegenüber 39 . Wenn hingegen in der Rechtswissenschaft des 18. Jahrhunderts davon gesprochen wurde, daß jede Wissenschaft "eine Einheit" sei, so wurde "Einheit" nicht in dem seit 1798 bekannten Thibautschen Sinne der Rückführbarkeit auf einen obersten Grundsatz oder auf wenige höchste Grundsätze verstanden, sondern lediglich als "Plan des Ganzen", als "natürliche Verbindung der einzelnen Teile" 4 0 . Doch dies sind nur erste terminologische Anhaltspunkte. Sie können die Frage, welcher Herkunft das mit dem Ausdruck der "systematischen Einheit" Gemeinte ist, nur unzureichend klären und allenfals als sprachliche Indizien einer sachlichen Innovation gedeutet werden. Müller interpretiert die "vieldeutige Redeweise von der Einheit der Rechtsordnung" als "Kind des rationalistischen Vemunftrechts"; dabei versteht er unter der Einheit der Rechtsordnung auch ein auf das positive Recht bezogenes wissenschaftliches System (1986, S.l). Larenz qualifiziert den Systemgedanken der Rechtswissenschaft als "Erbe der Naturrechtslehre", sieht ihn "aber auch" tief begründet im Deutschen Idealismus (1975, S.20; ähnlich Wieacker 1967a, S.374; sich an Larenz unmittelbar anschließend: Peine 1983, S.l 4). Wenn dies für den System gedanken allgemein gilt, so wohl auch für die "Einheit" als Systemmerkmal. o/r 1754, S.40. 1733 schrieb er, es sei der größte Verderb für die Wissenschaften, "daß man nicht mit gesammten Kräfften sich dahin bemühet, wie man alles deutlich erkläret, gründlich erweiset und ordentlich miteinander verknüpffet". Wenn er diese Absicht nicht gehabt hätte, würde er "keine Feder angesetzt haben, von allen Theilen der Welt-Weisheit Systemata zu schreiben" (1733, S.66f.). 3 7
TO
1759, S.4.
1772, S.173 Eisenhart fordert ebenfalls, in einem Lehrbuch die aus den Gesetzen abgeleiteten Rechtswahrheiten in einem "gewissen Zusammenhang" darzustellen (1795, S.l98). 3 9 4 0
1798, S.XVIIIf.
Tevenar Uli, S.l 1. Ähnlich Tafingers Erläuterung des "Begriff von Wissenschaft" in seinem "Versuch einer juristischen Methodologie" aus dem Jahre 1796. Dieser Begriff setze voraus, "daß nicht nur ein Aggregat von Kenntnissen vorhanden sey; sondern daß unter solchen Kenntnissen eine Verknüpfung derselben als zusammenstimmender Theile Eines Ganzen aufgestellt werde. In dieser Verknüpfung des Mannigfaltigen zur Einheit" bestehe "die wissenschaftliche Fonm"(S.lf.). Später führt er aus, daß eine Enzyklopädie "das ausgebreitete Ganze" "in einer gewissen Einheit" darstelle (S.l5). Entscheidend ist hier, daß "Einheit" bloß für Zusammenhang und Verbindung der einzelnen Kenntnisse steht, nicht aber gesagt wird, wie dieser Zusammenhang zu denken ist. Diese Begriff s Verwendung steht also noch genau eine Stufe unter der "systematischen Einheit" im oben kenn en gel ernten Sinne.
32
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
b) Die Denkweise, Rechtssätze ihrer Ordnung und Systematisierung wegen auf allgemeinere oder höhere Grundsätze zurückzuführen, ohne daß dabei von "Einheit" oder "systematischer Einheit" gesprochen wird, ist nicht zum ersten Mal um die Wende zum 19Jahrhundert zu beobachten. So sieht Pütter im Jahre 1777 "allgemeine Grundsätze" als unerläßliche Bedingung eines jeden Rechtssystems im Sinne eines Lehrbuchs a n 4 1 . Rechtswissenschaft, so Schott im Jahre 1772, sei diejenige Wissenschaft, "welche die aus Gesetzen entspringenden Zwangsrechte und Zwangspflichten unter den Menschen" in "zusammenhängenden Grundsätzen" lehre 4 2 . Nettelbladt, ein Schüler Christian W o l f f s , verlangt von einem systematischen Vortrag "das Demonstrieren der Rechtssätze aus Gründen" 44 . Terlinden, an Nettelbladt später unmittelbar anknüpfend, sieht in einer systematischen Ordnung einen Vortrag, in dem "diejenigen Wahrheiten vorausgeschickt werden, welche den Grund und die Erläuterung von den darauf folgenden Materien in sich fassen" 45 . Christian Wolff selbst sah Wissenschaft bekanntlich in der "Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzuthun" 46 . Seine mathematische, den "Fußstapfen des Euklidis" 4 7 folgende und universal geltende Methode 4 8 "fanget an von den Erklärungen, gehet fort zu den Grundsätzen, und hiervon weiter zu den Lehrsätzen und Aufgaben" 49 . Aber nicht erst für die Rechtswissenschaft im Zeitalter von Christian Wolffs mathematischer, axiomatisch-deduktiver Methode, sondern auch für die Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts ist die Forderung bezeugt, die ganze Masse des Rechtsstoffs "nach allgemeinen Grundsätzen und obersten Lehrsätzen zu ordnen" 50 . In der gleichen Zeit wurde auch für den Wissenschaftscharakter
Pütter 1777, S.5. Ähnlich fordert Dabelow, ein solches Rechtssystem zu wählen, "bey welchem jede Lehre aus ihren ersten Gründen erläutert" werden kann (1794, S.7). In Dabelows Einleitung in die positive Rechtswissenschaft (1793) bleibt i..ü. der Wissenschaftsbegriff völlig unreflektiert. 4 2 Schott 1772, §1. Er kommt aber der Vorstellung, eine Vielheit von Kenntnissen auf einen einzigen letzten Grundsatz zurückzuführen, schon ziemlich nahe, wenn er schreibt, daß "die Teile der Rechtswissenschaft, z.B. römisches Recht, deutsches Recht, Lehn- und Kirchenrecht, "in der genauesten Verbindung miteinander" stünden, "weil sie sich am Ende auf eine gemeinschaftliche Quelle, und auf einen gemeinschaftlichen Hauptzweck beziehen"(a.a.O., §2). 4 3
Wieacker
4 4
Wieacker a.a.O., S.321.
4 5
Terlinden
1967a, S.321. 1787, S. 13.
4 6
Wolff 1727, §2. Über den Zusammenhang zwischen Wolffs Philosophiebegriff: Lüthje (1925) und Schneiders (1983). 4 7
Wolff
4 8
1753, S.64.
Wissenschafts- und seinem
1754, Vorrede.
4 9 Wolff 1750, S.5. In den "Grundsätzen des Natur- und Völkerrechts" schreibt er, er sei Euklid gefolgt, indem er "alle Wörter mit einer vollständigen Erklärung belegte, alle und jede Sätze genugsam bestimmte, und beydes die Erklärungen als auch die Sätze dergestalt ordnete, daß sich die folgenden aus den vorhergehenden gänzlich verstehen ließen, und die Wahrheit der letztem aus den vorausgesetzten erhellen mußte" (1754, Vorrede). Ähnlich auch die berühmte Definition in 1733, S.61f. Zu Christian Wolffs Verständnis der aromatischen Methode: Wolters 1980, S.42ff.; Herberger 1981, S.330ff. 5 0
Zasius 1530, S.19.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
33
der Jurisprudenz plädiert und dabei der Systembegriff in Verbindung mit der Wissenschaftlichkeit juristischer Arbeit gebracht 51 . Vergleicht man diese methodologischen Postulate zur Ordnung des Rechtsstoffs mit der um 1800 stattfindenden Diskussion um die systematische Einheit des positiven Rechts, so springt ins Auge, daß es nun, an der Wende zum 19. Jahrhundert, nicht mehr zu genügen scheint, die Vielfalt des Rechtsmaterials durch die Zurückleitung auf allgemeine, einige wenige Grundsätze zu ordnen. Dies reichte in früheren Jahrhunderten, insbesondere bei Wolff und seinen Schülern noch aus. Nun aber spielten die Autoren mit dem Gedanken, den zu ordnenden und darzustellenden Stoff auf einen einzigen Grundsatz zurückzuführen 52 . Es scheint, als hätten sie ein traditionelles Ordnungsschema radikalisieren wollen. c) Die Vermutung liegt nahe, daß in dieser Steigerung und Zuspitzung einer konventionellen Ordnungsmethode die Wirkungen naturrechtlichen Denkens nachhallen. Zu dessen typischen Charakteristika gehörte ja gerade die Vorstellung, daß alle Rechtssätze einem obersten, letzten Grund entspringen. Es war üblich, den Naturrechtssystemen einen obersten Grundsatz vorauszustellen, aus dem alle Naturrechtssätze abgeleitet werden konnten 53 . Man erinnere Pütters Sentenz, daß die Quelle aller Rechte und Verbindlichkeiten "im Willen eines Höheren, mithin die letzte Quelle im Willen Gottes" liege 5 4 . Oder aber Kreitmayrs einige Jahre früher erhobene Forderung, daß "alles, was in Form einer Wissenschaft oder Disciplin vorgetragen wird - . . . aus gewissen Principiis und Conclusionibus ketten=weis zusammenhangen" und dieser Kette folglich "auch allzeit ein primum Principium vorausgestellt" werden muß 5 5 . Das "willkürliche Recht (jus positivum)" konnte diese Voraussetzung nicht erfüllen. Der Grund: Es hatte "keine Natur= und Felsen=feste Certitudinem ..., sondern nur von dem veränderlichen Gesätzgeber abhangt welcher es 5 1 Troje 1969, S.66. Troje stellt in seinem Aufsatz über "Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16.Jahrhunderts" insbesondere den Juristen Antonius Faber heraus, bei dem sich pädagogisches Anliegen, praktische Erfahrung und rechtspolitischer Impuls mit dem Anspruch systematischer Wissenschaftlichkeit vereinigt habe (S.87). Nach Wieacker haben auch die Glossatoren bei der Durdchdringung des Quellenstoffs durch Exegese, Harmonisierung und Regelbildung "ein Lehrgebäude von (formal) widerspruchsfreien Sätzen" gebildet (1967a, S.59), die Regeln seien aber nicht aus obersten Begriffen und Grunsätzen abgeleitet worden (a.a.O., S.60). Coing sieht in der klassischen römischen Jurisprudenz ebenfalls ein Interesse der Juristen an einem systematischen, aber nicht deduktiven, sondern nur nach inneren Sachzusammenhängen geordneten Aufbau des Rechtswissens (1962, S.19f.; ähnlich Arnold 1865, S.402: die römische Jurisprudenz habe kein abstrakt wissenschaftliches System des Rechts ausgebildet). Ein Grund dafür mag in der persönlichen Autorität der Juristen gelegen haben (so Wieacker 1967a, S.59 Fn.61). 5 2 Schröder ist ebenfalls der Ansicht, daß die Vorstellung, nach der "das ganze System auf einem obersten Grundsatz beruhen muß" in Wolffs Systemdefinition, "nach der es einen solchen Grundsatz immer nur relativ auf den jeweiligen Darstellungszweck geben konnte", noch nicht zu finden ist (1979, S.95). 5 3 Vgl. etwa Pohlmann zur Bedeutung des höchsten Grundsatzes im "Naturrecht der einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker" von Höpfner, das in der Zeit von 1780 bis 1795 sechsmal aufgelegt wurde (1992, S.53ff.). Pohlmann stellt auch a.a.O. den Zusammenhang mit anderen Naturrechtssystemen des 18.Jahrhunderts her. 5 4
1767, §10.
5 5
1759, S.l6 (zitiert nach Lipp 1991.S.186).
3 Baldus
34
Β. Einheitsfornieln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
heut so, und morgen wiederum anders macht" 5 6 . Sogar im Hierarchiemodell des christlichen Naturrechts, in der bei Thomas von Aquin und Augustinus zu erkennende Konzeption eines Stufenbaus, der von der lex humanitus positivus zur lex naturalis aufsteigt und in der lex aeterna seinen Abschluß findet 57, kann dieses Konzept der Rückführung auf einen obersten Grundsatz wiedergefunden werden. Dieser naturrechtlichen Denkweise kam freilich in erster Linie eine legitimierende Funktion zu, unverkennbar ist aber, daß dieses Modell auch eine Ordnung des Stoffes leistete, indem seine Vielfalt auf eine letzte Bezugsgröße ausgerichtet wurde. Das Neue an den Äußerungen der Thibaut, Seidensticker und Zachariae war hingegen, daß diese Autoren bei der Suche einer Form für eine feste und sichere Ordnung des positiven Rechts, an der die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudez zu messen ist, nicht mehr bereit waren, auf naturrechtliches Terrain auszugreifen. Sie richteten den Blick alleine auf das positive Recht und suchten aus diesem selbst die Grundelemente zu gewinnen, mit denen der Stoff überzeugend geordnet werden konnte 5 8 . Ihr Bemühen, auf diese Art eine auf das positive Recht gegründete Einheit zu denken, stellte sie aber vor das schwierige Problem, einen Grundsatz zu ermitteln, dem keine naturrechtliche Qualität mehr anhaftete, sondern der im positiven Recht selbst enthalten, aber dennoch so gefaßt war, daß auf ihn der gesamte, vielgestaltige Rechtsinhalt zurückgeleitet werden konnte. Eine Erklärung für dieses Streben nach einer allein mit Hilfe des positiven Rechts erstellten Ordnung kann die Erschütterung des Naturrechts im ausgehenden 18.Jahrhundert liefern, dessen nachlassende Überzeugungs- und Wirkungskraft, auf die Thibauts Wendung von der "Zeit, wo die ganze Philosophie im Schwanken" und "die Existenz des Naturrechts, der erste Grundsatz, jeder Theil desselben, wo alles überall in Gährung" i s t 5 9 , einen unmittelbaren Hinweis gibt. Für Christian Wolff etwa, dem vielleicht repräsentativsten Gelehrten des Naturrechts des 18.Jahrhunderts 60, konnte die Ordnung des positiven Rechts noch kein eigenständiges, unabhängig vom Naturrecht zu lösendes Problem darstellen. Er sah im Verhältnis von positiven und natürlichen Gesetzen die "schönste Übereinstimmung", eine "beständige Eintracht und Üebereinkommen" 61 . Dagegen mußte die Schwierigkeit eines allein aus den positiven Gesetzen zu abstrahierenden höchsten Grundsatzes in dem Augen5 6
1759, S.2f. (wiederum zitiert nach Lipp 1991, S.l92).
5 7
Thomas von Aquin differenzierte noch zwischen der lex aetema und der lex divina, an die sich dann die lex naturalis anschloß; vgl. zur Stufenbaulehre des christlichen Naturrechts Welzel 1962, S.54f.; 57ff; Wyduckel 1979, S.58, 122f.; zum Stufenbau bei Augustinus und Thomas auch Maihofer 1985, S. 117. 5 8 Rückert ist der Auffassung, Thibaut und Zachariae hätten sich neben anderen zu Beginn des 19.Jahrhunderts "selbst und bewußt in die Enge des positiven Rechts getrieben", seien aber gleichzeitig Apostel der Wissenschaftlichkeit, der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit gewesen (1987, S.102). 5 9 1798, S.l68; s. dazu oben Kapitel B.I.l. Zum "Zusammenbruch" des Naturrechts Welzel 1962, S.l02ff. 6 0
Koschaker 1947, S.250.
6 1
Wolff
1754, Vorrede.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
35
blick virulent werden, in dem bei der Systematisierung des positiven Rechts der Rückgriff auf naturrechtliche Sätze versagt war. Es scheint sonach, als habe sich in der Vorstellung und Rede einer systematischen Einheit des positiven Rechts eine naturrechtliche Denkform niedergeschlagen, die die Jurisprudenz um die Wende zum 19.Jahrhundert wegen der sich abschwächenden Bindungswirkung des Naturrechts vor eine neuartige Problematik der Stoffanordung stellte. d) Damit ist aber schließlich noch die Frage offen, was die Autoren, die sich um 1800 mit der Möglichkeit einer systematischen Einheit des positiven Rechts auseinandersetzten, bewogen haben mag, gerade diese Vorstellung zum Wissenschaftskriterium der Jurisprudenz zu erheben. Bei Christian Wolff etwa findet sich noch nicht der Gedanke, daß die Wissenschaftlichkeit menschlichen Tuns durch die Fähigkeit erwiesen werde, eine Vielzahl von Teilen, Erkenntnissen oder Rechtssätzen, auf einen einzigen Grundsatz zurückzuführen 62 . Andere Autoren des 18.Jahrhunderts sehen die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz in der Mnatürliche(n) Verbindung der einzelnen Teil e " 6 3 , "in der künstlichen Verbindung der Wahrheiten" 64 oder in der Verknüpfung von Kenntnissen als "zusammenstimmender Theile Eines Ganzen"^5. Hufeland, der ebenfalls Wissenschaft als "eine in ein zusammenhängendes Ganze verbundene Summe von Erkenntnissen" definierte 66 , spricht 1798 dann explizit davon, daß sich ein neues Wissenschaftsverständnis abzuzeichnen beginnt. Bisher, so schreibt er, war man "nicht gewohnt, alle Theile der Jurisprudenz als genau verknüpft anzusehen". Die älteren Systeme hätten keinen "eigentlich wissenschaftlichen Zusammenhang" gehabt, seien nur unbefriedigende "Classifikationen und tabellarische Anordnungen" gewesen 67 . Thibaut, Feuerbach, Zachariae und Seidensticker erörterten nun um die Wende des 19.Jahrhunderts, ob sich dieser Zusammenhang dadurch herstellen läßt, daß die Vielzahl der positiven Rechtssätze auf einen dem positiven Recht selbst immanenten obersten Grundsatz zurückgeführt werden. Die Frage, warum von jenen Autoren gerade dieser Gedanke zum Wissenschaftskriterium der Jurisprudenz erhoben wurde, kann die Philosophie des letzten Drittels des 18.Jahrhunderts beantworten. 3. Die Herkunft der Vorstellung einer systematischen Einheit des positiven Rechts aus dem kantianischen Wissenschaftsverständnis
a) Im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts verwenden eine Reihe von Philosophen den Ausdruck "Einheit" als wesentliches Systemmerkmal. Besonders 6 2
Vgl. Wolff
6 3
Tevenar 1777, S.U.
1727, §2.
6 4
Gildemeister
6 5
Tafinger
6 6
Hufeland 1797, S.2.
6 7
Hufeland 1798, S.XVIIIf.
1783, S.3.
1796, S.lf.
36
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
deutlich tritt dieser Sprachgebrauch bei Johann Heinrich Lambert hervor. Er verbindet in seiner 1771 erschienenen "Anlage zur Architectonik" die "Begriffe der Ausdehnung, Kraft und Einheit" mit dem "Begriffe der Solidität" 6 8 . Bei "ausgedehnten Soliditäten" lasse "sich eine Mehrheit der Teile, und vermittelst der Kräfte eine Verbindung dieser Teile denken: und das Ganze" mache "ein System aus" 6 9 . Der 1787, zehn Jahre nach Lamberts Tod herausgegebene zweite Band seiner "Logischen und Philosophischen Abhandlungen" enthält das "Fragment einer Systematologie", in dem "Einheit" als Merkmal eines allgemeinen Systembegriffs noch klarer zum Vorschein kommt 7 0 . Zu diesem Fragment wird Lambert durch den immer häufigeren "Gebrauch des Wortes System" 71 und durch den Umstand veranlaßt, daß beinahe "jedes Ganze ein System sollte können genennt werden" 72 . Bei der Entwicklung seines eigenen Systemverständnisses geht er zunächst "ausschließungsweise" vor und stellt dem Begriffe "System" das entgegen, "was man ein Chaos, ein Gemische, einen Haufen, einen Klumpen, eine Verwirrung, eine Zerrüttung etc. nennt" 7 3 . Durch den Vergleich einer Reihe besonderer Systeme sucht Lambert sodann die Merkmale eines allgemeinen Systembegriffs festzulegen. Zu einem "System überhaupt" gehören ihm zufolge "Theile", "verbindende Kräfte", "ein gemeinsames Band", "eine allgemeine, und etwan auch mehrere besondere Absichten, zu denen das System und seine Theile gewiedmet, gestaltet, geordnet, zusammengefügt und verbunden sind" 7 4 . Ferner erfordere ein System "das Beysammenseynkönnen" der "Theile und der verbindeiiden Kräfte", das "Fortdauernkönnen" und schließlich - dies ist hier entscheidend - "die Einheit, da das System ein Ganzes seyn soll, wobey jede Theile einander erfordern, voraussetzen oder nach sich ziehen" 7 5 . Es ist für die hier verfolgte Fragestellung wichtig, daß Lambert, der seinen Systembegriff nicht auf Erkenntnisse beschränkt, sondern beliebige Elemente als Systembausteine betrachtet 76 , mit "Einheit" einen durchgehenden Zusammenhang aller System6 8
1771, §59.
6 9
Ebd.
70 Die philosophiegeschichtliche Forschung sieht die zentralen systematologisehen Darlegungen Lamberts in der „Architectonik" und im "Fragment einer Systematologie" (Siegwart 1988, S.LV). Dieses Fragment stelle seine geschlossenste systemanalytische Leistung dar (Siegwart, a.a.O., S.LVI). Dagegen kann das Fragment "Theorie des Systems" Lambert nicht unmittelbar zugeschrieben werden. Die Begründung dafür liefert ebenfalls Siegwart (a.a.O., S. XLVIII). 7 1 Ders., 1787, S.386. 7 2
A.a.O., S.385.
7 3
A.a.O., S.386.
7 4
A.a.O., S.388.
7 5 A.a.O., S.388f. Nach Grimm ist das Wort "Einheit" überhaupt erst seit dem 18Jahrhundert geläufig (1862, S. 198). Dies behauptet auch Mauthner (1910, S.237), der aber nicht offenlegt, worauf er seine Beobachtung stützt. 7 6 Dies ergibt sich aus seiner Klassifikation der Hauptarten von Systemen, "die ihre Verbindung erhalten" entweder durch die Kräfte des Verstandes, durch die mechanischen Kräfte oder durch die des Willens. Zu den Systemen, die ihre Verbindung den Kräften des Willens verdanken, gehören Systeme von a)Entschließungen, b)Verträge, ^Gesellschaften, d)Staaten. Recht als Gesamtheit von Sätzen oder Normen erscheint bei ihm noch nicht als System (a.a.O., S.395f.). Vgl. zur "elemental unbeschränkten Systemauffassung" Lamberts auch Siegwart 1988, S.LVIII.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
37
teile meint. Allerdings ist seinen Ausführungen nicht klar zu entnehmen, ob dieser Zusammenhang der Systemteile unendlich ist oder ob er durch ein hierarchisches Verhältnis der Teile erzeugt wird, etwa so, daß die einzelnen Teile durch ein drittes, ihnen übergeordnetes Teil zusammengefaßt und -gehalten werden, und dieses dritte Teil sich wiederum auf ein ihm übergeordnetes Teil zurückführen läßt und so weiter, bis am Schluß ein letztes Teil erreicht wird. Lambert führt lediglich an, daß bei einem System "auch eine Art von Grundlage" vorkomme, "worauf das System beruht oder sich gründet" 7 7 . Es scheint diese Grundlage zu sein, die den Zusammenhang der Systemteile herstellt, wobei Lambert offenläßt, in welcher Weise die Teile auf dieser Grundlage beruhen. b) Es mag zutreffend sein, daß kein Theoretiker vor oder außerhalb der Entwicklung der Allgemeinen Systemtheorie im 20. Jahrhundert das Systemthema auf einer so allgemeinen Ebene und in einer auch nur annähernd so ausführlichen Art behandelt hat wie Lambert 7 8 . Doch darf andererseits Differenziertheit und Wirkungsmacht von Kants, freilich auf kognitive Elemente beschränktes Systemverständnis nicht unterschätzt werden' 9 . System, so lautet Kants berühmte Definition aus der 1781 erstmalig erschienenen "Kritik der reinen Vernunft", ist "die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee" 8 0 . Anders als bei Lambert, dem an einer allgemeinen Systematologie gelegen war, fungiert Kants Systemverständnis als Wissenschaftskriterium. Dies wird erkennbar an einer Formulierung, die auch für die Ausgangsfrage nach der Herkunft der in der Rechtswissenschaft um die Wende zum 19.Jahrhundert zu beobachtenden Formel der systematischen Einheit des positiven Rechts von besonderer Bedeutung ist. Kant schreibt ebenfalls in der 77 Ebd. Als weitere Merkmale nennt Lambert "Gesetze oder Regeln", "eine äußere Form, Gestalt, Zierrathen, Symetrie, locale Ordnung etc."(S.389). 7 8 Siegwart 1988, S.LXVIII. Vgl. auch die positive Einschätzung Lamberts durch Peine: Lamberts Systemdefinition bilde den Endpunkt einer jahrhundertealten Systemdiskussion. Sein Systembegriff sei so durchdacht, daß er alle früheren Definitionen übertreffe, andererseits aber so weit gefaßt, daß er alle späteren allgemeinen und insbesondere speziellen Definitionen schon umschließe {Peine 1983,S.33f.). 7 9 Die Frage nach den Bezügen zwischen der Philophie Lamberts und Kants, insbesondere, ob und in welcher Hinsicht Lambert Kant beeinflußt hat, ist in der Philosophiegeschichte äußerst umstritten. Baensch etwa kommt zu dem Ergebnis, daß alle Versuche, Lambert als Vorläufer Kants zu betrachten, mißglückt seien. Er stützt sich dabei insbesondere auf den Briefwechsel der beiden Philosophen (1902, S.80, 102). Peters würdigt Baenschs Interpretation dagegen als eine "polemisch gehaltene, scharf formulierte Reaktion auf die freilich gezwungenen Deutungen" früherer Darstellungen (1968, S.449). Peters selbst sieht Lambert als "Kant ähnlicher, im gleichen Sinne strebender Denker", der zu den "wichtigen Anregern für Kant" gehöre (a.a.O., S.453). Mit Ausnahme von Siegwart (1988, S.LXXIf.) wird Lamberts Systembegriff nicht eingehender mit dem Begriff Kants verglichen. Dies gilt auch für die 1980 erschienene Studie von Wolters, in der vor allem versucht wird, Lambert in den Prozeß der Abwendung der neuzeitlichen Philosophie von der Metaphysik und ihrer Begründung als Wissenschaftstheorie einzuordnen. Sodann untersucht Wolters die Auffassung Lamberts zur Begründung von Axiomen einer Theorie und seine Bearbeitung des Deduktionsproblems. Im übrigen ist Peines Behauptung, Kants Systemdefiniton bleibe im Hinblick auf ihre Differenziertheit weit hinter der Lamberts zurück (1983, S.36f. Fn.29), zu bezweifeln. Dies werden die folgenden Seiten zeigen. Peine stellt sich außerdem selbst in Widerspruch, wenn er gleichzeitig behauptet, Kants Systembegriff unterscheide sich "wohl vom Lambertschen nicht" (a.a.O., S.37). 8 0
Kant 1781, S.832.
38
Β. Hinheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
"Kritik der reinen Vernunft", daß die "systematische Einheit" dasjenige sei, "was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d.i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht" 8 1 . Kants Erörterungen unterscheiden sich von Lamberts Systembegriff aber vor allem durch den Versuch, den erkenntnistheoretischen Status seiner Vorstellung systematischer Einheit zu präzisieren. Diese Idee, die die systematische Einheit der Erkenntnisse ermöglicht, wird von Kant als "Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen" umschrieben, "sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird"** 2 . Diese Idee ist nach Kant von transzendentaler Art, niemals von konstitutivem Gebrauch, darf also nicht "für Begriffe von wirklichen Dingen genommen werden", oder "so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden" 8 3 . Transzendentale Ideen haben statt dessen einen "notwendigen regulativen Gebrauch". Sie richten den Verstand zu einem gewissen Ziele, "in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einem Punkt zusammenlaufen" 84 . Aus diesem regulativen Gebrauch der Ideen entspringe zwar "die Täuschung, als wenn die Richtungslinien von einem außerhalb des Feldes empirisch möglicher Erkenntnis liegenden Gegenstand ausgeflossen wären" 8 5 . Jedoch sei diese Illusion, so Kant "unentbehrlich notwendig, wenn wir außer den Gegenständen, die uns vor Augen sind, auch diejenigen zugleich sehen wollen, die weit davon uns im Rücken liegen, d.i. wenn wir ... den Verstand über jede gegebene Erfahrung ... hinaus, mithin auch zur größtmöglichen Erweiterung abrichten wollen" 8 6 . Der "hypothetische Gebrauch der Vernunft aus zum Grunde gelegten Ideen" zielt mithin auf die "systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse", die lediglich eine "projektierte Einheit" ist, also eine solche, "die man an sich nicht als gegeben, sondern nur als Problem ansehen muß" 8 7 . Sie ist als "logisches Prinzip" aufzufassen, "um da, wo der Verstand alleine nicht zu Regeln hinlangt, ihm durch Ideen fortzuhelfen, und zugleich der Verschiedenheit seiner Regeln Einhelligkeit unter einem Prinzip (systematische) und dadurch Zusammenhang zu verschaffen" 88 . Die systematische Einheit wäre 8 1
a.a.O., S. 832.
8 2
Ebd. Zum Zusammenhang dieser Vorstellung eines "Ganzen" mit Kants Organismusbegriff: Lehmann 1969, S.l58. 8 3
A.a.O., S.643f.
8 4
Ebd. Heidegger schreibt dazu: "Die Vernunft setzt nach Kant einen focus imaginarius, einen Brennpunkt, in dem alle Strahlen des Befragens der Dinge und des Bestimmens der Gegenstände zusammenlaufen bzw. umgekehrt, von dem her alles Erkennen seine Einheit hat. Aber dieser Brennpunkt ist ein eingebildeter, in der Einbildungskraft (dem Wesen der Vernunft) gesetzter"(1988, S.65). 8 5 Kant a.a.O., S.644. Im Text von 1781 steht zwar statt "ausgeflossen" "ausgeschlossen". Doch dieses Wort macht an dieser Stelle ersichtlich keinen Sinn. Daher wurde es von Mellin durch "geflossen", von Schopenhauer durch "ausgeschossen" ersetzt. 8 6
A.a.O., S.644f.
8 7
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.647.
8 8
A.a.O., S.648.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
39
nur dann nicht mehr subjektiv und logisch, sondern objektiv notwendig, wenn die Beschaffenheit der Gegenstände an sich schon als systematische Einheit bestimmt wären und man sagen könnte, daß alle möglichen Verstandeserkenntnisse, inklusive also der empirischen, Vernunfteinheit hätten 89 . Dieses Verständnis systematischer Einheit als eine subjektiv notwendige Vorstellung erklärt auch, warum nach Kant die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse zugleich zu postulieren und vorauszusetzen ist. Kant erläutert dies anhand der auf die Natur bezogenen Idee einer Grundkraft, durch die "die systematische Einheit mancherlei Kräfte einer Substanz postuliert" werde. Ja, selbst wenn es immer mißlingen würde, sie zu entdecken, setzt die Vernunft nach Kant "systematische Einheit mannigfaltiger Kräfte voraus, da besondere Naturgesetze unter allgemeineren stehen, und die Ersparung der Prinzipien nicht bloß ein ökonomischer Grundsatz der Vernunft, sondern inneres Gesetz der Natur w i r d " 9 0 . Die "Vernunft im logischen Gebrauche" darf und kann nicht behaupten, daß die systematische Einheit den Gegenständen tatsächlich innewohnt. Aber die Erkenntnis der Natur verlangt, diese Einheit anzunehmen. "Denn das Gesetz der Vernunft, sie zu suchen, ist notwendig, weil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verslandesgebrauch, und in dessen Ermanglung kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden, und wir alo in Ansehung des letztern die systematische Einheit der Natur durchaus als objektiv gültig und notwendig voraussetzen müssen" 91 . Kants Systemverständnis unterscheidet sich von Lamberts Ausführungen aber nicht nur durch diese erkenntnistheoretische Fundamentierung. Kant beschreibt auch detailliert, mit welchem Verfahren die systematische Einheit der Verstandeserkenntnisse zu gewinnen ist. Sie kann hergestellt werden durch die Beachtung der "Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen" 9 2 . Hinter dem ersten Prinzip, also dem der Homogenität, verbirgt sich "die Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen" 93 , es verhütet die Ausschweifung in die Mannigfaltigkeit verschiedener ursprünglicher Gattungen 94 . Hinter dem Prinzip der Spezifikation steckt der "Grundsatz der Varietät des Gleichartigen unter niederen Arten" 9 5 , dadurch wird die Neigung zur Einhelligkeit wiederum eingeschränkt 96 . Zur Vollendung der systematischen Einheit tritt schließlich "das Gesetz der Affini-
Eibd. Der Versuch, eine objektiv notwendige systematische Einheit der Gegenstände darzutun, ist von der nachkantisehen Philosophie unternommen worden (dazu unten Kapitel B.I.3.d). Bei Kant bleibt die Vorstellung von der systematischen Einheit ein subjektives und logisches Prinzip. 9 0
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.650.
9 1
A.a.O., S.651.
9 2
A.a.O., S.658.
9 3
A.a.O., S.658.
9 4
A.a.O., S.660.
9 5
A.a.O., S.657. A.a.O., S . 0 .
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
40
tat aller Begriffe hinzu, welches einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenartigkeit gebietet" 97 . Dieses dritte Prinzip, das Prinzip der Kontinuität der Form 9 8 entsteht durch eine Vereinigung der beiden ersteren, also der Prinzipien der Homogenität und Spezifikation, "nachdem man sowohl im Aufsteigen zu höheren Gattungen, als im Herabsteigen zu niederen Arten, den systematischen Zusammenhang in der Idee vollendet hat; denn alsdann sind alle Mannigfaltigkeiten untereinander verwandt, weil sie insgesamt durch alle Grade der erweiterten Bestimmung von einer einzigen obersten Gattung abstammen" 9 9 . Kant stellt deutlich heraus, daß diese Kontinuität der Formen strikt vom gegebenen Stoff zu trennen ist. Er bezeichnet sie als eine bloße Idee, "der ein kongruierender Gegenstand in der Erfahrung gar nicht aufgewiesen werden k a n n " 1 0 0 . Aber auch wenn Form und Gegenstand, Gesetz der Vernunft und sinnliche Erfahrung zu separieren sind, auch wenn für die "systematische Einheit aller Verstandesbegriffe kein Schema in der Anschauung ausfindig gemacht werden kann, so kann und muß doch ein Analogon eines solchen Schemas gegeben werden" 1 0 1 . Denn, so Kant, "das größeste und absolut Vollständige läßt sich bestimmt gedenken, weil alle restringierenden Bedingungen, welche unbestimmte Mannigfaltigkeit geben, weggelassen werd e n " 1 0 2 . Nur ein solches Schema, und dies unterstreicht noch einmal die eingangs erwähnte bedeutungsvolle Funktion des kantischen Begriffs der systematischen Einheit als Wissenschaftskriterium, also ein solches, das "zufolge einer Idee entspringt" und nicht "was empirisch, nach zufällig sich darbietenden Absichten" entworfen wird, gründet systematische, oder wie Kant inhaltsglcich sagt, "architektonische Einheit" - und nur "architektonisch, um der Verwandtschaft willen und der Ableitung von einem einigen obersten und inneren Zwecke, der das ganze erst möglich macht, kann dasjenige entspringen, was wir Wissenschaft nennen" 1 0 3 c) Man darf aufgrund eindringlicher Untersuchungen zur Geschichte des System- und Wissenschaftsbegriffs annehmen, daß der von Kant mit dem Merkmal der Einheit versehene und als Wissenschaftskriterium verwendete System begriff neuartig i s t 1 0 4 . Wohl wurde schon in der Antike von System 9 7
A.a.O., S.657f.
9 8
Kant verwendet hier Prinzip und Gesetz als Synonyma.
9 9
A.a.O., S.658.
1 0 0
A.a.O., S.661.
1 0 1
A.a.O., S.665. Zum Schcmatismusproblcm bei Kant: Lehmann 1969, S.164.
1 0 2
A.a.O., S.665. Kant erörtert das von Leibniz "in Gang" gebrachte und "durch Bonnet trefflich aufgestützte" Gesetz der "kontinuierlichen Stufenleiter der Geschöpfe" als Beispiel für den Versuch, Ordnung in die Natur zu bringen. Er weist daraufhin, daß die Natur es nicht als objektive Behauptung an die Hand geben konnte, lobt es aber als "Methode, nach einem solchen Prinzip Ordnung in der Natur aufzusuchen". Diese Methode sei ein rechtmäßiges und treffliches regulatives Prinzip der Vernunft, das aber "viel weiter geht, als daß Erfahrung und Beobachtung ihr gleichkommen könnte"(S.668). 1 0 3 1 0 4
A.a.O., S.833.
Vgl. Ritsehl 1906, Sp.l bis 68; Diemer 1968, S.15 bis 24: das, "was dabei um 1800, repräsentiert in erster Linie durch das kantischc Denken, als Wissenschaft im strengen Sinne verstanden
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
41
und Wissenschaft gesprochen 105 und auch schon in zwei Jahrhunderten vor Kant läßt sich eine sachte Annäherung beider Begriffe beobachten 106 . Zudem ist zu berücksichtigen, daß das Problem von Einheit und Mannigfaltigkeit zu den Fundamentalproblemen der Philosphie gehört und so alt ist, wie sie selbst 1 0 7 . Die Philosophie, die das Ganze des Seienden begreifen will, kann dies zumindest der Idee nach nur tun durch eine "schrittweise Reduktion der zunächst chaotisch erscheinenden Fülle des Vorliegenden auf immer weniger, immer allgemeiner und umfassender werdenden Prinzipien, schließlich auf ein einziges, allumfassendes", das zugleich die Funktion eines Seins- und Erklärungsgrundes h a t 1 0 8 . Die Gewähr einer alles umgreifenden Erkenntnis bietet nur die Einordnung einer Detaileinsicht "in einen Gesamtbegründungszusammenhang, der sich als Stufensystem aus Gründen und Folgen darstellt, innerhalb dessen die Folgen auf Gründe, diese wiederum auf höhere Gründe verweisen und so fort, bis ein Grund erreicht wird, der Bedingung von allem, selbst aber nicht mehr durch anderes bedingt i s t " 1 0 9 . Aber, und das ist der entscheidende Gesichtspunkt, dieses begreifende und ordnende Denken scheint erst bei Kant in den von ihm als Maßstab der Wissenschaftlichkeit gebrauchten Systembegriff einzufließen. Christian Wolff etwa verstand, wie oben gesehen, System noch als "Inbegriff verbundener Wahrheiten" und unterließ es, diese Definition zum Wissenschaftskriterium zu erheben. Bei Lambert findet sich dann zwar ein wesentlich differenzierteres Systemverständnis, aber auch bei ihm fungiert der Systembegriff noch nicht als Maßstab der Wissenschaftlichkeit menschlichen Tuns. So deutet vieles darauf, daß System erst von Kant verstanden wurde als Ordnung der vielfaltigen Erkenntnisse durch ihre Homogenisierung, Spezifizierung sowie Ausrichtung auf eine einzige oberste Gattung, durch ihr Zusammenlaufenlassen in einem einzigen Punkt, ihre Unterstelllung unter ein Prinzip oder ihre Ableitung von einem einzigen obersten und inneren Zwecke - wohl wissend, daß diese Ordnung nicht in der wird, ist die Vollendung und der Abschluß der vorausgehenden Entwicklung"(S.24); Kambartel 1969, S.99ff.; Stein 1970, S.99 bis 107: "Direkt benanntes Wissenschaftkriterium wird das System aber erst bei Kant", (S.107). Zahn 1973, S.321: "Insbesondere durch die Philosophie Kants und im Anschluß an sie wird ... die Forderung nach einem einzigen obersten Grundsatz erhoben, auf den sich das System der Begründungen stützt und ihm die Einheit gibt, die der Systemgedanke selbst fordert. Die Forderung nach Wissenschaftlichkeit verbindet sich untrennbar mit der nach Einheit"; Schröder 1979, S.83 bis 99: "Bei Kant treffen sich erstmals Wissenschafts- und Systembegriff', (S.95). Riedel 1990, S.286 bis 307: "Im Kontext der Begriffe Aggregat und Erkenntnis kommt es zu einer folgenreichen Neubestimmung des Wissenschaftsbegriffs" (S.307). 1 0 5
Dies zeigen die in der vorigen Fußnote angeführten Untersuchungen.
1 0 6
Diemer 1970, S.19: "Seit Beginn der Neuzeit ist die Systemidee mit der Wissenschaftsidee eng gekoppelt, ja unlöslich verbunden"; ders. in Blühdorn/Ritter 1969, S.91: "Erst im 18.Jahrhundert kommt das System in den engen Kontakt mit Wissenschaft als Ausdruck der Einheit des Begründungszusammenhangs"; Riedel 1990, S.294 bis 298. 1 0 7 Zahn 1973, S.320; Gloy 1981, S.l. Einen Überblick über die Geschichte dieses Problems geben Hadot/Flasch/Heintel 1972, Sp. 361 bis 384. 1 0 8 Gloy 1981, S.l; die Autorin verweist auch auf einen Ausspruch Hegels, der in der ganzen Philosophie "nichts anderes als das Studium der Bestimmungen der Einheit" sehen wollte (S.2); in die gleiche Richtung weist ein Wort Friedrich Schlegels: "Die Philosophie geht aufs Universum, also auf Einheit: Alle Philosophie geht auf Einheit" (1991, S.86). 1 0 9
Gloy 1981, S.l.
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
42
Welt vorgefunden, sondern vielmehr in sie vom erkennenden Subjekt hineingetragen wird. Und erst von Kant wurde diese Ordnung von Erkenntnissen als Wissenschaftskriterium ausgewiesen und mit dem Terminus der "systematischen Einheit" bezeichnet. d) Kants System- und Wissenschaftsbegriff ist nicht folgenlos geblieben. Seine Nachfolger schlossen sich ihm an, obgleich ihr Denken, von einer Ausnahme abgesehen, aus den von ihm gezogenen Grenzen ausbrach. Zum einen übertrugen sie das kantianische Wissenschaftskriterium auf die Philosophie selbst, um so das, was ist, einschränkungslos zu begreifen. Zum anderen übergingen sie Kants These, nach der sich der Ursprung des Systems, dieser letzte Grund, selbst nicht zeigen läßt und die systematische Einheit nur als regulative Idee gedacht werden kann. Das ehrgeizige und anspruchsvolle Thema von Kants Nachfolgern war es vielmehr, diesen letzten Grund, der alles Seiende trägt, aufzuzeigen und zu bestimmen. aa) Dies illustriert zunächst die Schrift "Über das Fundament des philosophischen Wissens" von Carl Leonhard Reinhold aus dem Jahre 1791. Der seit 1787 in Jena lehrende Philosoph stellt sich darin die Aufgabe, "die Philosophie zur Festigkeit, Brauchbarkeit und Würde einer eigentlichen Wissenschaft zu erheben" 11 ", er will, mit einem Wort, "die Begründung der Philosophie als Wissenschaft" 111 liefern. Eine solche Begründung verlangt natürlich zuerst eine allgemeine Klärung dessen, was unter Wissenschaft vorzustellen ist, und nichts scheint in jener Zeit näher zu liegen, als dafür auf den kantianischen Wissenschaftsbegriff zurückzugreifen. Und dies tut auch Reinhold. So oft Kant von der Philosophie als Wissenschaft gesprochen habe, habe er "systematische Form, durchgängige Einheit mannigfaltiger Erkenntnisse unter einem Prinzip" gefordert 1 1 2 . Diese Form müsse "folglich durch Grundsätze, die alle einem ersten untergeordnet sein müssen, bestimmt" und der Philosophie selbst zugrunde gelegt werden 1 1 3 . Nach Reinhold ist die wissenschaftliche Philosophie erst durch die Entdeckung ihres "eigentlichen und allgemeingeltenden Fundaments" 114 , durch Entdeckung ihres letzten Grundes 1 1 5 möglich und denkbar. Reinhold ging es also, wie später gesagt wurde, um "Philosophie aus einem Prinzip" 1 1 6 .
1 1 0
1791, S.XVII.
1 1 1
A.a.O., S. 10.
1 1 2 A.a.O., S.l 16. Auch Maimon schließt sich zwei Jahre später als Reinhold nahtlos an Kants Vorstellung von Wissenschaft an: "In einer Wissenschaft liegt uns nichts an der Realität, Möglichkeit oder Wirklichkeit der Prinzipien an sich, sondern an ihrer Realität als Prinzipien, d.h. an ihrer Brauchbarkeit alles in der Wissenschaft daraus herzuleiten, und dadurch die zu einer Wisssenschaft überhaupt erforderliche systematische Einheit zu erhalten"(1793, S.202). 1 1 3
Reinhold a.a.O., S.l 10.
1 1 4
A.a.O.,S.ll.
1 1 5
A.a.O., S.13.
1 1 6 So lautet der Titel eines 1974 erschienenen, von Lauth herausgegebenen Sammelbandes mit Beiträgen zu Reinholds Werk, nebst einem Briefekatalog.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
43
Damit war das Thema formuliert, an dem sich in den folgenden Jahren die bedeutendsten Autoren des deutschen Idealismus mit großer Vehemenz abmühen sollten. Mit Kants "Kritik der reinen Vernunft" hatte, so Reinhold, die Philosophie noch nicht den Rang einer Wissenschaft eingenommen. Reinhold, der Kants erste Kritik nun dem von ihr selbst entwickelten Wissenschaftkriterium unterwirft 1 1 7 , erkennt ihr Fundament in der "im Gemüthe vor aller Erfahrung bestimmten Möglichkeit der Erfahrung" 1 1 8 . Ihr erster Grundsatz laute: "Jedem realen Gegenstande, in wieferne er als ein solcher erkennbar seyn soll, kommen die formalen (die im Erkenntnisvermögen bestimmten Formen der Anschauung und des Begriffes) und die materialen (in dem durch Eindruck gegebenen Stoffe bestehenden) Bedingungen der Erfahrung z u " 1 1 9 . Doch zum einen habe die "Kritik der reinen Vernunft" damit keineswegs das gesamte philosophische Wissen begründet 120 , die einzige Wissenschaft, deren Grundlegung sie vollendet habe, sei die Metaphysik als Wissenschaft der Gegenstände möglicher Erfahrung 1 2 1 . Zu einer Wissenschaft der Gegenstände, die nicht der Erfahrung entsprungen sind (z.B. Substanz der Seele, des Weltalls, der Gottheit), habe sie kein Fundament geliefert, ja gar nicht liefern können 1 2 2 . Zum anderen sei der letzte Grundsatz der kantianischen Philosophie unerweislich 123 . Doch Reinhold lehnt sich nun keineswegs enttäuscht zurück, sondern sucht selbst eine Antwort auf die Frage nach der Philosophie als Wissenschaft. Sie müsse eine solche der a priori bestimmten Merkmale blosser Vorstellungen sein (nicht der Merkmale eigentlicher Objekte), die Form der sinnlichen Vorstellungen und der Begriffe selbst als das ursprüngliche a priori Erkennbare zum Objekte haben und schließlich das empirische, in Sinnlichkeit und Verstand bestehende Erkenntnisvermögen ausmachen 124 . Kurz, sie müsse "die Wissenschaft des gesamten Vorstellungsvermögens als eines solchen" sein 1 2 5 . Das Fundament dieser Philosophie, die Reinhold
11 Zuvor überprüft er auch die Philosophie Lockes, Leibniz und Humes anhand dieses Wissenschaftskriteriums und kommt zu dem Ergebnis, daß weder Leibniz "Satz des Widerspruchs" (S.27), noch Lockes einfache Vorstellung des "ursprünglich aus der Erfahrung Geschöpfte(n)"(S.14) als letzter wissenschaftlicher Grund tauge (S.20,43f.). Humes Philosophie scheide schon deshalb als Wissenschaft aus, weil nach ihr "objektive Wahrheit, d.h., alle reelle Übereinstimmung der Vorstellungen mit ihren Gegenständen grundlos und unerweislich" (S.45), folglich mit ihr gar keine Grundsätze möglich seien (S.47). Mensen sucht weiter nachzuweisen, daß Spinoza die Philosophie nicht auf einen einheitlichen Grundsatz aufbauen wollte (1974, S.l09). Und Leibniz hätte selbst sogar von zwei wichtigen Prinzipien für die Philosophie gesprochen. Die Behauptung Reinholds, Leibniz habe seine Philosophie auf Einem Grundsatz, dem Satz des Widerspruchs, aufgebaut, könne man nicht mehr aufrecht erhalten (Mensen, a.a.O., S.l 12). 1 1 8
A.a.O., S.56, auch S.57.
1 1 9
A.a.O., S.68.
1 2 0
A.a.O., S.62.
1 2 1
A.a.O., S.67. Vgl. auch Mensen (1974, S.l 15): Kant habe die systematische Einheit für jede Wissenschaft gefordert, sie aber für die Philosophie nicht geliefert. 1 2 2
Ebd.
1 2 3
A.a.O., S.69.
1 2 4
A.a.O., S.70f.
1 2 5
A.a.O., S.71. Das nach Kant Unvermittelbare wird hier zusammenzudenken versucht. Wie dies möglich sein soll, bleibt einem nüchternen Leser rätselhaft. Kant selbst sorgte sich um Rein-
44
Β.
inheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
"Elementarphilosophie" nennt 1 2 6 , ist "das Bewußtseyn als Thatsache" 127 , der "Satz des Bewußtseyns" der "erste Grundsatz aller Philosophie" 128 . Dieser Satz sei ein durch sich selbst bestimmter Satz, einer "dessen Sinn sich durch keinen höheren Satz bestimmen" lasse 1 2 9 . bb) Drei Jahre nach Reinholds Versuch "Über das Fundament des philosophischen Wissens" erschienen mehrere Texte, die eindrucksvoll unterstreichen, wie schnell und stark sich Kants Wissenschaftsbegriff in jener Zeit durchsetzte. Fichte schrieb Reinhold das "unsterbliche Verdienst" zu, die philosophierende Vernunft darauf aufmerksam gemacht zu haben, "daß die gesammte Philosophie auf einen einzigen Grundsatz zurück geführt werden müsse" 1 3 0 . 1793 behauptete er wie Reinhold, "daß nur durch Entwicklung aus einem einzigen Grundsatz Philosophie Wißenschaft werden kann, ... , daß es einen solchen Grundsatz giebt, daß er aber als solcher noch nicht aufgestellt", die Philosophie also "noch nicht im Zustande einer Wissenschaft" s e i 1 3 1 . Noch im selben Jahr kündigte Fichte an, "ein neues Fundament entdeckt" zu haben, "aus welchem die gesammte Philosophie sich sehr leicht entwickeln" lasse 1 3 2 . 1794 veröffentlichte Fichte dann seine Schrift "Über den Begriff der Wissenschaftslehre", in der der kantianische Wissenschaftsbegriff deutlich zutage tritt. "Eine Wissenschaft hat systematische Form" schreibt Fichte. "Alle Sätze in ihr hangen in einem einzigen Grundsatz zusammen, und vereinigen sich in ihm zu einem Ganzen" 1 3 3 . Diese Form gelte nicht nur für die "Wissenschaft der Wissenschaften überhaupt" 134 , also der Wissenschaftslehre, oder wie man heute vielleicht sagen würde: für die Theorie der Wissenschaft, sondern selbst für die besonderen Wissenschaften. "Die Wissenschaftslehre", so Fichte, "sollte ferner in der gleichen Rücksicht allen Wissenschaften ihre Form bestimmen" 1 3 5 . Die "höchste Einheit des Systems" ist für Fichte Bedin-
holds Philosophie, "weil die Theorie des Vorstellungsvermögens des Hm Reinhold so sehr in dunkele Abstraktionen zurückgeht, wo es unmöglich wird das Gesagte in Beyspielen darzustellen, so, daß, wenn sie auch in allen Stükken richtig wäre (welches ich wirklich nicht beurtheilen kan, da ich mich noch bis jetzt nicht habe hineindenken können) sie doch eben dieser Schwierigkeit wegen unmöglich von ausgebreiteter oder daurender Wirkung seyn kan, vornehmlich aber auch Ihre Beurtheilung, ... die der Sache selbst anhängende Dunkelheit nicht wohl wird vermeiden können"(so Kant in einem Brief vom 2.11.1791 an Jacob Sigismund Beck, in: Zehbe 1970, S.189). 1 2 6
Reinhold a.a.O., S.71.
1 2 7
A.a.O., S.109, auch S.78u. 80.
1 2 8
A.a.O., S.80.
1 2 9
A.a.O., S.82.
1 3 0
Fichte 1792, S.62. 1795 schrieb Fichte an Reinhold: "Sie haben, so wie Kant, etwas in die Menschheit gebracht, das ewig in ihr bleiben wird. Er, daß man von Untersuchung des Subjekts ausgehn, Sie, daß die Untersuchung aus Einem Grundatze geführt werden müße. Die Wahrheit, die Sie gesagt haben, ist ewig" (Fichte 1795a, Nr. 272). 1 3 1
1793a, S.18.
1 3 2
1793b, S.28.
1 3 3
Fichte 1794a, S.31.
1 3 4
A.a.O., S.39. A.a.O., S . 4 .
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
45
gung seiner Richtigkeit 1 3 6 . Er beläßt es aber nicht dabei, die bloße Form der Wissenschaftslehre, also der Wissenschaft aller Wissenschaften, festzulegen, sondern füllt die Vorstellung vom ersten Grund allen Wissens auch mit Inhalt. Fichte sieht diesen Grund nicht wie Reinhold im "Satz des Bewußtseyns", sondern in dem absolut und schlechthin sich selbst bestimmenden I c h 1 3 7 . cc) 1794 schreibt auch Schelling, von Fichtes Wissenschaftslehre anger e g t 1 3 8 , "Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt". Schelling will, ebenso wie Fichte und Reinhold zuvor, die Philosophie Kants weiterführen, wahrscheinlich sogar vollenden. Der Titel seiner Schrift läßt schon den Ansatz seiner Kritik an Kant anklingen. In dessen Philosophie mangele es an einem Prinzip, "durch welches nicht nur die allen einzelnen Formen zu Grunde liegende Urform selbst, sondern auch der nothwendige Zusammenhang derselben mit den einzelnen von ihr abhängigen Formen begründet wär e " 1 3 9 . Aber auch Reinhold wird nicht geschont. Dessen Elementarphilosophie habe nur eine der beiden Fragen beantwortet, die "aller Wissenschaft vorangehen müssen ... - die Frage nämlich, wie der Inhalt einer Philosophie möglich sei, während daß die Frage über die Möglichkeit der Form einer Philosophie durch sie im Ganzen genommen nur so beantwortet wurde, wie sie schon durch die Kritik der reinen Vernunft beantwortet war, d.h. ohne daß die Untersuchung auf ein letztes Prinzip aller Form zurückgeführt worden wäre" 1 4 0 . Diese Kritik hält ihn aber nicht davon ab, sich Kants Wissenschaftsbegriff ungebrochen zu eigen zu machen: "Wissenschaft überhaupt - ihr Inhalt sey, welcher er wolle - ist ein Ganzes, das unter der Form der Einheit steht". Schelling erläutert, was darunter zu verstehen ist: Alle Teile müssen "Einer Bedingung untergeordnet" sein, "jeder Theil aber den anderen nur insofern bestimmt, als er selbst durch jene eine Bedingung bestimmt ist. Die Theile der Wissenschaft heißen Sätze, diese Bedingung also Grundsatz. Wissenschaft ist demnach nur durch einen Grundsatz möglich" 1 4 1 . Schelling macht diesen Wissenschaftsbegriff genau wie Fichte für alle Wissenschaften geltend, also nicht nur für die Philosophie: "Diese Form der Einheit, d.h. des fortgehenden Zusammenhangs bedingter Sätze, deren oberster nicht bedingt ist, ist die allgemeine Form aller Wissenschaften" 142 . Schelling will wie die anderen an 1 3 6
A.a.O., S.56.
1 3 7
A.a.O., S.74. Dies war keinesfalls Fichtes letztes Wort zu diesem Problem. In der auch 1794 erschienenen "Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre", eine Handschrift für die Zuhörer seiner Vorlesung , hieß die Formel für den "erste(n), schlechthin unbedingte(n) Grundsatz"(1794b, S.91): "Das Ich setzt ursprünglich sein eigenes Seyn"(a.a.O., S.98). Henrichs hat den Gehalt dieser Formel untersucht und ihren weiteren Verlauf in Fichtes Denken nachgezeichnet (1966, S.198ff). Kant hat sich 1799 von Fichtes Wissenschaftslehre deutlich distanziert. Er hielt sie "für ein gänzlich unhaltbares System". "Denn reine Wissenschaftslehre", so erklärt er, "ist nichts mehr oder weniger als bloße Logik, welche mit ihren Principien sich nicht zum Materialen der Erkenntnisse versteigt, sondern vom Inhalte derselben als reine Logik abstrahiert, aus welcher ein reales Objekt herauszuklauben vergebliche und daher auch nie versuchte Arbeit ist"(in Zehbe 1970, S.267). 1 3 8
Schelling 1794, S.48.
1 3 9
Ebd.
1 4 0
Ebd.
1 4 1
A.a.O., S.50.
Β. Einheitsfoneln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
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dieser Stelle nicht stehenbleiben und wagt den Versuch, den "schlechthin absoluten Grundsatz" 143 der Philosophie inhaltlich zu bestimmen. Seine Spekulationen führen ihn dabei zum "ursprünglich durch sich selbst gesetzte(n) Ich"144. dd) Im Unterschied zu Schelling, Fichte und Reinhold verzichtet dagegen Carl Christian Eberhard Schmid in seinem ebenfalls 1794 erschienenen Aufsatz über "ERSTE L I N I E N einer reinen Theorie der Wissenschaft" auf eine materielle Bestimmung des letzten Grundsatzes. Schmid beschränkt sich darauf, den kantianischen Wissenschaftsbegriff differenzierter auszugestalten. Wissenschaft ist, so sagt er, "ihrer Form nach die Vorstellung von Einheit aller Erkenntnisse" 145 . In ihr sei zu differenzieren zwischen der Materie, "d.i. das Mannigfaltige der Gedanken und Erkenntnisse, welche als Einheit vorgestellt werden", und der logischen Form, "d.i. die Art und Weise, wie dieses Mannigfaltige verbunden i s t " 1 4 6 . "Die Einheit der Erkenntnisse" heiße "logisches System", der Bestimmungsgrund dieser Einheit der Erkenntnisse "ein Prinzip, oder der höchste Erkenntnisgrund" 147 . Schmid listet ähnlich wie Lambert die Merkmale von Wissenschaft auf: Vollständigkeit, reine Wahrheit, wesentliche Unveränderlichkeit, Gründlichkeit, Notwendigkeit und schließlich "Systematische Einheit": "Jede Erkenntnis, welche die Wissenschaft enthält, muß mit allen übrigen nothwendig zusammen hängen" 1 4 8 . Die Anhänglichkeit an das große Vorbild aus Königsberg belegt die schlichte Paraphrase des kantianischen Gedankens von der systematischen Einheit als bloß regulative Idee, die den Erkenntnisgegenständen selbst nicht anhafte: "Diese Wissenschaft", so Schmid, "ist aber nur das Objekt einer Vernunftidee, womit keine würkliche Erkenntniß eines endlichen Wesens (Menschen), dem die Stoffe zur Erkenntniß der Gegenstände sinnlich gegeben werden, vollkommen übereinstimmt, noch übereinstimmen k a n n " 1 4 9 . e) Bei der Einblendung dieser wissenschaftstheoretischen Diskussion der Philosophie des ausklingenden 18.Jahrhunderts braucht die Problematik des "letzten Grundsatzes aller Philosophie" allerdings nicht weiter ausgeleuchtet zu werden. Sie sollte die Philosophie des Deutschen Idealismus noch rund zwei Jahrzehnte beschäftigen und das spekulative Denken in schwindelerregende Höhen treiben. Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. Es kann unerörtert bleiben, was eigentlich hinter dem "Satz des Bewußtseyns", was hinter 1 4 2
Ebd., Fn.55.
1 4 3
A.a.O., S.52.
1 4 4
A.a.O., S.56. Fichte (1795b, S.83f.) wendet sich dagegen, diesen Grundsatz mit seiner Theorie zu identifizieren. Hier braucht dieser Problematik aber nicht weiter nachgegangen zu werden. Sie führt zu den windigsten Gipfeln der spekulativen Philosophie des deutschen Idealismus. 1 4 5
1794, S.351.
1 4 6
A.a.O., S.353.
1 4 7
Ebd.
1 4 8
A.a.O., S.359f.
1 4 9
A.a.O., S.360.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
47
dem "sich selbst bestimmenden" oder dem "sich setzenden Ich" steckt. Ebenfalls ist hier ohne Belang, ob mit dem Rückgriff auf das kantianische Wissenschaftsideal die strenge Systematik der Schulphilosophie fundamentiert und der Kampf gegen den Empirismus geführt werden sollte, ob in diesem Ideal vielleicht die Wissenschaftseuphorie des 18.Jahrhunderts kulminierte oder die Philosophie gar den Streit der Fakultäten für sich entscheiden, sich selbst zur "Königin aller Wissenschaften" 150 küren wollte, Für die hier interessierende Frage nach der Herkunft der um die Jahrhundertwende bei einigen Juristen auftauchenden Sprechweise von der systematischen Einheit des positiven Rechts ist allein von Bedeutung, daß sich in der Philosophie der neunziger Jahre des 18.Jahrhunderts Kants Wissenschaftsbegriff mit schierer Selbstverständlichkeit uneingeschränkte Geltung verschaffen konnte. Und wenn nur kurze Zeit später, zum ersten Mal um 1800, einige juristische Schriftsteller, die sich entweder selbst zum Einfluß Kants bekannten oder von Dritten als Kantianer eingeordnet werden 1 5 1 , von einer systematischen Einheit des positiven Rechts zu sprechen beginnen, sie damit die Rückführung der positiven Rechtssätze auf einen obersten Grund meinten und mit der Orientierung an diesem Ordnungsprinzip die Jurisprudenz als Wissenschaft ausweisen wollten, so kann man sich kaum mehr der Vermutung entziehen, daß eine Wurzel des Begriffs der systematischen Einheit des positiven Rechts in den Wissenschaftsbegriff Kants hineinreicht. 4. Zusammenfassung
Die Überprüfung der Ausgangsfrage, an welche Entwicklungsstränge des juristischen und philosophischen Denkens die um 1800 zu beobachtende Verwendung der Formel von der systematischen Einheit des positiven Rechts anknüpft, hat zunächst zur Feststellung geführt, daß sie sich nicht mit dem Wolffschen Methodenideal deckte. Sie radikalisierte dieses Ideal vielmehr, indem sie die Rückführung von Sätzen nicht auf einige wenige Grundsätze, sondern auf einen höchsten Grundsatz erwog. Diese Problematik eines höchsten Grundsatzes läßt sich eher als Nachhall einer naturrechtlichen Denkform deuten, gebrochen allerdings durch die sich Ende des 18.Jahrhunderts abzeichnenden Erschütterungen des Naturrechts. Die Rückführung auf eine letzte Quelle, die im überpositiven Bereich lag und etwa mit dem göttlichen Willen identifiziert wurde, war ein wesentliches Charakteristikum der Naturrechtssysteme, dem in erster Linie gewiß eine Legitimationsfunktion zukam, das aber auch eine Ordnung des Stoffs bewirkte. Die Übertragung dieser Ordnungsform auf das positive Recht, ohne daß dabei auf einen naturrechtlich 1 5 0 1 5 1
Reinhold 1790, S.370.
Thibaut , der den Begriff der systematischen Einheit differenzierend erörterte, hat sich am Ende seines Lebens zum Einfluß Kants selbst bekannt ( Thibaut 1838, S.417). Feuerbach, der forderte, alle positiven Rechtssätze auf ein "Allgemeinstes" zurückzuführen, hatte während seiner Jenenser Zeit bei Reinhold gehört (Radbruch 1934, S.8). Radbruch nennt Feuerbach an anderer Stelle einen "Jünger Kants" (a.a.O., S.14), Und Zachariae wird ebenfalls von nicht unmaßgeblicher Seite als "fester Kantianer" eingestuft (Landsberg 1919, S.l01).
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Β.
inheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
bestimmten höchsten Grundsatz rekurriert werden konnte, hatte eine neuartige Problemlage zur Folge. Dieser höchste Grundsatz mußte aus dem positiven Recht selbst gewonnen werden, obgleich dieses Recht so vielgestaltig und inkohärent war, daß eine Größe, die alle positiv-rechtlichen Details zu erfassen vermochte, aber selbst eben diesem positiven Recht entstammte, nur schwerlich ausfindig gemacht werden konnte. Diese Denkform der Rückführung auf einen höchsten Grundsatz wurde in der juristischen Diskussion als Wissenschaftskriterium verwendet. Eine Betrachtung der philosophischen Literatur im ausgehenden 18.Jahrhundert zeigte, daß dieses Kriterium in der damaligen Zeit en vogue war, von Kant differenziert entwickelt und von den Philosophen des Deutschen Idealismus zu einer geltungsstarken Vorstellung gefördert. Die zeitliche Nähe zwischen der juristischen Verwendung dieser Vorstellung einer Rückführbarkeit auf einen höchsten Grundsatz als Wissenschaftskriterium und dem von Kant begründeten, dann von Reinhold, Fichte, Schelling und Schmid fortgeführten Wissenschaftsbegriff, der Vergleich der juristischen Äußerungen mit den philosophischen Texten sowie die Berücksichtigung einiger biographischer Details diese Faktoren deuten allesamt darauf hin, daß Kants Wissenschaftsverständnis ein Auslöser der um 1800 unter Juristen diskutierten Problemstellung einer systematischen Einheit des positiven Rechts war. Dieser geistesgeschichtliche Zusammenhang fügt sich auch ein in das Bild von der um die Wende zum 19.Jahrhundert erfolgten Neugründung der Jurisprudenz als methodenbewußte und systematische Rechtswissenschaft. Als gesicherte Erkenntnis gilt, daß dieser Modernisierungsprozeß maßgeblich von der zeitgenössischen Philosophie beeinflußt und dabei insbesondere auf deren System- und Wissenschaftsideal zurückgegriffen wurde 1 5 2 . Die neuere Forschung hat zudem herausgestellt, daß sich die Jurisprudenz dabei in entscheidendem Maße an Kants System- und Wissenschaftsbegriff orientierte 1 5 3 . Dieser Stand der Forschung kann nun durch die hier erfolgte Untersuchung ergänzt und konkretisiert werden: die juristische Rezeption des kantianischen System- und Wissenschaftsbegriffs hat an der Wende zum 19.Jahrhundert zum Begriff der systematischen Einheit des positiven Rechts geführt. Wenig wahrscheinlich ist dabei, daß sich die Jurisprudenz diesem Wissenschaftsideal anschloß, ohne durch eine praktische Bedürfnislage dazu gedrängt worden zu sein. Die Diskussion der Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz an der Wende zum 19. Jahrhundert fand in einer Zeit statt, in der tiefgreifende politische, ökonomische und soziale Modernisierungsvorgänge stattfanden, die vom überkommenen Zustand der Rechtszersplitterung, der "Buntscheckigkeit der deutschen Privatrechtslandkarte" 1 5 4 konterkariert wurden 1 5 5 . Ein wissenschaftlich geordneter, d.h. nach 1 5 2
Wieacker
1959, S.l 39; 1967, S.367 bis S.370; Larenz 1975, S.20.
1 5 3
Schröder 1979, S.98, 114, 128 bis 131, 145ff.; zu achten ist insbesondere auf Schröders Kritik der These, die Juristen des 19.Jahrhunderts hätten "naturrechtliche" Systemvorstellungen übernommen (a.a.O., S.128f.). Während etwa Wieacker und Larenz (s. Fn. 152) die Naturrechtslehre neben den damaligen Philosophien als Wurzel des juristischen Systemdenkens im 19. Jahrhundert anführen, akzentuiert Schröder den kantischen System- und Wissenschaftsbegriff (1979, S.l29; ebenso wie Schröder Rücken 1987, S.103; 1991, S.199). 1 5 4
Koschaker 1947, S.259.
I. Rechtswissenschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert
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strenger Systematik aufgebauter Stoff des positiven Rechts versprach dagegen in einer von erheblichen politischen und sozialen Veränderungen erfüllten Zeit die nötige Übersichtlichkeit, Handhabbarkeit und Rechtssicherheit 156 Perfekt wäre diese Ordnung gewesen, wenn die Sätze des positiven Rechts auf einen einzigen, obersten Grundsatz hätten zurückgeleitet werden könnten.
Vgl. zu den Modernisierungsvorgängen Coing (1982), der sie allerdings unter dem Blickwinkel der auslösenden Bedingungen für die privatrechtliche Gesetzgebung im 19. Jahrhundert, nicht als Hintergrund wissenschaftlicher Ordnungs ν ersuche darstellt. 1 5 6
Vgl. Riickert
1987, S.104.
50
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
II. Kodifikationsstreit 1. Die Einheit des Rechts durch ein Gesetzbuch für ganz Deutschland (Thibaut 1814, Gönner 1815)
a) Der soeben erwähnte Zustand der Rechtszersplitterung, der nicht nur die Wende zum 19.Jahrhundert, sondern auch ältere Phasen der deutschen Rechtsentwicklung kennzeichnet 1 , wurde vom gemeinen Recht und der Dogmatik des usus modernus 2 nur leidlich zusammengehalten. Diese Situation führt mitten hinein in die Thematik einer Einheitsformel, die in engem Zusammenhang steht mit der im beginnenden 19. Jahrhundert erhobenen Forderung nach einer Kodifizierung des geltenden Zivilrechts. Und wieder ist es Thibaut, der in maßgeblicher Weise von einer "Einheit des Rechts" spricht, dieses Mal aber ohne den bisher gewohnten adjektivischen Zusatz. Kann seine um die Jahrhundertwende gebrauchte Formel von der "systematischen Einheit", in die der "Inhalt der Gesetze" bei der wissenschaftlicher Darstellung zu bringen sei, als Reaktion der Rechtswissenschaft auf einen problemträchtigen Rechtszustand gedeutet werden, so gibt Thibaut mit der nun im Jahre 1814 einsetzenden Rede von der "Einheit des Rechts" eine unmittelbar rechtspolitische Antwort auf einen weitgehend zusammenhanglosen und unüberschaubar vielgestaltigen Rechtsstoff. In seiner Schrift "Ueber die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland" (1814) bringt er mit dem neuen Ausdruck der "Einheit des Rechts" ein ökonomisches Grundbedürfnis der in jener Zeit in Deutschland entstehenden bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck. "Allein durch einen lebhaften, inneren, wechselseitigen Verkehr", so schreibt Thibaut, könnten die deutschen Länder "ihren Wohlstand erhalten" 3 . Sei "keine Gleichheit des Rechts", so entstehe "das fürchterliche Unwesen der Collision der Gesetze". Die "armen Untertanen" würden "bei ihrem Verkehr in solche ewige Stockungen gerathen, und in ein solches Labyrinth von Unsicherheit und Schranken verstrickt", "daß ihr ärgster Feind sie nicht übler beraten könnte. Die Einheit des Rechts würde dagegen den Weg des Bürgers von dem einen Lande in das andere eben und sicher machen" 4 . Diese "Einheit des Rechts" könne durch "ein Gesetzbuch für ganz Deutschland" realisiert werden. Ein solches Gesetzbuch, natürlich als Grund und Verstärkung der nationalen Homogenität Deutschlands verstanden, verdiene "die schönste Gabe des Himmels genannt zu werden", da die Deutschen danach verlangten, "daß ein brüderlicher gleicher Sinn sie ewig verbinde". Und diesem Verlangen könne entsprochen werden durch "gleiche Gesetze", die wiederum "gleiche Sitten und Gewohnheiten" erzeugten 5. 1
Zum 16. und 17.Jahrhundert Ebel 1959, S. 67; Stolleis 1984, S.l lOf.
2
Wieacker
3
1814, S.78.
4
Alle vorstehenden Zitate ebd.
5
1967a, S.214.
A.a.O., S.77. Schon in seiner Enzyklopädie spricht Thibaut davon, daß "die höchste Gewalt notwendig eine Menge gesetzlicher Bestimmungen machen" müsse, damit "unter den Aussprüchen verschiedener Richter eine völlige Gleichheit und Einheit Statt finde" (1797, S. 61). Einheit steht
II. Kodifikationsstreit
51
b) Diesen Thibautschen Begriff der Einheit des Rechts gebraucht ebenfalls Nikolaus Thaddäus von Gönner in seiner 1815 publizierten Schrift "Ueber Gesetzgebung und Rechtswissenschaft in unserer Zeit" . Die Kodifikationsforderung wurzelt Gönner zufolge in der Erfahrung, "daß der gegenwärtige Rechtszustand einer Anarchie gleicht, die alle bürgerlichen Verhältnisse verwirrt, den Kredit zerstört und die Rechtspflege unsicher macht" 7 . Auch Staatsmänner sprächen "die Nothwendigkeit aus, durch eine feste gleichförmige Gesetzgebung die Provinzen umzuschaffen in ein Vaterland, und zu wecken die schlummernde Kraft einer Nation" 8 . In grellen Farben zeichnet er den als unerträglich empfundenen Zustand: Die gesetzgebende Gewalt trete mit sich selbst in Widerspruch, "wenn man in einem und demselben Staate die Gesetzbücher mit den Postpferden" wechsele9. Gönner wird ganz konkret: "was auf einer Poststation in dreißig Jahren verjährt, ist auf der nächsten Station in zehn Jahren verjährt, dort gilt unter den Ehegatten stillschweigende allgemeine Gütergemeinschaft, auf der nächsten Station weiter das reine, und auf der folgenden Station das gemischte Dotalsystem. Hier bin ich mit 21 dort mit 24 Jahren majorenn, an einem Ort eilt die römische patria potestas, am anderen die reinere älterliche Gewalt" 1 0 . In anklägerischem Tonfall fragt Gönner: "Dieser Zustand soll fortdauern, dieses Chaos verewiget werden, dieses Heterogene von einer und derselben gesetzgebenden Gewalt sanktioniert seyn?" 11 . Gönner weiß, wie diesem Zustand der Zerrissenheit abzuhelfen ist: Die Nation erwarte "eine gleichförmige Gesetzgebung im Staate, damit nicht eine Verschiedenheit der Gesetze das Recht im Land verwirrt, damit sie nicht die Bürger eines Staates nach Provinzen entzweiet, damit der Verkehr im Innern sicher und belebt wird, und damit die Einheit des Vaterlands sich in alle Herzen pflanzt durch Einheit des Rechts" 12 . c) Der sachliche Gehalt dieser Einheitsformel, die mit Gleichheit des Rechts durch eine auf ein bestimmtes Territorium sich erstreckende Kodifikation umschrieben werden kann 1 3 , ist von Thibaut und Gönner nicht zum eralso hier auch als Synonym für Gleichheit. Einheit in Bezug auf richterliche Aussprüche heißt inhaltliche Gleichbehandlung gleicher Sachverhalte durch ein Gesetz. 6 Diese Schrift war als Replik auf Savignys Berufsschrift gedacht (Gönner 1815, S.l). Zu Savignys Schrift das nächste Kapitel. 7
Ebd., S.2.
8
Ebd., S.3.
9
Ebd., S.10.
1 0
Ebd., S.10.
11
Ebd., S.10.
1 2 Ebd., S.l32. Wieacker bezeichnet Gönner als Sprecher der rückständigen Haltung im Kampf um die Nationalgesetzbücher. Gönner habe auf einzelstaatlichen Gesetzbüchern bestanden, da es seiner Auffassung nach keinen souveränen deutschen Gesetzgeber, sondern nur einzelne Staaten gab (Wieacker 1974, S.85). Angesichts der staatspolitischen Verhältnisse im Jahre 1815 ist Gönner aber Sinn für das politisch Machbare nicht abzusprechen. 1 3 Von Einheit des Rechts in diesem Sinne spricht auch Johann Nepomuk Wening in seinem "Lehrbuch der Enzyklopädie und Methodologie der Rechtswissenschaft" aus dem Jahre 1821. Er schreibt, daß die Entwürfe und die Gesetze im Frankreich nach der französischen Revolution so schnell und in einer solchen Anzahl aufeinander gefolgt seien, "daß die Verwirrung ungemein
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
52
sten Mal zum Gegenstand einer juristischen Diskussion erhoben worden. Die rechtsgeschichtliche Literatur des 19.Jahrhunderts verweist auf den fränkischen Bischof Agobad von Lyon, der an Ludwig den Frommen die Bitte gerichtet habe, "er möge das fränkische Stammesrecht zum allgemeinen Reichsrecht erheben, damit Alle wie unter der Herrschaft Eines Königs so auch unter der Herrschaft Eines Rechtes ständen" 14 - obgleich diese Sentenz nicht mit Quellenbelegen versehen wird und eher Aufschluß gibt über die nationale Gesinnung und Zeitbedingtheit rechtshistorischer Forschung in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts als über die tatsächliche Wurzeln der Forderung nach einer kodifikatorisch begründeten Einheit des Rechts 15 . Außer Zweifel steht jedoch, daß im 17.Jahrhundert die "Verzweiflung über den Rechtswirrwarr" 1 6 insbesondere bei Autoren wie Conring 1 7 und Leibniz 1 8 zu Kodifikationsplanungen geführt haben. Die wesentlichen Motive dieser Planungen lagen in dem Bedürfnis nach einem leichter lernbaren und anwendbaren Rechtstoff 1 9 , beides Faktoren, die ein höheres Maß an Rechtssicherheit bewirken konnten 20 . Aber nicht weniger wichtig ist das Interesse des modernen absolutistischen Staates, durch kodifikatorische Rechtsvereinheitlichung das angestrebte Gewaltmonopol sicherzustellen 21 . Diese Motivationslagen, die dann zu Ende des 18. und zu Beginn des 19.Jahrhundert zu den ersten großen Kodifikationen geführt haben, scheinen auch noch in Thibauts und Gönners Formel von der Einheit des Rechts durch. Besonders ihr Streben nach Überwindung eines Rechtszustandes, der die "bürgerlichen Verhältnisse verwirrt" und die "Rechtspflege unsicher" macht (Gönner), deckt sich im Kern mit den im 17. Jahrhundert gehegten Hoffnungen, durch eine Kodifikation das unbefriedigende Niveau an Rechtsicherheit zu erhöhen - selbst wenn die Auflösung der ständischen Gesellschaft und das für die entstehende bürgerliche Gesellschaft charakteristische Verlangen nach Rechtsformen, die einen möglichst schnellen und reibungslosen Wirtschaftskreislauf ermöglichen, den Forderungen Thibauts und Gönners einen besonderen Akzent verleihen. Das Neuartige groß, und der Zweck, Einheit des Rechts und der Gesetze zu gewinnen, natürlich auf keine Weise erfüllt wurde' ?(l 821, S. 149). 1 4
Brunner 1877, S.362f.
1 5
Zu Brunner und seiner Rede über die Rechtseinheit Deutschlands sogleich.
1 6
Ebel 1959, S.68.
1 7
Allgemein zu den Kodifikationsüberlegungen im 16. und 17.Jahrhundert Koschaker 1947, S. 182; zu Conring speziell Gagnér 1960, S.l 12ff.; Luig 1983, S.390. 1 8 Zu Leibniz : Gagnér 1960, S.l 11 und Luig 1975, S. 56ff. Luig ist dabei besonders an den deutsch-rechtlichen Elementen in Leibnizens Reformplänen interessiert (a.a.O. S.57,63). 1 9 Zu den pädagogischen Bedürfnissen: Stolleis 1984, S.l 10; zur leichteren Stoffanwendung: Ebel 1959, S. 68. 2 0 Vgl. etwa zu Leibnizens Sorge um die Rechtssicherheit als Motiv seiner Kodifikationspläne: Gagnér 1960, S.l 12. 2 1 Stolleis 1984, S.l 14ff., 1992b, S.18. Vgl. auch Weber 1985, S.488, der darauf hinweist, daß Rechtseinheit die Voraussetzung dafür geschaffen habe, die Verwaltungsbeamten unterschiedslos im ganzen Herrschaftsgebiet einsetzen zu können. Zudem habe Rechtsvereinheitlichung dazu geführt, die Karrierechancen der Beamten zu erweitern, die nun nicht mehr an den Bezirk ihrer Herkunft dadurch gebunden waren, weil sie allein dessen Recht kannten.
II. Kodifikationsstreit
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und Unverwechselbare an Thibauts und Gönners Forderung nach einer kodifikationserzeugten Einheit des Rechts liegt hingegen in ihrer Rolle als Instrument im Kampf für die nationale Einheit Deutschlands 22 . Gerade wegen dieser Stoßrichtung haften an dieser Einheitsformel alle Charakteristika eines rechtspolitischen Kampfbegriffs. Sie spiegelt eine als desolat empfundene politisch-ökonomische Lage ebenso wie sie ein national-politisches Programm in sich trägt. Sie enthält eine in die Zukunft weisende Substanz, die auf Einlösung pocht. d) Die von Thibaut und Gönner formulierten Hoffnungen auf eine Einheit des Rechts durch eine sich auf alle deutsche Territorien erstreckende zivilrechtliche Kodifikation haben sich bekanntlich in jener Zeit nicht erfüllt. Die Forderung nach eben dieser Einheit erlosch aber in der Folgezeit nicht mehr. In einem Bericht des badischen Landtags aus dem Jahre 1820 etwa wurde "seine Königliche Hoheit, der Großherzog, ehrerbietigst gebeten", "kein Mittel unversucht zu lassen, um eine Einheit des Rechts über alle, nicht nach Örtlichkeit zu bestimmenden, wesentlichen Grundsätze des Privat- und peinlichen Rechts, des Gemeindewesens, so wie des bürgerlichen und peinlichen Prozesses für ganz Deutschland, oder wenigstens für mehrere deutsche Staaten" zu erwirken 2 3 . 1849 wies sogar die Paulskirchenverfassung in ihrem § 64 der Reichsgewalt die Aufgabe zu, "durch die Erlassung allgemeiner Gesetzbücher über bürgerliches Recht, Handels- und Wechselrecht, Strafrecht und gerichtliches Verfahren die Rechtseinheit im deutschen Volke zu begründen". Rund ein Jahrzehnt später suchte der deutsche Juristentag "sich über die Vorschläge zu verständigen, welche geeignet sind, die Rechtseinheit zu fördern" 2 4 . Das Verlangen nach einer Kodifikation krankte an den politischen Verhältnissen. Ohne staatliche Einheit blieb die Rechtseinheit, wie es nun in leichter terminologischer Abwandlung hieß, nur ein fernes Ziel. Auch dem Norddeutschen Bund gelang nicht der erwünschte Durchbruch. Miquel und Lasker begründeten ihre Forderung, im Wege der Bundesgesetzgebung die Kompetenz des Norddeutschen Bundes auf das gesamte bürgerliche Recht auszudehnen, mit dem Argument, daß "die Rechtseinheit für den Norddeutschen Bund ... in Betreff des gesammten bürgerlichen Rechts als ein dringendes Bedürfniß gefühlt" werde 25 . Das Jahr 1871 brachte dann aber das ersehnte Aufatmen. Mit der Reichsgründung war die staatliche Zersplitterung beseitigt und damit ein wesentliches Hindernis der Rechtseinheit entfallen. Die politischen Voraussetzungen waren endlich geschaffen, um dem "Unsegen der Rechtsverschiedenheit", wie Heinrich Brunner 1877 formulierte, ein Ende zu machen.
2 2 Zum Gedanken der Nation, der sich erst im Zeitalter des entwickelten Kapitalismus durchsetzt und im 18.Jahrhundcrt noch gegenüber den kirchlichen und dynastischen Bindungen zurücktritt etwa Heller 1934, S.183. 2 3
Zitiert nach Getz 1966, S.40f.
2 4
Conrad 1960, S.l5.
2 5
Zitiert nach Schwartz 1889, S. 148.
54
Β. Einheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
In Brunners Festrede zum 80. Geburtstag Friedrich Wilhelms im März 1877 leuchtet die gleichermaßen zufriedene wie auch erwartungsvolle Stimmung durch, die sich nun mit diesem Begriff verband - rund sechzig Jahre nachdem Thibaut und Gönner für die Einheit des Rechts so heftig gefochten hatten. Brunner weist in dieser Rede die Ansicht, das Wesen der deutschen Rechtsordnung sei der Partikularismus, als "arge Übertreibung" zurück. Der Rechtspartikularismus sei nämlich dem dauernden Mangel ausreichender Gerichtseinheit entkeimt und diese wiederum auf Ereignisse zurückzuführen, die auch die politische Einheit verhindert hätten 26 . In der mit unverkennbarem nationalen Pathos untermalten Rede faßt Brunner noch einmal die Gründe für eine einheitliche Gesetzgebung prägnant zusammen: Beseitigung von Verkehrshindernissen, Aufhebung des unheilvollen Gegensatzes des fremden und des einheimischen Rechts, Beendigung der überflüssigen Vergeudung von Arbeitskräften und der ungesunden Sonderung von Praxis und Wissenschaft, Vermehrung des gemeinsamen Besitztums der Nation, Vertiefung des Rechtsbewußtseins und Stärkung des nationalen und politischen Zusammengehörigkeitsgefühls 27 . Nun, in den achtziger Jahren des 19.Jahrhunderts treffen diese Gründe auf die ihnen günstigen politischen Verhältnisse. Die jahrtausende alte Forderung hatte sich jetzt zu einer materiellen Entwicklung verdichtet, die nicht mehr aufzuhalten war. Aus dieser Gewißheit heraus feiert Brunner den Kaiser als den Gesetzgeber, "welcher die Einheit des deutschen Rechts begründet" habe. Ihm möge es "vergönnt sein, die Aussaat der Rechtseinheit noch keimen und wachsen und reifen zu sehen" 28 . 2. Die organische Einheit des Gesetzbuchs (Savigny 1814)
a) In der 1814 erschienenen Berufsschrift greift Savigny, Thibauts Kontrahent im vielbesprochenen Kodifikationsduell 29 , die von diesem in rechtspolitischer Absicht verwendete Rede von der "Einheit des Rechts" überraschenderweise nicht auf. Savigny spricht aber in dieser Schrift von der Einheit eines Gesetzbuchs, genauer von seiner "organischen Einheit". "Das Gesetzbuch nämlich soll", so schreibt er, "da es einzige Rechtsquelle zu seyn bestimmt ist, auch in der That für jeden vorkommenden Fall im voraus die Entscheidung enthalten" 30 . Da eine Kodifikation nun eben nicht alle zukünftigen Fälle antizipieren kann, ist das Streben nach Vollständigkeit vergebens. Doch lassen 2 6
Brunner 1877, S.362f.
2 7
Ebd., S.374f.
98
Ebd., S.377. Stolleis, der die ""Innere Reichsgründung ' durch Rechtsvereinheitlichung" insbesondere auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts in der Zeit von 1866 bis 1880 detailliert untersucht hat, unterscheidet dabei klärend zwischen der Rede von der "Einheitlichkeit der Rechtsnormen" durch "ein Recht für das ganze Land" und der Forderung, daß alle Bürger einem einheitlichen Recht unterworfen sein sollen. Daneben steht schließlich die Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse durch Recht (1992b, S.16). 2 9 Die Wendung vom "glänzenden Duell Thibaut-Savigny" findet sich bei Wieacker 1954, S.43. 3 0
1814, S.109.
II. Kodifikationsstreit
55
sich nach Savigny Lücken eines Gesetzbuchs durch die Erkenntnis seiner "leitenden Grundsätze" schließen, die dann auf die nicht geregelten Fälle analog angewendet werden. Diese leitenden Grundsätze "heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den innern Zusammenhang und die Art der Verwandschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu erkennen", gehöre zu den schwersten Aufgaben "unserer Wissenschaft, ja es ist eigentlich dasjenige, was unserer Arbeit den wissenschaftlichen Charakter giebt" 3 1 . Für diesen Zusammenhang der Rechtssätze und Begriffe führt Savigny nun einen neuen Terminus ein. Als er der Frage nachgeht, ob die Verfasser des Code Napoléon jene Methode, die leitenden Grundsätze zu ermitteln, genügend beachtet hätten, stellt er fest, daß die französischen Juristen das Lückenproblem bei der Abfassung des Gesetzbuchs schon gesehen und zu seiner Lösung eine Rangfolge subsidiärer Rechtsquellen vorgeschlagen hätten, nämlich "1. équité naturelle, loi naturelle; 2. Römisches Recht, 3. die alten coutumes; 4. usages, éxemples, décisions, jurisprudence; 5. droit commun; 6. principles généraux, maximes, doctrine, science" 32 . Doch eine Art der Ergänzung gäbe es nicht, "die organische, nämlich, welche von einem gegebenen Punkt (also von einem Grundsatz des Gesetzbuchs) mit wissenschaftlicher Sicherheit auf einen nicht gegebenen schließt" 33 . Der Grund: dieses Verfahren setze "in einem Gesetzbuch selbst eine organische Einheit voraus". An eine solche Einheit sei aber beim Code Napoléon nicht zu denken, "weder materiell, noch formell". Materiell nicht, weil der Code "bloß mechanisch vermengt die Resultate der Revolution und das vorige Recht" enthalte. "Formelle Einheit würde er sein, wenn er von den Juristen, seinen Verfassern durch die verarbeitende Kraft des Gedankens zu einem logischen Ganzen geworden wäre". Doch so hoch hätten sich die Verfasser des Code nicht verstiegen 34 . b) In diesen Sätzen mag Savignys grundsätzliche Abneigung gegenüber dem Code civil als Frucht der französischen Revolution 35 mitschwingen, der Terminus "organische Einheit" betrifft aber im Kern eine allgemeine gesetzesdogmatische, nicht auf den Code beschränkte Problemstellung: zunächst die formale Eigenschaft eines Gestzbuchs, ein "logisches Ganzes" zu sein, was vielleicht mit der Widerspruchsfreiheit der in einem Gesetzbuch enthaltenen Rechtssätze übersetzt werden kann. Sodann die inhaltliche Verwandtschaft der Rechtssätze und -begriffe, das Maß an rechtsinhaltlicher Übereinstimmung der in einem Gesetzbuch enthaltenen Rechtssätze. Diese Einheit ist nach Savigny gewährleistet durch die leitenden Grundsätze eines Gesetzbuchs, aus denen die einzelnen Rechtssätze hervorgehen. Die Erkenntnis die3 1
A.a.O., S.l 10.
3 2
Ebd.
3 3
A.a.O., S.l40.
3 4
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S. 141.
3 5
Für Savignys Antipathie gegenüber dem napoleonischen Gesetzbuch ist die Formulierung vom Code bezeichnend, der "in Deutschland eindrang, und krebsartig immer weiter fraß" (1814, S.98; vgl. dazu auch Koschaker 1947, S.258). Zu Savignys politischer Motivation allgemein jetzt jüngst Conradi 1987, S.76ff.
56
Β.
inheitsfoieln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
ser Grundsätze, durch die sich die Jurisprudenz als Wissenschaft ausweist, ermächtigt dazu, die vom Gesetzgeber nicht vorhergesehenen Fälle zu entscheiden, also die Lücken im Gesetzeswerk zu schließen. Im Vergleich mit Thibauts Rede von der "systematischen Einheit" des positiven Rechts betrifft Savignys "organische Einheit" ebenso die Aufgabe der Wissenschaft, aus dem vielgestaltigen Rechtsstoff die tragenden Grundsätze herauszuarbeiten. Doch im Unterschied zur "systematischen Einheit" geht es hier nicht um ein Formmodell für die Ordnung und Darstellung des Stoffs, sondern um eine dogmatisch höchst relevante Eigenschaft des Stoffs selbst. Diese dogmatische Lehre Savignys birgt einen im Vergleich mit der älteren Rechtswissenschaft gänzlich neuartigen Vorschlag zur Lösung des Lückenproblems. Die klassische romanistische Lehre sah vor, daß der Richter bei Gesetzeslücken die Entscheidung des Monarchen einholt. Diese Lehre wurde vom französischen, österreichischen und preußischen Absolutismus rezipiert 3 6 , um 1800 dann aber durch den Gedanken der naturrechtlichen Schließung von Gesetzeslücken abgelöst. Feuerbach fand für diese Lösung des Lükkenproblems die prägnante Formulierung: "Wo der Gesetzgeber spricht, da muß freilich die Philosophie verstummen, aber wo er schweigt, da tritt sie in ihre alten Rechte e i n " 3 7 . Allerdings hatte schon das Preußische ALR in seinem §49 festgelegt, daß der Richter dann, wenn er keine geschriebene Norm für seinen Fall fand, "nach den in dem Landrecht angenommenen allgemeinen Grundsätzen und nach den wegen ähnlicher Fälle vorhandenen Verordnungen" zu erkennen" habe. Und kurze Zeit vor Savignys Berufsschrift waren immer deutlicher werdende Stimmen zu vernehmen, die das Naturrecht als eine gegenüber dem positiven Recht subsidiäre Rechtsquelle ablehnten 38 . Dieser Prozeß einer Abkehr von naturrechtlicher Lückenschließung zur Ergänzung des positiven Rechts "aus sich selbst", wie Savigny später dann in seinem "System des heutigen römischen Rechts" schreibt 39 , liegt also seiner Formel von der "organischen Einheit" zugrunde. Dabei handelt es sich um einen Vorgang, in dem die schwächer werdende Wirkungsmacht naturrechtlichen Denkens zu Beginn des 19.Jahrhundert Ausdruck findet. c) Zu fragen bleibt aber, warum Savigny diese Eigenart eines Gesetzbuchs, seine Lücken aus sich selbst zu schließen, mit dem Ausdruck des "Organischen" belegt. Gewiß, dieser Terminus ist ebenso unscharf wie bedeu-
3 6
Lukas 1908, S.441ff.
3 7
1804, S.93. Vgl. auch Achenwall 1781, S.2; Thibaut 1797; S . l l ; wichtig auch Schröders Hinweis auf Pufendorf der in seinem Jus naturae et gentium gelehrt habe, daß man bei Lücken des positiven Rechts auf das Naturrecht als subsidiäre Rechtsquelle zurückgreifen könne (1990, S.138; weitere Nachweise zu anderen Autoren bei Schröder 1989a S.428, Fn.53). Zur lückenfüllenden Funktion des Naturrechts in Höpfners "Naturrecht der einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker" von 1780ff.: Pohlmann 1992, S.142f.,254. 3 8
(1812). 3 9
Schröder (1990, S.138) verweist noch auf Wenck (1810), Unterholzner Savigny 1840, S.290. Dazu unten Kapitel B.III.4.
(1812) und Rudhart
II. Kodifikationsstreit
57
tungsreich 40 und steht schon lange im Verdacht, mehr zu verhüllen als zu erklären 41 . Doch aufschlußreich ist, daß bei Savigny "organisch" an mehreren Stellen die Bedeutung des "Lebendigen" trägt. So bezeichnet Savigny die Geschichte des römischen Rechts etwa als "organische Entwicklung" 4 * und wenig später spricht er davon, daß das römische Recht solange kein Gesetzbuch nötig gehabt habe, solange es in "lebendigem Fortschreiten" gewesen sei 4 3 . In einem anderen Abschnitt stellt er einem Gesetzbuch mit höherem Grad "organischer Einheit" ein Gesetzbuch gegenüber, das "durch blos mechanische Zusammensetzung unlebendig und darum völlig verwerflich" sei 4 4 . Bedenkt man, daß zum "Lebendigen" allgemein die Fähigkeit zur Reaktion und Reproduktion gehört, so scheint das "Organische" die treffende Metapher zu liefern, um die einem Gesetzbuch zugeschriebene Eigenschaft zu versinnbildlichen, die Regeln zur Lückenfüllung aus sich selbst heraus zu erzeugen. Diese Bedeutung des "Organischen", und dies ist wichtig für die Frage nach dem Hintergrund von Savignys Sprechweise, findet sich auch in der Philosophie des deutschen Idealismus. So sieht Schelling das Wesen der unorganischen Natur im Gegensatz zur organischen gerade darin, daß ihr die Fähigkeit fehle, sich selbst zu erregen und zu reproduzieren 45 . In seinen "Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" von 1803 spricht Schelling sogar von "organischer Einheit" 4 6 , wenngleich er damit wohl kaum mehr als einen besonders engen und intensiven Zusammenhang meint. Doch sollte die Möglichkeit des Einflusses Schellingscher Gedanken und Terminologie auf Savigny trotz persönlicher Kontakte 47 nicht überbewertet und statt dessen berücksichtigt werden, daß die Verwendung des "Organischen" seit Beginn des 19.Jahrhunderts sehr verbreitet, organischer Sinn "allenthalben erwacht" 4 8 war. Dies gilt nicht nur für die Philosophie selbst, etwa indem philosophische Systeme als "Organismus" des Wissens gedeutet wurden 49 . Insbesondere die mechanistisch-rationale, an der Maschinenmetapher orientierte Staatsvorstellung trat gegenüber dem Bild des Staates
4 0 Herberber zeigt auf, daß Savigny den Ausdruck "organisch" in seinem "System" sogar in sehr mehrdeutiger Weise verwendete (1981, S.390). 4 1 Gerber meint, daß dieses "mystische Wort auf viele einen fast rätselhaften Zauber ausgeübt" habe (1869, S.219). Vgl. auch Gierke 1874, S.81; ebenfalls kritisch, aber weniger polemisch Stammler 1923, S.359; über die vielfältigen Bedeutungen des Wortes "organisch" in der Staatsrechtslehre: Schmitt 1930, S.l lf. 4 2
Savigny 1814, S.l 16.
4 3
A.a.O., S.l 17.
4 4
A.a.O., S.l90.
4 5
Vgl. Ryan/Seifert
4 6
Schelling 1803,S.269.
1984, Sp. 1329, dort auch Nachweise.
4 7
Dazu Hollerbach 1957, S.275ff.
4 8
Hollerbach a.a.O., S.316.
4 9 Vgl. Rothacker 1927, S.86; dort auch Ausführungen zur Übertragung des Organismusbegriffs auf Gebilde wie Menschheit, Völker und Kulturen, Sprache und Kunst.
58
Β. Einheitsfoieln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
und der Gesellschaft als "Organismus" zurück 5 0 . Diese allgemeinen geistesgeschichtlichen Vorgänge, die ihre letzten Gründe in der romantischen Reaktion auf den Rationalismus der Aufklärung haben dürften, mögen sich auch auf Savignys Rede von einer "organischen Einheit" ausgewirkt haben. d) Diese nicht an einer bestimmten zeitgenössischen Philosophie ausgerichtete Deutung kann auch als Erklärungsansatz für Savignys erkenntnistheoretische Grundhaltung dienen, die zumindest in Umrissen in seiner 1814 verwendeten Einheitsformel erkennbar wird. Wenn ihm zufolge der innere Zusammenhang der Rechtssätze von der Rechtswissenschaft zu erkennen 51 , nicht aber von den das Gesetzbuch bearbeitenden Juristen herzustellen ist, so entspricht dies einer objektiv-idealistischen, sich im frühen 19.Jahrhundert von Kant absetzenden Erkenntnistheorie, die in den zu betrachtenden Gegenständen vorgegebene, in ihnen enthaltene Sinnzusammenänge annimmt, also gerade nicht kantisch voraussetzt, daß diese vom erkennenden Subjekt selbst erst erzeugt werden müssen 52 . Dieses Denken, daß in Savignys Formel von der "organischen Einheit eines Gesetzbuchs" zumindest aufscheint, tritt vor allem in seiner Wendung von der "dem Recht inwohnenden Einheit" hervor, die in der 1815 veröffentlichten Gönner-Rezension zu finden ist.
5 0 Zu den Hintergründen dieses Vorgangs Stolleis 1992, S.126; wichtig auch Η Dreier (1991.S.71), der ermittelt, daß der Organismusgedankens trotz seiner Konjunktur in jener Zeit auf die innere Verwaltungsorganisation des Staates nicht durchschlug. 5 1 5 2
1814, S. 110.
Zu dieser Kategorie des objektiven Idealismus, die Rückert (1984) als Schlüssel für Savignys Gesamtwerk herausgearbeitet hat, sogleich das nächste Kapitel.
. Historische Rechtsschule
59
III. Historische Rechtsschule 1. Die dem Recht inwohnende Einheit (Savigny 1815)
a) Gönner hatte in seiner Schrift "Über Gesetzgebung und Rechtswissenschaft in unserer Zeit" von 1815 wie kurz zuvor Thibaut von einer Einheit im Sinne von Gleichheit des Rechts durch ein Gesetzbuch gesprochen und damit einen rechtspolitischen Begriff gebildet, der auf die Überwindung eines durch tiefe Zersplitterung und Verworrenheit gekennzeichneten Rechtszustandes zielte. Wie in der Berufsschrift, so ignoriert Savigny auch in seiner Rezension von Gönners Schrift die darin verwendete Einheitsformel, wenngleich er dieses Mal selbst von einer Einheit des Rechts spricht. Er tut dies aber in einer von den bisherigen Verwendungsarten gänzlich verschiedenen Weise und in einem bisher noch nicht gekannten Sinn. Die Konturen dieser neuen Formel zeichnen sich schon in Savignys Beschreibung der von ihm bevorzugten rechtswissenschaftlichen Methode ab. Nach dieser Methode, so Savigny, "wird in dem Mannigfaltigen, welches die Geschichte darbietet, die höhere Einheit aufgesucht, das Lebensprinzip, woraus diese einzelnen Erscheinungen zu erklären sind, und so das materiell gegebene immer mehr vergeistigt" 1 . Die Gleichsetzung dieses "Lebensprinzips" mit jener "höheren Einheit" deutet hier darauf hin, diese Einheit als eine reale, alles Mannigfaltige aus sich hervorbringende, objektiv vorgegebene Substanz aufzufassen. Nur das, was schon da ist, kann "aufgesucht" werden, nicht das, was erst noch herzustellen ist. Demgegenüber spricht wiederum die Wendung von der Vergeistigung des materiell Gegebenen dafür, daß diese "höhere" Einheit bloß die Form ist, durch die die mannigfaltigen Erscheinungen der Rechtswelt in eine bestimmte Ordnung zu bringen sind, die mithin der um Ordnung bemühte juristische Verstand in die chaotische Rechtsmasse hineinlegt. Einheit ist also nichts, was aus dem Material herausgeholt, sondern etwas, das in den Stoff hineingebracht wird. Was hier noch unklar und zweideutig erscheint, wird faßbar und eindeutiger bei Savignys weiteren Ausführungen zur wissenschaftlichen Behandlung des Mannigfaltigen. Da alles gegebene Mannigfaltige "selbst zwiefach, nämlich theils ein gleichzeitiges, theils ein successives" sei, müsse sich auch die wissenschaftliche Behandlung aufspalten in die Bearbeitung "des successiv Mannigfaltigen" - "das eigentliche historische Verfahren" - und in das "Zurückführen des gleichzeitig Mannigfaltigen auf die ihm in wohnende Einheit". Bei diesem Zurückführen handele es sich um "das systematische Verfahren, welcher Ausdruck nicht, wie von Vielen und auch hier von dem Verfasser geschieht, für ein bloßes Ordnen nach formellen, logischen Rücksichten gebraucht werden sollte" 2 . Auch wenn Savigny das, was unter dieser, dem Mannigfaltigen inwohnenden Einheit zu verstehen ist, nicht eingehender bestimmt 1
Savigny 1815, S.395.
2
A.a.O., S.395.
60
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
und man es vielleicht vage als ein im Stoff vorzufindender, ihn durchziehender Zusammenhang umschreiben könnte - eines ist aber doch klar: Savigny hat mit diesem Begriff etwas grundlegend anderes im Sinn, als diejenigen, die von "Einheit des Rechts durch Kodifikation" sprechen. Und ebenfalls kann Savignys Einheitsbegriff nicht mit der Vorstellung einer systematischen Einheit identifiziert werden, mithin nicht als bloße Form, die auf den Rechtsstoff zu dessen Ordnung angelegt wird, selbst wenn Savigny "das Zurückführen auf die ihm inwohnende Einheit" das systematische Verfahren nennt Dem mannigfaltigen Rechtsstoff ist vielmehr diese Einheit immer schon immanent. Einheit ist also nichts, was erst noch geschaffen werden muß, sondern etwas, das schon vor jeder Bearbeitung im Recht enthalten ist. Dieser neue Einheitsbegriff offenbart eine gegenüber dem kantianisch geprägten Begriff der systematischen Einheit vollständig entgegengesetzte erkenntnistheoretische Grundsicht. Savignys Vorstellung einer dem Recht inwohnenden Einheit entspricht einer objektiv-idealistischen Konzeption, einer Philosophie, die in der äußeren Wirklichkeit einen geistigen Zusammenhang nachweist und durch diesen die Wirklichkeit verständlich zu machen versucht 3. Bei dieser Sicht werden die dualistischen Spannungen zwischen Idee und Wirklichkeit, Sollen und Sein, Sinn und Sein, Form und Stoff, Einheit und Mannigfaltigkeit aufgelöst 4 . Die Materie wird als etwas begriffen, das nie ohne Geist, der Geist als etwas, das nie ohne Materie ist. Form und Idee werden sozusagen ontologisiert 5 . b) Die jüngere Savigny-Literatur zeigt, daß dieser Denktypus des objektiven Idealismus eine Kategorie liefert, mit der eine Vielzahl der Motive und Figuren in Savignys Werk treffend analysiert und entschlüsselt werden können 6 . Savignys Denken entspricht dabei einer um 1800 wirkenden Richtung in der Philosophie, der dieser Begriff des objektiven Idealismus gedient hat, um sich von Kant zu distanzieren und abzusetzen7. Doch sich allein mit der Er3 Dilthey 1898, S.547f. Dilthey hat diese Kategorie in seinen Schriften "Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts"(1898) und "Die Typen der Weltanschaung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen"(1911) entwickelt. Die beiden anderen Typen neben dem objektiven Idealismus bezeichnet Dilthey als Idealismus der Subjektivität und als Naturalismus. Ersterer geht von der Tatsache des Bewußtseins aus und trägt seine Weltsicht an den Stoff der äußeren Wirklichkeit heran (1911, S. 114). Für den Naturalismus ist der Prozeß der Natur die einzige und die ganze Wirklichkeit, außer ihm besteht nichts. Das geistige Leben ist nur formal als Bewußtsein von der physischen Natur unterschieden, und diese inhaltlich leere Bestimmtheit des Bewußtseins geht aus der physischen Wirklichkeit nach dem Gesetz der Naturkausalität hervor. 4
Rothacker 1927, S.54.
5
A.a.O., S.56.
6
Darin besteht vor allem die Leistung, die Rückert mit seiner Studie über "Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny" (1984) erbracht hat. 7 Rückert 1984, S.299. Er verweist insbesondere auf Schlegel und Creuzer (a.a.O., S.294ff.). An anderer Stelle beschreibt er diese Richtung als einen "Ansatz, der bei Kant durchaus angedeutet ist, bei Fichte entschieden aufgenommen wird, den ein Schlegel, Hölderlin und Jacobi weiterbearbeiten und den vor allem Schelling und Hegel zum System vollenden" (1987, S.l 14). Im übrigen ist unverständlich, warum sich Rückert so vehement von Diltheys generalisierend-typologisierendem Begriff des objektiven Idealismus abzusetzen versucht ("entschieden nicht beabsichtigt") und auf einen selbst begründeten Gehalt (1984, S.6) pocht, der sich aus einer Lektüre wichtiger Autoren der Zeit um 1800 speist (a.a.o, S.294ff). Rückert definiert in seiner Savigny-Studie den objektiven
III. Historische Rechtsschule
61
kenntnis zufrieden zu geben, daß in Savignys Rede von der dem Recht inwohnenden Einheit eine in der damaligen Philosophie allgemeinere, nicht einem bestimmten philosophischen System zuzuordnende Denkströmung eingeflossen ist 8 , hieße zu übersehen, daß Savignys Wendung im engen Kontext einer wissenschaftstheoretischen und politischen Auseinandersetzung steht. Schon allein der unmittelbare zeitliche Zusammenhang mit den Schriften Thibauts und Gönners drängt dazu, Savignys gewiß nicht durch einen zwingenden Beweis des Gegenteils widerlegbare 9 Einheitsformel als Konzept zu lesen, das sich gegen die Vorstellungen einer systematischen wie kodifikatorischen Einheit richtet. Allen drei Einheitsbegriffen, dem systematischen, kodifikatorischen wie dem stoffimmanenten, ist als realer Hintergrund ein unübersichtlicher, weil verworrener und zersplitterter, als problematisch empfundener Rechtszustand gemeinsam. Dieser Zustand kann nach Savigny weder durch die Konzeption einer systematischen, noch durch die einer kodifikatorischen Einheit, weder durch die bloße Ordnungsleistung der Wissenschaft, noch durch die Abfassung eines Gesetzbuchs überwunden werden. Die Einheit des Rechts ist nichts, was durch bloßes, von Zufall und Willkür abhängiges Menschenwerk geschaffen werden kann. Die Einheit wird nicht erzeugt, sie haftet dem Recht vielmehr qua seiner Existenz, und zwar durch seine in der Geschichte liegenden Wurzeln schon an. Denn wenn das historische Verfahren danach strebt, "das Gegebene aufwärts durch alle seine Verwandlungen hindurch bis zu seiner Entstehung aus des Volkes Natur, Schicksal und Bedürfnis zu verfolgen" und dadurch dieses Gegebene "verwandelt und vergeistigt" w i r d 1 0 , und wenn dieses historische Verfahren zudem nicht unvermittelt neben dem systematischen Verfahren steht, sondern beide Verfahren nur zwei
Idealismus inhaltlich genauso wie Diltey, nämlich als "Annahme, im Gegebenen Wirklichen walte etwas Ideelles, Absolutes, Notwendiges, Gesetzmäßiges" (1984, S.6, ähnlich S.238 und.240). Gewiß ist die historische Präzisierung durch die Betonung der philosophischen Autoren um 1800 erhellend, aber einen wesentlichen Bedeutungsunterschied zwischen Rückerts und Diltheys Begriff des objektiven Idealismus ist nicht zu erkennen. Dilthey charakterisiert mit ihm eine Vielzahl von Philosophien, Rückert hat dagegen ausschließlich die unmittelbar nachkantianisehen Philosophien im Auge. Rückerts Begriff enthält lediglich eine für eine bestimmte historische Epoche nachgewiesene Konkretisierung, ein Beispielsfall des von Dilthey aus einer Gesamtschau der Philosophiegeschichte gewonnenen Denktypus. ο Hollerbach kommt in seiner Studie über den Rechtsgedanken bei Schelling zu dem Ergebnis, daß eine Schellingsche Anregung zu diesem Einheitsbegriff höchstens eine formale gewesen sein könne (1959, S.315). Savignys Auffassung hätte nicht unbedingt in den Konsequenzen Schellingschen Denkens gelegen. 9 Dies gilt ebenso für Savignys Annahme, daß jeder einzelne ein rechtliches Bewußtsein habe, das ihn im einzelnen Fall zu einem rechtlichen Urteil befähige. Jakobs hat in seiner monumentalen Studie über "Die geschichtlichte Begründung der Rechtswissenschaft" (1992) ausgeführt, daß Savigny für diese Annahme ohne Beweis war und nur, so Jakobs, weil auch die gegenteilige Annahme nicht auf Gewißheil gründet, konnte und mußte Savigny diese Annahme machen (1992, S.85). Auch wenn es keinen Beweis für ein empirisch-konkretes Recht gibt, die Existenz eines solchen Rechts aber möglich ist, so lautet Jakobs Interpretation, konnte die historische Rechtsschule davon ausgehen, daß für jeden Fall dem Urteilenden doch die empirisch-konkrete Regel vorgegeben ist (a.a.O., S.74). Insofern traf sie eine legitime Annahme. Ein Mangel an Beweisen läßt eben alle Möglichkeiten offen. Unverständlich ist dann aber, warum Jakobs so heftig gegen den ebenso legitimen Weg polemisiert -"bodenloser Hochmut" (a.a.O., S.76) -, in diesem Zustand der Beweisnot auf den demokratischen Gesetzgeber zu setzen. 1 0
1815, S.395f.
62
Β. Einheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
Seiten der Methode sind, die Savigny "für die rechte" 11 hält, dann drängt sich als Folgerung auf: Die Geschichte birgt die Einheit des Rechts. Sie kann allein durch die Hinwendung zum geschichtlich überlieferten Stoff enthüllt werden. Dies zu tun, die im Stoff geborgene Einheit abzubilden, ist dann die Aufgabe der Rechtswissenschaft. Also anders als bei dem Gedanken einer systematischen Einheit genügt es nicht, eine vom Gegenstand gelöste Form zu bestimmen, die von der Wissenschaft an den Rechtsstoff angelegt und dieser dann mit ihr geordnet wird. Die Wissenschaft ist bei Savignys Einheitsbegriff an die Gestalt des Gegenstandes gebunden. Ihr obliegt es, die im Recht schon enthaltene, in seinen geschichtlichen Wurzeln liegende Einheit durch historische Forschung sichtbar werden zu lassen. Savignys Einheitsbegriff erfährt dabei eine geschichtsmetaphysisch-spekulative Aufstufung und gewinnt eine höhere Dignität 1 2 , die der historischen Rechtsauffassung eine zusätzliche Stütze gibt und letztlich die Konzentration auf den geschichtlichen Stoff des römischen Rechts legitimiert 1 3 . Ebenso wie die Formeln von der systematischen oder kodifikatorischen Einheit des Rechts, so sucht auch Savignys Wendung von der dem Recht inwohnenden Einheit eine Antwort auf einen reformbedürftigen Rechtszustand zu geben. Bei der Ausgestaltung seines Einheitskonzepts spielt vor allem seine politische Überzeugung eine entscheidende Rolle, insbesondere seine ablehnende Haltung gegenüber der französischen Revolution 14 . Das Programm einer kodifikatorischen Einheit des Rechts wäre wohl kaum ohne Ausrichtung am Code Napoléon durchzuführen gewesen, der doch während der Rheinbundzeit in vielen deutschen Territorien geltendes Recht war. Ein anderer Grund seines Einheitskonzepts mag darin liegen, daß Savigny die von Thibaut und Gönner skizzierte "Verschiedenheit der particulären Rechte" in Deutschland als, wie er schreibt, "gar nicht so bedeutend" ansieht 15 . Das Maß an Einheit, das notwendig ist, ist schon im historischen Stoff enthalten und kann durch geschichtliche Forschung sichtbar gemacht werden. Diese Denkweise ist aber bisher, im Jahre 1815, nicht mehr als eine programmatische 1 1
Ebd., S.395.
1 2
Landsberg bezeichnet es als ein persönliches Lebensbedürfnis Savignys, sich bei seiner Arbeit als der Würde der Wissenschaft teilhaftig zu empfinden (1910, S.248) und Kantorowicz glaubt, dieses Würdebedürfnis habe Savigny in die Arme der Volksgeistlehre getrieben (1912, S.317f.). Beides soll dahinstehen. Savignys Text von 1815 scheint eher ein Beleg dafür zu sein, daß es ihm nicht um Wissenschaft an sich und um die Rettung ihrer Würde ging. Savignys Gedanken in diesem Text sind von der Frontstellung gegen die Kodifikationsargumente nicht zu lösen. Wenn es hier so zu sein scheint, daß er für seine Vorstellung von der Einheit des Rechts eine höhere Dignität beansprucht, so steht dabei seine Rolle in einer politisch-polemischen Auseinandersetzung im Vordergrund. 1 3 Daß dieses geschichtliche Denken Savignys ein im Kem ungeschichtliches Denken ist, hat Böckenförde überzeugend dargelegt: Geschichte ist bei Savigny nicht der "eigentliche Modus des Geschehens", der "Fortgang der Dinge in das Zukünftige nach den Notwendigkeiten und Bedürfnissen der Gegenwart, sondern die Anknüpfung an die Geschichte aus einer bestimmten Vorstellung von Geschichte" (1964, S.17f.). 1 4 Vgl. dazu etwa Böckenförde 1964, S.14, oder, den Stand der Untersuchungen über Savignys politische Dispositionen zusammenfassend, Conradi 1987, S.76ff. 1 5
1815, S.382.
III. Historische Rechtsschule
63
These, die auf Überprüfung wartet. In Savignys "System des heutigen römischen Rechts", also ein Vierteljahrhundert später, ist diese Überprüfung dann aber tatsächlich erfolgt. Sie führt dazu, daß Savigny - und dies soll hier schon vorweggenommen werden - seine Formel von der dem Recht inwohnenden Einheit durch die Wendung von der dem Recht inwohnenden und zu vollendenden Einheit ersetzt. 2. Die ursprüngliche Einheit des Deutschen Rechts (Eichhorn 1815)
a) In demselben Jahr, in dem Savignys Formel von der dem Recht inwohnenden Einheit auftaucht, spricht auch Eichhorn, der bekanntlich mit Savigny eng befreundet w a r 1 6 und mit ihm die "Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft" herausgab, von einer "ursprünglichen Einheit des Deutschen Rechts" 17 . Diese Formulierung stimmt mit der Formel Savignys insoweit überein, als auch sie dazu dient, die historische Rechtsauffassung und damit die wissenschaftliche Erarbeitung und Durchdringung des geschichtlichen Rechtsstoffs zu legitimieren. Eichhorns Einheitsgedanke erscheint jedoch weniger eng verknüpft mit der zwischen Thibaut, Gönner und Savigny stattfindenden Auseinandersetzung über Notwendigkeit und Geeignetheit einer kodifikatorischen Lösung des Problems der Rechtszersplitterung 18 , sondern zielt auf eine bis weit ins 18.Jahrhundert zurückreichende deutschrechtliche Problemstellung. Dabei ging es um die Frage, ob es neben dem sich aus Reichsgesetzen, römischem und kanonischem Recht zusammensetzenden gemeinen Recht auch ein allgemein geltendes einheimisches, also deutsches Privatrecht gab, das dann neben dem gemeinen Recht zur Ergänzung der unvollständigen Partikularrechte hätte herangezogen werden können. Die Begründung eines solchen gemeinen einheimischen Rechts war in der damaligen Rechtswissenschaft außerordentlich umstritten. Die einen sahen die Allgemeinheit durch die faktische Übereinstimmung einzelner partikularrechtlicher Rechtssätzc, andere durch den Grundsatz der Analogie gewährleistet. Auch wurde versucht, ein Jus universale in theoria aufzustellen 19 . Eichhorns Argumentation zu dieser strittigen Frage lautete: "Allein da die Deutschen Particularrechte in einer auf mannichfache Verhältnissse begründeten Gemeinschaft des Ursprungs, und einem aus dieser hervorgehenden inneren Zusammenhang stehen, so ist eine Regel, welche sich auf jene Gemeinschaft, und nicht bloß auf eine zufällige Uebereinstimmung würklich particulärer Bestimmungen gründet, nothwendig überal anwendbar, so lange sich nicht das Daseyn einer Anomalie im Particularrecht darthun läßt, und hat mithin die Natur eines
1 6
Dazu Conradi 1987, S. 14.
1 7
Eichhorn 1815.S.13J.
1 8 Eichorn stellte das Bed#rffti§ naeti einer privatrechtlichen Kodifikation nicht in Abrede (vgl. Jelusic 1936, S.41), allerdings bette & eine Gesetzgebung im Sinn, die die Geschichtlichkeit allen Rechts anerkennt (Böckenförde 1961, §. 5Qf r). 1 9
Die unterschiedlichen Auffassung führt Mittermaier
auf (1815, S.lOff.).
64
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
gemeinen Rechts" 20 . Ermitteln lasse sich diese Regel dann, wenn "für jedes Deutsche Rechtsinstitut die rechtliche Idee" aufgesucht werde, "welche den Bestimmungen der Deutschen Partikularrechte zum Grunde" liege 2 1 . Die Bestimmung der Allgemeingültigkeit einer Rechtslehre des Deutschen Privatrechts sei allein vom "historischen Standpunkt" aus möglich. Selbst wenn jemand die "ursprüngliche Einheit des Deutschen Rechts leugnen würde, so könnte man sie leicht aus den ältesten Gesetzen der Deutschen Völkerstämme und aus den Rechtsbüchern des Mittelalters darthun 22 . Die Geschichte, so schreibt Eichhorn dann 1823, liefere den Beweis dafür, daß kein deutsches Parikularrecht ein isoliertes Dasein habe, "sondern die leitenden Principien bei allen aus gemeinsamen deutschen Gewohnheiten herfließen, die in den einzelnen Rechtsquellen anerkannt sind" 2 3 . b) Die von Eichorn verwendete Formel von der ursprünglichen Einheit des deutschen Privatrechts zielt also auf dessen, wie er sagt, "inneren Zusammenhang", der wiederum auf einer "Gemeinschaft des Ursprungs" beruhe. Mit dieser Einheitsformel nennt Eichhorn ein Argument, daß bei der Begründung eines allgemein geltenden deutschen Privatrechts die Hinwendung zu den historischen Rechtsgrundlagen wie etwa der lex Salica oder der lex Alemanorum 24 rechtfertigt. Diese als Legitimationsformel auftretende Rede von der ursprünglichen Einheit des deutschen Rechts wird auf Eichhorns nationales Denken zurückzuführen sein 2 5 , dem freilich noch kein politisch-programmatisches Pathos anhaftet, sondern noch ganz dem 18.Jahrhundert entstammt und sich auf die Akzentuierung der geschichtlichen Eigenart eines Volkes und seiner Ordnungen beschränkt 26 . Allerdings entält Eichhorns Formel eine immanente Problematik. Sie muß mit der Behauptung arbeiten, daß diese, verschiedenen Jahrhunderten entstammenden Rechte tatsächlich als urprünglich miteinander verbunden betrachtet werden können. Die von Eichhorn geforderten historischen Untersuchungen, die das Fundament liefern könnten für die Existenz eines gemeinen deutschen Privatrechts, haben nur dann einen Sinn, wenn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, in der Geschichte eine gemeinsame Grundlage der deutschen Partikularrechte zu finden. Bleibt aber nach einem Gang durch die Geschichte hin zu den Quellen nur die entttäuschende Feststellung verschiedener und unverbundener Rechte, so fällt die Begründung einer historisch fundierten Allgemeinheit des Deutschen Privatrechts aus. In dieser Problematik, die sich in ähnlicher Weise auch in Savignys Rede von der dem Recht inwohnenden Einheit 2 0
Eichhorn 1815, S. 130.
2 1
Ebd.
2 2
A.a.O., S.l31.
2 3
1823, § 39 a.E und § 40 a.A.
2 4
Eichhorn führt außerdem noch die Lex Ripuariorum, Bajuvariorum, Burgundionum Langobardorum, Frisionum, Saxonum, Angliomm und Werinorum sowie die Lex Wisigothorum an (1823, §2). 2 5 So auch Jelusic: der Nachweis eines gemeinen Rechtssystems sei für Eichhorn eine nationale Angelegenheit gewesen (1936, S.50f.). Vgl. dazu auch Michaelis 1987, S.180. 2 6
Böckenförde
1961,S.52f.
III. Historische Rechtsschule
65
wiederfindet, mag Eichhorns unhistorische, von den wirtschaftlichen und sozialen Bedingtheiten absehende27 Bearbeitung und Darstellung des historischen deutschen Rechts einen Grund haben. c) In der germanistischen Forschung des 19. Jahrhunderts ist Eichhorns Formel von der ursprünglichen Einheit des deutschen Rechts nicht unerhört verhallt. So ging Reyscher, der zu den bedeutendsten germanistischen Autoren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu zählen i s t 2 8 , ähnlich wie Eichhorn davon aus, daß die ganze Verwandtschaft der einheimischen Rechtsaufzeichnungen, "worauf bis jetzt das Daseyn eines gemeinen deutschen Rechts vorzugsweise gestützt worden" sei, sich "theils auf die materielle Rechtseinheit, welche von Anfang an da war" beschränke, "theils auf einzelne, freilich mitunter wörtliche, Nachahmungen, welche auch in den späteren gesetzlichen Land- und Stadtrechten wiederkehrten und abermals nur unter Voraussetzung jener inneren Einheit ohne Nachtheil (hätten) Statt finden" können 2 9 . Gegenüber Eichhorn fügte Reyscher lediglich hinzu, daß das, was "dieser materiellen Verwandtschaft als äußerer Stützpunkt dienen mochte" abgesehen von der "nicht sehr weit gehenden Wirksamkeit der Reichsgesetzgebung" - "die Richtergewalt des deutschen Kaisers" gewesen sei 3 0 . Eichhorns Sicht hat in der Germanistik aber nicht nur Zustimmung erfahren. Gerber, dem bekanntlich von den jüngeren germanistischen Autoren vorgeworfen wurde, die "deutsche Seele im deutschen Recht" getötet und das Amt des "Totengräbers germanistischer Rechtsanschauungen" versehen zu haben 31 , läßt zwar die trotz historischer Rechtsauffassung unhistorische, die jeweiligen politischen und sozialen Hintergründe weitgehend ausblendende Eichhornsche Durchbildung des überlieferten deutschen Rechts unbeanstandet, wendet aber gegen Eichhorn ein, daß das Recht des Mittelalters "eine abgeschlossene That des Volksgeistes" darstelle, "die nunmehr der Geschichte preis gegeben" sei 3 2 . Auch wenn "die Gegenwart noch immer Spuren ihres Einflusses" zeige, so könne aber "ein Princip, dessen Realität auf eine dem Wechsel unterworfene Thatsache gestützt ist", nicht "gegen das Andrängen neuer Ereignisse" gerettet werden 33 . Bei Gerber ist dann eine entschiedene Abkehr von den Versuchen zu beobachten, die einheitsbegründenden Elemente des Rechts aus den geschichtlichen Quellen herauszudestillieren. "Die systematische Einheit des Privatrechts", so schreibt Gerber in seinem "System des deutschen Privatrechts", ruht "auf eigenen specifisch juristischen Principien, und nicht auf Gesichtspunkten, welche, so bedeutend sie auch an sich sein mögen, doch nur 2 7 2 8
Se II er 11981, S.800. Zu Reyschers "Leben und Rechtstheorie" s. die gleichnamige Untersuchung von Riickert
(1975). 2 9
Reyscher 1839, S.20.
3 0
Ebd.
3 1
Gierke 1903, S.27. Die Disqualifiktion Gerbers als Totengräber stammt von Heinrich Brunner, der Nachweis findet sich bei Gierke (ebd.). 3 2
Gerber 1846a, S.310.
3 3
Ebd.
5 Baldus
66
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
der historischen oder social-politischen Anschauung der Verhältnisse angehören" 3 4 . Diese Formulierung erinnert nicht nur in terminologischer Hinsicht an die zu Beginn des 19.Jahrhunderts anzutreffende Wendung von der systematischen Einheit des positiven Rechts. In ihr kommt eine Einheitsvorstellung zum Vorschein, die in der deutschen Staatsrechtswissenschaft noch eine bedeutende Rolle spielen sollte 3 5 . 3. Puchtas Vorstellung einer Einheit des Rechts im Rahmen seiner Theorie über die Perioden in der Rechtsgeschichte (1823)
a) Die Savignysche Konzeption einer dem Recht inwohnenden und durch historische Forschung sichtbar zu machenden Einheit hat nicht nur Parallelen in Eichhorns Vorstellung der ursprünglichen Einheit des deutschen Privatrechts gehabt, sondern zeigte auch unmittelbare Wirkungen in Puchtas kleiner Abhandlung "Ueber die Perioden in der Rechtsgeschichte" aus dem Jahre 1823. Puchta schloß 1820 sein juristisches Studium ab, auf das die Schriften Niebuhrs und Savignys nach seinem eigenem Bekunden "mächtigste(n) Einfluß" 3 6 ausgeübt hatten. 1821 lernte er zum ersten Mal Savigny persönlich kennen, und zwar während einer Bildungsreise, die ihm, so wieder Puchta selbst, "ein Bewußtsein von dem Standpunkt und Beruf, so wie von der Methode der Wissenschaft" einbrachte 37 . In dem 1823 veröffentlichten Aufsatz erhebt Puchta ausdrücklich keinen Anspruch auf Originalität 3 8 und rechtfertigt seine Abhandlung lediglich damit, daß er "eine bestimmte Erklärung" 39 der Wahrheit für wünschenswert halte, die Hugos Unterteilung der Geschichte des römischen Rechts in Jugend-, Mannes- und Altersperioden enthalte 40 . Eine nähere Untersuchung der von Puchta verwendeten Einheitsformel zeigt aber, daß er sich nicht nur an Hugos Periodisierung anlehnt, sondern auch, daß er außerordentlich stark im Banne von Savignys Denken steht 41 . Das Recht eines jeden Volkes, so Puchta, durchlaufe drei Bildunsgrade, die der "ursprünglichen Einfachheit, der Mannigfaltigkeit und der Wissenschaft" 42 . Zunächst befinde sich das Recht in einer "Unschuldsperiode, die Abgeschlossenheit in sich selbst, die bewußtlose Einheit, mit welcher alle Bildung be3 4
Gerber 1846b, §10, S.l4.
3 5
Dazu unten Kapitel C.III. 1.
3 6
Vgl. Wetzells Nachruf auf Puchta (1846, S.XXI), in dem jener biographische Details mitteilt, die von Puchta selbst stammen. 3 7
Ebd.
3 8
1823, S.148.
3 9
A.a.O., S.l36f.
4 0 Diese Unterteilung hatte Hugo in seinem Lehrbuch der "Geschichte des römischen Rechts" vorgenommen. 4 1 Hollerbach vermag in dieser Puchtaschen Abhandlung nur "Modifikationen und Fortführungen dessen" zu sehen, "was Hugo in seiner Geschiçhte des römischen Rechts und Savigny in seiner Programmschrift schon entwickelt hatten" (1957, §.325). 4 2
A.a.O., S.138.
III. Historische Rechtsschule
67
ginnt" 4 3 . Das Recht lebe im Volk, "wie die Sitte desselben". Auf "jenen Zustand der Ureinheit" folge die zweite Periode, "das Herausgehen aus sich selbst, das Zersplittern ins Mannigfaltige, der Zwiespalt, dessen Ende, wenn auch nicht die Aufhebung aller Einheit, aller Gleichheit mit sich,..., doch eine gänzliche Entfernung von jenem nie zurückkehrenden Zustand" sei 4 4 . In die dritte Periode trete das Recht in dem Augenblick, in dem auch die Sitte mannigfaltiger werde, die Cultur eine Menge verschiedenartigster Bedürfnisse hervorbringe und sich auf vielseitige Weise mit fremden Völkern berühre 45 . In diesem Moment müsse "auch das Recht mannigfaltig werden", müsse "unaufhaltsam zu einer Masse anwachsen, welche der Einzelne nicht mehr zu überschauen, welche in ihrer Unförmlichkeit selbst das Volk nicht mehr zu bewahren vermag" 4 6 . Mit dieser Beschreibung charakterisiert Puchta zugleich den Rechtszustand seiner eigenen Zeit, denn Deutschland, so führt er aus, stehe mit seinem gemeinen bürgerlichen Recht am Anfang der dritten Periode 4 7 . Wie weit Puchtas Theorie der Perioden in der Rechtsgeschichte davon entfernt ist, allein ein Beitrag zur rechtshistorischen Forschung zu sein, geht aus seiner Stellungnahme zu den Lösungsmöglichkeiten hervor, mit denen dem gegenwärtigen Zustand der Mannigfaltigkeit und Unüberschaubarkeit begegnet werden kann. Versuche, "durch Sammlung und Aufzeichnung der Rechtssätze sich die Herrschaft über sein Recht zu sichern" sind in den Augen Puchtas vergebens. So entstehende Rechtsbücher würden weder das Wachstum des Rechts hemmen, noch "die Kenntniß des unzusammenhängenden Ganzen verschaffen können" 4 8 . Aus dieser Sichtweise folgerichtig, hält Puchta es auch für falsch, dem deutschen Volke das Recht durch Abfassung eines Gesetzbuchs in deutscher Sprache vertraut zu machen 49 . "Es gibt kein Mittel", so Puchta, "materielle Mannichfaltigkeit festzuhalten und zu beherrschen, als wenn sie zur formellen Einheit zurückgeführt wird". Das Recht gelange wie jede Bildung an den "Punkt, wo sie durch das Zurückgehen in sich selbst eine Einheit in der Mannigfaltigkeit" gewinne. In einem solchen Augenblick gehe das Recht in den dritten Bildungsgrad über, "in die wissenschaftliche Behandlung, welche eben in jener Hervorbringung einer formellen Einheit, des Systems", bestehe 50 . b) Unschwer ist zu erkennen, daß sich Puchtas Einheitsgedanken mit Savignys Formel von der dem Recht inwohnenden Einheit in erkenntnistheoretischer Struktur, auslösender Problemlage und rechtspolitischer Frontstellung deckt. Auch Puchtas Einheitsbegriff geht aus einer objektiv-idealistischen 4 3 4 4
1823, S.l37. Beide vorstehenden Zitate ebd.
4 5
A.a.O., S.l37f.
4 6
A.a.O., S.138.
4 7
A.a.O., S.143.
4 8
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.138.
4 9
A.a.O., S.145.
5 0
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S. 138.
68
Β. Einheitsfornieln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
Erkenntnisart hervor, auch bei ihm wird die Einheit des Rechts aus dem Stoff hervorgeholt, nicht in ihn hineingelegt. Er stellt sich zudem als Antwort auf einen durch Verworrenheit, Vielgestaltigkeit und Unüberschaubarkeit gekennzeichneten Rechtszustand dar. Und Puchta mißbilligt dabei den Vorschlag, diesen Zustand durch eine Kodifizierung zu verbessern und setzt wie Savigny allein auf die Fähigkeit der Wissenschaft, die notwendige Einheit des Rechts herzustellen, richtiger: auf ihre Kompetenz, die im Rechtsstoff schon enthaltene Einheit zu erkennen und darzustellen. Eine leichte Akzentverschiebung ist lediglich gegenüber der in Savignys Einheitskonzept angelegten Konsequenz herauszuhören, sich den geschichtlichen Grundlagen des geltenden Rechts zuzuwenden und auf diesem Wege die Einheit des Rechts zu enthüllen. Puchta bekennt sich zwar auch zur "Existenz einer geschichtlichen Rechtswissenschaft" 51 . Doch gleichzeitig warnt er davor, Inhalte "eines dem Volke schon entgangenen Rechts" 52 auf seinen gegenwärtigen Zustand zu übertragen. Sowenig es gelänge, "ein Volk, das in seiner Bildung mehr oder weniger fortgeschritten ist, in den Stand der Kindheit zurückzuführen", eben so wenig werde " für ein Recht, welches entweder schon übergegangen ist in das Bewußtseyn eines besonderen Standes, oder in diesem Übergang begriffen ist, jener Zustand der Ureinfachheit wiederzubringen sein, worin es ausschließlich im Volke lebt" 5 3 . Man mag darin den Keim erblicken, der in Puchtas späteren Werken zu Einheitsvorstellungen ausreifte, die nicht mehr an den Prämissen der historischen Rechtsauffassung hafteten 54 . 4. Die dem Recht inwohnende, zu enthüllende und zu vollendende Einheit (Savigny 1840)
a) Doch nicht nur bei Puchta sind in den späteren Schriften Modifikationen der früheren Einheitsvorstellungen zu beobachten. Auch Savigny, dies wurde schon angedeutet, nimmt in seinem "System des heutigen römischen Rechts" aus dem Jahre 1840 eine Revision der früheren, aus der Gönner-Rezension bekannten Einheitsformel vor. "Ich setze das Wesen der systematischen Me5 1 A.a.O., S.l46. Man könne diese Existenz nicht leugnen, "weil, soweit man überhaupt historische Wissenschaften zugelassen hat, auch die Rechtswissenschaft nicht ausgeschlossen worden ist" (ebd.). Anzuzweifeln ist daher Wilhelms Deutung, nach der in Puchtas Schrift über die Perioden in der Rechtsgeschichte "von der Geschichte des Rechts als einer Aufgabe der Wissenschaft keine Rede" sei (1958, S.85). 5 2
1823, S. 144.
5 3
A.a.O., S. 147.
5 4 Dazu unten Kapitel B.III.5. Die hier geäußerte Vermutung entspricht einem für Puchtas Denken insgesamt charakteristischen "Schritt über die 'geschichtliche Rechtswissenschaft' hinaus" (Wilhelm 1958, S.79). Puchta hatte 1844 selbst kritisiert, daß die historische Schule sich vorzugsweise der geschichtlichen Seite des Rechts zugekehrt, "seine logische und vernünftige dagegen zwar nicht negirt, aber doch in den Hintergrund gestellt, und ihr weniger Einfluß, als ihr gebührt, zuerkannt" habe (1844, S.l3). An Wilhelms /'wc/ita-Interpretation ist nur zu kritisieren, daß Puchta diese Wendung von einer geschichtlichen zu einer formal-logischen Rechtswissenschaft schon 1823 vollzogen hat (vgl. oben Fn.51). Im übrigen wird sonst als grundlegende Differenz zu Savigny Puchtas so entschiedene Loslösung des Rechts von der sozialen Wirklichkeit hervorgehoben (vgl. etwa Wieacker 1976a, S.401; Larenz 1975, S.21f.; Schröder 1989b, S.216).
III. Historische Rechtsschule
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thode", so lauten die schon oft zitierten Worte in der Vorrede des "Systems", "in die Erkenntnis und Darstellung des inneren Zusammenhangs oder der Verwandtschaft, wodurch die einzelnen Rechtsbegriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verbunden werden" 55 . Im Gegensatz zur Gönner-Rezension beschreibt Savigny nun präzise, was er unter der Einheit des Rechts verstanden wissen will. "Einheit" meint den inneren Zusammenhang und die "oft verborgenen" 56 Verwandtschaften der Rechtsbegriffe und Rechtsregeln 57 . Die Einheit des Rechts besteht sonach in diesen Verbindungen. Gegenüber der Einheitsformel aus dem Jahre 1815 fällt aber auch eine fundamentale Bedeutungsverschiebung auf, die auf eine veränderte erkenntnistheoretische Grundsicht schließen läßt. In dem Kapitel über "Wissenschaftliches Recht" behauptet Savigny, daß die "dem Stoff gegebene wissenschaftliche Form" "seine inwohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden" strebe, daß durch diese Form "ein neues organisches Leben" entstehe, "welches bildend auf den Stoff selbst zurück w i r k t " 5 8 . Die Einheit ist also schon im Recht enthalten, ist "inwohnend", sie ist nichts, über das allein das rechtsdenkende Subjekt verfügen kann. Hinsichtlich dieser petitio principii ist der Einheitsbegriff von 1840 mit dem von 1815 deckungsgleich. Aber, und hierin besteht die Differenz, diese Einheit ist noch nicht vollständig, sie ist nur graduell vorhanden. Sie ist eben nicht nur zu enthüllen, sondern auch zu vollenden, und zwar durch wissenschaftliche Bearbeitung, vermöge der Fähigkeit der Rechtswissenschaft, ihren Stoff zu systematisieren. Der objektiv-idealistische Einheitsbegriff aus der Rezension wird also ein Vierteljahrhundert später durch einen Begriff abgelöst, der sich aus einem objektiv- und einem subjektiv-idealistischen Element zusammensetzt. b) Wie sehr Savigny sich nun von dem geschichtsmetaphysisch aufgeladenen Einheitsbegriff aus dem Jahre 1815 entfernt hat und die wissenschaftliche Formung der Rechtsmaterie in den Vordergrund gerückt ist, wird noch dadurch unterstrichen, daß er es nicht bei den eben zitierten programmatischen Sätzen beläßt, sondern in seinem dogmatischen Werk konkret ausführt, wie diese Einheit herzustellen, mit welchen Mitteln sie zu realisieren ist. An die Gesamtheit der Rechtsquellen, also Gesetze, Gewohnheitsrecht, wissenschaftliches und fremdes Recht, so Savigny, seien zwei Anforderungen zu richten: "Einheit und Vollständigkeit" 59 . "Fehlt die Einheit, so haben wir einen Widerspruch zu entfernen, fehlt die Vollständigkeit, so haben wir eine Lücke auszufüllen" 6 0 . Beides, also die Widerspruchsfreiheit und die Vollständigkeit, kann 5 5
1840, S.XXX VI.
5 6
Ebd.
5 7 Der objektiv-idealistische Zug in Savignys Denken zeigt sich auch hier. Da das Recht positiv genannt wird "in Beziehung auf diese Beschaffenheit des allgemeinen Rechts, nach welcher es in jedem gegebenen Zustand, in welchem es gesucht werden kann, als ein gegebenes schon wirkliches Daseyn hat" (a.a.O., S.l4), müssen auch Rechtsbegriffe und Rechtsregeln als schon in der Wirklichkeit enthalten gedacht werden. 5 8
A.a.O., S.46.
5 9
A.a.O., S.262.
6 0
A.a.O., S.263.
70
Β.
inheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
"auf einen gemeinsamen Grundbegriff' zurückgeführt werden: "Denn überall ist es Herstellung der Einheit, was wir suchen: der negativen, durch Entfernung von Widersprüchen, der positiven, durch die Ausfüllung von Lükken" 6 1 . Der Weg zu dieser Einheit führt hinsichtlich des Lückenproblems nicht über die Lehre von der Subsidiarität des Naturrechts 62 . Nach Savigny wird das positive Recht "aus sich selbst ergänzt", unter Annahme einer "organisch bildende(n) Kraft" 6 3 . Damit wiederholt Savigny eine schon 1814 in der Berufsschrift vertretene Auffassung 64 . Allerdings erscheint Savignys Argumentation, die Lückenfüllung des positiven Rechts sei durch die "organische Einheit des Rechts" 65 gerechtfertigt, als zirkulärer Begründungsvorgang. Einerseits dürfen Lücken des positiven Rechts mit Hilfe von Analogien deshalb geschlossen werden, weil eine Einheit des Rechts vorausgesetzt werden kann. Andererseits soll die Einheit des Rechts gerade durch Analogien erreicht werden, sie kann also nicht durch das, was erst noch hergestellt werden muß, begründet sein. Doch genauer besehen offenbart sich auch hier die Ambiguität der Savignyschen Einheitsformel. Eine Einheit im Sinne der Verwandtschaften und des Zusammenhangs der Rechtsregeln und -begriffe ist schon vorhanden, aber eben noch nicht vollständig. Gerechtfertigt ist die Analogie durch jene dem Recht schon inwohnende Einheit, für deren Ausarbeitung dann die Wissenschaft durch Ausfüllung der Lücken sorgt. Die analogische Rechtsfindung verhilft also dazu, die erstrebte Einheit zu vollenden. Das zweite Mittel, das eingesetzt werden muß, um diese Vollendung zu erreichen, besteht in der Beseitigung von Widersprüchen. Sie erfolge dadurch, daß bei dem aus Justinianischen Gesetzen, canonischem Recht, Reichsgesetzen, dem wissenschaftliche entstandenen Gewohnheitsrecht sowie dem Gerichtsgebrauch sich zusammensetzenden Rechtsstoff das "neuere Quellenstück
A.a.O., S.263f. Unverständlich bleibt Bohnerts Äußerung, wonach erst in dem Augenblick, als im Positivismus sich die Einheit der Rechtsordnung zum Postulat der Widerspruchsfreiheit gewandelt habe, auch die Wissenschaft begonnen hätte, das Rechtsmaterial zu konstruieren (Ebd., S.l46). Denn selbst wenn man dahingestellt sein läßt, was bei Bohnert unter "Positivismus" zu verstehen ist, so deutet aber auch Savigny in dem Maße, wie die Einheit des Rechts noch zu vollenden ist, diese Einheit als ein Postulat der Widerspruchsfreiheit. Savigny zufolge besteht das Verfahren, das aus den Rechtsquellen unter Beachtung der Anforderungen "Einheit und Vollständigkeit" ein Ganzes macht, "in der Bildung eines Rechtssystems". Diese Bildung sei "ihrem Wesen nach ähnlich der Construction der einzelnen Rechtsverhältnisse und Rechtsinstitute, nur daß diese Construction hier mehr im großen durchgeführt wird" (1840, S.262f.). Der Gedanke, die Widerspruchsfreiheit durch eine Konstruktion des Rechtsmaterials zu erzeugen, wurde also schon vor dem "Positivismus" gedacht, den Bohnert wohl im Auge hat. 6 2
Dazu oben Kapitel B.II.2.
6 3
1840, S.290. Rückert sieht in dieser Argumentation einen Ausdruck von Savignys objektividealistischem Denken (1984, S.350). 6 4 Dazu oben Kapitel B.II.2. Rückert weist darauf hin, daß Savigny die dritte Möglichkeit einer Lückenergänzung durch ein "vom Volk unmittelbar erzeugtes Recht" im Sinne Beselers nicht einmal einer Erwähnung für wert gehalten habe (1988, S.65f.). Zu Beselers Stellungnahme zum Einheitsproblem sogleich das übernächste Kapitel. 6 5 1840, S.293. Zu Savignys Analogieverfahren im einzelnen, dessen Schwächen und Unklarheiten: Langhein 1992, S.87ff.
III. Historische Rechtsschule
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dem älteren vorzuziehen" sei 6 6 . Der Grund der damit ausgesprochenen lexposterior-Regel liege darin, daß ein Widerspruch "der hier beschriebenen Art zu der fortschreitenden Entwicklung des Rechts" gehöre, "so daß mit der Gründung der neuern Rechtsregel die wirkliche Vernichtung der ältern verbunden" sei 6 7 . Aus der Anwendung dieser Regel auf die zeitgenössischen Rechtsquellen folgt dann die Erstellung einer Rangordnung, an deren Spitze der "wahre Gerichtsgebrauch" steht. Darunter befinden sich dann Reichsgesetze, kanonisches Recht und zuletzt das römische Recht 6 8 . c) Savignys Lehre, durch Entfernung von Widersprüchen und Ausfüllung von Lücken die Einheit des Rechts herzustellen, illustriert in besonders augenfälliger Weise die Wendung von einer rein objektiv-idealistischen Einheitsvorstellung zu einer Formel, die zwar die Prämisse einer schon im Recht vorgegebenen Einheit reklamiert, aber zugleich auf ihre Ergänzungsbedürftigkeit durch die juristische Systematisierung verweist, die also zugleich ein objektivund subjektiv-idealistisches Element in sich birgt. Dieser Vorgang kann aus der Gegenüberstellung der Entstehungsgründe des Textes von 1815 und der Eigenart des im Werk von 1840 abgehandelten Stoffes erklärt werden. Die Gönner-Rezension stand ebenso wie die Berufsschrift mitten in einem wissenschafts- und rechtspolitischen Streit, in dem Savignys Formel von einer dem Recht inwohnenden und durch geschichtliche Forschung zu enthüllenden Einheit eine gegen die Forderung nach einer kodifikatorischen Einheit des Rechts gerichteten Antwort auf das drängende Problem eines verworrenen und zerstückelten und daher innovationsbedürftigen Rechtszustandes gab. Der aufopferungsvollen Leistung, die amorphe, durch jahrhundertealte Überlagerungen verwirrend anmutende Masse des römischen Rechts in ein "System des heutigen römischen Rechts" gebracht zu haben, konnte demgegenüber allein ein Einheitsbegriff entsprechen, der zwar den gewiß in der inneren Stoffülle vorzufindenden Übereinstimmungen und Zusammenhängen - insofern "inwohnende Einheit" im Sinne gleichbleibender Sachstrukturen - Rechnung trug 6 9 , aber ebenfalls die im gleichen Stoff zuhauf zu entdeckenden Widersprüche und Unvollständigkeiten - insofern "zu vollendende Einheit" - zum Ausdruck brachte. Angesichts dieser konkreten Rechtserfahrungen schien allein eine Einheitsformel plausibel, bei der, anders als in der GönnerRezension von 1815, die Einheit des Rechts nur als graduell verwirklicht vorausgesetzt wurde und deren Vollendung dann dem wissenschaftlich arbeitenden Juristen oblag 7 0 . Der Umstand, daß das 1815 von Savigny vertretene 6 6
A.a.O., S. 264.
6 7
A.a.O., S.264f.
6 8
A.a.O., S.266. Savigny untersucht auch Widersprüche innerhalb der Justinianischen Gesetzgebung und erarbeitet dafür Kollisionsregeln, a.a.O., S. 274ff. 6 9 Das Urteil Bohnerts, "das wissenschaftliche Bewußtsein expliziert die Einheit ... in die Form, die der Einheit entspricht, ohne mit ihr identisch zu sein"(Ebd., S.141) läßt den entscheidenden Punkt in Savignys Einheitsbegriff von 1840 unterbelichtet. Dieser besteht eben darin, daß die Form gerade insoweit mit der Einheit identisch ist, als sie, durch die Wissenschaft dargestellt, die schon im Recht vorhandenen Übereinstimmungen und Verwandtschaften wiedergibt. 7 0 In der Sekundärliteratur wird bei der Besprechung von Savignys Einheitsbegriff nicht zwischen den verschiedenen Texten differenziert. Dies gilt zunächst für Bohnert (1975, S.138 bis 141).
Β. Einheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
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Theorem einer dem Recht allein inwohnenden und durch historische Forschung sichtbar zu machenden Einheit des Rechts nun 1840, nach der Veröffentlichung des "Systems des heutigen römischen Rechts" hinfällig geworden war, wirkte sich auch auf die folgenden Einheitsvorstellungen innerhalb der Historischen Rechtsschule aus. 5. Die Einheit des Rechts durch die Einheit des Volksgeistes (Savigny 1840, Puchta 1841)
a) Nach der Durcharbeitung der historischen Quellen im "System des heutigen römischen Rechts" war die 1815 von Savigny vertretene These von einer dem Recht inwohnenden Einheit nicht mehr haltbar. Sie strahlte zu jener Zeit gegenüber der rechtspolitischen Forderung nach kodifikatorischer Einheit des Rechts eine gewisse Überlegenheit aus, weil schon allein die damaligen politischen Verhältnisse einem gesamtdeutschen Gesetzbuch des bürgerlichen Rechts entgegenstanden. Da im Jahre 1840 die These von der allein im Recht enthaltenen, historisch begründeten Einheit ausgefallen war und durch die Formel von der inwohnenden und zu vollendenden Einheit ersetzt wurde, konnte nun auch die Frage auftreten, welche Größe denn letzten Endes den inneren Zusammenhang, die Verwandtschaft im Rechtsstoff garantiert Das Bedürfnis nach einer Antwort auf diese Frage scheint der Grund dafür zu sein, daß Savigny seiner bisher dargelegten Einheitsvorstellung einen neuen Gesichtspunkt hinzufügt. Der Gedanke einer Einheit des Rechts wird nun auf außerrechtliche, dem Recht vorausliegende soziale Erscheinungen bezogen. Savigny zufolge stehen Menschen überall, wo sie zusammenleben, in einer "geistigen Gemeinschaft". In "diesem Naturganzen" befinde sich der "Sitz der Rechtserzeugung" 71 , in "dem gemeinsamen Bewußtsein des Volkes" lebe das "positive Recht" - was aber wiederum nicht so verstanden werden dürfe, "als ob es die einzelnen Glieder des Volkes wären, durch deren Willkühr das Recht hervorgebracht würde". Vielmehr sei es "der in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht" erzeuge 72 . Für den Zusammenhang von Savignys Einheitsvorstellung mit außerrechtlichen Phänomenen ist der Gedanke entscheidend, daß die Grenzen Schröder folgert aus der Formulierung von 1815 ("Zurückführen des Mannigfaltigen auf die ihm in wohnende Einheit"), daß bei Savigny die "Einteilung der Jurisprudenz nicht beliebig sein" könne, "sondern dem inneren Zusammenhang des Rechtsstoffs folgen"(1979, S. 119) müsse. Dies gilt aber so nur für den Einheitsbegriff von 1815, nicht aber für den von 1840. Herbergers Ausssage, daß Savigny "die Differenz zwischen Stoff und logischer Form in seinem Denken nie ganz" aufgegeben habe, (1981, S.381), trifft dagegen den Gehalt der Schrift von 1840, den der Gönner-Rezension wohl nicht. Rückert, der eine objektiv-idealistische Denkhaltung als Schlüssel für das ganze Werk Savignys behauptet, läßt dabei die Unterschiede zwischen den Texten von 1815 und 1840 unbeachtet. Bezeichnend dafür ist, daß er die Feststellung des "objektiv-idealistischen Ziel(s), Vielfalt auf eine höhere, in der Vielheit gegebene Einheit zurückzuführen"(1984, S.332), nur auf eine Interpretation der Gönner-Rezension stützt(a.a.O., S.331). Eine Überprüfung dieser Aussage am "System" unterbleibt aber. 7 1
1840, S.19. A.a.O., S.
.
III. Historische Rchtsschule
73
dieser Völkerindividuen "allerdings unbestimmt und schwankend" seien und sich dieser zweifelhafte Zustand auch "in der Einheit oder Verschiedenheit des in ihnen erzeugten Rechts" offenbare. Es könne ungewiß erscheinen, ob diese Völkerindividuen "uns als Ein Volk oder als mehrere gelten sollen: gleicherweise finden wir auch oft in ihrem Recht zwar nicht gänzliche Übereinstimmung, wohl aber Verwandtschaft". Dem steht nach Savigny auch nicht entgegen, daß da, "wo die Einheit eines Volkes unzweifelhaft" ist, "sich innerhalb der Gränzen desselben oft engere Kreise" finden, "die durch einen besonderen Zusammenhang, noch neben dem allgemeinen des Volkes, vereinigt sind, wie Städte und Dörfer, Innungen, Corporationen aller Art, welche insgesamt volksmäßige Abtheilungen des Ganzen bilden" 7 3 . Diese "Kreise" erzeugten partikuläres Recht, welches das Volksrecht auf manchen Seiten ergänze oder umbilde 7 4 . Savigny gebraucht hier also wieder den Einheitsbegriff im Sinne der im Recht vorgegebenen Zusammenhänge und Übereinstimmungen. Aber deutlich ist auch, daß Savigny eine Verbindung, ja ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dieser Einheit und dem herstellt, was er "Volk" nennt. Und, so läßt sich folgern, wenn diese Einheit des Rechts von der des Volkes abhängt und es nach Savigny doch im letzten Sinne der Volksgeist ist, der das positive Recht erzeugt, so muß es dessen Einheit sein, die diejenige des Rechts bestimmt. Wenn es nun nicht allein mit der Feststellung dieses Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Einheit des Rechts und Einheit des Volksgeists sein Bewenden haben soll, müßte erhellt werden, was bei Savigny unter Volk und Volksgeist zu verstehen ist. Die damit aufgeworfene Frage, die wahrscheinlich zu den schwierigsten der Savigny-Interpretation zählt, hat aber bisher noch zu keiner befriedigenden Antwort geführt. Kaum endgültig zu entscheiden ist, ob der für Savignys Volksgeistlehre maßgebliche Volksbegriff "metaphysisch und kulturphilosophisch orientiert" 75 ist oder ob es sich beim Volksgeist um ein eigenes, selbständiges Wesen handelt, das über den Individuen steht und dessen Äußerungen bedingt 7 6 , ob die Volksgeistlehre vielleicht doch nur einen empirischen Sachverhalt im Auge hat 7 7 oder ob davon auszugehen ist, daß Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S. 19. 7 4
A.a.O., S.19f.
7 5
Böckenförde
1964, S. 15.
7 6
Stammler 1925, S.354. Stammler zählt an diesem Ort mehrere Deutungsmöglichkeiten des Volksgeistbegriffs auf. Neben der zitierten Variante führt er noch Gierkes Verständnis an, der 1903 schrieb: "Allein hier handelt es sich um ein Problem, das überhaupt restloser Auflösung spottet, weil es in das grosse Geheimnis des Lebens hineinreicht. Für jede Betrachtung weise aber, die das menschliche Gemeinleben als das Leben überindividueller Wesenheiten begreift, wird die Einführung des Volksgeistes in die Rechtstheorie ein Ausgangspunkt vertiefter Soziallehre bilden"(1903, S.8). Als dritte Variante weist Stammler auf das Verständnis des Volksgeists als Grund gemeinsamer Überzeugungen der Mitglieder eines Volkes hin (1925, S.355). 7 7 Jakobs ist der Ansicht, daß die Volksgeistlehre Savignys ihre Grundlage "in der Wirklichkeit der Entwicklung des Rechts in Rom, in der Wirklichkeit der Entwicklung des Rechts aber auch in jedem anderen Gemeinwesen" hat (1983, S.27). Als wesentliches Argument bietet Jakobs die Formulierung Savignys an, wonach des Recht ein "Zustand" sei, der "bis jetzt nur historisch aufgestellt worden" (Savigny 1814, S.79). Nach dem Sprachgebrauch der Zeit sei eine historische Aufstellung ein empirischer Beweis gewesen (1983,S.27). Die romantisch klingenden Wendungen bei Savigny stuft Jakobs dann als modisches Geplänkel ab, dem Geist der damaligen Zeit geschuldet
74
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
Savigny seinen Volksgeistbegriff Puchta verdankt 78 - womit dann dessen Vorstellung zu untersuchen wäre. Denkbar wäre auch, daß Savigny 1840 lediglich eine neue Etikette für das eingeführt hat, was er 1814 das "gesellschaftliche Bewußtseyn des Volkes" nannte, was die Sache aber natürlich auch nicht erleichterte. Angesichts dieser Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten scheint am Ende allein der Rückzug auf die Erkenntnis zu bleiben, daß der Volksgeist bei Savigny ein "weicher Begriff 1 ist, "der ebensowenig wie der Begriff des Volkes selbst auf Exaktheit angelegt war, daher kategorial schwer einzuordnen i s t " 7 9 . Doch vielleicht bedarf es gar nicht der Ergründung dieser letzten dunklen Fragen, die Savignys Werk offen gelassen hat, um den Zusammenhang von der Einheit des Rechts und der Einheit des Volksgeistes näher zu bestimmen, sofern man sich damit begnügt, den von ihm geäußerten Gedanken allein aus dem konkreten Verwendungszusammenhang, in dem er steht, zu erschließen und nicht den Anspruch erhebt, den Volksgeistbegriff Savignys darzulegen. Tut man dies, so wird augenfällig, daß Savigny von "Volksstämmen" und von "engeren", sich innerhalb des Volkes befindlichen "Kreisen" spricht, damit also konkrete, empirisch faßbare Gebilde anführt. Diese Gebilde setzt Savigny nun in Beziehung zu der Vorstellung von einer im Recht schon graduell enthaltenen Einheit. An gleicher Stelle bezeichnet er das Volk als eine geistige und eben nicht als eine ökonomische, staatliche oder geographisch-klimatische Gemeinschaft. So liegt es nahe anzunehmen, daß Savigny hier eine Abhängigkeit der im Recht vorzufindenden Zusammenhänge und Verwandtschaften von den in einem Volk herrschenden Werten und Sitten behauptet. Das Maß an Gemeinsamkeiten in diesen Grundüberzeugungen bestimmt also das Maß an Einheit im Recht. Mit anderen Worten: Die Einheit des Rechts hängt ab von der ideellen oder kulturellen Homogenität eines Volkes. Sucht man diesen Gedankengang in die Abfolge der vorausgegangenen Einheitsformeln einzuordnen und auf die Zeit zu beziehen, in der er steht, so wirkt diese Rückführung der Einheit des Rechts auf den Volksgeist, auf die ideelle Homogenität eines Volkes, wie eine neue Antwort auf das auch im Jahre 1840 immer noch ungelöste Problem der Mannigfaltigkeit und Verworrenheit des deutschen Rechtszustandes. Wird dieser Zustand mit Hilfe von Savignys Einheitsformel betrachtet, so bleibt nur eine Folgerung: die politischen Verhältnisse in Deutschland, die durch eine Vielzahl von in verschiedenen Territorien lebenden Völkerstämmen und durch eine dementsprechende rechtliche Vielfalt gekennzeichnet sind, stehen der Annahme einer schon
(1983, S.30f.). Als real gewordene Idee interpretiert Behrends den Volksgeist Savignys. Er sei "eine normative Idee, die für Grundprinzipien des Rechts, die der Freiheit und der sozialen Rücksicht, eine eigentümliche historische Existenz" postuliere" (1987, S.249). 7 8 Kantorowicz 1912, S.319. Jakobs hat im ersten Kapitel seiner Untersuchung über "Die geschichtliche Begründung der Rechtswissenschaft" (1992) mit beeindruckender inteipretatorischer Sorgfalt und Subtilität die These entwickelt, daß Puchta die Vorstellung Savignys über "das gemeinsame Bewußtsein des Volkes" unter Zuhilfenahme Hegelscher Philosophie gedeutet und damit verfälscht habe. 7 9
Nörr, 1991, S.l8.
III. Historische Rechtsschule
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vorhandenen Einheit des Rechts nicht entgegen. Der Volksgeist gewährleistet diese Einheit. Eine Einheit des Rechts durch ein Gesetzbuch für ganz Deutschland war nicht erforderlich. Nachdem die Theorie einer historisch begründeten - inwohnenden - Einheit des Rechts nach der Bearbeitung des "Systems des römischen Rechts" nicht mehr aufrechterhalten werden konnte und durch die Vorstellung einer inwohnenden und zu vollendenden Einheit abgelöst werden mußte, war mit der auf den Volksgeist gegründeten Konzeption ein dringlich gewordener neuer Einwand gegen das Postulat einer kodifikatorischen Einheit formuliert. Nun ist es nicht mehr die dem Stoff schon inwohnende, durch die Hinwendung zu den historischen Quellen zu enthüllende Einheit des Rechts, sondern es ist die Annahme einer Einheit des Rechts aufgrund der Einheit des Volksgeists, der ideellen Homogenität des deutschen Volkes, die die Forderung nach einer kodifikatorischen Einheit des Rechts entkräftet. b) Ein Jahr nach Erscheinen von Savignys System stellt auch Puchta eine direkte Verbindung zwischen der Einheit des Rechts und der Einheit des Volksgeistes her, die im Unterschied zu Savignys Lehre aber nicht nur rekonstruierbar ist, sondern explizit formuliert wird. Im "Cursus der Institutionen" schreibt er: "Die einzelnen Rechtssätze, die das Recht eines Volks bilden, stehen in einem organischen Zusammenhang unter einander, der sich zuvörderst durch ihr Hervorgehen aus dem Geist des Volks erklärt, indem die Einheit dieser Quelle sich auf das durch sie Hervorgebrachte erstreckt". Aber, so fährt er unmittelbar fort: "Eine Dissonanz, welche das harmonische Zusammenstimmen der einzelnen Theile des Rechts unterbricht, ist dadurch nicht ausgeschlossen, insofern auch der Geist eines Volkes störenden Anwandlungen, wie einer Krankheit, ausgesetzt ist; am leichtesten kann sie durch eine ungeschickte Ausübung des Gesetzgebungsberufs vorkommen" 80 . Die "Eigenschaft des Rechts, daß seine Sätze sich zu einem organischen Ganzen als Glieder desselben zusammenschließen" ist aber Puchta zufolge nicht nur auf die Einheit des Volksgeistes zurückzuführen, sondern "auch durch seine Natur, durch die Vernunftmäßigkeit, die ihm zukommt, gegeben" 81 . Das Recht habe nämlich zwei Seiten: Die eine Seite sei die der Freiheit, in welcher der Keim des Rechts liege. Daneben sei das Recht "ein Vernünftiges, und dies ist die Seite, von welcher es ein System ist, einen Organismus von Gattungen und Arten bildet" 8 2 . Der Wissenschaft obliege es, "die Rechtssätze in ihrem systematischen Zusammenhang, als einander bedingende und von einander abstammende, zu erkennen, um die Genealogie der einzelnen bis zu ihrem Princip hinauf verfolgen, und eben so von den Principien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können" 8 3 .
8 0
1841, S.35.
8 1
A.a.O., S.36. Ebenso S.100.
8 2 A.a.O., S.6. Aus diesem Zitat geht auch hervor, daß Puchta System und Organismus synonym verwendet. 8
A.a.O., S . 3 .
76
Β. Einheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
Ziemlich klar ist sonach das, was Puchta unter der Einheit des Rechts versteht. Es handelt sich um den "organischen", "inneren Zusammenhang", welcher die vielzähligen Teile des Rechts miteinander verbindet. Wenn dieser Zusammenhang dem Recht von Natur aus, durch seine Vernunftmäßigkeit mitgegeben und von der Rechtswissenschaft allein zu erkennen ist, so führt Puchta damit eine voraussetzungsvolle, im oben beschriebenen Sinne: objektiv-idealistische Annahme ein 8 4 . Die Klärung dieser Annahme, also der Qualifikation des Rechts als etwas Vernunftmäßiges, verlangt letzten Endes gewiß die Auseinandersetzung mit der Frage, ob sich hinter dieser Vernunftmäßigkeit etwa die Weltvernunft Hegels verbirgt 85 . Aber für diesen "organischen", "inneren" Zusammenhang im Recht, für diese Einheit des Rechts ist eben auch von Bedeutung, daß sich die Einheit des Volksgeists, um es noch einmal zu zitieren, "auf das durch sie Hervorgebrachte erstreckt". Puchta gibt also ein kausales Verhältnis an, die Einheit des einen ist Ursache für die des anderen. Aufklären läßt sich diese Verbindung wie bei Savigny erst dadurch, daß der Volksgeistbegriff in ein helleres Licht gestellt wird. Dabei laden Puchtas Äußerungen nicht gerade dazu ein, sich den Mühen eines Deutungsversuchs zu unterwerfen, da die Entstehung des Rechts aus dem Volksgeist eine, wie er schreibt, "unsichtbare" ist. Sichtbar sei "nur das Entstandene selbst, das Recht also, nachdem es aus der dunkeln Werkstätte, in der es bereitet wurde, hervorgetreten und wirklich geworden ist" 8 6 . Doch am gleichen Ort, also ebenfalls im "Cursus" umschreibt er den Volksgeist als "Bewußtsein, welches die Glieder eines Volks als ein gemeinsames durchdringt, das mit ihnen geboren ist, und sie geistig zu Gliedern dieses Volkes macht" 8 7 . Dieser Volksgeist, und das ist einer seiner weiteren Merkmale, ist nur jeweils den Gliedern einer Nation angehörig. Dies ergibt sich daraus, daß nach Puchta die Entstehung des Rechts aus dem Volksgeist "die Verschiedenheit des Rechts nach den Völkern" zum Gegenstand habe 88 . Zieht man weiter die beiden Bände des "Gewohnheitsrechts" aus den Jahren 1828 und 1837 zu Rate - wobei zwischen ihnen und dem "Cursus" aus dem Jahre 1841 bezüglich des Volksgeistbegriffs offensichtlich keine Bedeutungsdifferenzen bestehen -, so erfährt man ferner, daß der Volksgeist "die natürliche Verwandtschaft des Sinnes und des Wil8 4 Den objektiven Idealismus Puchtas beschreibt Herberger treffend: "die Einheit" wird "nicht in den Gegenstand 'hineingebracht", "sondern der Gegenstand" spricht "vielmehr seine ihm kraft Entstehungszusammenhangs innewohnende Einheit" aus, die es nur noch zu erkennen gilt. "Systematisierung wird damit vom Konstruktions- zum Erkenntnisproblem" (1981, S.402). Dies macht auch den Unterschied zu Savigny deutlich: Bei ihm setzte sich 1840 die Einheitsformel aus einer objektiv-idealistischen Annahme und einer subjektiv-idealistischen Komponente zusammen. Die Einheit war nicht nur innewohnend, sondern auch zu vollenden.
oc
Diese Frage erfordert eine eigene monographische Bearbeitung, die hier nicht geleistet werden kann. Schönfeld (1930, S.50) hält insbesondere Puchtas - gegen Hegel gewendete - Zurückführung des Rechts auf Vernunft und Freiheit für töricht, "da die Vernunft, auf die Hegel das Recht gründet, eben auch Freiheit und nicht nur Naturnotwendigkeit ist, wie Puchta folgert". Das Verhältnis Puchta zu Hegel hat jüngst Jakobs (1992) zu klären versucht (s.o. Fn.78). 8 6
1841, S.30.
8 7
A.a.O., S.24. Die letzte Quelle des Rechts sei Gott, von ihm habe der Mensch das Bewußtsein rechtlicher Freiheit. Das Recht sei eine göttliche Ordnung (S.23). 8 8
Ebd.
III. Historische Rechtsschule
77
lens" 8 9 der Einzelnen ist, er damit also nicht der Verfügbarkeit des einzelnen Menschen untersteht. Puchta sieht in ihm die Quelle der "Ansichten und Überzeugungen", die die Einzelnen nicht als Einzelne, sondern als Glieder des Volkes haben 90 . Ihm kommt also eine irgendwie geartete überindividuelle Qualität zu, was auch daraus hervorgeht, daß dieser Volksgeist, und das ist der wesentliche Unterschied zu der oben vorgenommenen Savigny-Deutung, Einfluß auf die Einzelnen nimmt 9 1 . Schien nämlich bei Savigny noch die Lesart plausibel, daß dieser Begriff auf tatsächliche Erfahrungen zielt, daß also insbesondere im Zusammenhang mit der Rede von der Einheit des Rechts mit ihm das Maß an Übereinstimmung an ideellen und kulturellen Grundüberzeugungen eines Volkes gemeint sein kann, das sich auf den Grad der im Recht vorfindlichen Zusammenhänge und Verwandschaften auswirkt, so hat bei Puchta der Volksgeist offenkundig eine überempirische Essenz. Gewiß enthält auch er den Kernbetand der für das ganze Volk identischen Grundüberzeugungen. Doch das Entscheidende ist, daß Puchta in ihm eine natürliche, also der Verfügung des Einzelnen entzogene, eigenständige und reale Größe erblickt, deren Macht jeder Einzelne, sofern er als Glied eines Volkes auftritt, unterworfen ist. Damit läßt sich auch erklären, warum Puchta die Einheit des Rechts im Sinne eines ohne weitere Begründung angenommenen Zusammenhangs aller Rechtssätze auf die Einheit des Volksgeistes zurückbezieht. Denn einerseits stellt Puchta die voraussetzungsvolle Behauptung eines inneren Zusammenhangs im Recht auf. Doch andererseits gesteht er Dissonanzen zu, die das harmonische Zusammenstimmen der einzelnen Teile des Rechts unterbrechen. Diese Dissonanzen haben einmal ihren Grund in dem "mannigfaltigen Stoff' des Rechts selbst, verursacht durch "die Ungleichheit der Menschen nach Geschlecht, Alter, körperlicher Beschaffenheit, natürlicher Unselbständigkeit". Das Recht könne diese Mannigfaltigkeit zwar "durch Unterwerfung unter das Prinzip der Gleichheit" bewältigen, aber "durch die Rückwirkung des Stoffs" komme "eine Mannigfaltigkeit in die rechtliche Form selbst" 92 . Zudem kann natürlich auch Puchta nicht die Erfahrung eines jeden Juristen verleugnen, daß zwei Rechtssätze vorkommen können, "namentlich in dem geschriebenen Recht, welche einander schlechthin ausschließen", also ein "Fall der Antinomie" 9 3 . Und vor allem sieht sich Puchtas Rechtsentstehungslehre, die natürlich auf den zeitgenössischen Rechtszustand bezogen ist, mit der Frage konfrontiert, wie ein solch heterogenes Gebilde (Gewohnheitsrecht auf derselben Stufe wie Gesetzesrecht und daneben mit gleichem Rang das 8 9
1828, S.l; ebenfalls 1837, S.138f. und 144.
9 0
1837, S.l38f.
9 1
A.a.O., S.l51.
9 2
1841, S.78f.; ebenfalls S.36 und 84.
9 3
A.a.O., S.50: In einem solchen Fall gelte keiner der beiden widersprechenden Rechtssätze: "Das Recht der Wissenschaft tritt in diese Lücke, der anzuwendende Rechtssatz ist aus ihm zu entnehmen, also durch den Gebrauch innerer Gründe auf wissenschaftlichem Wege zu erzeugen". Puchta verwendet also hier Savignys, im Jahre 1814 entwickeltes und gegen die naturrechtliche Lehre gerichtete Lückentheorie (dazu oben Kapitel B.II.2).
Β. Einheitsfoimeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
78
Rccht der Wissenschaft) überhaupt als in sich konsistent gedacht werden kann. Kurz, die Annahme vorgegebener Zusammenhänge im Recht tritt in eine beträchtliche Spannung zu dem in seiner Zeit herrschenden Rechtszustand, zu dem Eingeständnis von Dissonanzen und Antinomien, von Mannigfaltigkeit in der Form und Vielgestaltigkeit bei der Rechtsentstehung. Diese Spannung kann aber ausgehalten, ja aufgelöst werden durch den Hinweis auf die Einheit des Volksgeistes, einer weiteren bedeutungsschweren Annahme, die als Inbegriff der gemeinsamen geistigen Grundlagen eines Volkes auch das erforderliche Maß an Zusammenhang im Rechtsstoff garantiert. Die Einheit des Volksgeistes entschärft mithin diesen Spannungszustand und verbürgt einen harmonischen Ausgleich der Dissonanzen und Antinomien. Die objektiv-idealistische Annahme der vorgegebenen Zusammenhänge ist damit vor erfahrungsbegründeten Anfechtungen geschützt. Gänzlich unangreifbar wird sie dadurch, daß Puchta dem Volksgeist eine Qualität als real existierende, eigenständige Erscheinung beilegt. Denn wäre der Volksgeist wie bei Savigny als rein empirische Größe vorzustellen, dann ließe sich auch ein Zustand denken, in dem sich die Einheit des Volksgeistes, also die Übereinstimmung an Werten und Sitten, in bestimmten Epochen in dem Maße abschwächt, wie gleichzeitig die Spannungen und Unvereinbarkeiten im Recht zunehmen, so daß irgendwann von einem inneren Zusammenhang im Recht nicht mehr gesprochen werden könnte. Dieser Möglichkeit baut die Annahme jener überempirischen Größe vor. Sonach stellt sich auch Puchtas Einheitsformel als Antwort auf die seit Beginn des 19.Jahrhunderts aufgeworfene Frage nach einer adäquaten Reaktion auf den reformbedürftigen, durch Parzellierung und Inkonsistenz charakterisierten Zustand des Rechts dar. Das Programm einer kodifikatorischen Einheit war für ihn keine ernsthaft diskutable, sondern nur zu bekämpfende Alternative. Gesetzgebung bedeutete für Puchta allein eine Störung der ursprünglichen, jeder Kodifikation vorausgehenden Einheit des Rechts 94 . Die Möglichkeit, diese Einheit, wie er es noch 1823 getan hatte 9 5 , historisch zu begründen schied nun nach Savignys "System" aus. Puchtas Antwort auf das Problem der Zersplitterung des deutschen Privatrechts beinhaltete den Rückgriff auf eine äußerst voraussetzungsvolle, über-empirische Größe. Die Annahme einer nicht herzustellenden, nicht zu vollendenden, sondern vorgegebenen, von der Wissenschaft allein zu erkennenden 96 Einheit des Rechts fand ihre Absicherung in einer weiteren, nicht minder problematischen Annahme, eben in der der Einheit des Volksgeistes. 9 4 Dazu Bohnert, der bei Puchta zwischen Einheit des Rechts und Einheit der Rechtsquellen unterscheidet (1975, S.l44): "Die Gesetzgebung als zweite Rechtsquelle (neben dem Gewohnheitsrecht, M.B.) und der Staat, ihre Grundlage, betrafen, selbst abgeleitet, die ursprüngliche Einheit des Rechts aus dem Volksgeist nicht, allenfalls durch Kränkung und vorübergehenden Mißverstand. ... So wird Heteronomie der Rechtsquellen ausgeschlossen; die Einheit des Rechts, die sich in der Wissenschaft postuliert, wird auf die Einheit des Volksgeistes mit sich zurückverwiesen"(a.a.O., S.145). 9 5
Dazu oben Kapitel B.III.3.
9 6
Puchta 1841, S.37.
III. Historische Rechtsschule
79
6. Die organische Einheit von deutschem und römischem Recht sowie die einheitliche Fortbildung des deutschen Rechtswesens durch Volksrecht und Juristen recht (Beseler 1843)
a) Die vorstehenden Ausführungen lassen möglicherweise den Eindruck entstehen, als sei das Einheitsthema innerhalb der Historischen Rechtsschule hauptsächlich eine Angelegenheit ihrer romanistischen Autoren gewesen. Lediglich Eichhhorn hatte 1815 mit seiner Rede von der ursprünglichen Einheit des deutschen Privatrechts die Hinwendung zum historischen Recht der deutschen Völkerstämme zu legitimieren versucht. Doch die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts brachten auch auf germanistischer Seite Einheitsformeln hervor, die sich von den Konzeptionen Savignys und Puchtas deutlich abhoben. Es kann auch gar nicht verwundern, daß die "geheime(n) Spannungen" 9 7 , die der Historischen Rechtsschule zugrunde lagen und sich seit den zwanziger und dreißiger Jahren zu einer offen zu Tage tretenden Entzweiung verdichteten, ebenfalls in unterschiedlichen Einheitsvorstellungen zum Vorschein kamen. Die Grenzen des rechtstheoretischen Kampffeldes, auf dem sich die widerstrebenden Gruppierungen gegenüberstanden, wurden zwar vor allem durch die Frage nach der nationalpolitischen Bewertung der Rezeption des römischen Rechts festgelegt 98 . Der nun entfachte Streit spiegelte sich aber auch in der Auseinandersetzung um die Frage nach dem gegenwärtigen Verhältnis von römischen und deutschem Recht wider, bei der eine auf germanistischer Seite verwendete Einheitsformel eine wichtige Rolle spielte. b) Dies gilt zunächst für Georg Beseler, dem bedeutendsten Vorkämpfer der engagierten Germanistik 99 , der in seiner 1843 erschienenen Schrift über "Volksrecht und Juristenrecht" beklagte, daß im gemeinen Recht das römische Recht "auf eine ganz unziemliche Weise" vorherrsche "und auch die Verbindung desselben mit dem deutschrechtlichen Elemente zu einer höheren, organischen Einheit" bis jetzt noch nicht gelungen s e i 1 0 0 . Beseler zeigte die Folgen auf, die aus dem Fehlen dieser organischen Einheit resultierten. So erscheine "es oft zweifelhaft, von welcher Seite her die Normen für die Beurtheilung bestimmter Rechtsverhältnisse zu entnehmen" seien, und durch das ganze gemeine Recht ziehe "sich ein Dualismus hindurch, welcher dem richtigen Verständnis und der sicheren Anwendung desselben" entgegentrete 101 . Damit war in der Germanistik ein ganz neuartiger Ton angeschlagen. Eine deutliche Absage erteilte Beseler Eichhorns Sicht, wonach im gemeinen Recht das Römische Recht "einen Hauptbestandteil ausmache", von diesem aus sogar "Deutsche Rechtsinstitute beurteilt werden könnten" 1 0 2 und beide 9 7
Wieacker
9 8
Dazu Wieacker a.a.O. S. 407 u. 409.
1967a, S. 406.
9 9 Wießcker, a.a.O., S.408. Zur Zuordnung Beselers zur historischen Schule: Kern (1984, S.12ff.), der sinnvollcrweise als Zuordnungskriterium die Volksgeistlehre verwendet. 1 0 0
Beseler 1843, S.231. Zur Entstehungsgeschichte von Beselers Schrift: Kern 1982, S.371ff.
1 0 1
Ebd.
1 0 2
Eichhorn 1815, S.127.
80
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
Rechtsmassen in einem eher harmonischen Verhältnis zueinander stünden, sich gegenseitig ergänzten 103 . Wie sehr sich hinter dieser neuen Einheitsformel der germanistische Drang nach einer Aufwertung des deutschen Rechts verbirgt, zeigt zudem Reyschers Aufsatz über "Die Einheit des Deutschen Rechts und dessen Verhältnis zu fremden Rechten", der 1845 in der von den Germanisten gegründeten "Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschft" erschien. Gegen Savigny gerichtet, bemerkt Reyscher, daß für jenen das germanische Recht "doch auch nur eine der konkurrierenden Rechtsquellen" gewesen sei, "welche mit dem römischen Recht die Herrschaft über die Rechtsverhältnisse in Deutschland getheilt haben, ohne darum zu einer Einheit mit demselben verschmolzen zu seyn". Eine "Zweiherrschaft römischen und deutschen Rechts" sei das "Äusserste, was die geschichtliche Schule den Germanisten einzuräumen! geneigt" s e i 1 0 4 . Ebenso wie Beseler hebt Reyscher die Nachteile der bisher getrennten Behandlung hervor: Mangel an Übersichtlichkeit und äußerste Lückenhaftigkeit 1 0 5 . Doch Reyscher beläßt es nicht bei dieser negativen Analyse, sondern sucht die Notwendigkeit der "Vereinigung der verschiedenartigen Quellen zu Einem Systeme des praktischen Rechts" 1 0 6 darzutun. Die Pointe von Reyschers Aufsatz besteht darin, daß die dualistische Auffassung schon aus historischen Gründen zurückgewiesen wird. Obgleich die Bekanntschaft mit dem fremden Recht in Deutschland sehr weit zurückginge, habe eine Auflösung des in Deutschland angewendeten Rechts in ein Recht römischen und deutschen Ursprungs nicht stattgefunden 107 . Und auch nachdem das römische Recht an die Stelle des germanischen Rechts getreten sei und die Oberhand gewonnen habe, so Reyscher, "ward doch dabei an eine Zweiheit im Rechte nicht gedacht" 1 0 8 . Der Umstand, daß "in das jetzt bei uns geltende Recht Manches aus dem fremden Rechts übergegangen" sei, macht Reyscher keine Schwierigkeiten: das fremde Recht sei gerade durch diesen Übergang "eins geworden mit dem einheimischen". So wie es falsch sei, nur das römische oder nur das germanische Recht anzuwenden, so sei "es andererseits ungenau, bei dem einen oder andern Stoffe in der Wissenschaft stehen zu bleiben" 1 0 9 . Es sei unwissenschaftlich, von dieser Trennung auszugehen und
1 0 3 Nach Eichhorn fordert der "wissenschaftliche Zusammenhang", "alle, auch die antiquirten Institute, zu berühren, aber nur um anzugeben, was vom römischen Recht in ihre Stelle getreten ist, und bei solchen, von welchen einzelne Bestimmungen übrig geblieben sind, zu zeigen, auf welche Weise sich dabei römisches und deutsches Recht dabei ergänzen" (1823, § 40). 1 0 4 Beide Zitate 1845, S.364. Nach Savigny war das "Verhältnis dieser beiden verschiedenartigen Rechte in der Anwendung auf das Leben ... zu allen Zeiten ein schwieriges und verwickeltes". Die "Ausgleichung dieses Conflicts" betrachtete er als eine der "wichtigsten Aufgaben des wissenschaftlichen Rechts" (1840, S.l01). 1 0 5
A.a.O., S.371.
1 0 6
A.a.O., S.365.
1 0 7
A.a.O., S.365.
1 0 8
A.a.O., S.367.
1 0 9
Beide Zitate a.a.O., S.370.
III. Historische Rechtsschule
81
dcnnoch "das geltende Recht in seiner Einheit darzustellen" hoffen 1 1 0 . "Wesentlich muß vielmehr", so lautet seine These, "aus beiden oder vielmehr aus der im Leben bereits verbundenen Einheit beider das Ganze gebildet werd e n " 1 1 1 . Der Begriff eines heutigen gemeinen Rechts lasse sich nur halten, "wenn eine wissenschaftliche Einheit nicht etwa in den geschichtlichen Ausgangs- sondern in den Endpunkten zu finden i s t " 1 1 2 . Reyschers Wendung von einer "Einheit des gemeinen deutschen Rechts" enthält mithin die Forderung, auf der Ebene der wissenschaftlichen Darstellung nur das nachzuvollziehen, was im Bereich der Rechtsanwendung, "im Leben", wie er sagt, für ihn immer schon Wirklichkeit war: die Verschmolzenheit und Zusammengehörigkeit von römischen und germanischem Recht 1 1 3 . Reyschers Formel von einer Einheit des deutschen Rechts dient letzten Endes dazu, gegen die Lehren der Romanisten den Wert des deutschen Rechts zu erhöhen und ihm den gleichen Rang zuzuweisen, den das römische Recht innehatte. c) Damit legte Reyscher seiner Einheitsformel eine Bedeutung bei, die entschieden über den Gehalt von Beselers Einheitsbegriff hinausreichte. Beseler diente die Rede von einer organischen Einheit deutschen und römischen Rechts lediglich dazu, die "ganz besondere Schwierigkeit" zu erklären, die es mit dem Begriff des gemeinen Rechts in Deutschland auf sich hatte 1 1 4 . Im Gegensatz zu Reyscher schätzte Beseler die Möglichkeit einer Verschmelzung der beiden Rechtsmassen weitaus skeptischer ein. Nur wenn "in der Tiefe des nationalen Lebens noch immer eine selbständige, schöpferische Kraft thätig geblieben" sei, erscheine die Hoffnung nicht unbegründet, daß "der Kampf der widerstrebenden Elemente zu deren organischer Verbindung" führe 11 . Mit dieser vorsichtigen Zurückhaltung stand Beseler sogar Gerber näher, der eine Vereinigung der beiden Rechtsmassen gänzlich aussschloß 116 , wenngleich dies natürlich nicht darüber hinwegtäuschen darf, daß insbesonders Gerbers politische Grundhaltung dem nationaler und liberaler gesinnten Beseler ein Dorn im Auge w a r 1 1 7 . Doch von dieser Frage nach dem Verhältnis von gemeinem deutschem und gemeinem römischem Recht abgesehen, entwickelte Beseler einen neuen Vorschlag zur Lösung des Problems einer Einheit des 1 1 0
A.a.O., S.369.
1 1 1
A.a.O., S.370. Rückert kommt in seiner Studie zum Ergebnis, daß Reyscher mit dem Leben sbezug einen Bezug zu den Rechtsbetroffenen meine. Diese seien das "Leben", das "Volk" (1974, S.195). 1 1 2
A.a.O., S.370.
1 1 3
Rückert stellt noch heraus, daß bei Reyscher die Berufung auf "Leben" antreibend und vorwärtsweisend wirke (1974, S.248). Diese Deutung wird durch die hier relevante Verwendung der Lebensmetapher erhärtet: da die Einheit im "Leben" schon besteht, ist die Wissenschaft aufgefordert, auf ihrer Ebene es dem "Leben" gleichzutun. 1 1 4
Beseler 1843, S.92 und ähnlich S.231.
1
^ A.a.O., S.42f. Rückert arbeitet als weiteren Differenzpunkt Beselers positivere Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Recht heraus (1974, S.l 17). 1 1 6 1 1 7
Gerber 1846a, S.205.
Es ist nur zu erinnern an Beselers scharfes Wort in einem Brief an Reyscher aus dem Jahre 1851. Darin zeigt er sich erfreut, daß Reyscher in einem Aufsatz "den Gerber einmal ordentlich gegerbt" habe (zitiert bei Rückert 1974, S.396, vgl. dazu auch dens., a.a.O., S.l80). 6 Baldus
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
82
deutschen Privatrechts und damit zur Überwindung der Rechtszersplitterung in Deutschland 118 . Bei diesem Problem ging es ja um mehr als nur um das Verhältnis von deutschem und römischem gemeinem Recht, da die Rechtsverworrenheit im wesentlichen durch die Vielzahl der lokalen Rechte hervorgerufen wurde. Für Beseler stand außer Zweifel, daß die "zerrütteten Rechtszustände(n)" 119 nicht durch ein Gesetzbuch für ganz Deutschland gebessert werden konnten. Was zu der Zeit, als Thibaut die Forderung nach einer kodifikatorischen Einheit des Rechts erhoben hatte, nicht erreichbar war, das sei "es jetzt noch weniger", und es müssten "besonders günstige Verhältnisse eintreten, wenn es zu einer formellen Einheit in der deutschen Gesetzgebung kommen" sollte 1 2 0 . Beseler formulierte seine Antwort auf das Einheitsproblem in unmißverständlicher Weise: "So lange wir keine allgemeine deutsche Codification haben, liegt in dem Volks- und Juristenrecht die einzige Gewähr für die einheitliche Fortbildung unseres Rechtswesens, welche durch die große Thätigkeit, die jetzt in der particulären Gesetzgebung herrscht, ernstlich bedroht w i r d " 1 2 1 . Auch wenn der von Beseler in die Debatte eingebrachte Lösungsvorschlag auf den ersten Blick so wirkt, als ob er für ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Juristenrecht und dem "im Volke entstandenen und in dessen Bewußtsein lebende(n) Recht" 1 2 2 , dem Recht, "wie es noch in der Sitte und den Lebensverhältnissen sich ausspricht" 123 , einträte, so ist doch deutlich herauszuhören, welches der beiden Elemente er akzentuierte. Denn Beseler machte sich die Kritik an der Auffassung zu eigen, nach der die "Rechtswissenschaft ein selbständiges, vom Leben unabhängiges Ziel in sich trage" 1 2 4 . Beseler setzte also auf das "Volksrecht" als einheitsbegründendes Moment im einheitsbedürftigen Rechtszustand seiner Zeit. Die Innovation dieses Zustandes durch ein gesamtdeutsches Gesetzbuch entsprach gewiß seinen nationalpolitischen Wunschvorstellungen 125 , doch war er politischer Realist genug zu erkennen, daß die staatlichen Verhältnisse in Deutschland diesen Weg versperrt hielten. Sein nationaler Impetus war demgegenüber zu stark, als daß er etwa das Konzept Puchtas hinnehmen konnte, in dem allein der Wissenschaft die Aufgabe zufiel, die aus der Einheit des Volksgeistes emanierende Einheit des Rechts zu erkennen und sichtbar werden zu lassen. Mit der Losung vom "Volksrecht und Juristenrecht", aus der eine "einheitliche Fortbildung" des deutschen Rechts folgen sollte, lieferte Beseler mithin eine Einheitsformel, die auf die Problematik eines als reformbedürftig angesehe1 1 8 Beseler sieht in diesem Rechtszustand eine Konstante der deutschen Rechtsgeschichte (vgl. seine Ausführungen in 1843, S.23, 27, 53, 92,105, 115). 1 1 9
1843, S.56.
1 2 0
A.a.O., S.57.
1 2 1
A.a.O., S.362.
1 2 2
A.a.O., S.109.
1 2 3
A.a.O., S.233.
1 2 4 A.a.O, S.309. Kern ist der Ansicht, Beseler habe als Triebfeder der Refonn das Volksleben, die Wissenschaft und die Gesetzgebung "in vereinter Wirksamkeit" angesehen (1982, S.384, ebenso S.387). Kern berücksichtigt aber bei diesem Urteil die hier angeführte Wendung nicht. 1 2 5
Vgl. nur a.a.O., S.235.
III. Historische Rechtsschule
83
nen Rechtszustandes in einer Weise antwortete, die den politischen Verhältnissen Rechnung trug, aber seiner nationalen Gesinnung genügend Raum verschaffte. 7. Die Einheit des Rechtsorganismus (Puchta 1841, Jhering 1852)
a) Beslers und Reyschers Konzeptionen blieben nicht die letzten Beiträge zum Einheitsthema innerhalb des weiten Spektrums historisch denkender Autoren in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts. Auch in Jherings 1852 veröffentlichtem, dem "Andenken des großen Meisters Georg Friedrich Puchta" gewidmetem 1 2 6 ersten Band seines "Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung" kommt eine komplexe Einheitsvorstellung zum Ausdruck, die als Reaktion auf Beselers Vorschlag zur "einheitlichen Fortbildung" des deutschen Privatrechts gedeutet werden kann. Die für die Einheitsfrage entscheidende Wendung bei Jhering lautet: "In steter Abhängigkeit von dem Charakter, der Bildungsstufe, den materiellen Verhältnissen, den Schicksalen des Volks verläuft die Bildungsgeschichte des Rechts und neben den gewaltigen historischen Mächten, die dieselbe bestimmen, schrumpft die Mitwirkung menschlicher Einsicht, wenn sie statt Werkzeug Schöpferin sein wollte, in Nichts zusammen". Und im gleichen Atemzug, ohne Übergang, beschreibt Jhering seine Organismuslehre: "Die reale, objektive Schöpfung des Rechts ... läßt sich als ein Organismus bezeichnen, und an dieses Bild wollen wir unsere ganze Betrachtung anknüpfen. Indem wir dieses Bild benutzen, legen wir damit dem Recht die Eigenschaften eines Naturproduktes bei, also Einheit in Vielheit, Individualität, Wachstum von innen heraus u.s.w." 1 2 7 . Der konkrete Bedeutungsgehalt, den Jhering hier dieser Einheit als Eigenschaft des Rechts beilegt, bleibt im Verschwommenen. Auch die Formulierung, nichts sei verkehrter, ein Recht "gleich einem philosophischen System bloß von Seiten seines geistigen Gehaltes, seiner logischen Gliederung und Einheit zu beurteilen" 1 2 8 , hilft nicht entscheidend weiter. Einheit des Rechts wird man hier allenfalls als einen nicht näher spezifizierten Zusammenhalt in der Rechtsmaterie zu verstehen haben, als einen Zusammenhang, der dem 1 2 6 Zur Verwurzelung von Jherings Denken in der Theorie der historischen Rechtsschule, insbesondere in der Puchtas: Wolf 1963, S.628 und 633; Wieacker 1967a, S.450f.; Larenz 1975, S.26; Behrends 1987, S.246-252. Die hier zu besprechende Einheitskonzeption liegt noch in der Zeit vor Jherings "Bekehrung" zur Interessen- und Zweckjurisprudenz; zu dieser Wende in Jherings Denken Wolf 1963, S.646ff., Wieacker 1967a, S.451ff. oder etwa jüngst Gromitsaris 1989, S. 137 und 269. Gegen Wieacker, Larenz u.a. betont Behrends, daß Jhering auch nach seiner Bekehrung Begriffsjurist geblieben sei. Dort wo er gegen die Begriffsjurisprudenz polemisierte, habe er deren Prinzipiengläubigkeit gemeint (1987, S.256). Anzumerken ist dazu, daß Jhering auch nach seiner Krise gewiß klare Begrifflichkeit hochgeschätzt hat, der präzise Blick auf die Interessen und Werte, die den Rechtsnormen und -begriffen vorausliegen, ist aber doch ein entscheidendes und daher herauszustellendes Novum gegenüber seiner vorkritischen, einer "reinen" Begriffsjurisprudenz verpflichteten Phase. 1 2 7
Beide Zitate 1852, S.l3.
1 2 8
A.a.O., S.39.
84
Β. Einheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
Recht schon aufgrund seiner Eigenart als natürlicher Organismus anhaftet. Deutlich zeichnet sich aber die objektiv-idealistische Erkenntnishaltung ab, auf der die Jheringsche Wendung steht. Einheit ist nicht das schöpferische Produkt menschlicher Tätigkeit. Dem Recht kommt Einheit schon an sich zu. Der naturwissenschaftliche Begriff des Organismus hilft dabei, diese Eigenschaft des Rechts zu versinnbildlichen. Jhering scheint mit dieser Konzeption eine Infragestellung der Jurisprudenz als eigenständige Wissenschaft konterkarieren zu wollen, eine Infragestellung, die sich aus der so vehementen Betonung der Heteronomie des Rechts ja notwendigerweise ergibt. Die Rechtswissenschaft müsste sich zuerst in Geschichtswissenschaft und Soziologie verwandeln, um die "gewaltigen historischen Mächte", die ja nach Jhering die Bildung des Rechts bewirken, erforschen zu können. Wenn jedoch das Recht selbst eine "Einheit in der Vielheit" ist, also gegenüber anderen Einheiten abgegrenzt werden kann, erscheint es sinnvoll, auch die Untersuchung seines Innenlebens, seiner "Gliederung", wie Jhering sagt, als Aufgabe der Rechtswissenschaft zu deklarieren 129 . b) Diese Funktion kam auch Puchtas Rede von der Einheit des Rechtsorganismus zu. Puchta zufolge ist "auch die geschichtliche Thatsache, die wir das Recht nennen" ein "lebendige(r) Organismus", der eine doppelte Seite darbiete: "Er hat einmal eine Bewegung in sich, eine Gliederung: er besteht aus Gliedern, die verschieden sind, und doch durch eine Einheit, die Seele des Organismus, zusammengehalten werden. Sodann eine Beziehung zu einem höheren Ganzen, in dem er sich bewegt und dessen Glied er selbst i s t " 1 3 0 . Gegenstand der Rechtswissenschaft als einer besonderen Wissenschaft sei dabei, "das Recht lediglich als dieser besondere Organismus, abgesehen von seiner Eigenschaft als Glied des Ganzen" 1 3 1 . Für Letzteres, für diese Eigenschaft als Glied des Ganzen, sei nicht die Jurisprudenz, sondern die Philosophie zuständig 1 3 2 . Puchta scheint mit dieser Einheitsformel der problematischen Konsequenz begegnen zu wollen, die für die Rechtswissenschaft in der Lehre von der aus der Einheit des Volksgeists resultierenden Einheit des Rechts angelegt ist. Denn wenn die Rechtswissenschaft die Aufgabe hat, den Zusammenhang im Recht zu erkennen und diese Einheit des Rechts von der des Volksgeistes abhängt, so ist sie letzten Endes gezwungen, sich der Erforschung dieser Quelle allen Rechts zuzuwenden, sich also diesem "höheren Ganzen, dessen Glied es ist" zu widmen. Dies hätte zur Folge, daß an die Stelle der Rechtswissenschaft die Philosophie, insbesondere die Metaphysik treten müßte, die Rechtswissenschaft aber dann auf Eigenständigkeit keinen Anspruch mehr machen dürfte. Geht jedoch das Recht nicht gänzlich in jenem Höheren auf und besitzt es selbst eine "Seele", die seine Glieder zusammenhält, so kann auch die Rechtswissenschaft eine relative Autonomie behaupten. 1 2 9 A.a.O., S.26: "Es ist nun die Aufgabe der Wissenschaft, diese Gliederung des Rechts zu erforschen, für das Kleinste wie das Größte die richtige Stelle aufzusuchen". 1 3 0 1 3 1 1
Puchta 1841, S.95. A.a.O., S.98. A.a.O., S . .
III. Historische Rechtsschule
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c) Im Unterschied zu Puchtas Formel kann Jherings Vorstellung einer Einheit des Rechtsorganismus nicht allein als Versuch erklärt werden, die immanenten Konsequenzen der vorausgesetzten philosophischen Prämissen abzuschwächen und die ungewünschten Folgen für die eigene Wissenschaftskonzeption zu mildern. Bei Jhering bestimmt nicht die überempirische Substanz eines Volksgeistes das Recht, sondern die "historischen Mächte". In dieser Lehre hätte auch Beselers Theorie ihren Platz finden können, die im Volksrecht ein einheitsstiftendes Element erblickte. Beseler sah, wie eben gesehen, wenig Chancen für eine kodifikationserzeugte Einheit des Rechts, was ihn dazu bewogen hatte, vom Volksrecht und ein dem "Leben" nahen Juristenrecht eine stärkere Vereinheitlichung des zersplitterten deutschen Rechtszustandes zu erhoffen. Wenn nun Jhering einerseits die "historischen Mächte" und nicht die gesetzgeberische Willkür als entscheidende Faktoren der Rechtsentstehung hervorhebt, andererseits aber eine im Recht schon vorgegebene Einheit behauptet, so wirkt diese Argumentation wie eine Reaktion auf Beselers Vorschlag zur Lösung des Einheitsproblems. Jhering ist sich mit Beseler einig in der Ablehnung einer kodifikatorischen Einheit des Rechts, auch wenn bei beiden unterschiedliche Motive im Spiele sind. Doch Jhering scheut die mit Beselers Vorschlag einhergehende Politisierung des Rechtsdenkens 133 und wendet sich damit gegen den Versuch, Volksrecht als eine einheitsstiftende Kraft anzusehen. Jherings Kunstgriff, das Recht als Organismus vorzustellen, dem Einheit eigen ist, zielt darauf, die Einheit des Rechts als Aufgabe der Wissenschaft gegen die Einflüsse wissenschaftsexterner und politischer Kräfte zu verteidigen. d) Diese Erklärung der bei Jhering herauszuhörenden Betonung der Autonomie der Rechtswissenschaft wird auch durch die Beobachtung erhärtet, daß Jhering die in der Formel von der Einheit des Rechtsorganismus zugrundeliegende objektiv-idealistische Grundhaltung nicht konsequent durchhält. Denn Jhering stellt der Wissenschaft die Aufgabe, durch ihre systematisierende Tätigkeit den Stoff zu ordnen und umzuwandeln - was für die Frage nach der Einheit des Rechts nur bedeuten kann, daß sie lediglich graduell vorhanden und von der Wissenschaft zu vollenden ist. Auch Jhering muß ja eine Antwort auf die Frage geben können, wie eine Einheit des Rechtsorganismus behauptet werden kann, wenn doch gleichzeitig der Rechtsstoff oft als widersprüchlich und disharmonisch erfahren wird. Zwar deuten die bisher angeführten Stellen aus Jherings Schrift auf ein uneingeschränkt objektiv-idealistische Sichtweise. Die Verwendung der Metapher des Organismus drückt ja eine vorgegebene, innere Ordnung des Rechts aus 1 3 4 . Wenn Jhering zudem noch bemerkt, daß das System keine Ordnung sein solle, "die man in die Sache hineinbringt, sondern eine solche, die man herausholt", System also dasselbe wie die
133 vgl. dazu auch Rückert 1988, S.69f. Rückert untersucht auch Puchtas Autonomiebejahung (a.a.O, S.81ff.), erklärt sie aber nicht als Verteidigung gegen die Auslieferung der Jurisprudenz an die Philosophie, die ja in seiner Volksgeistlehre angegelegt war, sondern führt sie auf sein Interesse an liberaler Freiheitssicherung zurück. 1 3 4
Vgl. dazu auch Gromitsaris
1989, S.134.
Β. Einheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
86
"innerer Ordnung der Sache selbst" bedeute 1 3 5 , und daß zudem die "Präcipitierung der Rechtssätze im System" kein "Werk subjektiven Beliebens, keine von der Wissenschaft vorgenommene Bearbeitung des Stoffes", die "systematische Tätigkeit" dagegen nur das Erkennen der wahren Natur des Rechts" s e i 1 3 6 , dann liegt in der Tat der Schluß nahe, daß Jhering dem wissenschaftlichen Bearbeiter allein die Rolle des Betrachters und Erkennenden zuweist, nicht aber die des Bildners und Gestaltenden. Bei ihm besteht also allem Anschein nach die Trennung von vorgegebenem Stoff und hergestellter Form nicht m e h r 1 3 7 . Diese Deutung wird jedoch von anderen Jheringschen Äußerungen untergraben. So kann ihm zufolge der Gesetzgeber sich darauf beschränken, seine "Anforderungen in ihrer ursprünglichen, unmittelbar practischen Form aufzustellen", da der Wissenschaft die Aufgabe zufällt, sie "auf logische Momente des Systems zu reduzieren" und sie außerdem "zu erläutern und zu ordnen" 1 3 8 . Die Analyse der Rechtssätze bestehe darin, "daß die Wissenschaft statt der endlosen Menge der verschiedenen Rechtssätze eine übersichtliche Zahl einfacher Körper gewinnt" 1 3 9 . Die "systematische Tätigkeit", dieser "formale Prozeß" übe "eine materielle Rückwirkung auf den Stoff aus, er bewirke, daß mit den Rechtssätzen "eine innere Umwandlung vor sich" gehe 1 4 0 . So bedarf es also doch einer Zutat des Subjekts. Es bleibt also nicht lediglich beim Hervorholen des Systems aus dem Stoff. Bei diesem Vorgang ändert sich der Stoff selbst, er wird vom Subjekt geformt. Man mag darin auf den ersten Blick eine gänzlich widersprüchliche und inkonsequente Auffassung erblicken. Man kann sie aber auch als Tribut würdigen, der der Erfahrung einer in gewissen Maße schon vor jeder Bearbeitung vorhandenen Ordnung des Rechtsstoffes gezollt ist. Zur vollen Blüte wird diese Ordnung dann durch die Systematisierungsleistung der Wissenschaft gebracht. Ein solches Verständnis kann auch Jherings ausgreifende Erörterungen über die "Fundamentaloperationen der juristischen Technik" im erstmals 1858 erschienenen zweiten Band des "Geistes des römischen Rechts" erklären. Diese Technik bestehe aus der "juristischen Analyse", der "Concentration" und der "juristischen Construction des Stoffs". Bei dieser "Construction" seien wiederum drei Gesetze zu beachten: das Gesetz der Deckung 1 3 5
Jhering 1852.S.26.
1 3 6
A.a.O., S.31.
1 ΎΊ 13
Losano behauptet die Aufhebung der Trennung von Form und Stoff bei Jhering. Jhering sei auf der Suche nach einem inneren System des Rechts gewesen (1984, S.l 18), worunter Losano ein System versteht, "das sich innerhalb der Materie selbst befindet, d.h. ihr Gefüge, ihre Struktur" (a.a.O, S.l44). Diesem System stehe das äußere System gegenüber, eine "außerhalb der Materie stehende Organisation, etwa ein Netz von Längen- und Breitengraden, das das Recht umgibt und so die Orientierung erleichtert, aber nichts aussagt über die Natur des Gegenstandes, den es umgibt" (ebd.). Bei der Suche nach dem inneren System des Rechts sei er in Bedrängnis geraten und habe dann das äußere System um des inneren willen verlassen und die Elemente des einen mit dem anderen vermischt (S. 121). Die Jheringsche Lehre sage, daß das System innerhalb des Rechts liegt. Sie verböte jede Improvisation seitens der Rechtswissenschaft (S.l22). 1 3 8 1852, S.28. Kursiv von mir. 1 3 9
A.a.O., S.29.
1 4 0
A.a.O., S.26. Auf diese Stelle geht Losano mit keiner Silbe ein.
III. Historische Rechtsschule
87
des positiven Stoffs, das der juristischen Schönheit und schließlich das "Gesetz des Nichtwiderspruchs oder der systematischen Einheit". Dieses Gesetz habe nicht die Widersprüche des Gesetzgebers, sondern die Widersprüche der Wissenschaft mit sich selbst zum Gegenstand 141 . Der Begriff der systematischen Einheit ist hier also nicht im kantianischen Sinne gleichbedeutend mit dem Ziel, alle Rechtssätze aus einem einzigen obersten Grund abzuleiten. Eine solche Ordnungsleistung ist bei einem Stoff, der schon ein gewisses Maß an innerer Ordnung in sich trägt, auch nicht zwingend erforderlich. Es genügt ein auf das Prinzip der Widerspruchsfreiheit beschränkter Begriff der systematischen Einheit, der eine vollendete Ordnung des Rechtsstoffs durch die Rechtswissenschaft in Aussicht stellt. Daher beruht auch die These, die Ausführungen über die Gesetze der logischen Construction veranschaulichten, wie sehr sich Jhering von der im ersten Band dargelegten Auffassung entfernt habe - hier System als Construction, dort ein System, das im Stoff enthalten s e i 1 4 2 - nicht auf einer zwingenden Argumentation. Denn die Ansicht, beide Systembegriffe seien nicht miteinander zu versöhnen, läßt unberücksichtigt, daß etwas Keimhaftes, in Vorformen Vorhandenes durch seine Bearbeitung in einen weiter entwickelten, verfeinerten, ja vielleicht sogar vollendeten Endzustand gebracht werden k a n n 1 4 3 . Dieser Zustand kann nach Jherings Sicht nicht durch eine Kombination von Volksrecht und Juristenrecht herbeigeführt werden. Es fällt in die Kompetenz der Rechtswissenschaft, die vorhandene Einheit im Recht zu erkennen und sichtbar zu machen, sowie das Maß an Einheit, das zur Verbesserung des gegenwärtigen Rechtszustandes noch fehlt, durch konstruktive Rechtsarbeit herzustellen. 8. Zusammenfassung
Die vorstehend ausgebreiteten Einheitsformeln, die von den Autoren der historischen Rechtsschule gebraucht werden, nehmen allesamt Stellung zu einem der drängendsten rechtspolitischen Probleme ihrer Zeit. Gleichgültig, in welches terminologischen Gewand diese Formeln gekleidet sind, ob von einer "inwohnenden Einheit des Rechts" oder der "inwohnenden und zu vollendenden Einheit" (Savigny), der aus der Einheit des Volksgeistes emanierenden Einheit des Rechts (Puchta), der "Einheit des Deutschen Rechts" (Eichhorn, Reyscher), der "einheitlichen Fortbildung des deutschen Rechtswesens" (Beseler) oder der Einheit des Rechtsorganismus (Jhering) die Rede ist, immer beziehen sich diese Wendungen auf die verworrene Mannigfaltigkeit des
1 4 1
1858, S.374.
1 4 2
Losano 1984, S.l27.
1 4 3 Bei Losanos Deutung bleibt letzten Endes nur die Möglichkeit, in Jherings Denken einen jähen Riss festzustellen, gepaart mit dem Vorwurf der Naivität. Im übrigen ist Losanos Anmerkung, bei Savigny und Puchta ginge die Einheit des Systems aufgrund "eines Modells kantianischer Herkunft" aus etwas Idealem hervor (ebd., S.l 19), den verschiedenen Einheits- und Systembegriffen dieser Autoren nicht angemessen.
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Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
bürgerlichen Rechts in Deutschland, auf den der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hinderlichen, daher problemträchtigen und veränderungsbedürftigen Zustand der Rechtszersplitterung. In jenen Einheitsformeln, die in dieser Lage ihren realgeschichtlichen Ort haben, fließen sachliche Analysen, politische Hoffnungen sowie philosophisch-theoretische Dispositionen zusammen. Sie fungieren dabei entweder als Abwehrreaktion oder als Alternativvorschlag gegenüber Thibauts und Gönners Forderung, die Einheit des Rechts durch eine sich auf ganz Deutschland erstreckende Kodifikation herbeizuführen. Eine defensive Haltung nimmt sowohl Savignys Konzept einer dem Recht inwohnenden Einheit ein, obgleich in seinen Hauptwerk deutlich wird, daß diese Einheit nicht vollkommen, sondern nur graduell vorhanden sein kann und daß das noch fehlende Maß allenfalls durch die Rechtswissenschaft zu erarbeiten ist. Dies gilt in gleicher Weise für Puchtas These einer schon vorgegebenen, durch die Einheit des Volksgeistes gesicherten Einheit des Rechts, die durch gesetzgeberische Handlungen nur gestört werden kann. Aber auch Beselcrs Formel von der durch Volksrecht und Juristenrecht gewährleisteten "einheitlichen Fortbildung des deutschen Rechtswesens" ist durch Thibauts und Gönners Einheitspostulat veranlaßt. Angesichts der realen politischen Lage Deutschlands konnte eine kodifikatorische Lösung des Einheitsproblems nur als Illusion erscheinen. Aus diesem Grunde schlug Beseler zur Verbesserung des verworrenen Rechtszustandes die Alternative einer Kombination von Volksrecht und Juristenrecht vor. Jherings Metapher vom Rechtsorganismus, dem Einheit als natürliche Eigenschaft zukommt, versucht dann, gegen Bcselers Vorschlag gerichtet, das Einheitsproblem als Fragestellung einer autonomen Rechtswissenschaft zu verteidigen und einer Politisierung entgegenzuwirken, die in Beselers Konzept angelegt war. Auch wenn das weitere Schicksal dieser auf das Problem der Rechtsverworrenheil bezogenen Einheitsformeln in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hier nicht weiter verfolgt wird, so ist doch leicht vorzustellen, daß sich mit der Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands auch das Problem jener Einheit des bürgerlichen Rechts entschärfen mußte. Spätestens mit Inkrafttreten des BGB im Jahre 1900 war das Problem gelöst, über das mit den vorstehend untersuchten Einheitsformeln gestritten wurde. Damit waren freilich noch längst nicht alle Fragen beantwortet, die in der Rede von der Einheit des Rechts angesprochen waren. Zu klären war nun, ob ein Gesetzbuch selbst als Einheit gedacht werden konnte. Diese Frage findet sich schon in Savignys Analyse des Code Civil aus dem Jahre 1814, dem er fehlende "organische Einheit" bescheinigte. Daneben traten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und vor allem im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert bedeutungsvolle Versuche auf, die Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit, nicht nur in einem ihrer Teilbereiche, als Einheit vorzustellen.
IV. Juristischer Positivismus und Neukantianismus
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IV. Juristischer Positivismus und Neukantianismus 1. Die Einheit des Rechts durch einen Allgemeinen Teil der Rechtswissenschaft (Merkel 1874)
a) Die Einheit des gesamten Rechts, nicht nur die Einheit eines seiner Teilbereiche, thematisierte Adolf Merkel im Jahre 1874 in seinem Aufsatz "Ueber das Verhältnis der Rechtsphilosphie zur 'positiven' Rechtswissenschaft und zum allgemeinen Theil derselben". In dem Versuch Merkels, eine solche Einheit zu denken und zu begründen, spiegeln sich die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verstärkt zu beobachtenden Anstrengungen wider, den von der historischen Rechtsschule gesteckten Problem- und Methodenrahmen zu durchbrechen. Inbesondere die Theorien Puchtas und des noch nicht zum Zweckdenken konvertierten Jhering führten zu einer unhistorischen, die sozialen und politischen Bedingtheiten des Rechts in den Hintergrund drängenden Begriffsjurisprudenz, die in der Pandektenwissenschaft der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand 1 . Zur gleichen Zeit provozierte diese Entwicklung Gegenströmungen, durch die die Rechtswissenschaft dazu gedrängt wurde, Recht wieder stärker in der "Wirklichkeit" 2 und den "Tatsachen des sozialen Lebens" 3 zu verorten. Diese Wende im Rechtsdenken wird auch durch den genannten Aufsatz von Merkel repräsentiert. Auch er fordert die Rechtswissenschaft auf, "die Seite des wirklichen Lebens, auf welche Wort und Begriff des Rechts hinweisen, zu begreifen" 4 . Doch damit spricht er keinesfalls einem reinen Rechtsrealismus das Wort. Sein eigentliches, deutlich im Vordergrund stehendes Anliegen besteht in der Neubegründung der Rechtsphilosophie, die sich in seinen Augen gerade nicht darin erschöpfen darf, das Recht allein in seine Realfaktoren aufzulösen 5. b) Merkel legt in seinem Aufsatz detailliert Rechenschaft über die Motive seines Wiederbelebungs- und Rehabilitierungsversuchs der Rechtsphilosophie ab. Zunächst greift er den "Standpunkt der historischen Schule" an, der für viele mit der "Todeserklärung" der Rechtsphilosophie gleichbedeutend sei 6 . Zu diesem komplexen Vorgang, der hier nur angedeutet werden kann: Wilhelm S.80ff., 88ff.; Böckenförde 1964, S.26f.; Wieacker 1967a, S.430ff. 2
Wieacker
3
Wolf 1963, S.625. Zu dieser Gegenbewegung allgemein auch Böckenförde
1958,
1967a, S.449. 1964, S.28ff.
4
1874, S. 418; Die hier zitierte Wendung Merkels widerlegt auch von Oertzens Auffassung, daß Merkel mit dem hier besprochenen Aufsatz das Programm des formalistischen Positivismus, der das Recht als frei schwebendes, durch seine innewohnende Vernunft getragenes System begreife, entwickelt habe (1974, S.260). Zu Merkels Ansatz, Jurisprudenz als realistisch betriebene und für die Verwendung sozialwissenschaftlicher Methoden optierende Wissenschaft aufzufassen: Dornseifer 1979, S.18ff.; Frommel, 1987, S.47ff. 5 Dornseifer (1979, S.25) stützt sein Urteil, Merkel nähme zwischen eindeutig idealistischen und naturalistischen Theorien eine vermittelnde Position ein, auf spätere Arbeiten Merkels. Diese Position ist aber schon in Merkels programmatischem Aufsatz von 1874 erkennbar. 6 A.a.O., S.l. Merkels Wort von der "Todeserklärung" könnte unmittelbar auf Windscheids Bemerkung gemünzt sein, wonach der "Traum des Naturrechts" ausgeträumt sei und die "titanenhaften Versuche der neueren Philosophie" den "Himmel nicht gestürmt" hätten (1854, S.9).
90
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
Die historische Schule, so wendet Merkel ein, habe selbst von einem philosophischen, zudem einseitigen und ergänzungsbedürftigen Kern gelebt. Neben dem Hinweis auf die nachlassende Überzeugungskraft und Geltungsstärke ihrer Theoreme knüpft Merkel an eine allgemeine Tendenz an, die in den verschiedensten Wissenschaften wahrzunehmen sei. Nachdem man lange "dem Cultus des Einzelnen in einer ausschließlichen Weise gelebt" habe, lasse sich nun das Bedürfnis nach einer umfassenderen, die einzelnen Details verknüpfenden Erkenntnis nicht mehr zurückdrängen. Es handele sich dabei um einen Vorgang, der besonders im Bereich der Naturwissenschaften auffalle, aber in gleichem Maße in der Rechtswissenschaft, sowohl in der Rechtsdogmatik wie auch in der Rechtsgeschichte, nachzuweisen sei 8 . Auch in ihr sei das Bedürfnis geweckt, "umfassendere Gesichtspunkte und eine tiefere Einsicht in den inneren Zusammenhang der gewonnenen Daten" 9 , "allgemeinere, über die Peripherie des überlieferten Rechts hinausgreifende Gesichtspunkte" 10 zu gewinnen. Merkel gibt hier einer Fragestellung Ausdruck, die charakteristisch ist für die Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts und die zu den Enstehungsbedingungen neukantianischen Denkens zu rechnen i s t 1 1 . Die äußeren Ursachen dieses Bedürfnisses nach einem geordneten Überblick über die Flut der Einzelerkenntnisse erblickt Merkel in den tiefgehenden Gegensätzen des gesellschaftlichen Lebens, der wachsenden Bedeutung der Volkswirtschaft und den jüngsten politischen Ereignissen, also der Reichsgründung 12 . Merkel läßt nun keinen Zweifel daran, daß die ihm vorschwebende Neugründung der Rechtsphilosophie nicht ihre Reethisierung bedeuten kann. Anders als bei der "Rechtsphilosophie alten Styls", deren Philosopheme in einer Welt ausserhalb der Welt der Jurisprudenz wurzelten 13 , sei von der neuen Rechtsphilosophie "in jedem Fall zu fordern, dass sie das Recht selbst, nicht lediglich ein einzelnes Element desselben, wie es im Gerechten gegeben ist, zu ihrem Gegenstand mache" 1 4 . Merkel greift bei diesem Neugründungsversuch auf eine in der Philosophie herrschende, aber "auf das gesammte Gebiet der menschlichen Wahrnehmungen" auszudehnde Denk- und Arbeitsweise zurück. Durch "philosophische Arbeit", so schreibt er, würden "die Elemente bestimmt, auf welche die Erscheinungen eines betreffenden Gebietes zurückzuführen sind, und das allgememeine Verhalten dieser Elemente und ihrer Verbindungen zu einander festgestellt", "die causalen Beziehungen dargelegt, welche unter den Einzelheiten im Umkreis unseres Wissens bestehen" und 7
Merkel 1874, S.l f.
8
A.a.O., S.2f.
9
A.a.O., S.4.
1 0 11
Merkel 1974, S.5. Vgl. Lübbe 1960, Sp. 1005.
1 2
A.a.O., S.4f.
1 3
A.a.O., S.406.
1 4
A.a.O., S.414. Merkel bemerkt auch, daß die Ausdrücke "positive Rechtswissenschaft" oder "positives Recht" Tautologien seien, "da das Moment der äusseren Geltung bereits im Begriff des Rechts enthalten" sei (a.a.O., S.403).
IV. Juristischer Positivismus und Neukantianismus
91
diese zu einem Ganzen verbunden. "Dieser Weg zur Einheit" gehe "durch die Trennung, und jenes Aufsteigen vom Besonderen zum Allgemeinen" bilde einen Bestandteil jener Arbeit, die auch von der Rechtswissenschaft zu verrichten sei. Denn von ihrem Gelingen hänge es ab, ob die Jurisprudenz als Wissenschaft gelten kann: "Die Frage, ob dieses Element" - gemeint ist damit die philosophische, auf Herstelllung der Einheit gerichtete Tätigkeit - "im Bereiche der Jurisprudenz Geltung habe", sei "identisch mit der Frage, ob dieselbe als Wissenschaft anzuerkennen sei" 1 5 . Die Resultate dieser auf den Gebieten der "juridischen Partialdisziplinen" durchgeführten Arbeit sollen nun, so schlägt Merkel vor, in einem "Allgemeinen Theil" derselben niedergelegt werden. Hier fänden "sich die Elemente, aus welchen die besonderen Rechtssätze sich zusammensetzen, an sich und in ihrem allgemeinen Verhalten zu einander charakterisiert". Durch diesen allgemeinen Teil erführen die speziellen Normen "ihre Begründung und zugleich ihre Verknüpfung zu einem einheitlichen Ganzen" 16 . Doch die philosophische Arbeit der Jurisprudenz beschränke sich keineswegs allein auf die Herstellung eines allgemeinen Teils der jeweiligen Teildisziplinen. Sie greift darüber hinaus: "das Ganze der Rechtswissenschaft" muß und wird "zu seinem allgemeinen Theile kommen und in ihm den Ausdruck und die vollständige Realisierung seiner Einheit finden. Jene allgemeinen Theile der juridischen Partialdisciplinen haben in ihm ihre Verknüpfung und nothwendige Ergänzung zu suchen" 17 . Merkel umreißt Merkel dabei auch knapp einige methodische Regeln, mit deren Hilfe die von ihm gemeinte Einheit verwirklicht werden kann: so seien die auf verschiedenen Rechtsgebieten verwendeten Rechtsbegriffe und -figuren untereinander zu vergleichen, die Entwicklungsgeschichte des Rechts zusammenfassend darzustellen und durch eine "Geschichte ihres Hervorwachsens aus dem gemeinsamen Stamm" zu ergänzen 18 . In einer mit Hilfe dieser Methodik angeleiteten Arbeit finde die neue Rechtsphilosophie ihren Gegenstand 19 . Damit ist deutlich geworden, welche Rechtsphilosophie Merkel vor1 5
A.a.O., S.6.
1 6
Vorstehende Zitate a.a.O., S.7. Es würde in die Irre führen, Merkels Vorschlag zur Erarbeitung eines allgemeinen Teils des Rechts in die Tradition der Ausbildung eines allgemeinen Teils des Pandektensystems zu stellen, die aus der naturrechtlichen Jurisprudenz herauswuchs; dazu Schwarz (1921, S.588) und Lipp (1980), der die Linie sogar bis in das Naturrecht der späten Scholastik zieht. Beide Ansätze haben allenfalls die Eigenart jedes systematischen Bestrebens gemein, eine Ordnung des Stoffes durch Verallgemeinerungen und Abstraktionen zu erreichen. Das Ordnungsbedürfnis Merkels scheint genuin aus seiner Zeit heraus geboren zu sein. Triftiger ist eher die Frage, ob Merkel in seinem programmatischen Text die zeitgenössische politische und juristische Entwicklung zu Ausdruck bringt, die zur Entstehung des Interventionsstaates im zweiten Kaiserreich geführt hat. Die Eingriffe des Staates in den gesellschaftlichen Bereich hatten selbst in der Hochphase des Wirtschaftsliberalismus eine immense Normenflut zur Folge, die ein beträchtliches Ordnungsbedürfnis schuf. Dieses Bedürfnis schlug sich u.a. in der Ausbildung des Verwaltungsrechts als eigenständiger Disziplin sowie in der Erarbeitung eines Allgemeinen Teils desselben nieder (dazu Stolleis 1989). 1 7
A.a.O., S.8.
1 8
A.a.O., S.9.
1 9 A.a.O., S.408. Merkel will dies auch dadurch zum Ausdruck bringen, daß der Ausdruck "Rechtsphilosophie" auf den "mehrerwähnten allgemeinen Theil der Rechtswissenschaft" übertragen werden soll (ebd.).
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Β. Einheitsfomeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
schwebt: sie greift nicht mehr in Sphären aus, die nur mit spekulativen und metaphysischen Prinzipien bewältigt werden können, sondern widmet sich allein dem positiven Recht, unterzieht dieses einer induktiven Analyse und bildet so einen allgemeinen Teil heraus. Mit einem Wort: es geht Merkel um Rechtsphilosphie als Theorie des positiven Rechts. c) Merkel, der aufgrund dieser Lehre als Begründer der allgemeinen Rechtslehre angesehen w i r d 2 0 , hat damit eine Einheitsformel entwickelt, die ganz dem Denken des juristischen Positivismus entspricht 21 . Merkel erkennt grundsätzlich die soziale Bedingtheit des Rechts an, dessen Einheit sucht er aber allein aus den positiven Rechtsnormen herauszudestillieren. Kurz: Der Grund der Einheit des Rechts findet sich im Recht selbst. Diese Konzeption entspricht in ihrem sachlichen Gehalt ganz der Einheitsformel, die von Thibaut und Zachariae um die Wende zum 19. Jahrhundert verwendet wurde, um die zum Wissenschaftskriterium erhobene Ordnung des positiven Rechts durch die Rückführung seiner Sätze auf allgemeine Grundsätze, im besten Fall auf einen einzigen höchsten Grundsatz, zu bezeichnen 22 . Allerdings mißt Merkel seiner Einheitsformel noch andere Funktionen als die zu, die Jurisprudenz als Wissenschaft zu rechtfertigen und durch die Herausarbeitung allgemeiner, leitender Gesichtspunkte zu verhindern, daß sie in der Flut ihrer Einzelerkenntnisse ertrinkt. "Das Verständnis des inneren Zusammhangs der Rechtsnormen", das durch den allgemeinen Teil vermittelt werden soll, habe Bedeutung auch für "die Auslegung und die widerspruchslose und gleichmäßige Verwirklichung der geltenden Normen, wie für deren Fortbildung" 23 . Und schließlich dient seine Theorie einer Einheit des positiven Rechts durch die Herausarbeitung eines allgemeinen Teils dazu, die Autonomie der Rechtswissenschaft nachzuweisen. Denn, so argumentiert Merkel, "wenn wir den Wurzeln des Rechts nachgehen, so gelangen wir in die Gebiete verschiedener Wissenschaften", das "Ganze des Rechts aber gehört keiner von diesen an". Wo diese "bedeutsame Verbindung in Frage steht, da befinden wir uns innerhalb derselben im Gebiete der Rechtswissenschaft, deren Einheit und Selbständigkeit sich in der Einheit und Eigenthümlichkeit ihres Objects" begründe 24 . Dieses Bestreben, durch einen allgemeinen Teil die Einheit des Rechts zu erweisen und damit ein Fundament für die Annahme einer Autonomie der Rechtswissenschaft zu legen, erklärt sich aus einer für die zweite Hälfte des 19.Jahrhunderts signifikanten Entwicklung des allgemeinen philo2 0 A. Kaufmann 1989, S.82. Radbruch bezeichnete die Allgemeine Rechtslehre als Euthanasie der Rechtsphilosophie (1973, S.l 10). 2 1 Mit dem Ausdruck "juristischer Positivismus" soll hier kein Ordnungsbegriff eingeführt werden, um dann aus ihm "abkürzend" zu argumentieren (vgl. die Kritik Rückerts an Begriffen wie Historismus, Formalismus, Positivismus, etc.(1988, S.59); vgl. ebenfalls Frommel, die "das in Deutschland nicht mehr aussagefähige Wort 'positivistisch'" vermeiden möchte (1987, S.48)). Hier ist mit dem Wort "juristischer Positivismus" das Bestreben gemeint, Recht ohne eine bewußte vorgefaßte metaphysische Grund- und Werthaltung so weit wie nur möglich aus sich selbst heraus zu erklären, ohne daß seine soziale Bedingtheit ignoriert wird. 2 2
Oben Kapitel B.LI.
2 3
Merkel 1874, S.420.
4
A.a.O., S . .
IV. Juristischer Positivismus und Neukantianismus
93
sophischen, aber auch des juristischen Denkens. Das Verschwinden der großen metaphysischen Systeme, insbesondere des Hegeischen Systems, hatte einmal zur Folge, daß sich im Zuge des Aufschwungs der Naturwissenschaften die Einzelwissenschaften auf ihren konkreten Gegenstandsbereich und damit auf die Erarbeitung positiver, empirisch nachprüfbarer Detailerkenntnisse konzentrierten. In der Erkenntnistheorie schoben sich zunehmend empirisch-physiologische Begründungen des Erkenntnisaktes in den Vordergrund^ 5 . Parallel dazu traten in der Rechtswissenschaft Kräfte auf, die das Recht im wesentlichen aus seinen sozialen und ökonomischen Ursachen zu erklären bemüht waren 2 6 . Diese Bestrebungen schufen für das Selbstverständnis der Rechtswissenschaft eine prekäre Problemlage. Denn wenn die soziale Bedingtheit und Funktion des Rechts als Essentiae der Rechtswissenschaft eine Vorrangstellung einzunehmen beginnen - Merkel hatte ja selbst dazu aufgefordert, die dem Recht anhaftende "Seite des wirklichen Lebens" zu begreifen - besteht für sie die Gefahr, sich in ein Konglomerat von Soziologie, Psychologie und Wirtschaftslehre aufzulösen. Die Behauptung einer Einheit des Rechts als Begründung der Autonomie der Rechtswissenschaft wirkt dieser Gefahr entgegen und verhilft dazu, ein Residuum eigenständiger juristischer Arbeit zu verteidigen. d) Merkel hat keinen Hehl daraus gemacht, daß seine Einheitstheorie einen ausschließlich programmatischen Charakter trug: "Dass ein Zusammenhang zwischen den Rechtsbestimmungen bestehe", so gesteht er freimütig ein, "ist im Bisherigen mehr vorausgesetzt als bewiesen worden" 2 7 . Dadurch wird auch Merkels etwas hilflos wirkende Reaktion auf Kirchmanns Kritik der Vorstellung einer Einheit des Rechts erklärlich. Nach Kirchmann besteht der "Stoff des Sittlichen", zu dem er auch das Recht zählt, "aus zufälligen, unzusammenhängenden, zerstückelten, oft dunklen Geboten verschiedener Autoritäten". Die Wissenschaft könne diese Mängel des Stoffes nicht überwinden, ihre Begriffe, so schreibt er in seiner Schrift über "Die Grundbegriffe des Rechts und der Moral", blieben unsicher und ihre Regeln würden von zahlreichen Ausnahmen durchlöchert. Es fehle "der Zusammenhang und die Einheit, welche in der Naturwissenschaft durch die überall gleichen elementaren Stoffe und Kräfte gegeben" seien 28 . Merkel weiß darauf lediglich zu erwidern, daß er nicht an der Möglichkeit zweifele, "eine sachliche Grundlage des Rechts und einen inneren Zusammenhang seiner Bestimmungen darzuthun".
2 5
Zum Vorstehenden Lübbe I960, Sp. 1005f.; Gadamer 1989, S.215.
2 6
Dazu Wieacker
1967a, S.S.449ff. und 563ff.
2 7
A.a.O., S.420. Insofern ist von Oertzen Recht zu geben, daß das von Merkel geforderte Programm einer Allgemeinen Rechtslehre nicht geschaffen worden ist (1974, S.261). Doch daß der letzte Versuch, dieses Programm zu erfüllen, die Reine Rechtslehre Kelsens, "in der Absurdität" geendet habe (ebd.), sagt mehr aus über den an einer Desavouierung des juristischen Positivismus interessierten Kritiker Kelsens, als über Kelsens Werk selbst. Dies wird im Kapitel C.IV. erkennbar werden. 2 8
Kirchmann 1873, S. 178.
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Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
Er weist der "fortschreitenden Wissenschaft" die Aufgabe zu, den "entscheidende(n) Beweis" zu erbringen 29 . 2. Die Einheit des Rechts durch den Begriff des Rechts (Stammler 1911)
a) Es hat den Anschein, als habe sich Rudolf Stammler durch Merkels Auftrag, die Einheit des Rechts aufzuzeigen und zu begründen, verpflichtet gefühlt, da er in seinem Werk die Merkeische Fragestellung aufgreift und zu beantworten sucht. Stammler, der in seinen Schriften unmittelbar zu Merkels Einheitsformel Stellung n i m m t 3 0 , konzipiert aber eine originäre Theorie der Einheit des Rechts, die mehr und etwas anderes ist als eine bloße Weiterentwicklung der Lehre Merkels. Sie ist vielmehr reiner Ausdruck neukantianischen Denkens, das in Merkels Lehre nur eher keimhaft enthalten war. Stammlers Einheitstheorie geht hervor aus einer Motivlage, die für seine Zeit charakteristisch war 3 1 . Auf die Abwendung vom idealistisch-spekulativen Denken und dem Aufkommen empirisch-physiologisch ausgerichteter Erkenntnistheorien folgte in der Philosophie des letzten Jahrhundertdrittels eine Rückbesinnung auf kantische Fragestellungen 32 . Die Marburger Schule (Cohen, Natorp, Cassirer) suchte davon ausgehend die Möglichkeit reiner naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu begründen und gewann dabei eine Lösung des Problems der Erkenntnistheorie: das Prinzip der Erzeugung des Gegenstandes durch das individuelle Denken. Die Erneuerung der kantischen Philosophie führte aber nicht nur zu einer Antwort auf die Frage, wie reine Naturwissenschaft zu rechtfertigen sei, sondern mündete ebenfalls in den Versuch, die Möglichkeit von Geisteswissenschaft, insbesondere der Geschichtswissenschaft, zu begründen. Die entscheidende theoretische Frage war dabei, was eine bestimmte Tatsache zu einer historischen Tatsache macht, was also den historischen Gegenstand und die historische Frage definiert. Die Antwort des südwestdeutschen Kantianismus (Windelband, Rickert, Lask) gipfelte in der Entwicklung einer allgemeinen Werttheorie (vor allem durch Rickert), die die Kriterien an die Hand gab, mit deren Hilfe aus einem bloßen Geschehen eine historische Tatsache wurde 3 3 . Diesen Vorgängen entsprach in der Rechtsphilosphie das Bemühen, gegenüber einem juristischen Positivismus, der sich im wesentlichen nur mehr dem geltenden kontingenten positiven Recht zuwenden kann und sich auf dessen technische Analyse und Syste2 9
Merkel 1874, S.421.
3 0
Stammler 1923, S.374f. Dazu sogleich.
3 1
Binder berichtet zwar von einem Selbstzeugnis Stammlers, in dem er sich als Philsosophen bezeichnet habe, der "von kaum einem anderen wirklich beeinflußt" worden sei als von Piaton (Binder 1937/38, S.433). In Stammlers Denken finden sich aber eine solche Anzahl von, freilich weiterentwickelten Denkfiguren, Prämissen und Resultaten der Philosophie Kants, die dazu berechtigen, Stammler dem Neukantianismus zuzuschlagen. 3 2 Lübbe 1960, Sp.1005; Gadamer 1989, S.215. Gadamer weist a.a.O. darauf hin, daß die Abkehr von der idealistischen Spekulation selten ohne positive Bezugnahme auf Kant geblieben sei. 3 3
S.215ff.
Zum Ganzen: Lübbe Sp. 1006ff.; Ollig 1979, S.l 1 Iff., 118ff., 121ff.; Gadamer 1989,
IV. Juristischer Positivismus und Neukantianismus
95
matisierung konzentriert, wieder die Frage nach einem Maßstab zur Geltung zu bringen, mit dem positives Recht auf seine werthaft verstandene Richtigkeit hin überprüft werden konnte 3 4 . Diese Bestrebungen mündeten in Radbruchs Aufstellung einer Wertetrias von Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit 35 , aber auch in Stammlers "Lehre vom richtigen Recht", die allerdings keinen fest fixierten Komplex materialer Gerechtigkeitsprinzipien, sondern lediglich ein formales Verfahren beinhaltete, mit dessen Hilfe ein gegebener Rechtsinhalt analysiert werden kann 3 6 . b) Doch der Neukantianismus, in weitem Sinne verstanden als Aufgreifen und Wiederbelen kantischer Themen, hat sich zu Beginn des 20.Jahrhunderts in der Jurisprudenz nicht nur in der Konzeptualisierung überpositiver Rechtstheorien niedergeschlagen. Auch Stammlers Versuch, eine Einheit des Rechts zu begründen, fußt auf einem Element der kantischen theoretischen Philosophie. Dies deutet sich schon dadurch an, daß Stammler es als unsterbliches Verdienst der kritischen Philophie Kants herausstellt, den Einheitsgedanken "in Fragestellung und Methode eingeführt zu haben" 37 . Die kantische Herkunft von Stammlers Einheitsbegriff wird untermauert durch die Funktionen, die er ihm zuschreibt: durch den Nachweis einer Einheit des Rechts könne das Bedürfnis nach einer Ordnung des mannigfaltigen und vielgestaltigen Rechtsstoffs befriedigt und die Jurisprudenz als Wissenschaft ausgewiesen werden. Wörtlich heißt es in der 1911 erschienenen "Theorie der Rechtswissenschaft": "Wenn eine wissenschaftliche Betrachtung des Rechtes sein soll, so ist das nur möglich, sofern eine einheitliche Art und Weise statthat, in der der so stark zersplitterte und so verschiedene Stoff der geschichtlichen Rechte aufgenommen und begriffen w i r d " 3 8 . Zur Rechtfertigung der Jurisprudenz als Wissenschaft bleibe kein Weg als "als das Herausarbeiten der Einheit der reinen Rechtsgedanken, unter deren Voraussetzung allein die feste Ordnung unseres rechtlichen Bewußtseins begründet" sei 3 9 . Bei diesen Formulierungen treten alle Eigenarten von Kants Vorstellung einer "Einheit mannigfaltiger Erkenntnisse" vor Augen 4 0 . Stammlers Rückgriff auf Kants Einheitsbegriff erfolgt gewiß nicht ohne äußere Gründe, wobei sich eine Parallele zu den juristischen Autoren der Wende zum 19.Jahrhundert aufdrängt. Auch sie ließen sich von Kant bei ihrem Streben nach neuen Ordnungsmodellen inspirieren, mit denen sich der problem trächtige Zustand der Rechtszerplitterung auf der Ebene der wissenschaftlichen Bearbeitung des positiven Rechts entschärfen 3 4
Welzel 1962, S.186f; Weber 1980, S.508.
3 5
Radbruch 1973, S.l64ff.; dazu Kaufmann 1989,S.90ff.
3 6
Stammler 1926, S.55; dazu Welzel 1962, S.51; Larenz 1975, S.95ff.; Kaufmann 1989, S.80.
3 7
1923, S.376. Er benennt zudem Sokrates als denjenigen, "der dem bloßen Wirrwarr von konkreten Sondererlebnissen den Gedanken ihrer einheitlichen Bearbeitung und Beherrschung gegenüberstellte" (ebd.). 3 8
1911, S.183.
3 9
A.a.O., S.32. Oder: "Wenn Jurisprudenz eine Wissenschaft sein soll, so muß eingesehen werden, wie sie den verschiedenen Stoff menschlichen Wollens in Einheit zu bestimmen in der Lage ist" (a.a.O., S. 344). 4 0
Vgl. oben Kapitel B.I.3.b).
96
Β.
inheitsforeln in Rechtsheorie und Zivilrechtswissenschaft
ließ 4 1 . Gewiß hatte sich durch die seit der Reichsgründung erfolgten Kodifikationen die Situation entspannt. Die Rechtslage in Deutschland war zu Zeiten Stammlers eine andere als zu Zeiten Thibauts, Feuerbachs und Zachariaes. Doch wenn nun die Rechtsordnung insgesamt, nicht nur einer ihrer Teilbereiche in den Blick geriet, der seit der Reichsgründung sich herausbildende Interventionsstaat zudem zu einer immensen Normenflut geführt hatte 4 2 und der die Epoche des allgemeinen, aber auch den des juristischen Positivismus kennzeichnenden "Cultus des Einzelnen" (Merkel) überwunden werden sollte, so war auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Anlaß genug, die Möglichkeit einer Einheit des Rechts zu thematisieren. Außerdem war die von Merkels Aufsatz aus dem Jahre 1874 aufgeworfene Frage, ob und wie die Rechtswissenschaft durch den Nachweis der Einheit ihres Gegenstandes ihre Autonomie untermauern kann, immer noch nicht beantwortet und zudem noch relevanter geworden, da seit der Mitte des 19.Jahrhunderts der juristische Naturalismus und Realismus immer stärker dazu drängte, das Recht in seine Realfaktoren aufzulösen und aus der Rechtswissenschaft eine Naturwissenschaft zu machen. c) In dieser Lage - eine zeitbedingte Konjunktur der theoretischen Philosophie Kants, ein ebenfalls in jener Zeit wirkendes Bedürfnis nach übergreifender Ordnung des mannigfaltigen Rechtsstoffs, sowie eine Infragestellung der Jurisprudenz als eigenständige Wissenschaft durch ein starkes rechtsrealistisches Denken - formulierte Stammler seine Theorie der Einheit des Rechts. Dabei grenzt er sich auch gegenüber den bisher unternommenen Versuchen ab, eine solche Theorie zu entwickeln. Die Einheit des Rechts könne nicht, wie es bei der "dialektische(n) Metaphysik" der Fall sei, "in das Leben, in die Wirklichkeit" verlegt, nicht in etwas Inhaltlichem gesucht werden 43 . Rechtsphilosphische Erkenntnisse können für Stammler nicht von einem Standort erarbeitet werden, der sich außerhalb einer besonderen positiven Rechtsordnung befindet, da sonst die Betrachtung des Rechs viel zu leicht in ein inhaltlich schon ausgeführtes und geschlossenes philosophisches System hineingeschoben werde 4 4 . Stammler lehnt aber auch Merkels Methode vehement ab, durch eine Verallgemeinerung besonderer Inhalte bis hin zu einem Allgemeinen Teil aller rechtswissenschaftlichen Einzeldisziplinen zu einer Einheit des Rechts zu kommen. Stammlers Ansatz nach kann das Vorgehen der allgemeinen Rechtslehre, also die ausschließliche Beachtung der stofflichen Bestandteile des Rechtsinhaltes und die Hervorhebung der etwaigen gemeinsamen Besonderheiten dieses Inhalts die der neuen Rechtsphilosophie gestellten Aufgaben nicht lösen. Merkel habe übersehen, daß notwendigerweise zwischen reinen Formen des Begreifens und des Beurteilens und zwischen dem danach bearbeiteten Stoffe der Betrachtung zu unterscheiden sei 4 5 . In dieser Kritik 4 1
Kapitel B.I.
4 2
Dazu Stolleis 1989, S.l36.
4 3
1911, S.350.
4 4
1888, S.7f.
4 5
1923, S.375.
IV. Juristischer Positivismus und Neukantianismus
97
offenbart sich deutlich, wie sehr Stammler nicht nur in seiner Fragestellung, sondern auch in seiner Methode an Kant anknüpft. Die kantische Trennung von Form und Stoff 4 6 wird bei Stammler zum argumentativen Grundelement bei der Entwicklung seiner Einheitstheorie. d) Stammler reflektiert in seiner "Theorie der Rechtswissenschaft" zunächst auf einen allgemeinen, nicht bloß für die Rechtstheorie gültigen Einheitsbegriff. Er enthält bei ihm, wie schon eben gesehen, einen als Wissenschaftskriterium fungierenden 47 Gedanken, der eine notwendige 48 , nicht weiter auflösbare 4 9 und unendliche 50 Methode zur Ordnung von Bewußtseinsinhalten angibt. Diese Ordnung läßt sich nach Stammler dadurch erreichen, daß "die zusammengesetzten Vorstellungen in ihre bedingenden und ihre dadurch bestimmten Teile kritisch aufgelöst" werden. Daraus folge "ein ständiges Aufsteigen vom abhängigen zu dem es bedingenden Gedanken", bis hin zu einem Anfang, "einem Anfang im logischen Sinne, der die Denkart der unbedingten Form bedeutet" 51 . Der Gedanke der Einheit dürfe deshalb nicht als empirische, "nicht als Wiedergabe einer in Raum und Zeit bestehenden Größe" 5 2 verstanden werden, da sonst immer wieder von neuem die Frage nach dem, was hinter diesem Gegenstand steht, erhoben würde 5 3 . An oberster Stelle steht kein empirischer Gegenstand, sondern die "Vorstellung der sich unbedingt gleichbleibenden Art und Weise des Ordnens", das "überall gleiche Verfahren, das den möglichen Inhalt des Bewußtseins ordnet" 5 4 . Da der Gedanke der Einheit die oberste und überall maßgebende Bedingung aller menschlichen Einsicht ist, muß er auch Geltung für das Gebiet des Rechts beanspruchen 55 . Stammler geht sogar so weit zu behaupten, daß alles wirkliche Geschehen in rechtlichen Dingen als rechtliche Einsicht nichts bedeute, "wenn es nicht unter der obersten Einheit des Rechtsgedanken erfaßt" sei 5 6 . Mit diesem Schritt zwingt sich Stammler aufzuzeigen, ob das gesamte sich dem Betrachter darbietende Rechtsmaterial einheitlich geordnet und bestimmt werden kann, und zwar in der Weise, daß alle besonderen Inhalte des Rechts auf einen letzten logischen Grund zurückgeführt und eben dadurch als zusammenhängend gedacht werden können. 4 6
Dazu Kapitel B.I.3.2.
4 7
Stammler sieht in dem Gedanken dieser Einheit die "oberste Bedingung aller denkbaren wissenschaftlichen Erkenntnis"(1911, S.l9), "die letzte Formel, von der überhaupt alles Bewußtsein abhängig ist, das wir Wissenschaft nennen mögen"(a.a.O., S.20). 4 8 "In jedem festen Ordnen von Gedanken liegt die Voraussetzung, daß es möglich sei, die fragliche Besonderheit in einheitlicher Weise zu erfassen"(a.a.O., S.l8). 4 9
A.a.O., S.20.
5 0
A.a.O., S. 19.
5 1
A.a.O., S.18.
5 2
A.a.O., S.833.
5 3
A.a.O., S.832.
5 4
Ebd.
5 5
A.a.O., S.20.
5 6
A.a.O., S.21.
7 Baldus
98
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
Stammler sucht in einem großangelegten Versuch diesem Ziel näherzukommen. Zunächst begründet er eine Einheit der reinen Formen der Rechtsgedanken. In jedem Rechtsinhalt sei die Form eines Rechtsgedankens - definiert als die "bedingende Art und Weise, in der die Besonderheiten rechtlicher Vorstellungen geordnet werden" 5 7 - von dem durch sie selbst bestimmten Stoff unterscheidbar. Wenn die Form in Gedanken von diesem Stoff losgelöst und für sich betrachtet werde, erhalte man einen neuen Rechtsinhalt, in dem wiederum Form und Stoff "als bedingendes Verfahren des Ordnens und dadurch bestimmte Besonderheiten" getrennt werden können 5 8 . Dieses Verfahren könne so lange durchgeführt werden, bis nur mehr bedingende Gedanken übrig bleiben, also solche Gedanken, die "nichts mehr von den Besonderheiten eines wechselnden und veränderlichen Stoffes hegen, die nichts als bestimmende Formen des einheitlichen Ordnens sind". Bei ihnen handele es sich dann um die "reinen Formen", die "auch reine Rechtsgedanken heißen können". Beispiele für diese reinen Formen gäben die Begriffe des Rechtssubjekts und des Rechtsobjekts 59 . Die Trennung der reinen Formen vom bedingtem Stoff sei "nur innerhalb einer bestimmten Erfahrung möglich", in der empfindbaren Wirklichkeit kämen diese Formen allein jedoch nicht v o r 6 0 . Die Aufgabe dieser unwandelbaren Formen bestehe darin, "einen beliebigen Stoff des Wollens in seiner rechtlichen Beschaffenheit zu erfassen und grundlegend zu ordnen, ohne selbst irgend ein besonderes und begrenztes Ziel von menschlichem Bewußtsein in sich zu bergen" 61 . Die behauptete Einheit, und darin liegt Stammlers These, bilden diese Formen "unter dem Begriffe des Rechts überhaupt". Sie "stehen in einem einheitlichen Zusammenhange, da sie als bedingende Richtlinien des juristischen Denkens alle unter der gemeinsamen Bestimmung des Rechtsbegriffs selbst sich befinden" 62 . e) Es ist also der Rechtsbegriff, durch den alle reinen Rechtsgedanken miteinander verbunden sind. Durch ihn ist ihre Einheit gewährleistet. Dieser Rechtsbegriff wird gewonnen, indem das Verfahren, mit dem schon die reinen Rechtsgedanken ermittelt werden konnten, einfach weiter getrieben wird. So erheben "sich übereinander in notwendiger Folge bestimmende Begriffe über den von ihnen einheitlich bestimmten Besonderheiten, um ihrerseits wieder durch übergeordnete Formen bedingt zu werden, die nochmals unter weiteren Bedingungen stehen". Doch einmal muß alles dieses "in einer gemeinsamen obersten Spitze zusammenlaufen" 63 . Stammlers Rechtsbegriff bleibt dabei, zumindest seiner eigenen Beschreibung nach, in einer eigenartigen Schwebe 5 7
A.a.O., S.l Of.
5 8
A.a.O., S . l l .
5 9
Alle vorstehenden Zitate a.a.O. S.l3.
6 0 A.a.O., S.l4. Stammler sieht keinen Widerspruch darin, daß reine Formen in einem bedingten geschichtlichen Prozeß entstehen und doch einen unbedingten Geltungswert besitzen(a.a.O., S.l 6). 6 1
A.a.O., S.l 8.
6 2
A.a.O., S.17f.
6 3
Beide Zitate a.a.O., S . l l .
IV. Juristischer Positivismus und Neukantianismus
99
zwischen empirischer Bedingtheit und zeitloser Konstanz. Einerseits habe die Feststellung des Rechtsbegriffs nicht "aprioristisch zu geschehen, sondern in kritischer Analyse vorliegender Erfahrung, in der jener als logisch bedingendes Element enthalten ist", andererseits sei "er in seiner Eigenart dem Wandel und der Veränderung nicht unterworfen", was wechsele, das seien "die von ihm bestimmten einzelnen Geschehnisse" 64 . Stammler beläßt es nicht bei dieser allgemeinen Umschreibung, sondern konkretisiert den Begriff des Rechts schließlich als unverletzbares, selbstherrliches und verbindendes Wollen. Verbindend in dem Sinne, daß die Willensinhalte von Menschen sich wechselseitig als Mittel füreinander einsetzen 6 5 , selbstherrlich, weil dies Wollen als ein eigener Willensinhalt dem einzelnen Unterstellten beherrschend und bestimmend gegenübertritt 66 und endlich unverletzbar, weil es von bleibender Art, ein für allemal, dauernd und fest ist 6 7 . Dieser Rechtsbegriff gewährleistet aber nicht nur die Einheit der reinen Rechtsgedanken, sondern liefert zudem das Mittel, alle besonderen Rechtsinhalte, also alles Recht, als Einheit zu begreifen. Dieser Rechtsbegriff sei somit "die letzte Einheit für alles juristische Denken, die oberste Instanz für das Ordnen aller Besonderheiten in der rechtswissenschaftlichen Erwägung", er sei "die Spitze eines unter ihm abgeschlossenen Ganzen" 68 . "In der Einheit des Rechtsgedankens" - Stammler gebraucht diesen Ausdruck als Synonym für Rechtsbegriff - "ist alles formal verbunden, was nur je als bestimmter Rechtsinhalt aufzutreten vermag, und jede begrenzte und besondere Rechtsvorstellung muß auf diesen ihren logischen Urquell zurückgeführt werden können" 6 9 . Und dies impliziere sogar die Möglichkeit, die Einheit einer besonderen Rechtsordnung zu denken. Denn der Stoff einer solchen besonderen Rechtsordnung stehe ebenso unter dem Zentralbegriff des Rechts, der ihn in formaler Geschlossenheit erfasse 70 . Dieser Begriff des Rechts wird bei dem Vorhaben, alle einzelnen Rechtsfragen logisch zu beherrschen, sie in Einheit zusammenzuschließen, noch von den Grundbegriffen des Rechts (Rechtssubjekt, Rechtsobjekt, Rechtsgrund, Rechtsverhältnis, Rechtshoheit, Rechtsunterstelltheit, Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit) flankiert, den, wie Stammler sagt, "obersten Gehilfen bei 6 4
A.a.O., s.46u. 41.
6 5
A.a.O., S.92.
6 6
A.a.O., S.l Ol.
6 7
A.a.O., S.l05.
6 8
A.a.O., s. 187 u. 197.
6 9
A.a.O., S.l87. Auf S.46 heißt es: "auf jener Beschaffenheit des Rechtsbegriffs aber ruht die Einheit der Rechtsbetrachtung", auf S.370: "alle denkbaren Rechtsinhalte" sind, "sie mögen so mannigfaltig sein, wie immer sie wollen, notwendig in einer einheitlichen formalen Art zusammengeschlossen". Alle "auseinandergehenden Besonderheiten werden somit unter dem gemeinsamen Oberbegriffe des Rechtes gefaßt und demnach in einer übereinstimmenden Methode des Vorstellens bestimmt". 7 0
A.a.O. S.400.
100
Β. Einheitsformeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
dieser Arbeit". Er versteht sie als "die festen Züge, die zu den entferntesten Punkten des Reiches eilen und alles rechtlich zu bestimmende Bewußtsein der Stätte einheitlicher Zuammenfügung zuführen, Ordnung und Richtung allem einzelnen gebend". 71 . Diese Arbeit nennt Stammler "Juristische Konstruktio n " 7 2 , die mehr sei als "die bloße Zusammenfassung von mannigfaltigem Rechtsinhalte in einem einzigen, das Verschiedene gemeinsam wiedergebenden Satze" 73 und deren fester Leitsatz laute: "Jeder Versuch einer juristischen Konstruktion ist unhaltbar, der nicht unter Zurückführung auf die reinen Grundbegriffe des Rechtes unternommen w i r d " 7 4 . Kann die juristische Konstruktion bis zu einer "erschöpfenden Gliederung von einzelnen Wollen unter der Einheit des Rechtes" 75 durchgeführt werden, so ist die Aufgabe des juristischen Systems erfüllt. Alle besonderen Rechtsinhalte können dann als Einheit begriffen werden. Die Einheit des Rechts ist mithin dargetan. 0 Hinter Stammlers Begriff der Einheit des Rechts verbirgt sich sonach die Frage, wie alle besonderen Rechtsinhalte als miteinander zusammenhängend aufgefaßt werden können. Mit dem von ihm entwickelten Rechtsbegriff, den daraus fließenden Grundbegriffen und der auf ein juristisches System hinlaufenden juristischen Konstruktion entwirft er eine umfassende Theorie, mit der es gelingt, eine solche Einheit zu denken. Dies zu tun, diese Einheit zu denken, war, wie schon erwähnt, für Stammler kein Selbstzweck. Die Einheit des Rechts hat bei ihm die Funktion eines wissenschaftsbegründenden Ordnungsbegriffs, sie weist die Jurisprudenz als Wissenschaft aus 7 6 . Es ist kaum zu bezweifeln, daß Stammler damit eine Antwort zu geben versucht auf die im zweiten Drittel des 19.Jahrhunderts aktuellen Versuche, die Rechtswissenschaft als Naturwissenschaft zu konzipieren 77 . Gewiß geht es Stammler auch um die "logische Eigenart rechtlicher Erwägung als solcher" 78 , denn wenn nach der Entstehung des Rechts gefragt wird, ist der Begriff des Rechts schon vorausgesetzt, und wenn die Rechtswissenschaft zu einer Naturwissenschaft werden soll, muß zunächst das Wissen darüber vorhanden sein, was Recht ist. Doch Stammlers Versuch, auf der Grundlage seiner Einheitsformel die Jurisprudenz als Wissenschaft neu zu legitimieren, fällt objektiv in eine Zeit, in der ihr Selbstverständnis als Wissenschaft durch den juristischen Naturalismus in Frage und Diskussion geraten war. 7 1
A.a.O. S.191f.
7 2
A.a.O. S.347.
7 3
A.a.O., S.350.
7 4
A.a.O., S.355.
7 5
A.a.O., S.366.
7 6
A.a.O., S.32, 183, 344.
7 7
Anders Larenz: die Bedeutung von Stammlers "Theorie der Rechtswissenschaft" liege "nicht zum mindesten darin, daß Stammler damit der in seiner Zeit vorherrschenden Auffassung entgegen tra", nach der die Rechtswissenschaft "um 'Wissenschaft" zu sein, entweder gleich Naturwissenschaft Kausalzusammenhänge erforschen" oder "gleich der Logik und Mathematik, auf eine Lehre der Formen beschränkt bleiben" (1975, S.92) müsse. 7 8
Larenz a.a.O., S.93.
IV. Juristischer Positivismus und Neukantianismus
101
Neben dieser objektiven Funktion des Stammlerschen Einheitskonzepts sticht aber noch eine ihm immanente Problematik hervor. Stammler belastet seinen Einheitsbegriff mit dem Anspruch, durch die von ihm ausgehende Analyse der Formen des Rechts eine überzeugende Ordnung des Rechtsstoffs zu erreichen. Wenn er aber die Einheit des Rechts, also die Verbindung und den Zusammenhang im Rechtsstoff, durch den Rechtsbegriff selbst gewährleistet sieht, so heißt dies nichts anderes, als daß die Einheit des Rechts durch das erzeugt wird, was einen unbestimmten Stoff zum Rechtsstoff macht 7 9 . M i t dieser Einheit des Rechts durch den bloßen Rechtsbegriff, die durch die Grundbegriffe des Rechts noch unterstützt wird, ist aber kaum die Ordnung erreicht, die Stammler anstrebte 80 . Mit der Bestimmung dessen, was ein vorliegendes Material zu etwas spezifisch Rechtlichem macht, wird dieser Stoff allein von nicht-rechtlichem Stoff unterscheidbar, der Rechtsstoff ist dadurch aber noch keiner differenzierter strukturierten Ordnung zugeführt. Ein weiterer Einwand gegen Stammlers Einheitsbegriff ergibt sich daraus, daß er die "reine Einheit" als dem "besonderen Erkennen immanent" begreift und durch ein abstrahierendes Verfahren aus dem Rechtsmaterial schöpft, sie aber gerade nicht als Gegenstand besonderer Erfahrung verstanden wissen will. Das, was die Einheit des Rechts verbürgt, nämlich der Rechtsbegriff selbst, kann aber schwerlich als reine Form vorgestellt werden. Allein schon die Erinnerung seiner Definition (unverletzbares, selbstherrliches und verbindendes Wollen) macht einsichtig, daß es sich bei ihm um einen empirischen Begriff handelt, gewonnen durch eine Verallgemeinerung eigener Rechtserfahrungen. Die Elemente dieses Rechtsbegriffs sind alles andere als formaler Natur, sondern selbst stofflicher A r t 8 1 . So beinhaltet Stammlers Einheitsformel zwar eine Methode zur Bestimmung des Rechtsmaterials, die sich durch formale Qualitäten auszeichnet. Ihre Durchführung jedoch, also die Rückführung alles Rechtsmaterials auf den Rechtsbegriff, überschreitet den formal gesteckten Rahmen und schlägt um in eine Größe, die ihren empirischen Gehalt nicht abschütteln und daher den Anspruch, "logische Urquelle" zu sein, nicht erfüllen kann. Stammler hat die Einheit des Rechts im rein Formalen gesucht, sie aber auch nur dort gefunden, wo sie seiner Auffassung nach nie gesucht werden darf, nämlich "in dem Inhalte selbst" 82 .
7 9 Stammler sagt ausdrücklich, daß seinem Begriff des Rechts auch die Funktion zukomme, ein einzelnes Geschehnis "mit dem gerade ihm eignenden Inhalt als Recht" zu verstehen (1911, S.43). OA Vgl. die schon zitierte Äußerung, wonach es die Einheit der reinen Rechtsgedanken sei, "unter deren Voraussetzung allein die feste Ordnung unseres rechtlichen Bewußtseins begründet" werde (Stammler 1911, S.379). 8 1 Binder hat dies schon früh, vier Jahre nach Veröffentlichung von Stammlers "Theorie der Rechtswissenschaft" herausgearbeitet (1915, S.15ff.): Stammlers Verfahren sei "nichts anderes, als die von ihm als ungeeignet bezeichnete Induktion", die niemals über den Umfang des beobachteten Materials hinausreichen könne (a.a.O., S.19). 8 2
A.a.O., S.350.
102
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
V. Interessenjurisprudenz und frühe Rechtssoziologie 1. Die Einheit der Rechtsordnung als Widerspruchslosigkeit des Geseztesin halts (Heck 1906 -1932)
a) Es wurde schon mehrfach auf ein realistisches Denken verwiesen, das Rechtsnormen aus ihren gesellschaftlichen Bedingungen sowie sozialen Funktionen zu erklären versuchte und damit seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer Begriffsjurisprudenz entgegentrat, die die realen Grundlagen des Rechts aus der Rechtsbetrachtung weitgehend zurückgedrängt hatte. Dieses Denken gewann zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine solche Wirkungsmacht, daß es im Umkreis eines wiederbelebten Kantianismus zur Rehabilitierung einer über das positive Recht hinausreichenden Rechtsphilosophie und insbesondere bei Stammler, wie eben gesehen, zu einer komplexen Theorie der Einheit des Rechts führte. Dabei ist bisher offengeblieben, ob und in welcher Weise diese rechtsrealistische Strömung selbst eine Vorstellung von der Einheit des Rechts entwickelte. Lediglich bei Merkel war zu beobachten, daß er die Rechtswissenschaft aufforderte, die "Seite des wirklichen Lebens" zu betrachten, obgleich dieser Ansatz nicht auf seine Einheitskonzeption entscheidend durchschlug. Eine Antwort auf die Frage, welcher genaue Zusammenhang zwischen der erkannten Abhängigkeit des Rechts von seinen Realbedingungen und der Einheitsvorstellung besteht, verspricht aber das Werk Philipp Hecks, dem ersten Begründer der lnteressenjurisprudenz 1. Diese Lehre zeichnet sich nach Hecks eigenem Selbstverständnis durch die Grundanschauung aus, "daß die Rechtssätze nicht hervorgehen aus Vorstellungen, die sich in dem Gemeinbewußtsein hinsichtlich der juristischen Struktur von Rechtsgebilden entwickelt haben, sondern daß sie hervorgehen aus der Entscheidung angeschauter Interessenkonflikte, entschieden nach dem Werte, den die Rechtsgemeinschaft den beteiligten Interessen beilegt" 2 . Diese Grundanschauung bedeutet für die Rechtsbetrachtung, und darin besteht eine Parallele zur Theorie Merkels, "eine stärkere Berücksichtigung des Lebens" 3 . Die Beziehung "des Rechts mit den Lebensinteressen" 4 sei in zwei Richtungen aufzudecken, da das Recht nicht nur aus dem Leben hervorgehe, sondern auch auf es einwirke 5 . Die Interessenjurisprudenz ist sich hinsichtlich dieser Theoreme der Herkunft aus Jherings, nach dessen Abkehr vom begriffsjuristischen Denken 6 formulierten Lehre bewußt, die das Recht auf "die Interessen von Tausenden von Individuen und von ganzen Ständen" zurückführte und es als "Zweckbegriff' verstand, der mitten hineingestellt ist "in das chaotische Ge1
Larenz 1975, S.53.
2
Heck 1905, Sp. 1140f.
3
Heck 1932, S.50.
4
Heck 1909, Sp. 1460.
5
Heck 1932, S.2f.
6
Dazu s.o. Kapitel III. Fn. 123.
V. lnteressenjurisprudenz und frühe Rechtssoziologie
103
triebe menschlicher Zwecke, Bestrebungen, Interessen" 7. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln reichen aber noch weiter bis zur Philosophie Benthams, zu dessen ethischem Utilitarismus, der mit dazu beigetragen hatte, die Frage nach den Macht- und Wirtschaftsinteressen zu stellen, die hinter den Rechtsnormen stehen8. b) Ein solches rechtsrealistisches Denken, das begleitet und gefördert wurde von den seit der Reichsgründung in Deutschland einsetzenden tiefreichenden sozialen Veränderungen 9, mußte für die hier verfolgte Einheitsfrage beträchtliche Konsequenzen haben: wenn die Lebensbedingungen und Lebensprobleme fortlaufendem Wechsel unterworfen sind und die fast unendliche Mannigfaltigkeit des modernen Lebens im Rechtsstoff enthalten i s t 1 0 , rücken im Nu eine Vielzahl von soziologischen Daten in den Mittelpunkt der Rechtsbetrachtung, so daß der Gedanke der Einheit des Rechts, die Idee eines inneren Zusammenhangs im Rechtsstoff, zu einer äußerst problemträchtigen Vorstellung werden mußte. Diese theoretische Lage verschärfte sich noch einmal dadurch, daß solche Einheitskonzepte, wie sie von den Autoren der historischen Rechtsschule oder der ihr entstammenden Begriffsjurisprudenz vertreten wurden, für die Interessenjurisprudenz nicht in Frage kamen. Ihr Hauptanliegen bestand ja gerade in der Bekämpfung der "technischen Begriffsjurisprudenz" und deren von Heck als "In versions verfahren" gegeißelten Methode, allgemeine Gebotsbegriffe als Grundlage derjenigen Rechtssätze zu behandeln, "durch deren Zusammenfassung sie tatsächlich entstanden sind" 1 1 . Andererseits schloß seine Skepsis gegenüber philosophischen Systemen 12 aus, etwa Stammlers Einheitsvorstellung zu rezipieren. Heck teilte mit Stammler zwar das Bemühen um eine von der Kritik der Historischen Rechtsschule und deren Methode der Rechtsgewinnung ausgehenden Reform der Rechtswissenschaft 13 , doch während Stammlers Weg zur kritischen Philosophie geführt hat, ist Heck, so schreibt er selbst, "in den Niederungen der Rechtswissenschaft verblieben" 14 . 7 Jhering 1873, S.405. Heck erklärt selbst, daß er seine "für die Methode bestimmenden Eindrücke" von Jhering empfangen habe (1932, S.32). Zu berücksichtigen ist aber auch der Einfluß des Tübinger Philosophen Heinrich Maier, insbesondere dessen Werk "Psychologie des emotionalen Denkens" aus dem Jahre 1908, das Heck gleich nach Erscheinen mit größtem Interesse durchgearbeitet hatte (dazu Scheuerle 1952, S.51ff.; Krawietz 1976, Sp.508ff.). 8 Coing zeichnet detailliert die Entwicklungslinie von Bentham über den Philosophen Beneke, einem Zeitgenossen Hegels, zu Jhering und Heck (1968, S.69ff.;vgl. auch 1975, S.49f.). 9 1 0
Knappe und übersichtliche Zusammenstellung dazu bei Haney 1991, S.32f. Heck 1912, S.13.
11
Heck 1909, Sp. 1458. Die wirkliche Beziehung zwischen den Rechtssätzen und den zusammenfassenden Gebotsbegriffen werde durch das Inversionsverfahren umgekehrt (ebd.), was logisch nicht zu rechtfertigen sei (a.a.O., Sp. 1458). "Aus Zusammenfassungen kann man ohne Selbsttäuschung keinen neuen Rechtsinhalt gewinnen", schreibt Heck dezidiert (a.a.O., Sp.1460, ähnlich in: 1912, S.18 bis 21; 1914, S.71f.; 1932, S.91 bis 97). 1 2
Heck 1932, S.27.
1 3
A.a.O., S.35.
1 4
Ebd. Heck hat sich eigens mit der Frage nach der Philosophiebedürftigkeit der lnteressenjurisprudenz auseinandergesetzt. Er sah sich dazu durch die Angriffe Binders, Larenz und Schönfelds veranlaßt, die ihm vorgeworfen hatten, daß es seiner Lehre an der erforderlichen rechtsphilosophi-
104
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
c) Angesichts der Distanz Hecks gegenüber einer Rechtstheorie, die über den Stoff der geltenden Rechtsnormen und ihrer Realbedingungen hinausgeht und etwa in das Gebiet einer metaphysischen Rechtsbegründungslehre oder einer formalen Rechtsanalyse führt, liegt die Vermutung nahe, daß Heck die Frage nach einer Einheit des Rechts umgeht oder als gänzlich illusionär qualifiziert. Doch Heck äußert sich explizit zur "gedankliche(n) Einheit der Rechtsordnung", wobei er eine "Einheit des Inhalts" und eine "Einheit der Darstellung, der Stileinheit" unterscheidet 15 . Während die Gesetze keine solche Stileinheit aufwiesen, bestünde der Gesetzesinhalt aus einer Vielheit von untereinander zusammenhängender Konfliktsentscheidungen 16 , aus einem System von Werturteilen und Wertideen 17 . Da alle Gesetzesgebote "zugleich gelten" 1 8 , Richter und Forscher "an alle Werturteile zugleich" 1 9 gebunden sind, "ist eine Einheit im Sinne einer Widerspruchslosigkeit ohne weiteres gegeben. Einander widersprechende Gebote und Werturteile heben sich gegenseitig auf und scheiden daher aus" 2 0 . Diese Einheit, "natürlich von Richter und Forscher auf strengste zu beachten" 21 , wird nicht weiter begründet, sie wird als selbstverständlich angenommen und ihre Herstellung durch "normative Arbeit" 2 2 gefordert: auftretende Widerprüche seien durch die Schulregeln über den Gesetzeswiderpruch oder den Vorzug der lex posterior und der lex specialis auszuräumen 23 . Eine "möglichst vollständige und widerspruchsfreie Wertordnung" ist Heck zufolge "Lebensbedürfnis und daher Ziel der Wissenschaft". Zur Abgrenzung gegenüber der von ihm bekämpften Lehre betont Heck, daß es sich bei dieser Ordnung um eine "Hierarchie der Werte" handele und nicht wie bei der Begriffsjurisprudenz um eine "logische Einheit", die durch eine "Hierarchie von Begriffen" entstehe 24 . d) Heck unterläßt es also, die Einheit des Rechts positiv zu bestimmen, etwa indem er eine Größe zu erarbeiten versucht, auf die alle einzelnen Elemente des Rechtsstoffs zurückführbar sind und die so einen inneren Zusammenhang erzeugt. Dieser Verzicht bedeutet jedoch nicht, daß Heck die Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs überhaupt leugnet. Für ihn ist im Rechtsstoff ein immanentes, oder wie er auch sagt, inneres System vorgegeben. Damit sind diejenigen Übereinstimmungen und Verschiedenheiten gemeint, sehen Begründung fehle (1937, S.130). Heck pariert diese Angriffe mit dem Hinweis auf die Entbehrlichkeit und mangelnde Praktikabilität einer solchen Begründung, die seiner Sicht nach zur "lebensfeme(n) Begriffsjurisprudenz zurückführen" würde (1937, S.l92). 1 5
A.a.O., S.87.
1 6
Ebd.
1 7
A.a.O., S.132.
1 8
A.a.O., S.87.
1 9
A.a.O., S.132.
2 0
A.a.O., S.88.
2 1
Ebd.
2 2
Ebd.
2 3
Ebd. mit dem Verweis auf 1914, S.179.
2 4
Alle vorstehenden Zitate 1932, S.132.
V. Interessenjuri sprudenz und frühe Rechtssoziologie
105
die die Forschungsergebnisse ohne Rücksicht auf ihre Darstellung enthalten, also die sachlich-inhaltlichen Zusammenhänge zwischen den hervorgebrachten Gedanken. Dieses innere System sei automatisch durch den Inhalt der Forschungsergebnisse selbst vorgegeben, es entstehe nicht durch durch eine ordnende Tätigkeit des Forschers. Die sachlichen Zusammenhänge dürften deshalb angenommen werden, da sich die Konfliktsentscheidungen, die den Rechtsnormen vorausgehen, nicht voneinander isolieren ließen und durch mannigfachste Zusammenhänge und Übereinstimmungen miteinander verbunden seien 26 . Würden diese gemeinsamen Elemente erkannt und in einer Darstellung zusammengefaßt, so entstünden Gruppenbegriffe von immer wachsender Allgemeinheit, am Ende eine Zusammenfassung durch eine Klassifikation, die das innere System sichtbar mache 27 . Die Erkenntnis dieses inneren Systems, der im Stoff vorfindlichen Zusammenhänge, bezwecke eine "Verständnisförderung" und sei vom Forscher bei seiner Darstellung, dem "äußeren System", wie sie von Heck genannt w i r d 2 8 , zugrundezulegen. Das innere System ist mithin das Material dieser Darstellung, keinesfalls die Grundlage für eine daran anschließende, auf den Stoff rückwirkende Konstruktion. Die Rechtswissenschaft muß sich mithin allein damit begnügen, das Maß an vorhandenen inneren Zusammenhängen herauszuarbeiten, darf sich also nicht dazu versteigen, jenen Grad an innerer Einheit durch produktiv-konstruierende Tätigkeit zu erhöhen. Heck läßt zwar das Bedürfnis des Wissenschaftlers prinzipiell gelten, den Gegenstand als Einheit zu erkennen, er akzeptiert es jedoch nur soweit, "als die Einheit reicht, also gemeinsame Elemente vorhanden sind" 2 9 . Damit stellt Heck seine Einheitsformel in scharfen Gegensatz zu Savignys Formel von der dem Recht inwohnenden und zu vollendenden Einheit 3 0 . Deren bedeutender dogmatischer Gehalt bestand ja darin, die im Recht vorgegebenen sachlichen Zusammenhänge, die inwohnende Einheit, als Legitimation einer Lückenergänzung zu verwenden, die so, neben der Beseitigung von Widersprüchen, als Garant dafür galt, die Einheit des Rechts zu vollenden 31 . Es wurde schon auf das Inversionsverfahren hingewiesen, das den Hauptangriffspunkt von Hecks Kampf gegen die Methoden der 2 5
A.a.O., S.l43.
2 6
A.a.O., S.l49f.
2 7
A.a.O., S.l50.
2 8 A.a.O., S.l52. Zu bezweifeln ist Larenz' Auffassung, daß Hecks inneres System mit seinem äußeren System identisch sei (1975, S.62f.). Gewiß können keine inhaltlichen Differenzen zwischen beiden Systemen bestehen, sie sind aber als zwei nacheinander folgende Arbeitsschritte zu verstehen. Vor dem äußeren System, der Darstellung der inneren Zusammenhänge, steht die Erkenntnis dieser Zusammenhänge in den zu betrachtenden Gesetzen. Diese Erkenntnis der inneren Zusammenhänge, des inneren Systems, hat der Darstellung, dem äußeren System, vorauszugehen (vgl. Heck 1932, S.l52). 2 9
Heck 1932, S. 178.
3 0
Heckmxtà Savignys Einheitsformel bekannt gewesen sein. Er zitiert (1914, S.164, Fn. 251) den § 46 des "Systems des heutigen römischen Rechts", in dem Savigny die auf der Einheit des Rechts fußende Lückenergänzung durch Analogie behandelt. 3 1
Oben Kapitel B.III.4.
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
106
historischen Rechtsschule und der daraus hervorgegangenen Begriffsjurisprudenz bildete. Das für die Entstehung der lnteressenjurisprudenz wie auch für die zeitgleich entstandene Freirechtsschule 32 zentrale Lückenproblem, also der Umstand, daß dem Richter "Lebenslagen begegnen, die nach den Lebensbedürfnissen und nach den allgemeinen Absichten des Gesetzgebers eine rechtliche Regelung finden sollten, bei denen aber keine Gesetzesvorschrift vorliegt oder doch keine bestimmte Entscheidung erkennbar ist" 3 3 , konnte Heck nicht durch einen konstruktiv-produktiven Umgang mit dem Rechtsstoff lösen. Vielmehr kam für ihn nur eine sinngemäße Gebotsergänzung in Betracht, bei der der Richter an diejenige "Wertung der Lebensideale und Lebensinteressen, die den gesetzlichen Geboten zu Grunde liegt", gebunden i s t 3 4 . Die damit angesprochene Wertungsproblematik führt zu den wunden Stellen der Interessenjurisprudenz, da zum einen nach den Kriterien zu fragen ist, nach denen die Wertung bei konfligierenden Lebensinteressen erfolgen soll 3 5 . Zum anderen sind es offensichtliche Wertungen und Interessen, auf denen das Gesetz beruht, so daß sich die Frage des Verhältnisses eines kausalwissenschaftlich zu erfassenden Interesses zu einem geltenden Wert stellt 3 6 . Heck hat diese Problematik selbst gesehen. Die Bejahung eines Wertrelativismus, "der sich einer Weltanschauung einfügt, die auf den Glauben an objektiv höchste Werte nicht verzichtet" und die Annahme, "daß in unserem Innern die Überzeugung von dem Bestehen objektiv gültiger Normen vorhanden i s t " 3 7 kann sie allerdings kaum in zufriedenstellendem Maße entschärfen. e) Sucht man den Heckschen Einheitsgedanken abschließend zu würdigen, so ist dem Diktum uneingeschränkt beizupflichten, das das Recht für die Interessenjurisprudenz ebensowenig moralisch wie logisch eine einheitliche Ordnung ist 3 8 . Dem Urteil aber, daß das Recht für sie überhaupt keine Ordnung habe 39 , ist entschieden zu widersprechen. Die Betrachtung von Hecks Theorie hat gezeigt, daß die lnteressenjurisprudenz eine Einheit des Rechts im Sinne sachlich-inhaltlicher Zusammenhänge im Rechtsstoff sehr wohl bejaht und zu deren Offenlegung sogar auffordert. Gewiß versucht sie nicht, eine Einheit des Rechts durch ein Philosophem zu begründen, das dem positiven Recht vorausliegt. Dafür steht die lnteressenjurisprudenz zu sehr in der Tradition eines rechtsrealistischen und metaphysikfeindlichen Denkens und ist als Methodenlehre allein auf die Bedürfnisse der Rechtspraxis zugeschnitten. Sie bekämpft all die Lehren, die nach einer Einheit streben, die jenseits des posi3 2 Dazu Wieacker 1967a, S.579ff.; Larenz 1975, S.64ff., A. Kaufmann 1989, S.114ff. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Richtungen besteht darin, daß die Freirechtsbewegung die Gesetzesbindung des Richters antastete. 3 3
Heck 1912, S.13; nähere Differenzierung des Lückenbegriffs in 1914, S.161.
3 4
Heck 1912, S.l5.
3 5
Krawietz
3 6
Larenz 1975, S.57; Kaufmann 1977, S.104.
3 7
Heck 1931, S.270.
1976, Sp. 504.
3 8
Coing 1951, S.484; Canaris schließt sich dem an: 1969, S.38.
3 9
Coing 1951, S.484.
V. lnteressenjurisprudenz und frühe Rechtssoziologie
107
tiven Rcchts liegt und nur durch die Technik einer konstruktiven Jurisprudenz zu gewinnen ist. Doch entscheidend ist, daß die von der lnteressenjurisprudenz vollzogene Öffnung des Rechtsbegriffs für die gesellschaftliche Bedingtheit des Rechts und die Einbeziehung widerstrebender, verworrener, nur schwer zu harmonisierender sozialer und ökonomischer Realfaktoren nicht zur Folge hat, die Vorstellung einer Einheit des Rechts überhaupt zu verabschieden. Die Interessenjurisprudenz vermag sogar - entgegen ihrem programmatischen Anspruch - nicht ganz ohne eine konstruierende Bearbeitung des Rechtsstoffs auszukommen, da sie einerseits zwar lehrt, daß die Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchslosigkeit "ohne weiteres gegeben", sie andererseits aber durch "normative Arbeit herzustellen" sei. Die Einheit im Sinne der Widespruchsfreiheit scheint der Interessenjurisprudenz so wichtig und unverzichtbar zu sein, daß sie die Anwendung von Kollisionsregeln, und das bedeutet nichts anderes als die konstruktive Zutat des Rechtsbearbeiters, für zulässig erachtet. 2. Die Einheit des Rechts durch den einheitlichen Staatswillen (Ehrlich 1913)
a) Die Betrachtung des Einheitsgedankens in der Interessenjurisprudenz Hecks hat gezeigt, daß deren starke Betonung der gesellschaftlichen Bedingtheit des Rechts nicht dazu führte, die Vorstellung einer Einheit des Rechts ganz zu verneinen. Allerdings erschöpfte sich Hecks EinheitsVorstellung darin, einen bis zu einem gewissen Grad vorhandenen Zusammenhang im Rechtsstoff sowie dessen Widerspruchslosigkeit als gegeben anzusehen. Offen bleibt also weiterhin, ob es bei einem Rechtsbegriff, der die sozialen Bedingungen des Rechts und damit die herrschenden gesellschaftlichen Interessengegensätze in sich aufnimmt, möglich ist, eine Einheit des Rechts zu denken, die über die Hecksche Lehre hinausgeht und ein Element benennt, das einen durchgehenden Zusammenhang im gesamten Recht herstellen kann. Es handelt sich dabei um das ganz spezielle Problem einer soziologischen Theorie des Rechts, die zur Einheit des Rechts Stellung nehmen will, aber durch ihr grundsätzliches Anliegen, die Realbedingungen des Rechts in den Vordergrund zu rücken, gewzungen wird, das einheitsbegründende Element auf eben dieser realen Ebene zu suchen. Es war schließlich Eugen Ehrlich, der sich diesem Problem im zweiten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts gestellt hat. Ehrlich, der mit seinem 1903 gehaltenen Vortrag über "Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft" der Freirechtsbewegung 40 den Namen gab, ist besonders durch seine im Jahre 1913 veröffentlichte "Grundlegung zur Soziologie des Rechts" bekannt geworden. Dieses Werk, mit dem Ehrlich dazu beitrug, die Rechtssoziologie als Wissenschaft zu begründen 41 , lebt ausdrücklich von dem Credo, daß der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung aller Zeiten "weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtssprechung, sondern 4 0 Zu ihr schon oben Kapitel V . l . Fn. 32. Zu Ekrlichs Verständnis der freirechtlichen Methode Rehbinder 1967, S.81ff. 4 1
Zur Charakterisierung Ehrlichs als Begründer der Rechts Soziologie: Rehbinder 1967, S.9.
108
Β.
inheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
in der Gesellschaft selbst" 42 liege. Die Antwort eines rechtssoziologischen Denkens auf das Einheitsproblem gibt Ehrlich aber nicht in diesem Werk, mit dem er die Soziologie des Rechts als eigentliche, die Rechtsdogmatik ersetzende Rechtswissenschaft legitimieren wollte 4 3 , sondern in seiner 1917 erstmals selbständig erschienenen Schrift über "Die juristische Logik", in der er sich in einem längeren Kapitel eingehend mit der Frage nach einer Einheit des Rechts auseinandersetzt. b) Ehrlich sucht in dieser Schrift zunächst die historischen Entstehungsbedingungen der Einheitsvorstellung zu klären. In den Mittelpunkt seiner Untersuchung rückt er die staatliche Rechtsauffassung, die notwendig zur Folge habe, daß in dem gleichen Umfang, wie der Staat selbst als Einheit erscheine, auch das Recht als Einheit betrachtet werde 4 4 . Das bedeute vor allem, "daß jeder auf dem Staatsgebiete geltende Rechtssatz Ausdruck des einheitlichen Staatswillens sei, und daß jeder Rechtssatz, wann immer er entstanden wäre, den einheitlichen Staatswillen zum Ausdruck bringe". In der Vorstellung von der Einheit des Rechts werden also "alle Rechtssätze in einem Staatsgebiete, so weit dieses auch ein Rechtsgebiet ist, und alle Rechtssätze desselben Staats- und Rechtsgebietes in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge zu einer Einheit verbunden" 45 . Dieses Einheitsverständnis sei an zwei Bedingungen geknüpft. Einmal mußte die Vorstellung eines Staatsgebietes entstanden sein, um die Vorstellung von der Einheit des Rechts überhaupt denken zu können: Erst durch diese räumliche Einheit des Rechts werde "das Staatsgebiet zum Rechtsgebiet" 46 . Zum anderen mußte man in den Urhebern der Rechtssätze, so verschieden auch ihre Stellung im Staate war, immer nur die Organe des einheitlichen Staates erblicken 47 . Dies sei erst gelungen, als der Gedanke Boden gefaßt habe, "den Gesetzgeber nicht als eine physische Person zu betrachten, die die Rechtssätze von Staats wegen zur Geltung erhebt, sondern als den zeitlosen, idealen Urheber der ganzen zu Rechtssätzen geronnenen rechtlichen Ordnung im Staate". Gesetzespositivismus und Einheitsvorstellung treten bei Ehrlich ganz eng zusammen: "Die Vorstellung von der Einheit des Rechts", so schreibt er, "setzt daher die Vorstellung von der Einheit des Gesetzgebers voraus: sie bezieht sich infolgedessen nur auf das vom Gesetzgeber empfangene Recht, das Gesetz" 48 . Solange diese beiden Bedingungen nicht erfüllt waren, entstand jeder Rechtssatz unabhängig voneinander und mußte aus seinen eigenen Voraussetzungen verstanden werden 49 .
4 2
Ehrlich 1913, Vorrede.
4 3
Dazu Rehbinder 1967, S.71ff; Larenz 1975, S. 69f.; vgl. auch Kaufmann 1989, S.116.
4 4
Ehrlich 1917, S. 121.
4 5
Alle vorstehenden Zitate ebd.
4 6
A.a.O., S.122.
4 7
A.a.O., S.123.
4 8
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.124.
4
9 Ebd.
V. nteressenjurisprudenz und frühe Rechtssoziologie
109
c) Da Ehrlich hier offensichtlich eine Staatsvorstellung vor Augen hat, die erst im 19. Jahrhundert zur vollen Ausbildung gelangte, ist auch erklärlich, warum der Gedanke einer durch den staatlichen Willen zur Einheit gebrachten Masse von Rechtssätzen in der römischen Antike oder in der mittelalterlichen Epoche noch nicht zu finden ist. Zwar leuchte, so Ehrlich, auch in den einleitenden Konstitutionen der justinianischen Rechtsbücher der Gedanke durch, daß das ganze in die Rechtsbücher aufgenommene Recht zu einer vollkommenen Einheit ausgestaltet worden sei 5 0 . Und auch die Glossatoren hätten gedacht, daß die in den römischen Rechtsbüchern enthaltenen Rechtssätze Ausdruck eines einheitlichen Willens seien 51 . Doch dies habe noch zu keiner klaren Vorstellung von der Einheit des ganzen darin beschlossenen Rechts, lediglich zu einer bestimmten Methode seiner Behandlung geführt: durch "bloße Gedankenarbeit des Auslegers sollte eine unendliche Vielheit ein Ganzes werden; zwischen Stellen, die offenbar voneinander ganz unabhängig sind, wurden Verbindungen hergestellt, damit sie sich gegenseitig ergänzen und erklären, Widersprüche durch gekünstelte, zweifellos den Urhebern fremde Einschränkungen in Harmonien aufgelöst" 52 . Einen entscheidenden Auftrieb habe die Vorstellung der Einheit des Rechts dann in der naturrechtlichen Begriffsbildung des 17. und 18. Jahrhunderts erfahren. Mit viel Erfolg hätten sich die Naturrechtslehrer bemüht, ihre Begriffe untereinander übereinstimmend zu formen 53 . Die entscheidende Wende erblickt Ehrlich, der im übrigen an keiner Stelle die Wendung von der Einheit des Rechts in Quellentexten konkret nachweist, dann in der klassischen Jurisprudenz, zu deren Repräsentanten er Savigny, Puchta, Vangerow, Thöl, Goldschmidt, Wächter, Windscheid, Unger, Randa, Brinz und den frühen Jhering zählt 5 4 . Diese Autoren hätten die Aufgabe der Jurisprudenz darin gesehen, "die Rechtsnormen logisch aus den Begriffen oder dialektisch aus der Bewegung der Begriffe abzuleiten, die äußere Welt in die rechtliche Begrifflichkeit einzufügen, und sie in deren logische oder dialektische Gesetze zu zwingen". Nach dieser Auffassung, so behauptet Ehrlich, liege "die Einheit des Rechts nicht in den Rechtssätzen, sondern schon in den Begriffen, aus denen die Rechtssätze fließen" 55 . Diese Äußerung zum Einheitsdenken der klassischen Jurisprudenz muß indes verwundern, da es fragwürdig scheint, die Vorstellung von der Einheit des Rechts zunächst über ihren Bezug zum staatlichen Willen zu definieren und gerade diesen Zusammenhang der Staatsentstehung mit der Einheitsvorstellung in der klassischen Jurisprudenz, insbesondere bei Savigny, Puchta und Jhering, verwirklicht zu sehen - stehen diese Autoren doch mit ihrem Streben nach Rechtfertigung nicht-staatlicher Rechtsquellen der staatlichen Rechtsauffassung so fern, wie Ehrlichs soziologische Rechtsauffassung den metaphysi5 0
A.a.O., S.l25.
5 1
Ebd.
5 2
A.a.O., S.l26.
5 3
A.a.O., S.l29.
5 4
A.a.O., S.181.
5 5
A.a.O., S.l30.
110
Β. Einheitsforeln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
sehen Implikationen der Historischen Rechtsschule. Doch diese auf den ersten Blick auftretende Merkwürdigkeit löst sich schnell auf. Ehrlich meint bei dem Hinweis auf die Autoren der klassischen Jurisprudenz ähnlich wie bei den Ausführungen zu den Juristen der römischen Antike mit der Formel von der Einheit des Rechts allein das methodisches Prinzip der Rechtswissenschaft, eine inhaltliche Verbindung und Widerspruchsfreiheit hinsichtlich aller zu einem bestimmten Normenkomplex zusammengefaßten Rechtssätze herzustellen. d) Die von Ehrlich vorgenommene Historisierung führt sonach zu dem Ergebnis, daß die Vorstellung von der Einheit des Rechts erst in dem Augenblick dem Rechtsdenken bewußt wurde, als mit der staatlichen Rechtsauffassung alle in einem bestimmten Gebiet geltende Rechtssätze auf einen einheitlichen Willen zurückgeführt und sie damit als miteinander zusammenhängend betrachtet wurden. Nicht an eine bestimmte historische Epoche ist demgegenüber das Bemühen der Juristen gekoppelt, eine wie im einzelnen auch immer abgegrenzte Normenmasse zu einem in sich konsistentes Gefüge dadurch zu formen, daß inhaltliche Verbindungen hergestellt, Lücken ergänzt und Widersprüche beseitigt werden. Ehrlich begnügt sich aber nicht mit diesem historischen Fazit, sondern unterwirft nun die Vorstellung einer Einheit des Rechts einer empirischen Überprüfung. Er konfrontiert sie mit eigenen Rechtserfahrungen. Dieses Vorgehen führt ihn zu der Erkenntnis, daß das Recht, das die Gesetze verkünden, "rissiges, brüchiges, armseliges Menschenwerk" sei. Wer je an einem größeren Buche gearbeitet habe, wisse, "daß es nahezu unmöglich ist, es durchweg widerspruchslos einheitlich zu gestalten, da sich während der Arbeit die Auffassung ändert, und Spuren aufgegebener Gedankengänge immer übersehen werden und stehen bleiben" 5 6 . Der Gesetzgeber, den die Vorstellung von der Einheit des Rechts voraussetze, sei "als leibhafter Mensch oder eine Mehrheit von Menschen gewiß nie vorhanden" gewesen: der Gesetzgeber ist, so Ehrlich, "nur die personifizierte Einheit des Staates als Quelle des einheitlichen Rechts" 57 . Ehrlichs These lautet knapp und bündig: Der "Vorstellung von der Einheit des Rechts entspricht nichts in der Wirklichkeit" 5 8 . Sie bezeichne ein "Ideal, nicht einen Zustand" 59 . Auch die Urheber des BGB etwa, so führt er aus, hätten die Absicht gehabt, "ein durchaus einheitliches Werk zu schaffen, und es mit dem sonstigen im Lande geltenden Recht in Einklang zu bringen" 6 0 . Eine wirkliche Einheit sei es aber doch nur soweit geworden, als sie diese Absicht erreicht hätten 61 . Ebenso wie bei Heck, so hat auch Ehrlichs empirische Analyse der Einheitsvorstellung also nicht ihre völlige Verneinung zur Folge. In einem gewissen Maß ist die Einheit schon in den Gesetzen enthalten. Diese Einheit kann sogar durch Ausle5 6
Ehrlich a.a.O., S.137.
5 7
Ebd.
5 8
Ebd.
5 9
Ebd.
6 0
A.a.O., S.138.
6 1
Ebd.
V. nteressenjurisprudenz und frühe Rechtssoziologie
111
gung aufgezeigt werden, nur eben nicht der "gar nicht vorhandene Inhalt einer vergeblich angestrebten" 62 . Im Unterschied zu Heck sieht Ehrlich es aber ausdrücklich als berechtigt an, nach einer Einheit des Rechts zu streben, die über das schon im Stoff real enthaltene Maß hinausgeht. Ein praktisch arbeitender Jurist könne nicht mit zerstückelten, unzusammenhängenden, widerspruchsvollen Rechtssätzen arbeiten und juristische Lehrer und Schriftsteller müssten sich notwendigerweise zu einer einheitlichen Auffassung des Rechtsstoffs durchringen, wenn sie mehr geben wollten als eine bloße Zusammenstellung des Materials 63 . Für diese Behauptung liefert Ehrlich keine weiterführende Begründung. Sein Anliegen ist dabei allein, den Irrtum zu geißeln, der darin liege, "daß die Einheit als bereits vorhanden vorausgesetzt wird, so daß sie die Jurisprudenz durch ihre Auslegung nur aufdecke. In Wirklichkeit ist die Einheit nicht Ergebnis einer Auslegung, sondern einer Rechtsschöpfung" 64 . Das Verhältnis zwischen Auslegung und Rechsschöpfung bestimmt Ehrlich so: die Auslegung zeige "nur die Einheit, die dem Gesetz zugrunde liegt", die Rechtsschöpfung hingegen schaffe eine Einheit, die in das Gesetz hineingetragen werde, "sie kommt nicht vom Stoffe, sondern von dem, der ihn meistert, sie ist nicht ein Werk des Gesetzgebers, sondern des Juristen, der es darstellt" 65 . e) So zeigt sich bei Ehrlich wie zuvor auch bei Heck, daß der rechtsrealistische Ansatz - Ehrlich hatte noch im Vorwort seiner "Juristischen Logik" sein Interesse an den gesellschaftlichen Zusammenhängen, aus denen "die Erscheinungen des Rechtslebens herauswachsen" wie auch an den Folgen, die diese Erscheinungen zeitigen 6 6 , ausdrücklich hervorgehoben - einer Bejahung des Einheitsgedankens ganz und gar nicht entgegensteht. Virulent bleibt allerdings die Frage, in welcher Weise sich die Einbeziehung der realen Bedingungen des Rechts auf diese Einheitsvorstellung konkret auswirkt, da sich bei diesem Ansatz die gesellschaftlichen Interessengegensätze auf der normativen Ebene doch reproduzieren müssen. Anders als Heck, versucht sich Ehrlich dieser Frage zu stellen. Dabei tut er zunächst das, was von seinem soziologischen Ansatz aus nur konsequent ist, wenn er erklärt, daß die Rechtssätze "eine Einheit nur im Zusammenhange der Gesellschaft" bilden, "in der sie wirken. Wollte man die Einheit des Rechts begreifen, man müßte darin außer den Rechtssätzen noch die in den Rechtsverhältnissen bestehende Ordnung einfassen" 67 . Ehrlich bezieht die Einheitsvorstellung also nicht allein auf das zur Bearbeitung vorgelegte normative Material, sondern setzt sie ganz deutlich in Abhängigkeit zu soziologischen, den Rechtssätzen vorgelagerten Daten. Doch daraus schließt er nicht, daß angesichts der in der modernen Gesell6 2
A.a.O., S.l38f.
6 3
A.a.O. S.142.
6 4
Ebd.
6 5
Ebd.
6 6
A.a.O., Vorwort.
6 7
A.a.O., S.l46.
112
Β. Einheitsfoneln in Rechtstheorie und Zivilrechtswissenschaft
schaft herrschenden Interessengegensätze die Rechtsbearbeitung nicht anders kann, als sich mit einem bestimmten Maß an ständig störenden Widersprüchen und Disharmonien abzufinden, um daraus dann die Aufgabe abzuleiten, die fehlende Einheit herzustellen. Statt dessen glaubt Ehrlich, daß die in den sozialen Verhältnissen bestehende Ordnung, ohne die ja die Einheit des Rechts nicht begriffen werden kann, "keine gewordene, sondern eine werdende" ist, "die dadurch immer aufs neue hergestellt" werde, "daß die in Widerstreit geratenen Interessen sich im Laufe der Zeiten schließlich in rechtliche Ordnungen auflösen" 68 . Sogar die noch andauernden erbitterten Kämpfe des 1.Weltkrieges schwächen seine Hoffnung nicht, daß "einige aus dem heute lebenden Geschlecht noch die rechtliche Ordnung sehen, in die die Gegensätze zwischen den Staaten, die gerade jetzt miteinander ringen, einmünden werden" 69 . Ehrlich steigert sein sozialromantisches und utopisches Gesellschaftsmodell schließlich noch zu einer ins Jenseits weisenden Heilserwartung: "Die große Einheit der Gesellschaft ist wieder nur ein Stück der großen Einheit der Welt, die sich während der ganzen Entwicklung vorbereitet, aber nicht vollendet sein wird, so lange es hienieden eine Entwicklung g i b t " 7 0 . f) Gewiß hat Ehrlich hier den Boden seiner soziologischen Fragestellung längst verlassen und sich sozialutopischen, ja theologischen Gedankengänge hingegeben. Doch obwohl die Wirkung seiner kritischen Untersuchung darunter leidet, bleibt ihm das Verdienst, die Vorstellung einer Einheit des Rechts historisch eingeordnet, ihren empirischen Gehalt überprüft und ihr Verhältnis zu der gesellschaftlichen Bedingtheit des Rechts thematisiert zu haben. Das für diese Vorstellung historisch ausschlaggebende Ereignis sieht Ehrlich in dem Denkvorgang, alle Rechtssätze als Ausdruck eines einheitlichen Staatswillens zu betrachten. Empirische Beobachtungen liefern ihm dann die Erkenntnis, daß einer so konstituierten Einheit des Rechts nur der Status eines Ideals zukommt, sie also keinen Realzustand wiedergibt. Dies hindert Ehrlich aber nicht daran, ein bestimmtes Maß an Einheit im Rechtsstoff zu behaupten, sowie die Herstellung eines darüber hinausgehenden Maßes sogar als notwendig zu fordern. Ehrlichs weitreichendes Interesse an einer soziologischen Erklärung des Rechts führt also nicht dazu, den Einheitsgedanken als ein dem Rechtsdenken unangemessenes Theorem zu verwerfen.
6 8
A.a.O., S.146.
6 9
A.a.O., S.l46f.
7 0
A.a.O, S.l47.
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft I. Überleitung Die vorstehende Durchsicht und Deutung vorwiegend zivilistischer und rechtstheoretischer Äußerungen zur Einheitsfrage läßt es aus mehreren Gründen ratsam erscheinen, auch Autoren der Staatsrechtswissenschaft nach ihrer Vorstellung von der Einheit des Rechts oder der Rechtsordnung zu befragen. Sie müßten am ehesten Auskunft geben können etwa über Ehrlichs These, nach der die Vorstellung von der Einheit des Rechts die Idee von der Einheit des Staates, der seines Willens oder der des Gesetzgebers voraussetzt. Die Staatsrechtswissenschaft braucht schon allein zur Konstituierung ihres Gegenstandes einen Begriff des Staates und seiner Eigenschaften. Gerade wegen der sich im 19 Jahrhundert durchsetzenden staatlichen Rechtsauffassung kann erwartet werden, daß die Staatsrechtswissenschaft dieser Zeit das Verhältnis von einheitlichem Staat und einheitlicher Rechtsordung thematisiert hat. Einen weiteren Grund, etwa vorkommende Einheitsformeln auf dem Gebiet der Staatsrechtswissenschaft zu betrachten, gibt das Interesse, mehr über die Reichweite der bisher gewonnenen Erkenntnisse, und zwar im Hinblick auf die gesamte Rechtswissenschaft, zu erfahren. Die Untersuchung der Rechtswissenschaft um die Wende zum 19. Jahrhundert hat ja erkennbar werden lassen, daß hauptsächlich von zivilrechtlich ausgerichteten Autoren eine mit "systematischer Einheit" bezeichnete und als Wissenschaftskriterium dienende Ordnungsform diskutiert wurde, die darauf zielte, bei der Abfassung eines Lehrbuchs oder einer sonstigen wissenschaftlichen Gesamtdarstellung den Stoff dergestalt zu strukturieren, daß die Rechtssätze auf höchste Prinzipien, vielleicht sogar auf ein höchstes Prinzip zurückgeführt werden. Durch einen Blick in die Staatsrechtswissenschaft jener Zeit könnte nachgeprüft werden, ob dieser Gedanke der systematischen Einheit eine solche Geltungskraft besaß, daß auch Autoren des Staatsrechts von ihm angezogen wurden. Damit ließen sich zudem weitere Erkenntnisse über das Verhältnis von Zivilrechtsund Staatsrechtswissenschaft gewinnen. Noch ein dritter Gesichtspunkt drängt schließlich dazu, sich insbesondere der deutschen Staatsrechtswissenschaft der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts zu widmen. Bei den bisher dargestellten und besprochenen rechtstheoretischen Äußerungen trat mehrfach ein Begriff der Einheit des Rechts zutage, der im Rechtsstoff vorhandene oder noch herzustellende Zusammenhänge im Sinne sachlicher und formaler Übereinstimmungen bezeichnete. Solche Zusammenhänge zu entdecken oder zu schaffen, mußte aber gerade 8 Baldus
114
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
für die Staatsrechtswissenschaft zwischen erstem und zweiten Kaiserreich mit enormen Schwierigkeiten verbunden sein. Die Vielzahl weitgehend eigenständiger, lediglich durch die lockere Verbindung der Deutschen Bundes-Acte zusammengehaltener Einzelstaaten bedeutete nämlich auch eine Vielzahl voneinander unabhängiger Rechtsordnungen, so daß das Bestreben, ein "einheitliches", die Vielzahl der Normenkomplexe in einen inhaltlichen Zusammenhang bringendes und sich so auf alle deutschen Einzelstaaten erstreckendes Staatsrecht zu schaffen, ein hochproblematisches Vorhaben werden mußte. Der Umgang der deutschen Staatsrechtswissenschaft mit dieser Problematik könnte zeigen, ob sich überhaupt eine Einheit im Sinne sachlicher und formaler Zusammenhänge im Rechtsstoff trotz fehlender, alle Staaten umfassender zentraler Rechtssetzungsinstanz bilden ließ. Mit dieser Fragerichtung könnten allgemeine Erkenntnisse gewonnen werden über das Verhältnis der Einheit des Staates zu der des Rechts.
II. Staatsrechtswissenschaft
i
m
115
II. Staatsrechtswissenschaft im Vormärz 1. Die systematische Einheit des deutschen Staatsrechts (Klüber 1803 -1822)
a) Gleich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der 1803 veröffentlichten "Einleitung zu einem neuen Lehrbegriff des teutschen Staatsrechts", erklärt Johann Ludwig Klüber, daß das "teutsche Staatsrecht" "keine rationale, sondern eine theils historische, theils rein positive Wissenschaft" sei 1 . Folglich seien die "rationalen Formen speculativer Wissenschaften" nicht ganz anwendbar. "Bei einem so verschiedenartig zusammengewachsenen Stoffe, würden, wie überhaupt im positiven Rechte, sogenannte höchste Principe misslich seyn" 2 . Um nun aber "systematische Einheit des Ganzen möglichst zu erreichen", so fahrt Klüber in dieser schon häufig zitierten Passage fort, seien "die Grundsätze nach einem überdachten Plane, einfach, zusammenhängend, und mit Auswahl darzustellen, in leichter, ungezwungener Ordnung, soweit die Eigenheit und Mannigfaltigkeit des Stoffs" es gestatte3. Die "Form der Darstellung und die Methode" werde "einzig auf Erleichterung der Uebersicht und practische Anwendbarkeit berechnet" 4. Diese Konzeption hat Klüber auch in seinen späteren Schriften, die ihn zur herrschenden Autorität des öffentlichen Rechts im Vormärz werden ließen 5 , dem "Staatsrecht des Rheinbundes"6 und dem mehrfach aufgelegten "Öffentlichen Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten"'beibehalten. Zum Teil schob er knappe Zusätze ein, die Grundgedanken blieben aber konstant. So ergänzte er etwa 1808, es sei zweckwidrig, "über dem Aussinnen neuer Formen ... das Wesentliche, die Bearbeitung der Materie, zu vernachlässigen" und "in den Oeden der Speculation" herumzuirren, statt "die Geistesthätigkeit auf Kenntnisse zu leiten, die wohlthätigen Einfluß auf das wirkliche Leben" hätten 8 . 1817 stützt er seine These, daß bei der Darstellung des Staatsrechts "höchste Principe mißlich" seien, auf eine Passage in der anonym erschienenen, wohl aber Seidensticker zuzurechnenden Schrift 9 über den "Geist der juristischen Literatur von dem Jahre 1796". Darin hatte dieser die Äußerungen des "Geistes der Philosophie" einerseits wirken gesehen "für die Politik der Rechte", "nicht eigentlich für die positive Jurisprudenz, welche nur mit bereits constituierten 1
1803, S.9.
2
A.a.O., S. 10.
3
Ebd.
4
Ebd.
5
Stolleis 1992a, S.71.
6
1808, S.l lf.
7
1817, S.21f., 1822, S.17f. und 1840,S.17f.
8
1808, S.l2f.
9
Dazu Rückert 1984, S.104 Fn.505. Zu Seidenstickers Grundatzes" oben Kapitel B.LI.
Umgang mit dem Problem des "Einen
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
116
Rechten und Rechtsverhältnissen zu thun hat". Auf der anderen Seite zeige sich der "Geist der Philosophie" aber "thätig in Behandlung und Verarbeitung des bereits Constituierten, innerhalb folglich der eigentlichen Grenzen der positiven Jurisprudenz" 10 . Im Jahre 1822 ergänzte Klüber dann seine methodologischen Grundgedanken mit der Warnung, daß "die Übersicht des Ganzen" verloren ginge, "je mehr einzelne Gegenstände zu Hauptgesichtspunkten erhoben" würden 1 1 . b) In allen vorstehenden Ausführungen Klübers läßt sich leicht das Bemühen erkennen, die Form zu rechtfertigen, die er seinem Werk zur Anordnung und Darstellung der staatsrechtlichen Materie zugrundegelegt hat. Durch die Charakterisierung der Staatsrechtswissenschaft als historische und positive Wissenschaft grenzt er sich ab von den "rationalen Formen speculativer Wissenschaften", die offenbar die Erarbeitung "höchster Principien" verlangen und mit dem Ausdruck "systematische Einheit" belegt werden. Doch Klüber verweigert sich den Formen jener Wissenschaften nicht vollends, sie sind für ihn nur "nicht ganz" anwendbar und die systematische Einheit ist doch "möglichst zu erreichen". Zwar ist es nicht möglich, die Grundsätze, auf die die positiven Rechtssätze zurückzuführen sind, auf letzte, oberste Prinzipien zurückzuleiten, wohl aber können, so lautet Klübers pragmatische Lösung, diese Grundsätze in "leichter und ungezwungener Ordnung" dargestellt werden. Terminologie und Gehalt des von Klüber verwendeten Begriffs der systematischen Einheit deuten mithin darauf, daß es sich bei diesem wie auch bei der zeitgleich von den Autoren der Privatrechtswissenschaft und der von ihr ausgehenden Rechtstheorie benutzten Formel 1 2 um einen neuartigen Versuch handelte, ein am Ende des 18.Jahrhunderts zum ersten Mal von Kant eingeführtes und im Anschluß daran von den Philosophen des deutschen Idealismus verbreitetes Wissenschaftskriterium auch bei der Bearbeitung des Staatsrechts heranzuziehen. Diese Folgerung stützt sich zudem darauf, daß die Formel von der systematischen Einheit in der älteren staatsrechtlichen Literatur, etwa bei Moser 1 3 , Kreittmayr 1 4 , Pütter 15 oder Roth 1 6 , nicht anzutreffen ist17.
1 0
Seidensticker
11
1822, S.17.
1 2
Dazu oben Kapitel B.I.
1797, S.102.
1^ Dazu Schulze: Johann Jacob Moser habe keine Ahnung davon gehabt, "das Positive wahrhaft wissenschaftlich zu durchdringen, zu vergeistigen und zur systematischen Einheit zu erheben" (1865.S.82). 1 4 Kreittmayr 1769. 1 5
Pütter 1777, 1791.
1 6
Johann Richard Roth stellt seinem "Staatsrecht deutscher Reichslande" voran, daß ein "System" "einfach und natürlich"sei, es betrachte "erst das Ganze überhaupt, und alsdann dessen Theile insonderheit" (1788, S.IX). 1 7 Von Oertzen meint, der innere Zusammenhang der Rechtssätze und Institute sei in der älteren Jurisprudenz durch die "wirkliche soziale Einheit des staatlichen Organismus vermittelt" gewesen (1974, S.66).
II. Staatsrechtswissenschaft
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Doch letztlich geht Klüber einer um Konsequenz bemühten Umsetzung dieser Ordnungsform der systematischen Einheit mit dem Hinweis auf die Eigenheit des staatsrechtlichen Stoffes aus dem Weg. Es entsteht dabei der Eindruck, als wolle Klüber entschuldigen, sich einer schwierigen Problematik entzogen zu haben, die ein auf wissenschaftstheoretischer Ebene geltendes Kriterium auch für die Staatsrechtswissenschaft aufgeworfen hatte. Klübers Ausweichen mag darin begründet sein, daß eine radikale Umsetzung dieses wissenschaftstheoretischen Ordnungsmodells einen ebenso radikalen Bruch mit der staatsrechtswissenschaftlichen Tradition bedeutet hätte, weil vieles, was Klüber in seine Lehrbücher aufgenommen hat, im Interesse einer straffen, auf vollendete systematische Einheit zielenden Ordnung des Stoffes hätte ausgeschieden werden müssen. Die zu systematisierende Stoffülle war zu immens, als daß das gesamte staatsrechtliche Material als Ausfluß eines einzigen Grundgedankens hätte konzipiert werden können. Klüber hat die Spannung zwischen der Fortführung der Tradition und dem kanonischen Wissenschaftskriterium zugunsten der ersteren gelöst, aber, und dies ist für die hier verfolgte Fragestellung zu unterstreichen, die Problematik des letzteren erstmals für die Staatsrechtswissenschaft formuliert. Sie sollte später von anderen Autoren erneut aufgegriffen und einer stringenten Lösung zugeführt werden. 2. Die Einheit eines gemeinen deutschen Staatsrechts (Maurenbrecher 1837)
a) Bevor aber im Anschluß an Klüber das von ihm erörterte Ordnungs- und Formproblem von anderen Autoren aufgegriffen wurde, sprach Romeo Maurenbrecher, ein Repräsentant des rheinischen Katholizismus in der Staatsrechtslehre des Vormärz 1 8 , noch in einem ganz anderen Sinne von "Einheit". In seinen 1837 veröffentlichten "Grundsätzen des heutigen deutschen Staatsrechts", die vor allem durch Albrechts Rezension in Erinnerung geblieben sind 1 9 , schrieb er, daß die Wissenschaft des positiven deutschen Staatsrechts aus den achtunddreißig deutschen Territorialstaatsrechten "eine Einheit gebildet" habe, "indem sie dasjenige, was diese 38 Territorialstaatsrechte Gemeinsames enthalten d.h. dasjenige, was in allen einzelnen deutschen Staaten zugleich und gleichmässig vorkommt, zu einem Ganzen zusammengestellt und innerlich verbunden, als eine eigne Disziplin aufgestellt hat" 2 0 . Dieses allgemeine Territorialstaatsrecht, von Maurenbrecher auch als "Analogie sämmtlicher Staatsrechte der einzelnen deutschen Staaten" bezeichnet, sei "nirgends unmittelbar practisch", es existiere vielmehr bloß als Wissenschaft und könne "nur zur Einleitung in das Staatsrecht des einzelnen deutschen Staates die-
1 8
Stolleis 1992a, S.90.
1 9
Stolleis 1992a, S.90f. Zu Albrecht sogleich das nächste Kapitel.
2 0 1837a, S.201. An anderer Stelle formuliert er, daß es Aufgabe des allgemeinen deutschen Staatsrechts sei, die "Staaten von ähnlicher Bildung in den je einzelnen Materien des Staatsrechts zusammenzufinden und zu derjenigen Einheit zu gruppieren, die sie in der Wirklichkeit, sei es als Regel oder als Ausnahme, für das Auge des wissenschaftlichen Publicisten wirklich bilden" (1837b, S.856).
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
118
neiT 2 1 . Das besondere Staatsrecht sei dagegen "das wirklich geltende Staatsrecht des einzelnen deutschen Staates" 22 . b) Maurenbrecher meint hier mit dem Begriff der von der deutschen Staatsrechtswissenschaft gebildeten Einheit offensichtlich nichts anderes als das gemeine deutsche Staatsrecht selbst, also ein identifizierbarer und begrenzbarer Normenkomplex, der in allen deutschen Territorialstaatsrechten wiederzufinden, sozusagen als gemeinsame Teilmenge in ihnen allen enthalten ist 2 3 . Die rechtspolitische Lage, die hinter Maurenbrechers Einheitsbegriff steht, entspricht dabei ganz der, die in der Privatrechtswissenschaft etwa zeitgleich dazu geführt hatte, mit den Formeln von einer Einheit des Rechts eine Antwort auf den als unerträglich empfundenen Zustand der Rechtszersplitterung zu geben. So wie diese Autoren der verworrenen Lage des deutschen Privatrechts entgegentraten mit den Konzepten einer kodifikatorisch oder historisch begründeten, auf die Annahme eines überempirischen Volksgeistes, der Betonung des Volksrechtes oder der Vorstellung eines Rechtsorganismus gestützten Einheit des Rechts 24 , so sucht Maurenbrecher dem deutschen Staatsrecht mit seiner Einheitsformel einen Weg zur Überwindung des Partikularismus zu weisen. Über das von Maurenbrecher ausgeprochene Bedürfnis nach einem gemeinen deutschen Staatsrecht war man sich in der damaligen Staatsrechtswissenschaft einig. Allerdings schieden sich die Geister erheblich, als es darum ging, ein solches Staatsrecht zu konstruieren und seinen Geltungsumfang festzulegen. An diesen Fragen entzündete sich eine äußerst kontrovers geführte Debatte, an der alle bedeutenden staatsrechtlichen Autoren im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts teilnahmen. Maurenbrecher fand zwar mit seinem Vorschlag, ein solches gemeines deutsches Staatsrecht durch eine Analogie aller Partikularstaatsrechte zu erstellen, auch vereinzelt Gefolgschaft 25 , doch überwog die Kritik an seinem Vorgehen. Neben dem Hinweis, daß eine Übereinstimmung der Partikularrechte bloß zufallig sei 2 6 , stützte sich die Kritik an Maurenbrechers Methode vor allem auf das Argument, daß die achtunddreißig Bundesstaaten eben keine "wesentliche Gleichheit der Verfassung" hätten und aus wesentlich Ungleichartigem "etwas Gemeinsames nicht zu abstrahiren" sei 2 7 . Zur Konstruktion eines gemeinen deutschen Staatsrechts könne allenfalls auf die Bundesgesetze rekurriert werden, die gemeinsame 2 1
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.5f.
2 2
A.a.O., S.6.
2 3 In diesem Sinne kann auch Schutzes Wendung von der "Vielheit der particulären Rechtsbildungen" verstanden werden, die zur "wissenschaftlichen Einheit" zu verbinden seien (1867, S.427). 2 4
S.o. Kapitel B.III.
2 5
Zöpfl schließt sich Maurenbrecher an (1846, S.27). Voraus ging Maurenbrecher schon Jordan, der 1831 ein gemeines deutsches Staatsrecht mit der innerlichen und nothwendigen "Uebereinstimmung der gemeinstaatsrechtlichen Grundsätze" begründete (1831, S. 275). 2 6 2 7
Weiss 1843, S.15 Fn. a.
Mohl 1837, S.456. Wächter führt an, man müsste sich in "Fictionen" verlieren, versuchte man ein über die Grundverträge hinausgehendes gemeines Staatsrecht zu konstruieren (1844, S.221).
II. Staatsrechtswissenschaft
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Normen für alle Staaten enthielten. Doch bei diesen handele es sich, wie Mohl zur gleichen Zeit wie Maurenbrecher schrieb, nur um "einzelne, unzusammenhängende, unvollständige" Bestimmungen, aus denen kein System des Staatsrechts gebildet werden könne 2 8 . Wohl auch aus diesen Gründen haben sich andere Autoren darauf konzentriert, "Rechtsgrundsätze" zu erarbeiten, "welche auf gemeinverbindlichen Rechtsquellen" beruhten 29 . Dagegen wandte Mohl wiederum ein, daß so herausgefilterte Sätze zwar "in so fern positives Recht" seien, als sie von tatsächlich geltenden Gesetzen und Gewohnheiten abstrahiert und nicht rechtsphilosophisch konstruiert würden. Allein es fehle "ihnen doch der Charakter befehlender Normen", sie seien "esprit des lois, aber keine lois selbst" 30 . Mit diesem Argument war zugleich die zweite schwierige Kernfrage, die Geltungsfrage angesprochen, auf die sich jede Bejahung eines gemeinen deutschen Staatsrechts einlassen mußte. Die einen gingen davon aus, daß die gemeinen Rechtsgrundsätze "unmittelbar practisch" wurden und zum Teil von den einzelnen Staaten nicht mehr abgeändert werden konnten 31 . Indes wiesen andere Autoren dem gemeinen Staatsrecht nur die Funktion zu, als subsidiäre Rechtsquelle die Lücken des partikulären Staatsrechts zu schließen 32 . Für die Anhänger einer positivistischen Begründung der Rechtsgeltung konnte es dagegen keinen Zweifel geben, daß das gemeine deutsche Staatsrecht, um als Zwangsrecht zu gelten, zuerst positives Gesetz geworden sein mußte und daß dieses Erfordernis auch von der Wissenschaft zu respektieren war 3 3 . Dann aber konnte nur eine isagogische Funktion die Legitimation liefern, um allgemeine Prinzipien herauszuarbeiten, die in den Staatsrechten aller oder der meisten deutschen Territorien zu finden waren 3 4 . c) Doch auch wenn in dieser Diskussion um Konstruktionsweise und Geltungsanspruch eines gemeinen deutschen Staatsrechts solche, zum Teil auf rechtstheoretisches Gebiet führende Argumente aufgeboten wurden, so darf 2 8
Ebenfalls Mohl 1837, S.460.
2 9
Weiss 1843, S.3, (er wendet sich dabei ausdrücklich gegen Maurenbrecher, S.16). Auch HA. Zachariae spricht davon, daß das gemeine deutsche Staatsrecht "aus durch sich selbst für ganz Deutschland gültigen Quellen geschöpft" werde (1853, S.4). Schulze ging ebenfalls davon aus, daß sich aus der eigentümlichen Natur der deutschen Staaten gewisse staatsrechtliche Grundsätze "mit Notwendigkeit" ergeben könnten (1865, S.l 1). Kaltenborn hingegen umkurvte die schwierigen Konstruktionsversuche und begnügte sich mit dem Hinweis auf den "staatsrechtlichen deutschen Nationalgeist", der einen hinlänglichen Anhaltspunkt böte, um ein System des gemeinen Rechts zu konstruieren (1865, S.321; ähnlich Mejer 1861, S.18). 3 0
Mohl 1867, S.374.
3 1
HAZachariae 1841, S.3; auch 1851, S.4; ebenfalls Zoepfl 1846, S.28. Die Geltung des gemeinen deutschen Staatsrecht bejahte auch Schulze (vgl. etwa 1865, S.10). 3 2
Etwa Jordan 1831, S.275; Zoepfl 1846, S.28; Kaltenborn 1863, S.173.
3 3
Mohl 1867, S.377, ders. auch schon 1837, S.457. Auch für Held konnte ein "gemeines Recht" nur von der "höchsten rechterzeugenden Gewalt eines Staates" ausgehen, und da es an einer solchen Gewalt in Deutschland fehle, gebe es auch kein gemeines deutsches Staatsrecht (1856, S.24). Diese Haltung einer "vollständige(n) Negation" des gemeinen deutschen Staatsrechts hat Held 1867 aber wieder zurückgenommen (1867, S.467). 3 4
Maurenbrecher 1837a, S.6; ebenso Gerber 1865, S . l l .
120
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß die einzelnen Autoren ein nicht zu unterschätzendes nationalpolitisches Anliegen antrieb. Man sah in diesem gemeinen Staatsrecht etwa den "einen verbindenden Knoten in dem geheiligten Bande, welches alle Glieder des großen deutschen Vaterlandes" umschling e 3 5 oder sprach unverblümt aus, daß das "Bewußtsein der nationalen Einheit Deutschlands" die "Aufstellung eines gemeinen deutschen Staatsrechts" 36 zur Aufgabe der deutschen Wissenschaft gemacht habe. Die Sehnsucht nach einem deutschen Einheitstaat fand bei den Autoren des deutschen Staatsrecht ähnlich wie bei einigen Vertretern des deutschen Privatrechts Ausdruck in dem Versuch, ein gemeines deutsches Staatsrecht trotz staatlicher Zersplitterung zu schaffen, ja durch ein solches gemeines Recht diesen Zustand zu überwinden helfen und der Einigung zu einem deutschen Nationalstaat vorzuarbeiten 37 . Die von Maurenbrecher verwendete Formel von der Einheit eines gemeinen deutschen Staatsrechts im Sinne eines aus der Vielheit der Partikularrechte noch zu bildenden Normenkomplexes birgt daher zwar eine komplizierte konstruktive und geltungstheoretische Fragestellung, ihr politischer Gehalt wiegt hingegen ebenso schwer. Vieles deutet sogar darauf hin, daß es der von den deutschen Staatsrechtswissenschaftlern gehegte Wunsch nach staatlicher Einheit war, der die dogmatischen wie theoretischen Problemstellungen und damit die Vorstellung der Einheit eines gemeinen deutschen Staatsrechts nach sich zog.
3 5
Weiss 1843, S.VI
3 6
Gerber 1852, S.8. Held meint gar, "dass die deutsche Rechtswissenschaft auch auf dem Boden der deutschen Staatsrechtswissenchaft den Beruf habe, ein Hoit der Einheit der grossen deutschen Nation zu sein" (1856.S.31). Sehr deutlich wurde auch Schulze, dem zufolge sich die deutsche Staatsrechtswissenschaft bescheide, ein "Surrogat der fehlenden staatlichen Einheit zu sein" (1867, S.451). 3 7 Stolleis nennt noch die wissenschaftsintemen Gründe, durch ein gemeines deutsches Staatsrecht die Kontinuität zurZeit vor 1806 auf der Ebene der Territorialrechte zu wahren (1992a, S.97) und zudem an den Universitäten ein über die Grenzen des jeweiligen Partikularstaates hinausreichendes Lehrangebot machen zu können (a.a.O., S.99).
III. Staatsrechtswissenschaftlicher Positivismus
121
III. Staatsrechtswissenschaftlicher Positivismus 1. Die Persönlichkeit des Staates als einheitlicher Grundgedanke des staatsrechtlichen Systems (Albrecht und Gerber 1837-1865)
a) Auch Eduard Albrecht setzte sich in seiner Rezension von Maurenbrechers "Grundsätzen des heutigen deutschen Staatsrechts" mit der Möglichkeit auseinander, das "Staatsrecht der einzelnen deutschen Staaten, wiewohl es größtentheils auf Partikularnormen beruht, in einem Gesammtbilde darzustellen", das die "Bedeutung eines wahren gemeinen Rechts an sich" trage 1 . Albrecht zufolge gründet sich die Möglichkeit eines solchen gemeinen deutschen Staatsrechts ebenso wie die Existenz eines deutschen Privatrechts darauf, daß "darin, trotz der großen Mannigfaltigkeit im Einzelnen, sich doch auch eine gewisse Einheit der Grundideen entdecken" lasse2. Er schwächt diese Behauptung aber sogleich wieder ab, wenn er feststellt: "In welchem Maße es nun aber auch gelingen mag, das Mannigfaltige und von einander Abweichende des Details als bloß verschiedene Ausführung derselben Idee aufzufassen, somit in jenem noch den Faden der Einheit fest zu halten, so stossen wir doch auch auf solche Punkte, die, diesem Auflösungsprocesse widerstrebend, auf eine tiefere Divergenz in den Grundideen zurück weisen" 3 . Verursacht sei diese Divergenz durch den "Kampf zwischen dem älteren, aus der Zeit der Reichsverfassung in die Gegenwart hinein reichenden, und einem neueren Rechte" 4 . Dieser Kampf, der Gegensatz zwischen älterem und neuem Recht, sei nicht ausreichend erfaßt durch den Hinweis auf die neueren politischen Ideen, die zur Umgestaltung des Staatsrechts geführt hätten. Dieser Kampf finde seinen Ausdruck in einer "wesentlich verschiedenen Grundansicht über die rechtliche Natur des Staates überhaupt" 5 . Dem älteren Staatsrecht entsprach die privatrechtliche Auffassung des Staates, die neuere Auffassung geht, wie es schon oft beschrieben wurde, dazu über, denjenigen, die im Dienste des Staates stehen, soweit sie diesen Dienst ausüben, alle selbständige juristische Persönlichkeit abzusprechen und diese Persönlichkeit dem Staate selbst zuzuschreiben, ihn sonach als "juristische Person zu denken" 6 . Albrecht beklagt, daß der Jurisprudenz die Differenzen zwischen diesen Grundanschauungen aufgrund "der Verdächtigung und Verzerrung eines leidenschaftlichen Parteykampfes" nicht genügend bewußt seien. Eine Folge dieser Vernachlässigung der Grundanschauungen des Staates sei darin zu sehen, "daß die Darstellungen des älteren und neueren Rechts jene, das Ein-
1
1837, S.l490.
2
Ebd.
3
Ebd.
4
Ebd. Vollgrajf beansprucht die Urheberschaft für die Erkenntnis der "vollständige^) Opposition des alten und neuen Staatsrechtes" (1839, Sp. 181f., Fn.**). 5
Albrecht 1837, S. 1491.
6
A.a.O., S. 1492.
122
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
zelne zusammen haltende Einheit vermissen oder in unklarem Halbdunkel erscheinen lassen" 7 . Wenn Albrecht in seiner Rezension von "Einheit" spricht, so hat er ähnlich wie Klüber eine bestimmte Weise der Darstellung des Staatsrechts der einzelnen deutschen Staaten "in einem Gesammtbilde" im Sinn. Diese Art der Darstellung zeichnet sich dadurch aus, daß sie imstande ist, alle rechtlichen Details, alle Rechtssätze, Begriffe und Institute, aus einer einzigen Idee zu entwickeln, und zwar durch eine Idee des Staates, die nicht aus einer philosophischen, sondern allein juristisch-konstruktiven Betrachtung gewonnen wird. Eine einheitliche Darstellung des älteren deutschen Staatsrechts ist durch die privatrechtliche Idee des Staates möglich, bei der alle Hoheitsrechte als private Rechte des Fürsten begriffen werden. Die einheitliche Darstellung des neueren Staatsrechts, bei dem die Befugnisse des Monarchen konstitutionell eingebunden sind, setzt hingegen voraus, den Staat selbst als Person, als Träger von Rechten und Pflichten, aufzufassen. Unrichtig wäre es aber anzunehmen, daß allein durch die Umsetzung dieser, zum Inhalt eines darstellerischen Ordungsprinzips erhobenen Staatsauffassung die erstrebte Einheit des gegenwärtig geltenden Staatsrechts der deutschen Bundesstaaten erreicht werden könnte. Albrecht geht nämlich davon aus, daß das geltende Recht teils den privatrechtlichen und teils den staatsrechtlichen Grundcharakter beibehalten hat 8 und daher der "gemischte Charakter des heutigen Staatsrechts" 9, also das Fortleben des älteren Rechts im neuen Staatsrecht, eine allein auf dem Prinzip der Persönlichkeit des Staates aufbauende Ordnung des Stoffes verbietet. Was allerdings bei Albrechts Ausführungen, die mehr andeuten, denn in aller Klarheit und Schärfe aussprechen, hervorsticht, ist der erstmals aufgebrachte Gedanke, daß diese neue juristische Deutung des Staates das einheitsstiftende Element bei der Darstellung des Staatsrechts abgeben könnte 10. Während Klüber eine systematische Einheit bei der Darstellung des deutschen Staatsrechts zumindest als Zielvorgabe postulierte, diesem hohen Anspruch aber auf pragmatische Weise auswich und sich mit einer eher additiven Anordnung des Materials zufrieden gab, wies Albrecht mit einer neuen und vielversprechenden Idee den Weg, über den zu einer einheitlichen, aus einem einzigen Grundgedanken hervorgehenden Ordnung des Staatsrechts zu gelangen ist. Es war
A.a.O., S.l496. Vollgraff geht in seiner Maurenbrecher-Kritik sogar soweit zu behaupten, daß die "logische Unverschmelzbarkeit" der Prinzipien des alten germanischen und des neuen repräsentativen Staatsrechts ein allgemeines deutsches Territorialstaatsrecht "als logisches, eine prinzipgemäße geistige Einheit darstellendes System" verhindere (1839, Sp.697 und 181). 8 Dies geht aus den Ansprüchen hervor, die Albrecht an die Darstellung des Staatsrechts stellt: die "Veranschaulichung des privatrechtlichen und staatsrechtlichen Grundcharacters des älteren und neueren Staatsrechts", den "Nachweis, wie das geltende Recht, in einigen Staaten mehr als in anderen, theils den ersteren bey behalten, theils den letztem adoptiert hat"(!) und "die Beantwortung der Frage (die ein Hauptartikel in dem Glaubensbekenntnisse des heutigen Publicisten ist), welcher von beidem im Zweifel als Grundlage und Ausgangspunkt für die Construction des heutigen Staatsrechts anzusehen sey"(1837, S.1497). 9
A.a.O., S.1497.
Dies zeigen die in Fn.8 zitierten Ausführungen. "Im Zweifel" war aber trotzdem ein Grundcharakter des Staatsrechts der Darstellung zugrunde zu legen.
III. Staatsrechtswissenschaftlicher Positivismus
123
aber nicht mehr Albrecht selbst, sondern Carl Friedrich von Gerber, der diesen Grundgedanken in aller Konsequenz ausführte. b) Schon 1846 hatte Gerber in seinem Werk "Über das wissenschaftliche Princip des gemeinen deutschen Privatrechts" die Notwendigkeit behauptet, daß "in einem systematischen, wissenschaftlichen Ganzen die Gesammtheit der germanistischen Stoffe zu vereinen" sei, da die gegenwärtige Zeit sich nicht mehr damit begnüge, "wissenschaftliche Elemente als unverbundene Atome mittelst Anwendung einer rein mechanischen Thätigkeit zusammenzulegen" 1 1 . Eine "wahrhaft wissenschaftliche" Behandlung verbinde "die deutschen Rechtsstoffe zu einem abgerundeten Ganzen", in "welchem alle einzelnen Theile organisch verbunden" seien; die Darstellung habe von einem "einheitlichen Principe" auszugehen, das alle einzelnen Teile "mit überall sichtbaren Fäden in sich, als den lebendigen Mittelpunct" vereinige und jeder "Zweig des größeren Ganzen" müsse "trotz seiner eigenen Selbständigkeit die innere Verwandtschaft mit dem Centrum beurkunden" 12 . Sollte dieses einheitliche Prinzip nicht gefunden werden können, so würden die Elemente "als haltlose Fragmente in der Rechtswissenschaft umherirren" 13 . Mit diesem Wissenschaftskriterium beurteilt Gerber dann sechs Jahre später in seiner Schrift "Über öffentliche Rechte" auch die zeitgenössische deutsche Staatsrechtswissenschaft. Seinen Ansprüchen kann, wie er schreibt, nicht genügen, "wenn die beträchtliche Summe politischer Thatsachen, welche dieses Jahrhundert für Deutschland hervorgebracht hat, in derselben Weise registriert und gesammelt wird, als dieß zur Zeit des deutschen Reichs geschehen ist" 1 4 . Es bedurfte daher keiner weiteren Erklärung, daß Klübers "ganz äußerliche Auffassung der Dinge kein wissenschaftliches Ganze mit innerer Einheit und selbständigem Leben hervorbringen" 15 konnte. Doch, und dies ist entscheidend, es lag nicht an Klüber allein, daß dessen Werk das Prädikat "Wissenschaft" nicht verdiente. Denn in Gerbers Augen fehlte ja der Rechtsstoff selbst, der einheitlich hätte dargestellt werden können. Es gab kein wissenschaftlich begründbares gemeines deutsches Staatsrecht: dem "deutschen Staatsrechte", so Gerber, könne "nicht einmal diejenige wissenschaftliche Einheit zugeschrieben werden", die für das deutsche Privatrecht in Anspruch zu nehmen sei 1 6 . c) Wenn Gerber an dieser Stelle von einer "wissenschaftlichen Einheit" spricht, so meint er damit nicht die Anordnung des Stoffes von einem "ein11
1846a, S.238.
1 2
A.a.O., S.241f. Der Text ist im Original gesperrt, dies zeigt auch, welchen Stellenwert Gerber diesem Gedanken beimaß. Gerber wendet sich im übrigen mit diesem Konzept gegen die in der Wissenschaft des deutschen Privatrechts herrschende historische Methode, die Eichhorn 1815 begründet hatte (dazu oben Kapitel B.III. 2). 1 3
A.a.O., S.241.
1 4
1852, S.8.
1 5
Ebd.
1 6
A.a.O., S. 10.
124
Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
heitlichen Principe" aus, nicht ein wissenschaftliches Ganzes mit "innere(r) Einheit". Gerber meint hier die Einheit als Eigenschaft des Stoffes selbst. Er verwendet den von Maurenbrecher eingeführten Begriff einer Einheit des deutschen Staatsrechts im Sinne inhaltlicher Übereinstimmungen und Gleichförmigkeiten der deutschen Partikularstaatsrechte, die die Existenz eines gemeinen deutschen Staatsrechts begründen könnten. Schon die in den deutschen Staaten herrschenden Gegensätze staatsorganisatorischer und konstitutioneller Art standen Gerber zufolge der Annahme eines solchen Staatsrechts entgegen 17 . Und auch die "geringen gemeinsamen Elemente, welche im Territorialstaatsrecht aus dem früheren Reichsverbande übrig geblieben waren", konnten den Glauben an die Möglichkeit eines gemeinen deutschen Staatsrecht ebensowenig stärken "als der Umstand, daß allen gegenwärtigen Verfassungszuständen gewissse allgemeine politische Ideen als wirksame Motive gleichmäßig zu Grunde lagen" 1 8 . Auch die von der Wissenschaft unternommenen Anstrengungen vermochten es nicht, ein Staatsrecht für ganz Deutschland zu legitimieren. Über Maurenbrechers wissenschaftlich unhaltbaren Vorschlag zu analogisieren, brauchte nach Gerbers Auffassung kein weiteres Wort verloren zu werden 19 . Vor Gerbers wissenschaftlichem Positivismus 20 konnten auch die Autoren nicht bestehen, die angesichts der "Gegensätze im wirklichen deutschen Staatsleben" in den "Regionen der Politik und Staatsphilosphie höhere Indifferenzpunkte zu gewinnen" suchten 21 . Kurz: Die Rechtserzeugung auf dem Gebiet des Staatsrechts sei "so wesentlich dem bestimmten Gegensatze des Partikulären gegen das Gemeinsame und der bewußten Abgeschlossenheit in bestimmten Territorien unterworfen" 22 , daß eine wissenschaftliche Einheit des deutschen Staatsrechts, verstanden als das Ausmaß seiner inhaltlichen Kongruenzen, verneint werden mußte. d) Diese Ansicht hat Gerber 1865 revidiert. Nun bejahte er eine, wie er jetzt auch mit klarerer Wortwahl sagte, "materielle Einheit" 2 3 des deutschen Staatsrechts. In seinen "Grundzügen des deutschen Staatsrechts" ist Gerber der 1 7
A.a.O., S.9.
1 8
Ebd.
1 9
A.a.O., S.10.
2 0
Diese Grundhaltung findet sich am klarsten in Gerbers "Beilage III" zu den Grundzügen des deutschen Staatsrecht (1880, S.238) formuliert. Die Genese dieser Grundhaltung im Gerberschen Denken und ihr Verhältnis zum bloßen Gesetzespositivismus wird von Pauly en detail herausgearbeitet (1993a, S.l 46ff., 218ff.). 2 1
A.a.O., S.10.
2 2
A.a.O.,S.ll.
2 3
1865, S.l Of. Fn. 2. Ein Unterschied zwischen gemeinem deutschen Staatsrecht und Privatrecht macht Gerber insofern, "als die hier in Anspruch genommene materielle Einheit beim Privatrechte in noch entschiedenerem Masse vorhanden" sei, da die Einwirkung des gemeinsamen nationalen Geistes auf die Erzeugung des Privatrechts weit weniger durch die staatliche Vielheit durchkreuzt werde, als dies beim Staatsrecht der Fall sei. Gerber distanziert sich aber ausdrücklich von seiner 1852 eingenommenen Position, wenn er schreibt: "Etwas scharf ist diess indessen hervorgehoben in meiner Schrift über öffentliche Rechte S.l Iff." (1865, S.l 1).
III. Staatsrechtswissenschaftlicher Positivismus
125
Ansicht, daß die Grundprinzipien der einzelnen deutschen Verfassungen in einer "keineswegs zufalligen Übereinstimmung" stünden, da sich die deutschen Staaten aus der früheren Reichseinheit unter dem Einfluß "gleichartiger politischer Ereignisse heraus entwickelt" hätten. Es liest sich wie Puchtas These von der aus der Einheit des Volksgeists emanierenden Einheit des Rechts, wenn Gerber den Grund der materiellen Übereinstimmungen der deutschen Terrritorialstaatsrechte darin sieht, daß "auch bei ihrer Bildung der seiner Einheit sich immer bewusste deutsche Volksgeist einen unverkennbaren Antheil" gehabt habe 24 . Mit den von ihm vorgelegten "Grundzügen des deutschen Staatsrechts" glaubt Gerber den "historisch sittlichen Gehalt der einzelnen, in jedem Partikularrechte wiederkehrenden Rechtssätze und Rechtsinstitute" herauszustellen, auch wenn sie nicht darauf zielen konnten, "imperative Sätze von unmittelbar verbindlicher Kraft zu gewinnen" 25 . Sie konnten aber eine "Einleitung zu den einzelnen deutschen Staatsrechten" liefern und auf diesem Wege auch seinem nationalpolitischen Impetus zum Ausdruck verhelfen 26 . Jetzt erst, nachdem von der Existenz eines gemeinen deutschen Staatsrechts ausgegangen werden durfte, konnte es für Gerber sinnvoll sein, sich die Frage nach der Form zu stellen, in die der nun vorliegende Stoff zu bringen war. Gerber blieb sich dabei treu und wiederholte fast gleichlautend den Gedanken, den er schon 1846 in seiner Schrift "Über das wissenschftliche Princip des gemeinen deutschen Privatrechts" zum Wissenschaftskriterium erhoben hatte. Rund zwanzig Jahre später zeigt sich Gerber immer noch erfüllt von dem "dringende(n) Bedürfnis", ein wissenschaftliches System aufzustellen, "in welchem sich die einzelnen Gestaltungen als die Entwickelung eines einheitlichen Grundgedankens darstellen" 27 . Erst durch ein solches System, das "die rechtlichen Verbindungen aller einzelnen Erscheinungen klar stellte", würde "das deutsche Staatsrecht seine wissenschaftliche Selbständigkeit erlangen und die Grundlage sicherer juristischer Deduktion gegeben sein" 2 8 . Doch so war erst abstrakt bestimmt, wie der Stoff angeordnet werden sollte. Gerber erkor nun aber mit der Vorstellung von der Persönlichkeit des Staates den zentralen Grundgedanken, der die erstrebte einheitliche Ordnung leistete. 1852 stand er dieser Deutung des Staates noch skeptisch gegenüber, da durch sie "die unendliche Mannigfaltigkeit des staatsrechtlichen Stoffs von neuem in den engsten und ungeeignetsten Rahmen" eingezwängt werde 29 . In 2 4
A.a.O., S.9.
2 5
A.a.O. S. 10.
2 6
A.a.O., S.l 1. Das nationalpolitische Anliegen Gerbers wird erkennbar an der Qualifizierung der Grundzüge als "Produkt der sittlichen Kraft des deutschen Volks" oder daran, daß er es als "Anomalie" empfindet, wenn die deutsche Wissenschaft ein gemeines Staatsrecht künstlich erzeugen müsse (a.a.O., S.l 1). Dies sei ein Zwiespalt, der genau dem Umstände entspräche, daß sich der Begriff des deutschen Volks und seine staatliche Organisation nicht decke (ebd.). 2 7
A.a.O., S.VI.
2 8
Ebd. An gleicher Stelle schreibt er, daß er schon seit Jahren von diesem Gedanken ergriffen
sei. 185, S . l .
126
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
seinen "Grundzügen" formulierte er dagegen programmatisch: "In der Persönlichkeit des Staates liegt der Ausgangs- und Mittelpunkt des Staatsrechts; mit der Anknüpfung an sie ist zugleich die Möglichkeit eines wissenschaftlichen, d.h. durch einen einheitlichen Gedanken beherrschten Systems gegeben" 30 . Gerber hatte damit die entscheidendende Zuordnungsgröße gefunden, mit der der staatsrechtliche Stoff, die "Summe von Rechtssätzen und Rechtsinstituten" 3 1 , in einer Weise integriert werden konnte, die seinem Wissenschaftskriterium entsprach. Der Staat wird als "rechtliche Persönlichkeit" begriffen, die "Willensfähigkeit", oder wie Gerber auch schreibt, "Willensmacht" besitzt, "Macht zu herrschen". Und diese "Willensmacht des Staates, die Staatsgewalt, ist das Recht des Staats" 32 . Die Wissenschaft kann von diesem Grundgedanken einer mit Willensmacht ausgestatteten Persönlichkeit des Staates den gesamten Stoff geordnet darstellen, indem sie aufzeigt, was "der Staat als solcher wollen" (Inhalt und Umfang der Staatsgewalt) und durch wen und wie, "durch welche Organe und in welchen Formen" er seinen Willen äußern kann. e) Gerber gelingt durch diese Heraushebung des staatlichen Willens als "Zentrum", "einheitliches Princip" und "lebendiger Mittelpunkt" des staatsrechtlichen Systems das, was Albrecht nur vage skizziert hatte: eine Darstellung des deutschen Staatsrechts, die eben eine "das Einzelne zusammen haltende Einheit" 3 3 nicht vermissen läßt. Albrecht selbst durfte ja nicht hoffen, daß mit der Deutung des Staates als Person das Problem einer einheitlichen Darstellung gelöst werden konnte, da er das gegenwärtig geltende Recht noch zu sehr von den gleichermaßen herrschenden, miteinander vermischten Prinzipien des alten und neuen Rechts durchwirkt sah. Nachdem sich für Gerber diese Vermischung aber aufgelöst hatte und mit "der Neugründung der deutschen Staaten in diesem Jahrhunderte ... alle staatsrechtlichen Begriffe verändert und in einen anderen principiellen Zusammenhang gebracht worden waren" 3 4 , war die letzte Hürde vor einem einheitlichen System des gemeinen Staatsrechts gefallen. Der geniale denkerische Akt bestand darin, alle staatsrechtlichen Beziehungen unbesehen ihrer historischen, soziologischen oder philosophischen Implikationen als Willensverhältnisse zu deuten und sie in Beziehung zu setzen mit dem einen Willen der Staatsperson 35. Die juristische Person des Staates wird damit zu einer bloßen anthropomorphen Metapher, 3 0 1 865, S.3f. Kaum nachvollziehbar ist von Oertzens Behauptung, es handele sich bei dem von Gerber gemeinten "einheitlichen Grundgedanken" des wissenschaftlichen Systems um die "Auffassung des Staates als des rechtlich-politisch organisierten Volkes, die Vorstellung der Identität von Staat und Volk" (1974, S.175). Der Gerbersche Text spricht doch eine klare, die Schwelle zur Evidenz überschreitende Sprache: Die Persönlichkeit des Staates ist der Grundgedanke, der ein einheitliches wissenschaftliches System ermöglicht. 3 1
Gerber 1865, S.6.
3 2
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.2f.
3 3
Albrecht 1837, S.l496.
3 4
1865, S.9. Der "Zusammenhang der älteren Zeit und der Gegenwart" bestünde nur "in der Conservirung einzelner Schalen und Hüllen des älteren Rechts, aber der Stoff, mit dem sie gefüllt sind", sei "ein durchaus neuer geworden" (1865a, S.446). 3 5 Der Wille als zentrale Kategorie im Denken Gerbers wird mit einem Höchstmaß an Präzision analysiert von Pauly 1993a, S.149ff., 160ff., 21 Iff.
III. Staatsrechtswissenschaftlicher Positivismus
127
die als letzte Bezugsgröße aller staatsrechtlichen Sätze und Institute den Strahlpunkt versinnbildlicht, in dem sie vereinend zusammenlaufen. Damit waren alle Voraussetzungen geschaffen, um den Stoff des gemeinen deutschen Staatsrechts einheitlich zu strukturieren und so die erstrebte "wissenschaftliche Selbständigkeit" 36 zu erlangen. Daraus folgt auch, daß sich diese Lehre von der Persönlichkeit des Staates nicht allein aus ihrer politischen Funktion erklärt. Gewiß, sie entschärfte objektiv den Antagonismus von Parlament und Krone, von Volkssouveränität und Fürstensouveränität und beseitigte "jedenfalls für das Staatsrecht tödliche Feindschaften" 37 . Aber in ihrer politisch neutralisierenden und damit stabilisierenden Wirkung allein geht diese Lehre nicht auf. Sie entsprang bei Albrecht und Gerber auch einem wissenschaftsinternen M o t i v 3 8 . In ihr wirkte der Wunsch nach einer von einem einzigen Grundgedanken ausgehenden, einheitlichen und damit wissenschaftlichen Ordnung des staatsrechtlichen Stoffs. Und die von Gerber erreichte Ordnung büßt auch nicht deshalb von ihrer Überzeugungskraft ein, weil die Wirklichkeit des konstitutionell-monarchischen Staates selbst nicht einheitlich war 3 9 . Gerbers Theorie beruht auf einer Trennung zwischen "natürlicher" und "juristischer" Betrachtung des Staates, sie will nicht seine "gesammte Physiologie" entwickeln 4 0 , nicht soziologische Theorie, sondern juristische Konstruktion sein. Die gesellschaftliche Realität mag noch so sehr von sozialen, konfessionellen, ökonomischen oder philosophischen Antagonismen beherrscht werden, das Streben nach Ausgleichung politischer Konflikte, aber auch das nach wissenschaftlicher Ordnung kann es gebieten, diese gegenstrebigen menschlichen Verhältnisse als Willensrelationen zu deuten und sie auf einer formalen Ebene einheitlich zu konstruieren. Gerbers Ordnungslcistung entsteht nicht aus der ungebrochenen Rekonstruktion einer gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit im Wege eines staatsrechtlichen Systems, sondern geht - nicht zuletzt - aus dem Streben hervor, ein in kantianischer Tradition stehendes Wissenschaftspostulat zu erfüllen und damit ein Diese Motivation sprach Gerber ja selbst aus, vgl. Fn. 28. Dazu auch Wyduckel, StolUis 1992a, S.331.
S.261;
3 7 Quaritsck 1970, S.498; zur politischen Funktion auch Stolleis 1992a, S.103ff, 368f, speziell zu Albreckt und Gerber: S.333. Die politischen Bedingungen der Persönlichkeitslehre werden schon in Albrechts Rezension angesprochen. Denn er äußert Verständnis dafür, daß die Fürsten dieser Theorie "abgeneigt" gegenüberstünden. Auf einem Mißverständnis beruhe aber, daß sie als 'antimonarchische, unheilbringende Lehre" verschrien sei (1837, S. 1512). 3 8 Auch Häfelin betont die rechtstheoretisch-systematische Funktion der Staatsperson als Zentralbcgriff eines Systems abstrakt-formaler Rechtsbegriffe (1959, S.126; sich daran anschließend: Borsdorff 1993, S.309). Er behauptet sogar, daß der politische Gehalt der anorganischen Persönlichkeitsiehre keineswegs das große Gewicht habe, das diesem im Naturrecht, insbesondere bei den absolutistischen Theorien der Spekulation zugekommen sei (a.a.O., S.130 Fn.39), ja daß z.B. bei Laband die politische Funktion der Staatsperson in Konflikt treten konnte mit ihrem formaljuristischen Charakter (a.a.O., S.135 Fn.84). 3 9 So aber von Oertzen 1974, S.l84. Gerbers System leide an inneren Widersprüchen, die aus dem Zusammenstoß des Systems mit der sozialen Wirklichkeit resultiere (a.a.O., S.248; vgl. auch S.232). Daß die immanente Logik des Gerberschen Systems zu inneren Widersprüchen führe, kann gerade nicht behauptet werden (dazu Pauly 1993a, S.61f.). Wenn von Oertzen von inneren Widersprüchen redet, hat er lediglich die Differenz zwischen juristischer Theorie und sozialer Wirklichkeit im Sinn. 4 0
Gerber 1865, S.l und S.21 Fn.2.
128
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
Fundament zu legen, auf dem das Bemühen um wissenschaftliche Selbständigkeit staatsrechtlicher Arbeit sicher steht. Daß eine so motivierte einheitliche Konstruktion des Staatsrechts auf die gesellschaftliche Realität zurückwirken, sie entschärfen, neutralisieren und in diesem Sinne vereinheitlichen, ja daß eine derartige Wirkung auf die soziale Wirklichkeit die objektive Funktion eines solchen Einheitstheorems sein kann - dies ist damit natürlich nicht ausgeschlossen. 2. Der einheitliche Wille der Staatsperson (Jellinek 1887 und 1919)
a) Gerbers Theorie eines einheitlichen staatsrechtlichen Systems ist nicht sogleich auf Zustimmung gestoßen. Zwei Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage von Gerbers "Grundzügen" sah Held die Möglichkeit eines "auf einem folgerichtig durchgeführten einen Grundgedanken beruhenden System des positiven allgemeinen deutschen Verfassungsrechts" an dem Mangel eines "allgemein anerkannten" und "entschieden durchgeführten einen Grundgedanken der politischen resp. staatlichen Verfassung der ganzen deutschen Nation" scheitern 41 . Mit Gerbers Theorem der Persönlichkeit des Staates als dem einen Grundgedanken des staatsrechtlichen Systems mochte sich Held im Jahre 1867 anscheinend nicht anfreunden. Anders dagegen Georg Jellinek rund zwanzig Jahre später: er rezipierte Gerbers Persönlichkeitslehre als das zentrale Bauelement, das die Architektonik des staatsrechtlichen Systems zu tragen vermochte 42 . Für Gerber war die Erfassung des Staates als Person der "Ausgangs- und Mittelpunkt des Staatsrechts", für Jellinek der "Grund- und Eckstein" 43 . Nur mit der Annahme des Persönlichkeitsbegriffs seien die staatsrechtlichen Systeme imstande, die ihnen gestellte Aufgabe zu lösen 44 . Im Unterschied zu Gerber stellt sich Jellinek jedoch einem Problem, das unmittelbar aus der Annahme der Staatsperson folgte, von Gerber aber nicht erörtert worden war. Gerber hatte es unterlassen, den Willen des als Persönlichkeit verstandenen Staates näher zu analysieren. Ohne weiter ausgreifende Erklärungen ging er davon aus, daß das Volk im Staat zur "Willensfähigkeit" erhoben werde und der Staat als "höchste rechtliche Persönlichkeit" in der Staatsgewalt "Willensmacht" besässe45. Und die Autoren, die sich im Anschluß an Gerber zur Staatsperson äußerten, setzten ebenfalls ohne tiefergehende Ausführungen voraus, daß der Wille das unverzichtbare Merkmal der
4 1
Held 1867, S.471.
4 2
Anschütz berichtet in seinem Nachruf auf Jellinek, dieser habe Gerber einmal "unser aller Meister" genannt (1911, S.l98). 4 3
Jellinek 1887, S. 195.
4 4
A.a.O., S.l96.
4 5
Gerber 1865, S.l und S.2f. Genau dies kritisierte Kelsen an Gerber: er habe den "einheitlichen Staatswillen, in dem ja das Wesen der einheitlichen Staatspersönlichkeit" bestehe, nicht näher untersucht (1911a, S.174). Kelsen deutet Gerbers Staatswillen als "Recht, einen Willen zu äußern". Dies hieße aber auf jede Analyse des Staatswillensbegriffes verzichten (ebd.).
III. Staatsrechtswissenschaftlicher Positivismus
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Staatsperson, genauer: der einheitliche Wille des Staates Grundlage dieser Staatspersönlichkeit sei 4 6 . b) Jellinek beließ es nicht mehr bei diesem einheitlichen Staatswillen als unbewiesener Annahme, sondern ging daran, für diesen Willen eine tragfähige Begründung zu geben. Als Ausgangspunkt dient ihm dafür die Deutung des Staates als "Zweckeinheit". Jellinek wendet den teleologischen Denkmodus, also die Ordnung und Strukturierung des Beziehungsgeflechts von Personen und Dingen durch die jeweils verfolgten menschlichen Zwecke 4 7 , auf den Staat selbst an. Der Staat erscheint ihm daher als "teleologische Einheit": auf einer physischen Grundlage, einem räumlich abgegrenzten Teil der Erdoberfläche leben Menschen, "die gemeinsame, bleibende, einheitliche, unter einander zusammenhängende, nur durch dauernde Institutionen zu versorgende Zwecke verfolgen" 48 . Umfaßt sind alle diese Zwecke von dem ersten Zweck des Staates, der in seiner eigenen Existenz, seiner Selbsterhaltung und Selbstbehauptung nach Aussen und Innen besteht 49 . Aus diesem Zweck, der aufgrund empirischer Beobachtung erkannt wird, folgt zweierlei: als unerläßliche Bedingung für die Erfüllung aller übrigen Zwecke bewerkstelligt er die Vereinigung von Menschen zu einem Staat 50 . Darüberhinaus folgt aus ihm aber "kraft derselben Denknotwendigkeit" die Verbindung der auf die Erreichung dieses Zweckes gerichteten Willen vieler Personen zu einem einheitlichen W i l l e n 5 1 . Dieser Wille, der den Staat als Persönlichkeit zu deuten erlaubt 52 , hat aber keine vom physischen Wollen der einzelnen, den Staat bildenden Individuen losgelöste Existenz. Das wollende Individuum wird vielmehr zu einem "Willensorgan der Einheit", der Individualwille wird auf die Einheit projiziert 5 3 . Mit einem Wort: Der Wille eines Individuums gilt als Wille des Staates, ohne daß es dabei auf die Anerkennung dieses Willens durch die Rechtsordnung ankäme 54 . Sie hat auf diesen einheitlichen Willen des Staates keinen Einfluß. Allerdings erhebt die Rechtsordnung ein "faktisches Willensorgan" zu einem "rechtlichen Organ", indem "sie die bereits unabhängig von ihr als innere 4 6 So Schulze 1865, S.14, Mohl 1867, S.369, Undgren 1869, S.173, Seydel 1873, S.8, Gierke 1874, S.124, Laband 1876, S.59 und Preuss 1889, S.169. Kelsen bemerkt dazu: sowohl die Vertreter der organischen Staatsauffassung, derzufolge der Person des Staates "Realität" zukomme, wie deren Gegner, die sie nur als Abstraktion gelten ließen, seien sich darüber einig, "daß die Grundlage dieser Staatspersönlichkeit ein einheitlicher Wille ist" (191 la, S.162f.). 4 7 1919, S.23. Es handelt sich hierbei um die posthum veröffentlichte zweite Auflage des "System der subjektiven öffentlichen Rechte". Diese Schrift erschien zum ersten Mal 1892. 4 8
A.a.O., S.26, ebenso 1913, S.179.
4 9
1887, S. 191.
5 0
Ebd.
5 1 1887, S.194; im sachlichen Kern identisch, wenn auch mit leichter terminologischer Differenz: 1919, S.29. 5 2
1887, S. 192.
5 3
1919, S.30.
5 4
Ebd.
9 Baldus
130
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
Lebensordnung der Menscheneinheit bestehende Organisation als solche anerkennt' 0 5 . Dadurch entsteht eine folgenreiche Problematik, da der Staat "nicht durch ein einziges, sondern durch eine Vielheit von Organen" handelt 5 6 . Die auf den Zweckgedanken gestützte Begründung der Einheit des Staatswillens kann die "äussere Möglichkeit von Widersprüchen der verschiedenen definitiven Staatswillensakte" natürlich nicht ausschließen 57 . Wäre die Staatsperson einfach mit dem Monarchen zu identifizieren, so könnte ohne weiteres ein einheitlicher Wille der Staatsperson behauptet werden 58 . Die Wahrscheinlichkeit, daß sich ein Monarch widerspricht, ist ungleich geringer als die Möglichkeit von Willenskollisionen, die erfahrungsgemäß bei einer Vielzahl von Staatsorganen auftreten. Der problemträchtige Kern der modernen Persönlichkeitslehre bestand aber gerade - so bei Albrecht und Gerber gesehen - darin, den Monarchen nur mehr als ein Organ zu begreifen, das mit anderen Organen den Willen des Staates formuliert und ausführt. Der von einer Vielheit von Organwillen erstrebte Zweck, die Existenz des Staates zu erhalten und zu behaupten, faßt diese Willen gewiß zu einer Einheit zusammen. Er stellt aber nicht sicher, daß insbesondere wegen seiner hohen Abstraktheit die Frage der zu wählenden Mittel zum Anlaß für erhebliche Differenzen und Widersprüche wird. Der gemeinsame Zweck der Staatserhaltung und Staatsbehauptung genügt kaum, eine Willenseinheit des Staates zu konstituieren, die alle einzelnen Staatswillensakte erfaßt. Jellinek löst diese Problematik, indem er auf die Rechtsetzungsmacht des Staates rekurriert. Die Vielheit der staatliche Organe gefährde die Einheit des staatlichen Willens nicht, da der Staat "durch objektives Recht die Kompetenzen seiner Organe" normiere 59 . Der Staat, der sich nach Jellinek durch seine Organe selbst verpflichtet und beschränkt und sich so sein eigenes Recht schafft 60 , unterwirft sich einer Kompetenzordnung, die ihn, d.h. seine Organe, davor bewahrt, sich zu widersprechen. Eine solche Ordnung versetzt ihn in den Stand, "über die Grenzen seiner Organe zu Gericht zu sitzen", sie "in das Verhältnis der Über-, Unter- und Nebenordnung" zu bringen und somit "die Vielheit der Verrichtungen der Behörden in Einklang" zu setzen mit der "Einheit des Staates" 61 . Für Jellinek zielt alle staatliche Organisation dahin, die "Einheitlichkeit des staatlichen Willens herbeizuführen"^ 2. Der definitive 5 5
Ebd.
5 6
1919, S.227.
5 7
A.a.O., S.228.
CO
So etwa Stahl. Nach seiner Lehre wurzelt der herrschende Wille in einer Individualität (1873, S.l3). Diese Individualität sei der Fürst. "Die Persönlichkeit des Fürsten" werde dadurch zu einer "objektiven Persönlichkeit, zur Persönlichkeit des Staates" (1878, S.313). 5 9
1919, S.226.
6 0
1887, S.198f., 1919, S.195.
6 1
1919, S.228.
Δ
A.a.O., S.229. Als Ausfluß dieser Einheitsgarantie durch eine Kompetenzordnung führt Jellinek die formelle und materielle Rechtskraft höchstinstanzlicher Urteile an (ebd.). Zudem trügen Wahlen und Majoritätsbeschlüsse dazu bei, aus dem Willen mehrerer einen in sich einheitlichen Willen entstehen zu lassen (a.a.O., S.31). Jellineks Lehre folgten Hänel (1892, S.93), Rehm (1899,
III. Staatsrechtswissenschaftlicher Positivismus
131
Staatswillen tritt "allen, auch den an seiner Bildung beteiligten Organen als einheitlicher, unabänderlicher, herrschender entgegen" 63 . c) So erweist sich, daß Jellinek letzten Endes die Möglichkeit eines nicht einheitlichen, und das heißt für ihn, widersprüchlichen staatlichen Willens verneint. Die Einheit des staatlichen Willens, die zunächst durch den Zweck des Staates, sich selbst zu behaupten und zu erhalten, gewährleistet war, wird noch einmal überbaut, gesichert und verstärkt durch die Kompetenzordnung, die sich der Staat in Form seiner Rechtsordnung selbst auferlegt. Jellineks Argumentation, die ganz seiner Zwei-Seiten-Lehre entpricht - der Staat ist einmal "gesellschaftliches Gebilde, sodann rechtliche Institution" 64 - impliziert also, daß letztlich die staatlichen Organe, durch die ja der Staat sein Recht und damit auch seine Kompetenzordnung setzt, selbst für ihre kollisionsfreien Willensäußerungen Sorge tragen. Sieht man zunächst von den damit einhergehenden praktischen Schwierigkeiten ab, denen jedes einzelne Organ angesichts einer auch schon im zweiten Kaiserreich hochdifferenzierten und in ihrer Gesamtheit kaum zu überschauenden staatlichen Willensorganisation ausgesetzt ist, so wird in Jellineks Theorie zum einen ausgeblendet, daß die Kompetenzordnung in sich selbst inkohärent sein kann und zum anderen nicht berücksichtigt, daß ein Organ sich selbst zu widersprechen vermag, etwa wenn es ein Gesetz oder eine Verordnung erläßt, in denen die darin enthalten Rechtssätze miteinander kollidieren. Es war schließlich Hans Kelsen, der sich dieser Fragen annahm und das zum ersten Mal von Jellinek gründlicher bearbeitete Problem des einheitlichen Staatswillens einer breit angelegten Lösung zuführte.
S.194) und Anschüiz (1905, S.l7: Die xMehrheit der Staatsorgane schlösse durch ihr verfassungsmäßiges, also durch die Rechtsordnung organisiertes Zusammenwirken die Einheit der Staatspersönlichkeit und des Staatswillens nicht aus). 6 3
1919, S.229.
6 4
1913, S . l l .
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C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 -1979) 1. Kelsens Deutung des einheitlichen Staatswillens
a) Im Jahre 1911 nahm Hans Kelsen in seiner Habilitationsschrift über die "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" und in seinem Vortrag "Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode" die Problematik von Jellineks Therie des einheitlichen Staatswillens auf und prüfte sie auf immanente Folgerichtigkeit und soziologische Angemessenheit. Kelsen bejaht dabei zunächst die Lehre, nach der die Auffassung des Staates als Person der Grundund Eckstein aller staatsrechtlichen Konstruktion sein muß und die Grundlage dieser Staatspersönlichkeit im "einheitlichen Staatswillen" zu finden ist 1 . Kelsen greift aber Jellineks Willenstheorie sogleich von zwei Seiten an. Zunächst glaubt Kelsen bei Jellinek insofern eine Inkonsequenz zu entdecken, weil einmal das durch den gemeinsamen Zweck der Staatserhaltung geeinte Staatsvolk als Staatsperson bestimmt werde, dann aber als Staatswille nicht der Gesamtwille eben dieses Volkes fungiere, sondern der Wille der Staatsorgane 2 . Es sei eine unzulässige Fiktion, prinzipiell den Willen als psychische Tatsache zu betrachten, gleichzeitig aber den Willen dieser Staatsorgane als einheitlichen Willen des ganzen Staatsvolkes gelten zu lassen3. Im Grunde wirft also Kelsen Jellinek vor, von einem und demselben staatlichen Willen auszugehen, diesen Willen aber als soziologisches Phänomen - gebildet durch den Gedanken der gemeinsamen Zweckverfolgung - wie auch als juristische, durch die vereinheitlichende Kraft der staatlichen Kompetenzordnung konstruierte Größe anzusehen. Kelsen attackiert aber nicht nur diese Doppelung, sondern stellt die Vorstellung eines soziologisch beobachtbaren einheitlichen Staaiswillens insgesamt in Frage. Halte man sich an die realen psychischen Tatsachen, so argumentiert Kelsen, dann zerfalle das innerhalb der Staatsgrenzen lebende Volk in eine Vielheit von Gruppen. Man müsse kein Marxist sein, "um angesichts der tiefen Klassengegensätze, die das juristisch eine Einheit bildende Staatsvolk zerklüften, einen das ganze Volk seelisch einigenden Gesamtwillen für ein Phantom zu halten" 4 . b) Kelsen bemängelt also die soziale Inadäquanz von Jellineks Theorie des einheitlichen staatlichen Willens. Unschwer ist dabei zu erkennen, daß der realhistorische Hintergrund dieser Kritik in der sozialen Frage wurzelt, die sich in der Spätphase des Konstitutionalismus immer deutlicher abzeichnete. Darüberhinaus kommt in dieser Kritik aber ein spezifisch österreichisches Problem zum Ausdruck, nämlich das der politischen und sozialen Inhomogenität eines Vielvölkerstaates. Kelsen zeigt in seiner Autobiographie selbst darauf, daß sich "angesichts des österreichischen Staates, der sich aus so vie1
1911b, S.16.
2
191 la, S.174f.
3
1911a, S.175.
4
1911b,S.18.
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979)
133
len nach Rasse, Sprache, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzte", Theorien als Fiktionen erwiesen, "die die Einheit des Staates auf irgendeinen sozial-psychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehörigen Menschen zu gründen versuchten" 5 . Diese sozialen Entwicklungen, die die Vorstellung staatlicher Homogenität und damit die eines einheitlichen staatlichen Willens zunehmend unterminierten, waren schon in den Jahren um die Wende zum 20.Jahrhundert, also kurze Zeit bevor Kelsen mit seinen Werken hervortrat, von einer realistischen Staatstheorie (Gumplowicz, Ratzenhofer, Menger, Oppenheimer) erfaßt und zu der These verarbeitet worden, daß der Staat nur mehr als Ergebnis von Gruppen- und Klassenkämpfen zu deuten war 6 . Wenn Kelsen Jellinek vorwirft, die soziologische Begründetheit einer Einheit des staatlichen Willens sei Illusion, so finden diese von der Staatstheorie jener Zeit zumindest zum Teil erfaßten sozialen Entwicklungen ihren Niederschlag. Kelsen vollzieht in seiner Theorie also gesellschaftliche Prozesse nach und belegt damit einmal mehr, daß sich rechtswissenschaftlicher Positivismus nicht in reiner Begriffsentwicklung erschöpft, sondern vielmehr die rechtlich erheblichen sozialen Tatsachen zu fixieren und dann unter allgemeine Begriffe einzuordnen sucht 7 . Falls sich dabei die gesellschaftlichen Veränderungen als so tiefgreifend erweisen, daß die bisher verwendeten Deutungsschemata als unpassend erscheinen, sind diese unter Beibehaltung des einmal erreichten erkenntnistheoretischen Niveaus zu modifzieren oder ganz aufzugeben. c) Kelsen läßt nun aber trotz dieser Jellinek-Kritik das Theorem eines einheitlichen Staatswillens nicht ganz fallen. Nur der Weg zu seiner soziologischen Begründung ist ihm versperrt, der zu einer juristischen Begründung aber weiter offen. Da der Staatswille, so lautet Kelsens entscheidender Gedanke, nicht empirisch nachgewiesen werden könne, müsse es sich bei ihm um eine "unter dem Gesichtspunkt der Norm, des Sollens vollzogene Konstruktion" handeln 8 . Nach juristischer Auffassung sei die Rechtsordnung selbst Inhalt dieses Staatswillens, auf dessen Einheit sich die Staatspersönlichkeii erst gründe 9 . Handlungen von Menschen sind im juristischen, nicht Zitiert in Métall 1968, S.42; illustrativ zum Nationalitätenproblem der österreichischungarischen Monarchie auch Janik/Toulmin 1985, S.47ff. 6
η
Dazu Stolleis 1992a, S.444ff.
Vgl. dazu Laband 1905, S.617. Durch die traditionelle Darstellung und Kritik des Rechts- , insbesondere des staatsrechtlichen Positivismus ist das Wissen um diese seine wesentliche Eigenart weitgehend verschüttet worden. Die notwendigen Korrekturen an diesem verzeichneten Bild des staatsrechtlichen Positivismus hat dazu im einzelnen Pauly vorgenommen; zu Laband 1993b, S.318, zu Gerber s.o. Kapitel C.III. 1, Fn. 20. 8 1911b, S.32. In den Hauptproblemen beschreibt Kelsen den Staatswillen als "Produkt" der juristischen und "zum Zwecke der Zurechnung vollzogenen Konstruktion" (1911a, S.184). Dieser Wille ist ein "Endpunkt von Zurechnungen". "Die Individuen, deren Handlungen einer derartigen Zurechnung unterzogen werden, sind die Staatsorgene, der gemeinsame Treffpunkt aller Zurechnungslinien, die von den als Organhandlungen qualifizierten Tatbeständen ausgehen, ist der Staatswille oder die Staatsperson" (1911b, S.32f.). Da die Rechtsordnung die Regeln an die Hand gibt, mit denen die konkreten, dem Staate zuzurechnenden Handlungen zu ermitteln sind, kann die Rechtsordnung als "eine Summe von Zurechnungsregeln" erkannt werden (191 lb, S.33). 9
1911b, S.18
134
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
im empirischen Sinne als staatlich gewollt zu begreifen, indem sie nicht als solche dieser Menschen gelten, sondern dem Staat als juristischer Person zugerechnet werden, und zwar durch die Rechtsnormen, die damit als Zurechnungsregeln fungieren. Da sie festlegen, welcher Willensakt als staatlicher Wille zu gelten hat, erscheint die Rechtsordnung selbst als Inhalt dieses Willens. Und deshalb kann in den Augen Kelsens die "Vorstellung eines einheitlichen Staatswillens" nur ein Ausdruck für "die Einheitlichkeit der Rechtsordnung" sein, für "die logische Geschlossenheit und notwendige innere Widerspruchsfreiheit der rechtlichen Normen" 1 0 . Wenn sich also die Staatsperson und ihr juristisch gedeuteter Wille durch die Eigenschaft der "Einheitlichkeit" auszeichnen und die Rechtsordnung Inhalt dieses Willens ist, also beide, Rechtsordnung und Staatswillen letztlich miteinander zu identifizieren sind, dann müssen sich, wie bei einer mathematischen Gleichung, die Eigenschaften des staatlichen Willens in der Rechtsordnung wiederfinden, folglich alle Merkmale, die dem Staatswillen eignen, auch Merkmale der Rechtsordnung sein. d) Damit hat Kelsen im Vergleich mit der ihm vorausgehenden Staatsrechtswissenschaft einen entscheidenden Perspektivenwechsel vorgenommen. Durch die Identifizierung von Staatswillen und Rechtsordnung ist nun die Einheit der gesamten Rechtsordnung Thema geworden. Es geht also nicht mehr wie bei Gerber und Jellinek um den staatlichen Willen als Grundbaustein des staatsrechtlichen, also auf einen Teilbereich der Gesamtrechtsordnung bezogenen Systems. Kelsen sucht hingegen die Einheit der gesamten Rechtsordnung zu konzipieren. In seinen Arbeiten aus dem Jahre 1911 hat Kelsen zwar noch keine Lösung zu den Fragen präsentiert, wie nun diese Einheit der ganzen Rechtsordnung genau vorzustellen, sie zu begründen und zu konstruieren ist. Kelsen liefert diese Antworten aber in den folgenden Jahren, im Rahmen einer rund sieben Jahrzehnte umspannenden Arbeit an einer Rechtstheorie, die ihren, wie eben gesehen, genau bestimmbaren historischen Ort hat, die sich aber in ihrer Gesamtentwicklung als weitestgehend autonomer Denkprozeß darstellt, den ein Höchstmaß an konsequenter Durchführung der einmal gefaßten Ausgangsprämissen auszeichnet. 2. Die Genese von Kelsens Einheitskonzept bis zur ersten Auflage der "Reinen Rechtslehre 11 im Jahre 1934
a) Den ersten Schritt zur Auflösung der Einheitsproblematik unternimmt Kelsen in seinem Aufsatz "Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft", der im Jahre 1913 erschien. Anknüpfungspunkt ist für ihn dabei die Auffassung Otto Mayers, wonach es nicht zum Vorbehalt des Gesetzes gehöre, "in obrigkeitlicher Weise dem Untertanen gegenüber zu bestimmen, was für ihn im Einzelfall Rechtens sein soll" 1 1 . Beim Versuch, ein an einem konsequenten 1 0 11
1911b,S.33. Mayer, 1895, S.97.
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979)
135
Rechtsstaatsbegriff interessiertes Argument gegen diese Auffassung zu entwickeln, die, so Kelsens Deutung, eine von der Legislative unabhängige Rechtsetzungsbefugnis der Exekutive beinhalte, geht er weiterhin von der Gleichsetzung des staatlichen Willens mit der Einheit der Rechtsnormen aus 1 2 . Kelsen begründet aber zum ersten Mal diese Einheit, indem er sie als "Postulat der Begreiflichkeit, der Denkbarkeit eines Normensystems" bezeichnet, als "logische Voraussetzung jeder normativen, d.h. auf Normen gerichteten Erkenntnis" 13 . Wenn man - so wie Otto Mayer - Legislative und Exekutive die Kompetenz zuerkenne, Rechtsnormen zu statuieren, so dürfe man nicht vergessen, "daß die Rechtsordnung als Inbegriff aller Rechtsnormen, insofern ein logisch geschlossenes, d.h. widerspruchsfreies System sein muß, als nicht zwei Rechtsnormen nebeneinander bestehen können, die inhaltlich unvereinbar sind" 1 4 . Kelsen spitzt diesen Gedanken, daß die als inhaltliche Widerspruchsfreiheit verstandene Einheit des Normensystems die gleichberechtigte und gleichzeitige Normsetzungskompetenz zweier Organe verbiete, noch zu: "Wenn die Einheit des Staatswillens und die Einheit des Rechtssystems gewahrt bleiben soll, muß die Rechtssatzungskompetenz formal letzten Endes auf einen Punkt zurückgeführt werden können", die Exekutive muß diese Kompetenz entweder von der Legislative, oder umgekehrt die Legislative sie von der Exekutive herleiten 15 . Bei dieser knappen Argumentation bleiben mehrere Fragen offen. Zunächst besteht die Möglichkeit eines Widerspruchs zwischen Gesetz und gesetzesausführender Verordnung doch offenbar auch dann, wenn die Rechtssetzungskompetenz auf einen Punkt zurückführbar, also etwa das Verordnungsrecht der Exekutive von einem einfachen zur Verordnung ermächtigenden Gesetz hergeleitet ist. Eine Verordnung kann eine Materie in einer von den gesetzlichen Vorgaben abweichenden und so vom Gesetz nicht gewollten Weise regeln. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit, alle Rechtsetzungskompetenz formal auf einen einzigen letzten Grund oder Punkt zurückzuführen, sichert nicht vor einer inhaltlichen Widersprüchlichkeit der gesetzlichen und verordneten Normen. Sodann ist zweifelhaft, wie die Einheit eines Normensystems im Sinne inhaltlicher Widerspruchsfreiheit als Postulat seiner "Begreiflichkeit" und "Denkbarkeit" sowie als logische Voraussetzung normativer Erkenntnis begründet werden kann. Kelsen setzt hier einen bestimmten Systembegriff voraus, zu dessen wesensnotwendigem Merkmal er die Widerspruchsfreiheit der Systemelemente erhebt. Damit stützt sich Kelsen aber nur auf eine mögliche, nicht aber auf eine unausweichliche Systemvorstellung. Ebenso läßt sich eine Vielzahl miteinander zusammenhängender Normen denken, die durch über1 2 Die "Einheit des Normensystems" sei nichts anderes als die "Einheit des normierenden 'Willens', die Einheit der normierenden Autorität" (1913, S.200). 1 3
Ebd.
1 4
Ebd.
1 5
A.a.O., S.200f.
C Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
136
greifende Gesichtspunkte weitgehend geordnet, wenn auch nicht gänzlich widerspruchsfrei zusammengefügt sind, ohne daß darauf verzichtet werden müßte, dieses Normengefüge ein System zu nennen. Einheit im Sinne von Widerspruchsfrciheit ist kein unbedingtes Merkmal eines Normensystems. In seinem Aufsatz über das öffentliche Rechtsgeschäft hat Kelsen also noch keine wirklich zwingende Begründung für die Einheit des Rechtssystems im Sinne inhaltlicher Widerspruchsfreiheit gefunden. Offen ist auch noch, worin das positive Element dieser Einheit zu erblicken ist, was also die Unzahl der Rechtsnormen in einen Zusammenhang bringt. Oder sollte dieser von Kelsen angesprochene "eine Punkt" dieses einheitsbegründende Element sein? b) Zum Teil beantwortet Kelsen diese Fragen in dem 1914 veröffentlichten Beitrag zum "Reichsgesetz und Landesgesetz nach Österreichischer Verfassung". Darin bezeichnet er die "Interpretationsregel: lex posterior derogat priori" als "Grundsatz, demzufolge die jüngere Norm die ältere inhaltlich widersprechende" aufhebe, benennt diese Regel aber auch als "rechtslogisches Prinzip" und als "Regulator", durch den "die logische Geschlossenheit des Normensystems" aufrecht erhalten werde 16 . Zum anderen formuliert er für Normwidersprüche ganz allgemein: "Innerhalb desselben Normensystems können zwei Normen, von denen die eine den Inhalt a, die andere den Inhalt non a setzt, nicht nebeneinander gelten, wenn das System vernünftig sein und das Normen unterworfene Pflichtsubjekt jede Norm befolgen können soll, ohne eine andere Norm desselben Systems zu verletzen" 1 '. Damit hat nun Kelsen eine unmittelbar einsichtige Begründung für das Postulat innerer Widerspruchsfreiheit geliefert. Wenn Kelsen sich hier etwas dunkel auf die "Vernunft des Systems" beruft, so klingt dies zwar noch, als ob ein Prinzip der Logik die inhaltliche Widerspruchsfreiheit einer Rechtsordnung gebiete. Doch mit dem Hinweis auf das "Pflichtsubjekt", das sein Verhalten an Rechtsnormen ausrichten soll, führt Kelsen einen zwingenden Grund für die Beseitigung von Widersprüchen ein. Wenn jeder Norm der Zweck zugewiesen wird, von ihren Adressaten befolgt zu werden, ihre Aufgabe also darin besteht, menschliches Verhalten zu steuern, dann ist es notwendig die inhaltliche Widerspruchslosigkeit eines Normensystems herzustellen. Nur dann, wenn einer Norm, die von einem Pflichtsubjekt das Verhalten A fordert, keine Norm entgegensteht, die das Verhalten Non-Α verlangt, kann menschliches Verhalten an der Norm A ausgerichtet werden. Falls sich diese Normen gänzlich unverträglich gegenüberstehen, ist eine Orientierung an diesen Normen unmöglich geworden. Anders formuliert: falls sich Normen wegen ungelöster Widersprüchlichkeit gegenseitig blockieren, berauben sie sich ihres Zweckes der Verhaltenssteuerung. Aber Kelsen bemüht sich in diesem Aufsatz von 1914 nicht nur, die Notwendigkeit inhaltlicher Widerspruchsfreiheit auf festen Grund zu stellen. Er 1 6 1914, S.204. Am gleichen Ort führt Kelsen weiter aus, daß die Forderung, die jüngere Norm müsse der älteren Norm vorgehen, eine "rein logische Konsequenz" sei, "die sich aus der Natur der Norm und dem Wesen der Einheit im Noimensystem" ergebe (S.207). 1
A.a.O., S . 2 .
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gibt auch eine Antwort auf die Frage, worin die "Einheit eines Normensystems" positiv besteht, welche "gemeinsame Eigenschaft" mehrere Normen haben müssen, "damit sie zu demselben System gehörig erkannt werden" 18 . Kelsen stellt dabei die Norm selbst in den Mittelpunkt seines Lösungsversuchs. Die im ersten Moment naheliegende Erwägung, in ihrer Form, ihrer "Wenn-Dann"-Struktur, diese gemeinschaftliche Eigenschaft und somit das einheitsbegründende Element zu erblicken, führt allerdings auf ein falsches Gleis. Denn dann blieben nach Raum, Zeit und Gegenstand verschiedene Normensysteme ununterscheidbar, das Rechtssystem des einen Staates enthält ebenso wie das eines anderen Staates "Wenn-Dann"-Sätze. Gleiches gilt für die Normen einer Morallehre. Ebensowenig hilfreich ist der Gedanke, im NormenInhalt das vereinheitlichende Moment eines Normensystems zu suchen. Gerade die Mannigfaltigkeit der Regelungsgegenstände von Rechtsnormen illustrieren zur Genüge, wie abwegig es - von primitiven Systemen abgesehen erscheinen muß, ein inhaltiches Element ausfindig zu machen, das in allen Normen eines Systems wiederkehrt. Neben Form und Inhalt der Norm bedenkt Kelsen aber noch eine dritte Möglichkeit, die Einheit eines Normensystems positiv zu begründen. Kelsen sieht in der Autorität, die diese Normen setzt, das Element, das allein maßgebend ist für ihre Einheit: "Ein einheitliches System bilden diejenigen Normen, die von der gleichen Autorität ausgehen" 19 . Diese positiv bestimmte Einheit eines Normensystems steht nun aber nicht beziehungslos neben jener Einheit im Sinne inhaltlicher Widerspruchsfreiheit. Beide Einheitsvorstellungen sind vielmehr notwendig miteinander verknüpft. Denn die Auflösung inhaltlich widersprüchlicher Normen mit Hilfe des lex-posterior-Grundsatzes, stellt sich erst dann als juristisches Problem, wenn feststeht, daß diese Normen zu einem und demselben System gehören. "Ein jüngerer Rechtssatz des französischen Rechtssystems", so Kelsen, "kann keinen älteren Rechtssatz der österreichischen Rechtsordnung aufheben und irgendeine noch so alte Moralnorm bleibt in ihrer Sollgeltung gänzlich unberührt von jeder beliebigen später statuierten ihr widersprechenden Rechtsnorm" 20 . Kelsen, der in den zuvor besprochenen Texten die Einheit des Rechtssystems allein durch die Vermeidung von inhaltlichen Widersprüchen, also rein negativ qualifiziert hatte, stellt nun die dogmatische Notwendigkeit heraus, die Einheit des Rechtssystems auch positiv zu bestimmen, mithin aufzuzeigen, was diese Normen zu einer Einheit, zu einem einzigen, einem von anderen Systemen unterscheidbaren Rechtssystem zusammenkettet. Die Differenzierung zwischen der Einheit des Rechtssystems im positiven und der im negativen Sinne hilft Kelsens These zu verstehen, daß dann, wenn "alle Normen der gleichen Provenienz" sind und "nur ein einziges (soziales) Gesetzgebungsorgan" besteht, erst die "Einheit des Normsystems und damit die Denkbarkeit eines einheitlichen Trägers desselben, eines einheitlichen 'Willens', dessen Ausdruck die Normen sind, kraft der lex posterior 1 8
Ebd.
1 9
A.a.O., S.208.
2 0
A.a.O., S.207.
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C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
gegeben" ist 2 1 . Damit hat Kelsen die Voraussetzungen benannt, unter denen eine einheitliche Rechtsordnung und somit ein einheitlicher staatlicher Wille gedacht werden kann 2 2 . Das Problem der Einheit der Rechtsordnung hat Kelsen damit in einer normtheoretischen Weise gelöst. c) Dieser Stand des Kelsenschen Einheitskonzepts ist in der Folgezeit noch in zwei Richtungen weiterentwickelt worden. Eine Ergänzung war vor allem im Hinblick auf die Problematik der inhaltlichen Widerspruchsfreiheit notwendig. Denn unklar bleibt in seinem bisher dargelegten Konzept, auf welche Weise die inhaltliche Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung in dem Fall hergestellt werden soll, in dem der lex-posterior-Grundsatz nicht angewendet werden kann, etwa weil zwei sich widersprechende Normen gleichzeitig in Kraft traten oder die jüngere Norm von einer unterrangigen Instanz erlassen wurde. Kelsen hat die Möglichkeit von solchen, nicht mit der lex-posteriorRegel unmittelbar lösbaren Widersprüchen bisher nur knapp angedeutet, nicht aber tiefergehend problematisiert. Eine Modifikation seiner Theorie über das einheitsstiftende Element, also über die Größe, die die Vielzahl von Normen zu einem System, zu einer Ordnung verbindet, war wegen Kelsens schon in seinen frühesten Schriften so vehement betonten und im Zentrum seiner Rechtstheorie stehenden methodendualistischen Prämisse notwendig geworden. Kelsens Gedanke aus dem Text von 1914, wonach die Rechtsnormen durch eine sie setzende Autorität, also durch ein einziges - wie er sagt - "soziales Gesetzgebungsorgan" zu einer Einheit werden, harmoniert nicht mit seiner Annahme, nach der das Sollen in einem unauflöslichen, formallogischen Gegensatz zum Sein steht, die Begründung eines Sollens sonach niemals in einem Sein enthalten ist, sondern allein auf ein anderes Sollen führen kann 2 3 . Da aber zumindest nach Auskunft des Textes von 1914 die Normen von einer Autorität, von einem sozialen Gesetzgebungsorgan ausgehen, entspringen offensichtlich die Rechtsnormen, die ja alle ein Sollen enthalten, einem seinsmäßigem Faktum. Dieses Problem geht Kelsen in seiner Schrift über "Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts" an. Er deutet nun das einheitsbe2 1 A.a.O., S.397. Mer kl hat sich Kelsens Lehre angeschlossen. Er schreibt: "Die Rechtseinheit muß zunächst feststehen, dann kann erst fraglich werden, ob der Satz von der lex-posterior gilt" (1918a, S.l 130). 2 2 Die Problematik eines modernen Staates, die ja gerade darin besteht, daß eine Vielheit von Gesetzgebungsorganen Normen erlassen, kann dieser Gedanke natürlich nur mit weiteren Zusätzen erfassen. Damit bei einem solchen Gebilde eine Einheit des Rechtssystems und damit des staatlichen Willens vorausgesetzt werden kann, müssen die einzelnen Rechtssetzungsorgane einander untergeordnet sein, "also tatsächlich wieder nur eine normsetzende Autorität" bestehen. Gleichgültig sei dabei, ''ob diese Subordination darin liegt, daß die Normen der einen denen der andern unter allen Umständen vorgehen" oder "ob zwischen beiden die Regel lex posterior kraft positiver Anordnung einer der beiden Autoritäten gilt (bloß formale Delegation)"(Kelsen 1914, S.398). Jedenfalls könne nur unter diesen Voraussetzungen juristisch ein einheitliches Rechtssystem und daher eine einheitliche Rechtspersönlichkeit des Staates angenommen werden (ebd.). Diese Gedanken sollen hier nur erwähnt, nicht weiter erörtert werden, da Kelsen sie in den späteren Schriften noch verfeinert hat und sie in den folgenden Abschnitten besprochen werden. 2 3
Etwa 191 la, S.8ff. oder 1911b, S.5ff.
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gründende Element eines Rechtssystem selbst als Norm, als "Ursprungsnorm oder Verfassung im rechtslogischen Sinn" 2 4 . Diese Norm liege allen denkbaren Normen eines Rechtssystems zugrunde. Dabei darf diese Konstruktion der Einheit eines Rechtsnormensystems nicht so verstanden werden, als ob alle Rcchtssätze direkt und unmittelbar, etwa durch einen inhaltlichen Bezug, aus dieser Ursprungsnorm hervorgingen und auf diese Weise in einem einheitsbegründenden Zusammenhang stünden. Vielmehr sei die "System-Einheit" herzustellen durch die "Rückführung der Geltung einer individuellen Norm - z.B. jener des Rechtsgeschäftes - auf eine 'höhere* - etwa auf den 'über' dem Rechtsgeschäft stehenden generellen Rechtssatz des bürgerlichen Gesetzbuches - und der immer weitergehende Regreß vom Gesetz zur Verfassung (im üblichen Sinne) und von dieser wieder bis zur Urspungsnorm (der Verfassung im rechtslogischen Sinne)" 2 5 . Die Einheit des Rechtssystems entsteht also durch eine an unterschiedlichen Geltungsstärken ausgerichteten Hierarchisierung der einzelnen Rechtssätze. Dieser Stufenbau mündet in einer einzigen Norm, die im Falle einer mit einer geschriebenen Verfassung versehenen Rechtsordnung eben dieser Verfassung vorgelagert ist. Kelsen weist explizit darauf hin, daß diese Konzeption der Rechtsordnung als Stufenbau auf Adolf Merkl zurückgeht 26 . Aber auch der Gedanke, die Einheit der Rechtsordnung durch Rückführung aller in diesem Stufenbau stehenden Rechtssätze auf eine letzte, ihnen allen zugrunde liegende Norm zu konstruieren und damit aus einer statischen Sicht der Einheit zu ihrer dynamischen Erzeugung überzugehen, ist unter dem Eindruck von Merkls Theorie entstanden. Kelsen bezieht sich konkret auf Merkls Aufsatz "Die Rechtseinheit des österreichischen Staates" aus dem Jahre 1918, in dem dieser ausgeführt hatte, daß sich eine materielle Vielfalt als formale Einheit offenbare, wenn sie "auf ein gemeinsames gedankliches Zentrum rückführbar oder aus einem solchen Zentrum ableitbar" sei, "weil in einem Punkte wurzelnd oder in einer Spitze gipfelnd" 2 7 . Merkl bestimmt die Verfassung als einheitskonstituierendes Zentrum der Rechtsordnung: was "bis zu seinem gedanklichen Ursprung zurückverfolgt, in eine Verfassung mündet, ist als einer Rechtseinheit und damit einem einzigen Staate zugehörig anzusehen" 28 . Zweifelhaft ist nur, 2 4
1920, S.l 15.
2 5
A.a.O., S.263, Fn.l. Kelsen spricht auch von einem "Grundsatz", aus dem ein System von Normen erzeugt werde. "In der Einheit und Besonderheit dieses Ursprungs, dieser Grundnorm" liege "das prineipium individuationis", "die Besonderheit einer Ordnung als eines Systems von Normen"(a.a.O., S.105). 2 6 1920, S.l 15 Fn.l. Merkl hatte dieses Deutungsschema in den Aufsätzen "Das Recht im Spiegel seiner Auslegung" (1917, S.175f.), und in das "Das doppelte Rechtsantlitz" (1918b, S.1099) entwickelt. Andererseits erklärt Merkl, daß er die Erkenntnis des rechtlichen Stufenbaus "unmittelbar Kelsen zu verdanken" habe. Sie sei "in nuce" schon in den Hauptproblemen angedeutet gewesen (1928, S.200), insbesondere in der darin vorgetragenen Lehre vom Wesen der Exekutive als theoretische Grundlage zur Aufhebung des Gesetzesmonopols (1922, S.1616, Fn.2). 2 7 Merkl 1918a, S.l 163. Dazu Kelsen: "Ich stimme nunmehr Merkl zu; die Einheit des Normsystems ist auf die Einheit des Ursprungs, der Ursprungsnorm oder Verfassung im rechtslogischen Sinn zurückzuführen" (1920, S.l 15 Fn.l). 2 8
Merkl 1918a, S.l 140.
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
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ob Merkl diese Verfassung wirklich wie Kelsen in einem "rechtslogischen" Sinne versteht oder ob er sie als tatsächliche, geschriebene oder durch Gewohnheit entstandene Grundordnung eines Staates begreift. Auf die letzte Möglichkeit deutet Merkls Wendung, "daß es die Verfassung eines Staates ist, welche jenes Zentrum abgibt, die Verfssung, wie gleich vermerkt sei, in einem materiellen Sinn" 2 9 . In Kelsens Schrift von 1920 hat die Verfassung als einheitsbegründende Grundnorm aber einen ausschließlich hypothetischen Charakter. Sie ist nicht mit einem positivierten Grundgesetz zu identifizieren, sondern wird diesem ja gerade vorausgesetzt. Auf dieser Grundnorm beruht, wie Kelsen dann 1922 formuliert, "der Begründungszusammenhang", in dem alle Rechtsnormen stehen, sie stellt "die Einheit in der Mannigfaltigkeit der 'empirischen', d.h. positiven Rechtssätze, Rechtsnormen, Rechtstatsachen her" 3 0 . Mit einem Wort: die "Einheit der Rechtsordnung" ist "im wesentlichen die Einheit eines Erzeugungszusammenhangs" 31 . Der "typische Inhalt" dieser einen Erzeugungszusammenhang herstellenden und als Sollenssatz zu verstehenden Grundnorm besteht darin, daß "eine Autorität, eine Rechtsquelle eingesetzt wird, deren Äußerungen als rechtsverbindlich zu gelten haben: Verhaltet euch so wie die Rechtsautorität: der Monarch, die Volksversammlung, das Parlament etc. befiehlt" 3 2 . Also anders als in einem statischen System entfaltet sich die Grundnorm nicht "in die inhaltlich differierenden Normen ihres Systems", so wie sich "ein Allgemeinbcgriff in die unter ihn zu subsumierenden Vorstellungen auflöst" 33 . In einem dynamischen System beschränkt sich die Grundnorm darauf, einen bestimmten menschlichen Willen zur Setzung von Normen zu ermächtigen, die deshalb gelten, weil ihre Erzeugung der in der Grundnorm ausgesprochenen Regel entspricht 34 . 2 9 1918a, S.l 122. Auch Sander versteht Merkl in diesem Sinne (1919/20a, S.46). Erhält Merkl entgegen, die Verfassungsgesetze seien nur "widersprüchliches Material der Rechtserkenntnis" (a.a.O., S.47). Die Einheit des Rechtssystems könne nicht "in einer erfahrbaren Tatsache", sondern nur in einer "Hypothesis" gefunden werden" (a.a.O., S.49). Sander hat diese These aber schon kurze Zeit später wieder zurückgenommen: die Rechtswissenschaft sei nur deshalb eine '"systematische Einheit' des Rechts zu suchen berechtigt", weil sie bereits in Teilen der Rechtserfahrung eine 'empirische Einheit' gefunden" habe (1922, S.l 174). Sander beläßt seine Begründung weitgehend im Unbestimmten, so daß unklar bleibt, worin die von ihm behauptete, schon im Stoff vorfind! iche Einheit besteht und wie diese Einheit erkannt werden kann (dies kritisieren auch Verdross 1923, S. 89,92 und Walz 1930, S.25). Sander scheint vor dem Problem zu stehen, einerseits Kants transzendentale Methode auf die Rechtswissenschaft übertragen zu wollen (1919/20b), andererseits aber weiter davon auszugehen, daß die Einheit im Material enthalten ist, vom Stoff selbst, vor jeder Erfahrung, erzeugt wird (dazu Kelsen 1922b, S.285, s.a. Holzhey 1988). 3 0
1922a, S. 102.
3 1
1925, S.99. An anderer Stelle spricht Kelsen von der "Einheit eines Delegationszusammenhanges" der die Einheit eines dynamischen Systems erzeuge (1928, S.19). 3 2
1925, S.99.
3 3
1928, S.l 8. Aus der Grundnorm der Wahrhaftigkeit ergibt sich etwa die Norm: Du sollst nicht lügen, aus dieser Norm wiederum die noch speziellere: Du sollst als Kaufmann den Mangel der Ware nicht verschweigen. Alle Normen sind also von vornherein schon in der Grundnorm inhaltlich enthalten und durch eine bloße Gedankenoperation zu gewinnen (vgl. ebd.). 3 4 1928, S.19. Die Rechtsordnung des modernen Verfassungstaates müßte man wohl als ein gemischt statisch-dynamisches System ansehen. Die von der Grundnorm eingesetzten Organe ermächtigen ihrerseits untergeordnete Organe, aber nicht ohne Bindung an inhaltliche Vorgaben.
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Damit hat Kelsen einen Weg gefunden, auf dem unter Beibehaltung seiner methodendualistischen Grundannahme eine Lösung des Problems erreichbar scheint, welches das Gebot inhaltlicher Widerspruchsfreiheit gleichrangiger Normen gestellt hatte: jeder Versuch, eine Normenkollision aufzulösen, setzt zunächst die Klärung der Frage voraus, ob die konfligierenden Normen zu ein- und demselben System, zu derselben Rechtsordnung, gehören. Diese Grenzziehung zwischen verschiedenen Normensystemen kann nur durch die Bestimmung eines einheitsstiftenden, alle Rechtsnormen miteinander verbindenden Elements geschehen. Dieses Element ist die Grundnorm. Diese Norm, auf die alle Rechtsnormen bei ihrer Geltungsbegründung unbesehen ihres Inhalts zurückzuführen sind, garantiert einen durchgehenden Zusammenhang im Rechtsstoff. Eine formale Einheit der Rechtsordnung ist damit erreicht. d) Nun war im Hinblick auf das in dem Aufsatz aus dem Jahre 1914 skizzierte Einheitskonzept lediglich noch darzulegen, wie die inhaltliche Einheit, die Widerspruchsfreiheit von miteinander konkurrierenden Rechtssätzen in den Fällen herbeizuführen ist, in denen die lex-posterior-Regel nicht angewendet werden kann. Kelsen gibt in seiner 1928 veröffentlichten Schrift über "Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus" eine Mehrzahl von Regeln und Vorgehensweisen an, die Widersprüche innerhalb einer Rechtsordnung zu beseitigen helfen. Neben der Möglichkeit, einen Widerspruch durch Norminterpretation verschwinden zu lassen, zählt Kelsen dazu das schon erwähnte lex-posterior-Prinzip, dann den Grundsatz, daß die niedere Norm der höheren Norm weichen muß, sofern sie dieser widerspricht, ferner die Ermächtigung des Rechtsanwenders im Falle eines Widerspruchs entweder die eine oder die andere Norm anzuwenden und endlich auch die Bestimmung, daß die widersprüchlichen Normen sich gegenseitig aufheben 35 . Da diese Widerspruchsregeln in der Grundnorm als lediglich formalem, letztem Geltungsgrund aller positiven Rechtssätze, als bloße "Einsetzung eines Rechtserzeugungsorganes" 36, bisher keinen Platz gefunden haben, kann aus ihr auch nicht die Erzeugung der inhaltlichen Einheit der Rechtsordnung deduziert werden. Kelsen zeigt sich aber daran interessiert, sowohl die formale wie die inhaltliche Einheit der Rechtsordnung grundnormtheoretisch zu begründen. Daher geht er dazu über, das Postulat inhaltlicher Widerspruchsfreiheit in die Grundnorm selbst hineinzunehmen und sie so material anzureichern - zwar nicht in dem Sinne, daß die Grundnorm eine positive Rechtsordnung als gerecht oder gut rechtfertigt, wohl aber in der Weise, daß mit ihrer Hilfe "sich das durch Satzung erzeugte Rechtsmaterial als ein sinnvolles Ganze begreifen, das heißt aber: überhaupt vernünftig deuten" läßt 3 7 . Die von Kelsen zusammengestellten Regeln zur Beseitigung von Die Gesetzmäßigkeit eines Verwaltungsakts oder einer Verordnung und die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes kann an dynamischen, also rechtserzeugenden wie aus statischen, d.h. rechtsnorminhaltlichen Gesichtspunkten überprüft werden (dazu Kelsen a.a.O., S.20). 3 5
1928, S.22f.
3 6
A.a.O., S.21.
3 7
Ebd.
C. Einheitsfomeln in der Staatsrechtswissenschaft
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Normwidersprüchen sind "im Sinne der Grundnorm mitenthalten, die eben dadurch die Einheit der positiven Rechtsnormen als die Einheit eines, wenn auch nicht notwendigerweise gerechten, so doch wenigstens sinnvollen Systems, und sohin diesen Normenkomplex überhaupt erst als eine Ordnung gewährleistet" 38 . Kelsen scheut sich nicht einzugestehen, daß mit dieser Fassung der Grundnorm die Grenze des reinen juristischen Positivismus schon überschritten i s t 3 9 . Doch andererseits kommt diese inhaltliche Ausstattung der Grundnorm nicht durch eine bloße Addition ihrer formalen Konzeption als letzter Geltungsstufe aller positiven Rechtssätze mit willkürlich herangezogenen Widerspruchsregeln zustande. Vielmehr leitet Kelsen diese materiale Bestimmung der Grundnorm aus der "Form des Rechtssatzes" ab. In dem Maße, wie die Grundnorm sagt, "daß unter bestimmten bzw. zu bestimmenden Bedingungen eine bestimmte bzw. zu bestimmende Folge als gesollt gesetzt ist", sage sie auch, "daß unter den gleichen Bedingungen diese Folge nicht zugleich nicht als gesollt gesetzt sei. Denn im Gedanken des Gesetzes muß der Satz vom Widerspruch mitgesetzt sein, weil ohne ihn alle Gesetzlichkeit aufgehoben wäre" . An dieser Argumentation sind gewiß Zweifel schon deswegen angebracht, weil aus der bloßen Form des Gesetzes kaum ein solch bestimmter Inhalt zwingend hergeleitet werden kann. Dies schließt aber nicht aus, das Gebot inhaltlicher Widerspruchsfreiheit dennoch als in der Grundnorm enthalten zu deuten. Wenn nämlich die Grundnorm Organe zur Rechtssetzung ermächtigt und darüberhinaus aussagt, daß die von diesen Organen erlassenen Normen von den Normadressaten befolgt werden sollen - "Verhalte Dich so, wie der Monarch oder das Parlament befiehlt" - , so impliziert dies, daß sich diese Normen nicht widersprechen dürfen. Denn die bezweckte Befolgung der Normen erfordert die eindeutige Festlegung, ob die Norm a oder die sie ausschließende Norm non-a gelten soll. Das Gebot inhaltlicher Widerspruchsfreiheit liegt also beschlossen in der Auffassung der Grundnorm als eines zum Gehorchen, zu einem von den Rechtssetzungsorganen noch zu konkretisierenden Verhalten auffordernden Sollenssatzes - letztlich also in der nichtpositiven Voraussetzung, daß bestimmte Menschen imstande sein sollen, das Verhalten anderer Menschen durch Normen zu steuern 41 . Damit ist freilich 3 8
A.a.O., S.26.
3 9
Man könne darin sogar Naturrecht erblicken (1928, S.66). Kelsen mag hier auf die Kritik Horvaths reagiert haben, der insistiert hatte, daß man den rechtsimmanenten Standpunkt schon längst verlassen und die Schwelle zum Naturrecht schon überschritten habe, "wenn man das Recht als widerspruchsfrei, einheitlich, sinnvoll: als ein System" deute (1928, S.531). 4 0 4 1
A.a.O., S.25. Ebenstein schließt sich diesen Ausführungen unkritisch an (1938, S.l 12).
Der Gedanke, daß die Widerspruchsfreiheit der Rechtsnormen in der Aufgabe der Verhaltenssteuerung liege, war ja schon in dem Aufsatz von 1914 erkennbar geworden (s.o. Kapitel IV. 1.3)). Dieser Gedanke muß auch bei der Interpretation der Grundnorm berücksichtigt werden. Schild meint (1979, S.221, Fn.35), daß der Gedanke der widerspruchslosen Einheit bei Kelsen den "Wert der Wahrheit" ersetze, denn in der Kelsenschen Konzeption könne es Wahrheit nicht geben, da die Rechtswissenschaft ihren Gegenstand erst erzeuge. So zutreffend diese Auffassung Schilds auch sein mag, sie verkennt, daß die Widerspruchsfreiheit von Normen bei Kelsen hier keine
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nur die Notwendigkeit einer inhaltlichen Widerspruchsfreiheit begründet, nicht aber dargelegt, auf welchen Wegen im einzelnen Falle die erkannten Widersprüche zu eliminieren sind. Die Einführung bestimmter Regeln zur Auflösung von Widersprüchen fordert also weitere Annahmen und Voraussetzungen. e) Kelsens Erörterung der Interpretationsregeln zur Lösung von Normwidersprüchen in der Schrift von 1928 war die letzte wesentliche Etappe seiner rund zwanzig Jahre dauernden Auseinandersetzung mit dem Problem der Einheit der Rechtsordnung, die ihre zusammenfassende Formulierung in der ersten Auflage der "Reinen Rechtslehre" fand. Kelsen antwortet darin auf die Frage, was denn "die Einheit einer Vielheit von Rechtsnormen" begründe, warum also "eine bestimmte Rechtsnorm zu einer bestimmten Rechtsordnung" gehöre, mit der klaren These: "Eine Vielheit von Normen bildet eine Einheit, ein System, eine Ordnung, wenn ihre Geltung auf eine einzige Norm als letzten Grund dieser Geltung zuückgeführt werden kann. Diese Grundnorm konstituiert als die gemeinsame Quelle die Einheit in der Vielheit aller eine Ordnung bildenden Normen" 4 2 . Eine Rechtsordnung, so Kelsen weiter, ist "eine Stufenordnung verschiedener Schichten von Rechtsnormen. Ihre Einheit ist durch den Zusammenhang hergestellt, der sich daraus ergibt, daß die Erzeugung und sohin die Geltung der einen auf eine andere zurückgeht, deren Erzeugung wieder durch andere bestimmt ist; ein Regreß, der letztlich in der Grundnorm mündet, der hypothetischen Grundregel und sohin dem obersten Geltungsgrund, der die Einheit dieses Erzeugungszusammenhangs stiftet" 4 3 . 3. Kelsens Theorie einer identitätsstiftenden Einheit der Rechtsordnung
a) Die Betrachtung der Genese von Kelsens Einheitskonzept bis zur ersten Auflage seiner "Reinen Rechtslehre" hat erkennbar werden lassen, daß es sich aus zwei miteinander eng verbundenen Komponenten zusammensetzt. Zum einen geht es Kelsen um eine inhaltliche Einheit der Rechtsordnung, um die Widerspruchsfreiheit von Rechtsnormen. Kelsen sucht dabei die Notwendigkeit dieser Widerspruchsfreiheit ebenso zu begründen wie die für sie erforderlichen Kollisionsregeln aufzuzeigen. Neben diese materielle Einheit von Rechtsnormen tritt aber noch eine zweite Komponente, die Theorie einer identitätsstiftenden Einheit der Rechtsordnung, bei der es sich keineswegs um ein rechtstheoretisches Glasperlenspiel handelt. Denn die dem Recht zugewiesene Aufgabe, menschliches Verhalten zu steuern, setzt in historischen Epochen, in denen unterschieden werden muß zwischen Rechtsnormen und Moralnormen, zwischen Normen einer durch revolutionäre Umstürze hinweggeWahrheitsfunktion hat, sondern in der dem Recht zugewiesenen Aufgabe der Verhaltenssteuerung wurzelt. 4 2
1934, S.62. A.a.O., S . .
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fegten und Normen einer neu etablierten Ordnung 44 oder zwischen Rechtsordnungen, die sich auf verschiedene Räume erstrecken, zunächst voraus, die untereinander in Konflikt stehenden Normen als zu ein- und demselben Normensystem zugehörig zu erkennen. Die Glättung einer Kollision zwischen Moralnormen und Rechtsnormen stellt sich in modernen Rechtsordnungen prinzipiell nicht mehr als Problem der Rechtsanwendung, sondern wird allein dem Individuum aufgebürdet, das sich dem Gehorsamsanspruch einer Rechtsordnung wie auch dem einer Moralordnung ausgesetzt sieht. Und auch der Konflikt von Normen eines Ancien Régime und einer neuen Ordnung braucht von einem rechtsanwendenden Organ nicht mehr beachtet zu werden. Ein inhaltlicher Widerspruch von Rechtsnormen, der für die dem Recht aufgetragene Verhaltcnssteuerung relevant ist, verlangt den Nachweis, daß die fraglichen Normen überhaupt miteinander konkurrieren können, also zu einem System gehören. Mithin ist es notwendig, die Einheit einer Rechtsordnung positiv zu bestimmen, also festzulegen, was das gemeinsame, eine Vielzahl von Rechtsnormen zu ein- und derselben Rechtsordnung zusammenschließende Element ist. Nichts läge Kelsen ferner, als darüber zu spekulieren, ob etwa ein Volksgeist, gemeinsame historische Wurzeln oder ein realer Staatswille eine solche positive Einheit verbürgt. Kelsen gewinnt dieses Element vielmehr am Ende eines mehrteiligen normtheoretischen Interpretationsvorganges: Die Möglichkeit ungebändigter und destruktiver Ausübung menschlicher Freiheit verlangt nach einer sozialen Regulierung durch Recht 4 5 . Dabei wird Recht verstanden als Summe von Sätzen, die bestimmte Verhaltensregeln vorschreiben und für den Fall, daß diese Regeln nicht befolgt werden, Zwangsmaßnahmen androhen. Soziologisch gewendet, handelt es sich bei diesen präskriptiven Sätzen um subjektive, auf ein Sollen gerichtete Willensäußerungen. Ihre normative Verbindlichkeit erhalten diese Willensakte dadurch, daß sie, selbst als Norm gedeutet, aus einer anderen, ihr übergeordneten, mit einer größeren Geltungskraft versehenen Rechtsnorm hergeleitet werden, der freilich wiederum ein subjektiver Willensakt entspricht. Kelsen hat selbst herausgestellt, "daß die als Recht bezeichnete, spezifisch normative Bedeutung gewisser Tatbestände" nur das Ergebnis einer möglichen, nicht aber notwendigen Deutung seien 46 . Die Möglichkeit einer soziologischen Alternativbetrachtung, bei der die zwischenmenschlichen Beziehungen, die so als Recht interpretiert werden, lediglich als Ausdruck von Machtverhältnissen, als "nackte Gewalt" gedeutet werden 4 7 , bleibt immer bestehen 48 . Die auf einem solchen Deutungsvorgang 4 4 Zu diesem speziellen Fall und den Einwänden gegen Kelsens Lösung im einzelnen unten Kapitel C.VI.2.2). 4 5
Zu Kelsen Verständnis des Rechts als Mittel sozialer Technik: Roehrsen 1982, S.236.
4 6
1934, S.36.
4 7
Ebd.
4 8 1960, S.224. Aus diesem Grunde hat auch die Grundnorm keine transzendentallogische Qualität, da sie im Gegensatz zu den reinen Anschauungsformen und Verstandeskategorien keine "unausweichliche Größe" ist. Während die Naturwissenschaften ohne jene Formen und Kategorien ebenso wie jede geordnete Erfahrung der Außenwelt unmöglich wären, müssen dagegen faktische
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beruhende Norm wird nun in der gleichen Weise auf eine ihr übergeordnete Norm zurückgeführt, so lange, bis der damit erzeugte Stufenbau in einer letzten, in der Rechtsordnung selbst nicht enthaltenen, sondern ihr vorgesetzten Norm, der Grundnorm, mündet 4 9 . Die Willensäußerung einer verfassunggebenden Versammlung, die vorschreibt, in welchen Formen und mit welchen Inhalten in Zukunft Rechtsnormen erlassen werden dürfen, muß, um nicht ein factum brutum zu bleiben und normativ verbindlich zu werden, also ebenfalls auf eine ihr übergeordnete Ebene zurückgeführt werden. Da aber auf dieser Ebene kein realer Willensakt ersichtlich ist, der - als normativer Sollenssatz interpretiert - die Geltung der Anordnungen der verfassunggebenden Versammlung begründen könnte und Kelsen zudem der Weg zu einem göttlichen Willen oder zu einer sich im historischen Prozeß entfaltenden überindividuellen Vernunft versperrt ist, kann eine solche geltungserzeugende Norm nur vorausgesetzt werden. Sie ist Fiktion, eine bloße Annahme, nicht das einzige, sondern nur ein mögliches Deutungsschema subjektiver Willensäußerungen^ 0. Und in demselben Augenblick, in dem die Rechtsnormen durch ihre Rückführung auf diese Grundnorm ihre normative Verbindlichkeit, ihre Geltung erfahren und gewinnen, wird auch ihre Einheit erzeugt 51 . Das, was als letzter Grund die Geltung aller Rechtsnormen begründet, ist auch das Element, das allen Rechtsnormen gemeinsam ist und somit ihre Einheit stiftet 5 2 . Willensverhältnisse nicht zwingend durch die Grundnorm als Recht gedeutet werden. Das Verständnis dieser Willensverhältnisse als "machtgestützte Faktizität" bleibt immer noch möglich (H.Dreier 1986, S.88f.). Mit der gleichen Argumentation weist Paulson nach, daß Kelsens Kategorie der normativen Zurechnung nicht transzendental begründet werden kann, weil der Ausgangspunkt von Kelsens Prämisse, die zu deutenden Tatbestände der sozialen Welt, "unterhalb der Ebene rechtlich interpretierter Erfahrung liegt" (Paulson 1990, S.177). 4 9 Die jeweiligen Stufen werden natürlich nicht restlos von der ihr übergeordneten Stufen determiniert. Die Stufenbau lehre berücksichtigt Ermessensbereiche, unbestimmte Rechtsbegriffe oder sonstige interpretatori sehe Spielräume. Zur Bedeutung dieser autonomen Determinanten im System der Stufenbautheorie vgl. Behrenä 1978, S.82ff., Achterberg 1978, S.18 und Kelsen selbst 1925, S.243. Kelsens Ausführungen in seinem Spätwerk, wonach "die Möglichkeit, zur Geltung der individuellen Norm im Wege einer logischen Schlußfolgerung aus der Geltung der generellen Norm zu gelangen, im Grunde genommen überhaupt nicht in Betracht" komme (1979, S.186f.), ist dagegen nicht so zu verstehen, als ob damit gar kein Zusammenhang mehr zwischen Normen gedacht werden könnte und Kelsen am Ende nur einen völligen Normen Irrationalismus dargeboten hätte (so aber Weinberger 1981, S.501). Kelsen schließt nur eine absolute, nach den Gesetzen der Aussagenlogik abgesicherte, uneingeschränkte Determiniertheit der untergeordneten Norm durch die ihr übergeordnete Norm aus. Krawietz/Weinberger behaupten im übrigen einerseits, daß in der Spätlehre Kelsens die "Möglichkeit logischer Beziehungen zwischen Normen sowie die Geltung normen logischer Folgerungen geleugnet" würden (1988, S.7), am gleichen Ort äußern sie aber andererseits die Ansicht, daß "die Normenlogik auch im Spätwerk Kelsens nicht grundsätzlich abgelehnt" werde (a.a.O., S.10). 5 0 Kelsen hat die Grundnorm in seinen späteren Schriften als Fiktion im Sinne der Vaihingerschen Philosophie des Als-ob bezeichnet (1979, S.206f.). Walter schlägt dagegen vor, auf diese Bezeichnung zu verzichten, weil Fiktionen oftmals als Annahmen verstanden würden, deren Unwahrscheinlichkeit oder Unmöglichkeit man einsähe. Daher solle man von "Annahme" sprechen als einer zu theoretischen Zwecken erfolgende Setzung eines Satzes, als ob er gültig wäre (1970, S.81). 5 1 1934, S.74. Kelsen hat diese Sicht in der zweiten Auflage der "Reinen Rechtslehre" von 1960 wiederholt (1960, S. 196,197,228). Und auch in seiner posthum veröffentlichten "Allgemeinen Theorie der Normen" geht Kelsen davon aus, daß eine positive Rechtsordnung einen Stufenbau von Normen mit der Grundnorm als oberster Stufe darstellt (1979, S.208). 5 2 In der Kelsen-Forschung sind diese beiden Funktionen der Grundnorm, also ihre Bedeutung als Geltungs- und als Einheitskonstituante, mehrfach herausgestellt worden (RDreier 1972, S.237
10 Baldus
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C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
b) Damit hat Kelsen eine Theorie der Einheit der Rechtsordnung gebildet. Soll mit ihr die Einheit einer konkreten Rechtsordnung bestimmt werden, so ist eine Wendung zur Empirie zu vollziehen. Denn die Grundnorm beinhaltet zwar einen Sollenssatz, der weder Seinsphänomenen noch moralischen Substanzen entspringt. Diese Grundnorm hat inwoweit als "methodologisches Apriori" bloß eine normerkenntnistheoretische Funktion 5 3 . Doch wenn zu ermitteln ist, welche historisch erste Verfassung der Rechtsbetrachtung zugrunde gelegt, welche Grundnorm einer speziellen Rechtsordnung vorausgesetzt werden soll, so muß der Blick auf die realen politisch-sozialen Verhältnisse gerichtet werden. Kelsen selbst hatte schon früh hervorgehoben, daß das für die Bildung des Inhalts einer Grundnorm bestimmende Prinzip darin bestehe, "das rechtliche Sollen dem tatsächlichen Geschehen anzupassen" 54 , daß der Inhalt der Grundnorm "offenkundig mit Seinstatbeständen" korrespondiere 55 , dieser Inhalt, so die Formulierung in der ersten Auflage der "Reinen Rechtslehre", sich nach dem Tatbestand richte, "in dem jene Ordnung erzeugt wird, der das tatsächliche Verhalten der Menschen, auf die sich die Ordnung bezieht, bis zu einem gewissen Grad entspricht" 56 . Die Grundnorm, so heißt es in der zweiten Auflage der "Reinen Rechtslehre", beziehe "sich unmittelbar auf eine bestimmte, tatsächlich gesetzte, durch Gewohnheit oder Satzung erzeugte, im großen und ganzen wirksame Verfassung" 57 . Die Einheit der Rechtsordnung bleibt bei Kelsen also nicht "im Rahmen des Juristischen von allem Soziologischen ' r e i n ' " 5 8 . Kelsens Lehre fordert im Gegensatz dazu auf, bei der Analyse der Grundnorm einer speziellen Rechtsordnung alle Bedingungen zu beachFn.47; ders., 1982, S.38f.; Bekrend 1977, S.76f., Bucher 1982, S.47f.; H.Dreier t 1986, S.44 Fn.97; Pawlik 1993, S.l51). In seiner "Allgemeinen Theorie der Normen" äußert sich Kelsen nicht mehr explizit zur einheitsbegründenden Funktion der Grundnorm. Da er aber auf die Grundnorm nicht verzichtet (1979, S.205ff.) und die Beseitigung von Normenkollisionen nach wie vor notwendigerweise die Zuordnung zweier Normen zu einer Rechtsordnung voraussetzt, ist auch kein Grund ersichtlich, warum Kelsen diese Einheitsfunktion der Grundnorm hätte revidieren sollen. 5 3
R.Dreier 1972, S.222f.
5 4
1920, S.100.
5 5
1922a, S. 102.
5 6
1934, S.68.
5 7
1960, S.204. Die Reine Rechtslehre ist Kelsen eigenem Anspruch nach eine "radikale realistische Rechtstheoric", die sich "zu nichts anderem verpflichtet, als das positive Recht seinem Wesen nach zu begreifen und durch eine Analyse seiner Struktur zu verstehen" (a.a.O., S.l 12); sie ist eine empirische Theorie des Rechts, die sich auf "die Beschreibung von Normen beschränkt, die der Sinn empirischer, in Raum und Zeit gesetzter, von Menschen gesetzter Akte sind" (1959, S.5). CO
So aber überraschenderweise Schmitt 1922, S.29. Damit wird natürlich ein Sollen auf ein Sein bezogen. Aber Kelsens methodendualistische Sicht beinhaltet ja auch nicht die These, daß das eine nichts mit dem anderen zu tun habe. Jenes kann aus diesem nur eben nicht "logisch" abgeleitet werden. Und darüber kann die Analyse des Rechts nicht hinweggehen. Die angelsächsische analytische Rechtsphilosophie stellt das Sein-Sollen Problem als Frage des Verhältnisses von deskriptiven zu präskriptiven Sätzen dar. Gegen die dort unternommenen Versuche, präskriptive Sätze aus deskriptiven Sätzen abzuleiten: Hoerster (1969), der aufzeigt, daß das Ziel, die Kluft zwischen diesen beiden Satzarten zu schließen, nicht erreicht wird. Eine jüngere formallogische Studie zum Sein-Sollen-Problem kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, daß reine deskriptive Aussagen von reinen Normenaussagen logisch unabhängig sind, die Logik allein eine Brücke vom Sein zum Sollen nicht schlagen kann (Stuhlmann-Laeisz 1983, S.5).
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979)
147
ten, unter denen das "tatsächliche Verhalten" von Menschen steht. Die Plausibilität oder Evidenz einer bestimmten Grundnorm ergibt sich also allein aus einer empirischen Überprüfung der in einer Gesellschaft herrschenden kollektiven Traditionen, ökonomischen Interessen, moralischen Werte und sozialen Ordnungsvorstellungen. Kelsens Theorie trägt mit der Grundnorm ein kategoriales Element in sich, das bei der Frage nach der Einheit einer konkreten Rechtsordnung eine Wendung zur Empirie erzwingt und sich öffnet für die Bedingungen der politischen, sozialen und historischen Homogenität einer Gesellschaft, auf die sich diese Rechtsordnung richtet 5 9 . Es handelt sich also nicht um ein "reines" grundnormtheoretisches Konzept 6 0 . c) Sucht man nun diese Lehre in die Abfolge der bisher gesichteten Einheitsbegriffe einzugliedern, so wird augenfällig, daß die Vorstellung von der Einheit einer Rechtsordnung erst im Werke Kelsens in unverwechselbare Weise als juristisch-dogmatisches Problem markant wird. Erst Kelsen ermittelt die dogmatische Notwendigkeit dieser Vorstellung und erarbeitet eine Lösung, die sich nahtlos einfügt in eine umfassende Theorie über die Struktur des Rechts. Hebt man vorübergehend den auf Kelsens Schriften konzentrierten Blick und lenkt ihn noch einmal auf die Autoren, die sich vor ihm dem Einheitsproblem gestellt haben, so läßt sich eine keineswegs geradlinige, vielmehr in verblüffenden Windungen verlaufende, aber dennoch gut erkennbare problemgeschichtliche Spur entdecken. Wenn Kelsen sich selbst einreiht in die von Gerber begründete, dann von Laband und Jellinek fortgeführte Traditio n 6 1 , so findet diese für das Denken von Staat und Staatsrecht, ja für das Rechtsdenken überhaupt so wirkungsstarke Strömung in der Bearbeitung des 5 9 Die empirische Essenz der Gmndnormtheorie ist in der Kelsen-Literatur ein Gemeinplatz: vgl. schon die frühen und sehr treffenden Ausführungen von Hohenhauer 1928, S. 335; dann in der jüngeren Literatur R.Dreier 1982, S. 43; Bucher 1982, S.50; Klug 1982, S.31; HDreier 1986, S.l21 ff. Anders dagegen Pawlik, nach dem die Grundnormtheorie "zur Feststellung der Geltungskriterien konkreter Rechtsordnungen" nicht dienen könne und solle (1993, S.160). Kelsen gelange zur Formulierung der "Grundnorm des positiven Rechts" schlechthin (a.a.O., S.l68). Die eben vor den Fußnoten 54 bis 57 angeführten Zitate aus Kelsens Werk legen die entgegengesetzte Deutung nahe. 6 0 So aber Weinberger 1981, S.504, 1988, S.230. Von Weinbergers institutionalistischem Rechtspositivismus aus müsse die Grundnorm als Hypothese angesehen werden, die sich dann bestätige, "wenn sie sich an der Realität bewährt, d.h., wenn sie eine faktische Existenz der Rechtsordnung zu erfassen erlaubt" (Weinberger 1981, S.507, ebenso 1988, S.230). Aber dies ist doch gerade das Verständnis der Grundnonmlehre, wie es sich aus Kelsens Schriften direkt ergibt. Die oben angeführten Zitate Kelsens illustrieren dies zur Genüge und lassen keinen Zweifel daran, daß es sich bei Kelsens Lehre um eine Theorie des empirischen Rechts handelt. Dies läßt auch Krawietz Urteil unverständlich wirken, daß die Grundnorm entbehrlich sei, "da der Stufenbau des Rechts, sofern er überhaupt besteht, seinen letzten Geltungsgrund im Rechtssystem" finde (1985, S.272f.). Unter "Rechtssysteme" versteht Krawietz "realiter existierende Sozialgebilde", die nicht "mit den Wortnormen, durch die sie symbolisch repräsentiert werden", identisch sind (a.a.O., S.259). Die sozialen Daten, die in Krawietz* Begriff des Rechtssystems enthalten sind, werden aber von Kelsens Lehre erfaßt. Die Plausibilität einer angenommenen Grundnorm bemißt sich nach einem realen Sozialgebilde, auf das die Grundnorm bezogen wird, auch wenn - so die gelungene Formulierung von Pawlik (1993, S.59) - die Rechtsordnung "auf der höchsten Ebene nicht unvermittelt in Faktizität" umschlägt. 6 1
1925, S. VII.
148
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
Problems der Einheit der Rechtsordnung ihren exemplarischen Beleg. Gerber hatte die Rechtsverhältnisse als Willensverhältnisse gedeutet und auf den einheitlichen Grundgedanken der Staatsperson bezogen. Jellinek griff diese Konstruktion auf und nahm sich der von Gerber vernachlässigten Frage des einheitlichen Willens der Staatsperson an. Und Kelsen vollzog einen folgenschweren Perspektivenwechsel. Er wendete den Blick ab vom staatsrechtlichen System, das alle staatsrechtlichen Rechtsnormen einheitlich zu ordnen versuchte und identifizierte den einheitlichen Staatswillen mit der gesamten staatlichen Rechtsordnung, so daß nun zu untersuchen war, wie und warum diese Ordnung als einheitlich und widerspruchsfrei gedacht werden konnte. Aber Gerbers Vorstellung eines staatsrechtlichen Systems mit einheitlichem Grundgedanken ist, wie oben gesehen, nicht aus sich selbst heraus entstanden. Sie hatte ihren wichtigsten Vorläufer in Klübers kurz nach Beginn des 19.Jahrhunderts angestellten Überlegung, ob die Ordnung des staatsrechtlichen Stoffes in systematischer Einheit erfolgen müsse und könne. Und Klüber hatte dabei schließlich den in der damaligen Rechtswissenschaft gängigen und letztlich von Kant als Postulat der Wissenschaftlichkeit geprägten Einheitsbegriff appliziert. Diese problemgeschichtliche Linie, die von Kant ausgeht und über Klüber, Gerber und Jellinek zu Kelsen führt, vermag allerdings weniger überraschen, wenn man Kants Begriff der "systematischen Einheit der Verstandeserkenntnisse" Kelsens Begriff der Einheit der Rechtsordnung im unmittelbaren Vergleich gegenüberstellt. Ihre strukturelle Verwandtschaft springt dann sogleich ins Auge. Nach Kant sind die Ideen, die systematische Einheit erzeugen, von transzendentaler Art - zwar nicht in dem Sinne, daß sie diese Erkenntnisse als Bedingung ihrer Möglichkeit selbst konstituieren. Wohl aber werden sie in der Weise regulativ gebraucht, als alle Erkenntnisse in ihnen in einem Punkt, in einem focus imaginarius zusammentreffen, der außerhalb des Feldes empirischer Erkenntnis liegt 6 2 . Diese Eigenschaften finden sich in Kelsens Grundnorm wieder. Auch sie genießt nicht die Dignität einer transzendentallogischen Bedingung der Rechtserkenntnis, da subjektive Willensakte mit ihrer Hilfe nicht als Normen des Rechts gedeutet werden müssen, sondern allenfalls als solche gedacht werden können, eine soziologische Alternativbetrachtung der Willensäußerungen als Machtverhältnisse also immer noch möglich bleibt 6 3 . Aber auch die Grundnorm wird ähnlich wie die Idee im kantischen Sinne als übercmpirische Größe den normativ gedeuteten empirischen Wil6 2 S. oben Kapitel B.1.3. "Es kann keine Erscheinung gefunden werden", an der sich diese transzendentalen Ideen "in concreto vorstellen ließen" (Kant 1781, S.549). Die Vernunft hat nach Kant "dabei nur eine systematische Einheit im Sinne, welcher sie die empirische mögliche Einheit zu nähern sucht, ohne sie jemals zu erreichen" (ebd.). So verhilft die transzendentale Idee der Freiheit, "wodurch die Vernunft die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung durch das Sinnlichunbedingtc schlechthin anzuheben denkt" (a.a.O., S.542), einen unendlichen Regressus der empirischen Geschehnisse zu vermeiden. Indem eine Reihe von erfahrungsgegebenen Daten auf eine intelligible Ursache, auf einen Akt der Freiheit, den es nur jenseits der empirischen Welt gibt, zurückgeführt wird, wird es möglich, eine systematische Einheit dieser Erfahrungsdaten anzunehmen. 6 3
S.o. Fn. 57.
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979)
149
lcnsakten einfach vorausgesetzt. Und auch sie hat die Qualität eines focus imaginarius, in dem alle Rechtsnormen einer Ordnung zusammenlaufen. Stellt man, was darin schon ausgesprochen ist, zur Verdeutlichung noch die Kelsensche Stufenbaulchre neben die kantischen Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen 6 4 , so wird das Bild einer tiefgreifenden strukturellen Ähnlichkeit von Kants und Kelsens Einheitsbegriffen komplettiert: Die Grundnorm Kelsens hat ebenso wie die Kantische transzendentale Idee als Spitze einer stufenweise erzeugten Architektonik des Systems eine einheitsstiftende Funktion. Dabei kann natürlich keine Rede davon sein, daß Kelsen Kants Begriff schlichtweg auf das Gebiet rechtswissenschaftlicher Erkenntnis übertragen und dann angewendet, aus ihm deduziert hat. Kelsens Vorstellung von einer Einheit der Rechtsordnung ist nach langjährigem, von mehreren Revisionen, Abtrennungen und Ergänzungen begleitetem Reflexionsprozeß dem Rechtsstoff abgerungen. Der Umstand, daß sich der kantische Gedanke systematischer Einheit der Verstandeserkenntnisse auch auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft bewährt, läßt aber vermuten, daß Kant eine Ordnungsform entwickelt hat, die allgemein verwendbar ist. 4. Die Problematik einer materiellen Einheit der Rechtsordnung
a) Neben der vorstehend aufgezeigten Theorie einer formalen, auf Stufenbau- und Grundnormlehre beruhenden Einheit der Rechtsordnung enthält Kelsens Werk noch ein ganzes Bündel von Aussagen zur Problematik einer materiellen Einheit der Rechtsordnung. Seine auf diese Einheit gerichteten Aussagen lassen sich allerdings nicht wie seine formale Einheitstheorie zu einem in sich kohärenten Theorieelement zusammensetzen, da sie nicht konstant durchgehalten, sondern mehrfach abgeändert und am Ende seines Lebens grundlegend revidiert wurden. Mit dieser materiellen Einheit der Rechtsordnung ist natürlich keine inhaltliche Gleichheit der Rechtsordnung gemeint. Kelsen kann sich sogar den theoretischen Grenzfall vorstellen, daß die Einheit eines Rcchtsgebietes nur formal durch die vorausgesetzte Grundnorm konstituiert ist und alle gesetzten Normen nur für Teilgebiete gelten, aber dennoch, obwohl nicht irgendein positiver Rechtsinhalt für das ganze Gebiet gilt, eine "einheitliche Rechtsordnung" gegeben ist" 6 5 . Die hier gemeinte materielle Einheit kann nur negativ formuliert werden, als Abwesenheit von Normwidersprüchen. b) Ihre Begründung erfahrt diese Einheit bei Kelsen zunächst in einem für alle Wissensgebiete, ja für die menschliche Erkenntnis überhaupt geltenden Erkenntnisprinzip. Kelsen beruft sich dabei auf den neukantianischen Philosophen Paul Natorp, der ausgeführt habe, daß die Frage nach der letzten Einheit der Erkenntnis zwar Sache der Philosophie, aber dennoch auch den Einzelwissenschaften nicht fremd sei. Dementsprechend solle, so folgert Kelsen, 6 4
S. oben Kapitel B. 1.3.
6 5
1960, S.317.
150
C Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
die Einheit der juristischen Erkenntnis Aufgabe der Rechtsphilosophie wie der einzelnen Rechtsdisziplinen sein 6 6 . Dieses, auch als "Einheit juristischer Erkenntnis" bezeichnete 67 und auch für die Rechtserkenntnis durch die Rechtswissenschaft verbindliche 68 Prinzip zielt darauf ab, "zu einem System einander nicht widersprechender, innerlich zusammenhängender Urteile zu gelangen" 6 9 . Kelsen geht sogar so weit, dieses Prinzip zum Wissenschaftskriterium der Jurisprudenz zu deklarieren. Sie werde erst in dem Maße Wissenschaft, "als sie dem Postulate der Einheit ihrer Erkenntnis", und d.h. ihrer "vornehmsten Aufgabe" 7 0 genügt, als es ihr gelingt, alles Recht als ein einheitliches System zu begreifen"' 1 . Kelsen hat diese Auffassung in den beiden Auflagen der "Reinen Rechtslehre" beibehalten 72 . Man könne, so heißt es jeweils, "eine normative Ordnung nicht in der Weise beschreiben, daß man behauptet, es gelte die Norm: A soll sein, und zugleich die Norm: A soll nicht sein" 7 3 . c) Das als Wissenschaftskriterium verwendete Prinzip der Einheit, deren negatives Kriterium die Unmöglichkeit eines logischen Widerspruchs sei 7 4 , ist also nicht mit jener formalen Einheit der Rechtsordnung identisch, durch die eine Vielzahl von Rechtsnormen zu einer Rechtsordnung verbunden werden. Kelsen schreibt zwar 1960 in der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre, daß die durch die Grundnorm konstituierte Einheit der Rechtsordnung sich auch darin ausdrücke, "daß eine Rechtsordnung in Rechtssätzen beschrieben werden kann, die sich nicht widersprechen" 75 . Aber es kann keinem Zweifel 6 6 1920, S.Vf. Der Verweis auf Natorp erfolgt ohne Angabe einer Belegstelle. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte Kelsen aber Natorps "Philosophie - Ihr Problem, ihre Probleme" aus dem Jahre 1918 vor Augen (vgl. dort S.3ff.). 6 7
1920, S.V.
6 8
1920, S.V und 105.
6 9
1920, S.l08.
7 0
A.a.O., S.288.
71
1
A.a.O., S.l52. Dieses Wissenschaftsideal war in der Wiener rechtstheoretischen Schule der damaligen Zeit gängig; vgl. Verdross (1923, S.IX), der sich auf Cohen beruft (a.a.O., S.VIII), und Merkl (1925/26, S.l267): die Rechtswissenschaft müsse ihren Gegenstand als "systematische Einheit" begreifen. 7 2 1934, S.l35f.; 1960.S.329. 7 3
1934, S.136; 1960, S.329.
7 4
1928, S.31, 1934, S.135f., 1960, S.329. - 1914 hatte Kelsen die Notwendigkeit der Widerspruchsfreiheit von Normen u.a. noch mit der Vernünftigkeit des Systems begründet, dem die Normen angehören (vgl. oben. C.IV.1.3)). 7 5 1960, S.209. Diese Formulierung mag Priester bewogen haben anzunehmen, für Kelsen sei die Vermeidung von Normwidersprüchen durch "die Rückführung aller Normen des geltenden Rechts auf die Grundnorm" gewährleistet (1984, S.243). Die von Kelsen vorgelegte normentheoretische Analyse des Einheitsproblems hat ja ihr Rückgrat gerade in der wesentlichen Unterscheidung zwischen einer formalen und einer inhaltlichen Einheit der Rechtsordnung. Priesters Kritik an Kelsen: "Rückführung auf eine letzte Ermächtigungsnorm verhindert keine Norm Widersprüche" (ebd.) verkennt diese Differenzierung gänzlich. Ein ähnliches Mißverständnis unterläuft Bulygin. Seine These, daß das Thema, das Kelsen unter dem Titel "Konflikt zwischen Normen gleicher Stufe" behandele, mit der Einheit der Rechtsordnung nichts zu tun habe (1967, S.337), kann nur entstehen, weil der bei Kelsen zu erkennenden Differenzierung zwischen formal erzeugter und materieller Einheit der Rechtsordnung nicht genügend Beachtung geschenkt wird.
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979)
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unterliegen, daß die formale, grundnormerzeugte Einheit nicht mit der aus dem Prinzip der "Einheit juristischer Erkenntnis" folgenden Widerspruchsfreiheit der Rechtsnormen oder Rechtssätzen gleichzusetzen i s t 7 6 . Die formale Einheit der Rechtsordnung, die aus der Deutung der Rechtsordnung als Erzeugungszusammenhang resultiert, konstituiert erst den Gegenstand, verbindet erst eine Vielzahl von Rechtsnormen zu einer Rechtsordnung. Erst wenn eine Rechtsordnung auf diese Weise identifiziert ist, kann das Prinzip der "Einheit juristischer Erkenntnis" angewendet und der Inhalt einer Rechtsordnung, die Rechtsnormen, in widerspruchsfreien Rechtssätzen dargestellt werden. d) Die Problematik dieses als Wissenschaftskriterium verwendeten Erkenntnisprinzips entsteht in dem Augenblick, in dem es auf den Rechtsstoff, der häufig genug miteinander in Konflikt stehende Normen aufweist, angewendet werden soll. Das Prinzip juristischer Erkenntnis, das dazu auffordert, das Recht als sinnvolles Ganzes zu begreifen und in widerspruchsfreien Sätzen darzustellen, kann nur dann Realität werden, wenn Normenkonflikte durch "Interpretation" lösbar sind 7 7 . Entstünde etwa ein Konflikt innerhalb des Stufenbaus der Rechtsordnung, weil eine niederrangige Norm nicht in der Weise erzeugt wurde, wie die höherrangige Norm es vorsah, und könnte dieser Konflikt nicht aufgelöst werden, weil es so etwas wie ein rechtswidriges Recht gäbe, so wäre eine Einheit im eben beschriebenen Sinne ausgeschlossen. Es wäre dann, so drückt Kelsen sich aus, "um die Einheit der Rechtsordnung geschehen" 78 . Doch weil die Rechtsordnung selbst mit eigentlich gesetzwidrigen Verordnungen und richterlichen Entscheidungen oder mit eigentlich verfasssungswidrigen Gesetzen rechnet und deren Vernichtbarkeit vorsieht, so ist nach Kelsen "zwischen einer höheren und einer niederen Norm einer Rechtsordnung kein Konflikt möglich", der "die Einheit eines Normsystems aufhebt, indem er es unmöglich macht, es in einander nicht widersprechenden Rcchtssätzen zu beschreiben" 79 . Der materiellen Einheit der Rechtsordnung drohen auch keine Gefahren durch Konflikte zwischen Normen derselben Stufe. Auch hier kommt es für die materielle Einheit der Rechtsordnung darauf an, diese Kollisionen aufzulösen. Kelsen erörtert dazu eine Reihe von Kollisionsregeln, die dazu verhelfen, das Rechtsmaterial als in sich widerspruchsfrei zu begreifen. Bei generellen Normen, die zu verschiedenen Zeiten gesetzt werden, gelte die in der Ermächtigung zur Rechtssetzung inbegriffene lex-posterior-Regel, bei gleich7 6 In den späteren Schriften differenziert Kelsen zwischen dem deskriptiven Rechtssatz und der präskriptiven Rechtsnorm (1959, S.5; 1960, S.73). Die Rechtsnorm schreibe vor, wie sich ein Mensch in bestimmter Weise verhalten soll, der Rechtssatz hingegen beschreibe eine Rechtsnorm. Das Motiv dieser Unterscheidung betrifft eine Funktionentrennung zwischen beschreibender Rechtswissenschaft und vorschreibender Rechts Setzung. Der Rechtswissenschaft steht es nur zu, Rechtssätze zu formulieren. 7 7
1960, S.210.
7 8
1934, S.85.
7 9 1960, S.280. Kelsen sagt ausdrücklich, daß die "Normwidrigkeit" einer Norm keinen Konflikt zwischen der niederen Norm und der höheren Norm bedeute, sondern nur die Vernichtbarkeit der niederen Noim (a.a.O., S.331).
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C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
zeitig erlassenen generellen Normen habe der Anwender entweder die Wahl oder aber eine Norm sei durch die andere einschränkend zu deuten. Nur wenn weder die eine noch die andere Interpretation möglich sei, läge ein sinnloser Normsetzungsakt und damit überhaupt kein Akt vor. Dies gelte auch bei einem Konflikt innerhalb einer und derselben richterlichen Entscheidung. Kollidierten aber zwei individuelle Normen, etwa zwei Gerichtsentscheidungen miteinander, so habe das Exekutivorgan die Wahl, der einen oder anderen Entscheidung zu entsprechen 80 . Damit ist dem Prinzip juristischer Erkenntnis in jeder Hinsicht Genüge getan. Die Rechtsordnung erscheint als einheitliches, widerspruchsfreies System von Rechtsnormen. e) In seiner 1979 posthum veröffentlichten "Allgemeinen Theorie der Normen" hat Kelsen die so konzipierte Lehre von der materiellen Einheit der Rechtsordnung verworfen. Zwar geht Kelsen weiter davon aus, daß kein Normenkonflikt vorliegt, wenn im Falle eines eigentlich verfassungswidrigen Gesetzes dieses Gesetz weiter gültig ist, seine Geltung aber in einem von der Verfassung vorgesehenen Verfahren aufgehoben werden kann 8 1 . Dies muß entsprechend für jede Norm gelten, die mit einer ihr übergeordneten Norm kollidiert. Ihre Geltung wird zunächst von der Rechtsordnung gewollt. In der Regel trifft die Rechtsordnung aber Vorkehrungen, um diese Normen aufzuheben. Insofern ist weiterhin anzunehmen, daß für Kelsen die materielle Einheit durch Kollisionen innerhalb des Stufenbaus nicht in Gefahr gerät, falls die Rechtsordnung die Vernichtbarkeit der Normen vorsieht, die entgegen den Vorgaben höherrangigen Rechts erzeugt wurden. Anders ist die Lage aber bei Kollisionen gleichrangiger Normen. Kelsen revidiert nun seine bisher vertretene Auffassung, daß ein Normenkonflikt, also der Fall, daß "die eine Norm ein bestimmtes Verhalten, die andere Norm die Unterlassung dieses Verhalten als gesollt setzt" 8 2 , im Wege einer Interpretation gelöst werden kann 8 3 . Da Interpretation von Rechtsnormen Rechtserkenntnis sei, so argumentiert er nun, und diese "Erkenntnis des Rechts aber ebenso wenig wie Rechtsnormen erzeugen, d.h. in Geltung setzen, die Geltung von Rechtsnormen aufheben" könne, könne Interpretation auch nicht die 8 0 Zu diesen Kollisionsregeln äußert sich Kelsen 1960, S.210 bis 212. Wie schon 1928 (S.26) leitet Kelsen auch in der zweiten Auflage der "Reinen Rechtslehre" diese Regeln aus einem materialen Verständnis der Grundnorm ab. Sie ermögliche, "das der Rechtserkenntnis aufgegebene Material als sinnvolles Ganze zu deuten", und das hieße, "in einander logisch nicht widersprechenden Sätzen zu beschreiben" (1960, S.212). Diese Fassung der Grundnorm, die als naturrechtlich zu qualifizieren Kelsen selbst als zulässig erachtet hatte (1928, S.66), widerspricht aber Kelsens Diktum, daß aus der Grundnorm "nur die Geltung, nicht der Inhalt der Rechtsordnung abgeleitet werden" könne (1960, S.224). Gerade dies geschieht aber, wenn der Grundnorm die Funktion zugeschrieben wird, mit Hilfe von Kollisionsregeln die Rechtsordnung als in sich widerspruchsfrei zu deuten. 8 1
1979, S.l02.
8 2
1979, S.l68. Den Gesichtspunkt der Normbefolgung betont Kelsen in der Formulierung: "Ein Konflikt zwischen zwei Normen liegt vor, wenn das, was die eine als gesollt setzt, mit dem, was die andere als gesollt setzt, unvereinbar ist, und daher die Befolgung oder die Anwendung der einen Norm notwendiger- oder möglicherweise die Verletzung der anderen involviert" (a.a.O., S.99). 8 3
1979, S. 168, 179.
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979)
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Lösung eines Normenkonflikts leisten 84 . Es könne nicht behauptet werden, "daß wenn die eine der beiden Normen gilt, die andere ungültig sein muß, so wie im Falle eines logischen Widerspruchs, wenn die eine Aussage wahr ist, die andere unwahr sein muß" 8 5 . Denn der Satz vom Widerspruch sei nicht auf Normen anwendbar, sondern nur auf Aussagen, die wahr oder unwahr sein können. Normen als Sinn von Willensakten seien aber weder wahr noch unwahr, sondern gültig oder ungültig und daher nicht einem Prinzip der traditionellen Logik wie dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch unterworfen 8 6 . "Im Falle eines Normenkonflikts", so Kelsen, "sind beide Normen gültig; andernfalls läge kein Normenkonflikt vor. Keine der beiden in Konflikt stehenden Normen hebt die Geltung der anderen a u f ' 8 7 . Da also Aussagesätze einen gänzlich anderen logischen Status als Normen aufweisen, kann die Geltung einer Norm, die mit einer anderen Norm konfligiert, nur durch eine derogatorische Norm erfolgen, etwa durch den lex-posterior-Grundsatz - dessen Qualität als "logisches Prinzip" allerdings nun nicht mehr genügt, der vielmehr eine ausdrücklich gesetzte oder als selbstverständlich angenommene Norm des positiven Rechts sein muß 8 8 . Ein konfliktlösendes Prinzip "kann muß aber nicht - durch eine positive Norm statuiert sein". Falls ein konfliktlösendes Prinzip nicht positiviert ist, muß der Konflikt eben ungelöst bleiben 89 . Dem rechtsanwendenden Organ bleibt dann nur, sich in einem Willensakt für die Anwendung der einen oder der anderen der beiden Normen zu entscheiden, wobei aber der Konflikt zwischen den beiden generellen Rechtsnormen bestehen bleibt 9 0 . Mit anderen Worten, Normenkonflikte innerhalb der Rechtsordnung können nur eingeebnet und damit die materielle Einheit der Rechtsordnung hergestellt werden, wenn die Rechtsordnung selbst die Kollisionsregeln an die Hand gibt, mit denen die Normenkonflikte gelöst werden können.
8 4
1979, S.l79.
8 5
1979, S. 168.
8 6 1979, S.l66. Auch schon in der zweiten Auflage der "Reinen Rechtslehre" war Kelsen mit der gleichen Begründung davon ausgegangen, daß der Satz vom Widerspruch nicht auf Normen anwendbar ist. Wohl aber hielt er es für möglich, diesen Satz auf Rechtsnormen beschreibende Rechtssätze und damit indirekt auf Rechtsnormen anzuwenden (1960, S.210). Kelsen hebt 1979 explizit hervor, daß er diese Auffassung nicht mehr aufrechterhalten kann (1979, S.331). 8 7 1979, S.l68. Diesen Gedanken hat Kelsen schon kurze Zeit nach Veröffentlichung der zweiten Auflage der "Reinen Rechtslehre" zum Ausdruck gebracht (vgl. 1963, S.870f.). 8 8 1979, S.l68. Im Jahre 1914 hatte Kelsen den lex-posterior-Grundsatz noch als "rechtslogisches Prinzip" bezeichnet (1914, S.204), als "rein logische Konsequenz", die sich aus der Natur der Norm und dem Wesen der Einheit im Normensystem ergebe (a.a.O., S.207). Doch schon im "Problem der Souveränität" (1920, S.l 15 Fn.l) und in der "Allgemeinen Staatslehre" (1925, S.308, 409) gibt es Anzeichen dafür, daß Kelsen von dieser "logischen" und "apriorischen" Begründung des lex-posterior-Satzes abrückt (dazu Paulson 1982, S.135f.). In seinem Spätwerk (1979, S.168) verweist Kelsen auf Merkl, der schon 1918 ausgeführt hatte, daß das lex-posterior-Prinzip "nur der Ausdruck eines Rechtssatzes" sein könne. Die rechtslogische Geltung dieses Prinzips sei "durch einen solchen Rechtssatz bedingt" (1918, S.1135f.). 8 9
1979, S.169, vgl. auch S.267.
9 0
1979, S.l79.
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C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
0 Damit hat Kelsen in seinem Spätwerk die bis dahin vertretene Lehre von der materiellen Einheit der Rechtsordnung grundlegend umgestaltet. Es ist nun nicht mehr möglich, aus einem für alle Wissensgebiete, für menschliches Erkennen überhaupt geltenden und als Wissenschaftskriterium fungierenden Erkenntnisprinzip die Forderung abzuleiten, die Rechtsordnung mit Hilfe diverser Interpretationstechniken als inhaltlich widerspruchsfrei zu deuten. Die Bearbeitung der Rechtsordnung kann nun nicht mehr auf Regeln oder Prinzipien zurückgreifen, die nicht in der Rechtsordnung selbst enthalten sind. Da bei einem strikt rechtspositivistischen Verständnis Normenkonflikte ungelöst bleiben müssen, wenn die Rechtsordnung keine ausdrücklich oder stillschweigend gesetzten Kollisionsregeln bereithält, kann nun der Zustand einer partiell inkonsistenten Rechtsordnung eintreten. Die Rechtswissenschaft darf sich in einer solchen Situation nicht mehr anmaßen, die Rechtsordnung als sinnvoller darzustellen, als sie in Wirklichkeit ist. Damit ist die Notwendigkeit, eine inhaltliche Widerspruchsfreiheit der Rechtsnormen zu erreichen, nicht gänzlich hinfällig geworden. Denn die Aufgabe der Rechtsordnung, menschliches Verhalten zu steuern, bedingt notwendigerweise, daß eine Norm nicht ein Verhalten verbieten darf, das eine andere Norm erlaubt. Dieser Gedanke ist auch in Kelsens Werk ausgesprochen. Kelsen hatte schon 1914 angeführt, daß dann, wenn ein Rechtsnormen unterworfenes Subjekt sein Verhalten an Normen ausrichten soll, diese Normen nicht miteinander kollidieren dürfen 91 . Und dieser Gedanke kann auch herausgelesen werden aus dem Verständnis der Grundnorm als eines Sollenssatzes, der zu einem von den Rechtssetzungsorganen noch zu konkretisierenden Verhalten auffordert 92 . Durch Normenkollisionen beraubt sich die Rechtsordnung aber ihrer Fähigkeit, auf menschliches Verhalten motivierend und steuernd einzuwirken. Damit hat Kelsen die Rechtsbearbeitung in ein Dilemma hineingeführt. Normenkonflikte können nicht hingenommen, dürfen aber nur beseitigt werden, wenn die Rechtsordnung ihre Auflösung positiv anordnet. Die Rechtsordnung bestimmt also selbst darüber, in welchem Maße sie als materielle Einheit aufzufassen ist. 5. Die Einheit der Erkenntnis als juristisches Konstruktionsprinzip
a) Das eben besprochene Prinzip der Einheit juristischer Erkenntnis hatte in Kelsens Schriften, die vor seiner 1979 veröffentlichten "Allgemeinen Theorie der Normen" erschienen, nicht nur, wie eben ausgeführt, die Funktion, die inhaltliche Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung zu begründen. Kelsen ging noch bis in die sechziger Jahre davon aus, daß sich aus diesem Prinzip auch Konsequenzen für die Geltung konkurrierender Normenordnungen ergäben. Daß "die Einheit eines Normensystems zugleich dessen Einzigkeit" bedeute, sei "nur eine logische Konsequenz des - wie für alle Erkenntnis des 9 1
S.o. Abschnitt IV. 1.3.
9 2
S.o. IV. 1.5.
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979)
155
Sollens, für die Normerkenntnis maßgebenden - Prinzips der Einheit, dessen negatives die Unmöglichkeit des logischen Widerspruchs ist" 9 3 . Wenn sich also zwei Normensysteme, etwa eine Moral- und Rechtordnung auf denselben sachlichen, zeitlichen und räumlichen Geltungsbereich erstreckten, folge aus diesem Erkenntnisprinzip, daß "ein Normensystem nur unter Ausschluß der Geltung aller anderen Normensysteme desselben Geltungsbereichs gelten" könne 9 4 . Für den Rechtsanwender schließt Kelsen daraus konkret, daß er als Jurist nicht "neben der Gültigkeit einer Rechtsnorm des Inhalts a eine gültige Moralnorm des Inhalts non a behaupten" könne 9 5 . Am Ende seines Lebens hat er diese Sicht aber revidiert. Kelsen behauptet nun nicht, daß bei einem streng rechtspositivistischen Ausgangspunkt von einem als Wissenschaftskriterium fungierenden Erkenntnisprinzip auf die Ungültigkeit einer Norm, die zu einem anderen System als dem der Rechtsordnung gehört, geschlossen werden kann. Denn, so Kelsen nun, das "Recht kann ebensowenig die Geltung einer zu ihm in Konflikt stehenden Moralnorm aufheben, wie die Moral die Geltung einer zu ihr in Konflikt stehenden Rechtsnorm aufheben kann" 9 6 . Die positive Rechtsordnung schreibe dem rechtsanwendenden Organ vor, "nur Normen dieser Rechtsordnung, Moralnormen aber nur, wenn durch diese Rechtsordnung delegiert, anzuwenden" 97 . b) Nach Veröffentlichung von Kelsens "Allgemeiner Theorie der Normen" hat diese Einheit juristischer Erkenntnis aber noch in zweifacher Hinsicht Bestand: einmal für die Bestimmung des Verhältnisses von Völkerrecht und Staatsrecht 98 , sodann für sein Bemühen, auf der Ebene theoretischer Rechtsbetrachtung einheitliche, also widerspruchsfreie und zusammenhängende Konstruktionen zu entwickeln. Dieses Prinzip habe sich zum einen verwirklicht in der Aufhebung der "absolute Gegensätze konstituierenden Unterscheidungen des öffentlichen von dem privaten, des objektiven von dem subjektiven Rechte, der Rechtsnorm von dem Rechtssubjekt, der Rechtserzeugung von der Rechtsanwendung". Diese Unterschiede können nach dem Prinzip der Einheit juristischer Erkenntnis "nur als rechtsinhaltliche Differenzen innerhalb des in seiner Einheit unberührbaren Systems" 99 Bedeutung haben. Diese Anwendung des Einheitsprinzips ist nach Kelsens Spätwerk ebensowenig als überholt zu betrachten, wie der schon 1920 unternommene Versuch, das Verhältnis von Völkerrecht und Staatsrecht gerade aufgrund dieses Prinzips als Einheit zu begreifen. Kelsen wendete sich bei dieser positivrechtlich nicht 9 3
1920, S. 105.
9 4
1928, S.31, ähnlich 1920, S.l05. Kelsen sieht in dieser Ausschließlichkeit der Geltung auch die Souveränität eines mit der Rechtsordnung zu identifizierenden Staates (1922a, S.189; 1925, S.105f.). 9 5
1920, S.l 11.
9 6
1979, S.170.
9 7 Ebd. Kelsen stützt seine Revision auch auf die Einsicht, "daß ein Normenkonflikt kein logischer Widerspruch ist" (a.a.O., S.330); vgl. oben Fn.85 und 86. 9 8
Gleicher Ansicht ist Pawlik 1993, S.147.
9 9
Beide Zitate 1925, S.VIII.
156
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
beantworteten Frage 1 0 0 gegen die herrschende dualistische Konstruktion der Beziehungen zwischen diesen beiden Normensystemen 101 . Die dualistische Theorie war vor allem mit dem Vorhandensein unlösbarer Normenkonflikte zwischen Staatsrecht und Völkerrecht begründet worden 1 0 2 . Nach Kelsen ist aber nicht daran zu zweifeln, daß das, was als unlösbarer Normenkonflikt erscheint, in Wirklichkeit gar kein Normenkonflikt ist, weil "der Sachverhalt in Rechtssätzen beschrieben werden kann, die sich in keiner Weise logisch widersprechen" 103 . Denn, so Kelsen, "die unter Verletzung des 'Völkerrechts' erzeugte Norm der einzelstaatlichen Rechtsordnung bleibt gültig, und zwar auch aus der Sicht des Völkerrechts, da dieses kein Verfahren vorsieht, in dem die völkerrechtswidrige Norm der einzelstaatlichen Rechtsordnung vernichtet werden k a n n 1 0 4 . Kelsen analogisiert dieses Argument mit seiner These, daß es innerhalb des staatlichen Stufenbaus zwischen einer höher- und niederrangigen Rechtsnorm keinen Normenkonflikt gebe, da die Rechtsordnung selbst die Aufhebung einer niederrangigen Norm vorsehe, die nicht entsprechend der höherrangigen Norm erzeugt wurde 1 0 5 . Formal lasse sich eine Einheit von Völkerrecht und staatlicher Rechtsordnung auf zwei Wegen konstruieren. Einmal könne "die Völkerrechtsordnung nur als von der eigenen staatlichen Rechtsordnung delegiert, als Bestandteil dieser eigenen staatlichen Rechtsordnung" begriffen werden 1 0 6 . Dieser Weg setze den Primat des Staatsrechts voraus. Die zweite Möglichkeit, eine Einheit von Völkerrecht und Landesrecht zu bilden, gehe vom Primat der Völkerrechtsordnung aus und gliedere die staatliche Rechtsordnung in die Völkerrechtsordnung, in eine "sie als Rahmen umspannende Universalrechtsordnung" e i n 1 0 7 . Kelsen stellt also die Einheit von beiden Normensystemen in jedem der zwei Fälle durch eine Delegationsbeziehung her. Entweder wird die Völkerrechtsordnung der staatlichen Rechtsordnung einverleibt - die Völkerrechtsordnung empfangt dann ihre Geltung letztendlich von der, der staatlichen Rechtsordnung vorausgesetzten Grundnorm -, oder die staatlichen Rechtsordnungen werden in die Völkerrechtsordnung inkorporiert. Dann ist die Geltung der staatlichen Rechtsnormen letztlich von der der Völkerrechtsordnung vorgesetzten Grundnorm abzuleiten. Kelsen hält beide Ansätze für gleichermaßen legitim, plädiert selbst aber für den Primat der Völkerrechtsordnung, da die Lehre vom 1 0 0
1920, S.l03.
1 0 1
A.a.O., S.l20ff. Diese Konstruktion ist inbesondere von Triepel (Völkerrecht und Landesrecht, 1899) ausgearbeitet worden. Smenä meint, Triepels Studie sei "in Deutschland voll erfolgreich" gewesen (1966, S.596). 1 0 2
1960, S.330.
1 0 3
Ebd. Ein /weites Argument Kelsens setzt bei der Annahme der dualistischen Konstruktion an, nach der die Geltung des Völkerrechts von der jeweiligen staatlichen Anerkennung abhänge. Diese Anerkennung bedeute aber, daß das Völkerrecht Bestandteil der staatlichen Rechtsordnung werde, die dualistische Konstruktion damit aufgehoben sei (1920, S. 134ff.). 1 0 4
1960, S.331.
1 0 5
Vgl. a.a.O., S.330.
1 0 6 1
1920, S.l87. A.a.O., S . 2 5 .
IV. Die Reine Rechlehre Kelsens (1911 - 1979)
157
Primat der staatlichen Rechtsordnung einer subjektivistischen, auf das Ich zentrierten Erkenntnistheorie entspräche 108 und diese letztendlich zu "einer Negation des Rechtes überhaupt und sohin der Rechtserkenntnis, der Rechtswissenschaft" führe 1 0 9 . c) Das Prinzip der Einheit juristischer Erkenntnis, dessen Berechtigung Kelsen aus einem der neukantianischen Philosophie entlehnten Wissenschaftsverständnis ableitete, kann sohin auch heute noch, nach seinem Spätwerk, den Rang eines von Kelsen vertretenen methodologischen Postulats bei der Lösung von juristischen Konstruktionsproblemen einnehmen. Geltung kann es aber nur in den Freiräumen erlangen, die die Rechtsordnung der wissenschaftlichen Bearbeitung gelassen hat. Die materielle Einheit der Rechtsordnung im Sinne des Nichtvorhandenseins von Normenkollisionen etwa ist nach strengem rechtspositivistischen Verständnis ein Problem, das nicht mit Hilfe eines juristischen Konstruktionsprinzips, sondern nur mit den Regeln gelöst werden kann, die die Rechtsordnung dafür selbst zur Verfügung stellt. Und ob es sich um eine und dieselbe Rechtsordnung handelt, vermag die Theorie von der formal bestimmten Einheit der Rechtsordnung zu sagen. Erst durch sie wird der Gegenstand konstituiert, für den dann das Problem der materiellen Einheit der Rechtsordnung virulent werden und an dem dann, in den von der positiven Rechtsordnung freigelassenen Räumen das Prinzip der Einheit juristischer Erkenntnis Anwendung finden kann. 6. Die Einheit der Rechtsordnung und Kelsens Staatsbegriffe
a) Schon in seinen ersten wissenschaftlichen Äußerungen hatte Kelsen die Einheit der Rechtsordnung mit der Vorstellung eines einheitlichen, widerspruchsfreien Willens als unverzichtbares Merkmal der Staatsperson identifiziert. Wenn die einheitliche Staatsperson aller staatsrechtlichen Konstruktion zugrunde gelegt werden muß und die Rechtsordnung Inhalt des Staatswillens ist, so lautete ja sein Argument, dann müsse auch die Rechtsordnung eine 1 0 8 A.a.O., S. 315. Kelsen verwahrt sich also zu Recht gegen Kaufmanns Behauptung, das Postulat der Einheit der Erkenntnis hätte ihn zum "Primat der Völkerrechtsordnung über die staatsrechtliche Ordnung" gedrängt (1921, S.26). Wenn Kelsen dann aber in seiner Gegenkritik von der Einheit als Prinzip normativer Erkenntnis hinüberschreitet zur Einheit einer einzelnen staatlichen Rechtsordnung und suggestiv fragt, ob Kaufmann auch in Abrede stellen wolle, daß den Juristen diese Einheit als Aufgabe gegeben sei (1922a, S.lOOf.), so sucht Kelsen die Auseinandersetzung auf ein Feld zu ziehen, das Kaufmann mit seiner Schrift gar nicht betreten hatte. In der "Kritik der neukantianischen Rechtsphilosophie" hatte Kaufmann nicht ein einziges Wort über die Einheit als Eigenschaft der Rechtsordnung verloren. 1 0 9 1920, S.317. Verdross, der sich wie Kelsen zu dem Wissenschaftsideal systematischer Einheit bekannte (s.o., Fn.70), lehnt aber schon 1923 Kelsens Lehre ab und erarbeitet statt dessen eine "Völkerrechtsverfassung", die über den Rechtssätzen der Staatsverfassungen stehe, sich aber auch von dem Völkerrecht unterscheidet, dessen Entstehung von den Staatsverfassungen abhänge (1923, S.l34, 126). Merkl hat sich Verdross* Ansicht zwei Jahre später angeschlossen (1925/26, S.l271 und 1274). Er betont ebenso, daß eine Einheit von staatlicher Rechtsordnung und Völkerrechtsordnung nur aufgrund einer empirischen Analyse angenommen werden könne und nicht apriorisch wie Kelsen es getan habe (a.a.O., S.1274). Dieselbe Kritik an Kelsen übt Walz (1931, S.557 auch 552).
158
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
Einheit im Sinne einer widerspruchsfreien Ordnung sein 1 1 0 . Die Einheit des Staates entpuppt sich bei Kelsen als "die Einheit eines Wertsystems, als die Einheit einer gültigen Ordnung im Sinne einer Norm oder eines Normkomplexes" 1 1 1 . Kelsen stellt aber auch einen Bezug her zwischen Staatsvorstellung und formaler Einheit der Rechtsordnung. In seiner Souveränitätsschrift treibt Kelsen die Identifizierung dieser Einheit der Rechtsordnung mit der Einheit der Staatsperson terminologisch auf die Spitze, indem die Staatsperson wie bei Gerber nur mehr den Rang einer anthropomorphen Metapher für die Einheit eines Rechtssystems einnimmt. Die Rechtswissenschaft vergesse, "daß sie sich die Person des Staates nur zur Veranschaulichung der in aller Vielfalt ihrer Normen doch einheitlichen Ordnung erzeugt" habe, "daß die logische Einheit der Rechtssätze eines und desselben Systems nur in dem Bilde eines einheitlichen Willens" vorgestellt werde 1 1 2 . Kelsen charakterisiert diese Personifikation sogar allgemein als "ein der Veranschaulichung dienender Einheitsausdruck, eine Hilfsvorstellung, von der die juristische Erkenntnis, indem sie ihren Stoff, die Rechtsnormen begreifen, d.h. zur Einheit zu bringen strebt, Gebrauch machen kann, nicht aber Gebrauch machen m u ß " 1 1 3 . Dies gelte natürlich auch für die Staatsperson 114 . Für die Rechte und Pflichten eines Staates folge daraus, daß die Staatsperson "nur der bildliche Ausdruck jenes Einheitsbezuges" sei, "in dem die Rechte und Pflichten statuierenden Normen stehen". Rechte und Pflichten würden "dem 'Staate', der Personifikation dieser Rechtsordnung zugerechnet" 115 . Die Staatsperson wird also zu einer bloßen Metapher für die Vorstellung einer identifizierbaren Rechtsordnung. b) Neben dieser Deutung der Staatsperson als bildhafter Ausdruck für die formale Einheit der Rechsordnung faßt Kelsen in seiner Schrift "Der soziologische und der juristische Staatsbegriff" (1922) den Staat aber auch noch als ein die Einheit der Rechtsordnung erzeugendes Schema. Die Person des Staates möge zwar ein geeignetes Bild sein, um die Einheit einer Rechtsordnung vorzustellen, werde aber der Erfahrung einer in sich widersprüchlichen und zusammenhangsschwachen Rechtsordnung nicht gerecht. Ginge man von 1 1 0
Dazu oben der erste Abschnitt dieses Kapitels.
1 1 1
1922, S.44.
1 1 2
1920, S.18.
1 1 3
1925, S.67.
1 1 4
A.a.O., S.73.
1 1 5
1920, S.l28. Von der schon 1911b (S.32f.) formulierten und 1922a (S.212) wiederholten Vorstellung der Staatsperson als Personifikation der gesamten Rechtsordnung ist die Auffassung der Staatsperson als Teilrechtsordnung zu unterscheiden. Als Teilrechtsordnung wird der Staat dann begriffen, wenn er mit anderen juristischen oder natürlichen Personen Rechtsgeschäfte eingeht. In der Vorrede zur zweiten Auflage der "Hauptprobleme" trennt Kelsen den Staatsbegriff, "der nichts anderes als die Einheit der Totalrechtsordnung als eines Systems zwangsanordnender Normen besagt und den die Staatslehre im Auge hat, wenn sie vom Staat als 'Träger' des Rechtes spricht", ab von dem Begriff des Staates "als einer konkreten rechtlichen Institution, als einer Anstalt des Rechts, die neben anderen Anstalten besteht, eine durch ihren spezifischen Inhalt charakterisierte und individualisierte Teil rechtsordnung" (1911a, S.XI). Diese Differenzierung nimmt Kelsen auch noch in den beiden Auflagen seiner "Reinen Rechtslehre" vor (1934, S.54, 1960, S.296).
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979)
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einer statischen Sicht zu einer dynamischen Betrachtung über und frage nach "dem Prinzipe, das die Einheit herstellt, garantiert", nach der Grundregel, "nach der die geforderte Einheit des Rechtsmaterials, der Rechtssätze erst hergestellt wird", dann werde "der Begriff des Staates zum Ausdruck für diese die Einheit des Rechtsstoffes erzeugende Grundfunktion" 1 1 6 . Kelsen führt sonach einen weiteren Staatsbegriff ein. Gerade mit der Schrift über das soziologische und juristische Staatsverständniss zielte Kelsen auf die Identifizierung von Staat und Rechtsordnung. Er hatte mit ausführlichen Argumenten zu untermauern versucht, daß bei einer juristischen Betrachtung keine Differenz zwischen Staat und Recht bestehen könne, da in dem Augenblick, in dem der Staat überhaupt als Normenordnung gedacht werde, alle Wege versperrt seien, Staatsordnung und Rechtsordnung zu unterscheiden 117 . Dieser Begriff des Staates, der kein anderer als der der Rechtsordnung ist und der "das Ganze der Rechtsordnung in ihrer Einheit darstellt" 1 1 8 ist abzusetzen von einem "engeren Begriff" des Staates, "der den Staat als das die Einheit des Rechtes erzeugende Grundschema von dem zur Einheit gebrachten Ganzen des Rechtes selbst differenziert" 119 . Neben der Rechtsordnung als möglichst einheitlich geordnetem Ganzen steht also der Staat als einheitserzeugendes Ordnungsprinzip. Damit wird der Staatsbegriff zu einem Platzhalter für die Bedingungen, die bei dem Versuch, eine materielle einheitliche Rechtsordnung zu schaffen, erfüllt sein müssen. Dieser Staatsbegriff wird letztlich motiviert durch Kelsens Kampf gegen die herkömmliche metaphysische Trennung von Staat und Rechtsordnung, bei der auf der Ebene rechtswissenschaftlicher Erkenntnis der Staat als reale und die Rechtsordnung erzeugende Größe gefaßt und damit eine Ordnungsvorstellung hypostasiert wird. Kelsen greift bei der Kritik dieser Vorstellung auf den von ihm bejahten Zusammenhang von Rechtswissenschaft und Naturwissenschaft zurück und sucht, ähnlich wie Cassirer es für die Grundbegriffe der Naturwissenschaft getan hat, auch den Staatsbegriff in einen Funktionsbegriff umzuwandeln 120 . Das Atom ist nach Cassirer kein reales Ding mehr mit konkreten Eigenschaften, sondern ein bloßer "gedachter Ansatzpunkt für mögliche Relationen", "eine Idee, die zum Zwecke der Ordnung der Erscheinungen konzipiert ist, aber mit diesen Erscheinungen methodisch nicht auf der gleichen Stufe steht" 1 2 1 . Auf den Staatsbegriff übertragen heißt dies: Die Erscheinung der Rechtsnormen werden durch die Idee des Staates zur Ordnung gebracht, der Staat wird zu einer bloßen Funktion der Rechtsordnung. c) Zwischen Kelsens Vorstellung von einer Einheit der Rechtsordnung und seinen Staatsbegriffen besteht somit eine dreifache Beziehung. Im Hinblick 1 1 6
1922, S.213.
1 1 7
1922a, S.86ff.; auch 1925, S. 16f.
1 1 8
1922a, S.215.
1 1 9
Ebd.
1 2 0
1922a, S.212.
1 2 1
A.a.O., S.213.
160
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
auf seine in den frühen Schriften vorgenommene Identifizierung zwischen Staat und Rechtsordnung kann die Einheit des Staates nichts anderes bedeuten als die Einheit der Rechtsordnung selbst. Die Vorstellung der Staatsperson, und dies betrifft die zweite Beziehung, dient dabei bloß als bildhafter Ausdruck für die formale Einheit der Rechtsordnung. Überdies bildet er einen dritten Staatsbegriff, der von der Rechtsordnung differiert und das Schema bezeichnet, ein Bündel von Prinzipien, mit deren Hilfe die materielle Einheit der Rechtsordnung erzeugt werden kann. Diese Begriffsbildung geht hervor aus Kelsens Versuch, Rechtswissenschaft und Naturwissenschaft partiell zu parallelisieren. Für diesen Ansatz gilt aber auch das, was beim Prinzip der Einheit juristischer Erkenntnis zu beachten war. Die Rechtsordnung bestimmt selbst das Maß ihrer materiellen Einheit und kann nur insoweit widerspruchsfrei sein, wie sie selbst Regeln für die Lösung von Normenkollisionen in sich trägt. 7. Zusammenfassung
Läßt man Kelsens Gedanken zur Frage der Einheit der Rechtsordnug, die sich in seinem über einen Zeitraum von mehr als sieben Jahrzehnten erstrekkenden Werk wiederfinden, noch einmal Revue passieren, so ist zunächst an seine im Jahre 1911 erfolgenden Anknüpfung an die in der Staatslehre des Spätkonstitutionalismus herrschende Vorstellung des einheitlichen Staatswillens als Grundlage des staatsrechtlichen Systems zu erinnern. Kelsen lehnt dabei die soziologische Betrachtung dieses einheitlichen Staatswillens als erfahrungswidrige, weil den politischen und sozialen Verhältnissen seiner Zeit widersprechende Vorstellung ab. Kelsen beschränkt sich statt dessen auf eine juristische Analyse und identifiziert den einheitlichen Staatswillen mit der Vorstellung einer einheitlichen Rechtsordnung. Im Unterschied zu den Autoren des staatsrechtlichen Positivismus gerät dabei die Einheit der gesamten Rechtsordnung in den Blick, nicht nur die Einheit als Eigenschaft des sich auf das Staatsrecht beziehenden staatsrechtlichen Systems. Kelsen entwickelt davon ausgehend eine Theorie der Einheit der Rechtsordnung, die sich aus zwei Komponenten zusammensetzt. Die materielle Einheit der Rechtsordnung betrifft das Problem der Widerspruchsfreiheit von Rechtsnormen. Ging Kelsen dabei zunächst davon aus, daß die Annahme dieser Einheit durch die häufig auftretenden Kollisionen von Rechtsnormen nicht in Gefahr gerät, weil diese jederzeit im Wege der Interpretation durch die Rechtswissenschaft aufgelöst werden können, so weist er in seinem Spätwerk darauf hin, daß Normenkonflikte nur insoweit behoben werden können, als die Rechtsordnung dafür Regeln bereitstellt. Kelsen konfrontiert die Rechtsbetrachtung dadurch mit einem intrikaten Problem. Die Beseitigung von konfligierenden Normen ist wegen der dem Recht aufgetragenen Steuerungsfunktion notwendig, aber nur möglich, wenn in der Rechtsordnung positivierte Kollisionsnormen vorhanden sind. Die Rechtsordnung bestimmt also selbst über das in ihr enthaltene Maß an materieller Einheit.
IV. Die Reine Rechtslehre Kelsens (1911 - 1979)
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Die Problematik dieser Einheit im Sinne der inhaltlichen Widerspruchsfreiheit stellt sich aber nur, wenn zuvor nachgewiesen ist, daß die miteinander unvereinbaren Normen zu einer und derselben Rechtsordnung gehören. Widersprüche zwischen Moral- und Rechtsnormen, sowie zwischen Normen, die Bestandteil verschiedener Rechtsordnungen sind, brauchen grundsätzlich nicht aufgelöst zu werden. Zur Bestimmung und Abgrenzung, also zur Identifizierung einer Rechtsordnung entwickelte Kelsen die Theorie der formalen Einheit der Rechtsordnung. Danach erscheint eine Vielzahl von Rechtsnormen dann als eine Einheit, wenn sie als Stufenbau gedeutet werden können, der in der Grundnorm gipfelt. Die Grundnorm erzeugt die Identität und die formale Einheit einer Rechtsordnung. So sehr Kelsen in seinem Werk bemüht ist, eine rein normative Lösung des Einheitsproblems herbeizuführen und in ihm insbesondere die Vorstellung einer soziologischen staatlichen Einheit von der der Einheit der Rechtsordnung getrennt werden muß, so ist aber unverkennbar, daß Kelsens Werk den Wirkungszusammenhang zwischen einer weitgehend einheitlich konzipierten Rechtsordnung und der real-empirischen Einheit des Staates konserviert. Kelsens Lehre kann gerade als Bemühen gedeutet werden, durch die Entwicklung eines durchrationalisierten Konzepts zur Denk- und Herstellbarkeit einer Einheit der Rechtsordnung auf entscheidende Weise zu einer soziologischen Einheit des Staates beizutragen. Dieses Bemühen kann seinem Grundantrieb zugeordnet werden, durch Ausarbeitung rechtlicher Formen zur Befriedung und Vereinheitlichung einer staatlich verfaßten Gesellschaft beizutragen.
11 Baldus
162
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
V. Weimarer Staatsrechtslehre 1. Die verstehende Einheit des RechtsstofFs und die Kritik der lückenfüllenden Einheit des Rechtssystems (Triepel 1926)
a) Die von Kelsen bis in die zwanziger Jahre hinein entwickelten Lehren zum Problem der Einheit der Rechtsordnung und der Einheit juristischer Erkenntnis sind in der Weimarer Staatsrechslehre außergewöhnlich hart kritisiert worden. Neben Kritik haben sie aber auch Gegenentwürfe hervorgerufen, in denen sich - was kaum überraschen kann - die theoretischen Frontstellungen des Weimarer Richtungs- und Methodenstreits widerspiegeln 1 . Solche Gegenentwürfe zu Kelsens Einheitsvorstellungen finden sich insbesondere in den Werken Hermann Hellers und Rudolf Smends, nicht in den Schriften Heinrich Triepels. Dessen berühmte Rektoratsrede über "Staatsrecht und Politik" aus dem Jahre 1926, ein wichtiges Dokument des Weimarer Methodenstreits 2, ist für die verfolgte Fragestellung dennoch in mehrfacher Hinsicht von Relevanz. In ihr ist einmal von der Einheit als Eigenschaft eines juristischen, dem positiven Recht geltenden Systems die Rede. Sodann setzt sich Triepel mit der Frage auseinander, ob die "Einheit des Rechtssystems" dazu berechtige, Lücken im Rechtsstoff auszufüllen. Und schließlich stehen die von Triepel verwendeteten Einheitsformeln in engem Zusammenhang mit einer Kritik an der "Gerber-Laband-Schule" und insbesondere an Kelsen, dessen Reine Rechtslehre den staatsrechtlichen Positivismus ja in unüberbietbarer Weise radikalisiert hatte. b) Triepel behandelt zwar nicht die bei Kelsen im Vordergrund stehende Frage nach der Größe, die eine Vielzahl von Rechtsnormen in einen Zusammenhang bringt, auch nicht die nach der Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer inhaltlichen Widerspruchsfreiheit, wohl aber nimmt er Stellung zu dem für Kelsens Theorie fundamentalen Dualismus von Sein und Sollen. Diese 1 In den bisher vorliegenden Untersuchungen des Weimarer Methodenstreits, die nicht einem ihrer Protagonisten gewidmet sind, sondern ein Gesamtbild entwerfen, ist das hier interessierende Detailproblem nicht erörtert worden. Dies gilt einmal für Schwinges Schrift von 1930, die selbst eine Stellungnahme gegen den "Formalismus der alten Schule" (1930, S.31) enthält und bemüht ist, deren "Erschütterung" (a.a.O., S.8) aufzuzeigen sowie eine "tiefere Verbindung zwischen Rechtsphilosophie und Leben zu gewinnen" (a.a.O., S.31). Die politologischen Arbeiten Sontheimers (1963), Bauers (1968) und Grauers (1980) blenden rechtstheoretische Konstruktionsprobleme, die in der damaligen Debatte eine bedeutende Rolle gespielt haben, weitgehend aus und fragen im wesentlichen nach politischer Bedingtheit und Wirkung des Methodenstreits. Dabei sind die Autoren bestrebt, die Verantwortungslast der Staatsrechtslehre für das Scheitern der Weimarer Republik zu verteilen und zuzuweisen. Smend äußert sich in seinem aus der Innenperspektive des Teilnehmers geschriebenen und stark wissenschaftshistorisierenden Beitrag (1973) nicht zur Frage nach der Einheit der Rechtsordnung. Gleiches ist festzustellen für Friedrichs umfassende Studie, der den Weimarer Streit vor allem als Ringen um ein bis dahin noch nie dagewesenens Problem, der veränderten Bedeutung des Verfasssungsrechts unter den Bedingungen des parlamentarisch-demokratischen Staates, zu erklären versucht (1977, S.160, 184, 201). Heun (1989) geht es schließlich darum, die Rolle der "gemäßigten Positivisten", vor allem die Thomas, herauszuarbeiten. Zur Darstellung des Methodenstreits bei Rennert (1987) unten Kapitel Ç.V.3.
Hollerbach bezeichnet diese Rede Triepels neben der über "Die Staatsverfassung und die politischen Parteien" von 1927 als "Dokumente von symptomatischer Bedeutung" (1966, S.429).
V. Weimarer Staatsrechtslehre
163
Gegenüberstellung hält Triepel für "erkenntnistheoretisch" unanfechtbar, er lehnt aber die normlogischen Konsequenzen ab, die Kelsen daraus für die Staatsrechtswissenschaft zog. Diese Konsequenzen bedeuteten eine "schroffe Einseitigkeit" 3 , gingen hervor aus einem "willkürlich verengten Rechtsbegriff" 4 und führten zu einer "Verarmung" und "Verdorrung" der Staatsrechtswissenschaft 5. Ohne Einbeziehung der Politik, so lautet Triepels Credo, sei eine "allseitige Erfassung der Normen des Staatsrechts" unmöglich 6 . Der Gegenstand der Rechtswissenschaft nötige nicht dazu, "sich auf formallogische Konstruktionen zu beschränken"' - obgleich sich Triepel mit den Eigenarten dieser Konstruktionen sehr detailliert auseinandersetzt. Triepel definiert diese Konstruktionen als "Einordnung einer Einzelerscheinung in das System unter Analysierung und Synthese ihrer Begriffselemente", die wiederum als Vorstufe einer noch vorzunehmenden Subsumtion diene 8 . Triepel unterscheidet dabei "zwei Arten oder auch zwei Stufen der Konstruktion". Diese Unterscheidung läßt auch sichtbar werden, was Triepel unter der Einheit des Rechtsstoffs und der Einheit des Rechtssystems versteht. c) Die erste Stufe, die "begreifende" oder "verstehende" 9 Konstruktion begnüge sich* damit, "den bekannten Rechtsstoff als eine Einheit darzustellen, indem sie die einzelnen Rechtssätze als Ausflüsse höherer Prinzipien und diese wieder, immer aufwärts steigend, als Ableitungen aus einem an die Spitze der großen Pyramide gestellten Begriffe auffasst" 10 . Sie wolle - was um ihrer selbst willen geschehe - das Einzelne als Teil des Ganzen, das Ganze wiederum "in seinem inneren Zusammenhange und Zusammenhalte aufzeigen" 1 1 . Diese Umschreibung der "verstehenden Konstruktion" läßt sogleich die innige Verwandschaft mit dem kantianischen Wissenschaftsverständnis erkennen. Strukturell bestehen keine Unterschiede zwischen einem "an die Spitze der großen Pyramide gestellten Begriffe" und der systematischen oder architektonischen Einheit durch die "Ableitung von einem einigen obersten und inneren Zwecke", einer "einigen obersten Gattung" oder "einem Prinzip e " 1 2 . Verwundern muß allerdings Triepels Bemerkung, diese Systematisierung des Stoffs erfolge "um ihrer selbst willen", hatte doch auf dem Gebiet des Staatsrechts Gerber diese Ordnungsform dem Bau des staatsrechtlichen Systems zugrunde gelegt, um damit die Wissenschaftlichkeit und Selbständigkeit der staatsrechtlichen Arbeit zu erweisen. Diese Verwunderung nimmt 3
1926, S.17.
4
A.a.O., S. 19.
5
A.a.O., S.l7 und 18.
6
A.a.O., S. 19.
7
Ebd.
8
A.a.O., S.20 und 21.
9
A.a.O., S.21 und 22.
1 0
A.a.O., S.21.
11
Ebd.
1 2
Vgl. oben Kapitel B.I.3.
164
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
noch zu, da Triepel, dem diese problemgeschichtliche Spur nicht gegenwärtig gewesen sein mag, die "verstehende Konstruktion" doch selbst als "Mittel der Systembildung" deutet, das bequeme Schubfächer liefere, in die die Rechtserscheinungen vorläufig untergebracht werden könnten 13 . Er verbeuge sich sogar vor dieser Konstruktion im Sinne einer "Subsumtions- und Analogiehypothese", werfe ihr aber dann den "Fehdehandschuh" hin, wenn sie mehr als diese heuristische Rolle spielen und selber "lückenfiillende Funktionen" übernehmen w o l l e 1 4 . d) Damit hat Triepel die zweite Stufe der Konstruktion genannt, die sich dadurch auszeichne, "daß man aus der postulierten Einheit des Rechtssystems die Befugnis entnimmt, von den gefundenen Prinzipien neue Rechtssätze herzuleiten, also eine Ausfüllung der Lücken des bekannten Rechtsstoffs vorzunehmen" 15 . Vom Standpunkt der konstruierenden Jurisprudenz, zu der Triepel die Gerber-Labandsche-Schule "im vollen Sinne" zählt, handele es sich dabei freilich um "Ausfüllung nur scheinbarer Lücken", da nach ihr die logischen Operationen der Konsequenz und Analogie bloß feststellten, was im vorhandenen Rechtsstoff schon enthalten sei 1 6 . Mit dieser "postulierten Einheit des Rechtssystems" taucht der schon bei Savigny zu findende Begriff der herzustellenden Einheit des Rechts im Sinne der Vollständigkeit des gesamten Komplexes von Rechtsbegriffen und Rechtsregeln auf, die es ermöglicht, jeden denkbaren Fall mit dem vorhandenen Rechtsmaterial lösen zu können 1 7 . Triepel sieht die geistesgeschichtliche Grundlage des Geschlossenheitsdogmas aber nicht in der historischen Rechtsschule, sondern qualifiziert dieses Dogma als "naturrechtliches Erbgut" 1 8 . Dies mag in gewissem Sinn auch zutreffen. Die Vorstellung, daß die Lücken der Rechtsordnung durch sie selbst und nicht mit überpositiven Gehalten zu schließen sind, ist aber wohl im zivilrechtlich orientierten Rechtsdenken des frühen 19. Jahrhunderts entstanden 19 . Mißt man Klübers Werk eine repräsentative Bedeutung zu, so herrschte in der Staatsrechtswissenschaft sogar noch bis fast zur Jahrhundertmitte die Auffassung vor, daß Lücken des positiven Staatsrechts mit Sätzen des natürlichen Staats- und Völkerrechts auszufüllen waren 20 . Erst im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts lehrt Rönne zuerst, daß es für die Rechtswissenschaft "keine Lücken in irgend welchem Rechtssysteme" gebe. Es gäbe höchstens Rechtsfragen, "über welche sich die geschriebenen Gesetze nicht" aussprächen, wodurch aber das Recht nicht lückenhaft werde 2 1 . Labands we1 3
Triepel, 1926, S.37.
1 4
Ebd.
1 5
A.a.O., S.22.
1 6
Ebd.
1 7
S.o. Kapitel B.III.4.
1 8
Triepel 1926, S.24.
1 9
S.o. Kapitel B.II.2.
2 0
Klüber 1840, S.17.
2 1
Rönne 1869, S.414 Fn.2.
V. Weimarer Staatsrechtslehre
165
nig später geäußerter Auffassung nach kann die Rechtsordnung sogar ebensowenig lückenhaft sein, wie "die Ordnung der Natur" 2 2 . Mit der für Laband charakteristischen Zurückhaltung bei der Darlegung und Explikation der eigenen theoretischen Prämissen, verweist er dabei in seiner Budgetschrift lediglich darauf, daß es oft einem "bedeutungslosen Zufall" zu verdanken sei, ob ein Rechtssatz durch ein Gesetz formuliert werde oder nicht 2 3 . Die Aufgabe der Jurisprudenz könne daher nicht allein in der Wortlautauslegung der Gesetze liegen. Die Lücken der Verfassungsurkunde seien mit speziellen Gesetzen, allgemeinen Prinzipien 24 , den Grundprinzipien des konstitutionellen Staates und mit Hilfe der Natur der Sache zu schließen 25 . Wenngleich daran deutlich wird, daß für Laband sich die positive Rechtsordnung nicht allein im Gesetzesrecht erschöpft 26 , er mit dem Hinweis auf die "Natur der Sache" sogar auf reale Sachgesetzlichkeiten ausgreift, so legt er doch Wert darauf zu betonen, daß die lückenfüllenden Grundsätze keine "politische(n) Forderungen oder rechtsphilosophische Raisonnements" seien, sondern eben "Rechtssätze" 27 . Die im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20.Jahrhunderts allgemein auftretende Kritik des Dogmas, wonach die "logische Expansionskraft des Rechts" den ganzen Bedarf an Rechtsinhalten abdecke, das Recht "überhaupt keine Lücken" habe, sondern etwas "in lückenloser Ganzheit Dastehendes" sei 2 8 , hat dann in der Staatsrechtswissenschaft dazu geführt, auch Rönncs und Labands Lückentheorie entschieden in Frage zu stellen. So stellte etwa Georg Jellinek heraus, daß diese Theorie das Grundverhältnis von Recht und Staat verkenne. Lücken würden "gegebenenfalls durch faktische Machtverhältnisse" ausgefüllt 29 . Triepel nun bejahte zwar nicht die blanke Faktizi2 2
Laband 1870, S.699.
2 3
A.a.O., S.700. Ähnlich lapidar ist Labands Äußerung zu Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Es heißt hei ihm lediglich, daß eine Rechtsordnung "in sich harmonisch und ohne Widerspruch sein muß" (a.a.O., S.659). 2 4
A.a.O., S.649.
2 5
A.a.O., S.672.
2 6
Dazu Stolleis 1992a, S.344
2 7
Laband 1870, S.672. Daß Labands Lückentheorie nicht ausschloß, im Wege des Arguments von der Natur der Sache auf reale Sachgesetzlichkeiten zurückzugreifen, Lückenfüllung also nicht nur ein rechtsordnungsimmanentes, sich nur innerhalb der im Verfassungstext normierten Rechtssätze abspielendes logisches Schlußverfahren war, wird gewöhnlich bei der Darstellung und Kritik dieser Theorie nicht bedrück sichtigt. Dies gilt auch für Korioth 1992, S.215ff. 2 8 Bergbohm 1892, S.352f. Die Kritik an dieser Lehre hat Jung (1900, S.131) formuliert: die Geschlossenheitsvorstellung sei "eine irrtümliche", da das Ganze der Rechtsordnung, wenn überhaupt, nur ein teleologisches Ganze sei (1900, S.l52). Die teleologische Ergänzung und Weiterbildung des Rechts dürfe aber dennoch nur einen subsidiären Rang einnehmen. Die Ausdehnung des Herrschaftsgebietes der logischen Rechtsfindung bleibe nach wie vor das zu erstrebende Ziel (1900, S.l 55). 2 9 1913, S.359; a.a.O.; S.356 Fn.l und 2 auch zahlreiche Nachweise zu Befürwortern und Gegnern des Geschlossenheitsdogmas. Zu ergänzen wäre aber noch Schmitt 1912, S.14; dazu Korioth 1992, S.217. Frühe Kritik an Labands Lückentheorie bei Gierke 1883, S.53 und Jellinek 1887, S.300. Der Grund für die rege Diskussion des Lückenproblems in der Staatsrechtslehre des Spätkonstitutionalismus dürfte wohl in der besonderen politischen und sozialen Entwicklung des zweiten Kaiserreichs liegen. Die für eine expandierende bürgerliche Erwerbsgesellschaft bestehende Notwendigkeit klarer und berechenbarer Normen ließ den Normierungsbedarf in einem Maße anschwellen, dem zu entsprechen die staatlichen Rechtssetzungsorgane nicht in dem erforderlichen Tempo nachkommen konnten. Dabei zog sich der Staat selbst in der Phase des Hochliberalismus
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
166
tat, aber auch er glaubt, daß eine rechtordnungsimmanente Lösung des Lükkenproblems gar nur auf einer "Selbsttäuschung" 30 beruhen kann. Denn Recht und Politik, Rechtssatz und Werturteil seien untrennbar miteinander verwoben. Aus Triepels Verständnis des Rechts als einem "Komplex von Werturteilen über Interessenkonflikte", dem allein die teleologische Methode angemessen sei 3 1 , folgt für die Lösung des Lückenproblems zunächst, die im Gesetz ausgedrückten Interessen und Wertungen zu berücksichtigen und abzuwägen 3 2 . Fruchtet dies nicht, so ist lezten Endes das streitentscheidende Individuum selbst gefordert. Damit sei individueller Willkür dennoch nicht Tür und Tor geöffnet, da das einzelne Bewußtsein doch nur "Teil eines überindividuellcn Geistes" 33 sei. Auf dieser Annahme fußt für Triepel die Gewißheit eines objektiven Urteils. e) Man mag Triepels Ausführungen zur "verstehenden" und "lückenfüllenden" Konstruktion zumindest auf den ersten Blick als im einzelnen ungeklärt finden 3 4 . Diese Unklarheiten lösen sich aber dann weitgehend auf, wenn die von Triepel genannten Konstruktionstypen mit Hecks Kritik der für die Begriffsjurisprudenz charakteristischen Inversionsmethode verglichen werden 3 5 . Es ist leicht zu erkennen, daß in Triepels "verstehender" Konstruktion, die den inneren Zusammenhang im Rechtsstoff aufzeigt und zu einer bequemen Ordnung verhilft, die Hecksche Annahme eines inneren Systems des Rechts, die Bejahung vorgegebener sachlich-inhaltlicher Zusammenhänge wiederkehrt. Und ebenso wie Heck es scharf ablehnte, in diesen inneren Zusammenhängen die Legitimation für eine analogische Lückenfüllung zu sehen, so bekämpft Triepel die "lückenfüllende" Konstruktion, die von der postulierten Einheit des Rechtssystems ausgehend neue Rechtssätze entwickelte und diese in die entdeckten Lücken einsetzte. Triepel, der in seiner Tübinger Zeit die Entstehung und Ausarbeitung der Interessenjurisprudenz aus nächster Nähe miterlebt hatte 3 6 , transferiert in das Staatsrecht also lediglich Argumentationsschemata, die auf dem Gebiet des Privatrechts zuvor von Heck entwikkelt worden waren. Schon eingangs wurde erwähnt, daß Triepel in seiner programmatischen Rede nicht die Frage nach den Mitteln erörtert, mit denen eine inhaltliche Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung hergestellt werden faktisch nicht aus dem wirtschaftlichen Geschehen zurück, sondern intervenierte ständig in gesellschaftlichen Bereichen (dazu Stolleis 1989, S.129ff; 1992a, S.238, 384). Je stärker diese Entwicklungen von der Forderung begleitet wurde, den nicht mehr nur eingreifenden und gefahrenabwehrenden, sondern auch gestaltenden und leistenden Staat rechtlich zu binden, desto größer mußte der Bedarf an rechtlichen Normen werden. 3 0
Triepel 1926, S.20.
3 1
A.a.O., S.36.
3 2
A.a.O., S.38f.
3 3
A.a.O., S.39.
3 4
So Höllerbach 1966, S.432f.
3 5
Triepel weist selbst auf diesen Zusammenhang hin (1927, S.22).
3 6
Dazu Hollerbach 1966, S.431f. Hollerbach deutet Triepels Programm als "'lnteressenjurisprudenz' im Staatsrecht" (a.a.O., S.430) und führt ein Selbstzeugnis Triepels an, wonach er in der Tübinger Zeit "methodisch ein anderer" geworden sei (a.a.O., S.432).
V. Weimarer Staatsrechtslehre
167
kann. Auch äußert er sich nicht zu dem Element, das die Identität einer Rechtsordnung erzeugt. Triepels Einheitsformeln, also seine Rede von der Einheit des Rechtsstoffs und Einheit des Rechtssystems, sind eher ein Zeugnis für das Denken eines Juristen, der zutiefst von der praktischen Aufgabe seiner Wissenschaft überzeugt w a r 3 7 , der aber anderseits einen Weg aus der angeblichen "Enge der juristischen Konstruktion" suchte 38 . Damit stellt sich Triepel neben die antipositivistischen Autoren des Weimarer Methodenstreits, insbesondere neben Heller und Smend, die jedoch Einheitskonzepte entwickelten, die über Triepels Ansätze weit hinausreichten. 2. Die Einheit der Rechtsordnung durch die empirische Realität des Staatswillens (Heller 1927 -1934)
a) Hermann Heller, eine weitere herausragende Figur in der Weimarer Methodendebatte, übt wie Triepel vehemente Kritik an der Vorstellung von der Einheit des Rechtssystems im Sinne seiner Geschlossenheit und Lückenlosigkeit 3 9 . Heller, der diese Vorstellung für "von Grund auf falsch" 40 hält, nimmt aber nicht nur das Geschlossenheitsdogma ins Visier, sondern greift sowohl die Frage nach der inneren Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als auch die nach dem Band auf, das, wie er sagt, "die Normen zur konkreten Einheit" verbindet 41 . Seine Antworten gewinnt Heller dabei aus einer bis in den Bereich des Polemischen gesteigerten, ja respektversagenden Kritik an der Kelsenschen Einheitskonzeption 42 . Hellers Urteil, Kelsen konstruiere eine "abstrakte Einheit 'des' Rechtssystems, dem keine gesellschaftliche Realität" entspreche 43 , läßt schon erkennen, auf welchem Weg Heller zu einer Lösung des Einheitsproblems vorzudringen hofft. Die Einheit des Rechtssystems ist für ihn nicht normtheoretisch begründbar, ist nichts "wesentlich 'Logisches'" 44 . Juristisch besäße es keinerlei Erkenntniswert, "sich die Normen niederer Ordnung 'logisch' eingeschlossen zu denken in den Normen höherer Ordnung und schließlich alle zusammen in einer hypothetischen Grundnorm" 4 ^. Die fragliche Einheit ist vielmehr, so heißt es in Hellers 1927 veröf3 7
Diese Charakterisierung bei Hollerbach 1966, S.431.
3 8
Scheuner 1972, S.352. Zu Triepels Haltung gegenüber dem Positivismus in der Weimarer Staatsrechtslehre auch Smend (1966, S.597), für den Triepels Überwindung des Positivismus "von innen heraus" zugleich aber "auch eine Bestätigung des Positivismus war" (a.a.O., S.605). 3 9
1927, S.l 11; 1934, S.301.
4 0
1927, S.l 11.
4 1
A.a.O., S.l 17.
4 2 Dies wird u.a. an Hellers Vorwurf deutlich, Kelsen verwechsele logische und normative, abstrakt theoretische und konkret soziale Systemeinheit, dabei bemerkend, daß "es aber auch dem blödesten Auge klar werden" müsse, welche theoretische und sittliche Gefahr eine solche Jurisprudenz darstelle (a.a.O., S.l 18). 4 3
A.a.O., S.l 19.
4 4
A.a.O., S.l 14.
4 5
1934, S.301.
168
C Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
fentlichter Souveränitätschrift, "eine teleologische, historisch-soziologische", sie beruhe "auf der Einheit eines wertenden souveränen Willens" 4 6 . b) Zur Begründung dieser Lehre lehnt sich Heller an die von Eugen Ehrlich vorgenommene Historisierung der Einheitsvorstellung 47 an und betont, daß erst durch die Vernichtung oder Einbindung intermediärer Gewalten, durch die gesetzespositivistische Rechtsauffassung und die Ausweitung des Anteils der staatlichen Instanzen an Gesetzgebung, Rechtspflege und Zwangsvollstreckung, daß also erst durch die Herausbildung des modernen Staates die Vorstellung von der Einheit der Rechtsordnung entstehen konnte 4 8 . Bevor also nicht die "Einheit eines gesetzgebenden Willens" vorhanden war, so Heller, konnte auch von der "Einheit und Geschlossenheit des Rechssystems", von seiner "Logizität" keine Rede sein 4 9 . Es ist die Mißachtung dieser soziologischen Bedingtheit der Einheitsvorstellung, die Heller dem durch Kelsen repräsentierten "späte(n) formalistische(n) Liberalismus" ankreidet Diese Strömung des Rechtsdenkens glaube, "die logische Einheit des Rechtssystems vom Willen der Rechtsgenossen unabhängig gemacht zu haben", verwechsele "logische Einheit mit Rechtseinheit" und sehe "in der Einheit des Rechtssystems nur das Produkt seiner angeblich von jeder Soziologie und Ethik freien Normlogik" 5 0 . Für Heller ist dagegen die Einheit eines Rechtssystems - und damit gleichbedeutend seine "Einzigartigkeit" und "Individualität" - nur zu begreifen, "wenn es in jedem Punkte als Ausdruck eines sich selbst bestimmenden konkret-individuellen Staatswillens erfaßt und konstruiert" werde 51 . Ihr Substrat sei "die Realität eines alle Normen durchwaltenden Staats willens" 5 2 . Heller versucht also, die Einheit des Rechtssystems auf einen empirisch gegebenen, in der Realität des sozialen Lebens vorfindlichen einheitlichen Willen zu gründen - womit er sich in eine verzwickte argumentative Lage bringt. Der Einwand gegen eine soziologisch nachweisbare Einheit des staatlichen Willens, den Kelsen in der Endphase des Spätkonstitutionalismus formuliert hatt e 5 3 , war ja in der Weimarer Republik nicht hinfällig geworden. Daß die Vorstellung einer staatlichen Willenseinheit sich mit der gesellschaftlichen Realität gerade nicht deckte, mußte umso mehr für einen Staat gelten, dessen Geburtsstunde schon vom Kampf unversöhnlich gegenüberstehender politischer Kräfte und antagonistisch widerstrebender Ordnungsideen überschattet
4 6
1927, S.l 11.
4 7
S.o. Kapitel B.V.2.
4 8
1927, S.l 12.
4 9
1927, S . l l 1.
5 0
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.112f.
5 1
A.a.O., S.l 16. Es heißt bei Heller auch "herrschaftliche Willenseinheit" (S.l 13), "Ausdruck einer Willenseinheit" (S. 114) oder "Systemeinheit als Willenseinheit" (S. 117). 5 2
A.a.O., S.l 19.
5 3
S.o. Kapitel C.IV.l.
V. Weimarer Staatsrechtslehre
169
worden war 5 4 . In Weimar war die politische und soziale Homogenität ein ständig virulentes Problem 5 5 , so daß angesichts solcher gesellschaftlicher Grundbedingungen ein einheitlicher Staatswillen nur schwerlich bejaht werden konnte. Wenn nach Hellers Theorie der staatliche Wille die Einheit des Rechtssystems konstituiert und dieser Wille als historisch-soziologische Größe aufzufassen ist, die realpolitische Situation aber von tiefreichenden politischen, sozialen und geistigen Gegensätzen beherrscht wird, so fällt es nicht leicht, einen einheitlichen staatlichen Willen als realexistent zu behaupten. Dann liegt es schon näher, ihn als formale Größe zu konstruieren, wie es Kelsen getan hatte, oder ihn aber, von einer konsequenten rechtssoziologischen Sichtweise aus, als bloße Fiktion zu verwerfen. Heller tut aber weder das eine noch das andere, sondern hält an der Annahme eines realen einheitlichen Staatswillens fest Er schreibt: "Solange Partei- und Klassenkämpfe den Staat nicht tatsächlich zerreißen, ist seine willentliche Einheit, wenn auch oft notdürftig genug, in ihrer Existenz unzweifelhaft gegeben" 56 . c) Diese These kann aber die real erfahrbaren Antagonismen, die das gesellschaftliche und staatliche Leben der Weimarer Republik durchziehen und dominieren, nicht einfach eskamotieren. Heller umgeht diese Inkongruenz zwischen soziologischer Willenstheorie und realpolitischer Lage auch nicht, sondern versucht aufzuzeigen, daß die Annahme eines "unzweifelhaft gegebenen" realexistierenden einheitlichen staatlichen Willens der Bejahung politischer und sozialer Heterogenität gar nicht entgegensteht. Zunächst deutet er dabei das Rechtssystem als Herrschaftsordnung, die "einen Stufenbau konkreter Über- und Unterordnungen" darstelle 57 . Damit schließt sich Heller natürlich nicht der Stufenbaulehre der Wiener rechtstheoretischen Schule an. Deren "Zerreißung des Zusammenhangs von Willen- und Normensystem" verhindere gerade, der Individualität eines Rechtssystems juristisch gerecht zu werden 58 . Hellers Stufenlehre ist nicht formal ausgerichtet, basiert nicht auf der Frage nach den Geltungsbedingungen einer Rechtsnorm und mündet auch nicht in einer rechtserkenntnistheoretisch notwendigen Grundnorm, obgleich auch Heller davon ausgeht, daß jede Herrschaftsordnung als ein System von Willensvereinheitlichungen "in ihrer Spitze Widerspruchslosigkeit im Sinne von Eindeutigkeit" verlange 59 . Die sich auch an dieser Stelle aufdrängende Frage, 5 4 Dazu Bracher 1984, S.19ff.; Böckenförde 1984, S.333f. Diese Lage spiegelte sich in der Weimarer Verfassung wider. Zu ihr als Werk zahlreicher Kompromisse: Bracher a.a.O., S.23; Böckenförde a.a.O., S.335f; dazu auch die Kontroverse zwischen Schmitt und Kirchheimer: während Schmitt zu untermauern versuchte, daß in der Weimarer Verfassung die Entscheidung für den bürgerlichen Rechtsstaat gefällt worden sei (1928, S.31), wies Kirchheimer darauf hin, daß gerade der Grundrechtsteil der Verfassung "einer neuen Sozialordnung prinzipiell Raum gelassen" und sie sich daher "selbst nicht entschieden" habe (1930, S.54). 5 5
Näher dazu etwa Bracher 1984, S.23ff.; Schluchter 1985, S.38.
5 6
1927, S.l 19.
5 7
A.a.O., S.l 17.
5 8
Ebd.
5 9
A.a.O., S.l 13f. Auf der Münchener Staatsrechtslehrertagung im Jahre 1927 erklärte Heller ausdrücklich, sich den von Merkl "als Stufentheorie durchgeführten Gedanken" zu eigen gemacht zu haben; dieser Gedanke komme innerhalb seiner Anschauungen aber nicht die gleiche Bedeu-
170
C. Einheitsfomeln in der Staatsrechtswissenschaft
wie diese "Spitze" denkbar ist in einer Zeit, in der weder ein absoluter Monarch noch eine handlungsfähige demokratisch legitimierte Regierung die Vorstellung nähren konnten, allen Rechtsnormen liege ein inhaltlich in sich konsistenter, also einheitlicher Wille zugrunde, beantwortet Heller in einfacher wie verblüffender Weise: keine herrschaftliche Willenseinheit sei "ein ausgeklügelt Buch, sondern eine Individualität mit ihrem Widerspruch" 60 . Der Staatswille sei wie jede Individualität "im Kern irrational und mit noch so vielen konzentrischen Begriffsbestimmungen nicht durchzurationalisieren" 61 . d) Es wäre für Heller möglich gewesen, dieses paradox klingende Ergebnis - ein empirisch präsenter einheitlicher, aber widersprüchlicher und irrationaler Staatswille - so stehen zu lassen. Das Rechtssystem ist eben nur so einheitlich, wie die realen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen es hervorgeht. Oder in Hellers eigenen Worten: "Eine Einheit der staatlichen Rechtsordnung gibt es nur, weil und soweit es ein wirkliches Herrschaftssystem des Staates g i b t " 6 2 . Diese Position wäre Kelsens späterer Auffassung nicht mehr allzu fern, wonach eine Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung nur erreicht werden kann, wenn die Rechtsordnung selbst die Regeln enthält, mit denen Normenkonflikte aufgelöst und beseitigt werden können. Falls diese Regeln nicht vorhanden sind, weil auf der soziologischen Ebene keine Willensakte erkennbar sind, die als solche Kollisionsnormen gedeutet werden können, so ist ein bestimmtes Maß an Widersprüchlichkeit eben hinzunehmen. Diese rechtspositivistische Selbstbeschränkung legt sich Heller aber nicht auf. Er setzt vielmehr auf den Juristen, der "mit der schöpferischen Aktivität seines wertenden Willens an dem durch alle andern Gebietsbewohner mitkonstituierten Einheitswillen" teilnehme 63 . Der Jurist habe die Aufgabe, "an der täglich zu erneuernden Schöpfung der organisierten staatlichen Einheit mit Hilfe der systematisierten rechtlichen Einheit mitzuarbeiten". Für ihn bestehe die "ausdrückliche oder stillschweigende Ermächtigung, ja sogar die lebensnotwendige Verpflichtung", die Rechtsnormen so zu interpretieren, "daß sie ein organisiertes, staatliches Handlungsgebilde ermöglichen und zu diesem Zwecke ein möglichst geschlossenes System ergeben" 64 . Heller leitet also die einheitsstiftende Rolle des Juristen von der dem neuzeitlichen Staat auferlegten Aufgabe innerer Pazifizierung ab. Weil jede gewaltsame Selbst-
tung wie bei Kelsen und Merkl zu. Er lehne gerade die "Umdeutung von Herrschaftsbeziehungen in logische Beziehungen" ab (1928, S.202f.); dazu auch Müller 1985, S.135. 6 0
1927, S.l 13.
6 1
A.a.O., S.l 16.
6 2
1932, S.20.
6 3
1927, S.l 14.
6 4
Alle vorstehenden Zitate 1934, S.302ff. Dazu treffend Maus (1985, S.219): Da "Heller zufolge die Einheit des Rechts auf der Einheit eines souveränen Willens beruht", muß er "die Homogenität des demokratischen Gesetzgebers bzw. Verfassungsgebers unterstellen. Soweit jede Analyse vorhandener Normensysteme die Fiktivität dieser Annahme erweist, tritt die einheitsstiftende Funktion einer von rechtspositivistischen Interpretationsregeln abgehobenen juristischen Methodik auf den Plan". Eine bloße, auf Interpretation verzichtende Beschreibung des Hellerschen Einheitstheorems bei Robbers 1983, S.49.
V. Weimarer Staatsrechtslehre
171
hilfe, von Notwehr abgesehen, zu unterbinden ist, muß "für jeden eventuell in Gewalt ausmündenden Konflikt entweder eine rechtliche oder aber eine politische Entscheidung wirksam werden" 65 , und "weil Widersprüche der Rechtsordnung eine die Herrschaftseinheit bedrohende tatsächliche Unordnung bedeuten würden", ist eine Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung herzustellen 6 6 . e) Sucht man Hellers Lehre in ihrer zentralen Problematik zu erfassen, so offenbart sich mit großer Deutlichkeit, an welche Grenzen ein allein rechtsrealistischer Umgang mit dem Einheitsproblem stößt. Wird mit guten historischen Gründen vorausgesetzt, daß ein Komplex von Rechtsnormen dann als Einheit erscheint, wenn die Normen allesamt als Äußerungen eines staatlichen Willens begriffen werden, dieser Wille aber aufgrund des vorhandenen methodischen Instrumentariums nur soziologisch erfaßt werden kann, so bleibt kein anderer Ausweg, Widersprüchlichkeit und Irrationalität als seine Wesensmerkmale zu bestimmen. Nahe liegt dann die Folgerung, im Hinblick auf die Befriedungsfunktion des Staates Lückenlosigkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung zum existenzsichernden und von der Rechtsdogmatik zu erfüllenden Postulat zu erheben. Insoweit deckt sich Hellers Einheitstheorie mit den Ansätzen Hecks und Ehrlichs, die zwar die Erkenntnis eines bestimmten Maßes an sachlich-inhaltlichen Zusammenhängen im Rechtsstoff und somit einen gewissen Grad an Einheit nicht ausschließen, aber einen Rest an Widersprüchlichkeit akzeptieren, den sie dann aber der konstruktiven Rechtsbearbeitung aufbürden. Kelsens Schritt, den verbleibenden "irrationalen Kern" einer soziologischen Willenstheorie durch eine Formalanalyse der Rechtsordnung weiter zu rationalisieren, vermochte Heller nicht mitzugehen. Die Triebfeder seiner Theoriebildung bestand gerade in dem Bemühen, den für Kelsen wesentlichen kantischen Dualismus von Sein und Sollen zu überwinden 67 . Dabei ist Hellers Auffassung, Kelsens Theorie zerreiße den Zusammenhang von Willens- und Normensystem nicht haltbar, sind doch Kelsen zufolge Rechtsnormen lediglich juristische Deutungsschemata für soziologisch fixierbare Willensakte®8. Zudem entgeht Heller, daß auch für Kelsen das Element, das die Einheit einer konkreten Rechtsordnung stiftet, nichts ist, was gänzlich empiriefrei, ohne Bezugnahme auf die tatsächlichen Verhältnisse ermittelt werden kann. Die Akzeptanz einer bei der Rechtserkenntnis angenommenen Grundnorm kann nur bei Berücksichtigung der in einer abgrenzbaren Bevölkerungsgruppe herr6 5
1934, S.302.
6 6
1931, S.20.
6 7 Zu den Schattierungen von Hellers erkenntnistheoretischer Ausgangsposition: Schluchter 1983, S.25Qff. Schluchters Ergebnis aber, daß Heller die Nachteile der Ansätze Kelsens, Smends und Schmitts vermeide, den von diesen Autoren erreichten Erkenntnisstand hingegen in das eigene Konzept zu integrieren und dabei sogar noch die Spannungen von Jellineks Zwei-Seiten-Theorie produktiv aufzulösen wisse (vor allem a.a.O., S.275 bis 278), ist allzu optimistisch und überdeckt die bei Heller offen zu Tage tretenden Ungereimtheiten. Kritischer in dieser Hinsicht auch Müller 1985, S.128. 6 8
S.o. Kapitel C.IV.3.
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
172
sehenden und zusammenwirkenden Faktoren politischer Homogenität erschlossen werden 69 . Nichts anderes enthält Hellers Gedanke von der durch den realen staatlichen Willen hergestellten Einheit der Rechtsordnung, wenn dieser Wille als "das Produkt der gesamten Natur- und Kulturbedingungen des staatlichen Lebens" zu verstehen ist 7 0 . Mit diesem Hellerschen Staatswillen, der sich aus der Schicksalsgemeinschaft des Bodens, der "Blutsverfestigung", aus massenbedingtem und nachahmendem Handeln 71 sowie aus ökonomischen, konventionalen, sittlichen und religiösen Ordnungen zusammensetzt und in der Rechtsordnung "als Ausdruck der tatsächlichen Machtverhältnisse zur Erscheinung k o m m t " ' 2 , sind genau die Faktoren benannt, zu deren Analyse Kelsen auffordert, wenn er die Plausibiltät der Annahme einer bestimmten, die Einheit einer konkreten Rechtsordnung erzeugenden Grundnorm von dem "tatsächlichen Verhalten der Menschen" abhängig macht, auf die sich die Ordnung bezieht. In Kelsens Konstruktion dieser Einheit als ein in der Grundnorm endender und durch die Stufenbaulehre sinnvoll differenzierter Erzeugungszusammenhang wird dagegen die Hereinnahme realempirischer Daten auf ein unverzichtbares Minimum reduziert, die Einheit des Rechts sozusagen erst im letzten Augenblick auf ihre polititsch-sozialen Bedingungen verwiesen. So sehr auch Hellers hauptsächlich auf einem Logizismus-Vorwurf beruhende Kritik die in Kelsens Lehre angelegte Wendung zur Empirie verfehlt, sie trifft jedoch insoweit, als Kelsen davon ausging, daß die Jurisprudenz um ihrer Wissenschaftlichkeit willen genötigt sei, alles Recht als "einheitliches System zu begreifen" 73 . Noch bis in die sechziger Jahre hinein glaubte er ja noch, eine Rechtsordnung lasse sich jederzeit als "sinnvolles Ganzes" denken und wegen der in der Grundnorm enthaltenen Kollisionsregeln immer "in einander logisch nicht widersprechenden Sätzen" beschreiben 74 . Kelsen hat diese Konzeption dann in seinem Spätwerk aber aufgegeben und die Rechtswissenschaft ermahnt anzuerkennen, daß die Rechtsordnung nur inwoweit als "sinnvolles Ganzes" denkbar ist, als sie selbst Regeln für die Auflösung von Normenkollisionen in sich trägt. Hellers Ansatz schließlich, dem Juristen die "lebensnotwendige Verpflichtung" aufzuerlegen, Lücken zu schließen und Widersprüche zu beseitigen, schaltet diese bei Kelsen betonte Berücksichtigung des Gesetzgebers aber aus. Hellers Jurist kann Kollisionen auflösen und lückenfüllende Regeln entwickeln, ohne daß er dafür eine Legitimation durch
6 9 S.o. Kapitel C.IV.3. Dies entgeht auch Vesting (1991, S.369), der Hellers Kelsen-Kritik unkritisch tradiert und meint, der Preis für Kelsens Einheitsbegriff bestünde darin, daß Kelsen die Einheit zu einer sich selbst setzenden Normordnung hätte spiritualisieren müssen. Zuzustimmen ist allerdings Vestings Urteil, daß Heller das Wesen von Staat und Recht aus einer soziologischen Perspektive erklärt (ebd.). 7 0
Heller 1927, S.l 19.
7 1
A.a.O., S.l05f.
7 2
A.a.O., S.106.
7 3
Kelsen 1920, S.152. Dazu Heller 1927, S.l 18. Vgl. oben Kapitel C.IV.4.
7 4
Kelsen 1960, S. 212. Dazu oben Kapitel C.IV.4.
V. Weimarer Staatsrechtslehre
173
einen Rechtssalz nachweisen muß. Diese Lösung ist mit Hellers demokratischer Grundauffassung wohl unverträglich. 3. Die Einheit des Rechts aufgrund der objektiven Wertgesetzlichkeit des Geistes (Smend 1928)
a) Neben Kelsen und Heller hat in der Weimarer Debatte schließlich noch Rudolf Smend eine originäre Einheitskonzeption entwickelt Auch diese, in der berühmten Schrift über "Verfassung und Verfassungsrecht" formulierte Einheitsvorstellung lebt ähnlich wie die Hellers von einer prinzipiellen Frontstellung gegen Kelsens "reine(n) Formalismus" 75 . Smend glaubt, daß der juristische Formalismus "methodischer Bearbeitung der materialen - um nicht zu sagen soziologischen und teleologischen - Gehalte" bedürfe, die Voraussetzung und Gegenstand der Rechtsnormen seien 76 . Um zu diesen Gehalten zu gelangen, schlägt Smend einen Weg ein, der in einem zentralen Punkt von dem Kelsens abweicht. Für Smend ist der vor allem von der kritischen Philosophie aufgerissene Hiatus von Sein und Sollen nicht unüberbrückbar, da in seinen Augen die zeitlich-realen Phänomene mit den ideel-zeitlosen Sinngehalten in einer "dialektisch zu verstehende(n) Zusammenordnung" 77 stehen. Zudem, so sagt Smend, werde die Erzeugung des Erkenntnisgegenstandes nicht wie bei Kelsen durch die vom erkennenden Subjekt gewählte und sich in ihm vollziehende Methode bestimmt. Das Ich besitzt in den Augen Smends eine "phänomenologische Struktur" und ist "nicht an und für sich, vorher, und alsdann als kausal für dies Leben denkbar, sondern nur, sofern es geistig lebt, sich äußert, versteht, an der geistigen Welt Anteil hat, d.h. auch in irgendwelchem allgemeinsten Sinne Gemeinschaftsglied, intentional auf andere bezogen ist" 7 *. Die Erkenntnisse des Subjekts sind nach dieser Sicht nicht allein von diesem erzeugt, sondern von der "geistigen Welt" vorgeprägt. Smends theoretischer Ansatz fußt also nicht auf einem soziologischen Empirismus, auf den Hellers Lehre ja letztendlich hinauslief. Smend lehnt - so erklärt er sich später selbst - "alles isolierte Verstehen der Norm einerseits, der Wirklichkeit andererseits" 79 ab. Soziologische und geisteswissenschaftliche Erkenntnisse fließen bei ihm zusammen zu einer nicht ideell-zeitlosen, sondern historisch-konkreten "geistigen Wirklichkeit", die etwa in den "Le-
7 5 Smend 1928, S.l24. Die Interpreten Smends gehen sogar davon aus, daß Smends Integrationslehre wohl ohne die Herausforderung durch Kelsens "Allgemeine Staatslehre" (1925), nicht ausgearbeitet worden wäre; dazu Friedrich 1987, S . l l und Korioth 1990, S.99. 7 6
Smend 1928, S.124.
7 7
1928, S.138.
7 8
A.a.O., S.l25. Smend verdankt diese erkenntnistheoretische Ausrichtung eigenen Angaben zufolge den Lehren Theodor Litis. Rennert hat untersucht, welche Einflüsse darüber hinaus zu berücksichtigen sind (1987, S.144ff.) und weist dabei auf Smends Kenntnis der Arbeiten Diltheys und Sprangers (a.a.O., S.70). 7 9
1956, S.478.
174
C Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
bensäußerungen" eines Staates, den Gesetzen, diplomatischen Akten, Urteilen und Verwaltungshandlungen sichtbar werde 8 0 . b) Diese Vorstellung einer geistigen Substanz, die sich in Staats- und Rechtsakten objektiviert und konkretisiert, hat auch eine ganz fundamentale Bedeutung für Smends Konzeption einer Einheit des Rechtssystems. Smend deutet "alles geistige Leben" als "ein Stück Verwirklichung aufgegebener Sinnzusammenhänge", als "Träger einer besonderen Wertgesetzlichkeit", durch die "ihm die Tendenz, das 'Gefalle' zum Optimum solcher Verwirklichung immanent" sei. In dieser Tendenz nun könne, je nach dem Wertgebiet, um das es sich handele, "insbesondere die Herstellung einer systematischen Einheit, einer objektiven Totalität irgendwelcher Art enthalten sein". Eine solche systematische Einheit könne bestehen in einer "einheitlichen Gesamterkenntnis, von der jede Einzeleinsicht ein Teil sein will", dann in der Art eines "zusammenhängenden und allumfassenden Normensystems, als deren Teil nur jede Einzelnorm ihren Sinn zu haben beansprucht" und schließlich in der Art irgendeines sozialen Systems, "zu dessen Realisierung jede einzelne soziale Betätigung" strebe 81 . In dem sozialen System "Staat" äußere sich diese Tendenz durch die "Einheitswirkung aller, der Wertgesetzlichkeit des Geistes entsprechend sich immer von neuem automatisch zu einheitlicher Gesamtwirkung" zusammenschließender, also persönlicher, sachlicher und funktionaler Integrationsfaktoren. Diese Tendenz wirke sich auf der Ebene des Rechts, und dies ist für die hier interessierende Fragestellung wichtig, aber auch aus "in dem Zuge zur immer neuen Herstellung widerspruchsloser, geschlossener Einheit durch Wissenschaft und Praxis, oder in der immer neuen Ergänzung von Lücken eines positiven Normensystems gegenüber der stetigen Rechtsgeschichte wie gegenüber akuten Einbrüchen durch Revolutionen" 82 . Dieser Beschreibung seiner Einheitsvorstellung entspricht eine spätere, 1933 erfolgte Bemerkung, nach der das Rechtssystem "bei aller Zersplitterung seiner Entstehungsgeschichte und seiner Einzelheiten doch stets als ein systematisches, einheitliches, sich nur langsam wandelndes Ganzes begriffen werden muß" 8 3 . c) Smend entfaltet also nicht wie Kelsen eine aus der präzisen normlogischen Analyse des positiven Rechts hervorgehende Vorstellung von der Einheit einer Rechtsordnung, die den plausiblen Nachweis eines formalen Zusammenhangs aller Normen mit Hilfe der Stufenbaulehre erbringen kann und hinsichtlich der inhaltlichen Widerspruchsfreiheit um eine positivrechtliche Begründung von Kollisionsregeln bemüht ist. Smend lehnt die Stufentheorie der Wiener Schule ausdrücklich ab. Der Zusammenhang der Rechtserzeugungsstufen sei vielmehr gegeben mit dem "Sinn, den diese Stufen als Teile einer aufgegebenen und durchgeführten Lebenswirklichkeit" hätten 84 . Teile 8 0
1928, S.l 36. Vgl. daïu etwa Campenhausen 1975, S.623; Badura 1977, S.313ff.
8 1
Alle Zitate hei Smend 1928, S.170.
8 2
Alle Zitate a.a.O., S.171.
8 3
1933, S.311.
8 4
1928, S.215.
V. Weimarer Staatsrechtslehre
175
einer solchen Wirklichkeit seien nur als dialektische Momente verständlich, nicht als Glieder einer linearen Kette 8 5 - womit in der Tat die Stringenz der Stufenbautheorie Merkls und Kelsens aufgeweicht wäre. Denn durch die ausschließliche Betonung der Lebenswirklichkeit im Rechtserzeugungsprozeß wird die Möglichkeit beiseitegedrängt, den Zusammenhang der Rechtsstufen dergestalt zu konzipieren, daß jede einzelne Stufe ihren Geltungsgrund aus der ihr übergeordneten Stufe empfängt und der so gebildete Geltungszusammenhang letztendlich in einer Grundnorm mündet 8 6 . In Smends Theorie hat der Gedanke keinen Platz, daß eine Norm auch den Sinn haben kann, zum Erlaß einer anderen Norm zu delegieren und damit ein Glied zu bilden im Zusammenhang aller Normen einer Rechtsordnung. Das Element, das den Zusammenhang der Normen stiftet und damit deren Einheit begründet, ist für Smend keine bloße Annahme, die nicht getroffen werden muß, aber gewählt werden kann, wenn faktische Willensverhältnisse als Rechtsnormen gedeutet werden sollen. Smend führt dagegen die systematische Einheit auf eine "besondere Wertgesetzlichkeit", oder wie er an vielen anderen Stellen konkretisiert, auf eine "Wertgesetzlichkeit des Geistes" zurück. Damit unterscheidet sich Smends Konzeption auch von der Hellers, in der die soziologische Ausrichtung dazu führte, Widersprüchlichkeit und Irrationalität als wesentliche Merkmale seines Einheitsbegriffs auszuweisen 87 . Hinter der Formel von der Wertgesetzlichkeit des Geistes verbirgt sich vielmehr eine geschichtsmächtige Kraft, eine historische und überindividuelle Gesetzmäßigkeit, die sich in den einzelnen individuellen Akten zu realisieren sucht, dabei aber nicht in eine zusammenhanglose Vielheit ausartet, sondern die Schaffung einer widerspruchslosen und geschlossenen Einheit garantiert. Diese objektividealistische Kategorie der Wertgesetzlichkeit, die den Zusammenhang des Normensystems bewirkt, sichert zugleich seine Widerspruchslosigkeit. Auf den ersten Blick scheint es, als ob die Individuen, die die Rechtsordnung bearbeiten, also Wissenschaft und Praxis, diese Wertgesetzlichkeit des Geistes bloß vollstrecken, mithin als bloße Vollzugsorgane des Geschichtsgesetzes auftreten 88 . Doch Smends Wendungen von der "Herstellung" der systematischen Einheit, der "Erhebung" einer Rechtsordnung zu einer lebendigen Einheit oder die Rede von der "Ergänzung" der Lücken innerhalb eines Normensystems deuten eher auf einen aktiv gestaltenden Prozeß hin, der über ein bloßes Abbilden der vorgegebenen materialen, lediglich aufzufindenden Einheit hinausgeht. Es widerspräche ja auch Smends Überzeugung von dem Ganzen der geistigen Welt als "dialektisches Gefüge" sowie seiner Vorstellung
8 5
Ebd.
8 6
S.o. Kapitel C.IV.3. Zu erinnern ist daran, daß die von Smend betonte Lebens Wirklichkeit bei Kelsen in der "autonomen Determinante" jeder Rechtserzeugungsstufe aber durchaus zu ihrem Recht kommt. 8 7 8 8
S.o. Kapitel C.V.2.
So Rennert (1987, S.l52). Erhellend bei ihm die Problematisierung der ethischen Implikationen der Wertgesetzlichkeitsformel (S.246ff.) und ihre Verwendung bei Spranger (S.89ff)· In den Arbeiten Bartlsperger (1964), Mols (1969) und Korioths (1990) erfolgt im übrigen keine vertiefte Behandlung von Smends Vorstellung einer systematischen Einheit des Normen systems.
176
C. Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
von der "Dialektik des Ichbegriffs" 89 , wenn das wissenschaftlich arbeitende und das Recht systematisierende Ich unter der Allmacht einer objektiven überindividuellen Kraft stünde, dessen Vorgaben es nur nachzuvollziehen hätte. Zudem entwickelt Smend selbst eine Interpretation des Satzes "Reichsrecht bricht Landesrecht" als Kollisionsregel 90 , die als bloße Vollstreckung eines geschichtsgestaltcnden objektiven Geistes oder seiner Wertgesetzlichkeit wohl nur unzureichend gewürdigt wäre. Smends Einheitsbegriff scheint eher in der Schwebe zu bleiben zwischen einer teils vorzufindenden und einer teils aufgegebenen Einheit. Die Einheit der Rechtsordnung ist nicht allein das Resultat einer historisch wirkungsmächtigen Gesetzmäßigkeit, sondern ist auch das Werk subjektiver Bemühungen. Ein gewisses Maß an inhaltlichem Zusammenhang ist gewiß schon im Rechtsstoff enthalten. Wissenschaft und Praxis obliegt es dann, diesen Zusammenhang aufzugreifen und auszugestalten, vielleicht zu vollenden. Augenfällig ist dabei die Parallele zu Puchta. So wie bei diesem die Vielheit der sich zum Teil widersprechenden Rechtssätze durch den überindividuellen substanziellen Volksgeist zusammengehalten werden, so sieht ebenfalls Smend die Einheit der Rechtsordnung kraft einer den einzelnen Individuen übergeordneten und sie bestimmenden Wertgesetzlichkeit des Geistes verbürgt. Also nicht nur Smends Lehre von den "Sachgehalten" und "Kulturwerten", die eine Gemeinschaft als Einheit identifizierbar machen und so als Momente einer nationalen Individualität hervortreten, kann mit dem Volksgeistgedanken parallelisiert werden 91 . Die Puchtasche Volksgeistlehre scheint auch in Struktur und Funktionsweise der Smendschen Einheitsvorstellung durch. Smend mögen dabei die unmittelbaren historischen Erfahrungen der revolutionären Ereignisse am Ende des Kaiserreichs wie auch die der geistigen und politisch-sozialen Heterogenität der Weimarer Z e i t 9 2 bewogen haben, das Maß an vorhandener inhaltlicher Einheit nicht in der Rechtsordnung oder in den von ihr geregelten tatsächlichen Verhältnissen zu suchen, sondern sich auf das Feld einer idealistischen Philosophie zu begeben. Wenn Smend "die politische Einheit des deutschen Volkes 1918ff. wie eine umgefallene Mauer aus Lehm" erschien 93 und die sozial-ökonomische und politisch-geistige Zerissenheit sich notwendigerweise auf der normativen Ebene in Form von beunruhigenden Widersprüchen ausdrückt, so schien auf jenem Feld der Philosophie am ehesten ein Konzept bereit zu stehen, welches unter Vermeidung von Hellers inkonsistenter soziologischer Theorie und unter Umgehung von Kelsens normtheoretisch-rechtspositivistischer Lehre einen relativ gelassenen 8 9
Smend 1928, S.127.
9 0
A.a.O., S.254.
9 1
Diese Parallele stellt Renneri (1987, S.23 lf.) heraus.
9 2
Diesen Erfahrungshintergrund bei Smend betonen Campenhausen (1975, S.622), Rennert (1987, S.37f.) und Korioth (1990, S.98). 9 3
So Smend in einem Brief an Manfred Friedrich,
abgedruckt in Friedrich
1987, S.25.
V. Weimarer Staatsrechtslehre
177
Umgang mit der Einheitsproblematik erlaubte. Auch wenn etwa latent vorhandene oder gar offen zum Vorschein kommende revolutionäre Kräfte in den überkommenen Normenbestand störend eingreifen, die untergründig wirkende objektive Wertgesetzlichkeit des Geistes entschärft diese Lage und garantiert das erforderliche Maß an innerer Einheit, Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit des Rechtssystems. Die Rechtspraxis findet ihre Legitimation, um diesen Zustand herzustellen, nicht wie bei Heller in der Befriedungsfunktion staatlicher Herrschaftsorganisation. Sie ist bei ihrem Bemühen, Kollisionsregeln zu entwickeln, auch nicht an die Vorgaben der Rechtsordnung selbst gebunden, was ja in der Konsequenz von Kelsens Ansatz lag. Die "besondere Wertgesetzlichkeit" des Geistes befreit den Rechtsbearbeiter von diesen Vorgaben und erlaubt ihm in Unabhängigkeit vom positiven Recht Regeln zur Beseitigung von Widersprüchen aufzustellen.
12 Baldus
178
C. Die Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
VI. Engischs „Die Einheit der Rechtsordnung" (1935) 1. Engischs Fragestellung
a) Wenn heute von der Einheit der Rechtsordnung die Rede ist, so wird eher selten auf die Konzepte Smends, Hellers oder Kelsens Bezug genommen. Vielmehr findet sich immer wieder der Hinweis auf eine hinsichüich ihres Umfangs kleine, im Jahre 1935 veröffentlichte Monographie Karl Engischs, die die Frage nach der Einheit der Rechtsordnung sogar in ihrem Titel zum Ausdruck bringt. Bedenkt man, daß die Klassen- und Interessengegensätze, die im Spätkonstitutionalismus immer deutlicher hervortraten, am Ende des ersten Weltkrieges dann zum Zusammenbruch des monarchischen Systems führten und in der Weimarer Zeit nie gänzlich gebändigt und ausgeglichen wurden, in einem bedeutenden Maße als Auslöser der Einheitskonzepte Kelsens, Hellers und Smends anzusehen sind, so sollte man auch bei Engischs Schrift, die ja zwei Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung erschien, eine enorme Zeitbedingtheit vermuten. Darauf weisen auch eine Reihe von Indizien. So spricht sich Engisch etwa für eine korporatistische Gesellschaftstheorie aus, nach der die "Volksgenossen" "allenthalben rechtlich erfaßt werden sollen als Glieder der Volksgemeinschaft und der ihr eingeordneten kleineren Gemeinschaften" 1. Auch scheint für Engisch die Aussagekraft und Leistungsfähigkeit einer Rechtstheorie sich danach zu bemessen, ob sie "den Ansprüchen eines 'konkreten Ordnungsdenkens'" 2 genügt. Und schließlich gibt Engisch den wohl als Rat gemeinten Hinweis, daß die Generalklauseln "Ansetzpunkt für die neuen Rechtsgedanken" seien. Sie nähmen Neues auf, "ohne darum Widersprüche in die älteren Teile unserer Rechtsordnungen hineinzutragen" 3 . Diese Wendungen verdichten sich gewiß zu einer Tendenz. Doch entscheidend ist, daß Engisch diese Gedanken ergänzt, dabei aber abschwächt und sie letztlich in ihrem Kern zurücknimmt. Zu seinem Bild einer korporatistischen Gesellschaftstheorie gehört nämlich auch die Hoffnung, daß es nicht nationalsozialistisches Prinzip sei, "die freie Initiative des Einzelnen und seinen Egoismus gänzlich auszuschalten"4. Auch wenn sich Engisch einerseits an Schmitts konkretem Ordnungsdenken zu orientieren scheint, so belegt er dieses Denken wieder mit dezenter Kritik und betont die Autonomie der Norm gegenüber den Sachstrukturen 5. Und schließlich weist er zwar auf die Funktion der Generalklauseln als Einlaßstellen für die neuen nationalsozialistischen Ideen hin. Eine ganz unmißverständliche Absage erteilt er aber dem Vorschlag, die Wertungswidersprüche zwischem dem alten Recht aus der Weimarer Republik und dem Recht des neuen Staates in der Weise aufzulösen, daß nationalsozialistische Gesetze mit subjektiv1
Engisch 1935, S.38f.
2
A.a.O., S. 12.
3
A.a.O., S.91f. Dieses Argument vertrat ein Jahr vorher schon Schmitt (1934a, S.58f.).
4
A.a.O., S.40.
5
A.a.O., S.5 a.E.
VI. Engischs „Die Einheit der Rechtsordnung" (1935)
179
teleologischer Methode bearbeitet, die älteren Gesetze aber nach einer objektiven Methode so ausgelegt werden, daß ihr Wortlaut nach Möglichkeit mit nationalsozialistischem Sinn erfüllt werde. In deutlich vernehmbarer Distanz zu dem für das nationalsozialistische Rechtsdenken charakteristischen Methodenpluralismus 6 betont Engisch, daß eine solche objektive Auslegung die "Übernahme einer gegebenen Ausdrucksform für einen neuen Gedanken, der sich dieser Ausdrucksform bemächtigen kann" bedeute und damit "etwas Schöpferisches: nicht Reproduktion, sondern Produktion" sei 7 . Der Versuch also, Engischs Schrift für eine Position in Anspruch zu nehmen, die nach 1933 die Einheit der Erkenntnis durch die Einheit von Staat und Volk ersetzt habe 8 , verfehlt ihren Gehalt. Engischs Schrift wird gewiß an einigen Stellen vom Geist jener Zeit umweht, doch sie ist keinesfalls von ihm durchdrungen. Engisch stemmt sich keiner politischen Entwicklung entgegen, er verfällt ihr aber auch nicht. Einer Auslieferung der Rechtsformen an die politischen Ziele des Nationalsozialismus redet Engisch nicht das Wort 9 . Sucht man Engischs Schrift aus ihren Zeitumständen zu erklären, so ist das Augenmerk vor allem auf den Entwicklungsstand zu richten, den die Bearbeitung der Einheitsproblematik bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Engischs Schrift eingenommen hatte. Engischs Monographie, die aus seiner Heidelberger Antrittsvorlesung hervorging, ist vor allem auf das Bestreben eines jungen Nachwuchswissenschaftlers zurückzuführen, eine bis dahin häufig verwendete, insgesamt aber eher unklare und sogar umstrittene Formel in ein helleres Licht zu rücken. Man denke, so Engisch, bei der Einheit der Rechtsordnung an sehr verschiedenen Dinge 1 0 , alles sei hinsichtlich der Einheitsproblcmatik in "schwankender Erscheinung" 11 . So nimmt sich denn Engisch vor, "den mannigfaltigen Sinn der Rede von der Einheit der Rechtsordnung, die Gültigkeit dieser Rede für unser gegenwärtiges deutsches Recht, die Möglichkeiten der Rechtswissenschaft, einheitsstiftend einzugreifen, und die Beziehungen, die die verschiedenen 'Einheiten' verbindet, ins Klare zu stellen" 1 2 . Damit werden zum ersten Mal die in der Formel von der "Einheit der Rechtsordnung" gebündelten Gedanken und Probleme zum Gegenstand einer 6
Dazu Rüthers 1968, S.175ff.
7
Engisch 1935, S.90.
8
So Luhmann 1983, S.129.
9
Klug bemerkt zu dieser Frage, daß Engisch sich in seiner Schrift über "Die Einheit der Rechtsordnung" nicht gescheut habe, "hervorragende jüdische Rechtswissenschaftler und Philosophen wie Ehrlich, Goldschmidt, Husserl , Kelsen, Rosenberg, Salomon u.a. zustimmend zu zitieren und dies in einer Zeit, in der Carl Schmitt 'Reichsgruppenwalter der Reichsgruppe Hochschullehrer des Nationalsozialistischen Rechts Wahrerbundes * war und 4 im Kampf gegen den jüdischen Geist* als für die Bibliothek des Juristischen Seminars verantwortliches Mitglied der Berliner Juristischen Fakultät anordnete, die Bücher jüdischer Autoren mit gelben Kennzeichen zu versehen" (1991, S.389f.). Ergänzend ist allerdings darauf hinzuweisen, daß Schmitt zum "Kampf gegen den jüdischen Geist" in der deutschen Rechtswissenschaft erst im Jahre 1936 aufgerufen hat, Engischs Schrift aber schon ein Jahr zuvor erschienen war. 1 0
Engisch 1935, S.l.
11
A.a.O., S.l.
1 2
Ebd.
180
C. Die Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
selbständigen monographischen Bearbeitung erhoben und auch, wie im folgenden zu sehen, in geschlossener Form dargestellt. b) Engisch geht sein Vorhaben systematisch an. Zunächst sucht er zu bestimmen, worin überhaupt eine Rechtsordnung besteht, um danach zu ermitteln, worin sie ihre Einheit hat. Zur Beantwortung der ersten Frage stellt Engisch die These auf, daß eine Rechtsordnung aus Sollenssätzen bestehe. Begründet wird diese These mit dem "Charakter und (dem) Vorzug der Unentbehrlichkeit", der dem rechtlichen Sollenssatz als Ausdrucksform rechtlichen Denkens allgemein innewohne 13 . Man könne gewiß auch den Inhalt der Rechtsordnung in "'rechtgemäßen' Handlungen und Unterlassungen der Rechtsgenossen" (Bülow), in einer "Ordnung subjektiver Berechtigungen" (Jellinek) oder in der "Hierarchie konkreter Ordnungen" (Schmitt) finden, in jedem Falle werde man im Interesse der Rechtspraxis genötigt sein, die Rechtsordnung "als Inbegriff von Sollenssätzen darzustellen" 14 . Insbesondere eine Arbeit, die sich mit der Einheit gerade der staatlichen Rechtsordnung befasse, müsse sich an der Erscheinungsform des rechtlichen Sollenssatzes halten. Denn dieser sei "der lebendigste rechtliche Ausdruck des Staates", dessen Einheit sich "gerade in dem System und Zusammenhang seiner Normen und Verfügungen" offenbare. In einem "Einheitsstaate" müssten "alle ihm eingegliederten Ordnungen sich in solchen rechtlichen Regeln darstellen und unter solchen rechtlichen Regeln stehen, die mit den für die übrigen Ordnungen gültigen Zusammenhängen im Einklang sind" 1 5 . Da Engisch zudem noch anführt, daß die allgemeinen Normen, insbesondere die abstrakten Sollenssätze der Gesetze und Verordnungen, aber auch die konkreten richterlichen Entscheidungen, Verwaltungsverfügungen und rechtsgeschäftlichen Normen als eben solche "rechtlichen Regeln" zu begreifen seien, ist der Gegenstand ziemlich präzise bestimmt, um dessen Einheit es gehen soll. Damit wird es für Engisch zudem möglich, die Frage nach der Einheit der Rechtsordnung von anderen ihr verwandten Fragestellungen abzugrenzen. Die Einheit der Rechtsordnung ist also nach Engisch nicht mit dem Prinzip der Geschlossenheit der Rechtsordnung zu verwechseln 16 , nicht mit der Einheit eines rechtswissenschaftlichen Systems 17 und auch nicht mit der "Einheit beliebiger (inländischer und ausländischer, historischer und in Kraft stehender) Rechtsnormen unter dem Rechtsbegriff' 18 . Auch interessiert nicht, "was alle Rechtsnormen einheitlich zu Rechtsnormen macht" 1 9 , ebensowenig wie die Einheit "einer allumfassenden Rechtstheorie oder Rechtsphilosophie oder Rechtshi-
1 3
A.a.O., S.6.
1 4
Ebd.
1 5
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.6.
1 6
A.a.O., S.l.
1 7 A.a.O., S.2f. Cber das Verhältnis der Einheit der Rechtsordnung zur Einheit eines rechtswissenschaftlichen Systems: unten Abschnitt 4 dieses Kapitels. 1 8
A.a.O., S.3.
1 9
A.a.O., S.25 Fn.3.
VI. Engischs „Die Einheit der Rechtsordnung" (1935)
181
storie" 20 . Und schließlich ist die zwischen Triepel, Kelsen und Verdross umstrittene Frage nach der Einheit von Völkerrecht und Staatsrecht nicht mit der von Engisch aufgeworfenen Frage nach der Einheit der Rechtsordnung zu identifizieren 21 . Die Perspektive, aus der Engisch die Frage nach der Einheit einer Rechtsordnung betrachtet, richtet sich zunächst auf die Größe, die eine Vielheit von Rechtsnormen in einen Zusammenhang stellt und sie damit durchgehend verbindet (unten 2.). Sodann widmet er sich der Problematik der "inneren Einheit" der Rechtsnormen, also ihrer inhaltlichen Konvergenzen und Divergenzen (unten 3.). Und schließlich untersucht er die Bedeutung dieser inneren Einheit für die Rechtsdogmatik (unten 4.). 2. Die Einheit der Rechtsordnung durch Stufenbau- und Grundnormlehre
a) Bei der Frage, was "die Einheit der Normen innerhalb einer einzelnen für sich bestehenden Rechtsordnung begründet" 22 , mag sich Engisch nicht im allgemeinen zur Reinen Rechtslehre Kelsens bekennen 2 3 . Doch er gesteht ein, daß durch die von Merkl und Kelsen entwickelte Deutung der Rechtsordnung als Stufenbau "die zunächst geschiedenen Erscheinungen der Rechtswelt bis zu einem gewissen Grade zur Einheit gebunden sind". Besonders "sinnfällig" wird ihm diese Einheit durch die Grund- und Ursprungsnorm, "in die das ganze Rechtssystem ausläuft, besser noch: an der das ganze Rechtssystem hängt". Um, wie er sagt, nicht "im Formalen stecken" zu bleiben, deutet Engisch die Grundnorm aber "im Sinne einer die höchsten zur Rechtsschöpfung berufenen Instanzen legitimierenden Regel", die "in parlamentarischen Staaten einer Volksvertretung und im heutigen Deutschland dem Reichskanzler und Führer die oberste, jede andere delegierende Rechtssetzungsbefugnis zuspricht" 24 . Engisch überträgt also Kelsens Theorie der Einheit der Rechtsordnung auf wirklich existierende Gemeinwesen, auf parlamentarisch organisierte Staaten - er hat wohl die Weimarer Republik vor Augen - und auf die Rechtsordnung des nationalsozialistischen Deutschlands. Allerdings erkennt Engisch nicht das methodenmonistische Fundament an, auf dem Kelsens Lehre steht. Er will die Grundnorm inhaltlich, nicht rechtslogisch interpretieren: "Jedes Sollen", so sagt er, "ist mir letztlich ein seiendes Sollen. Grundnormen wurzeln im Gewohnheitsrecht oder in Revolutionen oder in Vereinbarungen, sie gewinnen in historischen Vorgängen die Anerkennung der Rechtsgenossen, die letzter Geltungsgrund allen Rechtes ist" 2 5 . Aus der Anerkennung der Grundnorm leiteten "die delegierten Normen ihre eigene Geltungskraft ab" 2 6 . 2 0
A.a.O., S.4.
2 1
A.a.O., S.20, Fn.l. Dazu oben C.IV.5.
2 2
A.a.O., S.25.
2 3
A.a.O., S. 12.
2 4
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.l lf.
2 5
A.a.O., S.12 Fn.l.
2 6 Ebd. Daneben könnten die Nonnen sich auch "selbständiger Anerkennung erfreuen", dann sei eben die Geltung doppelt begründet (ebd.). Engisch hat in einer Besprechung der zweiten
182
C Die Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
Im Unterschied dazu gewinnt Kelsen, in konsequenter Durchführung seiner erkenntnistheoretischen Prämissen, die Grundnorm gerade nicht aus einer unmittelbaren Umdeutung faktischer Verhältnisse. Kelsen setzt die Grundnorm voraus, und der Blick auf die "historischen Vorgänge", auf das "tatsächliche Verhalten der Menschen", hilft nur die Frage beantworten, mit welcher Plausibilität diese Voraussetzung getroffen wurde. Aus Kelsens Sicht ist es zudem unzulässig anzunehmen, die Grundnorm wurzele im Gewohnheitsrecht oder in Vereinbarungen. Denn bei diesen Größen handelt es sich wieder um ein rechtliches Sollen, so daß die Grundnorm dann eben nicht die oberste, sondern nur die zweithöchste Rechtsnorm einer Rechtsordnung wär e 2 7 . Doch abgesehen von diesen rechtslogischen und erkenntnistheoretischen Differenzen, stimmt Engisch, und dies ist wichtig festzuhalten, mit Kelsen in der Bedeutung der Grundnorm als einheitskonstituierendes Element einer Rechtsordnung überein. b) Weitaus schwerer wiegt hingegen Engischs Versuch, theoretische Reichweite und innere Stimmigkeit der Stufenbaulehre in Zweifel zu ziehen. Er wendet einmal ein, daß doch ein formell rechtswidrig ergangenes Urteil in materielle Rechtskraft erwachsen und somit "Sätze niederer Ordnung gültig sein können trotz Verletzung für ihre Entstehung und für ihren Inhalt maßgeblicher Normen höherer Ordnung" 28 . Der von Kelsen behauptete Rechtserzeugungszusammenhang sei dann insofern gestört, "als die Normen niederer Stufe nicht so erzeugt worden sind, wie sie nach Maßgabe der Normen höherer Stufe erzeugt werden durften " ξ Diesen Abgrund könne die Stufentheorie nicht schließen*9. Darüberhinaus bestreitet Engisch die Auffassung der Reinen Rechtslehre, daß im Falle einer Revolution mit dem Wechsel der Grundnorm auch die Rechtsordnung wechsele, daß also an die Stelle einer alten Rechtsordnung eine andere, neue Rechtsordnung trete 30 . Eine Rechtsordnung, so argumentiert dagegen Engisch, bleibe "auch über den Wechsel der 'Grundnorm' hinaus eine und dieselbe, wenn dieselbe Rechtsgemeinschaft, die durch die bisherige Rechtsordnung konstituiert war, einerseits diese bisherige Rechtsordnung teilweise als weiter gültig anerkennt, andererseits aber - das ist die neue Grundnorm - eine neue Instanz mit der Befugnis ausstattet, Normen Auflage der Reinen Rechtslehre seine 1935 vorgestellte Deutung der Grundnorm selbst noch einmal kommentiert. Sie habe bezweckt, der Idee der Grundnorm "möglichst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die sinnvolle Unterscheidung zwischen Grundnorm und konkreter (keineswegs bloß 'formeller', bloß 'geschriebener*) verfassungsrechtlicher Regelung des Gesetzgebungsverfahrens bei zubehalten" (1963, S.602). Engisch räumt ein, durch die Preisgabe des tran szendental logischen Ansatzes das eigentliche Anliegen Kelsens verfehlt zu haben, wiederholt aber noch einmal die inhaltliche Interpretation der Grundnorm als "Grundentscheidung", "kraft deren eine bestimmt geartete Verfassung (etwa das Bonner Grundgesetz) ein Normerzeugungsverfahren im einzelnen regelt, welches dann seinerseits zum 'GeltungsgrundN aller objektiv gültiger Normen wird, die in diesem Verfahren zustande kommen" (ebd.). 2 7 Kelsen bemerkt später in einer direkten Stellungnahme zu Engischs Deutung, daß das Problem, das die Grundnormlehre zu lösen versuche, erst entstehe, wenn die Frage nach dem Geltungsgrund der positivrechtlichen Verfassung aufgeworfen werde (1960, S.207). 2 8 2 9
Engisch 1935, S.l5. Die vorstehenden Zitate a.a.O., S.l6. A.a.O., S . .
VI. Engischs „Die Einheit der Rechtsordnung" (1935)
183
der alten Rechtsordnung aufzuheben, sowie neue Normen zu setzen, die anstelle der nicht mehr gültigen Normen treten oder die weiterhin in Kraft bleibenden Normen ergänzen sollen" 3 1 . Es sei der "Wille der durch die Rechtsordnung selbst konstituierten Gemeinschaft", der einer Rechtsordnung "Dauer und Einheit" verleihe. Mit anderen Worten: Engisch bezweifelt die Eignung der Grundnormlehre als Identitätskriterium. Nicht die Grundnorm könne die Frage beantworten, ob es sich bei einer Ordnung um eine und dieselbe handelt, sondern nur der Wille der Gemeinschaft 32 . Was nun den ersten Einwand angeht, so ist es gleichwohl möglich, den Fall eines in Rechtskraft erwachsenen Urteils in sich konsistent in die Stufenbaulehre zu integrieren. Zwar trifft es zu, daß ein formell oder materiell rechtswidrig ergangenes Urteil den Rechtserzeugungszusammenhang stört. Die Rechtsordnung selbst aber beseitigt diese Störungen wieder durch die Normen, die um des Rechtsfriedens wegen ein zunächst rechtswidriges Urteil rechtskräftig werden lassen. Der vorübergehend unterbrochene Rechtserzeugungszusammenhang wird also zu einem späteren Zeitpunkt wieder geschlossen. Und auch Engischs These, nach der der Wille einer Rechtsgemeinschaft im Falle einer Revolution trotz des Wechsels der Grundnorm die Kontinuität zwischen vor- und nachrevolutionärer Rechtsordnung gewährleistet, vermag die Einsicht in die Leistungsfähigkeit der Stufenbaulehre nicht wirklich zu erschüttern. Gcwiß lehren die historischen Erfahrungen, daß nach einer Revolution die bisherige Rechtsordnung "teilweise als weiter gültig" anerkannt wird, während die neue Grundnorm eine "neue Instanz" zur Normsetzung ermächtigt. Wenn nun diese neue Instanz Normen setzt, die an die Stelle der alten Normen treten sollen, so bleibt nach Engischs Lehre unklar, ob die Gültigkeit dieser neuen Normen von der Anerkennung durch die "Rechtsgemeinschaft" abhängig ist, oder etwa von einem zur Normsetzung durch die neue Grundnorm befugtem Direktorium, oberstem Sowjet oder revolutionärem Rat abgeleitet werden soll. In Engischs Konzeption liegt die Möglichkeit von Normwidersprüchen offen zu Tage, wenn die Geltung der Normen zum einen rein faktisch, zum anderen aber normativ begründet wird, wenn es also einmal auf einen Akt der Zustimmung der Rechtsunterworfenen ankommen soll, ein anderes Mal aber auf die von der Grundnorm delegierte oberste Instanz. Beschränkt man sich hingegen allein auf die soziologische Sichtweise, so ist man genötigt, sowohl Kontinuität wie auch Diskontinuität festzustellen, da doch zumindest die oberste Rechtssetzungsstufe ausgetauscht wird. Danach kann nicht mehr von "einer und derselben Rechtsordnung" die Rede sein, da der Wille der "Rechtsgemeinschaft" nach der Revolution eben die alte Rechtsordnung nicht mehr ausnahmslos bejaht, dieser nachrevolutionäre Wille hinsichtlich der obersten Rechtserzeugungsstufe also inhaltlich differiert. Und diese Differenz steht einer uneingeschränkten Kontinuitätsthese entgegen. Die Kelsensche Auffassung, nach der die Annahme einer neuen 3 1 3 2
A.a.O., S.24.
A.a.O., S.25. Zur Grundnorm als Identitätskriterium siehe oben das Kapitel über Kelsens identitätsstiftende Theorie der Einheit der Rechtsordnung (C.IV.2.).
C. Die Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
184
Grundnorm auch zur Bejahung einer neuen Rechtsordnung nötigt, muß freilich angesichts der im neuen Recht weiter befolgten alten Normen befremden. Doch sie kann diese Bedenken mit dem Hinweis etwa auf eine von der neuen Verfassung ausgesprochene Delegationsnorm mildern, die das alte Recht der neuen Rechtsordnung einverleibt - so wie es etwa in Art. 178 Abs.2 der Weimarer Verfassung oder in A r t 123 des Grundgesetzes geschehen ist. Falls solche inkorporierende Normen noch nicht erlassen wurden, ist für die Zwischenzeit davon auszugehen, daß die neue oberste, zur Rechtsetzung berufene Instanz das alte Recht stillschweigend aufgenommen hat, soweit bestimmte Teile von ihr nicht ausdrücklich als nichtig erklärt wurden 33 . Allerdings ist Engisch damit zuzubilligen, daß die Grundnormlehre beim Problem eines revolutionären Rechtswandels die von der Frage der Geltungsbegründung und des Rechtserzeugungszusammenhangs gewohnte Präzision zum Teil einbüßt und auf weitere Annahmen angewiesen ist - etwa auf die der u.U. stillschweigenden Rezeption der alten Rechtsordnung durch die neue Rechtsordnung 34 . c) Entscheidend ist hier aber, daß Engisch, wie schon erwähnt, die Funktion der Grundnorm als identitätsstiftendes Moment der Rechtsordnung anerkennt und in seine Einheitstheorie integriert Wie nahe Engisch in dieser Hinsicht Kelsen ist, wird auch an seinem Versuch deutlich, die rechtsdogmatische Bedeutung der so begründeten Vorstellung einer Einheit der Rechtsordnung zu bestimmen. Kelsen hatte die Notwendigkeit, ein alle Normen zu derselben Rechtsordnung verbindendes Element nachzuweisen, bei der Suche nach Regeln zur Lösung von inhaltlichen Widersprüchen entdeckt. In historischen Epochen, in denen Rechtsordnung und Moralordnung auseinandertreten sowie verschiedene staatliche Rechtsordnungen auf je verschiedenen Gebieten nebeneinander oder auf demselben Gebiet zeitlich nacheinander gelten, bedarf es eines Kriteriums, mit dessen Hilfe die fraglichen Normen den jeweils möglichen Normenkomplexen zugeordnet werden können. Dagegen führt Engisch insofern einen neuen Gedanken ein, als er die identitätsstiftende Einheit der Rechtsordnung als Voraussetzung des Satzes betrachtet, nach der der Richter den Einzelfall unter der "Anwendung der ganzen Rechtsordnung" entscheiden muß 3 5 . Also nur die Normen der "zuvor umgrenzte(n) einheitliche(n) Rechtsordnung" 3 6 , nur die "derselben Rechtsordnung zugehörigen" 37 Normen können bei der Entscheidung eines Rechtsfalles herangezogen werden. Der Sache nach liegen die Gedankenführungen Engischs und Kelsens aber nahe beieinander. Engisch dient zwar die Einheit der Rechtsordnung nicht unmittelbar als Voraussetzung für die Lösung von Kollisionen, sondern als Bedingung der systematischen Auslegung. Die Funktion der Einheitsgedanken ist aber in 3 3 Vgl. dazu Kelsen I960, S.213f.: danach liegt keine völlige Neuschaffung von Recht vor, sondern eine "Rezeption von Normen einer Rechtsordnung durch eine andere". 3 4 Zu dem Einwand, daß die Kelsensche Lehre auch den Fall der Unabhängigkeitserlangung der britischen Kronkolonie nicht hinreichend erfassen kann: Pawlik 1993, S.131f. 3 5
Engisch 1935, S.26. Der Satz geht zurück auf Philipp Heck (1932, S.107).
3 6
Engisch 1935, S.26. A.a.O., S . 2 .
VI. Engischs „Die Einheit der Rechtsordnung" (1935)
185
beiden Fällen dieselbe. Abgesehen davon, daß die Beseitigung eines Widerspruchs zweier Normen als Unterfall einer systematischen Auslegung betrachtet werden kann, dient die Einheit der Rechtsordnung bei beiden Denkern dazu, die anwendbaren von den nicht verwendbaren Normen zu scheiden. Engisch setzt sich nur insofern deutlich von Kelsen ab, als er der Einheit der Rechtsordnung eine über diese rechtsdogmatische Funktion hinausreichende Bedeutung zumißt. Er verwendet diesen Begriff nämlich auch als Wissenschaftskriterium und läßt damit die von Kant begründete Tradition eines auf systematische Einheit zielenden Wissenschaftsbegriffs wieder aufleben. Das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung selbst - nicht wie bei Kelsen das Prinzip juristischer Erkenntnis - sichere der Rechtsdogmatik, so schreibt Engisch, "den von ihr begehrten Rang einer echten Wissenschaft - wir dürfen sogar noch anspruchsvoller sagen: den Rang der Wertungswissenschaft par excellence" 3 8 . 3. Die Einheit der Rechtsordnung im Sinne inhaltlicher Zusammenhänge und Kongruenzen innerhalb einer Rechtsordnung
a) Engisch begnügt sich aber in seiner Schrift nicht schon mit der an Kelsen angelehnten Begründung einer formalen identitätsstiftenden und zur Abgrenzung von anderen Normengruppen dienenden These der Einheit der Rechtsordnung, sondern versucht, zur "inneren Einheit" 3 9 der zu einer Rechtsordnung gehörenden Normen vorzustoßen. Wenn Engisch dabei ausführt, daß die Art der Beziehungen zwischen den Rechtsnormen sich aus dem "Inhalt der Normen" ergebe 40 , so wird klar, daß mit jener inneren Einheit die inhaltlichen, in der Rechtsordnung bereits vorzufindenden Zusammenhänge und Kongruenzen gemeint sind. Das Vorhandensein solcher inhaltlichen Beziehungen belegen nach Engisch Rechtssätze, die bei der Lösung eines Einzelfalls in die Tatbestände und Rechtsfolgen anderer Sätze ergänzend eingeordnet werden und vor allem im allgemeinen Teil einer Kodifikationen anzutreffen sind 4 1 . Die innere Zusammengehörigkeit der Rechtsnormen einer und derselben Rechtsordnung offenbare sich ferner dann, wenn es mehrere Rechtsnormen gebe, die auf einen konkreten Sachverhalt passten, also mehrere Normen hinsichtlich desselben Falles miteinander konkurrierten. Aber auch unabhängig vom einzelnen Fall ließen sich inhaltliche Zusammenhänge eruieren, sowohl innerhalb einzelner wie auch zwischen verschiedenen Rechtsteilen 4 2 . Äußerlich handele es sich dabei um bloße Bedingungsverhältnisse, in materieller Hinsicht dagegen um Beziehungen teleologischer und normativer Art. Als teleologische gelten solche Beziehungen dann, "wenn durch wechsel3 8
A.a.O., S.l.
3 9
A.a.O., S.26.
4 0
A.a.O., S.29.
4 1
A.a.O., S.28.
4 2
A.a.O., S.29.
186
C. Die Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
seitige Ergänzung der Rechtsnormen Erfolge vereint mit anderen Erfolgen oder auch als Mittelzwecke für andere Erfolge angestrebt, wenn erwünschte Nebenwirkungen zu vermeiden getrachtet oder wenn Organe und Institute zur Herbeiführung oder Ermöglichung vom Gesetzgeber begehrter Erfolge vorgesehehen werden" 4 3 . Zu den normativen Zusammenhängen seien auch die "gleichförmigen Rechtsgedanken und allgemeinen Prinzipien" (etwa das Verschuldensprinzip, das Gefährdungsprinzip, die Vertragsfreiheit, das Publizitätsprinzip, Verfahrensmaximen, Gewaltenteilung und Grundrechte als Prinzipien einer liberalen und das Führerprinzip als Prinzip einer neuen Verfassung) zu rechnen. Die hier anvisierten inhaltlichen Zusammenhänge würden auch von der Einheit von öffentlichem und privatem Recht indiziert, die bislang allerdings "nur in einzelnen Teilen der Rechtsordnung" anzutreffen sei. Sie leuchte als Idee der Rechtserneuerung voran 4 4 . Auf keinen Fall ist damit die von Kelsen aus dem Prinzip der Einheit juristischer Erkenntnis heraus konstruierte normlogische Einheit von öffentlichem und privatem Recht gemeint 4 5 . Engisch fordert an dieser Stelle eine materielle Einheit aufgrund einer korporativen Gesellschafts- und einer an der Grundkategorie der "konkreten Ordnungen" ausgerichteten Rechtstheorie 46 . b) Die so von Engisch nachgewiesene inhaltliche Einheit der Rechtsordnung ist aber nicht vollkommen, sondern nur teilweise realisiert und von ständigen, auf die "Dynamik des Rechts" 47 zurückzuführenden Störungen durch inhaltliche Widersprüche der Rechtsnormen bedroht. Engisch unterscheidet dabei vier Widerspruchstypen: technische, teleologische, Prinzipienund Normwidersprüche. "Scheinbare 'Gesetzeswidersprüche'" werden von vorneherein ausgeschieden. Denn niemand denke daran, "eine als Spezialgesetz gedachte Sonderregelung als mit der allgemeinen Regelung im Widerspruch anzusehen". Ebensowenig läge ein Gesetzeswiderspruch vor, wenn "mit einer späteren widersprechenden Vorschrift die ältere stillschweigend außer Kraft gesetzt werden sollte" 48. Dagegen ist ein technischer Widerspruch Engisch zufolge als echter Gesetzeswiderspruch anzusehen. Er entsteht aufgrund der "Relativität der Rechtsbegriffe", also dadurch, daß an zwei verschiedenen Stellen der Rechtsordnung zwei verschiedene Definitionen desselben Ausdrucks erscheinen oder daß dieselbe Definition desselben Terminus an verschiedenen Stellen doch nicht dasselbe bedeute 49 . Neben diesen technischen Widersprüchen stehen teleologische Widersprüche. Sie treten auf, wenn der Gesetzgeber bestimmte Zwecke anstrebt, ohne die erforderlichen Mittel aufzubieten, oder umgekehrt, wenn er Mittel anordnet, ohne den dabei allein
4 3
A.a.O., S.33.
4 4
A.a.O., S.36.
4 5
A.a.O., S.37.
4 6
A.a.O., S.39; dazu oben C.VI.l.
4 7
A.a.O., S.67.
4 8
A.a.O., S.43.
4 9
Ebd.
VI. Engischs „Die Einheit der Rechtsordnung" (1935)
187
in Frage kommenden Zweck zu wollen 5 0 . Als dritter Typus kommt schließlich der Prinzipienwiderspruch in Betracht, bei dem der Gesetzgeber die von ihm zugrunde gelegten Gedanken und Prinzipien bei der Entwicklung der einzelnen Regeln nicht konsequent durchführt, er also den Grundsatz verletzt, "selbst für gleich Erachtetes nicht grundlos verschieden und das von ihm selbst für verschieden Erachtete entsprechend dieser Verschiedenheit zu behandeln" 51 . Engisch mißt diesen Prinzipienwidersprüchen ebenso wie den teleologischen und technischen Widersprüchen nur eine geringe juristische Bedeutung z u 5 2 . Auch wenn eine einheitliche Terminologie wünschenswert und für eine widerspruchsfreie Rechtsanwendung durchaus notwendig sein könne, so seien technische Widersprüche "zur Vermeidung von nicht volkstümlichen Kunstausdrücken in Kauf zu nehmen" 53 . Ähnlich verhält es sich mit den teleologischen und Prinzipien Widersprüchen. Eine "zwingende Notwendigkeit" zu deren Beseitigung liege "nicht durchweg" v o r 5 4 . Anders dagegen bei den Normwidersprüchen im eigentlichen Sinne. Sie ergeben sich dann, wenn entweder ein Verhalten einer bestimmten Art oder ein konkretes Verhalten von derselben Rechtsordnung zugleich als rechtswidrig und rechtmäßig erklärt w i r d 5 5 . Dies kann einmal durch entgegengesetzte Aussprüche innerhalb eines Teilbereichs der Rechtsordnung geschehen, aber auch dann, wenn etwa nach der Strafrechtsordnung ein Verhalten als rechtmäßig anzusehen ist, dasselbe Verhalten aber als privatrechtlich rechtswidrig bewertet werden muß, wenn also verschiedene Teilbereiche der Rechtsordnung entgegengesetzte Rechtswidrigkeitsurteile fallen. Solche Widersprüche können nach Engisch nicht bestehen bleiben und müssen "unter allen Umständen" 56 aufgelöst werden. Engisch greift aber zur Begründung dieser These nicht, wie es Kelsen bis 1934 getan hatte, auf die "logischen Qualitäten" eines Rechtssystems zurück, auch nicht auf die ebenfalls von Kelsen vorgetragene Steuerungsaufgabe des Rechts 57 . Auch unterbleibt bei Engisch die Betonung der Pazifizierungsfunktion des Staates, die in Hellers Augen dem Juristen die lebensnotwendige Verpflichung auferlegt, Widersprüche zwischen Rechtsnormen zu beseitigen 58 . Engisch liefert stattdessen eine von ihm selbst als "ontologisch", mit Bedacht nicht als "logisch" bezeichnete Begründung. Niemand könne, so lautet sein Argument, zugleich eine Handlung bzw. eine Unterlassung und ihr kontradiktorisches Gegenteil "prästieren". Folglich könne 5 0
A.a.O., S.63.
5 1
A.a.O., S.62f. Engisch spricht manchmal statt von Prinzipienwidersprüchen von Wertungswidersprüchen. Es handele sich aber dabei möglicherweise nur um "bloße Gradunterschiede" (a.a.O., S. 64, Fn.2). 52 A.a.O., S.45 und 63. 53 A.a.O., S.45. 54 A.a.O., S.63. 55 A.a.O., S.46. 56 A.a.O., S. 63. 57 S.o. Kapitel C.IV.l. 58 S.o. Kapitel C.V.2.
C. Die Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
188
auch der Wille eines Befehlenden "niemals bewußt darauf zielen, daß "zugleich A und non A sei" 5 9 . Der Grund: Dem Wollen wohne im Unterschied zum Wünschen die "Tendenz nach Realisierung" inne, es könne sich "niemals bewußt auf nicht Realisierbares richten". Nur "unbewußt", infolge eines Irrtums, sei es möglich, daß es "auch objektiv nicht Realisierbares und so auch Widersprechendes zum Inhalt" habe 60 . Daher beruhe das "Dogma (richtiger: Postulat) von der Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung auf der einen Voraussetzung, daß es berechtigt sei, zwar zunächst gültige und ernst gemeinte Imperative doch nicht neben einander aufrecht zu erhalten, wenn sie für klares Bewußtsein als unmögliches beinhaltend nicht ernstlich nebeneinander aufrecht erhalten werden können" 6 1 . Engisch scheint allerdings selbst zu zweifeln, damit wirklich eine "ontologische" Begründung geliefert und nicht das Ideal eines bewußten und vernünftigen Wollens beschworen zu haben. Denn er gesteht ein, daß bei seiner Argumentation dem "realen Gesetzgeber" ein "vernünftiger Gesetzgeber" substituiert werde. Die Erfahrung kann eben nicht ausschließen, daß ein Normsetzer auch etwas Sinnloses setzen will. Engisch macht schließlich keinen Hehl daraus, daß seine Begründung den rechtspositivistischen Rahmen überschreitet und "über das 'Gesetz* hinaus zum 'Rechte* "führt 6 2 . c) Wird die nun so begründete Forderung nach Widerspruchsfreiheit umzusetzen versucht, so ist zwangsläufig nach den Regeln zu fragen, mit deren Hilfe Normenkollisionen eingeebnet werden können. Dabei hat Engisch ziemlich wenig mit den Wiener Autoren gemein, die möglichst harte, aufeinander abgestimmte und aus den Äußerungen der Rechtsordnung selbst geschöpfte Kollisionsregeln zu entwickeln strebten. Engisch ist vielmehr der Auffassung, daß die Regeln der lex specialis, der lex posterior und das Prinzip vom Vorrang des Rechts der höheren Stufe "nur bedingte Geltung" besäßen, selbst miteinander in Kollision geraten könnten und nur eine "lückenhafte Lösung der Probleme" böten 6 3 . Die lex-posterior-Regel verlange, daß man in ihr "wirklich die Äußerung eines auf Änderung des früheren Entschlusses gerichteten Willens erkennen" könne 6 4 . Aber selbst, wenn dies zu bejahen wäre, so bestünde die Möglichkeit, daß die lex-posterior-Regel mit dem Prinzip vom Vorrang der höherrangigeren Norm in Konflikt gerate 65 . Ebenso problem trächtig sei der Umgang mit Widersprüchen, die sich in demselben
5 9
A.a.O., S.54.
6 0
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.55. Engisch schließt sich damit Ehrlich an. Die Vertreter der Freirechtsschule hätten ganz recht, wenn sie immer wieder betonten, daß die Widerspruchslosigkeit, die Einheit der Rechtsordnung, nicht gegeben, sondern höchstens zu schaffen sei (a.a.O., S.55, Fn.l). 6 1
A.a.O., S.55.
6 2
Ebd.
6 3
A.a.O., S.47.
6 4
A.a.O., S.48.
6 5 Ebd. In der Weimarer Zeit gelte zwar der Satz "Reichsrecht bricht Landesrecht", damit sei aber die Frage nicht für überall und für immer beantwortet (a.a.O., S.48f.).
VI. Engischs „Die Einheit der Rechtsordnung" (1935)
189
Gesetzes werk befänden, also zwischen gleichrangigen Normen 6 6 . Engisch plädiert daher bei Normenkollisionen für ein flexibles Lösungskonzept. Falls sich Normen widersprächen, höben sie sich gegenseitig auf. Die so entstandene Lücke sei nach den Regeln der Lückenausfüllung zu behandeln. Wenn die Lückenergänzung nicht wie im Strafrecht verboten sei, so sei "die Bedeutung der widersprechenden Normen gegeneinander" abzuwägen und einer der beiden Normen den Vorzug zu geben 67 . Dementsprechend sei auch an der allgemein für alle Teilbereiche der Rechtsordnung geltenden Rechtswidrigkeit eines Verhaltens festzuhalten und sie "anhand der gesamten Rechtsordnung unter Würdigung und Abwägung aller einschlägigen Interessen und Ausgleichung aller im Gesetz in Erscheinung tretenden Ordnungs- und Wertgesichtspunkte" festzustellen 68 . Diese Formulierung verrät das Motiv für Engischs weiches Konzept. Es erlaubt bei der Lösung von Normenkollisionen möglichst viele materielle Gesichtspunkte zu berücksichtigen. 4. Die Bedeutung der inhaltlichen Einheit der Rechtsordnung für die Rechtsdogmatik
a) Engischs Ausführungen zur inneren Einheit der Rechtsordnung sowie zur Forderung nach ihrer Widerspruchsfreiheit haben schon den Weg vorgezeichnet, auf dem das Verhältnis der Rechtsdogmatik zum Prinzip der Einheit der Rechtsordnung generell zu bestimmen ist. Dieses Prinzip fungiere einmal als "Axiom", und zwar dort, "wo die Einheit bewußt oder versteckt als vorhanden unterstellt und den juristischen Erwägungen zugrunde gelegt" werde. Diese axiologische Funktion trete etwa hervor, wenn Rechtsnormen, wie es schon oben beschrieben wurde, ohne dazu auffordernde Verweisung aus anderen Bereichen der Rechtsordnung "ergänzt" oder "teleologisch aus dem Zusammenhang" ausgelegt werden. Das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung habe aber auch die Bedeutung eines "Postulats", die sich dann zeige, wenn die Einheit zunächst vermißt und erst, wie bei der Überwindung von Widersprüchen oder bei ihrer Verhütung zum Zeitpunkt der Normgebung durch die Legislative selbst, in der juristischen Arbeit hergestellt werde 6 9 . b) Die Einheit der Rechtsordnung steht also bei Engisch einmal als Axiom, sodann als Postulat. Engisch sieht aber noch eine dritte Ebene des Verhältnisses von Rechtsdogmatik und Einheitsprinzip. Es gebe juristische Operationen, in denen beide Funktionen zusammenwirkten. So beruhe die Rechtsfindung durch Analogie, durch ein argumentum a maiori, a minori oder e contrario einerseits auf der Voraussetzung, "daß die in den einzelnen Normen zutage tretenden Gedanken und Prinzipien über ihre besondere Ausprägung hinaus festgehalten sein wollen, daß gleiches gleich zu behandeln ist". Insofern hat 6 6
A.a.O., S.49.
6 7
A.a.O., S.50.
6 8
A.a.O., S.58.
6 9
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.69.
190
C. Die Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
die Einheit der Rechtsordnung eine axiologische Bedeutung. Andererseits leuchte diesen Operationen "aber auch wieder die erst zu aktualisierende normative 'Einheit' als Postulat voran" 7 0 . Es springt ins Auge, daß Engisch hier die Lehre präsentiert, die in Savignys Formel von dem Recht "inwohnenden und zu vollendenden Einheit" enthalten ist. Savigny setzte auch eine Einheit im Sinne der Verwandtschaften und des Zusammenhangs von Rechtsregeln und Rechtsbegriffen als gegeben voraus - insofern konnte er von einer inwohnenden Einheit sprechen, die freilich wegen der zu beobachtenden Widersprüche und Lücken im Rechtsstoff nicht vollständig war. Diese inwohnende Einheit diente Savigny als Legitimation, mittels analogischer Rechtsfindung die Lücken zu füllen und mit Hilfe von Kollisionsregeln Widersprüche zu beseitigen und damit die Einheit zu vollenden 71 . In der gleichen Weise argumentiert Engisch. Auch er trifft die Voraussetzung von "schon gegebenen normativen und teleologischen Bezügen innerhalb der Rechtsordnung selbst, die als Erzeugnis menschlichen Geistes kein amorphes Chaos" sei. Diese Bezüge innerhalb der Rechtsordnung, "der axiologische Zusammenhang der Sollensätze" in Savignys Worten: die "inwohnende Einheit" - ermöglichen und bestimmen den "logischen Zusammenhang der rechtswissenschaftlichen Urteile". Und, dies ist entscheidend, der Inhalt der aufgrund des logischen Zusammenhangs der rechtswissenschaftlichen Gedanken gewonnenen, also durch "Auslegung aus dem Zusammenhang, Analogie, Verallgemeinerungen, Konstruktion" ermittelten Rechtserkenntnisse "wird in die Rechtsordnung selbst als deren innere Einheit projiziert". Die genannten juristischen Operationen wirkten so "den Teppich der einheitlichen Rechtsordnung in stetigem Einsatz der juristischen Kunst" 7 2 . Damit ist der Schritt von der dem Recht "inwohnenden" zu der zu "vollendenden" Einheit getan. "Was die Rechtsordnung implicite birgt, wird von der Rechtserkenntnis explicite entwickelt. So steht alles in Wechselwirkung. Erkenntnis und Gegenstand der Erkenntnis bereichern sich gegenseitig" 7 3 . Obwohl Philipp Heck drei Jahre vor der Veröffentlichung von Engischs Schrift diese auf Savigny zurückgehende Lehre mit triftigen Argumenten kritisiert und das Bestreben der Rechtswissenschaft, ihren Gegenstand, die Rechtsordnung, als Einheit zu erkennen, nur insoweit akzeptiert hatte, "als die Einheit reicht, also gemeinsame Elemente vorhanden sind" 7 4 , unterläßt es Engisch, sich mit den Einwänden Hecks auseinanderzusetzen und sie auszuräumen 75 .
7 0
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.70.
7 1
S.o. Kapitel B.III.4.
7 2
Alle vorstehenden Zitate a.a.O., S.83.
7 3
A.a.O., S.83f.
7 4
S.o., Kapitel C.V.l
7 5
Engisch erwähnt Heck zwar, lobt ihn aber nur wegen seiner Unterscheidung von "innerem" und "äußerem" System (Engisch 1935, S.83, Fn.3).
VI. Engischs „Die Einheit der Rechtsordnung" (1935)
191
5. Zusammenfassung
Vergleicht man abschließend Engischs Einheitskonzept mit den in der Weimarer Zeit formulierten Theoremen der Triepel, Smend und Heller, so ragt Engischs Konzept in mehrfacher Hinsicht hervor. Während Triepel die dogmatische Notwendigkeit der Vorstellung von der Einheit der Rechtsordnung unerörtert ließ, Smend weit ab von den spezifisch juristischen Gehalten des Einheitsproblems auf einer ideal-philosophischen Ebene stehen blieb und Heller es strikt ablehnte, über die soziologische Ebene hinauszugehen und es letztlich bei einem Apell an die Juristen beließ, die Einheit der Rechtsordnung durch normativ-konstruktive Arbeit herzustellen, gelingt Engisch eine tiefere juristische Durchdringung des Problems, die sich durch begriffliche Präzision auszeichnet und dogmatischen Ertrag abwirft. Engisch steht dabei in der von Kelsen und seinen Schülern gegründeten rechtstheoretischen Tradition. Dies zeigt sich vor allem daran, daß er an die Stufenbau- und Grundnormlehre der Wiener Schule anknüpft, um die Vielheit der Rechtsnormen als formale Einheit erklären und begründen zu können, wobei Engisch ergänzend darauf hinweist, daß diese formal begründete Einheit eine unverzichtbare Voraussetzung der systematischen Auslegung ist. Daneben profitierte Engisch von den Erkenntnissen, die die Wiener Autoren bis dahin zu den Kollisionsregeln erarbeitet hatten. Diese Schrift Engischs jedoch als bloße Zusammenfassung der von Kelsen und seinen Schülern vorgelegten Lehren zu bewerten, ergänzt um einige originäre Fortentwicklungen in Detailfragen, hieße wiederum, die essentiellen Differenzen zwischen Engischs Ausführungen und der Sicht der Wiener Schule zu übersehen 76 . So muß das weiche Konzept der Abwägung aller einschlägigen materiellen Gesichtspunkte bei der Glättung von Widersprüchen für Kelsens in jener Zeit noch auf die Möglichkeit einer logischen Begründung der Widerspruchsfreiheit konzentrierten Blick befremdend wirken. Auch Engischs Versuch, das Postulat der Widerspruchsfreiheit in einer letztlich von ihm selbst in Zweifel gezogenen ontologischen Grundlage zu verankern, liegt außerhalb des Bereichs, der durch Kelsens Lehren abgesteckt ist. Der Kern von Engischs Einheitstheorie, ihr zentrales Moment, enthält schließlich eine Wiederholung von Savignys im Jahre 1840 formulierten Konzept einer dem Recht inwohnenden und zu vollendenden Einheit. Auch Engisch spricht sich für eine konstruktive Bearbeitung des Rechtsstoffs aus, deren Legitimation sich aus einer vorausgesetzten materiellen, aber noch 7 6 Engisch hat später sein Verhältnis zur Reinen Rechtslehre auf einer allgemeinen Ebene erklärt. Er lehne Kelsens Relativismus und Nominalismus nicht ab und glaube ebenso wie Kelsen, daß "aus einem Sein kein Sollen logisch abgeleitet werden" könne. Aber dennoch könne er dessen Positivismus nicht mitverfechten. Er halte "die Beeinflussung des Rechts durch die jeweils in Geltung stehenden effektiven moralischen Anschauungen für legitim, die Gründung der Rechtsgeltung auf das Faktum der Anerkennung für wesentlich und die Unterstellung des positiven Rechts unter einem kritischen Maßstab der Gerechtigkeitsidee für unverzichtbar" (1963, S.610). Zu diesen Bekenntnissen Engischs ist zu bemerken, daß Kelsens Theorie eine Kritik des positiv geltenden Rechts von moralischer Warte keinesfalls verbietet, sie aber wie keine andere zunächst zu ermitteln hilft, welche Normen überhaupt als solche des positiven Rechts anzusehen sind. Und: Die Legitimität einer Beeinflussung des geltenden Rechts durch moralische Anschauungen würde Kelsen ebenfalls nicht abstreiten, sofern diese Beeinflussung nicht unter dem vermeintlichen Deckmantel des positiven Rechts daherkäme.
192
C. Die Einheitsformeln in der Staatsrechtswissenschaft
unvollständigen Einheit speist und die gerade auf deren Vollendung hinwirkt. Die Problematik dieses Vorgehens hatte schon einige Jahre zuvor Heck herausgearbeitet, ohne daß Engisch bei der Darlegung seiner Theorie auf die Heckschen Einwände reagiert hätte. Stellt man jedoch die Bedenken gegen einige Annahmen und Folgerungen des darin ausgebreiteten Einheitskonzepts zurück, so muß ihr der nicht zu unterschätzede Verdienst zugesprochen werden, die Problematik der Einheit der Rechtsordnung zum ersten Mal zusammengefaßt und in geschlossener Form einem breiteren wissenschaftlichen Publikum bekannt gemacht zu haben. Engischs Schrift hat neben Kelsens Lehren in ganz entscheidendem Maße dazu beigetragen, daß in der Folgezeit die Rechtswissenschaft ihr Bewußtsein für die Problematik der Einheit der Rechtsordnung schärfte.
D. Resümee und Ausblick a) Die immense Bedeutungsvielfalt, die bei einer rückblickenden Betrachtung der untersuchten Einheitsformeln sichtbar wird, bestätigt die schon eingangs geäußerte Vermutung, daß der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung sicherlich nicht zum gesicherten Bestand rechtsphilosophischer Einsichten gehört 1 . Zwar läßt sich eine begriffs- oder problemgeschichtliche Linie ausmachen, die alle Formeln durchläuft und zusammenhält. Die Rede von der Einheit des Rechts, der systematischen Einheit der positiven Rechtssätze, der Einheit des Rechtsorganismus, des Rechtssystems oder der Rechtsordnung - in welchem terminologischen Gewand diese Rede auch jeweils auftrat - zielte immer darauf, die Vielzahl der dem juristischen Betrachter vorliegenden Rechtsnormen, Rechtssätze oder Rechtsbegriffe als ein in sich zusammenhängendes Gefüge zu erfassen. Die Rückführung der positiven Rechtssätze auf einen höchsten Grundsatz (Thibaut, Kohlschütter), die Forderung nach einer Einheit durch Kodifikation (Thibaut, Gönner), die Lehren, nach denen die Einheit des Rechts in den historischen Quellen (Savigny, Eichhorn, Puchta), im Volksgeist (Puchta), in einer Verbindung von römischem und deutschem, von Volksrecht und Juristenrecht (Beseler) oder im Rechtsorganismus (Jhering) enthalten sei, die These von einer Einheit des Rechts durch einen allgemeinen Teil des Rechts (Merkel), durch den Begriff des Rechts (Stammler) sowie die Begründungen der Einheit des Rechts durch staatlichen Willen (Gerber, Ehrlich, Heller), objektive Wertgesetzlichkeit des Geistes (Smend) oder Grundnorm (Kelsen) - alle diese Theoreme richteten sich auf die Vorstellung eines Zusammenhangs in dem Gegenstand, der als Recht verstanden und bezeichnet wurde. Doch mit dieser Erkenntnis ist nicht viel gewonnen. Die einzelnen Formeln weisen wesentliche Abweichungen auf: manchmal wurde dieser "Zusammenhang im Recht" als ganz, ein anderes Mal als teilweise vorhanden behauptet, häufig wegen der zu beobachtenden Widersprüche und Lücken im Rechtsstoff sogar völlig verneint Berücksichtigt man noch den Dissens, der hinsichtlich der Größe besteht, die diesen Zusammenhang erzeugt und so die gesuchte Einheit stiftet, so wird vor allem eines deutlich: keine der hier zutage geförderten und analysierten Formeln ist mit einer anderen ganz identisch, jede steht in einem ihr eigenen Kontext. Verfehlt wäre aber die daran anknüpfende Forderung, die Einheitsvorstellung ganz zu verabschieden 2. Gewiß, bei einem Teil der erörterten Einheits1
So aber Canaris 1983, S.16; dazu oben Kapitel A.I.2.
2
Vgl. aber Müller 1986, S. 4 und ähnlich Peine, oben Kapitel A.I. Fn. 31.
13 Baldus
194
D. Resümee und Ausblick
konzepte handelt es sich um historische Vorstellungen, die den heutigen Leser anachronistisch anmuten. Dies gilt sowohl für die Einheitsformeln, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den zivilrechüichen Autoren um das Problem eines sich auf ganz Deutschland erstreckenden bürgerlichen Gesetzbuchs rankten sowie für die in der gleichen Zeit in der staatsrechtlichen Literatur zu beobachtenden Versuche, einen Normenbestand zu ermitteln, der alle deutschen Territorien überspannte 3. Und auch die an der Wende zum 19. Jahrhundert aufkommende Idee einer systematischen Einheit der positiven Rechtssätze im Sinne eines bestimmten Formmodells für die wissenschaftliche Ordnung des darzustellenden zivilrechtlichen oder staatsrechtlichen Stoffes hat für das gegenwärtige Rechtsdenken keine Bedeutung mehr 4 . Anders verhält es sich dagegen mit der Problematik, die sich hinter der im ausgehenden Spätkonstitutionalismus und dann vor allem in der Weimarer Zeit auftretenden Rede von der Einheit der Rechtsordnung verbarg 5 . b) Die von Thibaut und Gönner im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verwendete Formel von der Einheit des Rechts durch eine für alle deutschen Territorien geltende privatrechtliche Kodifikation trug die Hoffnung, daß auf diese Weise ein zersplitterter, zusammenhangloser und daher als reformbedürftig angesehener Rechtszustand überwunden werden könne. An dieser Formel hafteten die Eigenheiten eines rechtspolitischen Kampfbegriffs, da sie dazu diente, dem Wunsch nach nationalstaatlicher Einigung zum Ausdruck zu verhelfen. Die Ausarbeitung eines sich auf ganz Deutschland erstreckenden bürgerlichen Gesetzbuchs konnte ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer kulturellen und politischen Einheit Deutschlands sein 6 . Thibauts und Gönners Formel spiegelte aber auch die ökonomischen Umbrüche, die die Auflösung der ständischen Gesellschaft nach sich zog. Den in den Vordergrund tretenden Erfordernissen eines schnellen und reibungslosen Wirtschaftsverkehrs standen juristische Unwägbarkeiten entgegen, die vor allem aus den territorial sehr unterschiedlichen Regelungen gleicher Sachverhalte resultierten. Das traditionelle "gemeine Recht" war aus der Sicht der Kodifikationsbefürworter nicht mehr in der Lage, dem Bedürfnis nach vereinheitlichten Regelungen und neuen Rechtsformen zu entsprechen. Für sie vermochte nur ein für alle deutschen Territorien gültiges Gesetzbuch das Ausmaß an Disparität und Dissonanz im überkommenen Rechtszustand zu verringern und die widerstrebenden Rechtsinhalte zu harmonisieren. Nach ihrer Sicht konnte auf diese Weise der prekäre alte Rechtszustand überwunden und mithin die sich anbahnende gesellschaftliche Entwicklung gefördert werden.
ο 4 5 6
Dazu unten b). Dazu unten c). Dazu unten d) bis f).
Wegen dieser engen Verknüpfung mit der deutschen nationalstaatlichen Entwicklung hält Götz die Formel von der Einheit des Privatrechts oder den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer geläufiger werdenden Begriff der Rechtseinheit (dazu oben Kapitel B.I.l.c)) zur Beschreibung des Prozesses der europäischen Integration für ungeeignet (1994, S.266).
D. Resümee und Ausblick
Die innerhalb der Historischen Rechtsschule vorgelegten Einheitskonzepte stellen sich mit Ausnahme jenes von Beseler als Versuche dar, diese Forderung nach einer kodifikatorischen Einheit des Rechts abzuwehren. Die Einheit des Rechts brauchte nicht hergestellt zu werden, sie war entweder in den historischen Quellen (Savigny 1815), dem Volksgeist (Puchta) oder im Organismus des Rechts (Jhering) schon enthalten und von der Rechtswissenschaft nur sichtbar zu machen. Falls diese These eingeschränkt und damit zugestanden wurde, daß jene Einheit nicht vollständig, sondern nur graduell vorhanden war (Savigny 1840), fiel es nach jenen Rechtstheorien in die Kompetenz der Juristen, das fehlende Maß an Einheit herzustellen. Die Auseinandersetzung um eine kodifikatorisch oder historisch, durch Volksgeist oder Rechtsorganismus begründete Einheit erlosch aber in dem Augenblick, in dem auch die rechtspolitische Lage entfiel, die sie entfacht und genährt hatte. Die Forcierung der gesetzgeberischen Maßnahmen, die mit der Reichsgründung einsetzte und ihren Höhepunkt mit dem Inkrafttreten des BGB erlebte, beendete jene Diskussion um die Einheit des Rechts. Ähnlich erging es dem Gedanken einer zu bildenden Einheit aller deutschen Territorialstaatsrechte, der sich hinsichtlich Funktion, Entstehungsbedingungen und weiterem Schicksal mit der Frage nach einer Einheit des Privatrechts deckte. Auch die in der Staatsrechtswissenschaft verwendete Einheitsformel sollte den Weg zur Überwindung des staatlichen und damit rechtlichen Partikularismus weisen und so das Bewußtsein der nationalen Einheit Deutschlands stärken, ja, der Errichtung eines deutschen Nationalstaates vorarbeiten. Und ebenso wie mit der Reichsgründung die Diskussion um die Begründung der Einheit des deutschen Privatrechts nach und nach ihren Gegenstand verlor, erübrigte sich gleichzeitig auch die Frage nach einer Einheit des gemeinen deutschen Staatsrechts. c) Gegenüber der Rede von der Einheit des deutschen Privat- oder gemeinen deutschen Staatsrechts weist die Formel von der systematischen Einheit der positiven Rechtssätze zwar eine längere Geschichte auf, ihre Relevanz für das Rechtsdenken der Gegenwart ist aber gleichermaßen gering. Sie trat an der Wende zum 19. Jahrhundert auf und betraf nicht die Eigenschaft des positiven Rechts selbst, sondern die Art seiner wissenschaftlichen Darstellung. Systematische Einheit der positiven Rechtssätze meinte ein Formmodell für die Erstellung eines rechtswissenschaftlichen Systems, das eine größtmögliche Ordnung des Stoffes versprach. Wenn es gelang, die Inhalte der positiven Rechtssätze auf einen inhaltlich bestimmten obersten Grundsatz zurückzuführen, die Menge der Aussagen über das positive Recht damit zu begrenzen und diese Aussagen durch ihren Bezug zu jenem höchsten Grundsatz miteinander zu verbinden, so war eine überzeugende Ordnung der Rechtssätze erreicht. Dieses Streben nach einer allumfassenden Strukturierung des Stoffes entsprach dem in der Zeit um 1800 herrschenden kantianischen Wissenschaftskriterium, das in seinen letzten Wurzeln noch der Wissenschaftseuphorie des 18.Jahrhunderts verpflichtet war. Nur dann sollte eine ordnende Tätigkeit das Prädikat der Wissenschaft verdienen, wenn alle Erkenntnisse aus einer höchsten Idee oder einem einzigen Zweck deduzierbar waren. Eine so erreichte
196
D. Resümee und Ausblick
Ordnung des Stoffes kam aber auch dem Bedürfnis entgegen, den überkommenen zersplitterten Rechtszustand zu überwinden. Eine auf strenger Systematik beruhende Ordnung bot die Möglichkeit eines sichereren Umgangs mit dem Rechtsstoff in einer von erheblichen sozialen und politischen Veränderungen geprägten Zeit. Die hier untersuchten Autoren erwogen dabei, diesen Zusammenhang durch die Rückführung der Inhalte des positiven Rechts auf einen material gefüllten obersten Grundsatz, auf ein höchstes Prinzip zu erreichen. Sie erkannten dabei aber sogleich die Schwierigkeit, einen solchen höchsten Grundsatz zu ermitteln, von dem sich ein naturgemäß vielschichtiger und vielgestaltiger Rechtsinhalt einschränkungslos ableiten ließ. Dieser Grundsatz mußte zwangsläufig so abstrakt geraten, daß sich jeder zunächst noch material faßbare Kern bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigte. In dieser Lage blieben zwei Möglichkeiten: entweder gab man sich damit zufrieden, den Inhalt des positiven Rechts auf mehrere, möglichst wenige Grundsätze zurückzuführen. Diesen Weg gingen die Autoren, die sich um 1800 mit der Möglichkeit der systematischen Einheit eines wissenschaftlichen, auf das positive Recht bezogenen Systems auseinandersetzten. Oder aber man hielt das Ziel eines einzigen obersten Grundsatzes bei, suchte diesen Grundsatz aber nicht inhaltlich, sondern formal zu bestimmen. Diesen Schritt unternahmen in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts Gerber und zu Beginn des 20.Jahrhunderts Stammler. Vor allem in Stammlers Werk erlebte das kantianische Wissenschaftsideal einer "Einheit mannigfaltiger Erkenntnisse" noch einmal eine späte, insgesamt aber resonanzschwache Nachblüte. Heute versteigt sich niemand mehr zu der These, Jurisprudenz sei erst dann Wissenschaft, wenn sie imstande sei, alle ihre Erkenntnisse aus einem einzigen Gedanken oder Grundsatz zu deduzieren. Zwar finden sich noch Autoren, die Einheit auch als Merkmal des juristischen Systembegriffs auffassen. Sie sehen dieses Merkmal aber schon dann als gegeben an, wenn das Mannigfaltige auf "einige wenige Grundgedanken" zurückgeleitet werden kann 7 . Es sei für ein System nicht erforderlich, "alle Rechtsnormen auf einen einzigen Rechtsgedanken zurückzuführen" 8 . d) Für das gegenwärtige Rechtsdenken bedeutend sind hingegen die Problemstellungen und Lösungsansätze, die die im Spätkonstitutionalismus und vor allem in der Weimarer Republik verwendete Einheitsformel erfaßte. Die Debatte um diese Vorstellung einer Einheit der Rechtsordnung wurde maßgeblich von Hans Kelsen ausgelöst. Er griff das von Gerber entwickelte und von Jellinek weitergetragene Theorem vom einheitlichen Willen des Staates 7 8
Canaris 1969, S.46; vgl. auch S.59.
Canaris a.a.O., S.76. Allerdings begründet Canaris seine Auffassung mit dem Hinweis auf die Systembegriffe von Kant, Eisler, Savigny, Stammler, Binder, Hegler, Stoll und Coing. Einheit werde bei allen genannten Autoren als Merkmal des Systembegriffs gebraucht (a.a.O., S. 12). Dabei entgeht Canaris das Spezifische von Kants Systembegriff, dessen Essentiale gerade in der Rückführung einer Vielzahl von Erkenntnissen a i i einen einzigen obersten Zweck, oder eine oberste Gattungen besteht (s.o. Kapitel B.I.3.b).
D. Resümee und Ausblick
auf und fragte, wie eben dieser Wille zu denken sei. Eine solche Fragestellung sah sich aber sogleich mit mehreren Problemen konfrontiert. Wie konnte eine Einheit dieses Willens angenommen und bejaht werden, wenn die Rechtsordnung, die nach Kelsen mit diesem Willen identisch war, überall Normenwidersprüche und Lücken erkennen ließ? Dieses Problem einer inhaltlichen Einheit der Rechtsordnung, also das ihrer Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit, führte geradewegs zu einer weiteren anspruchsvollen Thematik. Denn erst wenn geklärt war, ob zwei miteinander kollidierende Rechtsnormen überhaupt zu einer und derselben Rechtsordnung gehörten, bestand die Notwendigkeit, eine Regel für die Auflösung einer Normenkollision zu entwikkeln. Ebenso setzte die Lösung des Lückenproblems die Feststellung voraus, welche Normen zu einer bestimmten Rechtsordnung zu zählen waren. Erst wenn die Menge der zu einer Rechtsordnung gehörenden Rechtsnormen feststand, konnte geprüft werden, ob diese Rechtsordnung überhaupt eine Lücke aufwies. Es ist sicher kein Zufall, daß die Problematik der Einheit des staatlichen Willens und damit die der eben beschriebenen Einheit der Rechtsordnung im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts auf einem bisher noch nicht erreichten Niveau diskutiert wurde. Sicherlich wurde sich die Rechtswissenschaft nicht zum ersten Mal in dieser Zeit des Problems der Normenkollisionen oder Lücken bewußt. Auch schon zu wesentlich früheren Zeiten wurde versucht, umgrenzte Normenkomplexe, etwa die justinianischen Rechtsbücher, als in sich zusammenhängende Gebilde zu deuten, sie harmonisierend auszulegen und so als widerspruchsfreie und lückenlose Systeme zu konstruieren. Aber dieses Problem gewann zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts eine ganz neue Intensität. Soziale Klassengegensätze im Spätkonstitutionalismus, Revolutionserfahrungen beim Übergang von der Monarchie zur Republik, eine Vielzahl von höchsten, sich wechselseitig blockierenden Entscheidungsträgern in der Weimarer Zeit, verbunden mit einem gleichzeitig herrschenden, in aller Schärfe ausgetragenen weltanschaulichen Pluralismus und wiederum ein revolutionärer Umbruch bei der Beseitigung der Republik durch die Diktatur - diese Momente ließen die Vorstellung eines einheitlichen staatlichen Willens als Fiktion erscheinen und damit die Versuche fragwürdig werden, die Einheit der Rechtsordnung durch Rückbezug der Rechtsnormen auf diesen staatlichen Willen zu denken. Genährt wurde diese Fragwürdigkeit zudem von Rechtstheorien, die die gesellschaftliche Bedingtheit des Rechts in den Vordergrund ihres Denkens stellten. Wenn Heterogenität die sozialen und politischen Verhältnisse kennzeichnete und das Recht diesen Zustand auf einer anderen Ebene nur reproduzierte, so konnte auch aus dieser Perspektive die Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchsfreiheit und Lükkenlosigkeit nur eine Chimäre sein. Aber auch die Erarbeitung einer Theorie, mit der die Grenzen einer bestimmten Rechtsordnung und damit die zu ihr gehörenden Rechtsnormen fixiert werden können, stellte sich in jener Zeit als besonders dringliches Problem. Abgesehen davon, daß die Existenz von Nationalstaaten nach einem Kriterium verlangte, das verschiedene nationalstaatliche Rechtsordnungen
198
D. Resümee und Ausblick
voneinander abzugrenzen erlaubte, forderte vor allem die juristische Verarbeitung revolutionärer Veränderungen die Unterscheidung zwischen vor- und nachrevolutionärer Rechtsordnung. Eine Kollision zwischen einer Norm, die der vorrevolutionären Rechtsordnung angehörte und einer Norm, die vom revolutionären Gesetzgeber erlassen wurde, konnte unaufgelöst bleiben, da die kollidierende ältere Rechtsnorm nicht mehr zur neuen revolutionären Rechtsordnung zählte. Auch die Lückenfrage war in einer revolutionären Situation ein Problem mit besonderem Gewicht. "Akute Einbrüche durch Revolutionen"(Smend) haben oft zur Folge, daß in großem Umfang Normen des alten Regimes ihre Geltung verlieren, ohne daß sogleich neue Normen an ihre Stelle treten. Beide Bedeutungen der Einheitsformel, sowohl die Einheit der Rechtsordnung im Sinne einer Theorie zur Identifizierung und Abgrenzung einer Rechtsordnung wie auch die Einheit der Rechtsordnung im Sinne von Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit, können als Symptome der in jener Zeit aufbrechenden Krise politisch-sozialer Homogenität und staatlicher Kontinuität begriffen werden. Die in diesen Formeln enthaltenen Fragen forderten die Weimarer Autoren heraus, im Bereich des Rechts nach einer Einheit zu suchen, die auf der Ebene von Staat und Gesellschaft längst verloren war. Diese Fragen interessieren aber nicht allein als historische Phänomene. Sie führen mitten hinein in unsere Zeit. e) Auch heute noch ist zu unterscheiden zwischen verschiedenen nationalen oder zwischen vor- und nachrevolutionären Rechtsordnungen, aber auch, wie in Europa, zwischen einer nationalen und supranationalen Rechtsordnung, so daß die Notwendigkeit eines Abgrenzungskriteriums weiter besteht. Erst wenn sicher ist, welche Rechtsnormen überhaupt zu einer Rechtsordnung gehören, kann festgestellt werden, ob diese Rechtsordnung lückenhaft oder in ihr eine Normenkollision aufzulösen ist, ja, welche Normen bei der Entscheidung eines Rechtsfalles überhaupt heranzuziehen sind. In der aktuellen Literatur, die sich den Grundfragen der Rechtsdogmatik widmet, wird dies deutlich gesehen9. Dabei scheint sich die Einsicht durchzusetzen, daß "nicht mehr die inhaltliche Richtigkeit oder Vernünftigkeit, nicht die Übereinstimmung mit einem höchsten Prinzip, einem höchsten moralischen Wert oder einer höchsten Idee" die Einheit der Rechtsordnung fundiert 1 0 . Ja, selbst wenn ein solches höchstes Prinzip, auf das sich eine Vielzahl von Rechtsnormen zurückführen ließe, doch auffindbar wäre, so könnte es die ihm zugedachte Abgrenzungsfunktion kaum erfüllen. Es müßte so allgemein formuliert werden, daß es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in anderen, zu
9 So etwa jüngst bei Bockel, der eine Reihe von "allgemeinen" und "normierten" Kollisionsregeln aufstellt (1993, S.24ff.) und dann bemerkt, daß diese Regeln aber nur dann angewendet werden können, "wenn die verschiedenen sich widersprechenden Nonnen einer Gesamtrechtsordnung angehören" (a.a.O., S.30). Dies erinnert an Kelsens Erkenntnis im Jahre 1914 (dazu oben C.IV.2.). S.a. Wengler 1953, S.719ff. 1 0
Krawietz
1985, S.277.
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anderen Zeiten oder in anderen Räumen geltenden Rechtsordnungen anzutreffen wäre. Aus diesem Grunde verdient Kelsens formale Theorie einer identitätsstiftenden Einheit der Rechtsordnung immer noch Beachtung 11 . Die Leistungsfähigkeit seiner Lehre, nach der eine Grundnorm das gesuchte einheitserzeugende Element liefert, hängt aber entscheidend davon ab, daß diese Grundnorm als Deutungsschema eines empirischen Sachverhalts verstanden wird. Sie kann dann Bezugspunkt einer Vielzahl von Rechtsnormen, die in einem als Stufenbau gedachten Geltungszusammenhang stehen, sein und damit die Einheit einer Rechtsordung konstituieren, wenn sie auf einer Analyse tatsächlichen Verhaltens von Menschen beruht 12 . Kann aufgrund einer solchen Analyse eine Grundnorm ermittelt werden, auf die als letzter Bezugspunkt eine Vielzahl von Rechtsnormen zurückleitbar sind, dann erhält auch die Aussage Sinn, daß eine bestimmte Rechtsordnung eine Einheit ist. Diese Einheit der Rechtsordnung bedeutet ein Axiom der Rechtsbearbeitung, eine Annahme, die getroffen werden muß, um eine Rechtsordnung identifizieren und sie von anderen Rechtsordnungen abgrenzen zu können. 0 Diese Einheit ist strikt von der Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit zu unterscheiden. Hierbei handelt es sich nicht um ein axiomatisches und formales Theorem, das bei jeder juristischen Operation notwendigerweise vorauszusetzen i s t 1 3 . Angesichts der Erfahrungen von kollidierenden und fehlenden Normen kann diese Einheitsformel nur ein Postulat sein, ein staatstheoretisch begründbares Postulat, das an eine zuvor identifizierte und abgegrenzte Rechtsordnung zu richten ist. Die Einheit der Rechtsordnung im Sinne ihrer Lückenlosigkeit und Widerspruchsfreiheit betrifft den Inhalt von Rechtsnormen einer bestimmten Rechtsordnung. Die staatstheoretische Begründung dieses Postulats der inhaltlichen Einheit der Rechtsordnung hat vor allem Hermann Heller in einer noch heute gültigen Weise formuliert. Die dem neuzeitlichen Staat übertragene Aufgabe innerer Befriedung fordert zum einen Lückenlosigkeit der Rechtsordnung, weil grundsätzlich jede gewaltsame Selbsthilfe zu unterbinden ist und dies am ehesten dann gelingt, wenn Rechtsnormen alle denkbaren Konflikte antizipieren. Zum anderen verlangt die Befriedungsfunktion des Staates Widerspruchs11 Bockel versucht dagegen ein Kriterium zur Bestimmung der Identität einer Rechtsordnung dadurch zu gewinnen, daß er eine Rechtsordnung definiert als "alle Rechtsquellen eines in sich geschlossenen Rechtssystems, also etwa eines Staates oder einer außerstaatlichen oder zwischenstaatlichen Einrichtung" (1993, S.90). Dabei handelt es sich aber um eine Tautologie, die nicht weiter hilft. Zur Kritik an Bockel darüberhinaus: Baläus (1994). 1 2 Dies ist entgegen der Auffassung von EckhofflSundby möglich, wie oben in Kapitel C.IV.3.a) und b) gezeigt wurde. Hier an diesem Ort kann aber nicht mehr diskutiert werden, ob Kelsens Ansatz noch präzisiert und weiterentwickelt werden sollte und ob die Ansätze von Bulygin (1991, 103) oder Krawietz (1985, S.277) sinnvolle Korrekturen dieses Ansatzes darstellen. Diese Fragen erforderten eine weitere monographische Bearbeitung, wären eine solche aber auch wert. 1 3 Dies wird selten präzise auseinandergehalten; vgl. statt vieler Renck 1970, S.770; März 1989, S.101.
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freihcit der Rechtsordnung, weil Widersprüche der Rechtsnormen eine die Herrschaftseinheit des Staates bedrohende tatsächliche Unordnung bedeuten würden. Lückenlosigkeit und Widerspruchsfreiheit sind mithin Ausfluß der staatlichen Aufgabe, menschliches Verhalten durch unmißverständliche und letztverbindliche Entscheidungen zu steuern 14 . Zwar ist die Befürchtung unbegründet, Kollisionen und Lücken innerhalb der Rechtsordnung sprengten sogleich das Ganze der Herrschaftsordnung. Gesellschaftliche Teilbereiche mögen sogar unter besonders günstigen Umständen und im Falle großer Konsensbereitschaft in der Lage sein, autonome, nicht-staatliche Konfliktlösungen herbeizuführen. Fehlende oder widersprüchliche staatliche Normen führen jedoch erfahrungsgemäß zu sozialen Verhältnissen, in denen sich die Individuen und Gruppen durchsetzen, die das größte Potential an rechtlich ungebundener wirtschaftlicher oder physischer Macht aktualisieren können 15 . g) Man mag über das so begründete Postulat der Einheit der Rechtsordnung noch hinausgehen und aus der staatlichen Befriedungs- und Integrationsfunktion auch die Forderung nach einem möglichst hohen Maß an materieller Gleichheit innerhalb einer Rechtsordnung ableiten. Dies geschieht etwa, wenn aufgrund der Einheitsformel die Errichtung höchstrichterlicher Gerichte zum Zwecke der Rechtsvereinheitlichung verlangt wird; aber auch dann, wenn diese Formel als Argument dient, um Strukturen und Wertungen eines Teilbereichs der Rechtsordnung in ein anderes Teilgebiet zu übertragen, wortlautgleiche juristische Ausdrücke in allen Verwendungszusammenhängen bedeutungskonstant einzusetzen oder das Urteil der Rechtswidrigkeit nie ohne Beachtung aller einschlägigen Teilbereiche einer Rechtsordnung zu fällen 1 6 . Doch dabei wird regelmäßig verkannt, daß die Berufung auf die Formel von der Einheit der Rechtsordnung allein noch keine zwingende dogmatische Lösung dieser und anderer 17 Probleme präsentiert. Dazu sind spezifische, den einzelnen Problemen angemessene dogmatische Theorien zu entwickeln, bei denen die Forderung nach möglichst einheitlichen, gleichen Strukturen und Wertungen innerhalb der Rechtsordnung allenfalls ein Gesichtspunkt unter mehreren anderen darstellt 18 .
1 Gewiß ist auch denkbar, daß ein staatlicher Normsetzer das Interesse haben kann, Verwirrung zu stiften oder im Fall konfligierender Strafnormen den Willen, den Normadressaten auf jeden Fall zu bestrafen (vgl. Weinberger 1986, S.31 f.). Doch solche Zwecke werden von der Rechtserfahrung in der Regel nicht bestätigt, und wenn doch, so nur in einem solchen Ausmaß, daß sie für eine theoretische Betrachtung eine quantité négligeable darstellen. Zum Problem auch Wiederin (1990, S.316). 1 5 Die hier erörterte Einheit der Rechtsordnung ist mithin eine Funktion des Staates. Dies wird nicht deutlich, wenn man wie Summers (1994, 76) die "systemische Kohärenz und Einheit des Rechts" bloß als "Desiderat" bezeichnet. Präziser dagegen schon Neuner (1992, S.l27). 1 6
Zu diesen Problemen oben Kapitel A.I.
1 7
Wie etwa das der verfassungskonformen Auslegung (dazu ebenfalls oben Kapitel A.I.).
1X
So wäre etwa beim Problem der Bedeutungskonstanz juristischer Ausdrücke zu bedenken, ob juristische Termini nicht als funktionale Gebilde aufgefaßt werden müssen, die immer an ein bestimmtes und begrenztes Bezugssystem gebunden sind, das ihren von Fall zu Fall verschiedenen Sinn bestimmt. Dazu Ryu/Silving 1973, S.63,68; auch Engisch 1935, S.45 und Würtenberger 1966, S.22.
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Wie sehr die Lösung des jeweiligen Problems von zusätzlichen Prämissen abhängt, die mit der schlichten Verweisung auf das Postulat der Einheit der Rechtsordnung längst noch nicht geklärt sind, wird besonders deutlich bei der Frage nach der Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit der Rechtsordnung. Die dem Staat zugedachte Funktion innerer Befriedung läßt deren Notwendigkeit zwar unmittelbar einleuchten, sie präjudiziell aber noch nicht die Regeln und Verfahren, mit denen Kollisionen aufzulösen und Lücken zu schließen sind. Vielmehr sind hierzu weitere dogmatisch-theoretische Annahmen erforderlich. So ist zu klären, ob der Analogieschluß oder die Anwendung der herkömmlichen Kollisionsregeln wie der lex-superior-, der lexposterior- oder der lex-specialis-Grundsatz schon dadurch ausreichend legitimiert ist, daß der Rechtswissenschaft als "letzte(m) Asyl des Rechts" die Aufgabe zugewiesen wird, "die in dem Übermaß der gesetzlichen Setzungen verlorengehende Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts selbst zu wahren" 19 und zwar deswegen, weil Juristen als Diener und Vollstrecker einer objektiven Wertgesetzlichkeit des Geistes (Smend) oder eines Volksgeistes im Sinne Puchtas eine vorgegebene, schon vor jeder Bearbeitung im Rechtsstoff enthaltene Einheit nur sichtbar machen müssen. Wer diese spekulativ-idealistischen Ansätze zur Rechtfertigung des Juristen, mittels der traditionellen Instrumentarien Lücken zu füllen oder Widersprüche zu eliminieren, ablehnt und statt dessen hofft, sich an den Rettungsanker der Logik klammern zu können, wird gleichfalls in Bedrängnis geraten. Denn die Annahme, bei einer Lücke sei die analoge Anwendung einer Rechtsnorm wegen der "logischen Expansionskraft des Rechts" 20 gerechtfertigt, entspringt ebensosehr rechtspolitisch oder moralisch motivierten Wünschen wie die Prämisse einer organischen Ergänzung des positiven Rechts "aus sich selbst" (Savigny) 21 . Nicht anders verhält es sich im übrigen mit der Lückcnschließung durch Rückgriffe auf Naturrechtssätze, die "Natur der Sache" (Reyscher) oder ein "vom Volke unmittelbar erzeugtes Recht" (Beseler) 22 . Ebensowenig zeigt die Logik einen Ausweg aus dem Problem der Normenkollisionen. Ihre Gesetze sind auf kollidierende Normen nicht anwendbar, da der Satz vom Widerspruch allein die Ungültigkeit einer der beiden Normen nicht begründen kann* 3 . 1 9 Schmitt, 1943/44, S.408, sich dabei auf Savigny berufend. In diesem Lösungsansatz, für den der Nachweis positivierter Kollisionsregeln kein Problem zu sein scheint, ist sich wohl auch Jakobs mit Schmitt einig (vgl. 1992, S.74-76), so sehr sich Jakobs sonst auch von Schmitts Etatismus und Lebenslauf als zutiefst angewidert zeigt. Letzteres illustrieren Jakobs Bemerkungen in: 1988, S . l l 16. 2 0
Bergbohm 1892, S.353.
2 1
S.o. Kapitel B.II.2.
2 2
Dazu Rückert 1988, S.65f.
2 3
Schlink 1971/72, S.35: "A priciple of contradiction (Satz vom Widerspruch) must be part of a legal system if it is to be valid in the argumentation with its norms"; Berkemann 1974, S.184; Kelsen 1979, S.168; Weinberger 1981a, S.lOOf.; 1982, S.116; 1989, S.258: „Die Logik kann den Widerspruch nur feststellen, nicht beheben"; Wiederin 1990, S. 313f. Natürlich kann auch nicht einfach aus dem Willkürverbot (so aber Canaris 1969, S. 124) oder aus der Steuerungsfunktion des Rechts (so jedoch Peine 1983, S.lOOf.) auf die Ungültigkeit von Normen geschlossen werden.
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Für einen strengen rechtspositivistischen Ansatz steht dagegen außer Zweifel, daß eine Rechtsnorm nur dann erzeugt werden darf, wenn die Rechtsordnung selbst dazu ermächtigt. Eine Rechtsordnung kann daher nur in dem Sinne als lückenlos verstanden werden, als sie die Fälle, die sie regeln will, auch tatsächlich aufgenommen hat 2 4 . Wenn eine Ermächtigung zur Schließung der Lücke fehlt, so muß sie eben offen bleiben 25 . Dem Rechtsverweigerungsverbot widerspricht dies nicht, da eine Prozeßpartei auch durch eine inhaltlich abschlägige, aber prozessual korrekte Entscheidung eine Antwort aus dem geltenden Recht erhält 2 6 . Im Falle einer Normenkollision erfordert dieser Ansatz ebenfalls, daß eine Rechtsordnung selbst zur Aufhebung einer der beiden konfligierenden Normen ermächtigen muß, falls zuvor eine kollisionsvermeidende Interpretation nicht möglich w a r 2 7 . Sie muß demnach selbst die Regeln zur Auflösung von Normenkollisionen bereithalten 28 . Zum Teil ist dies der Fall bei Vorschriften, die ein Verfahren institutionalisieren, in dem unterrangige Normen an höherrangigen Normen gemessen und aufgehoben werden können, so bei gesetzwidrigen Verordnungen, Verwaltungsakten oder Urteilen oder verfassungswidrigen einfachen Gesetzen. Demgegenüber werden die Kollisionsregeln vom Vorrang der lex specialis oder der lex posterior in der Regel nicht unmittelbar durch eine Rechtsnorm angeordnet. Doch kann die positivrechtliche Qualität des lex-specialis-Grundsatzes etwa aus der Existenz der spezielleren Norm selbst abgeleitet werden: wenn der Normsetzer schon den speziellen Fall regeln wollte, so ist darauf zu schließen, daß nach seinem Willen die allgemeinere Norm hinter die speziellere Norm zurücktreten, dieser Anwendungsvorrang eingeräumt werden sollte. Ähnlich läßt sich der lex-posteriorGrundsatz als Ausdruck positiven Rechts begründen. Die von der Rechtsordnung eingeräumte Kompetenz, überhaupt Normen zu erlassen, impliziert, daß
2 4 Kelsen I960, S.251ff.; 1979, S.106ff.,268f. Langhein ist in seiner historischen Studie über das "Prinzip der Analogie als juristische Methode" der Ansicht, daß die Kritik Kelsens an der Lückentheorie bislang nicht überzeugend widerlegt worden sei (1992, S.l22).
«
Kaum überzeugend ist der Vorschlag Neuners, in einem solchen Fall auf Art. 20 Abs.3 GG zurückzugreifen: die Bindung des Richters an das "Recht" ermächtige ihn, das positive Recht nach materialen Gerechtigkeitskriterien zu ergänzen (1992, S.67). Selbst wenn man diese Deutung des Art. 20 Abs.3 GG akzeptierte, hilft dieser Vorschlag wenig, solange es an materialen Gerechtigkeitskriterien fehlt, die allgemeine Geltung beanpruchen können. 2 6 2 7
Müller 1986, S.2.
Berkemann 1974, S.l83, 189; Kelsen 1979, S.l69, dazu oben Kapitel C.IV.3; Weinberger 1982, S.l 16; Paulson 1980, S.504; Walter 1980, S. 304; 1993, S.719; Wiederin 1990, S.328. Ohne weiterführende Begründung behauptet Dworkin noch, daß dann, wenn zwei Regeln miteinander in Konflikt stehen, eine von ihnen keine gültige Regel sein könne (1984, S.62). 98 Δ In der gegenwärtigen Rechtsdogmatik wird dies nicht immer für erforderlich gehalten, wie bei Laubinger (1985, S.208 m.w.N.) zu erkennen ist. Anders aber jüngst Bockel, der davon auszugehen scheint, daß die "allgemeinen Kollisionsregeln" "vom ausdrücklichen oder doch zumindest konkludenten Willen des Gesetzgebers abhängig" zu machen sind (a.a.O., S.26). Es reicht allerdings nicht, wie Schreiber (1962, S.92ff.) meint, die Gesetze der Logik inklusive des Satzes vom Widerspruch, aus Art. 20 III GG abzuleiten. Denn dann bleibt immer noch zu klären, mit welchen Gesetzen der Logik im konkreten Fall die Normenkollision aufzulösen ist, welche Norm also Vorrang haben soll. Dazu schweigt Art.20 III GG.
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die aufgrund dieser Kompetenz erlassenen Normen Geltungsvorrang vor den entgegenstehenden gleichrangigen älteren Normen genießen 29 . Damit sind freilich nicht alle Fragen beantwortet, die die Auffassung von der Notwendigkeit einer positiv-rechtlichen Befugnis zur Kollisionslösung und Lückenschließung aufwirft. So bleiben etwa Zweifel, ob der bloße Hinweis auf das Fehlen einer Norm in einem konkreten Fall auch dann ausreicht, wenn die daraus folgende Bejahung eines rechtsfreien Raumes dem Gerechtigkeitsempfinden in einem unerträglichen Maße widerspricht. Weiterhin problematisch ist auch der Fall, daß zwei konfligierende ranggleiche Normen gleichzeitig in Kraft treten. Zum Verhältnis des lex-specialis-Qrundsatzes zur lex-posterior-Regel ist das letzte Wort ebenfalls noch nicht gesprochen: genießt eine speziellere Norm immer Vorrang oder lassen sich auch Fälle denken, in denen sie hinter eine gleichrangige allgemeinere, aber jüngere Norm zurücktreten muß. Schließlich ist nicht ausgeschlossen, daß der Ausbau einer gegenüber den nationalen Rechtsordnungen selbständigen, aber gleichfalls mit ihnen eng verzahnten supranationalen Rechtsordnung wie die der Europäischen Union immer zahlreichere, vielleicht aber auch neuartige Kollisionsprobleme nach sich zieht, die mit den herkömmlichen Regeln nicht mehr angemessen gelöst werden können. Auf diese Fragen ist hier nicht mehr einzugehen. Doch eine Rechtsdogmatik, die um die Notwendigkeit der rechtstheoretischen Fundierung und Vergewisserung weiß, wird sich ihrer auch in Zukunft annehmen.
^ Nicht einzusehen ist daher Neuners These, daß "die Anwendung des lex-posteriorGrundsatzes nur(!) auf einer staatstheoretischen Metaebene begründbar ist" (1992, S.128).
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