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German Pages [317] Year 2013
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Max Gottschlich (Hg.)
Die drei Revolutionen der Denkart Systematische Beiträge zum Denken von Bruno Liebrucks
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495998496
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Max Gottschlich (Hg.) Die drei Revolutionen der Denkart
ALBER PHILOSOPHIE
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Über dieses Buch: Bruno Liebrucks hat eine eigenständige, an Vico, Herder, Hamann, Humboldt und Cassirer anknüpfende »Philosophie von der Sprache her« entwickelt, welche Sprache als Medium der Welterschließung begreift. Zu dieser gelangt er durch eine fundamentalphilosophische Auseinandersetzung mit jenen drei Revolutionierungen im Denken des Denkens, die mit den Namen Platon, Kant und Hegel verknüpft sind. Die Beiträge des Bandes gehen diesen »Revolutionen der Denkart« nach und entfalten grundlegende Perspektiven, die sich von Liebrucks her für das Verständnis der Logik, der Philosophischen Anthropologie, der Ethik und Politischen Philosophie, der Kunstphilosophie sowie der Philosophischen Theologie ergeben. Die Autoren sind: Leo Dorner, Max Gottschlich, Thomas Sören Hoffmann, Klaus Honrath, Simone Liedtke, Theodoros Penolidis, Brigitte Scheer, Werner Schmitt, Josef Simon, Maria Woschnak, Werner Woschnak und Fritz Zimbrich.
Über den Herausgeber: Max Gottschlich ist Assistent für Philosophie am Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz.
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Max Gottschlich (Hg.)
Die drei Revolutionen der Denkart Systematische Beiträge zum Denken von Bruno Liebrucks
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch den Bischöflichen Fonds der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: CPI buch bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48618-4
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Systematische Grundlagen Theodoros Penolidis
Zu Liebrucks’ Interpretation des späten Platon . . . . . . . .
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Max Gottschlich
Transzendentalphilosophie und Dialektik . . . . . . . . . . .
42
Klaus Honrath
Bruno Liebrucks und Immanuel Kant: Die Logik, das Geld des Geistes und die (praktische) Vernunft im Leben des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
Thomas Sören Hoffmann
Die Betrachtung der Kategorien an ihnen selbst und die Sprache. Zu Liebrucks’ Deutung der Hegelschen Logik . . . . 112 Fritz Zimbrich
»Die Götter Hölderlins wohnen im Hegelschen Begriff«. Versuch einer Beschreibung dieser göttlichen Wohnstätte . . 132 Werner Schmitt
Liebrucks’ Umwege zu Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . 144
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Inhalt
II. Anthropologie und Praktische Philosophie Werner Woschnak
Liebrucks’ Interpretation von Herder und Gehlen . . . . . . 171 Maria Woschnak
»Handle sprachlich« – Zur Ethik bei Bruno Liebrucks
. . . . 201
Leo Dorner
Zur Politischen Philosophie bei Liebrucks . . . . . . . . . . . 221
III. Kunst, Religion und Philosophie Brigitte Scheer
Bruno Liebrucks’ Konzeption der Sprachlichkeit der Künste unter besonderer Berücksichtigung der bildenden Kunst . . . 239 Simone Liedtke
Freiheit als Marionette Gottes. Eine Untersuchung über den Gottesbegriff im Werk von Bruno Liebrucks . . . . . . . . . 252 Josef Simon
Absoluter Geist und Persönlichkeit. Bruno Liebrucks zum 100. Geburtstag am 12. 10. 2011 . . . . 280 Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
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Vorwort
Bruno Liebrucks (1911–1986) ist einer der bedeutendsten, weil profundesten Denker des 20. Jahrhunderts. Seine »Philosophie von der Sprache her«, die in seinem anspruchsvollen Hauptwerk »Sprache und Bewußtsein« (Frankfurt am Main 1964–1979) breit entfaltet wird, entwickelt Liebrucks eigenständig aus einer fundamentalphilosophischen Auseinandersetzung mit der abendländischen philosophischen Tradition heraus. Es ist sein gewaltiger Anspruch, dass diese »Philosophie von der Sprache« her – im Unterschied zum Selbstverständnis der etwa zeitgleich auftretenden Positionen im Rahmen des »linguistic turn« – eine Antwort auf die gesamte europäische philosophische Tradition darstellt, eine Antwort, die zugleich Weiterbildung ist. Der Zugang zu Liebrucks führt also nur durch die Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition. Der vorliegende Band unternimmt es, diesen Zugang aufzuzeigen und damit zur Auseinandersetzung mit einem Denker anzuregen, dessen systematische und gegenwartsbezügliche Aktualität gar nicht überschätzt werden kann. Im Titel ist von »drei Revolutionen der Denkart« die Rede. Liebrucks fasst die abendländische Philosophie von Parmenides bis Hegel bzw. Hölderlin nicht als Galerie verschiedener Ansätze, sondern als Entwicklung, näher als Fortschritt im Einholen aller Voraussetzungen des Wissens, Erkennens und Handelns. Die entscheidenden Wendepunkte in diesem Fortschreiten bezeichnet er in Anlehnung an Kant als die Revolutionierungen der Denkart. Es handelt sich dabei um drei Revolutionen in der Selbstinterpretation des Denkens, die mit den Namen Platon, Kant und Hegel verknüpft sind. Bedenkt man, dass sich die Selbstinterpretation des Denkens zunächst und zuallererst in der Logik entscheidet und ausspricht, ist es auch nachvollziehbar, dass Liebrucks in seiner Interpretation der großen Texte immer die Logik ins Zentrum stellt.
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Vorwort
Zur Einsicht in die zentrale Bedeutung der Sprache gelangt er durch die Auseinandersetzung mit dem Problem der Dialektik beim späten Platon in den 1950er-Jahren. So deutet Liebrucks die systematischen Grundprobleme der philosophischen Tradition von der Sprache her, die als neue systematische Mitte fungiert. Den dialektischen Begriff des Begriffs bei Hegel fasst Liebrucks als bislang noch nicht dechiffrierten Begriff der Sprache bzw. der Sprachlichkeit des Menschen. Dabei knüpft er an die Einsichten von Vico, Herder, Hamann, Humboldt und Hegel, aber auch Cassirer und Bühler an, bei denen sich gewichtige Ansätze dazu finden, über die technische Vorstellung der Sprache als bloßes Mittel hinaus zum Begriff der Sprache als des Mediums der Weltbegegnung zu gelangen. Von der Sprache als der neuen systematischen Mitte her gibt Liebrucks zudem breite Ansätze zu einem neuen Verständnis der Systemteile der Philosophie. Dabei sind insbesondere die Philosophische Anthropologie, die Ethik bzw. Politische Philosophie, die Kunstphilosophie und die Philosophische Theologie im Blick. Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen auf ein Symposion zurück, das anlässlich des 100. Geburtstages von Liebrucks am Institut für Kunstwissenschaften und Philosophie der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz in Kooperation mit dem Institut für Philosophie der Fernuniversität in Hagen vom 12.–14. Oktober 2011 veranstaltet wurde. Der Band gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil widmet sich den fundamentalphilosophischen Grundlagen von Liebrucks’ Denken, näher dem gedanklichen Weg zum dialektischen Begriff, den Liebrucks als den »menschlichen Begriff« fasst. Dabei stehen die für Liebrucks maßgeblichsten Denker, nämlich Platon (Theodoros Penolidis), Kant (Max Gottschlich, Klaus Honrath), Hegel (Thomas S. Hoffmann, Fritz Zimbrich) und Hölderlin (Werner Schmitt) im Zentrum. Der zweite Teil geht den zuvor erwähnten Ansätzen nach, die sich bei Liebrucks für die Interpretation grundlegender Positionen bzw. Fragen der Philosophischen Anthropologie (Werner Woschnak), der Ethik (Maria Woschnak) und der Politischen Philosophie (Leo Dorner) zeigen. Der dritte Teil, der mit Hegel gesprochen der Sphäre des absoluten Geistes gewidmet ist, befasst sich mit Liebrucks’ auf die Sprache hin orientierter Deutung der Kunst (Brigitte Scheer) und des christlichen Gottesbegriffs (Simone Liedtke). Der abschließende Beitrag von Josef Simon eröffnet den Blick auf das Selbstverständnis einer »Philosophie von der Sprache her«, indem zentrale Gedanken der von Simon im
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Vorwort
Anschluss an Liebrucks entwickelten »Philosophie des Zeichens« zur Darstellung gelangen. Mein Dank gilt in erster Linie den Autorinnen und Autoren für Ihr Mitwirken an diesem Sammelband – und für ihre Geduld, was die Drucklegung betrifft. Für ihre freundliche und effektive Unterstützung beim Korrekturlesen danke ich Frau Dr. Maria Woschnak und Herrn Dr. Werner Woschnak. Herrn Lukas Trabert danke ich für die ausgezeichnete Betreuung seitens des Verlages. Schließlich geht mein Dank an meinen Lehrer am Wiener Institut für Philosophie, Prof. Dr. Franz Ungler (1945–2003) zurück, der seinen Studenten den Zugang zu Liebrucks’ Denken eröffnete. Der Herausgeber
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Zitation
Die Bände von Bruno Liebrucks’ »Sprache und Bewußtsein« (Frankfurt am Main 1964–1979) werden mit dem Kurzbezeichnung »SuB« mit Bandangabe und Seitenzahl zitiert: Bd. 1: Einleitung, Spannweite des Problems. Von den undialektischen Gebilden zur dialektischen Bewegung (1964) [= SuB 1] Bd. 2: Sprache. Von den Formen »Sprachbau und Weltansicht« über die Bewegungsgestalten »innerer Charakter der Sprachen« und Weltbegegnung zur dialektischen Sprachbewegung bei Wilhelm von Humboldt (1965) [= SuB 2] Bd. 3: Wege zum Bewußtsein. Sprache und Dialektik in den ihnen von Kant und Marx versagten, von Hegel eröffneten Räumen (1966) [= SuB 3] Bd. 4: Zwei Revolutionen der Denkungsart. 1. Die erste Revolution der Denkart: Kant: Kritik der reinen Vernunft (1968) [= SuB 4] Bd. 5: Zwei Revolutionen der Denkungsart. 2. Die zweite Revolution der Denkungsart: Hegel: Phänomenologie des Geistes (1970) [= SuB 5] Bd. 6: Der menschliche Begriff Teilband 1: Das Logische. Hegel: Wissenschaft und Logik, die Lehre vom Sein (1974) [= SuB 6/1] Teilband 2: Hegel: Wissenschaft der Logik, das Wesen (1974) [= SuB 6/2] Teilband 3: Hegel: Wissenschaft der Logik, der Begriff (1974) [= SuB 6/3] Bd. 7: »Und«. Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos, Realität und Wirklichkeit (1979) [= SuB 7]
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I. Systematische Grundlagen
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Theodoros Penolidis
Zu Liebrucks’ Interpretation des späten Platon
Vorwort Der folgende Versuch einer Darlegung von Bruno Liebrucks’ Interpretation des späten Platon nimmt zum methodischen Leitfaden die Kritik Platons an seiner eigenen Ideenlehre, so wie wir sie etwa im Dialog Parmenides antreffen. Diese Selbstkritik spaltet die platonische Philosophie insgesamt in zwei Teile auf; einerseits in den Teil, welcher die konstruktive Ideenlehre Platons umfasst, und andererseits in jenen Teil seiner späten Philosophie, welcher den Choriston-Charakter der einheitlichen Idee dadurch in Frage stellt, dass er ihre Einheit immer schon auf das ihr genuine Andere relativiert. Man muss hier einschränkend hinzufügen, dass diese das Spätwerk betreffende Feststellung nicht für alle Spätdialoge gilt. So halten sich Dialoge wie z. B. der »Timaios« und das »Symposion« an die klassische Form der Ideenlehre und lehnen infolgedessen nicht wie der »Sophistes« das abgetrennte Allgemeine des ideellen Seins ab. Im »Timaios« schafft der Demiurg (ὁ συνιστάϚ) die Welt, indem er auf abgetrennte Urbilder (παραδείγματα) hinschaut. Im »Symposion« schaut der Liebende das transzendente Schöne selbst (αὐτὸ τὸ καλόν) an. Wir werden also mit der Philosophie des Eleatismus anfangen müssen. Danach werden wir uns, Liebrucks folgend, der klassischen Ideenlehre Platons zuwenden und ihre Grundthesen anhand der Dialoge »Euthyphron«, »Phaidon«, »Politeia« und »Theaitetos« umreißen. Erst dann werden wir auf den Spätdialog »Sophistes« zu sprechen kommen. Wir fügen kurz hinzu, dass unsere Darstellung notwendigerweise skizzenhaft bleiben wird. Aus dem gesamten Bereich, den Liebrucks in seiner Platoninterpretation thematisiert, behandelt sie nur das Wesentliche aus einigen Teilgebieten. Nichtsdestotrotz zielt sie insgesamt darauf ab, das Platonverständnis Liebrucks’ aus der Aneignung der ontologischen Grundfrage der Philosophie Platons entstehen zu lassen. A
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Theodoros Penolidis
In SuB 1 schildert Liebrucks den Gedanken einer inneren Differenz der Idee, so wie ihn Platon in seinem Spätwerk erarbeitet hat, als eine in jeder Hinsicht wahre Erkenntnis aller Philosophie überhaupt: »Auch heute scheint mir die Tragweite des platonischen Satzes, daß das Nicht-Seiende seienderweise ist, keineswegs in den Bagatellisierungsversuchen verschwinden zu müssen, die er immer erfährt […]. Daß das ἕτερον Platons seine Identität mit sich selbst darin hat, etwas anderes als es selbst zu sein, diese Entdeckung Platons, die allem Platonismus und damit allem, was man heute so Denken nennt, ins Gesicht schlägt, ist heute so wahr wie am ersten Tage, da der größte Philosoph unserer Tradition diesen in die Freiheit führenden Gedanken faßte«. 1 Wir werden für unsere Zwecke zwei Texte von Liebrucks berücksichtigen: erstens seine Habilitationsschrift, zum größten Teil niedergeschrieben »in den ersten beiden Monaten des Jahres 1943« 2 , die erst 1946 einen Abschluss erreicht hat. Liebrucks gibt ihr den Titel: »Platons Entwicklung zur Dialektik. Untersuchungen zum Problem des Eleatismus«. Dieser Titel verweist auf ein anderes großes Platonbuch. Es ist das Buch von Julius Stenzel, »Studien zur Entwicklung der Platonischen Dialektik«, das er mitten im ersten Weltkrieg geschrieben hat und das nach Stenzel »jeder Beziehung auf die Gegenwart bar ist«! Übrigens gilt das auch für das Buch von Liebrucks. Nach unserer Auffassung zählen diese zwei Bücher zu den wichtigsten der deutschsprachigen Platonliteratur. Der zweite Text von Liebrucks ist ein Vortrag, den er auf dem Philosophen-Kongress in Garmisch-Partenkirchen im September 1947 gehalten hat und in dem er die Grundthesen seines Buches »Platons Entwicklung zur Dialektik« in übersichtlicher Form erläutert.
I.
Die Philosophie des späten Platon und das Problem des Eleatismus
Das Eigentümliche der Philosophie des späten Platon, das Fundament auf dem dieser Philosoph die Betrachtung der Wahrheit sowohl des Seins als auch des Erkennens gründet, ist ohne Zweifel das eidetische
SuB 1, 11. Vgl. B. Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik. Untersuchungen zum Problem des Eleatismus, Frankfurt am Main 1949, 5.
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Zu Liebrucks’ Interpretation des späten Platon
Eine, die in sich bestimmte Totalität oder Verwandtschaft von allem. 3 Einerseits sieht Platon ein, dass in allen theoretischen und praktischen Erscheinungsweisen des Logos das Eine dasjenige ist, welches als das tiefere Band zwischen allen seinen Verschiedenheiten auftritt. Andererseits jedoch ist hierbei nicht eine Art Verähnlichung gemeint, die jede Differenz nivelliert, sondern vielmehr ein dynamisch sich vollziehendes Vereinen, das mitten in der Zerstreuung des Unterschieds sich als eine gesetzte Kontinuität in seine unterschiedenen Glieder verwirklicht. Das Verhältnis des Unterschieds zur Einheit bedeutet hier, dass das Mitsich-in-Einheitsein von Etwas der Bezüglichkeit auf Anderes nicht verschlossen bleibt, ja es bedeutet, dass dem Sein überhaupt die Alternative von Einheit und Andersheit wesentlich zugehört. Die wesenhafte Einheit als das Kontinuum, welches alle Unterschiede durchzieht, ist, könnte man in einer Zuspitzung sagen, die einzige Kategorie der späten Platonischen Philosophie. Der Begriff, der die Einheit aus dem Formalismus befreit, in welchen die Sophistik sie hineinführt, ist nach Platon die Bestimmtheit. Denn das Eine ist nach ihm ursprünglich als die Sammlung von Sein und Bestimmtheit anwesend. Erst als diese Sammlung wird das Eine zum wesenhaften Prinzip des Wissens und zugleich zum existierenden Wesen. Als Prinzip des Wissens kann das Eine nicht Gegenstand dieses Wissens sein. Das Wissen vermag das Eine nicht zu vergegenständlichen, zumal weil das Eine nicht Gegenstand des Wissens, sondern dessen Horizont ist. 4 Das Eine ist insofern die Arche, welche jeder Aktivierung des Wissens vorhergeht, d. h. es ermöglicht die Unterschiede des Wissens und das Wissen weiß nur um den Unterschied, indem es das Eine bekennt. Das Eine fungiert hier also als das Band, welches die Wissensunterschiede in der Totalität seiner Bestimmtheit zusammenhält.
II.
Das Eine als Bestimmtheit
Euthyphron trifft Sokrates vor dem Sitz des athenischen Archon (Halle des Basileus), der für die Rechtssprechung zuständig war. Euthyphron möchte seinen Vater anzeigen, weil er ihn für den Tod eines Sklaven beschuldigt. Für Euthyphron ist es fromm (ὅσιον), den eigenen Vater 3 4
Vgl. hierzu Platon, Menon 81 c. Vgl. hierzu den Begriff des Lichtes in der Politeia 507 d ff. A
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des Mordes zu beschuldigen, wenn er eine solche ruchlose Tat wirklich begangen hat. Sokrates aber behauptet, dass er nicht weiß was das Fromme und was das Ruchlose sei. Er deutet damit einen Tadel gegen Euthyphron an. Denn, wenn dieser auch nicht weiß, was das Fromme ist, wie beschuldigt er dann einen anderen der unfrommen Tat? Euthyphron glaubt jedoch durchaus, er habe die genaue Definition des Frommen. »Sokrates: Eben weil ich dies auch weiß, lieber Freund, wünsche ich, dein Schüler zu werden […]. So sage mir nun um Zeus’ willen, was du jetzt eben so genau zu wissen behauptest, worin doch deiner Behauptung nach das Gottesfürchtige und das Gottlose bestehe, sowohl in Beziehung auf Totschlag als auf alles Übrige. Oder ist nicht das Fromme in jeder Handlung sich selbst gleich (ταὐτόν) und das Ruchlose wiederum allem Frommen entgegengesetzt (ἐναντίον) und sich selbst ähnlich (ὅμοιον), so daß alles, was ruchlos sein soll, soviel nämlich seine Ruchlosigkeit betrifft, eine gewisse Gestalt (ἰδέα) hat? – Euthyphron: Auf alle Weise freilich, Sokrates. – Sokrates: So sage also, was du behauptest, daß das Fromme sei, und was das Ruchlose. – Euthyphron: Ich sage eben, daß das fromm ist, was ich jetzt tue«. 5 Sokrates kann aber diese Kasuistik in der Bestimmung des Frommen nicht akzeptieren; denn er fragt nicht nach einem oder nach zwei Fällen des Frommen, sondern schaut (ἀποβλέπειν) auf die Einheitserscheinung (ἰδέα) des Frommseins selbst. »Sokrates: Du erinnerst dich doch, daß ich dir nicht dieses aufgab, mich einerlei oder zweierlei von dem vielen Frommen zu lehren, sondern den Begriff (εἶδοϚ) selbst, durch welchen alles Fromme fromm ist«. (Man könnte im letzten Satz Eidos genauer wie folgt übersetzen: […] sondern den Bestimmungsgrund, wodurch alles Fromme fromm ist.) »Denn du gabst ja zu, einer gewissen Gestalt wegen, die es habe, sei alles Ruchlose ruchlos und das Fromme fromm. Oder besinnst du dich darauf nicht? – Euthyphron: Sehr wohl. – Sokrates: Diese Gestalt selbst also lehre mich, welche sie ist, damit ich, auf sie sehend (ἀποβλέπων = auf sie intendierend) und mich ihrer als Urbildes (παράδειγμα) bedienend, was nun ein solches ist in deinen oder sonst jemandes Handlungen, für fromm erkläre, was aber nicht ein solches, davon ausschließe«. 6 In diesem Kontext zeigt sich sehr deutlich, dass der Begriff der Idee, aufzufassen im Sinne einer
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Platon, Euthyphron 5 c-d, Übersetzung von F. Schleiermacher. Platon, Euthyphron 6 e.
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sich im Unterschied zeigenden Einheit, aus der Logik der Bestimmtheit entstanden ist. 7 Euthyphron versteht nicht, wonach die Sokratische Frage nach der in sich bestimmten Einheitserscheinung des Sinnes fragt; er versteht nicht, dass die eigentümliche Bestimmtheit des Frommen etwas anderes ist als die unmittelbare Gegenwart des Frommen in seiner Handlung. Er übersieht diesen feinen Unterschied zwischen der Deutung des Frommen als Eidos (Bestimmtheit) und dem Frommsein der jeweiligen Fälle. Die Handlung, die in mannigfaltigen Darstellungen des Frommen gebrochen ist, sträubt sich gegen die in sich bestimmte Einheit des Eidos »Frommsein«. Das, was Euthyphron als das Fromme ansieht, ist unmittelbar und selbstverständlich die unbestimmte Selbstaffirmation seines Tuns.
III. Die Konsequenzen der Trennung des Einen von jeder Beziehung auf Anderes Die negativen Resultate der eleatischen Grundannahmen bezüglich des Seins werden schon im Text angedeutet, der diese Schule stiftet, d. h. im philosophischen Gedicht von Parmenides. Der eleatische Gedanke des absoluten Einsseins des Seins 8 führt in lauter Aporien. Die Trennung des Einen von allem Anderen (von den Vielen) und der mitspielende Ausschluss des Widerspruchs aus ihm stellt das Eine als dasjenige dar, welches aus aller Bezüglichkeit entfernt wird. Ein solches Eine bleibt aber jeder in ihm gesetzten Bestimmung bar. Die formallogische Forderung nach der Trennung des Einen von den Vielen ist in Wirklichkeit nicht erfüllbar. Nach Friedrich Kümmel 9 7 Der Katalog, den Sir D. Ross, Plato’s Theory of Ideas, Oxford Press 1951, 228 ff., erstellt, beinhaltet fast alle Stellen, in denen ein Verhältnis zwischen dem Eidos und dem Einzelding in Betracht gezogen wird. 8 »So bleibt einzig noch übrig die Rede von dem Weg, daß (etwas) ist. An ihm sind sehr viele Kennzeichen, daß Seiendes ungeworden und unvergänglich ist, ganz und einheitlich, und unerschütterlich und vollendet«. (Parmenides, Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente, Fr. 8., griechisch und deutsch, herausgegeben, übersetzt und erläutert von U. Hölscher, Frankfurt am Main 1969, 19 ff. Vgl. auch B. Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik. Untersuchungen zum Problem des Eleatismus, Frankfurt am Main 1949, 11 ff.) 9 Fr. Kümmel, Platon und Hegel. Zur ontologischen Begründung des Zirkels in der Erkenntnis, Tübingen 1968, 47 ff.
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führt die Trennung vielmehr zu einem »Nebeneinander« von Bestimmungen, die nur identisch mit sich selbst sind. Das aber bedeutet die Zerstückelung 10 der Wirklichkeit. Die begrifflichen Kriterien der Bestimmung dieser Wirklichkeit, d. h. die Grenze und ihre Überschreitung, folgen hier einer Dialektik, nach der jedes positive Bestimmtsein unmittelbar nur in negative Bestimmungen »umschlägt«. Am Anfang erscheint der Widerspruch nur in gesetzter Beziehung auf Anderes, in der Folge aber verwandelt er sich zu einem Widerspruch seiner zu sich selbst. Denn die eigene positive Bestimmung des Seins erweist sich hierbei als die innere Grenze des Seins selbst, so dass das Sein an und für sich als Beziehung auf Anderes gesetzt und die Negation somit in ihm selbst entsteht. Allein Parmenides verwirft jede innere Beschränkung des Seins durch das Andere seiner selbst und wendet sich somit zu einer determinativ unerfassbaren, kontinuierlichen Erfülltheit des Seins mit sich selbst. »Aber geteilt ist es nicht, da es als Ganzes gleichmäßig ist und nicht an einer Stelle irgend etwas mehr, was es hindern würde zusammenzuhängen, noch irgendetwas weniger, sondern im ganzen voll ist von Seiendem. Darum ist es als ganzes zusammenhängend. Seiendes stößt an Seiendes«. 11 Diese Konzeption des Seins ist jedoch nicht frei von jeder Dialektik. Wegen seiner Kontinuität mit sich selbst stellt das Sein eine einfache Einheit mit sich selbst dar und wird von daher durch keine Bestimmung unterbrochen, die als eine Andersheit mit seiner Einheit nicht zusammenfallen würde. Zugleich ist die Einheit des Seins die Einheit eines Diskreten, das aber nie aufhört Einheit zu sein. Als Einheit ist das Sein dann die kontinuierliche Ausdehnung desjenigen, welches mit sich selbst immer nach derselben Weise zusammenhängt. Gesetzt als diskrete Einheit ist aber das Sein ein Außereinandersein – das Verfließen seines Selbst in die vielen Eins. Die Diskretion ist insofern die Zerstückelung, das Unterbrechen der kontinuierlichen Einheit und die Konstitution jenes Eins, welches das Eins gegenüber dem immer anderen Eins ist. Diese Menge der Monaden fällt jedoch nicht mit den Atomen Demokrits zusammen, welche allein durch das Leere voneinander getrennt werden. Die Kontinuität der vielen Monaden besteht ausschließlich in der Sichselbstgleichheit der vielen Eins, d. h. in der Tatsache, dass die 10 11
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Vgl. Platon, Sophistes 246 b. »κατὰ σμικρὰ διαθραύοντεϚ«. Parmenides, Die Fragmente, a. a. O., Fr. 8, 22 ff., 23.
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Zu Liebrucks’ Interpretation des späten Platon
vielen Eins in Wahrheit nur eine einzige Einheit sind. Das diskrete Sein ist insofern das kontinuierliche Außersichsein des mit sich gleichen Einen. Die Vielfalt der Seienden ergibt folglich nicht die vielen Eins, sondern gerade das Viele einer und derselben Einheit. Der Sophist Gorgias 12 weist konsequent darauf hin, dass die eben skizzierte Dialektik nicht nur die Nichtigkeit der Vielen fordert, sondern dass sie das Sein selbst vernichtet, 13 sei es als begrenzt, sei es als die in sich kontinuierliche Unbestimmtheit des Einen gesetzt. Dieses Zusammenfallen von Kontinuität und Diskretion destruiert die absolute Positionalität des Seins parmenideischer Prägung. Wenn das einzelne Sein und die eigentümlichen Bestimmungen von ihm im Sinne einer absoluten Position zu nehmen sind, dann müssen diese Bestimmungen alle wahr sein, sofern hier vom Sein jede Beziehung auf Anderes und jede Bezüglichkeit, die ein Maß für die Beurteilung von Wahr- und Falschsein hergeben könnte, entfernt ist. Das aber führt weiter zur Aufhebung der Wahrheit selbst, 14 denn wahr ist jetzt nicht nur x, sondern auch sein Gegenteil, also non x. Der Widerspruch affiziert aber auch die Bestimmtheit, in der das Sein fehlt. Nach dem Eleatismus sollen alle kategorialen Bestimmungen dem Sein äußerlich bleiben. Sofern von ihnen die einende Kraft des Seins entfernt ist, zerbröckeln sie ihrerseits als separate Teile eines toten Ganzen. Das eleatische Sein hängt unmittelbar mit der Einheit zusammen. Die Einheit jedoch wird hier nicht als die Grenze konzipiert, in der die Unterschiedenen zugleich getrennt und geeint sind. Sie ist vielmehr die kontinuierliche Ausdehnung des Einen in jede von ihm unterschiedene Auch in diesem Argument folgen wir Kümmel, Platon und Hegel, a. a. O., 47 ff. Vgl. hierzu Gorgias von Leontinoi, Fragment 3, Über das Nichtseiende: »5. Wenn aber dennoch das Nichtseiende ist, so ist, sagt er, das Sein nicht, als dessen Gegenteil. Denn wenn das Nichtsein ist, gehört es sich, daß das Sein nicht ist. – 6. Daher dürfte auf diese Weise, sagt er, nichts sein, wenn es nicht dasselbe ist, zu sein und nicht zu sein. Wenn aber dasselbe, dürfte auch so nichts sein; denn auch dann ist sowohl das Nichtseiende nicht als auch das Seiende, da es ja dasselbe ist wie das Nichtseiende. Dies ist nun der erste Argumentationsgang von jenem«. (Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, herausgegeben mit Übersetzung und Kommentar von Th. Buchheim, Hamburg 1989, 43) 14 »Wenn es aber so sich verhält, könnte wohl niemand einen Irrtum (pseudos) aussprechen, sagt er, nicht einmal wenn er behauptete, daß auf dem Meer Wagen um die Wette fahren. Denn alles dieses wäre ja«. (Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, a. a. O., Fragment 3, 18) 12 13
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Andersheit. Als Einheit bezieht sich das Sein auf sich selbst. Seine Selbstbeziehung könnte mit dem Ausschließen der vielen Andersheiten außerhalb seiner selbst zusammengehen. Das Sein aber kann in Wahrheit das Andere nicht von sich ausschließen, denn in diesem Falle wäre es Sein in Bezug auf Anderes. Dieses Andere wäre sodann das Andere des Seins oder das Nicht-Sein. Die Annahme jedoch des Nichtseins ist für Parmenides undenkbar. Das Sein wird nach ihm nicht durch das Nichts begrenzt, sondern lediglich durch die Fesseln seiner notwendigen Selbstaffirmation. Denn das Nicht-Sein existiert nach Parmenides nicht. Zu welchen Folgerungen führt diese Ausmerzung des Grenzebegriffs aus der Einheit des Seins mit sich selbst? Die Antwort darauf lautet: Die unmittelbare Folge dieser Ausmerzung ist eine Kontinuation des henologischen Seins in jedes Andere außerhalb seiner selbst, das eine von ihm unterschiedene Monade darstellen könnte. Das Sein des Parmenides kann daher das Andere nicht negieren, es kann ebenso wenig nachweisen, was dasselbe nicht ist. Aus diesem Begriff des Seins entsteht deshalb entweder eine unbewegte, träge Affirmation von Allem (was ist, ist wirklich ohne Unterscheidung zwischen dem Wahrsein und dem Falschsein; darauf ruht das sophistische Argument) oder eine scheinbare Bewegung, d. i. eine bloße Wiederholung des einen Seins, die wesentlich mit einer Neutralisation jeder qualitativen Andersheit gegenüber dem einen Sein zusammenfällt. 15 In diesem Falle erscheint die Einheit des Seins als eine Zerstreuung von Monaden, die sich gleichgültig zueinander verhalten. Das Sein sollte eine Qualität haben; es sollte das Andere setzen und sich in einer negativen Beziehung auf es erhalten. Es ist jedoch offenbar, dass das parmenideische Sein keine qualitative Bestimmtheit enthält. Die Platonische Antwort auf das eleatische Problem der Einheit des Seins ist doppelt: Erstens, die Einheit des Seins wächst nach Platon aus dem Begriff der gemeinsamen Grenze, d. h. der Bestimmtheit. Die Vorstellung setzt die differenten Bestimmungen als voneinander getrennte Wesenheiten voraus (A, -A). Die Dialektik aber erkennt in der Trennung, die durch die Grenze entsteht, eine Wirkung der Einheit; in ihrer Sicht führt die Das sophistische In-Frage-Stellen des Falschseins hat einfach die unbewegte Einheit des Parmenideischen Seins in eine Welt zerstreuter Einheiten verwandelt, die inkommensurabel zueinander und von daher allesamt wahr sind.
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Trennung nicht zu einer Zerstörung der Andersheit, sondern ist eine gleichsam zusammenführende Trennung, in der sich die Andersheit und die sich durch die Differenz bestimmende Einheit zugleich entfalten. Die Grenze offenbart die Qualität einer jeden Bestimmung nur in ihrer Beziehung auf die andere. Dasjenige aber, welches die Begriffe des Seins und des Eidos unmittelbar fordern, ist nach Platon die Zusammenfügung der Unterschiede in der durch Determination sich setzenden Einheit. Als zweites verweist die Platonische Antwort auf das Wesen der Dihairesis. Indem Platon den Begriff der Einheit zu erfassen sucht, kommt er auf den Begriff der Dihairesis und zeigt durch ihn, dass das Eidos nicht das sich auf alles erstreckende Eine 16 ist, sondern eine derartige Einheit, welche in sich die Bestimmtheitsdifferenz aufnimmt. Der Grundgedanke der Dihairesis ist der, dass die Einheit nicht vorausgesetzt, sondern erst durch die vermittelnde Aktivierung der Trennung hergestellt werden muss. Wie entsteht aber die Einheit aus der Dihairesis? Die Dihairesis teilt eine eidetische Einheit in Teile. Diese Teile enthalten neue Teile in sich, die wieder geteilt werden müssen, so dass die schon in einem Eidos Erfassten durch den Hervorgang aus ihm als jene Attribute definiert werden, die es in sich zusammenfasst. Die Definition dieser Attribute des Eidos wird erstens in ihrem negativen Verhältnis zueinander und zweites in ihrem Verhältnis zur sie erfassenden Einheit erreicht. Alle spezifischen Bestimmungen, die durch die Dihairesis entstehen, richten sich nach der sie implizierenden eidetischen Einheit. Die Dihairesis stiftet also die Einheit durch Herstellung der Ähnlichkeiten, die zwischen den weiteren und den engeren Beziehungen der eidetischen Bestimmtheiten entdeckt werden. In der Herstellung der Ähnlichkeit ist eine quantitativ zu definierende Steigerung gedacht. Im Dialog »Politikos« sagt der Fremde: »Denn was bisweilen, o Sokrates, viele preiswürdige Männer sagen in der Meinung, etwas recht Weises vorgetragen zu haben, daß nämlich die Meßkunst auf alles Entstehende geht, das ist eben dies jetzt erklärte. Denn Messung findet gewissermaßen bei allem Kunstmäßigen statt. Weil sie aber nicht gewöhnt sind, was sie betrachten, nach Arten einzuteilen: so werfen sie diese so sehr voneinander verschiedenen Dinge in eins zusammen und halten sie für ähnlich; ebenso tun sie dann auch wieder das Gegenteil, indem sie an16
»ἕν τε καὶ ταὐτόν […] ἐπὶ πᾶσι«. (Platon, Symposion 210 b) A
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deres gar nicht nach einer ordentlichen Teilung voneinander trennen, obwohl doch, wer zuerst die Gemeinschaft (κοινωνία) zwischen vielen bemerkt, nicht eher ablassen wollte, bis er alle Verschiedenheiten (διαφοραί) in derselben gesehen hat, so viele jedenfalls auf Begriffen beruhen; und wiederum, wenn die mannigfaltigen Unähnlichkeiten an einer Mehrheit erschienen sind, dann sollte man nicht imstande sein, eher sich zu scheuen und aufzuhören, bis man alles Verwandte (σύμπαντα τὰ οἰκεῖα) innerhalb einer Ähnlichkeit eingeschlossen (ἐντὸϚ μιᾶϚ ὁμοιότητοϚ ἕρξαϚ) 17 und unter das Sein einer Gattung befaßt hat (γένουϚ τινὸϚ οὐσίᾳ περιβάληται)«. 18 Die Einheit ist die absolute Ähnlichkeit, welche alle Verwandte umschließt. Ihre kontinuierliche Anwesenheit bei allen Teilen deutet nun auf die Art und Weise hin, wie sie näher zu fassen ist. Diese Weise ist die Begleitung der besonderen Arten von der ursprünglichen Totalität des Eidos. Diese Begleitung führt die Verähnlichung aller besonderen Arten im Horizont des eidetischen Kontinuums herbei, das nur der Dialektiker überschauen kann. Eidetisches Kontinuum bedeutet: im Besonderen manifestiert sich die Einheit als eine Ankunft des Wesens (οὐσία) in die Begriffskonstitution der getrennten Arten. Die Bestimmtheit als der ursprüngliche Sinn des Eidos bewirkt folglich nicht nur die Trennung, sondern fordert zugleich das Zusammenschauen (σύνοψιϚ) des gesamten Geflechts der Dependenz der Arten, d. h. die Totalität der Einheit, die in dem Durchweg durch das Besondere geleistet ist. Bestimmtheit bedeutet: Erfassen des Besonderen in seinem Sich-Richten nach dem Einen. Die Teilhabe des bestimmenden Wissens an der Totalität des eidetischen Kontinuums besagt gerade nicht ein Verschwinden dieses Wissens in einem radikalen Reduktionismus. Die Methode der Bestimmung besteht nicht nur im Zusammenschauen, sondern entsteht erst aus dem Zusammenwirken von Besonderung und Totalisierung. In der Mitte zwischen diesen beiden Extremen liegt die Dihairesis. Wenn das Eidos einen Gesamtentwurf des Sinnes darstellt, so zielt seine Bestimmtheit darauf ab, seine innere Zusammenfügung offenΕἴργω = attische Form statt ἔργω = einschließen, einsperren, verschließen, umschirmen. 18 Platon, Politikos 285 a-b, Übersetzung von F. Schleiermacher. Περιβάλλω = 1. sich um etwas werfen, umzingeln, einschließen. 2. etwas sich aneignen, rauben. 3. etwas mit dem Geist umfassen, bei sich betrachten, überschauen. 17
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zulegen. Diese Offenlegung seiner inneren Struktur wird erst durch die Teilung des einheitlichen Sinnes in seine Glieder und zugleich durch die Zusammenführung ihrer Folgen in eine Einheit erreicht. Der eidetische Sinn ist Einheit. Seine Bestimmung aber ist die Koinzidenz von Einheit und Differenz. Das Werk, das das bestimmende Wissen des Dialektikers auf sich nimmt, besteht in der genauen Erwägung der genuinen Fügungen der eidetischen Einheit. Die Dihairesis rekonstruiert folglich die Fügung, während sie zugleich die verschiedenen Glieder in der Totalität der Einheit verknüpft. Die Dialektik, welche die schlechthinnige Verwandtschaft aller Begriffe und aller Dinge zu erkennen sucht, zerteilt die Glieder des Sinnes wie ein guter Koch, indem er Schnitte in daseiende Verbindungen und in bestehende Wirbeln einbringt, was dazu beiträgt, dass die Trennung zugleich die tiefere συμπλοκή offenlegt. 19 Die Zerstückelung (Analysis) ist hier zugleich als die Manifestation der Einheit gedacht. Die συμπλοκή vermengt insofern nicht das Eidos mit den anderen Eide; sie unterscheidet es von allem Ähnlichen und dadurch entzieht sie es von diesen. Diese unterscheidende und zugleich vereinigende κοινωνία des Eidos mit allen anderen wird im Sophistes mit größter Klarheit zum Ausdruck gebracht: »Fremder: Also gehen wir noch einmal ans Werk: Wir spalten die jeweilige Gattung in zwei Teile, folgen dann immer der rechten Hälfte des Zerschnittenen und halten uns dabei stets an das, was mit dem Sophisten zu tun hat. Wir haben schließlich alles, was er gemeinsam auch mit anderen hat, von ihm abgetrennt (περιελόντεϚ), 20 übrig bleibt nur seine eigentümliche Natur. Die machen wir uns dann zunächst einmal selbst klar, danach aber auch denen, die eine innere positive Beziehung zu einem solchen Verfahren haben«. 21
Vgl. hierzu auch »συνάγειν«, Sophistes 224 c, »συμπλέκειν«, »συνδεῖν«, Politikos 309 b, Sophistes 242 d. 20 Das Verb περιαιρέω (Inf. περιελεῖν) bedeutet »wegnehmen«, »entziehen«, »losreißen«. Dass der Entzug des Einen (siehe z. B. Symposion 211 ff.: Der Liebende wird »plötzlich ein von Νatur wunderbar Schönes erblicken […]. Noch auch wird ihm dieses Schöne unter einer Gestalt erscheinen, wie ein Gesicht oder Hände oder sonst etwas, was der Leib an sich hat, noch wie eine Rede oder eine Erkenntnis, noch irgendwo an einem anderen seiend, weder an einem einzelnen Lebenden noch an der Erde, noch am Himmel; sondern an und für sich und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend«, Übersetzung von Fr. Schleiermacher) aus der eigenen Dynamik des Definierens entsteht, wird erst aus solchen Ζusammenhängen deutlich. 21 Platon, Sophistes 264 e, Übersetzung von H. Meinhardt, Stuttgart 2005. 19
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IV. Das Proömion des Dialoges Parmenides Nun zur Kritik Platons an seiner eigenen Ideenlehre. Sokrates fragt Zenon, ob er nicht annehme, dass es »ganz für sich« (αὐτὸ καθ᾽ ἑαυτό) ein Eidos der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit gebe. Dann müssen aber die Dinge durch Teilnahme an diesen als ähnlich und unähnlich zugleich erscheinen. Das ist nach Sokrates gar nicht erstaunlich. Denn in diesen Fällen haben die Dinge sowohl an dem einen Eidos wie an dem anderen teil. »Sollte allerdings jemand zeigen, daß das Ähnliche selbst unähnlich wird und das Unähnliche ähnlich, so wäre das meiner Meinung nach ungeheuerlich (τέραϚ)«. 22 Deshalb ist es für Sokrates von großer Relevanz, zu untersuchen, ob die Gegensätze in den Eide selbst stattfinden. Parmenides, der seine Bewunderung für den jungen Sokrates nicht verbergen kann, fragt zunächst, ob es Eide bei solchem gibt, »was ja lächerlich zu klingen scheint« 23 , wie z. B. ein Eidos des Haares, des Schmutzes und dergleichen. Sokrates kann hier nicht folgen. Wenn wir bedenken, dass der Begriff des Eidos, der in sich gestalteten und von den Vielen losgerissenen qualitativen Einheit des Sinnes aus der Frage nach der inneren Selbstgenügsamkeit der tugendhaften Handlung hervorkam, ist uns dieses Bedenken von Sokrates, das Eidos mit allem Lächerlichen zu verbinden, wiederum allzu verständlich. Die zweite Frage von Parmenides erforscht die Funktion der eidetischen Einheit bei einer vorausgesetzten Entfernung des Eidos von der Einzelerscheinung. Wie nehmen, fragt Parmenides, die Einzeldinge an den Eide teil? »Hat nun etwa nicht alles, was teilnimmt, entweder an der ganzen Idee teil oder an einem Teil von ihr? Oder könnte eine andere Art von Teilnahme als diese beiden erfolgen«. 24 Wenn sich die Einzeldinge das ganze Eidos aneignen, wenn sie also das Eidos gleichsam übernehmen, so setzen sie es außerhalb seiner selbst. Wenn aber das eine Eidos an viele Gegenstände verteilt wird, dann erleidet es die Zerstreuung seiner Einheit. Parmenides erwägt auch in Bezug auf die Teilnahme der Dinge an den Eide das Problem der Diskretion und der Kontinuität ihres gegenseitigen Verhältnisses. »Sieh nur weiter hin, habe Parmenides gesagt. Wenn du das Große selbst teilen wirst und jedes der vielen großen Dinge durch einen Teil der Größe, der kleiner ist als die Größe 22 23 24
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Platon, Parmenides 129 b, Übersetzung von E. Martens, Stuttgart 1987. Platon, Parmenides, a. a. O., 130 c. Platon, Parmenides, a. a. O., 131 a.
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selbst, groß sein wird, kommt dann nicht offensichtlich etwas Unvernünftiges heraus? – Und wie, war die Antwort. – Weiter: wenn jedes einen kleinen Teil des Gleichen erhält, wird es dann etwas haben, wodurch es, im Besitz von etwas Kleinerem als die Gleichheit selbst, einem anderen gleich sein wird? – Unmöglich. – Angenommen nun, jemand von uns hat einen Teil des Kleinen. Dann wird doch das Kleine größer als dieser sein, da er ja ein Teil von ihm selbst ist. Und auf diese Weise wird also das Kleine selbst größer sein. Wem man aber das Weggenommene hinzufügte, das wird kleiner sein und nicht größer als vorher«. 25 Mit allen diesen Argumenten scheint Parmenides Sokrates daraufhin hinzuweisen, dass der Begriff der Methexis (Teilhabe, Teilnahme, Teilgewinnung) in eine Sackgasse führt, wenn sein Verhältnis zum tragenden Begriff der Einheit 26 vorher nicht geklärt wird. Wenn wir also nicht wissen, was die Einheit ist, hat es wenig Sinn, von Teilhabe an ihr zu sprechen. Aristoteles wird später, ohne allerdings auf diesen Aspekt der Selbstkritik Platons hinzuweisen, die Rede von der Teilhabe ein leeres Wort nennen 27 . Auf dieselbe Problematik zielt auch die nächste Frage ab, die wir traditionell als das τρίτοϚ ἄνθρωποϚ-Argument kennen. »Ich glaube, du nimmst aus folgendem Grund an, daß jede Idee eine ist. Sooft dir viele Dinge groß zu sein scheinen, scheint es für dich vielleicht eine und dieselbe Hinsicht (ἰδέα) zu geben, wenn du auf alle hinsiehst (ἰδόντι). Daher nimmst du an, das Große sei eins. – Damit triffst du die Sache, habe er geantwortet. – Wie steht es aber mit dem Großen selbst und den anderen großen Dingen? Wenn du in der gleichen Weise mit der Seele auf alles hinsiehst, zeigt sich dann nicht wiederum ein Großes, wodurch sich dir dieses alles notwendigerweise als groß erweist? – So scheint es. Platon, Parmenides, a. a. O., 131 d-e. »Covering is a spatial relationship, and there is no way in which one object in space can cover several different objects without different spatial parts of the former being involved with each or the later. Hence the analogy proposed by Parmenides requires that the sail cover the several men part by part rather than in its entirety. All that follows from this is that the sail is a poor analogy for the Forms, to which spatial dimensionality is totally foreign«. (Kenneth M. Sayre, Plato’s Late Ontology: A Riddle Resolved. With a New Introduction and the Essay »Excess and Deficiency at Statesman 283 C–285 C«, Princeton 1983, 24) 26 Vgl. hierzu K.-H. Volkmann-Schluck, Das Wesen der Idee in Platos Parmenides, in: Philosophisches Jahrbuch 69 (1961–62), 34–45, 37. 27 Aristoteles, Meta ta Physika 991 21. »Wenn man aber sagt, die Ideen seien Vorbilder und das andere nehme an ihnen teil, so sind das leere Worte und poetische Metaphern«. (Übersetzung von H. Bonitz, Hamburg 1978) 25
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– Eine andere Idee der Größe also wird zum Vorschein kommen, zusätzlich zum Großen selbst und zu dem, was daran teilhat; und über diesen allen wiederum eine andere, wodurch dieses alles groß sein wird. Und so wird es für dich nicht mehr jeweils eine Idee geben, sondern eine unendliche Menge«. 28 Damit wir also das Eidos der Größe mit den verschiedenen Dingen verknüpfen, die eine Größe haben, muss wieder ein anderes Eidos der Größe zum Vorschein kommen, in dessen Sicht (ἰδέα) das erste Eidos der Größe und die vielen Gegenstände, die eine Größe haben, miteinander verträglich sein können. Für die Beziehung dieses Eidos mit den vorherigen Gliedern benötigen wir wieder ein drittes Eidos und sofort ins Unendliche. Der Nerv der Kritik von Parmenides, also der Kritik Platons an seiner eigenen Ideenlehre, betrifft den Chorismos zwischen dem Einen und den Vielen als die Grundannahme der Methexistheorie. Wenn wir das einheitliche νοητόν und das in Perspektivismen zerstreute αἰσθητόν im Sinne von zwei voneinander abgetrennten Welten voraussetzen, so können wir ihre gesetzte Relation aufeinander nicht erklären. Oder noch radikaler gefragt: Hebt das vielfach von der Wahrnehmungsdialektik aufgeworfene Problem der Asymmetrie 29 zwischen dem idealen Sein und der sinnlichen Gegebenheit die Möglichkeitsbedingungen einer Philosophie der Einheit auf oder ist gar von der ideellen Einheit des Seins im Rahmen einer Seinsdialektik so etwas wie ein asymmetrisches Verhältnis des einen Seins zu sich selbst aussagbar? Liebrucks schlägt vor, die obige Frage als die Grundfrage des späten Platon anzusehen.
V. Die eidetische Einheit als Voraussetzung der Wahrnehmung (»Phaidon«) und als Gipfel einer Seinsskala (»Politeia«) Wir wollen jetzt zur ursprünglichen Fassung der Ideenlehre zurückkehren, so wie wir sie im »Phaidon«, in der »Politeia« und im »Theaitetos« Platon, Parmenides, a. a. O., 132 a-b. Vgl. hierzu den ersten Teil von Theaitetos. Nach Liebrucks hat Protagoras in seiner Wahrnehmungslehre gezeigt, wie die Kategorie der Relation die übrigen Kategorien überschwemmen kann. Vgl. auch Th. S. Hoffmann, Das Andere des Apeiron. Zur Dialektik der Konstitution von Erkenntnis in Platons Theaitetos, in: Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, herausgegeben von J. Bromand und G. Kreis, Berlin 2010, 673–689, 680 f.
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vorfinden. Nach Liebrucks wird in den Dialogen »Phaidon« und »Politeia« eine Ontologie entwickelt, welche die Wirklichkeit des idealen Seins jenseits der Perspektivismen des Betrachters setze und »die ideale Welt nicht nur durch die Höhe ihrer Wertigkeit, sondern vor allem durch die größere Seinsstärke« 30 auszeichne. Nach dem Dialog »Phaidon« setzt alle sinnliche Wahrnehmung, um Erkenntnis sein zu können, schon das Eidos, worunter das Einzelne fällt, voraus. Im Wahrnehmen erkenne ich das Einzelne nur, indem ich es auf das Eidos beziehe. Das Eidos ist also nicht ein Resultat, sondern eine Voraussetzung der Wahrnehmung. Diese Voraussetzungsstruktur ist der Hauptgesichtspunkt der Anamnesislehre. Das Eidos der Gleichheit z. B. kann nicht ein Resultat der das Gleiche an den einzelnen Wahrnehmungen zusammenfassenden Denktätigkeit sein, denn das Gleiche selbst kann ich ja in der Wahrnehmung nur als solches erkennen, indem ich auf das in mir schon vorhandene, also vorausgesetzte Eidos der Gleichheit zurückgehe. Man sieht die Leier und nimmt »zugleich ins Bewußtsein den körperlichen Umriß (εἶδοϚ) des geliebten Knaben«. 31 Oder man erblickt Simmias oder dessen Bild und muss zugleich an den Kebes denken. 32 Oder durch ein Bild des Simmias wird eine Erinnerung an den echten Simmias hervorgerufen. 33 Die Erinnerung nimmt also den Ausgang »bald von dem Ähnlichen bald von dem Unähnlichen«. 34 In allen diesen Fällen findet ein Vergleich zwischen dem Erinnerungsbild und dem realen Gegenstand der Erinnerung statt. 35 Ein solcher Vergleich aber ist undenkbar ohne die Voraussetzung des Gleichen an und für sich. »So sieh denn zu, sprach er, ob man es so erklären kann! Behaupten wir, daß ›Gleiches‹ existiert? Nicht so, daß Holz dem Holze, Stein dem Steine gleich ist, nichts von dem, nein außer diesem allen noch ein anderes: ich meine jenes Gleiche, welches ›gleich-an-sich‹ (αὐτὸ τὸ ἴσον) ist. Soll bei uns gelten, daß dies existiere oder nicht? – Bei Zeus, es soll uns
B. Liebrucks, Zur Dialektik des Einen und Seienden in Platons »Parmenides«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 2 (1948), 245. 31 Phaidon 73 d, Übersetzung von Fr. Dirlmeier, Platon. Sokrates im Gespräch. Vier Dialoge, herausgegeben von B. Snell, Frankfurt am Main/Hamburg 1955, Phaidon 53–141. 32 Vgl. Platon, Phaidon 73 e. 33 Ebd. 34 Platon, Phaidon 74 a. 35 Ebd. 30
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gelten, sagte Simmias, und wie! – Und kennen wir denn auch sein eigentliches Wesen? – Gewiß sprach er«. 36 Das Argument von Sokrates schließt mit dem Satz: »So steht denn als Ergebnis fest: bevor wir angefangen haben zu sehen, zu hören, die anderen Sinne zu gebrauchen, muß uns das Wissen vom Dasein jenes ›An sich Gleichen‹ bereits zuteil geworden sein, wenn wir das sinnlich anschaubare Gleiche dorthin beziehen und bemerken sollten, daß es in seinem ganzen Umfang zwar sich müht zu sein wie jenes ›An-sich-Gleiche‹, jedoch mit ihm verglichen minderen Wertes ist«. 37 Dieses Argument zielt bekanntlich auf einen Beweis der Unsterblichkeit der Seele! Die Gleichheit selbst ist immer zu unterscheiden von dem Gleichen in den Einzeldingen, die wohl im Gegensatz zur Gleichheit an und für sich auch ungleich werden können. In der »Politeia« Platons stellt nach Liebrucks die Idee der Gerechtigkeit das wirklichkeitsstärkere Sein dar und ist nicht, »wie die Sophisten sagen nur eine gutmütige Dummheit«. 38 Um diese These zu untermauern, entwickelt Platon, so Liebrucks, seinen Ideenbegriff weiter, und zwar dahingehend, dass er nun die Idee als den Gipfel eines großen Schichtenbaus, Liebrucks spricht auch von einer Seinsskala, bestimmt. Gemeint ist natürlich das Liniengleichnis. 39 Mir scheinen diese Bezeichnungen insofern nicht angebracht zu sein, als Platon im Liniengleichnis keine Skala, keine Pyramide, sondern eine Analogie darstellt, welche in letzter Instanz doch nur die Einigung der voneinander abgetrennten Bereiche des νοητόν und des αἰσθητόν angeht. Das Wirklichkeitsschwächere im Sinne der Seinsskala sind die Scheinbilder (εἰκόνεϚ) der Dinge, die unter den wirklichen Dingen platziert sind. Darüber erhebt sich die eigentliche Wirklichkeit. Sie ist wie die untere Welt in zwei Teile geteilt, die in einem Verhältnis von reeller Qualität und bloßem Abbild zueinander stehen. Es handelt sich beim unteren Teil des νοητόν um die mathematischen Gegenstände, die von der Dianoia nur als Sprungbretter (ὑποθέσειϚ) zum Unbedingten betrachtet werden können. »Erst die νόησιϚ, das reine Denken, das nicht mehr mit sinnlicher Anschauung vermischt ist, ist philosophische Erkenntnis der WirklichPlaton, Phaidon 74 a-b. Platon, Phaidon 75 b-c. 38 Liebrucks, Zur Dialektik des Einen und Seienden in Platons »Parmenides«, a. a. O., 246. 39 Platon, Politeia 509 d – 511 e. 36 37
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keit im strengen Sinne, weil es direkt auf das Wirkliche in seinem unsichtbaren Kern zugeht«. 40 »Erst diese Welt ist Sein im strengen Sinne, weil am weitesten entfernt vom Nichtsein«. 41 »Hierin liegt die ontologische Begründung für die Gesamtkonzeption der Politeia« 42 und die Antwort auf den Sophisten Thrasymachos, der das Gerechtsein und das Starksein unmittelbar miteinander verknüpft hat. »Die Dialektik als höchste der Wissenschaften erfaßt die Verhältnisse der Welt nicht, wie sie den verschiedenen Perspektivismen ihrer Erscheinung unterworfen begegnet, sondern im Seinsgrund der Welt selbst, in den Ideen. Sie ist also die einzige Wissenschaft, die den Zugang zum wahren Wesen der Welt ermöglicht. In dieser Ontologie Platons scheint geschichtlich wie systematisch gesehen der Eleatismus der griechischen Philosophie, dessen Hauptsatz in der Behauptung des Parmenides bestand, daß das Seiende ist, das Nichtseiende dagegen nicht ist, auf der ganzen Linie zu triumphieren«. 43 Auch der »Theaitetos« überwindet nach Liebrucks die genannte Ontologie nicht, wenn er den Erkenntnisprozess in einem hypostasierten Identitätsbegriff, d. h. in der identischen Seele, fundiert, 44 welche als Sitz der Wahrnehmungen etwas von ihnen ganz anderes sein muss, welches allererst auch ein Vergleichen der Wahrnehmungen untereinander ermöglicht. Dieses Gemeinsame ist nun die Seele als ein ταὐτόν, das »bei Gelegenheit der Wahrnehmungen zum Vernehmen des Noeton« 45 kommt. Das was die Seele vernimmt, ist immer nur die nicht sinnlich wahrgenommene οὐσία. Nach Liebrucks bleibt aber auch dieses Argument auf die Zweiweltentheorie fixiert. 46 Die Idee der Einheit jedoch, die auch und zumal in der Idee der politischen Gerechtigkeit konzipiert ist, lässt sich, betont Liebrucks, Liebrucks, Zur Dialektik des Einen und Seienden in Platons »Parmenides«, a. a. O., 247. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Liebrucks, Zur Dialektik des Einen und Seienden in Platons »Parmenides«, a. a. O., 247 f. 44 Plato »considers the claim of perception to be identical with knowledge […]. Plato does not speak of a ›common sense‹ (κοινὴ αἴσθησιϚ), but on the contrary insists that his common terms are apprehended, not by any sense, but by thought (ψυχή)« (Fr. MacDonald Cornford, Plato’s Theory of Knowledge. The Theaetetus and the Sophist of Plato, London 1973, 102, 105. 45 Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 122. 46 Ebd. 40
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nicht im Modell der zwei Welten erreichen. »Eine solche Idee, (d. h. die Gerechtigkeit, Zusatz vom Verfasser) konnte von vornherein nicht in einer Überwelt des Unsichtbaren allein gedacht sein, sondern mußte die Welt des Alltäglichen bis in ihre kleinsten Züge durchherrschen. Die Möglichkeit hierzu konnte keinesfalls in den Theorien des Überstiegs der Welt des Sichtbaren in die des Unsichtbaren allein begründet sein. Hier mußte noch einmal die Frage nach der Wirklichkeit der Ideen selbst gestellt werden«. 47 In diesem Sinne kritisiert Liebrucks Stenzel, der durch die Methode der Dihairesis ein Hinuntersteigen in die Wahrnehmungswirklichkeit bei Platon behauptet. Das ist nach Liebrucks nichts anderes als Neukantianismus, der die Differenz zwischen Anschauung und Begriff nie zu einer echten Einheit geführt hat. Wie die oben erwähnte Idee der Gerechtigkeit ist also die Idee im späten Werk Platons nach Liebrucks von vornherein auf die Welt des Empirischen bezogen. 48
VI. Der Dialog »Sophistes« Eine andere Art von Ontologie entwickelt nach Liebrucks Platon im Dialog »Sophistes«. Hier wird nicht die Vielheit des Wahrgenommenen dem idealen Sein äußerlich entgegengesetzt, sondern die innere Bezüglichkeit von Sein und Nichtsein aufeinander gelehrt. »Die Bedingungen der Möglichkeit der Scheinkunst der Sophistik liegen darin, daß auch das Sein hat, was nicht seiend ist«. 49 Der eleatische Xenos bestimmt den Begriff des Sophisten und verlangt dabei ausdrücklich sowohl von sich selbst als auch von seinen Mitunterrednern nicht nur den Namen des Sophisten, sondern auch seinen Logos begrifflich zu erfassen. »Man darf also nicht bei der Gemeinschaft des Namens χωρὶϚ λόγου ohne den Logos stehen bleiben. Auf dem Weg über den Logos kommen wir zur Wesensaussage eines Sachgebietes. Den Namen allein dagegen kann jeder auf eigene Weise
Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 123. Ebd. Liebrucks, Zur Dialektik des Einen und Seienden in Platons »Parmenides«, a. a. O., 252 ff. Vgl. hierzu auch Stenzels Interpretation des ἄτομον εἶδοϚ in: J. Stenzel, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, dritte durchgesehene Auflage, Darmstadt 1959, 118 ff. 49 Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 186. 47 48
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mit einem Wirklichkeitsgebiet verbinden«. 50 Zu diesem Zweck schlägt er eine Methode vor, die auf die Definition des gesuchten Begriffs führen wird; diese ist die Dihairesis. Unter der Voraussetzung eines fundamenti divisionis soll der anfängliche Begriff entzweit werden und von den zwei sich ergebenden Begriffen soll wieder derjenige Begriff in zwei geteilt werden, der an der Einteilungsbasis orientiert ist. Das wird solange fortgesetzt bis der gesuchte Begriff erreicht ist. Diese Methode wird erst an dem Paradigma vom Angelfischer, der wie der Sophist als ein Jäger angesehen wird, demonstriert. Daraufhin wird sechsmal hintereinander versucht, den Begriff des Sophisten nach dieser Methode zu definieren. Mit Hilfe dieser dichotomischen Annäherungen an den Begriff des Sophisten erfasst man ihn am Ende als den Antilogiker schlechthin. Auch wird der Sophistes als ein »Nachahmer des Seins« 51 gekennzeichnet. Dieser neu eingeführte Begriff der Nachahmung des Seins lenkt nun die Diskussion auf den Begriff des Nichtseins und des Irrtums, 52 also auf jenen Begriff, dessen bloße Existenz die Fundamente des eleatischen Seins zerstört. Hiermit beginnt die Untersuchung über das Nichtsein, 53 über die Bedeutung der Negation, und zwar wird zuerst gezeigt, in welche Schwierigkeiten der Begriff des Nichtseins oder der Negation das Denken verwickelt. Wer das Etwas aussagt, der sagt schon das Eine aus. Aber auch, wenn einer sagt, das Nichtseiende ist nicht, hat er es als Einheit schon ausgesprochen. Wenn wir sagen: dieses Eine ist nicht oder diese Sieben sind nicht, haben wir schon das Nichtsein mit der Zahl verbunden, die prinzipiell im Sein verankert ist. 54 Mithin müssen wir den Widerspruch untersuchen, dass wir dem Nichtseienden ein SeienLiebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 124. Platon, Sophistes 235 a 1. 52 Zum Verhältnis von falscher Meinung und Nicht-Sein vgl. J. Sprute, Der Begriff der DOXA in der platonischen Philosophie, Göttingen 1962, 53. 53 Nach M. Frede sind Sein und Nichtsein »Probleme«, die sich gar nicht stellen würden, »wenn man die Sprache richtig verstünde«. Diese Einstellung kann natürlich niemals zu dem Gedanken Platons Zugang finden, dass das Sein als solches innigst mit der absoluten Form des Wissens zusammenhängt. Vgl. hierzu M. Frede, Die Frage nach dem Seienden: Sophistes, in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, herausgegeben von Th. Kobusch und B. Mojsisch, Darmstadt 1996, 184 f. 54 Nach Aristoteles hat Platon alles auf zwei Prinzipien reduziert, auf das Eine und die unbestimmte Zweiheit. Erst aus einem Ins-Verhältnis-Setzen dieser beiden hat er den Begriff der Zahl produziert. Vgl. hierzu Meta ta Physika 989 18. Vgl. auch J. Stenzel, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, a. a. O., 50 ff. Vgl. auch Idee und Zahl, Stu50 51
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des prädizieren. Also auch derjenige, der sagt, es gebe kein Nichtsein, redet von ihm entweder in der Einheit oder in der Mehrheit, was er nicht kann, ohne ein Seiendes ihm beizulegen. Ähnliche Aporien begleiten den Begriff des Seins. Was versteht z. B. unter Sein derjenige, welcher viele Prinzipien als seiend voraussetzt? Wenn etwa Empedokles zwei als seiende voraussetzt (νεῖκοϚφιλότηϚ), muss man dann nicht ein drittes hinzudenken, das wie eine dritte Idee fungiert, an der die beiden Seiende teilhaben? Darüber hinaus: Wie verhält sich das Sein zu den Begriffen Eines und Ganzes? Nach Liebrucks wird in allen diesen Aporien die Schwierigkeit des eleatischen Seinsbegriffs immer neu aufgezeigt. »Soviel aber ist für unseren Zusammenhang klar, daß das Sein des Seienden weder das Eine noch eine Einheit sein kann, weil sich gerade aus dieser scheinbar klarsten Hypothesis Konsequenzen ergeben, […] die das Sein aller Wirklichkeit entkleiden, es also zum Nichtsein machen«. 55 Nach der Darstellung der Schwierigkeiten einer Verbindung des Seins mit der Zahl werden zwei Parteien vorgestellt, die in einer unversöhnten Gigantomachia begriffen sind. Die Absicht Platons ist es hier, auf beiden Seiten die Aporien des Seinsbegriffs weiter zu entwickeln. dien zur Platonischen Philosophie, von H.-G. Gadamer/K. Gaiser/H. Gundert/J. Krämer/H. Kuhn, vorgelegt von H.-G. Gadamer und W. Schadewaldt, Heidelberg 1968. 55 Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 137. – Ähnliches finden wir im Dialog Parmenides. Wenn das Eine ist, so kann es: »1. weder ein Ganzes sein noch Teile haben; 2. weder Anfang noch Ende noch eine Mitte haben. Es ist ἄπειρον grenzenlos; 3. weder rund noch gerade sein. Es ist gestaltlos; 4. weder in sich selbst noch in einem anderen sein. Es ist nirgends; 5. es kann weder stillstehen noch sich bewegen (weder durch ἀλλοίωσιϚ, Veränderung, noch durch φορά, Ortswechsel); 6. es ist weder gleich mit sich selbst oder einem anderen, noch verschieden von sich selbst oder einem anderen; 7. weder ähnlich mit sich selbst noch einem anderen, noch unähnlich mit sich selbst oder einem anderen; 8. es ist weder gleich groß mit sich selbst noch einem Anderen noch ungleich groß mit sich selbst oder einem anderen; 9. es ist weder älter als es selbst oder ein anderes noch jünger als es selbst oder ein anderes; 10. es hat nicht Teil an der Zeit; 11. es hat nicht Teil am Sein; 12. es wird weder ausgesagt, noch gemeint, noch erkannt oder auch nur wahrgenommen.« (Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 189) Die Formel Weder-Noch schlägt in der zweiten Hypothese (Wenn das Eine ist) in ein Sowohl als Auch um. Platon scheint hier das seiende Eine als die Positionalität aufzufassen, die sich nicht zu sich selbst zurücknimmt und daher mit der absoluten Bestimmungslosigkeit zusammenfällt. Man darf indes nicht übersehen, dass diese Unbestimmtheit nach Platon ein Prinzipielles im Logos darstellt. Sie erscheint im »Sophistes« als das Andere, im »Philebos« als das unfassbare Unbegrenzte, im »Timaios« als die alles in sich aufnehmende Hypodoche, d. h. als die absolute Bestimmbarkeit des Seienden und wird zuletzt bei Aristoteles mit dem Wesen der Hyle selbst in Beziehung gebracht.
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Nach Liebrucks kann das allerdings nur »der erste Schritt in der positiven Bestimmung des Begriffs des Seins sein. Wenn dieser Seinsbegriff nicht gefunden werden könnte, dann ist der Sophist nicht einzugrenzen. Er bliebe Sieger«. 56 Auf der einen Seite stehen diejenigen, welche die Existenz des Greifbaren annehmen. Auf der anderen Seite diejenigen, welche nur die Idealität des Begriffs als das allein Existierende ansehen. Für die Materialisten, die Sein und Soma identifizieren, »hat der Fremde eine Definition des Seins […] bereit, die den ersten positiven Ausweg aus der Aporie bringt«. 57 »Nun, ich sage also: Was eine Befähigung, welcher Art auch immer, hat, irgend etwas zu einem anderen zu machen oder auch selbst vom Unwesentlichen nur das geringste zu erleiden – sollte es auch nur einmal geschehen –, daß dies alles wirklich sei. Ich setze also jetzt als Bestimmung des Seienden fest, daß es nichts anderes ist als dynamis (Befähigung)«. 58 Auf diesen Begriff könnte man vielleicht den Materialisten verweisen. Gegen den Idealisten betont der eleatische Xenos zunächst, dass das bloße Erkanntsein der Ideen sie zu leidenden macht, insofern als in diesem Falle gezeigt wird, dass sie einem Pathema 59 unterliegen. Sodann wendet er seinen Blick auf die Einheit des Seins und fragt, ob wir annehmen sollen, dass das absolute Sein (παντελῶϚ ὄν) ohne Bewegung, ohne Leben, ohne Seele, ohne Erkenntnis sein könne? Bewegung und ihr Gegenteil, also Stillstand, nehmen doch am Sein teil und sind die Bewegung und der Stillstand des Seins selbst. Gegen alle formale Logik muss die Bewegung somit als seiend angesehen werden. Ein bewegungsloses Sein aber kann nicht gedacht werden, es ist also ein Nicht-Sein. Erst hier zeigt Platon, dass die Schwierigkeiten des Seins mit den Schwierigkeiten des Nichtseins eng zusammenhängen. Den engen Zusammenhang von Sein und Nichtsein lösen nun diejenigen auf, die mit dem Adjektiv »ὀψιμαθεῖϚ« bezeichnet werden. Sie lassen Sein und nicht Sein für sich allein stehen. Im Weiteren werden Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 141. Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 138. 58 Platon, Sophistes 247 d-e, Übersetzung von H. Meinhardt, Stuttgart 2005. Fr. Schleiermacher übersetzt »dynamis« mit dem Ausdruck »Vermögen«. 59 »Dynamis includes passive capacity, receptibility, susceptibility, as well. […] The passive dynamis, the capacity for receiving ›affections‹ of which the nature or constitution is susceptible, is less often mentioned«. (Cornford, Plato’s Theory of Knowledge, a. a. O., 234; vgl. auch 236) 56 57
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die folgenden drei Fälle zusammengefasst: 1. »Die vollständige Unbezüglichkeit der Genera«, 60 also des Seins, der Bewegung und des Stillstands. In diesem Fall kann das Sein nicht mehr mit den Dingen gedacht werden. 2. »Die Setzung der vollständigen Bezüglichkeit der Genera untereinander«. 61 Hier hebt sich alles gegenseitig auf, indem alles sich mit allem verbindet. 3. »Die Setzung der partiellen Bezüglichkeit der Genera untereinander«. 62 Hier haben einige die Möglichkeit der Vergesellschaftung (ἐπικοινωνεῖν = kommunizieren), die anderen nicht. Es liegt auf der Hand, dass nur die dritte Möglichkeit ernsthaft besprochen werden kann. Wenn dies aber der Fall ist, dann geht es mit den seienden Dingen wie mit den Buchstaben, »von denen die einen sich miteinander verbinden, die anderen nicht«. 63 Es wäre fehlerhaft hier anzunehmen, dass Platon nur die Aussageformen etwa im Aristotelischen Sinne einer formalen Logik 64 im Sinne hat, wenn er von der Auflösung (Analysis) eines Zusammenhangs in seine Bestandteile (Elemente) und zugleich von seiner Zusammensetzung (Synthesis) aus Bestandteilen spricht. 65 Denn wie das Beispiel auch zeigt, sind die στοιχεῖα (Elemente) nicht nur als die Bausteine von Silben, sondern darüber hinaus als die Elemente von allem anzusehen. 66 Wie also bei den Buchstaben der sie in Gebrauch Nehmende ein Grammatiker ist, so ist hier beim wahren Wissen um das Seiende ein Philosoph am Werke, dessen Ergon im richtigen Unterscheiden und im richtigen Verbinden liegt. Dieser ist der Dialektiker. Liebrucks spricht hier von dem Riesenprogramm der Wissenschaft der Dialektik. »Es wird nicht mehr eine Kunst, sondern eine Wissenschaft (ἐπιστήμη) notwendig sein, mit Hilfe der man auf dem Wege über die Logoi dahin gelangt, richtig aufzuzeigen«, 67 ob es eine Möglichkeit der Verbindbarkeit der Logoi gibt. Die Dialektik wird »bestimmt als das Unterscheiden nach den Genera, und zwar dahingehend, daß man dasselbe Eidos nicht Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 146. Ebd. 62 Ebd. 63 Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 147. 64 »Dialectic is not what is now known as ›Formal Logic‹«, Cornford, Plato’s Theory of Knowledge, a. a. O., 264. 65 Nach Cornford ist die Methode rein platonischer Herkunft: »The method is that method of Collection and Division which was announced in the Phaedrus and has been illustrated in the Sophist«. (Cornford, Plato’s Theory of Knowledge, a. a. O., 264) 66 Stenzel, Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles, a. a. O., 14 ff. 67 Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 148. 60 61
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für ein anderes Eidos hält, und das, was seinem Sein nach Anderes ist, nicht für dasselbe hält (253 D)«. 68 Der Dialektiker bestimmt also hinreichend die Verbindbarkeit der Eide. Ich zitiere in diesem Zusammenhang die überaus wichtige Erläuterung von Liebrucks: »Hier haben wir vier Beispiele für die Möglichkeit der Gemeinschaft, die die Genera untereinander haben, bzw. nicht haben. Es ist eine ansteigende Reihe von der vollständigen κοινωνία einer Idee durch viele hindurch (1) über den Fall, daß eine Idee die einander Anderen gerade noch von Außen umschließt (2), und über den Fall, daß eine Idee gleichsam an allen vorübergeht, aber eingekapselt ›in Einem‹ bleibt, d. h. mit denen, an denen sie vorübergeht, keine Bezüglichkeit mehr hat (3) bis zur vollständigen Unbezüglichkeit einiger Ideen untereinander (4)«. 69 Wir halten also fest: Sein und Bewegung gehören innigst zusammen. Die dialektische Wissenschaft, man könnte auch sagen: die Wissenschaft des sich bewegenden Begriffs erforscht erst die Verbindbarkeit der drei Genera Sein, Bewegung, Stillstand. Sodann folgt die Darstellung des sich bewegenden Begriffs bezüglich der nächsten Fälle, welche ein Reflexionsverhältnis der drei obigen Genera darstellen; es sind dies die Genera des Desselben (ταὐτόν) und des Anderen (ἕτερον); denn jedes der drei ersten Genera hat am ταὐτόν teil, wenn sie an und für sich betrachtet werden; sie nehmen aber an dem ἕτερον und der Unterschiedenheit teil, wenn sie in Beziehung zueinander gesetzt werden. Wichtig ist hier anzumerken, dass das Anderssein keinen abgeleiteten Begriff darstellt, denn die Negation verteilt sich ursprünglich durch das ganze Gebiet des Seins. Daher meint sie nicht ein sich zu Anderem Verhalten, welches ohne eigenes Bestehen ist, sondern ein Anderssein, das an und für sich ein Bestehen hat. Liebrucks formuliert: »der Grund des Nichtseins ist die Relationalität alles bestimmten Wirklichen«. 70 »In vielen Hinsichten ist jedes Eidos seiend. Was nun den Bestimmtheitscharakter jedes Eidos betrifft, so ist es gerade seine Begrenzung, die immer mehr Hinsichten aufzeigt, in Bezug auf die es nicht ist. Je mehr Hinsichten seines Nichtseins auftreten, desto schärfer tritt der positive Charakter seines Seins heraus. Wir fanden den Grund der Wirklichkeit des Nichtseienden in der Rela68 69 70
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tionalität alles bestimmten Wirklichen. In Platons Sprache heißt das: ›der Grund der Wirklichkeit des Nichtseienden liegt in der κοινωνία alles Seienden mit dem Genus des Anderen‹«. 71 Auf diese Weise fasst Platon gegen das Gebot von Parmenides das θἄτερον, das Nichtseiende als ein Wesen auf. Die Negation ist hier qualitativ gedacht, und zwar nur als das Andere des Seins; sie ist nicht das reine Nichtsein, sondern das eigene Andere des Seins. Es ist auch sehr wichtig zu sehen, dass diese gesamte Untersuchung über die Natur des Anderen auf dem Hintergrund eines Logosbegriffs stattfindet, der nicht nur der Name ist. Denn Logos ist hier im »Sophistes« wie auch am Ende des Dialoges »Theaitetos« das zugrunde liegende Thema. »Weil es die restlose Vernichtung jedes Logos bedeutet, wenn man alles voneinander löst; denn nur auf Grund der Verwobenheit (συμπλοκή) der Eide miteinander gibt es den Logos«. 72 Liebrucks spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ontologie, die jenseits von Eleatismus und Sophistik steht«. 73 »Die Bedingungen der Möglichkeit zur Scheinkunst der Sophistik liegen also darin, daß auch das Sein hat, was nicht-seiend ist. Damit erwies sich, daß Parmenides, der die Wirklichkeit des Nichtseins geleugnet hatte, in Wahrheit ohne Argument gegen die Sophistik gewesen war. An dieser Stelle begreifen wir, daß die Eleatische Ontologie Platons prinzipiell genau so ohnmächtig gegen die Sophistik war. Wenn von den ersten Frühdialogen bis zum Sophistes das Ringen mit diesem gefährlichsten Gegner immer wieder aufgenommen wird, so hat Platon im Gegensatz zum Platonismus bis auf den heutigen Tag gewußt, was das für ein Gegner war. – Das Sein des Nichtseienden bestand darin, daß es in einer ursprünglichen συμπλοκή, in einer ontischen Verflechtung mit dem Seienden stand. […]. – Darüber hinaus erwies sich in der Gigantomachie zwischen Idealisten und Materialisten, daß der Eleatische Charakter des Seins keinen Raum ließ für die ontologische Möglichkeit der Erkenntnis. – Damit fiel die Entscheidung gegen den Eleatismus, und dem Sein wurde die Gegenwart von Bewegung, Seele und Einsicht zugeschrieben. Es selbst aber ist nicht identisch etwa mit der Bewegung oder dem StillLiebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 155. Platon, Sophistes 259 e, Übersetzung von H. Meinhardt, Stuttgart 2005. Vgl. allgemein zum Logosbegriff: M. Heinze, Die Lehre vom Logos in der griechischen Philosophie, Aalen 1984. 73 Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 181. 71 72
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stand, sondern nur so viel ist behauptet, daß es niemals anders auftritt als in Gegenwart dieser beiden Genera. So entstand das Problem der συμπλοκή der Genera überhaupt, das nach Ausschaltung sowohl der vollständigen Unbezüglichkeit wie auch der vollständigen Bezüglichkeit im Sinne einer partiellen Bezüglichkeit der Genera untereinander entschieden wurde«. 74 Liebrucks hat diesen Begriff des Nichtseins qua Andersseins schon in der gespaltenen Linie des Liniengleichnisses beschrieben. Er hat aber die unteren Schattenbilder 75 dort nur als die zum Verschwinden verurteilten Nichtseienden angesehen, weil er das gesamte Liniengleichnis unter dem Begriff einer Seinsskala gefasst hat. Dem ist nach unserer Auffassung nicht so! Alle drei Analogien der »Politeia«, also die Analogie der Sonne, der geteilten Linie und der Höhle antworten auf die Frage, was das Gute ist. Insofern könnte man sagen, dass das Gute von seinem Wesen her analogisch ist und dass die analogische Einigung nicht nur ein Mittel zur Darstellung des Guten, sondern dessen ureigenes Wesen darstellt. In der ersten Analogie der Sonne als des Sprößlings des Guten wird auch der Begriff des ζυγόϚ, d. h. des Joches genannt, dessen Seinsstärke mit seinem Mittecharakter unmittelbar verbunden ist. Das Licht ist das Joch zwischen der Sonne und dem Sehen. Diese Mitte ist in sich gebrochen; denn sie ist sowohl das äußere Licht als auch das eigene Licht des Auges. Dasselbe gilt auch für das Joch zwischen dem Guten und dem Wissen. Dieses ist in sich geteilt: einmal erscheint es als das Seiende und einmal als das Wahre. Die ursprüngliche Analogie ist also: wie die Sonne zum Sehen so das Gute zum Wissen. Entsprechend wird auch im Liniengleichnis eine gespaltene Linie vorgestellt. Eine Kluft entsteht hier nicht, denn ein jeder von diesen Teilen ist wieder in zwei Teile geteilt. Durch die analogische Beziehung aller vier Teile wird die anfängliche Spaltung der Linie aufgehoben. Wie A : B so C : D. A steht hier für die Eide, die auf die Arche bezogen sind. B für die mathematischen Gegenstände, also für alle Raumgestaltungen. Mit C werden die konkreten Dinge selbst und mit D ihre SchattenLiebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik, a. a. O., 186. Die Schatten und die Spiegelbilder machen den Gegenstandsbereich der εἰκασία aus. Vgl. hierzu Sprute, Der Begriff der DOXA in der platonischen Philosophie, a. a. O., 84. Vgl. auch Th. Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum »Charmides«, »Menon« und »Staat«, Berlin-New York 1974, 173 ff.
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bilder, die Nichtseienden, symbolisiert. Wie im »Sophistes« spricht Platon hier auch von einem Nichtsein, das auf das wahre Sein selbst relativ betrachtet wird. Der Unterschied besteht nur darin, dass das Genos des Anderen hier in der »Politeia« noch nicht eingeführt ist. Im Folgenden werden wir versuchen, noch einen letzten Gedanken zu umreißen, der für Liebrucks von großer Relevanz ist. Es handelt sich um das innere Verhältnis zwischen Platon und Hegel. Das Buch über dieses Thema wurde, so Liebrucks, noch nicht geschrieben! Es steht außer Frage, dass das Gemeinsame im Denken dieser Philosophen der Begriff des Anderen ist. Hegel hat in seiner »Wissenschaft der Logik« gezeigt, dass das Andere als das Andere seiner selbst den Angelpunkt einer Theorie des Logos darstellt, dessen Kategorien nicht als das geometrisch zu Erfassende, also nicht spatiologisch zu konzipieren sind. 76 Sie sind vielmehr als solche durch die Bewegung des Horos, der selbstbezüglichen Negation gestiftet. Im Gedanken eines ursprünglichen Sich-Unterscheidens, das die positiven Unterschiede in seinem Selbstverhältnis immer schon zurücknimmt, gründet das Hegelsche Logosverständnis. Der Logos besteht hier in der Selbstbezüglichkeit des Andersseins, oder in seiner Produktion aus seinem sich disjungierenden Selbst. Der selbstbezügliche Unterschied ist denn auch das Prinzip der Dreiteilung der »Wissenschaft der Logik« in Sein, Wesen und Begriff. Das Sein ist das unmittelbare Sich-Unterscheiden selbst. Es ist ein Verhältnis zwischen zwei Bestimmungen, das wesentlich im Anderssein gründet. Auch wenn anfänglich weder die fundierende Bestimmung der qualitativen Negation noch das unendliche Selbstverhältnis des Sich-Negierens zum Inhalt wird, im Sein fungiert doch die Form des Sich-Verhaltens des Andersseins, d. h. des Logischen. Diesem Prinzip ist es wesentlich, seine Bestimmtheit nur durch die gesetzte Beziehung auf das Anderssein auszudrücken und dabei auf keine fundierende Seiendheit Schellingscher Provenienz angewiesen zu sein. Im Logischen aufgehoben wird die Bestimmtheit nur als der sich zu sich verhaltende Unterschied aufgefasst. In diesem Zusammenhang heißt Qualität etwa: Jede Bestimmung ist von ihrer anderen ein einfach Unterschiedenes, und nichts anderes als das. In der Qualität sind jedoch die Bestimmungen insofern beziehungslos, als ihr Verhältnis zueinander nur durch die einfache Anders76
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Vgl. etwa die Rede vom Umfang des Begriffs.
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heit bestimmt ist. Die qualitativen Differenzen haben nichts Gemeinsames zum Inhalt und insofern sind sie ebenso wenig voneinander unterschieden, d. h. sie sind beide das Sein und eben nicht die sich qualitativ zueinander bestimmenden Anderen. Das Qualitative ist also dieses Ansichsein des sich zu sich verhaltenden Unterschieds. In ihm ist die wechselseitige Negation der Relationsglieder gesetzt. Aber das, was man qualitative Negation nennt, schlägt in Unbestimmtheit um, wenn die Bestimmtheit zur vollkommenen Entäußerung ihrer selbst kommt. Der Inbegriff des Qualitativen ist das Fürsichsein, das Eins, welches das andere Eins von sich ausschließt. Wenn es aber in Beziehung mit denselben übergeht und sich identisch zu den Anderen verhält, dann hat es »seine Bestimmung verloren«; 77 es verliert sich in einer Einheit, die »als Einheit des Außersichseins Einheit mit sich selbst ist«. 78 Das ist die Quantität. Quantität heißt: die allen Gliedern gemeinsame Form ist die des Andersseins. Das ist eine Seinsform, die als solche alle Glieder in einer Einheit zusammenfasst und sie zugleich als unterschiedene diskret auseinanderhält. Aus dieser Gleichgültigkeit gegenüber der qualitativen Bestimmtheit entsteht der Begriff der Zahl, in der das Sein nicht Existenz, sondern das Außereinandersein von an sich gleichgültigen Bestimmungen besagt. Erst im dialektischen Prozess entsteht aus dem Außereinandersein der Zahleinheiten wieder ein Begriff der Totalität des Sich-Anderen, der das Maß ist. Erst hier bestimmt sich das Sich-Anders-sein des Seins als qualitative Totalität. In dieser Kategorie aber ist das Sein zugleich der Gegensatz seiner zu sich selbst. Als diese konkrete Qualität ist das Maß die Kategorie der sich in sich setzenden Unterschiedsbeziehung, das Wesen. Das Wesen ist die Unterschiedsbeziehung als Position schlechthin ausgedrückt. Das Wesen ist der Inbegriff der Positionalität, jedoch ohne das Unterschiedsverhältnis, aus dem es entsteht. Das Hervorheben dieses Verhältnisses leistet erst die Reflexion, die nichts anderes als die Bewegung der Wiedergewinnung des negationshaltigen Verhältnisses im Wesen selbst ist. Das Wesen erscheint nicht als das im Verhältnis, G. W. F. Hegel, Gesammelte Werke. In Verbindung mit der deutschen Forschungsgemeinschaft hg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff., Die Wissenschaft der Logik, Bd. 21, Erstes Buch, Die Lehre vom Sein, 215. 78 Ebd. 77
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im Unterschied zu Anderem Bestimmte, sondern als jenes, welches das Verhältnis und seine Unterschiede erst in sich selbst setzt. Das Wesen scheint. Sein Schein besteht im Zusammensein oder in der Identität seines Nichtseins mit sich selbst. Der Schein, den sich das Wesen gibt, ist der in sich gefestigte Gehalt, diese schlechthin positive, innere Einheit der Negation mit sich selbst. Diese aber ist nur die Eneikonisis, nur die Scheinbildung des Darinseins. Diese innere Einheit entsteht demnach allein aus dem Verhältnis zu Anderem, zu Äußerem. Die Vorstellung eines Wesens als des in sich gekehrten Gehalts hat die Wesensmetaphysik von Plotin an bis hin zu Cusanus, Fichte und Schelling bestimmt. Dieses innere, in sich Totale hat man immer nur durch die unendliche Approximation zu erreichen versucht. Das Wesen aber, sagt Hegel, ist wesenlos, d. h. es ist nur Äußerliches oder nur im Verhältnis zu Anderem. Die gesamte Wesenslogik ist von daher als das Sich-äußerlich-Setzen, als das Sich-Manifestieren einer in sich gekehrten, absoluten Wesenssache oder eines wesenhaften Inneren entworfen. Erst im Begriff als dem dritten Teil der Logik erscheint das Bestimmtsein der qualitativen Differenz sowohl als auch das Sich-Offenbaren des wesenhaften Inneren der in sich gekehrten Begrenzung (Horos) als die unendliche Bewegung des Sich-Unterscheidens oder als die sich auf sich als reine ὁμολογία 79 beziehende Bestimmtheit. Diese ist die von ihrer absoluten Grenze ursprünglich anfangende und sich in ihr schlechthin realisierende Idee. Sie allein ist das Logische als das schlechthinnige Beisichsein im Anderen seiner selbst. Dieser Begriff von Logik, welcher den Prozess des selbstbezüglichen Anderen aus seiner eigenen Dynamik heraus darstellt, führt uns ohne Umschweife auf den späten Platon zurück. In Platons Ablehnung des spatiologischen Denkens (Sein als Kugel: Parmenides; Sein als Wirbel oder als Unendliches: Empedokles-Anaximandros; Sein als Raum: Demokrit; Sein als abgetrennte Allgemeinheit: Sokrates), die Hegel unter dem Aspekt einer Bewegung und Methode des Logischen bis zum Äußersten geführt hat, könnte man auch heute die Gründe für die Unfassbarkeit des sich bewegenden Begriffs qua Unterschiedsverhältnisses suchen. In Wahrheit aber bleibt dieses Moment der Selbstbewegung des Vgl. hierzu Th. Penolidis, Der Horos. G. W. F. Hegels Begriff der absoluten Bestimmtheit oder die logische Gegenwart des Seins, Würzburg 1997, 121 ff. Vgl. zum Thema auch Th. Penolidis, Logos als Theoria. Bemerkungen zu Hegels Begriff des Spekulativen, in: Synthesis Philosophica 22 (2007), 1. Halbband, 157–194, 165 ff.
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Unterschiedsverhältnisses nur einem Denken unfassbar, das den Begriff nicht anders als eine geometrische Figur nimmt. Liebrucks hat in seinem Platonbuch die Anfänge einer Überwindung des äußeren Begriffs in den Prozess der Selbstbezüglichkeit des Anderen auf die anspruchvollste Weise bestimmt. Er hat damit den griechischen Logos, sofern er die räumliche, also bloß dianoetische 80 Konzeption seiner selbst überwindet, auf das Genaueste erfasst; diesen Logos nennt Liebrucks in seinem geliebten Deutsch »Sprache«.
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Vgl. Platon, Politeia 510 d. A
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Fragt man nach Bruno Liebrucks’ bleibender Relevanz, so sind vornehmlich zwei Gesichtspunkte anzuführen: erstens seine Gesamtinterpretation der systematisch gewichtigsten Denker der abendländischen Philosophie (Platon, Kant und Hegel), denen wir das Denken revolutionierende Fortschritte – die »Revolutionen der Denkart« – verdanken; zweitens die daraus erwachsende »Philosophie von der Sprache her«. Letztere unternimmt es, unter Aufnahme der sprachbezüglichen Einsichten von Vico, Herder, Hamann, Humboldt und Cassirer eine Antwort auf das Avancierteste, was nach Liebrucks im Denken des Denkens bislang erreicht wurde, nämlich Hegels Logik, zu geben. Gerade diese beiden Punkte machen Liebrucks zu einem kritischen Korrektiv bezüglich gegenwärtiger Ansätze in der Interpretation von Kant und Hegel und bezüglich der Reduktion der Sprache auf ihre bloße Mittelhaftigkeit und Handlungsbezüglichkeit. Im Folgenden sollen die Grundzüge von Liebrucks’ Kantinterpretation und der Schritt zur Dialektik im Sinne Hegels dargestellt werden. Denn Liebrucks vertritt die Auffassung, dass die Hegelsche Dialektik die Voraussetzung, d. h. der Grund der Kantischen Kritik ist, dass der Kantische Ansatz mit Notwendigkeit zu Hegel führt. Im Aufzeigen dieses Zusammenhanges soll der Gedanke bis an jenen Punkt geführt werden, an dem der Ansatz der »Philosophie von der Sprache her« deutlich wird. Wir beginnen einleitend mit der Beantwortung der Frage: Warum sollen wir uns überhaupt mit der philosophischen Tradition auseinandersetzen?
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I.
Zur Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition
1.
Scheinbare Verabschiedung der Metaphysik oder Aneignung des Problemstandes?
Wie konstituiert sich systematisch relevante Philosophie? Nur in der Aneignung des Problemstandes, wie er in der Geschichte der Philosophie nicht schon hinter uns, sondern zunächst immer erst vor uns liegt: »Wir beginnen immer mit der Übernahme des Überlieferten und haben darin unser Leben lang zu lernen. […] Im Geistigen folgt so auf das Alter die Jugend. Jung wird man hier um den Preis, den man dem Alter, den Toten und der Tradition gezahlt hat.« 1 Dies können wir zunächst allgemein auf die Sprache beziehen: Wir lernen nur Sprechen, indem wir uns den Denk- und Sprachbahnen, die im Wortschatz und den grammatischen Formen einer Sprache aufbewahrt sind, unterstellen (W. v. Humboldt). In der Sprache ist das Gesprochenhaben aller vorangegangenen Generationen aufbewahrt; dies die bleibende Voraussetzung unseres Sprechens. So stehen wir im Denken des Denkens immer schon – auch dann, wenn wir meinen, einen vollständigen Neuanfang gemacht zu haben – auf den Schultern der Tradition, d. h. zunächst auf dem Boden eines bestimmten geschichtlich erreichten Bewusstseins der Freiheit. Dort, wo die Philosophie dies übersieht oder ausblendet, bleibt sie unmittelbarer, sich nicht wissender Ausdruck einer bestimmten Selbst- und Weltinterpretation des Menschen und ist nicht sich interpretierendes Bewusstsein der Freiheit (θεωρία). Nun ist unsere Zeit seit dem sogenannten »Zusammenbruch des Deutschen Idealismus« durch Versuche von Neuanfängen im Denken geprägt, die diesen Preis des Umweges über die Aneignung der Tradition nicht zahlen wollen, sondern unmittelbar beim Konkreten sein wollen. In diesem Zusammenhang distanziert Liebrucks – im Anschluss an das zuvor Zitierte – zwei unzureichende Formen des Sich-ins-Verhältnis-Setzens zur Tradition: Dies sind zum einen eklektizistische Ansätze, die in Gestalt der diversen Ismen auftreten. In diesem Sinne betont er: »Wer glaubt, er könne aus unserer abendländischen Tradition ein Steinchen herausnehmen und sich an eine von ihm geliebte Seite halB. Liebrucks, Sprache und Metaphysik, in: ders., Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, 38.
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ten, wird einseitig. Er wird sich nicht von denen verabschieden können, die er nicht kennt.« 2 Man denke an Positionen, die an Kant anknüpfen, ohne die (nach Liebrucks) logische Grundfrage Kants begriffen zu haben, wodurch es zu metaphysischen Lesarten Kants kommt. Oder an Positionen, die partiell an Hegel anknüpfen, ohne dabei gesehen zu haben, dass Hegel als konsequente Antwort auf Kants transzendentale Logik zu lesen ist, wodurch man z. B. meinen kann, Form und Inhalt in der Dialektik trennen zu können. Verallgemeinert gesagt: Der erste Fehler ist es, aufgrund eines partiellen Zugreifens den Antwortcharakter einer philosophischen Position und damit die innere Notwendigkeit ihres Auftretens nicht zu sehen. Solche Positionen sind streng genommen nicht direkt systematisch relevant, sondern nur insofern, als sie an ihnen selbst auf die Geistigkeit ihrer Zeit zeigen. Der zweite Fehler liegt in der Konsequenz des ersten: Denn wenn die philosophische Tradition nicht als Kontinuum eines Frage- und Reflexionshorizontes begriffen wird, liegt die Auffassung nahe, dass eine systematisch relevant sein sollende Philosophie die philosophische Tradition insgesamt überspringen könne: »Dieser Abschied [von der Tradition, M. G.] geschieht nicht so, daß man aus der Tradition herausspaziert wie aus einem Zimmer, sondern dadurch, daß man sich ihr zuwendet.« 3 Dies ist wohl an die Adresse der analytischen Philosophie gerichtet. Diese wollte – ausgehend von nominalistischen und empiristischen Voraussetzungen einerseits und dem neuen, durch die mathematisierte formale Logik seit Frege gegebenen technischen Instrumentarium andererseits – im Denken nochmals von vorne beginnen, ohne »metaphysischen« Ballast, auf nunmehr wirklich festem Fundament. Dieses Fundament setzte die analytische Philosophie allerdings zunächst außer sich in die Resultate der exakten Naturwissenschaft, indem sie sich als Motor und Katalysator einer auf der theoretischen Physik aufbauenden Einheitswissenschaft, als Organon einer »wissenschaftlichen Weltauffassung« verstand. Eine sich so interpretierende Philosophie ist Liebrucks unmittelbarer Ausdruck der Geistigkeit unserer Zeit, näherhin dessen, was er als den »irrationalen Mythos« bezeichnet: »Der Mythos unserer Zeit besteht nicht im Gebrauch des Denkens unter den Korrektheitsforderungen der formalen Logik, sondern in der Ansicht, Philosophie habe 2 3
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von sich aus keine Sätze aufzustellen, sondern diene nur der Klarstellung wissenschaftlich [i. S. von einzelwissenschaftlich, M. G.] gefundener Einsichten.« 4 Diesen irrationalen Mythos bezeichnet Liebrucks als Primat des Technisch-Praktischen, den Primat der äußeren Zweckmäßigkeit, des Herrschaftswissens (M. Weber) im menschlichen Weltumgang. Der Mensch interpretiert sich und seine Welt von der Technik her: die Welt erscheint ihm als »Inbegriff von Objekten«, »die sowohl gegenüber wie eindeutig sind.« 5 Er selbst erscheint sich als ein in Sachverhalte eingefugtes Element, das nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten funktioniert, was sich grundlegend darin ausspricht, dass das Denken als mechanisches Operieren gefasst wird. 6 Nun hat man sich innerhalb der analytischen Philosophie spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts vom Ideal einer physikalisch fundierten »monolithischen« Einheitswissenschaft verabschiedet, mithin von der Reduktion der Philosophie auf ihre bloße Dienerrolle als Wissenschaftstheorie. 7 Denn sobald die Selbstanwendung nicht von vornherein verboten wird, kann Philosophie ihre methodische Eigenständigkeit – die in der systematischen Voraussetzungsreflexion besteht – wiederum ge-
B. Liebrucks, Über einige transzendentale und einige dialektische »Implikationen« der formalen Logik, in: Philosophie als Beziehungswissenschaft. Festschrift für Julius Schaaf, hg. von W. F. Niebel und D. Leisegang, Frankfurt am Main 1974, II/15. 5 Liebrucks, Sprache und Metaphysik, a. a. O., 33. 6 Seit dem Siegeszug der mathematischen Naturwissenschaft in der Neuzeit wird ja »Theorie« als Praxisanleitung verstanden. Diesbezüglich haben wir enorme Fortschritte gemacht. Eine aktuelle Erscheinungsweise des Primats des Technisch-Praktischen ist die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, auch der Bildung. Wir leben in einer »Wissensgesellschaft«, die sich als science economy interpretiert. In dieser geht es nicht um ein sich begründendes Wissen, um eine Reflexion der Voraussetzungen und Zwecke humanen Erkennens und Handelns, sondern um die Ansammlung und den Austausch ökonomisch nutzbarer Kenntnisse in Bezug auf das Dass und das Wie von Sachverhalten. Das Primat der äußeren Zweckmäßigkeit erstreckt sich bereits auf die Universitäten – man denke an die Zerstörung der »Humboldt-Universität« im Rahmen des sog. BolognaProzesses. – Im größeren, weltgeschichtlichen Rahmen betrachtet, ist der Primat des Technisch-Praktischen als Ausdruck der über sich nicht aufgeklärten Aufklärung, des unmittelbaren Verwandelnwollens alles Ansichseins in ein Fürunssein (vgl. den entsprechenden Abschnitt in Hegels »Phänomenologie des Geistes«) anzusehen. 7 Die Probleme innerhalb der Physik, eine alles Seiende in seiner durchgängigen Bestimmtheit transparent machende Einheitstheorie (welche die Relativitätstheorie und Quantenmechanik vereint) zu finden, haben dazu beigetragen, dass der Modellcharakter physikalischer Theorien deutlicher ins Bewusstsein getreten ist. 4
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winnen. 8 Nicht verabschiedet, ja bedacht hat man jedoch die zentrale logische Grundvoraussetzung, nämlich die Annahme der uneingeschränkten Erkenntnisdignität formaler Logik. So wurde schon zu Liebrucks’ Zeiten eine – gemessen an der Grundfrage und den Resultaten Kants – erstaunliche Vielzahl von Analytischen Ontologien entwickelt, welche die »Strukturen« und Eigenschaften von Wirklichkeit beschreiben sollten. Dabei wurde und wird übersehen, dass das Denken in diesen Ontologien auf jenem Boden steht, den es für verabschiedet hält. Liebrucks hält solches Denken für »vorrevolutionär«, nämlich vorkantisch, denn diese Ontologien übersehen, dass sie es immer mit Modellen zu tun haben, die sich der Übersetzung formaler Logik in eine Seinslehre verdanken. 9 Die genannte logische Grundvoraussetzung ist dann konsequenterweise auch der unhinterfragte Horizont, innerhalb dessen sich die Auseinandersetzung mit Kant und Hegel vollzieht. Der Überwinder der unmittelbaren Metaphysik, Kant, wird dann ontologisch gelesen 10 – womit der adäquate Zugang zu Kant und Hegel von vornherein verbaut ist. Im Gegensatz zu vorgeblich metaphysikkritischen Positionen, die selbst unmittelbar metaphysisch vorgehen, betont Liebrucks zwei
So schwankt man zwischen Ontologien (z. B. derjenigen der unendlich vielen möglichen Welten) und einem (Humeschen) Skeptizismus hin und her. Ich verweise in diesem Zusammenhang nur auf die Einsicht in die Unhaltbarkeit des »empiristischen Sinnkriteriums«, wie sie sich in W. v. O. Quines »Two Dogmas of Empiricism« (1951) ausspricht. Gerade die Physik und die Mathematik haben als Wissenschaften ihr Bestehen in Voraussetzungen, die auf dem Boden des empiristischen Sinnkriteriums und des Nominalismus nicht einholbar sind. Diese Einsicht ist der Sache nach keineswegs neu: Bereits der Sokrates des frühen und mittleren Platon wusste gegenüber der Sophistik geltend zu machen, dass das Allgemeine nicht willkürlich gesetztes Merkmalsbündel, sondern die Voraussetzung dafür ist, ein Einzelnes in seiner Bestimmtheit erkennen zu können. – Vgl. als Rückblick auf die Entwicklungen der analytischen Philosophie P. Bieri, Was bleibt von der analytischen Philosophie?, in: DZPhil 55 (2007) 3, 333–344 sowie die Replik von A. Beckermann, Analytische Philosophie. Peter Bieris Frage nach der richtigen Art, Philosophie zu betreiben, DZPhil 56 (2008), 599–613. 9 Z. B. bei S. Kripke, der – auf dem Boden des Nominalismus stehend – auf der einen Seite den Substanzbegriff renoviert (»starre Designatoren«), auf der anderen Seite mit dem »Paradoxon des Regelfolgens« Humes Skeptizismus erneuert und jeglicher Ontologie den Boden entzieht. 10 Paradigmatisch finden wir dies in F. Strawsons Auseinandersetzung mit der »Kritik der reinen Vernunft« in »The Bounds of Sense«, die als Initialzündung zur neuerlichen Auseinandersetzung mit Kant gewirkt hat. 8
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Punkte, die für eine wirkliche Aneignung der philosophischen Tradition entscheidend sind: a) die philosophische Tradition ist von ihrem innersten Zentrum her zu begreifen und neu zu lesen: dieses ist die Logik, denn dort entscheidet sich, wie sich das Denken interpretiert; b) neu zu lesen bedeutet zuallererst, jene Grundvoraussetzung, auf welcher der gegenwärtig dominierende Status im Bewusstsein des Logischen und die Verabsolutierung der unmittelbaren Metaphysik aufruht, nämlich die Voraussetzung der Autarkie formaler Logik, in ihrer Unhaltbarkeit aufzuzeigen. (vgl. z. B. SuB 7, 81) »Diese Klärung [dessen, dass die formale Logik nicht aus ihr selbst heraus verständlich ist, M. G.] ist nur möglich, wenn wir der Tradition nicht einfach den Rücken zukehren, wie Russell in aller Unschuld gefordert hat. Die Schätze der Tradition können wir nicht wegwerfen, ohne sie zu heben. In jedem Erkenntnisakt findet Abschied statt. Der Abschied von der Tradition besteht darin, daß man sich ihr zuwendet. Alle Revolutionen, die diese Dialektik nicht sehen, bleiben reaktionäre Scheinrevolutionen, weil die Denkungsart, d. h. der intelligible Charakter des Menschen von ihnen nicht angetastet wird.« 11 Die von Liebrucks in den Blick genommene logikzentrierte Aneignung der philosophischen Tradition ist kein belangloses Glasperlenspiel, sondern in dieser geht es um einen Gang durch Revolutionen im Selbst- und Weltverständnis, durch welche der Mensch im Handeln und Erkennen dazu gelangen kann, seinem Begriff zu entsprechen – ohne das untergeordnete Moment des Technisch-Praktischen zu verabsolutieren.
2.
Die drei Revolutionen der Denkart als Fortschritt in der Selbstinterpretation des Logischen
In der Tradition der europäischen Philosophie gibt es – vorausgesetzt wir sehen sie vernünftig an – Entwicklung und Fortschritt im Denken des Denkens, im Einholen aller Voraussetzungen des Wissens, Erkennens und Handelns. Dabei werden – so Liebrucks in Anknüpfung an Kantische Terminologie und an Hegels drei Schlüsse der Philosophie bzw. drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität – drei »RevolutioLiebrucks, Über einige transzendentale und einige dialektische »Implikationen« der formalen Logik, a. a. O., II/15.
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nen der Denkungsart« 12 durchlaufen. Diese sind: 1. der Eleatismus 13 , wobei dieser zwei Momente hat: die unmittelbare Metaphysik bzw. Ontologie sowie die formale Logik, 2. die Transzendentalphilosophie Kants und 3. die Dialektik im Sinne Hegels. Es sind dies Revolutionen im Denken des Denkens sowie im Denken der Einheit von Denken und Sein, die Stufen im Sich-Erfassen des wahrhaften Anfangs, aus dem sich das System der Philosophie generiert. 14 Diese Revolutionen gliedern die Philosophiegeschichte in drei systematische Epochen, wobei jede durch ein systematisches Grundproblem geprägt ist, dessen Lösung sie unternimmt: auf dem Boden der ersten Revolution der Denkart steht das Verhältnis des Allgemeinen und Einzelnen oder das μέθεξιϚ-Problem im Zentrum, auf dem Boden der zweiten Revolution der Denkart bildet sich dieses zum Problem des Verhältnisses des Subjektiven und Objektiven fort. Dies sind nach Liebrucks die beiden Grundprobleme der abendländischen Philosophie. Diese stehen freilich nicht nebeneinander. Das zeigt die dritte Revolution der Denkart, die es unternimmt, beide Probleme zusammenzudenken und zu lösen. Liebrucks gibt damit eine Interpretation des Weges vom Mythos zum Logos. Dabei betont er, dass der sich in der dritten Revolution adäquat erfassende Logos nicht polemisch gegen den Mythos steht 15 , von dem er sich in Die Zählung ist unterschiedlich: Die Dreizahl findet sich im bereits zitierten Aufsatz »Drei Revolutionen der Denkart«. In »Sprache und Bewußtsein« beginnt dagegen die Zählung mit Kant als erster Revolution der Denkart. 13 Der Eleatismus ist der immerseiende Anfang im Denken. Seine revolutionäre Bedeutung besteht darin, dass er die erste Selbstreflexion des Logischen und, damit verknüpft, des Verhältnisses des Logischen zur Wirklichkeit darstellt. Alles Denken, weltgeschichtlich (hier ist an das Zerbrechen des Mythos als der Erkenntnis in der Form der Anschauung zu denken) wie individualgeschichtlich, beginnt mit der Emanzipation des Verstandes: Das Denken reflektiert sich aus seiner Eingelassenheit in das Einzelne der Anschauung heraus und wird sich als das mit sich identische Allgemeine gegenüber dem veränderlichen Einzelnen gegenständlich. Damit ist der Boden der Wissenschaftlichkeit betreten, sofern es jeder Wissenschaft um das Allgemeine und Notwendige, nie unmittelbar um das Einzelne, das zunächst als zufälliges Singulare erscheint, zu tun ist. Die logische Grundvoraussetzung des Eleatismus – daher kann er als unmittelbare Metaphysik bezeichnet werden – ist die Einheit von Denken und Sein, und zwar in dem Sinne, dass die formallogischen Denkformen und Denkgesetze zugleich für das Sein selbst relevant sind. 14 Dass das Denken sich nicht unmittelbar begreift, sondern Stufen durchlaufen werden müssen, weil das Denken absolute Negativität ist, wird sich von der dritten Revolution der Denkart her erweisen. 15 Dies, dass der Mythos nicht abstrakt negiert wird, spricht sich bereits bei Parmenides 12
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Gestalt des Eleatismus abstößt, sondern darum weiß, dass er den Weg zu sich enthält. 16 Vor diesem Hintergrund ist die Bezeichnung »Denkart« bzw. »Denkungsart« zu verstehen. Diese Bezeichnung ist insofern irreleitend, als sie prima facie zu bedeuten scheint, dass das Denken oder das Logische als etwas von einer Art aufgefasst werden würde. Das ist das kontradiktorische Gegenteil dessen, was Liebrucks meint. Im Durchgang durch die drei Revolutionen zeigt sich gerade, dass das Denken nichts von einer Art ist (also nicht nach der Art von Sinnesorganen und deren Tätigkeit zu fassen ist), sondern das schlechthin Allgemeine ist, das sich selbst und sein anderes umfasst und in seiner Bestimmtheit fundiert: »Der Mensch hat nicht die Möglichkeit, auf verschiedene 17 Weisen zu denken, wenngleich im 4. und 5. Band von ›Sprache und Bewußtsein‹ von zwei Revolutionen der ›Denkungsart‹ gehandelt wird. Die zweite Revolution der ›Denkungsart‹ besteht in dem Aufweis, daß aus, indem es die Göttin ist, welche über sich hinaus auf den Logos weist, indem sie über den Weg der Wahrheit belehrt. 16 Was ihn an diesem Punkt von Hegel unterscheidet, ist, dass er im Begriff des absoluten Geistes die Kunst, näher die Dichtkunst als jene Gestalt ansieht, in welcher der Logos, der als Sprache existiert, wahrhaft zu sich kommt. Liebrucks akzentuiert damit die Bedeutung des Mythos so weitgehend, dass die finale Gestalt der Selbstwerdung des Logos nicht im philosophischen System im Sinne Hegels liegen soll, sondern wiederum den Charakter des Mythos haben soll. In Hölderlins Dichtkunst erblickt er die Überwindung der über sich nicht aufgeklärten Aufklärung in Gestalt einer neuen Kunstreligion, in der die Sprache als Sprache – als sinnlicher Allgemeinbegriff (Vico) – »gesungen« wird. Ob eine solche Akzentuierung der Unmittelbarkeit im absoluten Geist als immanente Fortbildung Hegels angesehen werden kann, erscheint als fraglich. Denn das Unternehmen, Entwicklungsstufen im Sinne einer Phänomenologie des Geistes im Werk Hölderlins aufzuzeigen, ist nur möglich unter Inanspruchnahme dessen, was in »Sprache und Bewußtsein« zuvor in Hinblick auf Kant und Hegel aufgezeigt wurde. Dieser Mythos steht somit nicht als autochthone Gestalt in sich, sondern es bedarf der Philosophie, um ihn wirklich zum Sprechen zu bringen. Zur Problematik dieser Akzentuierung der Unmittelbarkeit vgl. den Beitrag von Th. S. Hoffmann in diesem Band; zur Hölderlininterpretation vgl. den Beitrag von W. Schmitt in diesem Band. Einen Überblick über seine Hölderlininterpretation, die freilich erst im siebten Band von »Sprache und Bewußtsein« entfaltet wird, gibt Liebrucks in: Sprach- und Bewußtseinsstufen, in: Das Verhältnis von Denken und Erfahrung im wissenschaftlichen Erkennen. II. Problematische Betrachtung. Sechs Vortragsprotokolle, zusammengefasst von E. Denninger, E. Eifler, F. Neubauer und G. Roellecke (Mainzer Universitätsgespräche Sommersemester 1963), Mainz 1964. 17 Die Formulierung ist auf Hegels Logik zu beziehen: die Verschiedenheit ist der gleichgültige Unterschied. Damit ist die Entelechialität im Denken des Denkens gestrichen. A
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Denken nicht etwas ist, was von einer Art ist. Der Mensch hat niemals anders als dialektisch gedacht.« (SuB 4, IX) Diese Einsicht erreichen wir bereits mit Kant, indem er in der Beantwortung der Frage nach unserer »Erkenntnisart von Gegenständen, insofern diese a priori möglich sein können soll« (KrV B 25) zeigt, dass es so etwas wie Arten von Erkenntnis nicht gibt, sondern nur die eine logische Form der Versammlung des Mannigfaltigen in die Einheit der transzendentalen Apperzeption: »Die Kantische Revolution besteht darin, daß Kant Erkenntnis nicht in diesem Sinn als Gegenstand der Erkenntnis behandelt. Die Ausdrücke ›Erkenntnisart‹, ›Denkungsart‹ sind bei ihm nicht so zu lesen, daß Erkenntnis und Denken etwas seien, was von einer Art ist.« (SuB 4, 65) Die Revolutionen der Denkart sind also Stufen in der Selbstinterpretation des Denkens. Die Logik ist Ausdruck und Darstellung dieser Selbstinterpretation. So ist sie die Mittedisziplin der Philosophie: So, wie sich das Denken interpretiert, so interpretiert sich das Handeln und das Erkennen. 18 In der Logik geht es also immer auch um den Begriff des Menschen, Selbst- und Weltinterpretation. Die grundlegendste Voraussetzung dafür, diese Stufen als Stufen der Selbstinterpretation des Logischen erfassen zu können, ist die mit Kant zu gewinnende Einsicht, dass die Gleichung: Logik = formale Logik falsch ist. »Der Absolutheitsanspruch des formallogischen Denkens liegt in der Annahme, daß der Satz, es sei nichts von ihm selbst her verständlich, eine Ausnahme habe. Die formale Logik hält sich für autark, also aus ihr selbst her verständlich. Diese Annahme besteht in der als ›selbstverständlich‹ angesehenen Meinung, daß der Mensch, wenn er formallogisch [korrekt, M. G.] denkt, nicht dialektisch denkt, daß die formallogische Charakterisierung dieses Denkens selbst seine erschöpfende oder doch dem Menschen einzig mögliche Darstellungsweise von ihm sei.« (SuB 4, IX f.) Sollte die Autarkie formaler Logik eingeschränkt werden müssen, so bedeutet dies keinen Sprung in den Irrationalismus, den Verlust des Verstandes und der Wissenschaftlichkeit. Sondern der Fortschritt in der Selbstinterpretation des Logischen besteht geradezu im Ernstnehmen der formalen Logik. Die jeweils folgende Stufe der Selbstinterpretation des Logischen ergibt sich aus der konsequenten Selbstanwendung. Schematisch gesprochen: Zur transzendentalen LoInterpretiert sich z. B. das Logische als Mittel, so wird Entsprechendes handlungs- und erkenntnisbezüglich folgen: das Handeln wird z. B. utilitaristisch und das Erkennen im Sinne des Abbildmodells aufgefasst werden.
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gik gelangen wir durch das Ernstnehmen des Erkenntnisanspruches formaler Logik, den alles Denken, das bei Verstand bleiben will, immer schon voraussetzt. Zur Dialektik gelangen wir durch das Ernstnehmen der transzendentalen Logik, wodurch es möglich wird, die formallogischen Folgerichtigkeitsforderungen wirklich ernst zu nehmen, d. h. an ihnen selbst zu betrachten. Denn die formale Logik behauptet bloß deren Widerspruchsfreiheit, zeigt diese aber nicht im Sinne der Selbstanwendung auf. Das ist wichtig zu betonen, denn gegenwärtig verbindet man mit Hegels Logik weithin nur eine Ablehnung formaler Logik (man unterstellt eine Leugnung des Widerspruchsprinzips) und diffuse Sprachakrobatik (z. B. der Vorwurf einer »Ontologisierung« des Widerspruchs und einer »Verwischung« des Unterschieds von kontradiktorischem und konträrem Gegensatz) – obwohl es in der Geschichte der Hegel-Aneignung stets Stimmen gab, die diesem Vorurteil entgegentreten. 19 In »Sprache und Bewußtsein« wird an Kant wie auch an Hegel – insbesondere anhand der Logik, die als durchgängige Auseinandersetzung mit Kant interpretiert wird 20 – gezeigt, dass Dialektik nicht als andere, konkurrenzierende Logik zur formalen und transzendentalen Logik hinzukommt, sondern dass Dialektik der Grund der Kritik 21 ist. Es gibt nicht nebeneinander bestehende Arten von Logiken 22 , zwischen F. Ungler, Die Kategorie Widerspruch, in: Zur antiken und neuzeitlichen Dialektik, hg. von M. Wladika und M. Höfler (Wiener Arbeiten zur Philosophie Bd. 12, hg. v. S. Haltmayer), Frankfurt am Main 2005, 135–155; M. Wolff, Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels, Neuausgabe Frankfurt 2010; W. Wieland, Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik, in: R. P. Horstmann (Hg.), Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, Frankfurt am Main 1978, insbes. 210. 20 Vgl. dazu die große, im Anschluss an Liebrucks durchgeführte Studie von M. Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik« (Europäische Hochschulschriften Reihe XX, Bd. 471), Frankfurt am Main 1995. 21 H. Röttges, Dialektik als Grund der Kritik. Grundlegung einer Neuinterpretation der Kritik der reinen Vernunft durch den Nachweis der Dialektik von Bedeutung und Gebrauch als Voraussetzung der Analytik, Königstein/Ts. 1981. 22 Sofern man es überhaupt seitens der formalen Logik zulässt, die transzendentale und die dialektische Logik als Formen von Logik anzusehen und dabei zugleich an der formalen Logik als der Logik festhalten will, muss man versuchen, den Widerspruch durch das Abschieben der transzendentalen und der dialektischen Logik in die bloße Verschiedenheit, d. h. den äußerlichen Unterschied zu vermeiden. Das spricht sich z. B. so aus: »Abweichende Bedeutungen von ›Logik‹ entsprechen auch spezifizierende Verwendungsweisen von ›Logik‹ im Dt. Idealismus, insbesondere Hegels ›dialektische Logik‹, aber auch Kants ›transzendentale Logik‹, die sich nicht als formale Logik verstehen, deren Geltungsansprüche also auch nicht mit denen der formalen Logik kollidieren.« (W. Stelzner, 19
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denen man wählen könnte. Entscheidend ist aber – und das wird nur von wenigen Hegel-Interpreten gesehen: Der Zusammenhang dieser Logikstufen ist nicht so zu fassen, dass sich Dialektik »auf dem Fundament eines sogenannten formalen Denkens erhebt« (SuB 4, IX), im Sinne eines positiven Fortschreitens, bei dem das Vorangegangene autark bestehen bleibt, sondern es handelt sich um ein negatives Fortschreiten, ein In-den-Grund-Gehen, bei welchem die vorangegangenen Stufen zu Momenten herabgesetzt werden – als solche aber auch ihre bleibende Bedeutung haben. 23 Formale und transzendentale Logik sind die notwendig zu durchlaufenden Auffassungsweisen des Logischen, in denen das »Denken selbst zu seinem Fürsichsein gelangt« (SuB 4, IX). »Die formale Logik wird sich letzten Endes erweisen, immer schon transzendentale gewesen zu sein, wie diese sich erweisen wird, immer schon dialektische Logik gewesen zu sein.« (SuB 4, 428 f.) Dieser Weg ist jener der Selbstaufhebung des Abstrakten im Konkreten – nichts anderes ist Dialektik.
II.
Transzendentalphilosophie
Das adäquate Verständnis von Kants Revolution der Denkart ist nach Liebrucks von besonderer Bedeutung, da nur von diesem her das Wesen der ersten Revolution der Denkart erkennbar wird, sowie sich auch ausschließlich von diesem her zeigen kann, dass im konsequenten Ernstnehmen der Transzendentalphilosophie der Weg zum »menschlichen Begriff«, zur Dialektik, liegt. Dazu müssen wir Kant besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat. In diesem Sinne stellt Liebrucks seiner Kantinterpretation den Satz aus den »Prolegomena« voran: »Wenn man von einem gegründeten, obzwar nicht ausgeführten Gedanken anfängt, den uns ein anderer hinterlassen, so kann man wohl hoffen, es bei fortgesetztem Nachdenken weiter zu bringen, als der scharfsinnige Art. »Logik«, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. von H. J. Sandkühler, Bd. 2, Hamburg 2010, 1430) Damit ist elegant die Bedeutungslosigkeit von Kant und Hegel für die formale Logik behauptet. 23 Die analytische Philosophie leugnet dies, indem sie die formale Logik gegen die transzendentale und dialektische Logik fixiert und damit im Ansatz an Kant und Hegel vorbeigeht. Das zeigt sich gerade dort, wo man sich seitens der analytischen Philosophie den genannten Denkern zuwendet. Vgl. dazu die Kritik an Dieter Henrichs Hegelinterpretation in: Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 221 ff.
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Mann kam, dem man den ersten Funken dieses Lichtes zu verdanken hatte.« (Prolegomena, A 14) Im Folgenden soll Liebrucks’ Kantinterpretation verdeutlicht werden: Wir werden erstens auf die Bestimmung der Grundfrage der Transzendentalphilosophie eingehen, zweitens Kants Antwort auf diese Frage anhand einiger Bestimmungen andeuten sowie drittens die Notwendigkeit der immanenten Revolutionierung von Transzendentalphilosophie in den Blick nehmen.
1.
Die logische Grundfrage der Transzendentalphilosophie
Zuallererst ist es erforderlich, den »originalen Gedanken« Kants in seiner Neuheit, seiner Notwendigkeit und Tragweite zu begreifen. Das Vorbeigehen am Deutschen Idealismus, die Moden in den sich als Antimetaphysik ausgebenden Metaphysiken des 19. und 20. Jahrhunderts und die Verabsolutierung der formalen Logik rühren da her, dass man Kant nicht verstanden hat. Kants Transzendentalphilosophie die erste Negation der Metaphysik, näher: aller unmittelbaren Metaphysik (inklusive derjenigen in neuerem Gewande). Es gilt zu begreifen, was dies bedeutet. Transzendentalphilosophie ist nämlich nicht, wie man sie zumeist populärerweise fasst, eine Einheit von Empirismus und Rationalismus, auch nicht bloß eine neue Erkenntnistheorie oder Wissenschaftstheorie. 24 Liebrucks’ Kantinterpretation unterscheidet sich weiters grundlegend von jener des Neukantianismus (Cohen, Natorp), gemäß welchem Kant vom wissenschaftlichen Erkennen überhaupt bzw. »von der obersten Bedingung der Möglichkeit für jede ›Theorie der Erfahrung‹« gehandelt haben soll (SuB 4, 517), womit das menschliche Erkennen mit dem naturwissenschaftlichen Erkennen gleichgesetzt wird. Nach Liebrucks wird damit versucht, Transzendentalphilosophie als autark anzusehen, d. h. sie gegen ihre Selbstaufhebung zu immunisieren, die in der Selbstanwendung ihrer Voraussetzungen und Resultate erreicht werden würde. In der Linie dieser Auffassung, dass die Kantische »Erfahrung überhaupt« auch schon die menschliche Erfahrung sei 25 , diese also in ihrer Bedeutung ausschöpfte, liegt der Rückfall in eine formallogische Ontologie, wie sie sich im Wittgensteinschen »Tractatus« ausspricht. Der gemeinsame Nenner aller 24 25
Vgl. Liebrucks, Drei Revolutionen der Denkart, a. a. O., 134. Vgl. SuB 4, 535. A
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Fehlinterpretationen Kants ist nach Liebrucks, dass man die logische Grundfrage Kants nicht adäquat auffasst und damit auch die prinzipielle Neuheit der Kantischen Reflexion in der Beantwortung dieser Frage nicht sieht. Die Konsequenz dessen ist, dass die Bestimmungen der »Kritik der reinen Vernunft« ontologisch bzw. anthropologisch interpretiert werden, als ob er das menschliche Erkenntnisvermögen, dessen Funktionsweise, Umfang und Grenzen beschrieben hätte. Das betont Liebrucks laufend, ohnehin mit Kant, der – indem er seine Fragestellung von einer ontologischen Behauptung eines »Präformationssystem der reinen Vernunft« (KrV B 167) unterscheidet – weiß, dass eine solche Behauptung nur Skeptizismus wäre. (1) Der grundlegendste Punkt im Kantverständnis ist, dass Kant immer als Logiker aufzufassen ist. Die transzendentale Logik ist nicht, wie Kant selbst dies an einigen Stellen auffasst, eine bloß propädeutische Angelegenheit für eine transzendentalphilosophisch vermittelte Metaphysik, sondern das systematische Zentrum der Transzendentalphilosophie, von dem her die Trias der Kritiken in ihren Ansätzen, Ansprüchen und Problemen zu verstehen ist. Insofern im Zentrum der transzendentalen Logik der Begriff des Ich als der transzendentalen Apperzeption steht, kann Liebrucks seine Kantinterpretation als »Reflexion über den Sinn der Einheit der transzendentalen Apperzeption« (SuB 4, XIV) charakterisieren. 26 Inwiefern ist Kant als Logiker aufzufassen? Kants Grundfrage nach den apriorischen Möglichkeitsbedingungen synthetischer Urteile a priori bzw. nach der objektiven GültigLiebrucks beschränkt Transzendentalphilosophie im eigentlichen Sinn auf Kant. Den Jenaer Fichte fasst er so auf, dass die Akzentuierung der Prinzipialität von Ich als der »Thathandlung« eine Akzentuierung der Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins bedeutet. Ich wird damit – was schon bei Kant angelegt ist – nicht als absolute Negativität (im Sinne Hegels) gefasst, sondern positiviert. So kann Liebrucks von einer Ontologisierung des Ich bei Fichte und insofern von einem Rückfall hinter Kant sprechen. Zu Liebrucks’ Fichte-Kritik vgl. SuB 3, 391 ff. Allerdings wäre dem entgegenzuhalten, dass der spätere Fichte gerade in der konsequenten Fortbildung und Radikalisierung der Transzendentalphilosophie Schritte zu einer immanenten Revolutionierung der Transzendentalphilosophie macht, nämlich im Zusammendenken der Prinzipialität und Faktizität von Ich, und zwar schon in der Anerkennungslehre und der Deduktion der Leiblichkeit im Naturrecht von 1796. Vgl. M. Wladika, Moralische Weltordnung, Selbstvernichtung und Bildwerden, seeliges Leben. Johann Gottlieb Fichtes Religionsphilosophie, Würzburg 2008. Liebrucks hat sich freilich auch mit dem späten Fichte intensiv auseinandergesetzt. Zeugnis davon geben die im Nachlass (Archivzentrum der Johann Christian Senckenberg Universitätsbibliothek, Na 06) erhaltenen Lehrveranstaltungsunterlagen zu »Ueber das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder transscendentale Logik« (1812).
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keit der subjektiven Formen des Denkens (KrV B 122) interpretiert Liebrucks als die Frage danach, unter welchen prinzipiell anzusetzenden Voraussetzungen formale Logik Erkenntnisdignität hat. Dasjenige, was bislang unhinterfragte und daher uneingeholte Voraussetzung war, nämlich die Einheit von formallogischer Verstandesform (der formallogischen Denkformen und -prinzipien) und Erkenntnisform, d. h. die im Eleatismus (seit Parmenides) vorausgesetzte Einheit von Denken und Sein wird nun selbst in die Reflexion aufgenommen. Dieser Schritt im Einholen der Voraussetzungen ist revolutionär neu: »Kant war vielleicht der erste nach Plato und Aristoteles, dem etwas eingefallen ist.« 27 Kant sieht das Auseinanderfallen, ja den Widerspruch zwischen Logik und Metaphysik sowohl in Humes Selbstauflösung des Empirismus als auch aufseiten des verstandesmetaphysisch durchgeführten Rationalismus in Wolffs Ontologie. Das Bewusstsein dessen umschreibt Liebrucks als bislang nie dagewesenes »Erzittern« in der Kategorie der Notwendigkeit (denn Notwendigkeit ist die Einheit von Denken und Sein). Sind wir gedanklich so weit gekommen, die Frage stellen zu müssen: Woher die Notwendigkeit?, dann erzittert schlechthin alles. Wir können uns nicht mehr einfach auf die Voraussetzung stützen, dass das pünktliche Befolgen der formallogischen Folgerichtigkeitsforderungen Erkenntnis fundiert. Liebrucks spricht diesbezüglich von dem »Erdbeben«, in dem sich der dialektische Begriff ankündigt. Gegen dieses Erdbeben unternimmt Kant eine Versicherungsveranstaltung der Notwendigkeit: »Kant lehnt eine subjektive Begründung, die da sagt, Gott oder dem Sein sei es zu danken, dass wir so organisiert seien, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gleich den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind, ab. Das ist deshalb Skeptizismus, weil es erstens immer nur auf die Behauptung der Identität oder auch nur partiellen Identität von sogenannten Kategorien im Subjekt und solchen in den Gegenständen als Dingen an sich herauskäme, wobei es schwer ist, solche Identität zu denken, und weil zweitens dann alles anders aussehen würde, wenn die Huld des Seins oder die Gottes uns anders eingerichtet hätte. Kant fragte schärfer, nämlich: welches sind die notwendig anzunehmenden Bedingungen der Erfahrung, wenn jede andere Möglichkeit ausgeschlossen sein soll?« 28 Die zentrale Kategorie Kants in der »Kritik der reinen Vernunft« ist nach Liebrucks 27 28
SuB 4, 539. B. Liebrucks, Zwei Sprachstufen. Für Theodor Litt zum 80. Geburtstag, in: Erkenntnis A
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daher die Notwendigkeit im Sinne der Einheit von formallogischer Verstandesform und Erkenntnisform. Diese soll sich erhalten können. Daraus ergibt sich das Grundmotiv der zweiten Revolution der Denkart: Die Erkenntnisdignität formaler Logik, insbesondere ihrer Folgerichtigkeitsforderungen, soll begründet werden; ihr soll also indirekt Erkenntnisdignität, die sie an sich nicht hat, verschafft werden. Von hier aus versteht sich Kants Grundfrage nach den Voraussetzungen dafür, die subjektiven Formen und Prinzipien des Denkens zugleich als von objektiver Gültigkeit ansehen zu können. Mit welchem Recht können wir z. B. annehmen, dass jene Synthesis, die im Begriff der Ursache gedacht wird, nicht von bloß subjektiver i. S. von privater (letztlich im Sinne Humes fiktiver) Gültigkeit ist, sondern zugleich objektive Gültigkeit hat, für die Gegenstände als Gegenstände gilt? Mit welchem Recht ist die kausale Verknüpfung als ein objektives Verhältnis behauptbar? Allgemein: Was haben die subjektiven Bedingungen des Denkens – die »Verstandesform«, die sich in der formalen Logik reflektiert – mit objektiver Realität, mit der Erkenntnis von Gegenständen, mit dem Inhalt der Erkenntnis zu tun? Mit welchem Recht und unter welchen Voraussetzungen kann formallogisch korrektes Denken zugleich als sachhaltig angesehen werden? 29 Mit dieser Grundfrage steht die transzendentale Logik nicht einfach neben der formalen Logik, ebenso nicht neben dem, was bisher Erkenntnistheorie hieß, sondern die formale Logik wie die Erkenntnistheorie sind Momente an der transzendentalen Logik. 30 Wir sehen: War der Eleatismus die erste Selbstreflexion des Logischen, so ist die Transzendentalphilosophie die Reflexion dieser Selbstreflexion, die, wie Liebrucks sagt, erste Selbstreflexion formaler Logik, und Dialektik. Zu einer Einführung in die Philosophie von der Sprache her. Aufsätze aus den Jahren 1949–1971, Den Haag 1972, 240. 29 Die Differenz von bloß formaler Richtigkeit des Gedachten und dem Anspruch auf dessen objektive Gültigkeit wird seitens der formalen Logik – sofern sie autark sein will – notwendigerweise ausgeblendet bzw. verschliffen, etwa in der Formulierung: »Die [formale, M. G.] Logik ist auf den Geltungsanspruch folgerichtigen Schließens gerichtet […].« (Stelzner, Art. »Logik«, a. a. O., 1430) Das Problem liegt nun in der Bedeutung des »Geltungsanspruches«. 30 »Eine transzendentale Logik wird also die allgemeine Logik sein, sofern sie etwas mit der Erkenntnis von Gegenständen zu tun hat. Die Logik in transzendentaler Hinsicht befragen heißt sie in der Hinsicht befragen, mit der sie etwas mit der Erkenntnis der Gegenstände, nicht unmittelbar mit den Gegenständen der Erkenntnis zu tun hat.« (Transzendentale Sprachbetrachtung, a. a. O., 79 f.)
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ihrer Formen und Eindeutigkeitsforderungen hinsichtlich ihrer Erkenntnisdignität. Die »Kritik der reinen Vernunft« ist nach Liebrucks nichts anderes als die Deduktion des Erkenntnisanspruches formaler Logik (SuB 4, 93). (2) Hat man die Grundfrage Kants solcherart gefasst, ergibt sich auch, wie der kritische Kant zu lesen ist: Die Aufgabe der Vernunftkritik ist es, das System jener Bestimmungen zu entwickeln, die zur Begründung der objektiven Gültigkeit formaler Logik notwendig anzusetzen sind. Dies ist der zweite grundlegende Punkt, der nach Liebrucks immer zu betonen ist: Die transzendentalen Bestimmungen sind nicht Befundstücke im Sinne eines psychologischen, anthropologischen, erkenntnistheoretischen Reflektierens, sondern es handelt sich um ein System prinzipieller Setzungen von Möglichkeitsbedingungen, die anzunehmen sind, um formaler Logik objektive Gültigkeit zu verschaffen. Darin besteht der Denkduktus der Kantischen Reflexion, der streng vom Denkduktus der unmittelbaren Metaphysik zu unterscheiden ist: Kant erzählt nichts vom Menschen, über ein Seiendes und seine Bestimmtheit, sondern stellt eine prinzipielle Reflexion an, die auf die Möglichkeitsbedingungen der objektiven Gültigkeit formaler Logik geht. Der Denkduktus der Kantischen Reflexion ist immer ein prinzipieller; die von Kant abgeleiteten Bestimmungen sind Setzungen, die immer in der Form der Konsequenz (der logischen Form des hypothetischen Urteils) zu lesen sind: Wenn Erkenntnis (strenge Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit im Wissen) möglich sein können soll, dann ist dieses und jenes anzusetzen; Erkenntnis, Erfahrung usw. sind in bestimmter Weise anzusehen, wenn die Verstandesform objektive Gültigkeit haben können soll. Man darf Kant also nie als Ontologen oder Anthropologen lesen, selbst dort nicht, wo Kant selbst nicht streng prinzipiell formuliert. 31 Denn Kant übernimmt nicht nur die Terminologie der rationalen Psychologie, sondern drückt sich oft wie ein Metaphysiker aus, etwa in Wendungen über »unseren menschlichen Verstand« im Gegensatz zu einem anschauenden Verstand, oder wenn er
Das Auftreten dieser Formulierungen hat nach Liebrucks freilich einen sachlichen Grund: es resultiert aus dem Vermeidenwollen der Dialektik. An diesem Punkt zeigt sich, dass Transzendentalphilosophie immer dann, wenn sie nicht zu Ende verstanden wird und sich in Dialektik aufhebt, in eine Ontologie bzw. unmittelbare Metaphysik zurückfällt.
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die Frage stellt: »Was sind nun Raum und Zeit? Sind es wirkliche Wesen?« (KrV B 37). 32 (3) Als Antwort auf die Frage nach der Erkenntnisdignität formaler Logik hat die Transzendentalphilosophie zwei Seiten, die nach Liebrucks im Blick zu behalten sind, wenn deren Größe und Grenze adäquat erfasst werden können sollen: (a) Transzendentalphilosophie ist die Begründung des Eleatismus und des Erkenntnisanspruchs formaler Logik. Kant zeigt auf, was die unmittelbare Metaphysik und die formale Logik immer schon – unbedacht – vorausgesetzt hatten. Kant zeigt auf – so sind nach Liebrucks die Resultate der Vernunftkritik zu verstehen –, was mit den Mitteln der formalen Logik an der Wirklichkeit erreichbar ist. (b) Zugleich ergibt sich in dieser Begründung eine Restriktion der Erkenntnisdignität formaler Logik, eine partielle Aufhebung der Grundvoraussetzung des Eleatismus, der Autarkie formaler Logik. Kant würde dies freilich nie einräumen – es liegt aber in der Konsequenz seines Grundgedankens. Kant »ist sicher der Ansicht, daß der Mensch niemals anders anschaut und denkt, als wie hier als prinzipiell notwendige Bedingung von Erkenntnis angenommen wird. Das bedeutet, wie ich ein für alle Mal betonen möchte, dass Kant auch nicht den geringsten Gedanken an die Einschränkung der absoluten Gültigkeit der Gesetze der formalen Logik für alle Bereiche des menschlichen Denkens verschwendet hat.« (SuB 4, 71 f.) Beide Seiten sind zusammenzunehmen: die Sicherung der Erkenntnisdignität formaler Logik und ihre Restriktion. 33 Dies bedeutet, dass das kritische Unternehmen durch einen Grundwiderspruch charakterisiert ist, der sich in allen transzendentalen Bestimmungen zeigt. Wenn es darum geht, Kant restlos zu verstehen, d. h. ihn durchgehend und konsequent an seinen eigenen Errungenschaften zu messen, dann bedeutet dies, den sich dabei zeigenden Widerspruch auszuhalten, diesen zu denken. Dies ist das Verdienst Hegels (vgl. SuB 4, XII; SuB 4, 517), der im Durchgang durch Kant den »menschlichen Begriff« denkt. Kants Reflexion ist hingegen dadurch charakterisiert, den Widerspruch Vgl. Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 3. Eine ontologische Kantinterpretation bietet z. B. schon Schopenhauer. 33 Die über die Metaphysik hinaus sein wollende gegenwärtige Metaphysik sieht die Kantische Frage nach den notwendig anzusetzenden Anwendungsbedingungen der formalen Logik nicht, weshalb sie weder um die eigentliche Begründung formaler Logik noch um die notwendige Restriktion ihrer Erkenntnisdignität wissen kann. 32
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überall dort, wo er auftritt, zu vermeiden (vornehmlich indem er ins Subjekt, d. h. das nur subjektiv sein sollende Subjekt-Objekt abgeschoben wird). Damit steht das Kantische Unternehmen letztlich unter dem Generalvorzeichen einer Selbstversicherung formaler Logik: »Die formale Logik wird von Kant nicht angetastet« 34 , denn dies wäre für ihn sinnlos (KrV B 82, B 680 ff.). Darin besteht der bleibende Eleatismus Kants. So wird die partielle Aufhebung der Autarkie formaler Logik, die zum Zweck dieser Selbstversicherung zugleich notwendig ist, von Kant in ihrer weitreichenden Bedeutung unterbelichtet. Diese Seite ist es aber, die Liebrucks vornehmlich ans Licht zieht, um die Notwendigkeit der immanenten Revolutionierung von Transzendentalphilosophie aufzuzeigen. Aus dem Kantischen Vermeidenwollen des Widerspruchs, das ein Vermeiden der Dialektik zugunsten des Eleatismus ist, resultieren die Aporien der Transzendentalphilosophie. So ist die Kategorie Widerspruch (im Sinne der Hegelschen Logik) die zentrale Kategorie, an der sich das Schicksal sowohl der formalen Logik und des Eleatismus als auch der Transzendentalphilosophie entscheidet (SuB 6/1, 12). Wir halten fest: Werden die Kantischen Errungenschaften konsequent ernst genommen, zeigt sich, dass diese auf dem dialektischen Begriff beruhen. Nur von ihm her sind diese Errungenschaften auch haltbar. Und im Vermeiden der Dialektik, d. h. im Festhalten an der Autarkie formaler Logik, besteht die Grundantinomie Kants, die sich darin zeigt, dass Transzendentalphilosophie dort, wo sie sich gegen die Dialektik immunisieren will, in die unmittelbare Metaphysik zurückfällt. 35 Dies ist nun in einigen Punkten zu entfalten.
2.
Wichtige Errungenschaften in der Begründung der Erkenntnisdignität formaler Logik
(1) Die grundlegende Bedingung für die Notwendigkeit im Wissen besteht darin, dass eine apriorische Beziehung des Denkens auf Gegenstände anzusetzen ist. Formale Logik und mit ihr der Eleatismus meinte, eine solche Beziehung automatisch zu haben: »Die formale Logik stellte die Erkenntnisfrage schon deshalb nicht, weil ihre Selbstsicherheit bis auf den heutigen Tag so groß ist, daß sie sagt, es könne 34 35
Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 5. Vgl. Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 727. A
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dem Menschen überhaupt kein Inhalt gegeben werden, wenn nicht innerhalb ihrer Denkformen.« (SuB 4, 420) Kant fragt, was als Möglichkeitsbedingung für eine solche Beziehung a priori vorauszusetzen ist. So soll die transzendentale Analytik nach Kant die Logik der Wahrheit sein, indem sie nach den Bedingungen der Möglichkeit dafür fragt, dass reine Verstandesbegriffe a priori einen Inhalt haben, d. h. aufzeigt, unter welchen Bedingungen formale Logik zugleich Erkenntnis ermöglicht. Reine Begriffe können nicht automatisch Gegenstände vorstellen, daher bedarf es einer Rechtfertigung ihres Geltungsanspruches (transzendentale Deduktion). In Beantwortung dieser Frage zeigt sich zunächst, dass sich der Begriff des Logischen revolutionieren muss: Das Logische muss als die Gegenständlichkeit des Gegenstandes konstituierend angesehen werden. Das Logische ist nicht ein Reich ruhender Formen, die ihrem Inhalt äußerlich sind, sondern das Logische ist als formende Form anzusehen, die die Identität von etwas als etwas konstituiert. Die Identität des Gegenstandes ist nicht, wie der naive Realist meint, gegeben; auch ist sie nicht, wie die vorkantische Ontologie meinte, in einem als subjektunabhängig vorgestellten Wesen des Gegenstandes stationiert. Kein Gegenstand bleibt – von ihm selbst her – auch nur einen Augenblick mit sich identisch. Die Gegenständlichkeit des Gegenstandes ist nach Liebrucks das, was macht, dass dieses hier nicht zugleich ist und nicht ist. So sind die formallogischen Formen nur sachhaltig als Funktionen 36 , d. h. als logische Handlungsweisen, Mannigfaltiges (verschiedene Vorstellungen) in Einheit, in eine Vorstellung zu setzen. Erkenntnis ist nicht schon widerspruchsfreies Denken, sondern der Begriff muss etwas begreifen, nur dann ist er Begriff. Der Begriff ist es, Vorstellungen spontan zu ordnen, Mannigfaltiges zu synthetisieren, sonst ist er nichts. »Es ist eine der wichtigsten Errungenschaften Kants, gezeigt zu haben, daß reine Denkformen, die nicht auf den Verstandesgebrauch an der Erfahrung eingeschränkt sind, nonsens sind. Begriffe, die nicht etwas begreifen, sind keine Begriffe.« (SuB 4, 458) Verstandesbegriffe verlieren ihren Sinn in der Loslösung von der Erfahrung (SuB 4, 82), d. h. sobald sie nicht als logisches Handeln, sondern schlecht-mythologisch zum Verstand als einem seienden Vermögen hypostasiert werden (SuB 4, 67). 37 »Der Höhepunkt der Kantischen Die Funktion ist die »Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.« (KrV B 93) 37 »Die Kategorien sind nicht logische Funktionen überhaupt, sondern derjenige Ver36
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Revolution liegt dort, wo er die Begriffe der alten Metaphysik, sofern sie von ontologischer Relevanz sein sollen, für bedeutungslos hält. Man könnte dem entgegnen, Kant schränke doch nur den Gebrauch der Begriffe ein. Er setze den transzendentalen Gebrauch an die Stelle des transzendenten. Dazu ist zu sagen, daß der Begriff außerhalb seines Gebrauchs nichts ist. […] Der Begriff liegt nicht da wie ein Messer, das ich so oder so verwenden kann. Der Begriff und sein Gebrauch sind dasselbe.« (SuB 4, 119) 38 Der Gebrauch des Begriffs geht auf die Ordnung bzw. Vereinigung der Anschauungs- und Begriffsvorstellungen (SuB 4, 433 f.). Damit ist die formallogische, technische Vorstellung des Begriffs als einer seinem Inhalt äußeren Form überwunden, mithin das Nebeneinander von Metaphysik und Logik. Gegen anthropologische Lesarten Kants ist daher zu betonen, dass der transzendentallogisch gefasste Begriff des Begriffs keine schlecht subjektive Schachtel ist, die im menschlichen Gemüt bereitliegt, um befüllt zu werden, sondern er ist die Verstandesform actu. Der Begriff als Synthesisfunktion »ist nicht eine wirkliche Handlung des Menschen, sondern die immer schon vollzogene eines Wesens, das Verstand hat und ihn gebraucht. Es ist die Synthesis nicht des Menschen sondern des Urteils.« (SuB 4, 442) (2) Aus der Interpretation der formallogischen Form als formender Form folgt die Notwendigkeit des Ansetzens eines zweiten Erkenntnisstammes. Liebrucks betont dabei zwei Aspekte: (a) Der reine Verstandesbegriff – als logische Handlung gefasst – setzt einen getrennten Erkenntnisstamm, der das Material liefert,voraus, da er nur bei Gelegenheit des Gegebenseins des sinnlichen Materials entspringt, zumal er ja nicht als ruhende Form, sondern als die logische Handlung des Vereinigens eines Mannigfaltigen ist. Die Verstandesform ist nur dann a priori sachhaltig, wenn ihr durch einen getrennten Erkenntnisstamm namens Sinnlichkeit das Material »gegeben« wird, an dem sie sich als Form betätigt. Der Verstand als reiner bedarf der Sinnlichkeit, um »etwas zu haben, an dem er seine Bestimmungen vornimmt.« (SuB 4, 77) Dass das Material gegeben sein muss, standesgebrauch, der die Anschauungsgegebenheiten erst bestimmt oder doch wenigstens so angeht, daß diese Anschauungsgegebenheiten als bestimmte ›angesehen‹ werden können.« (SuB 4/76) Kategorien sind auch nicht Aussageweisen (Aristoteles), sondern »Weisen der einen und einzigen Verstandesform, die nur eine Absicht hat: alles Wirkliche als durchgängig bestimmt anzusehen.« (SuB 5, 513) 38 In der transzendentalen Dialektik wird Kant diesen Satz wieder zurücknehmen müssen. A
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hat einen logischen Grund: Kant »deduziert nur die vollständigen Bedingungen der Möglichkeit dafür, daß Erfahrung im Sinne der Anwendung der allgemeinen Logik auf ›Gegebenes‹ möglich ist. Das Gegebene muß es dabei geben, da die allgemeine Logik eben rein formal, d. i. an ihr selbst ohne allen Inhalt ist.« 39 Damit die Erscheinungen als Erfahrung gelesen werden können, also als Bestimmung des Gegenstandes und nicht bloßer Schein sind, ist der Verstand auf ein als »gegeben« anzusehendes Material angewiesen. Das »Gegebensein« bedeutet: aus dem Verstand nicht ableitbar. 40 Dieses Unmittelbare ist bloß »das Daß der Erscheinung« 41 . Die Seinsweise des vorausgesetzten Materials der Erkenntnis ist die der absoluten Position, d. h. es ist das als nicht gesetzt Vorausgesetzte, das als bestimmungslos gesetzte ὑποκείμενον, das a priori unter die Formen der Anschauung und des Verstandes gebracht wird. So sind die Kategorien die »Bestimmtheitsmöglichkeiten der Anschauungsvorstellungen«, wie Liebrucks mit J. Ebbinghaus definiert. 42 Die Errungenschaft Kants ist es hier zu sehen, dass die logische Form nicht zuerst für sich, als Positives, da ist und dann in einem zweiten Akt auf die Anschauung bezogen wird. Die Kategorie ist als logische Form von Haus aus, an ihr selbst bezogen auf Anschauung, wenn sie Erkenntnis gewährleisten können soll. Die Verstandesform hat nur Erkenntnisdignität, wenn Sinnlichkeit und Verstand strikt getrennt sind, zugleich aber die Anschauung unter die Verstandesform subsumiert wird. Das ist der empirische, immanente Gebrauch der Kategorien, der allein Erkenntnis gewährleistet. Weiters: Dieses Material darf zur Gegenstandsbestimmtheit von ihm selbst her nichts beitragen (das Mannigfaltige der Sinnlichkeit als, mit Hegel gesagt, passive Substanz). Strenge Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit im Wissen ist nur möglich, wenn der Gegenstand nicht an ihm selbst bestimmt ist bzw. dieser ein sich gemäß seinem Wesen als bestimmt zeigender ist, sondern als nur mit sich identisch gesetzter angesehen werden kann. Dies ist nach Liebrucks der tiefste Grund der Trennung von Ding an sich und Erscheinung (SuB 4, 469). Das nur mit Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 4. Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 162. 41 Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 163. 42 J. Ebbinghaus, Kantinterpretation und Kantkritik, Deutsche Vierteljahresschrift 1924, 90, zitiert nach SuB 4, 69. 39 40
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sich Identische ist gleichgültig gegen sein Verhältnis zum Unterschied, zum Anderen (das ist der Charakter der Positivität, wie er vom frühen Hegel in den Blick genommen wird; Liebrucks’ Rede von einer »Welt der Positivität« bezieht sich darauf). Nur in dieser Isoliertheit ist der Gegenstand a priori als durchgängig bestimmt ansehbar, sein Verhalten allgemeingültig und notwendig vorhersagbar. Seine Bestimmtheit im Sinne der Gegenständlichkeit darf sich nur dem Verstand verdanken: »als was muß der Gegenstand verstanden werden, wenn er a priori erkannt werden können soll? […] er muß als solcher verstanden werden, der von sich aus gar nichts zur Erkenntnis beitragen kann, d. h. als Erscheinungsgegenstand, der kein erkennbares Ansichsein hat. Nur das kann von ihm erkannt werden, was nur meine Vorstellung ist.« (SuB 4, 461) Diese Revolutionierung des Begriffs des Objekts – die Gegenständlichkeit ist nicht gegeben, sondern konstituiert, gesetzt – ist gerade nicht im Sinne eines schlecht subjektiven Idealismus, eines Konstruktivismus zu interpretieren, sondern im Gegenteil: als prinzipielle Setzung zur Sicherung des Notwendigkeitscharakters von Erkenntnis: »Die Objektivität eines Gegenstandes ist nach Kant nicht die Vorstellung eines solchen außer mir, sondern die Vorstellung eines Gegenstandes, die mit Notwendigkeit so erfolgen muß, wie sie erfolgt.« 43 Die Beschränkung der Erkenntnis auf den Erscheinungsgegenstand bzw. auf die eine Erfahrung ist nicht Ausdruck eines Skeptizismus oder einer Bescheidenheit im Sinne der Rede von einer angeblich endlichen menschlichen Erkenntnis (»wir sind nun einmal so eingerichtet«), sondern soll gerade den Notwendigkeitscharakter des Erkennens, d. h. die durchgängige Bestimmtheit des Gegenstandes sichern. 44 Durchgängige Bestimmtheit ist nur möglich, wenn der Verstand von der Sinnlichkeit emanzipiert ist und sich alle Bestimmtheit dem Verstand verdankt. Die Stellung der Sinnlichkeit als zweiter Erkenntnisstamm bedeutet also keineswegs eine »Aufwertung« der im Eleatismus distanzierten Anschauung (SuB 4/77), denn die Kantische Anschauung darf von ihr selbst her nichts zu bedeuten geben. Sie ist im Sinne der strikten Trennung vom Verstand logisch blind. Der Begriff darf nicht schon in der Anschauung wirksam sein, wenn synthetische Urteile a priori möglich sein können sollen (SuB 4, 336). Die Sinnlichkeit muss als dem Verstand unterworfen angesehen werden, sie darf in ihn aber nicht einfließen. 43 44
Liebrucks, Zwei Sprachstufen, a. a. O., 39 f. Erscheinung ist Kantische Erscheinung durchgängiger Bestimmtheit (SuB 4, 473). A
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Diesem Material muss schließlich – zur Sicherung der objektiven Gültigkeit der Verstandesform – ein »Ding an sich« zugrunde gelegt werden, und zwar als die Sinnlichkeit affizierend und zugleich als unerkennbar. Damit also die Erscheinungen nicht bloß Schein sind, ist ein Ding an sich als prinzipiell zu setzendes Dawider der Erkenntnis anzusetzen. 45 Die Definition des Dings an sich bei Liebrucks lautet daher: es ist der aus transzendentalen Gründen als transzendent gesetzte Gegenstand. Das Ding an sich ist also eine transzendentalphilosophisch notwendige (und notwendig widersprüchliche) Setzung. 46 (b) Die dogmatische Ontologie meinte, den Notwendigkeitscharakter im Erkennen insofern zu haben, als sie vorausgesetzt hat, im bloßen Denken (d. h. unabhängig von den Anschauungsformen Raum und Zeit) mittels formaler Logik zur οὐσία αἰσθητή als einer res omni modo determinata gelangen zu können. Kant zeigt: Die Kategorien, als alleinige Erkenntnisform gebraucht (der transzendente Gebrauch der Kategorien), können diesen Notwendigkeitscharakter nicht gewähren, da sie in den Widerspruch (transzendentaler Schein) führen. Das ist gegenüber dem Eleatismus eine neue Einsicht: der Widerspruch »wohnt« nicht erst in der Sinnenwelt, in der es z. B. so etwas wie Veränderung zu geben scheint, sondern bereits im reinen Denken. Der Widerspruch ist aber zu vermeiden, denn er zersetzt das Denken. Wie? Indem der reine Verstandesbegriff auf die Anschauungsformen von Raum (Form des Nebeneinanders) und Zeit (Form des Nacheinanders) bezogen wird. Durch die raum-zeitliche Positivierung des Logischen wird die »Welt der Positivität« konstituiert, die widerspruchsfreie Erscheinungswelt. Der Gegenstand der Erkenntnis – die natura formaliter spectata, die mathematisierte, exakt bestimmbare Natur als Inbegriff von als prinzipiell durchgängig bestimmbar ansehbaren Erscheinungsgegenständen unter allgemeinen Gesetzen – ist also die mittels Raum und Zeit vergegenständlichte Verstandesform. Zusammengefasst: Das reine, d. h. nicht anschauungsbezügliche Denken des Eleatismus wie auch der formalen Logik denkt als solches ins Leere (SuB 4, 425). Die Bedeutung des reinen Verstandesbegriffs besteht also, so ist zunächst mit Kant zu betonen, allein im empirischen Gebrauch. Das ist auch im Blick auf die formale Logik ernst zu nehmen: Die transzendentale Logik ist nicht ein Spezialfall der formalen, all45 46
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Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 163. Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 62.
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gemeinen Logik, wie dies einige Formulierungen Kants nahezulegen scheinen, sondern die formale Logik ist vielmehr ein Spezialfall der transzendentalen Logik, »bei der die Bedeutung, sofern über die Erscheinungsgegenstände hinausgegangen wird, gleich Null ist.« (SuB 4, 430) (3) Das Herzstück der KrV, die transzendentale Deduktion der Kategorien, zeigt, dass beide Erkenntnisstämme als unter der formallogisch immer vorausgesetzten, aber bislang vergessenen logischen Form Ich denke stehend angesehen werden müssen. Die zentrale Errungenschaft besteht hier darin, über die Verdinglichung des Ich als Subjekt unter Objekten hinausgegangen zu sein, indem die Form des Selbstbewusstseins als logische Form, und zwar die eine logische Form schlechthin begriffen wird. Das Ich ist nicht ein mythisches Wesen, das in einem Ding namens Mensch stationiert ist, sondern logisches Handeln, Setzen der Gegenständlichkeit des Gegenstandes. So lautet der »Nerv des Arguments« der transzendentalen Deduktion: Es ist »dieselbe Synthesis, die den Mannigfaltigkeiten der Anschauung Einheit gibt, wie die den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteil Einheit gibt.« (SuB 4, 446) Diese Identität der Funktion wird durch das Prinzip namens transzendentale Apperzeption als objektive Einheit garantiert. Die transzendentale Apperzeption ist das Zentrum der Transzendentalphilosophie; dessen Haltbarkeit als reines Prinzip ist daher auch die Schicksalsfrage der Transzendentalphilosophie. So betitelt Liebrucks seine Interpretation der KrV mit: »Reflexionen über die Synthesis der Einheit der transzendentalen Apperzeption im Durchgang durch die beiden Teile der ›Kritik der reinen Vernunft‹« (SuB 4, 61). Kant hat die Prinzipialität von Ich erstmals herausgestellt. Das Prinzip und das durch das Prinzip ermöglichte Prinzipiat, das empirische Ich, sind zunächst zu unterscheiden. So betont er angesichts popularisierender Kantinterpretationen: »Man hat immer gesagt, Kant habe den Menschen in den Mittelpunkt der Philosophie gerückt. Er hat nicht den Menschen, sondern die Sonne ›Einheit der transzendentalen Apperzeption‹ in den Mittelpunkt gerückt.« (SuB 4, 514) Die Rede vom Menschen in Bezug auf das Kantische Ich ist in doppelter Weise von Kant her zu distanzieren: einerseits mit Blick auf die Ontologie und ihrem verdinglichenden Schluss vom Denken auf eine denkende Substanz (etwa bei Descartes vom cogito auf die res cogitans oder bei Berkeley vom esse est percipi auf das esse est percipere); demgegenüber ist das Herausstellen dessen, dass das Ich als die gegenstandskonstitutive FunkA
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tion des In-Einheit-Setzens der Mannigfaltigkeit selbst niemals bloß Objekt sein kann, ein grundlegender Fortschritt. Der Nerv der objektiven Deduktion ist es daher, dass das Subjekt nicht mehr als Substanz gefasst wird, die wirkliche Akte vollbringt (SuB 4, 525), sondern als Funktion. Die Einheit der transzendentalen Apperzeption hat »ihren alle Erkenntnis begründenden Funktionscharakter nur als reines Prinzip.« (SuB 4, 476) Andererseits – dies greift schon auf die Kant-Kritik vor – ist die Rede vom Menschen zu distanzieren, weil Kantisch kein Weg vom reinen Prinzip Ich zu seiner Faktizität führt. »Mensch« bedeutet nämlich: Einheit von Bewusstsein überhaupt und Diesem da, von reinem und empirischem Ich im Sinne des existierenden Begriffs. Das logische Ich ist aber reines Prinzip, das Urteils- bzw. Erkenntnissubjekt schlechthin. Wenn die Verstandesform sich a priori auf einen Gegenstand beziehen können soll, dann muss die logische Form zu Urteilen als Versammlung der Mannigfaltigkeiten in die Einheit der transzendentalen Apperzeption bestimmt sein (SuB 4, 428). Die transzendentale Apperzeption ist als das Subjekt aller möglichen Urteile das Prinzip aller Kategorien, das stehende Selbst; sie muss als notwendig numerisch identisch gedacht werden (SuB 4, 474). Warum? Wiederum zur Sicherung des Notwendigkeitscharakters von Erkenntnis: Ich kann nicht auf verschiedene, »vielfärbige« Weise Ich sein, sonst wäre ein Zusammenhang der Vorstellungen nach Gesetzen unmöglich (SuB 4, 475). Erkenntnis ist also nicht adaequatio rei et intellectus, sondern »Erstellung der [widerspruchsfreien, M. G.] Einheit des Mannigfaltigen unter dem Prinzip der Synthesis der Einheit der transzendentalen Apperzeption.« 47 Alles, was für mich sein können soll, muss immer schon unter diese Form »gezwungen« worden sein. Liebrucks interpretiert dies, dass das Ich denke alle meine Vorstellungen begleiten können muss, als einen indikativisch formulierten Imperativ. »Der Verstand befiehlt unter der Einheit der Apperzeption so, wie jemand, die Gegenständlichkeit vorwegnehmend, zu einem anderen Menschen etwa sagt ›Du gehst jetzt nach Hause!‹ Er sagt nicht ›du sollst nach Hause gehen‹, sondern er spricht so, daß er das Nachhausegehen stiftet, wie er die Gegenständlichkeit des Gegenstandes stiftet, was Raum und Zeit nicht vermögen.« (SuB 4, 503) Daran knüpfen sich wichtige Konsequenzen in Bezug auf die formale Logik und ihrer Erkenntnisdignität: 47
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(a) Die Positivierung der logischen Form und das daraus folgende Auseinanderfallen in eine Vielheit logischer Formen und Prinzipien, wie es in Gestalt der formalen Logik vorliegt, ist überwunden, weil die Form Ich denke als die logische forma formarum erkannt ist. Von der logischen Form ist ab nun im Sinne eines kollektiven Singulars zu sprechen: »Es gibt nur eine [Hervorhebung M. G.] logische Form des Denkens, die Versammlung der Mannigfaltigkeiten in die Einheit der transzendentalen Apperzeption« (SuB 4, 419). 48 Die formallogischen Formen und Prinzipien (Satz der Identität, Satz des zu vermeidenden Widerspruchs, Satz des ausgeschlossenen Dritten) hängen somit nicht mehr als Axiome, d. h. in irrationaler Weise als Gegebenheiten unbegründbar in der Luft, sondern diese sind relativ auf das logische Ich (was Fichte näher zeigen wird). Im § 16 der KrV wird gezeigt, dass die formale Logik an die synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption geheftet werden muss. Damit ist der Schein ihrer Autarkie aufgehoben (SuB 4, 499): Die Verstandesform ist gegen die transzendentale Apperzeption nicht selbständig, sondern immer schon unter der Einheit der transzendentalen Apperzeption stehend: »Ein Verstand außerhalb der Erkenntnis ist nichts. Er wäre nicht mein Verstand.« (SuB 4, 499) Die logischen Gesetze sind Gesetztes, also Forderungen oder Imperative, die sich aus dem (mit Fichte gesagt) Sichsetzen der Identität des Bewusstseins überhaupt ergeben. So sind sie als die unbewegten Beweger unseres Denkens gesetzt – denen wir uns zugleich unterstellen. Daher spricht Liebrucks in Bezug auf diese Prinzipien von »Folgerichtigkeitsforderungen« oder »Folgerichtigkeitspostulaten«. Die Annahme der Selbstgenügsamkeit der formalen Logik war erschlichen. 49 (b) Kant zeigt auf, was an der Wirklichkeit formallogisch erreichbar ist: Nicht die Substanz der ehemaligen Ontologie, sondern der widerspruchsfreie Erscheinungsgegenstand, die »Welt der Positivität«, also jene Objektivität, die den formallogischen Eindeutigkeitsforderungen entspricht, die Welt der mathematischen Physik. Die ErkenntnisVgl. auch SuB 4, 464 und 485. Die formallogische Verstandesform hat außerhalb der Erkenntnis keine Bedeutung: »Sie ist schon als Verstandesform des Menschen die transzendentale Versammlung der Mannigfaltigkeiten in die Einheit. […] Also ist die Verstandesform immer schon die Einheit der transzendentalen Apperzeption. Ein Verstand außerhalb der Erkenntnis ist nichts.« Und: »Zwar ist der Verstandesbegriff rein, aber nur als transzendentaler ist er rein. Also als Gegenstand ermöglichender ist er rein, als nur formaler ist er gar nichts, jedenfalls für mich nichts, weil er nicht mein Verstandesbegriff wäre.« (SuB 4, 499) 48 49
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dignität formaler Logik ist aber nur zu sichern, wenn gesetzt ist, dass wir es im Erkennen nur mit Erscheinungen, nicht mit dem Ding an sich, der Substanz der ehemaligen Ontologie, zu tun haben. Denn der Erscheinung kann der Verstand a priori alle Bestimmtheit vorschreiben – einer adaequatio des Erkennens an ein Ding an sich nicht, denn über ein Ding an sich hat der Verstand keine Macht. »Erkenntnis bei Kant ist immer Erkenntnis von positiven Gegenständen. Die Erkenntnis besteht in nichts anderem als der Verwandlung des angeschauten Wahrnehmungsgegenstandes in den entweder direkt oder wenigstens indirekt anschaubaren Erfahrungsgegenstand.« (SuB 4, 70) Dies ist die Seite der Begründung der Erkenntnisdignität formaler Logik. (c) Die Begründung der Erkenntnisdignität der Verstandesform auf die natura formaliter spectata bedeutet zugleich eine prinzipielle Restriktion, nämlich auf das Erstellen der Welt der Positivität 50 , d. h. auf den technisch-praktischen Weltumgang. Damit hat Kant den ersten »Schritt zur Einschränkung des Absolutheitsanspruches formaler Logik« (SuB 4, IX) gemacht: Die Erkenntnisdignität formaler Logik erstreckt sich nur auf jenes Gebiet, wo die widerspruchsfreie Kontinuität zwischen Erscheinungen im Zeichen des »Ich denke« herstellbar ist, d. h. auf das Feld möglicher Erfahrung. Die Grenzen der Erkenntnis bei Kant sind also die Grenzen der objektiven Gültigkeit des Satzes des zu vermeidenden Widerspruchs. Daraus folgt die Unerkennbarkeit alles dessen, was nicht auf die formallogisch korrekt fassbare Objektivität reduzierbar ist – der Vernunftideen. Man kann pauschal sagen: Alles dasjenige, was sich nicht positivieren lässt, was als infinitum actu, als übergegenständlich zu denken ist (Ich, Freiheit, Leben, Gott), kann von den logischen Voraussetzungen Kants her nicht erkannt werden. In diesem Zusammenhang betont Liebrucks, dass die Resultate der Kantischen Reflexion immer auch als Antwort auf die Frage zu lesen sind, was die Erstellung widerspruchsfreier Objektivität kostet, welchen Preis wir für das Herrschaftswissen zahlen (SuB 4, 246). (4) Bezüglich der transzendentalen Dialektik sei hier nur die Errungenschaft hervorgehoben, dass Kant ein für alle Mal gezeigt hat, dass die Vernunftideen nicht am Ich vorbei als mythische Wesenheiten zu denken sind, sondern immer schon Forderungen waren, unter denen Was sich schon in der Zeitbestimmung des Satzes des zu vermeidenden Widerspruches hinweist, die zeigt, dass dieses Gesetz nur unter der Vorraussetzung des Successionsmodus der Zeit formulierbar ist.
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die Identität von etwas als etwas ansetzbar ist: »Der große Fortschritt Kants liegt in der Enthüllung des Geheimnisses Platos. […] Er [Platon, M. G.] sah sie [die Ideen, M. G.] als von ihm unabhängige Ideen, die den Kern alles Wirklichen ausmachten. Kant hat den Vernunftforderungen die Maske vom Gesicht genommen und sie als bloße Forderungen entlarvt. Aber er hat sie keineswegs gestürzt. Er hat ihre Herrschaft so unangetastet gelassen, daß er sie vom Himmel auf die Erde, nämlich in das Herz des Menschen hineinversetzte.« (SuB 4, 94)
3.
Zur Notwendigkeit der immanenten Revolutionierung von Transzendentalphilosophie
Liebrucks’ Kantkritik zeigt im Detail auf, wie mit Kant über Kant hinauszugehen ist. Die Grundthese lautet, dass der dialektische Begriff nur in der Konsequenz des transzendentallogischen Begriffs liegt: »Die Notwendigkeit und Wirklichkeit dialektischen Denkens ist nur auf dem Weg über die äußerste Konsequenz Kants zu gewinnen.« 51 Man müsse Kants wissenschaftliche Philosophie, die er in der KrV vorträgt, nur auf die Spitze treiben, um die Notwendigkeit der Besinnung auf die Dialektik erblicken zu können. Dabei betont er zweierlei: (a) Die Kantische Reflexion beruht auf Voraussetzungen, die sie nicht einholt: Gerade im Ernstnehmen der Kantischen Errungenschaften, in der konsequenten Selbstanwendung – vornehmlich bekannt unter der Frage, wie denn, gemäß ihren eigenen Voraussetzungen und Resultaten, Transzendentalphilosophie als Wissenschaft möglich sei (SuB 4, 70) –, tritt der unaufgelöste Widerspruch auf – und zwar, wie Liebrucks betont, nicht erst hinsichtlich der Frage nach der Vermittelbarkeit der Ansätze der KrV und der KpV, sondern bereits innerhalb der KrV, nämlich im Verhältnis von transzendentaler Analytik und transzendentaler Dialektik. Der Widerspruch besteht darin – nach Liebrucks ist dies Kants »größter und einzig relevanter Widerspruch in seinem Hauptwerk« –, dass er den »logischen Gebrauch des Verstandes doch nicht auf die Erkenntnis der Erscheinungen eingeschränkt« hat; zugleich ist dieser »Widerspruch eine der Grundbedingungen der Erstellung der Welt der Positivität« (SuB 4, 467). An diesem Punkt zeigt sich,
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dass auch Transzendentalphilosophie nicht in sich steht, sondern dass Dialektik die uneingeholte Voraussetzung der Kritik ist. Zur Dialektik im Sinne Hegels gelangen wir mit Notwendigkeit, wenn dieser Widerspruch gedacht und damit aufgelöst wird. 52 Zum dialektischen Begriff gelangen wir also durch das Zusammendenken der Kantischen Distinktionen: »Die Notwendigkeit der Revolution der Kantischen Revolution wird damit aufzuzeigen versucht, daß Kant im ersten Teil der ›Kritik der reinen Vernunft‹ das mit Notwendigkeit in Anspruch nimmt, was er im zweiten Teil verbietet. Darin besteht der Übergang zu Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹, die diese Notwendigkeit ausspricht und in ihr die dialektische Bewegung des Begriffs findet. Dieser Begriff ist bereits ein anderer als der Kantische. Er ist der des Menschen.« (SuB 4, XI) Kant vermeidet aber – nicht aus schlecht subjektiven Gründen, sondern aus logischen Gründen, nämlich dem Selbsterhaltungsinteresse der formalen Logik – diese Konsequenz, weshalb die KrV im unaufgelösten Widerspruch stehen bleibt. Die transzendentale Analytik setzt den Gedanken der Begriffsexistenz voraus, was die transzendentale Dialektik zugleich verbietet – wobei Existenz nicht bloß die Existenz von Erscheinungsgegenständen bedeuten kann, sondern, wie Liebrucks zeigt, von der Sprache her zu denken ist. Im Problem der Begriffsexistenz liegt nach Liebrucks die Hauptschwierigkeit der transzendentalen Logik. 53 Mit ihm steht und fällt das höchste Prinzip der Transzendentalphilosophie in seiner reinen Prinzipialität, damit alle Prinzipienphilosophie. (b) Hat die Transzendentalphilosophie Dialektik zur Voraussetzung, so – und das ist der zweite Grundzug seiner Kantkritik – momentanisiert sich ihr Anspruch, das gesamte Feld »menschlicher« Erkenntnis abgesteckt zu haben: »Meine Kritik der ›Kritik der reinen Vernunft‹ enthält weder eine Kritik an ihren Behauptungen noch an der eingesehenen Notwendigkeit innerhalb der angegebenen Bereiche […]. Sie enthält eine Kritik daran, daß dem Menschen über diese Bereiche hinaus keine Einsicht gegeben sein soll. Diese Kritik fliegt nicht über die Die eigentliche fundamentalphilosophische Auseinandersetzung mit Kant findet nach Liebrucks in der Hegelschen Logik statt, und zwar in der Wesenslogik, in dem Teil, »der den Weg von der Einsicht, dass das Wesen ›das Scheinen‹ ist, zu der, dass das Wesen der ›als Schein gesetzte Schein‹ (ebd.) ist« (Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 2) So wird die Kant-Kritik des 4. Bandes in der Logik-Interpretation im 6. Band eingeholt. 53 Liebrucks, Drei Revolutionen der Denkart, a. a. O., 136. 52
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Welten der Erscheinungen und der Moralität hinaus, sondern fragt nach einer möglichen Begrenzung dieser Bereiche.« (SuB 4, 73) Nun näher zum zuvor genannten Widerspruch und dem Schritt zum dialektischen Begriff: (1) Der Widerspruch zeigt sich als Dialektik von Bedeutung und Gebrauch der Kategorien. Diese spricht sich insbesondere im § 23 der KrV aus: »In diesem Paragraphen erzittert die gesamte ›Kritik der reinen Vernunft‹« (SuB 4, 516), weil Kant den bisherigen Gang zusammenfasst und dabei unbewusst den dialektischen Begriff entdeckt: Einerseits sind die Verstandesbegriffe nur als Anschauungsordnung wirklich, haben ihre Bedeutung bzw. ihren Sinn nur im empirischen Gebrauch, d. h. in der Anwendung auf das anschaulich Gegebene. »Unsere sinnliche und empirische Anschauung kann ihnen allein Sinn und Bedeutung verschaffen.« (KrV B 149) Zugleich ist dem empirischen Gebrauch wiederum dies vorausgesetzt: »Die reinen Verstandesbegriffe sind von dieser Einschränkung [ihrer Bedeutung auf ihren Gebrauch zur Bestimmung unserer Anschauung, M. G.] frei, und erstrecken sich auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, sie mag der unsrigen ähnlich sein oder nicht, wenn sie nur sinnlich und nicht intellektuell ist.« (KrV B 148) Dies ist nach Liebrucks ein für das ganze Werk folgenschwerer Satz (SuB 4, 515). Denn in ihm spricht sich aus, dass die Spontaneität des Begriffs voraussetzt, dass der Begriff, als Prinzip des Ordnens, schon an ihm selbst bedeutend sein muss, wenn er das Gemeinsame von Anschauungsvorstellungen spontan erzeugen können soll. »Diese Ursprungsaktivität [die die Kategorien nur bei Gelegenheit der Erfahrung wirklich haben, M. G.] müssen sie also schon als reine logische Formen des Denkens haben.« (SuB 4, 516) Am Ende des Schematismuskapitels heißt es in diesem Sinn, dass den Kategorien »auch nach Absonderung aller sinnlichen Bedingungen eine, aber nur logische Bedeutung« (KrV B 187) bleibe. Die reinen Verstandesbegriffe müssen daher als Begriffe existierende Begriffe sein, sonst wäre der spontane Charakter der Verstandesbegriffe unmöglich. Damit wird der Verstandesbegriff wiederum als unabhängig gegen seinen Gebrauch angesetzt, was sich zugleich mit Kant verbietet, denn: »Der Verstand konstituiert sich als Verstand in den Synthesen der Anschauungsmannigfaltigkeiten.« (SuB 4, 525) Aber es kommt noch schlimmer: Die Behauptung der Eingeschränktheit der Bedeutung auf den empirischen Gebrauch ist erschlichen, insofern sie voraussetzt, dass die reinen Verstandesbegriffe selbst Objekte sind, über die Urteile möglich sind. »Das A
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dürfen sie aber keineswegs sein, weil sie dann ja nicht mehr ›Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände‹, sondern selbst Gegenstände wären […]« (SuB 4, 516). Anders gesagt: Sobald die Kategorie in ihrer Bedeutung nur auf den empirischen Gebrauch beschränkt wird, stellt sich die Frage, wie die Vernunftkritik selbst möglich ist. Der § 27 hält so als Resultat der Deduktion fest: die Einschränkung der Erkenntnis durch Kategorien auf das Feld der Erscheinungen ist zugleich eine »Entschränkung der Bedeutung der Kategorien über dieses Feld hinaus« (SuB 4, 530). Letzteres sehen wir nicht nur in der praktischen Philosophie, sondern bereits in der theoretischen Philosophie, und zwar insbesondere dort, wo Kant auf die »Kritik der praktischen Vernunft« zugeht, in der Auflösung der 3. Antinomie und in der transzendentalen Dialektik. Der dialektische Begriff des Begriffs ist das Denken dieses Widerspruchs, indem die entgegengesetzten Seiten (die die äußere Reflexion trennt) zusammengenommen und als Momente einer Bewegung gedacht werden: »Der Begriff ist bei sich nur, indem er sich von sich abstößt.« (SuB 4, 562) Der Begriff hat seine Selbständigkeit nur in seinem anderen, d. h. im Bestimmen des vorausgesetzten Materials der Sinnlichkeit. Dies wird in den Grundsätzen des reinen Verstandes entfaltet, wo der Begriff als begreifend, als das Bestimmen des Anschauungsmannigfaltigen, als das ausgeführte Schematisieren gefasst wird. 54 Im Sinne der formalen Logik dagegen soll der Begriff nur dadurch bei sich sein, dass er nicht aus sich herausgeht. Das Hinausgehen vom Begriff zur Anschauung ist aber dem Begriff selbst wesentlich. 55 Dies widerspricht wiederum der Voraussetzung der Getrenntheit der Erkenntnisstämme. So liegt es in der Konsequenz des Kantischen Begriffs des Begriffs, dass die Existenz des Begriffs nicht, wie die formale Logik meint, die positive Existenz eines Erscheinungsgegenstandes ist, den ich habe und so oder so zum Sortieren der Dinge im Sinne eines Werkzeugs gebrauchen kann, sondern der Begriff existiert nur als Negativität: er ist nur im Sich-von-sich-Abstoßen. Dies ist aber eine Existenz, die nach Kant ein Unding sein muss, da Existenz absolute Position bedeutet. Wenn aber Begriffsexistenz in dem genannten Sinne nicht gedacht wird, muss dies,
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Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 89, vgl. SuB 4, 566. Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 86.
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dass der Begriff schon an ihm selbst bedeutend sein muss, als Autarkie formaler Logik erscheinen. 56 (2) Der Widerspruch zeigt sich ferner als Dialektik von Verstand und Vernunft. Dabei gilt es den Hegelschen Einwand zu verstehen, dass Kant die Vernunft mit Verstand behandelt habe (SuB 4, 88): (a) Verstand und Vernunft sind zunächst zu unterscheiden: das logische Handeln des Verstandes ist in Bezug auf die Gegenständlichkeit des Gegenstandes konstitutiv, direkt bestimmend, das logische Handeln der Vernunft ist von bloß regulativer Bedeutung in Bezug auf die Konstitution der Gegenständlichkeit des Gegenstandes, d. h. der Vernunftgebrauch garantiert die Bestimmtheit der Urteile, indem die Vollständigkeit der Bedingungen gefordert wird und diese Vollständigkeit als Gegenstand in der Idee vorausgesetzt wird. Die Idee reguliert, d. h. sie schreibt vor, wie im empirischen Gebrauch des Verstandes weiter vorgegangen werden soll. So geht es im Vernunftbegriff »nicht um die Bestimmung der Anschauung eines Gegenstandes, sondern um die Bestimmtheit des Urteils über diese Anschauung […].« (SuB 4, 70) Wird der Vernunftbegriff (bzw. das Vernunftprinzip) als direkt den Gegenstand bestimmend, als konstitutiv angesehen, so wird der Vernunftgebrauch transzendent – den Bereich möglicher Erfahrung überfliegend – und es ergibt sich der Widerspruch (Antinomien). Der Vernunftbegriff muss – darin besteht der transzendentale Gebrauch der Vernunft – über die Verstandesbegriffe an die Erfahrung zurückgebunden sein, d. h. den Urteilen wird dadurch Bestimmtheit verliehen, dass die Ideen nur als Ideen angesehen werden« (SuB 4, 142). Nur so ist der Vernunftgebrauch regulativ und damit transzendental, d. h. erkenntnisermöglichend. Die Vernunftbegriffe sind so »als Ideen transzendental, als Gegenstände sind sie transzendent« (SuB 4, 100). Die Dialektik soll nach Kant nur im transzendenten, nicht im transzendentalen Vernunftgebrauch bestehen. (b) Liebrucks zeigt aber, dass die Dialektik oder der Widerspruch schon im transzendentalen Vernunftgebrauch selbst liegt (SuB 4, 111). Er liegt versteckt im »Leitfadencharakter« der Vernunft, d. h. im Richtmaß der Vernunft, dem Prinzip der möglichen Erfahrbarkeit. Dies zeigt sich, wenn man – in der Konsequenz Kants – vollständig ernst damit macht, dass Verstand und Vernunft nicht seiende und damit, wie LieLiebrucks wird hingegen mit Herder, Hamann und Humboldt zeigen, dass die Sprache als existierende Einheit von Sinnlichkeit und Verstand die Bedingung der Möglichkeit für die Negativität des (Kantischen) Begriffs ist.
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brucks sagt, mythische Vermögen, sondern Funktionen sind. Diese setzen einander wechselseitig voraus; das deutet sich in der transzendentalen Dialektik an. Wird dieses Reflexionsverhältnis von Verstand und Vernunft, gemäß welchem beide als relativ selbständige gegeneinander ihr Bestehen zu haben scheinen, näher durchdacht, so zeigt sich, dass die Wahrheit des Reflexionsverhältnisses die Einheit der im Widerspruch Stehenden oder das Ganze als Bewegung aufgefasst ist. Dazu nun etwas näher: (c) Der Verstand ist der Vernunft hinsichtlich seiner transzendentalen Bedeutung nicht logisch subordiniert, da die Vernunftbegriffe keine erfahrungs- und erkenntnisermöglichende Bedeutung haben dürfen, wenn sie nicht über die Verstandesbegriffe an der Erfahrung rückversichert wären (SuB 4, 101). Zugleich gilt umgekehrt, dass die Vernunft dem Verstand hinsichtlich ihrer transzendentalen Bedeutung nicht subordiniert ist, sondern führend ist. Der regulative Vernunftgebrauch ist nämlich, wie Liebrucks betont, indirekt konstitutiv für den transzendentalen Verstandesgebrauch, denn es »hängt letzten Endes auch die Bestimmtheit der Urteile innerhalb der Erscheinungswelt an den Prinzipien der Vernunft, die, aus bloßen Begriffen gewonnen [Hervorhebung M. G.], nicht selbst Erkenntnis verschaffen, aber doch die Bestimmtheit der Urteile verbürgen.« (SuB 4, 80; vgl. auch SuB 4, 69) Indirekt konstitutiv bedeutet also: Die Vernunft ermöglicht den bestimmten Verstandesgebrauch: ihre regulativen Ideen sind zwar nicht unmittelbar konstitutiv »für die Bestimmung der Anschauungsgegebenheiten« (SuB 4, 141), aber konstitutiv für die Bestimmung der Urteile, somit für den Verstandesgebrauch überhaupt. 57 Daher betont Liebrucks, dass die transzendentale Dialektik nicht bloß »Anwendung« der transzendentalen Analytik ist, sondern als »weiteres Erstellen der Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen überhaupt« zu fassen ist. 58 (d) Dies bedeutet aber den Widerspruch im Begriff der Vernunft selbst: Die Vernunft ist und ist nicht der Verstand. 59 Die Vernunft ist »der entschränkte Verstand« (SuB 4, 88), der sich von seinem Angelegtsein auf Erfahrung losgelöst hat und auf das Unbedingte geht. (SuB 4, 73; vgl. auch SuB 4, 99) Nur so kann die Vernunft dem Verstand die 57 58 59
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Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 26. Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 75. Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 103.
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Totalität als Idee vorschreiben, d. h. jene Vollständigkeitsforderung, die den bestimmten Verstandesgebrauch allererst ermöglicht. 60 Andererseits setzt der transzendentale, immanente Gebrauch des Verstandesbegriffs das Bestimmen des Mannigfaltigen der Sinnlichkeit, den richtungsweisenden Vernunftbegriff voraus. Der Verstand hat also »seinen von der Erfahrung unabhängigen Ursprung immer nur an der Erfahrung« (SuB 4, 67). Die Vernunft führt also den transzendentalen Verstandesgebrauch an, aber nur indem sie sich an ihm zugleich rückversichert (SuB 4, 101). 61 Die Vernunft ist gegenüber dem Verstand, d.h in Bezug auf direkte Erkenntnis, subaltern (Knecht), in Bezug auf die Ermöglichung direkter Erkenntnis ist sie Herr. (SuB 4, 83) Die Dialektik innerhalb des transzendentalen Vernunftgebrauchs, die Kant nach Liebrucks nicht ausspricht, lautet also: »In seiner [Kants, M. G.] Systematik liegt die Vernunft oberhalb des Verstandes. Aber sie liegt zugleich unterhalb seiner, weil jedes Vernunfturteil seine Bedeutung nicht von sich selbst her hat, sondern davon her, daß es den Verstandesgebrauch leitet.« (SuB 4, 101) Anders gewendet: »Der Vernunftbegriff der Totalität hat seine Legitimität nur in seiner Rückversicherung an den Verstandesbegriff und dient zugleich der Bestimmung der Urteile. Darin liegt der Widerspruch.« (SuB 4, 111) (e) Der Widerspruch ist zu denken, wenn er gelöst sein soll. Er wird gedacht und aufgelöst, wenn Verstand und Vernunft nicht als zwei Vermögen vorgestellt werden, sondern als Momente einer Bewegung gedacht werden: Die Vernunft ist nichts anderes als der Verstand, der sich auf sich bezieht, der sich selbst bestimmende Verstand. 62 Die VerWladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 25. Weitere prägnante Formulierungen lauten: »Der legitime transzendentale Vernunftgebrauch diente ja der Vollendung des Verstandesgebrauchs, was er konnte, weil die Loslösung der Vernunft vom Verstand nur dann legitim blieb, wenn sie zugleich die Rückversicherung zu ihm bewahrte. Daran gerade war ihr Führungsanspruch gebunden.« (SuB 4, 134 f.) »Aber dieses Prinzip [der möglichen Erfahrbarkeit, das Richtmaß der Vernunft, M. G.] ist selbst dialektisch. Es ist das Prinzip der Rückversicherung an den Verstandesgebrauch, das zugleich mit dem Führungsanspruch diesem gegenüber auftritt.« (SuB 4, 137) »Der Widerspruch liegt darin, daß der vom Verstand erborgte Sinn nur dann den Urteilen Bestimmtheit, d. h. Sinn verleihen kann, wenn vergessen wird, daß die Bedingung der Möglichkeit der Bestimmtheitsverleihung der Urteile des Verstandes durch die Vernunft die dialektische Bewegung ist, in der Vernunft eodem actu die Sinnhaftigkeit der Forderung vom Verstand erborgt und den Verstandesurteilen Bestimmtheit verleiht.« (SuB 4, 112) 62 »Die reine Vernunft ist in der Tat mit nichts als sich selbst beschäftigt, und kann auch 60 61
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nunft ist der Verstand, »der sich nicht direkt mit der Erfahrung einläßt […], dafür aber letzte Befehle erteilt, denen kein Verstand entgehen kann, sofern er ›in durchgängigem Zusammenhang mit sich selbst‹, d. h. bei Verstande bleiben soll.« (SuB 4, 83) Der Verstand (als Vernunft) muss sein Angelegtsein auf Erfahrung immer schon überschritten haben, also immer schon überfliegend sein, um den immanenten, transzendentalen Verstandesgebrauch zu ermöglichen (SuB 4, 88). Die Vernunftbegriffe haben daher »gerade in ihrem transzendenten Gebrauch den zugleich transzendentalen«. Diese Einsicht ist aber nur möglich, wenn zunächst die strenge Unterscheidung der beiden Funktionsweisen der Vernunft (transzendent und transzendental) deutlich gemacht wird, was die Arbeit Kants ist (SuB 4, 90). Die Vernunft ist also zurückgebunden an den Verstand, den sie zugleich leiten soll; aber die Vernunft kann den transzendentalen Verstandesgebrauch nur leiten, wenn sie sein Angelegtsein auf Sinnlichkeit transzendiert. So ist die Vernunft nur in Verbindung mit dem Verstand bei sich. Sie hat, am Verstandesgebrauch vorbei, keinen direkten Zugang zu sich. 63 Der Verstand ist zugleich nur in Verbindung mit der Vernunft bei sich (SuB 4, 135). »In Wahrheit ist die Bedingung der Möglichkeit des Leitfadencharakters [der Vernunft, M. G.] die Bewegung des menschlichen Denkens vom Verstand zur Vernunft, die zugleich die Bewegung von der Vernunft zum Verstand ist. Diese dialektische Bewegung ist das menschliche Denken und Erkennen.« (SuB 4, 112) Inwiefern sind also Verstand und Vernunft als Momente einer Bewegung zu denken? Indem die Übereinstimmung der Vernunft mit sich nicht als unmittelbare, sondern als sich vermittelnde ist (was Kant nicht einräumen würde). Nur so sind Verstand und Vernunft zusammenzudenken, nur so werden sie nicht als mythische Vermögen vorgestellt. Indem diese dialektische Grundbewegung zwischen dem Verstandesgebrauch und dem Vernunftgebrauch die Bedingung der Möglichkeit für den transzendentalen Vernunftgebrauch ist (SuB 4, 113), erweist sich auch hier, dass der dialektische Begriff Voraussetzung der Kritik ist. Dialektik ist Bedingung der Möglichkeit des Vernunftgebrauchs wie des Verstandesgebrauchs, sofern beide im Sinne Kants legitim sind. kein anderes Geschäft haben, weil ihr nicht die Gegenstände zur Einheit des Erfahrungsbegriffs, sondern die Verstandeserkenntnisse zur Einheit des Vernunftbegriffs, d. i. des Zusammenhanges in einem Prinzip gegeben werden.« (KrV B 708) 63 Hegel wird davon sprechen, dass der Verstand nicht geschenkt werden kann.
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(f) So wie sich im Begriff der Kategorie als logischer Handlung gezeigt hat, dass die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand zurückzunehmen ist, so ist nun auch die Trennung zwischen Verstandesbegriff und Vernunftbegriff nicht mehr aufrechtzuerhalten, sondern beide sind konkret eins: »Der Mensch hat nicht zwei Begriffe, von denen der eine Verstandesbegriff, der andere Vernunftbegriff ist. Der Vernunftbegriff ist derselbe Begriff wie der Verstandesbegriff.« (SuB 4, 111; Hervorhebung M. G.) Fallen Verstandes- und Vernunftbegriff nicht auseinander, so ist auch zurückzunehmen, dass die Bedeutung des Begriffs auf den empirischen Gebrauch eingeschränkt ist. Wäre sie dies, könnte der Begriff als Vernunftbegriff den transzendentalen, legitimen Verstandesgebrauch nicht leiten. Die Vernunftbegriffe haben gerade in ihrem transzendenten Gebrauch den transzendentalen (SuB 4, 90). Dass Gedanken ohne Inhalt (der Anschauung) leer sind, darf in diesem Sinne nicht mehr gelten. Der Verstandesbegriff hat seine Bedeutung nur im Gebrauch – aber dieser Gebrauch ist nur unter dem regulierenden Vernunftbegriff möglich. Der Vernunftbegriff ist aus »Notionen« gebildet, wobei Notion »der reine Begriff, so fern er lediglich im Verstande seinen Ursprung hat« (KrV B 377) ist. Daher betont Liebrucks, dass der »Begriff, wenn er sich als Vernunftbegriff aus seinem Ursprung (KrV A 409) im Verstandesbegriff löst, nicht seinen Sinn verliert. Ich brauche die vielen Stellen, an denen Kant erklärt, daß die Begriffe jeden Sinn verlieren, wenn sie aus ihrer Angelegtheit auf Erfahrung losgelöst werden, nicht anzuführen. Darin liegt die äußerste Spitze seiner Kritik, die er doch immer wieder dann ignorieren muss, wenn er den regulativen Gebrauch der Vernunft als konstitutiv für die Bestimmtheit der Urteile innerhalb der Erfahrung ansieht. Dazu muß er noch sinnvoll sein.« (SuB 4, 135) Von hier aus zeigt sich, dass der dialektische Begriff die bei Kant unbekannte Wurzel von Sinnlichkeit und Verstand sowie von Verstand und Vernunft ist. So ist nach Liebrucks die Dialektik erst die wahre Emanzipation des Verstandes, die mit dem Eleatismus begonnen hat, denn nun ist die Frage nach einer Rangordnung oder Subordination von Vermögen vergangen. Der Verstand erweist sich, als Verstand immer schon vernünftig gewesen zu sein, und die Sinnlichkeit erweist sich, immer schon bei diesem vernünftigen Verstand gewesen zu sein (SuB 4, 83). (g) Wird gesehen, dass Dialektik die Voraussetzung der Kantischen Erkenntniskritik ist, löst sich auch der Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft. Denn in dieser Einsicht ist es erst beA
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gründet, dass die »Kritik der praktischen Vernunft« mit ihrem Neuansatz im Postulieren der Wirklichkeit der Freiheit, womit über die bloße Denkmöglichkeit der Freiheit im Sinne der Auflösung der 3. Antinomie hinausgegangen wird, nicht als ein – von den Voraussetzungen und Resultaten der »Kritik der reinen Vernunft« her gesehen – bloß metaphysisches Werk anzusehen ist. Wenn Begriffe im transzendenten Vernunftgebrauch bedeutungslos sind, muss dies auch für das Praktische gelten. Im Praktischen ist der Gebrauch der Vernunft transzendent, zumal Moralität darin besteht, dass reine Vernunft unmittelbar praktisch wird, dass also reine Vernunft Handlungen unmittelbar bestimmt. Wie sollte der transzendente Vernunftgebrauch im Theoretischen keine Bedeutung haben und im Praktischen schon? (SuB 4, 152 f.) Begriffsexistenz muss im Praktischen wenigstens denkmöglich sein, denn der Begriff ist der Zweck und das »Ausklauben« der Existenz aus dem Begriff ist die sittliche Handlung (SuB 4, 161). (h) Kant ist jedoch – was Liebrucks im Anschluss an Hegel kritisiert – bestrebt, die Dialektik im Begriff der Vernunft zu vermeiden. Dadurch begeht er gerade den Widerspruch, zunächst in Form einer Verdinglichung von Verstand und Vernunft: »Kant dagegen behandelt die Vernunft nicht in dieser Dialektik ›ihrer Natur‹, sondern als reine Vernunft. Er läßt Vernunft bei sich selbst nur bei sich selbst sein und nicht bei sich selbst immer noch in Verbindung mit dem Verstand.« (SuB 4, 135) Grund dafür ist das Festhalten an der Autarkie formaler Logik, das Kant dazu zwingt, den Widerspruch, der darin liegt, dass die »Vernunft eodem actu die Sinnhaftigkeit der Forderung vom Verstand erborgt und den Verstandesurteilen Bestimmtheit verleiht« (SuB 4, 112), zu vermeiden, indem Verstand und Vernunft als positive Bestimmtheiten, nicht als negative Reflexion-in-sich, als in ihrem anderen bei sich seiende Bestimmungen angesetzt werden und die entgegengesetzten Bestimmungen (konstitutive und regulative Bestimmungen, transzendentaler und transzendenter Vernunftgebrauch) auf die entgegengesetzten Seiten verteilt werden: »Diesen Widerstreit, der der Widerstreit im Vermögen selbst ist, kann Kant nur dadurch beseitigen, daß er das Vernunftvermögen als selbständig neben dem Verstandesvermögen ansetzt und seinen Satz, daß die Vernunft ›eigentlich gar keinen Begriff erzeugt‹, wenn nicht in den Worten, so doch im Denkduktus des ganzen Werkes zurücknimmt.« (SuB 4, 112) Kant weiß zwar, dass Verstand und Vernunft nicht Vermögen im Sinne der rationalen Psychologie sind; dennoch fällt er in eine solche Betrachtung zu78
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rück, in der »aus Funktionen Gegenstände, genannt ›Vermögen‹« gemacht werden (SuB 4, 81). Das ist kein Zufall, sondern unter der Führung formaler Logik ist es notwendig, dass Funktionen – also die formende Form und ihre Bewegung – verdinglicht, zu positiven Gegenständen hypostasiert werden. Denn formallogisch ist es ein Unding, dass etwas seine Identität mit sich darin hat, dass es bei seinem anderen ist. Vernunft soll nur als Vernunft bei sich sein. So ergibt sich, analog zum Schematismusproblem, dass Verstand und Vernunft zwei sein sollen, zugleich aber nicht zwei sein dürfen. 64 Dieses Vermeiden der Dialektik schlägt auf die Transzendentalphilosophie zurück: ihr wird dadurch der Boden entzogen. Ein undialektisches Auseinanderhalten von Verstand und Vernunft zieht nämlich notwendigerweise ein einseitiges Betonen dessen nach sich, dass Begriffe im transzendenten Vernunftgebrauch bedeutungslos sind. Dann aber ist die Totalitätsidee als Bedingung der Möglichkeit des transzendentalen Verstandesgebrauchs selbst erschlichen. Dazu Liebrucks: Da die »Befreiung der Verstandesbegriffe von aller Bedingung« (SuB 4, 134) im Vernunftbegriff die Voraussetzung des transzendentalen Verstandesgebrauchs, d. h. »nötig zur Errichtung der Welt der Positivität [der widerspruchsfreien Erscheinungswelt, M. G.] in bestimmten Urteilen« (ebd.) ist, »zeigt sich, daß die Bedingungen der Möglichkeit der Errichtung der Welt der Positivität erschlichen sind. Die Bedingungen der Möglichkeit der Bestimmung der Urteile haben sich als die Dialektik der Vernunft selbst erwiesen.« (ebd.) Solange also der transzendentallogische Begriff gegen seine Selbstaufhebung im dialektischen Begriff immunisiert werden soll, stellt sich der Widerspruch her, dass der transzendentale Verstandesgebrauch auf einer Subreption beruht. Dazu Liebrucks: »Zur Bestimmtheit der Urteile ist […] immer schon eine Idee, nämlich die Totalität der Bedingungen notwendig. Die Totalitätsidee ist [im Sinne der Voraussetzung der Bedeutungslosigkeit der Begriffe im transzendenten Vernunftgebrauch, M. G.] erschlichen, obwohl ohne diese Erschleichung letzten Endes […] auch die Zubereitung der Wahrnehmungsgegenstände zu Erfahrungsgegenständen unmöglich wäre.« (SuB 4, 157) Wir haben mit Liebrucks gesehen, dass die Bedingung der Möglichkeit der Bestimmung der Urteile die Dialektik der Vernunft ist; sofern der dialektische Begriff nicht eingeholt wird, sind die Bedingun-
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gen der Möglichkeit der Erstellung der Welt der Positivität erschlichen (SuB 4, 134). (i) So stehen wir nach Liebrucks an diesem Punkt – man ist an den Beginn des Eleatismus im Lehrgedicht des Parmenides erinnert – an einem Scheideweg, der lautet: Pragmatismus oder Dialektik (SuB 4, 82). Halten wir an der Autarkie formaler Logik, der Erschleichung der Möglichkeitsbedingungen des transzendentalen Verstandesgebrauchs durch die Behauptung dessen, dass Begriffe im transzendenten Vernunftgebrauch bedeutungslos sind, fest, so gelangen wir zum Pragmatismus, was nur eine andere Bezeichnung für das Primat des TechnischPraktischen ist. Dies ist der Weg der Verabsolutierung formaler Logik, der in der modernen formalen Logik und in den entsprechenden modernen Ontologien beschritten wird. Als paradigmatisch dafür gilt Liebrucks Wittgensteins »Tractatus« (SuB 4, 135). »Der andere [Weg, M. G.] ist die Besinnung darauf, daß alle menschliche Erkenntnis sprachlich ist, was zur Rehabilitierung dieser Erschleichung in Bezug auf Erkenntnis führt.« (SuB 4, 135) Der Hinweis auf die Sprachlichkeit der Erkenntnis will hier besagen, dass Sprache die Bedingung der Möglichkeit dessen ist, dass sich der Verstand von seinem Angelegtsein auf Sinnlichkeit, von den Erscheinungsgegenständen lösen kann (was er in den ersten Bänden von »Sprache und Bewußtsein« zunächst mit Herder und Humboldt zeigt). Die Sprache ist die Möglichkeitsbedingung für die dialektische Bewegung vom Verstand zur Vernunft und der Vernunft zum Verstand, des Selbstverhältnisses des Verstandes. Der Verstand kann nur durch Sprache zur Vernunft werden (SuB 4, 66). (3) Schließlich liegt der Widerspruch im höchsten Prinzip der Transzendentalphilosophie, in der Prinzipialität von Ich. Dabei stellt sich das Problem der Existenzweise von Ich. (a) Kants Errungenschaft ist es zunächst, wie wir gesehen haben, die reine Form des Selbstbewusstseins in ihrer Prinzipialität vom Ich als einem Gegenstand streng unterschieden zu haben. Nun müssen aber auch und gerade in diesem Punkt die Entgegengesetzten zusammengedacht werden – gerade um der Haltbarkeit dieser Errungenschaft willen. Die reine Prinzipialität von Ich widerspricht sich nämlich, denn ein sich durchhaltendes Selbstbewusstsein ist nur möglich, wenn sich das Ich denke in das bestimmte Bewusstsein kontinuiert, ohne seine Einheit zu verlieren. Die Prinzipialität darf nicht neben oder über ihrer Faktizität im Sinne des empirischen Ich stehen, sondern muss als im empirischen Ich als seinem Prinzipiat bei sich seiend gedacht werden. Dazu 80
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muss das Prinzip aber nicht als statischer »höchster Punkt«, sondern als sichselbstbewegende Selbstidentität gedacht werden. Dies ist, wie Liebrucks betont, an sich bereits im Kantischen Begriff des Begriffs grundgelegt: Die Natur des Begriffs ist es, bei sich selbst zu sein, indem er etwas begreift, bei seinem anderen ist. Die reinen Verstandesbegriffe müssen bei Kant »als Begriffe existierende Begriffe« (SuB 4, 516) sein, denn der Verstand ist nicht eine Handlungsweise eines dahinterstehenden mythischen Wesens, sondern er ist diese Handlung; als diese logische Handlung existiert er, sonst nicht, zumal der Verstand nicht von seinem Gebrauch trennbar ist. Dementsprechend zeigt die transzendentale Deduktion, dass die Prinzipialität des logischen Ich darin besteht, ein Prinzipiat zu setzen, d. h. sich seine ihm (als Verstandesform) entsprechende Objektivität im Sinne eines Gegenstandsbewusstseins zu geben. Der Erscheinungsgegenstand ist nichts anderes als das Resultat der Selbstvergegenständlichung der Verstandesform. Es ist also der Begriff des Ich, Subjekt-Objekt, Einheit von Prinzip und Prinzipiat zu sein. So geht die Synthesis der Einheit der transzendentalen Apperzeption in der Realisierung ihrer Funktionalität über den bloßen Prinzipiencharakter hinaus, sie ist wirkliche Denkbewegung: »›Ich denke‹ kann nur als Prinzip betrachtet werden, wenn es das einige, immer mit sich identische Bewußtsein von mir selbst sein soll. Denn das Bewußtsein von mir selbst als existierendem Menschen ist nicht das Bewußtsein einer Identität, die sich durchhält. Diese Identität ist nicht von der Existenzweise der Natur [im Sinne des Erscheinungsgegenstandes, M. G.], sondern eine Existenz, die immer wieder von neuem hergestellt werden muß« (SuB 4, 496). Das Ich denke muss, wenn es Prinzip sein können soll, als diese Denkbewegung existieren: »Ich hält sich als existierendes nur dann durch, wenn es der als Begriff existierende Begriff ist.« (SuB 4, 498). Die Kantische Lehre von der transzendentalen Apperzeption fordert also den Gedanken der Begriffsexistenz. Die Prinzipialität von Ich lässt sich nur halten, wenn sie als dialektische Bewegung, als Einheit von allgemeinem und einzelnem Ich begriffen wird: Das logische Ich ist im empirischen Ich bei sich und das empirische Ich ist im logischen Ich bei sich. Auch bezüglich der Frage nach dem Verhältnis von Verstand und der Einheit der transzendentalen Apperzeption zeigt sich, dass bereits in der objektiven Deduktion der Kategorien die Dialektik verborgen ist: Der Verstand ist die Einheit der transzendentalen Apperzeption und ist sie wiederum nicht. Der Verstand ist der Einheit der transzendentaA
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len Apperzeption so untergelegt, wie die Anschauung dem Verstand: »Die Einheit der Apperzeption ist nicht der Verstand selbst, sondern der irreale Fixpunkt, auf den alle Mannigfaltigkeit gerichtet sein muß, wenn Erkenntnis möglich sein können soll.« (SuB 4, 501) Zugleich gilt, dass die Einheit der Apperzeption der Verstand selbst ist. Kant lässt »die Einheit der ursprünglichen Apperzeption und die Einheit des Verstandes zwischen dem Verhältnis der gegenseitigen Implikation beider und der Identität beider hin und her schweben, da er sonst auf den dialektischen Grund seiner kopernikanischen Revolution stoßen müßte.« (SuB 4, 501) D. h. er müsste behaupten: »Der Verstand ist er selbst nur als Tatsache und als Prinzip.« (SuB 4, 500) Diese Einheit von Prinzipialität und Faktizität deutet sich in der objektiven Deduktion der Kategorien an, wenn Kant sagt: Ich bin mir selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen bewusst, »daß ich bin« (KrV B 157). 65 Insbesondere in der praktischen Philosophie zeigt sich die Notwendigkeit, Ich als den als Begriff existierenden Begriff zu fassen. Liebrucks weist in diesem Zusammenhang auf die Wendung »Menschheit in der Person« in der »Menschheitsformel« des kategorischen Imperativs hin. 66 Dies wäre eine sinnlose Wortzusammenstellung, wenn Begriffsexistenz ein Unding ist. »Wie der Mensch in seiner Erkenntnis immer die Bewegung von der transzendentalen Apperzeption zur empirischen und zurück ist, so ist er als sittliches Wesen die Bewegung vom intelligiblen Charakter zum empirischen und zurück. Daran scheitern alle Festsetzungen des im Interesse der Errichtung der Welt der Positivität geübten Scheidungsverfahrens […].« (SuB 4, 163) (b) Nun kann aber Kant nicht einfach behaupten: das Ich existiert. Der Grund dafür ist wiederum ein logischer: Der Gedanke der Begriffsexistenz schließt den Widerspruch (Ich als zugleich allgemeines und einzelnes) in sich, welcher formallogisch und damit auch transzendentallogisch zu vermeiden ist. Nachdem die Transzendentalphilosophie nichts anderes unternimmt, als die objektive Gültigkeit formaler Logik zu deduzieren, darf ihr höchstes Prinzip nicht den Widerspruch in sich haben. Der Grund für die Kantischen Schwierigkeiten in diesem Punkt liegt in der Konsequenz der grundlegendsten Errungenschaft der transzendentalen Logik, nämlich der Überwindung der Verdinglichung von 65 66
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Liebrucks, Drei Revolutionen der Denkart, a. a. O., 138. Liebrucks, Drei Revolutionen der Denkart, a. a. O., 142.
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Ich. Denn zum einen ist damit Begriffsexistenz im Sinne des Schlusses: »da, wo ein Denken ist, muss auch ein Denkendes sein« (SuB 4, 66) ausgeschlossen. Zum anderen erlaubte dies der Kantische Existenzbegriff nicht: Kantisch ist Existenz die als absolute Position gesetzte Existenz, d. h. die Existenz von Erscheinungsgegenständen (SuB 4, 534). »Da Kant keinen anderen Existenzbegriff kennt als den der absoluten Position, kann er die Einheit der transzendentalen Apperzeption nur als Prinzip behaupten.« (SuB 4, 258) Die Existenz von Ich kann nicht die des Erscheinungsgegenstandes sein, ja die transzendentale Apperzeption darf nicht als absolute Position existieren, »so wenig wie Gott, Seele und Welt, so wenig wie Raum und Zeit.« (SuB 4, 475) Daher spricht auch Kant nicht davon, dass die Einheit der transzendentalen Apperzeption ist oder a priori notwendig existiert, sondern – diese als prinzipielle Setzung zur Begründung der Erkenntnisdignität formaler Logik betonend – er spricht davon, dass sie so anzusehen ist. Ihre Existenz ist die einer als gesetzte Position gesetzten Position, denn ihre Existenz im Sinne der absoluten Position könnte nur störend wirken (SuB 4, 485), da dann die Notwendigkeit im Sinne der Erfahrungserkenntnis nicht a priori garantiert wäre. Dies bedeutete einen Rückfall in die Metaphysik im Sinne eines subjektiven oder dogmatischen Idealismus, der sich auf seiende Bestimmtheiten oder Beschaffenheiten abzustützen können meint, was an sich schon Skeptizismus wäre. Daher streicht die Deduktion B den Prinzipiencharakter der transzendentalen Apperzeption deutlicher heraus (vgl. SuB 4, 493). Das ist Kant – unter der Voraussetzung dieses Existenzbegriffs – alles zuzugeben. So betont Kant ganz konsequent, dass das »Ich denke« nicht existierender Focus (existierend im Sinne der absoluten Position) ist, sondern als existierender Focus in der Idee anzusehen ist (SuB 4, 496). Ich ist Prinzip und nur Prinzip – und scheint damit ein widerspruchsfreier oberster Aufhänger für das System der Transzendentalphilosophie zu sein. Dann aber stellt sich die Frage, wie ein solcherart reines Prinzip der transzendentalen Reflexion zugänglich sein kann. Denn erschlossen soll die transzendentale Apperzeption nicht sein – dies bedeutete ja das paralogistische Vorgehen, vom Denken auf ein Denkendes zu schließen. Als bloßes Prinzip angesetzt »bleibt sie übernatürlicher Assistent unseres Denkens, von dem ich gar nichts wissen kann.« (SuB 4, 535) Damit sind wir bereits beim nächsten Gesichtspunkt angelangt: (c) Die Trennung von Prinzipialität und Faktizität von Ich soll den Widerspruch im höchsten Prinzip der Transzendentalphilosophie verA
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meiden, führt aber gerade in den Widerspruch. Warum? Liebrucks charakterisiert die transzendentale Apperzeption von Hegels »Phänomenologie des Geistes« her als die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins; das Subjekt-Objekt wird in seiner Unmittelbarkeit als Bewusstsein überhaupt fixiert. Damit wird vorausgesetzt, dass Ich – entsprechend dem, was wir bezüglich des Verhältnisses von Verstand und Sinnlichkeit sowie von Verstand und Vernunft gesehen haben – unabhängig von seinem Prinzipiat – d. h. indem es nicht aus sich herausgeht – bei sich selbst sein soll. Dann fallen aber allgemeines und empirisches Ich vermittlungslos auseinander, wodurch der Prinzipiencharakter des Ich unbegründet ist. Wenn die transzendentale Apperzeption nicht als sichselbstbewegend gedacht wird, ist nicht denkbar, wie die Einheit der transzendentalen Apperzeption zugleich die Einheit des Selbstbewusstseins sein können soll. Kant muss diese Identität in Anspruch nehmen, ohne sie aber einholen zu können. »Die Identifizierung der Einheit des Selbstbewusstseins mit der Einheit der transzendentalen Apperzeption ist erschlichen. Denn die Einheit des Selbstbewusstseins wird unter dem Prinzip der Einheit der transzendentalen Apperzeption gewonnen. Die Einheit des Selbstbewusstseins kann daher nur eine solche sein, die sowohl dieses einzelne Bewußtsein da als auch das Bewußtsein überhaupt, die sowohl dieser eine hier existierende Verstand als auch der Verstand überhaupt ist. Diese Einheit ist der Hegelsche existierende Begriff als Mensch.« (SuB 4, 535) Die Fixation der Unmittelbarkeit von Selbstbewusstsein hat zur Folge, dass das logische Subjekt zum – mit Hegel gesagt – seienden Wesen hypostasiert (Existenz als absolute Position) wird, was nach Kant zugleich unzulässig ist. 67 Das ist der noch nicht überwundene Eleatismus im höchsten Prinzip der Transzendentalphilosophie: Kant fasst das Wahre (das Subjekt-Objekt) noch als Substanz. Diese Auskunft befremdet prima facie, denn bekanntlich wird das, was die Ontologie als Substanz auffasste, bei Kant zum Grundsatz. Liebrucks fügt dem aber hinzu: Kant fasst eben die Funktion als die Substanz auf, die als Substanz nicht einfach verschwindet (SuB 4, 575). Denn das Prinzip der Synthesis der Einheit der Apperzeption ist als Substanz im Sinne Spinozas aufgefasst (suum esse conservare), freilich als Substanz, die nur in der Idee existiert: »Sein Subjekt ist noch unmittelbares Selbstbewusstsein, substantielles Subjekt.« (SuB 4, 536) Dies entspricht dem 67
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Vgl. Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 164 ff.
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formallogischen Begriff des Begriffs, der nur dadurch bei sich sein soll, dass er nicht aus sich herausgeht. Das Erkennen wird damit aber nicht als Vermittlung gefasst (wozu entscheidende Ansätze in der transzendentalen Deduktion vorliegen), sondern hat Mittelcharakter. Liebrucks folgert daraus, dass Kant nicht mit letzter Konsequenz aus dem Platonismus der Tradition herausgetreten ist: der abstrakte Allgemeinbegriff ist im höchsten Prinzip der Transzendentalphilosophie noch nicht überwunden. Von Hegel her betrachtet, ist das Kantische Ich das Subjekt-Objekt, das als subjektives Subjekt-Objekt fixiert wird, noch nicht als Negativität gedacht ist. 68 Das μέθεξιϚ-Problem stellt sich also im Rahmen der Transzendentalphilosophie erneut, aber nun nicht mehr am Ich vorbei, sondern als Frage nach der Identität von Bewusstsein überhaupt und Bewusstseiendem. Diese Einheit muss Kant in Anspruch nehmen, ohne sie begründen zu können. Transzendentales und empirisches Ich fallen Kantisch letztlich auseinander. Der Kardinalirrtum Kants besteht in diesem Zusammenhang nach Liebrucks in der Voraussetzung, dass die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins nicht vermittelt sein darf, weil sonst die Vorstellungen nicht meine wären (SuB 4, 498). 69 Das Setzende selbst soll nicht selbst gesetzt, nicht vermittelt sein. »Sobald das [die Vermitteltheit der Unmittelbarkeit von Ich, M. G.] eingesehen ist, vollzieht sich eine folgenschwere Revolution des Bewusstseins, in der die von Kant so genannte kopernikanische Wendung erst zu Ende kommt.« 70 Insofern Transzendentalphilosophie Hegel wird die Bewegung der transzendentalen Reflexion in der Wesenslogik denken: als Bewegung der bestimmenden Reflexion, die aus Widerspruchsvermeidungsgründen in die äußere Reflexion zurückfällt und gerade dadurch den Widerspruch begeht. 69 Die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins ist vermittelt, nämlich in der Sprache. Damit wird die Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins aber nicht einfach durchgestrichen, sondern sie wird sich auf allen Stufen (im Sinne der »Phänomenologie des Geistes) durchhalten. 70 Liebrucks, Sprach- und Bewußtseinsstufen, a. a. O., 41. Liebrucks bringt den über Kant immanent hinausweisenden zentralen Punkt so zum Ausdruck: Kant habe eine »transzendental-logische Begründung für die formale Logik gegeben […]. Diese Begründung bestand darin, daß die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen nur soweit zu wissenschaftlich notwendigem Ausdruck gebracht werden könne, als sie sich in Urteilen, die Notwendigkeit mit sich führen, aussagen lasse, als sie in der Einheit nicht der empirischen, sondern der transzendentalen Apperzeption zusammengebunden sei. Sobald man fragt, ob dieses Prinzip der Einheit mit dem wirklichen Menschen etwas zu tun hat, ob man also […] die existierend sich durchhaltende Identität einer Person annehmen darf, so erhält man mit Notwendigkeit aus der Kantischen Philosophie keine Antwort mehr. Die Annahme eines Ich, das auch existiert, ist eine Entscheidung, nicht anders als die Herleitung 68
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sich gegen Dialektik immunisieren will, vermag sie ihr Programm der Sicherung des Notwendigkeitscharakters der Erkenntnis nicht selbst einzuholen, zu begründen. 71 So ist es ihr Schicksal, in den Denkduktus der Metaphysik zurückzufallen und damit dem Skeptizismus anheim zu fallen. 72
III. Ausblick auf die Dialektik Die mit Kant über Kant hinausführende systematische Grundfrage lautet: Wie ist die Einheit von Bewusstsein überhaupt und Bewusstseiendem (mit Aristoteles gesagt: des τόδε τι als individueller Substanz) möglich? 73 Die grundsätzliche Errungenschaft der 3. Revolution der Denkart ist zum einen, dies zu denken – d. h. innerlogisch einzuholen –, dass sich die Apperzeption in die Einzelheit kontinuiert 74 : »Welches sind die logischen Bedingungen dafür, daß nicht ein logisches Subjekt, sondern der Mensch die Synthesis des Mannigfaltigen unter dem Prinzip ihrer Einheit vollziehen kann.« 75 Die Antwort auf diese Frage wird in der Hegelschen Logik gegeben: »Die Arbeit der Hegelschen Logik der Existenz Gottes aus dem Begriff Gottes. Bei Kant ist nur von einem Bewußtsein überhaupt die Rede, aber niemals vom konkreten Menschen [wobei der Hinweis auf den »Menschen« gerade nicht als ein Einklagen einer Anthropologie oder Ontologie zu verstehen ist – denn diese ist mit Kant als Verdinglichung des Menschen einsehbar geworden –, sondern Liebrucks meint damit den »menschlichen« Begriff im Sinne des Hegelschen Begriffs, M. G.]. So hat Kant zwar die prinzipiellen Möglichkeiten für eine wissenschaftliche Erkenntnis in seinem Apriorismus der reinen Anschauungsformen und der Kategorien angegeben; aber was das mit dem Menschen zu tun hat, darauf muß Kant die Antwort schuldig bleiben. […] Die Überwindung der Reflexionsphilosophie […] muß dadurch geschehen, daß sie in ihrem eigenen Felde bis zu ihren äußersten Konsequenzen verfolgt wird. Hierbei zeigt sich, daß die Wirklichkeit ihres obersten Prinzips, d. i. die Einheit der transzendentalen Apperzeption, nur durch Subreption, d. h. durch die Erschleichung eines Gegenstandes, wo nur von einer prinzipiellen Funktion die Rede sein darf, erreichbar ist, durch die gleiche Subreption also, die Kant der alten Ontologie mit Recht vorgeworfen hat.« (Ebd.; vgl. SuB 4, 505 f.) 71 Wladika, Kant in Hegels »Wissenschaft der Logik«, a. a. O., 596. 72 Es ist daher kein Zufall, wenn in der jüngeren Forschung die Frage nach dem Verhältnis der Transzendentalphilosophie zum Skeptizismus ein besonderes Gewicht erhält. 73 Liebrucks, Drei Revolutionen der Denkart, a. a. O., 126. 74 Das unmittelbare Erreichenwollen des Einzelnen (etwa in Gestalt existenzialistischer oder phänomenologischer Ansätze) bedeutet den Rückfall in die Ontologie, die Verdinglichung von Bewusst-Sein. 75 Liebrucks, Drei Revolutionen der Denkart, a. a. O., 136.
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besteht darin, diese Einheit als den wahren Begriff zu gewinnen.« 76 Dabei betont Liebrucks – was angesichts der Versuche, Hegel in den Irrationalismus abzuschieben oder auch im Verhältnis zu Kant zu distanzieren nicht genug betont werden kann –, dass der Hegelsche Begriff nichts anderes als der »Begriff des Kantischen Begriffs« ist (SuB 4, 429). Der gedachte, konsequent im Sinne der formallogischen Folgerichtigkeitsforderungen ernst genommene Kantische Begriff. Hegel nimmt sowohl die transzendentale als auch die formale Logik ernster, als diese sich selbst. Zum anderen ist es nach Liebrucks die grundsätzliche Leistung der 3. Revolution der Denkart, im Durchgang durch Kant das Bewusstsein der Sprachlichkeit des menschlichen Weltumganges innerlogisch zu gewinnen. Dieses Bewusstsein der Sprachlichkeit ist, formelhaft gewendet, ein Denken, Handeln und Erkennen, das begriffen hat, dass der Mensch niemals unmittelbar bei sich ist, sondern sein Selbstverhältnis immer über den anderen gewinnt, wobei die Sprache nicht bloß Mittel, sondern Medium alles Selbst- und Weltverhältnisses ist. »So läßt sich mit aller Vorsicht sagen, daß die dritte Revolution der Denkart darin besteht, daß der Mensch als sprachlicher existierender Begriff begriffen ist.« 77 Mit Blick auf Kant gesprochen: Dies, dass das reine Ich im empirischen Ich bei sich ist und das empirische Ich im logischen Ich bei sich ist, ist nur durch die Sprache möglich und wirklich. So erscheint die Sprache als das zentrale Thema der dritten Revolution der Denkart. Man kann Liebrucks’ Leistung in der Deutung Hegels in diesem Zusammenhang darin erblicken, gezeigt zu haben, dass die Hegelsche Logik von der Sprache her und umgekehrt, die Sprache von der Hegelschen Logik her zu denken ist. 78 So soll der lebendige Logos als Liebrucks, Drei Revolutionen der Denkart, a. a. O., 126. Liebrucks, Drei Revolutionen der Denkart, a. a. O., 142. 78 Man könnte zunächst fragen, ob eine solche Deutung von Hegel her legitim ist, denn eine Betrachtung der Hegelschen Logik von der Sprache her liest den ersten Systemteil von einer Bestimmung des dritten Systemteils her. Bedeutet dies nicht eine unzulässige Relativierung der Eigenständigkeit der Logik, zumal das Hegelsche System in seiner Differenzierung von Logik, Naturphilosophie und Geistphilosophie drei Absoluta kennt, die konkret eins sein sollen? Man kann Liebrucks keine undialektische Einseitigkeit in der Perspektive vorwerfen, und zwar schon deshalb nicht, weil er eine gründliche und umfassende Deutung der Selbstbewegung der logischen Idee gibt – und nie in äußerer Reflexion Bestimmungen der Logik herausgreift und ins Verhältnis zur Sprache setzt. Er zeigt im Durchgang durch die Gedankenbestimmungen der Logik auf, dass die Sprache als Deutungsschlüssel dieser Selbstbewegung der logischen Idee zu fassen ist. Er deutet 76 77
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Einheit von ratio und oratio begriffen werden. Wir wollen nun abschließend zu den beiden zuvor genannten Aspekten der dritten Revolution der Denkart einige andeutende Hinweise geben. (1) Inwiefern gelangen wir durch das Ernstnehmen der formallogischen Folgerichtigkeitsforderungen zum dialektischen Begriff? Liebrucks demonstriert dies in Gestalt eines Schlusses: »Jedes Positive ist das Gegenteil seines Gegenteils. Das Negative ist das Gegenteil jedes Positiven. Also ist das Negative das Gegenteil seiner selbst.« (SuB 3, 34) Das Positive ist das Unbezogene, das nur mit sich Identische, die Verschiedenheit nur mit sich Identischer. Das charakterisiert die Selbstund Weltinterpretation im Sinne der Welt der Positivität. Das Negative ist Gegenteil der abstrakten Selbstidentität, der Unbezogenheit, denn es ist die Tätigkeit des Negierens, des Setzens. Das Negative hat seine Identität nicht unmittelbar in sich, sondern in seiner Bezogenheit auf anderes. So aber ist das Negative als das Gegenteil seiner selbst. Dies ist auf das Ich als existierenden Begriff zu beziehen. Mit Kant haben wir gesehen: Der Erscheinungsgegenstand ist Resultat einer Vergegenständlichung des logischen Ich. Ich ist es als Subjekt-Objekt, sich zu vergegenständlichen und im Gegenstand zu sich selbst zu verhalten. Beide Seiten sind aber zusammenzudenken: »Der Begriff [als das logische Subjekt, M. G.] ist bei sich nur, indem er sich von sich abstößt.« (SuB 4, 562) Die entgegengesetzten Seiten (reines und empirisches Ich, Selbstverhältnis und Gegenstandsverhältnis) sind – wie im Zusammenhang mit Kant bereits betont wurde – als Momente einer Bewegung zu denken (womit sich die, mit Hegel gesagt, äußere Reflexion selbst aufhebt). Der Begriff, so sehen wir, ist »nur dadurch bei sich, daß er nicht nur bei sich, sondern daß er als beisichseiender zugleich bei den Sachen ist« (SuB 4, 90). 79 Wir sehen: Ich ist wirklich als Negativität, d. h. als Bewegung der Vergegenständlichung und Entgegenständlichung, und zwar so, dass Ich über seine Gegenstandsverhältnisse zu sich kommt. also nicht nur Logische von der Sprache her, sondern hebt zugleich darauf ab, dass sich erst von der Hegelschen Logik her der Begriff der Sprache erschließt. Zu den bleibenden systematischen Schwierigkeiten bei Liebrucks in diesem Zusammenhang vgl. den Beitrag von Thomas S. Hoffmann in diesem Band. 79 »Ich ist das Sich-zu-sich-selbst-Verhalten im Verhalten zu den Dingen.« (SuB 4, 259)
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Das Ich oder der Hegelsche Begriff ist so negative Reflexion-in-sich. Zwei Momente seien diesbezüglich hervorgehoben: (a) Die Entsprechung des Subjektiven und Objektiven bzw. des Allgemeinen und Einzelnen – die »Erfahrung« im Sinne der »Phänomenologie des Geistes« – ist nichts erst Herzustellendes, sondern ist immer – freilich in unterschiedlichen Niveaus der Vermitteltheit – wirklich. Das Subjekt-Objekt ist das existierende Entsprechen. (b) Das Immer-Sein dieses Entsprechens ist nicht eleatisch-statisch (ein bloß Positives), sondern sich sichselbstbewegend, sich in Stufen auslegend, in welchen der Mensch sich schrittweise von seiner unmittelbaren Selbstvergessenheit an das Objekt befreit und als existierendes Entsprechen erfährt und begreift – denn das Entsprechen ist nichts Unmittelbares, sondern es ist nur als diese Bewegung zu sich. 80 So lautet die Antwort auf die Aporie Kants im Begriff der transzendentalen Apperzeption: Die Existenz (logisch korrekter: Wirklichkeit) von Ich besteht somit darin, dass Ich das sich von seiner Prinzipialität abstoßende, sich negierende Prinzip ist, das sich in diesem Abstoßen von sich besondert, in Stufen der Selbst- und Weltinterpretation auslegt und darin individualisiert. 81 Liebrucks bezeichnet diese Einheit von Bewusst und Sein, von Allgemeinheit und Individuum (SuB 2, 198) als »Bewusst-Sein« 82 (weitere Ausdrücke dafür sind »Weltbegegnung«, »Weltauseinandersetzungsprozess« und »Weltumgang«). Mit diesem Bindestrichwort soll schon Die Vermittlung ist es, sich ihre Unmittelbarkeit vorauszusetzen, sich zu vergegenständlichen und diese Vergegenständlichung wiederum aufzuheben. 81 Von da her zeigt sich: Kant hat nicht eine Theorie der menschlichen Erfahrung insgesamt, sondern nur eines Momentes innerhalb ihrer gegeben, nämlich die Theorie des technisch-praktischen Weltumganges. (Liebrucks, Drei Revolutionen der Denkart, a. a. O., 137.) Er zeigt die Voraussetzungen dafür auf, die Natur und den Anderen als behandelbar, beherrschbar ansehen zu können. Den Weltumgang im Sinne der Naturwissenschaft bzw. Technik. Von da her erklärt sich nach Liebrucks auch, dass Kant legitimerweise meinen konnte, die Sprache – die im Raum der 1. und 2. Revolution der Denkart als bloßes Mittel des Logischen aufgefasst wird – »hintergehen« zu können. 82 »Das deutsche Wort Bewusstsein bewahrt das Wissen davon, dass es sich nicht um ein solches handelt, das in einem Subjekt stationiert ist, sondern um das ganze Sein, das im Menschen in eine neue Weise seiner selbst tritt.« (B. Liebrucks, Über das Wesen der Sprache. Vorbereitende Betrachtungen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 5 (1950/51), 19) 80
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am Zeichen deutlich werden, dass das Bezeichnete keine Eigenschaft eines Dinges ist, also von der ersten, verdinglichenden alltagssprachlichen Bedeutung des Subjektiven, das als Teil einer Dingansammlung namens Welt angesehen wird, aber auch von der zweiten, Kantischen Bedeutung des Subjektiven zu unterscheiden ist, gemäß welcher zwar Ich als Subjekt-Objekt, nicht aber in seiner Entelechialität im Sinne der dritten Bedeutung des Subjektiven und Objektiven (i. S. des Zwecks und seiner Verwirklichung) ernst genommen ist. Dies, dass der Mensch existierende Vermittlung ist, drückt er so aus, dass der logische Ort des Menschen der Strich zwischen Bewusst und Sein sei. 83 Im Anschluss an Liebrucks bringt Werner Schmitt den Charakter des Hegelschen Begriffs so zum Ausdruck: »Er ist nicht wie die Kantische transzendentale Apperzeption der nur wesentlich seiende oberste Bezugspunkt, auf den hin und von dem her die Welt der Positivität in geregelter Bezüglichkeit steht, sondern das Worin der Gesamterfahrung des Menschen, nicht eine Erfahrung seiner speziellen Fähigkeiten [im Sinne der Technik, M. G.].« 84 (2) Bewusst-Sein ist – und diese Akzentuierung ist das systematisch Neue seiner Hegelinterpretation – als Sprache wirklich 85 , sie ist die Versammlung der Mannigfaltigkeiten in den sich bewegenden Punkt von Bewusst-Sein (SuB 4, 69), sie ist Ausdruck und Darstellung des Weltumganges: »Bewußtsein und Hegelscher Begriff werden eine weite Strecke zusammengehen. Innerhalb dieses Begriffs, der als existierender Begriff Mensch ist, ist der Mensch bewußt bei den Dingen, bewußt beim Gesprächspartner, unbewußt bei sich selbst. Erst die Einheit der ganzen Bewegung ist Bewußt-Sein. […] In dieser Einheit spricht und denkt der Mensch als sprachliches Wesen.« (SuB 1, 16) Das Thema des Hauptwerkes »Sprache und Bewusstsein« ist es, den Weg zum Begriff der Sprachlichkeit des Menschen darzustellen. Es wird aufgezeigt, dass dies der Weg der Hegelschen Logik ist, der Weg »von der Substanz über die Stadien der Funktion, Reflexion, bis zum Begriff« 86 und zur höchsten Kategorie, dem sich transparenten Begriff Liebrucks, Vorwort, in: Irrationaler Logos und rationaler Mythos, a. a. O., 9. W. Schmitt, Die logische Spannweite von Hamanns Satz: ›Vernunft ist Sprache‹, in: Dimensionen der Sprache in der Philosophie des Deutschen Idealismus, hg. von B. Scheer und G. Wohlfart, Würzburg 1982, 71. 85 Damit ist die Voraussetzung der formalen Logik, ihre Inhalte der Sprache entnehmen zu können, eingeholt. 86 Liebrucks, Erkenntnis und Dialektik, a. a. O., V. 83 84
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oder der Idee, die er als »das reine Entsprechen«, den gedachten lebendigen Logos deutet. 87 »Dieser Logos ist keine metaphysische Größe, die wir an die Stelle sogenannter früherer auf listigen Umwegen wieder einführen. Dieser Logos ist der Mensch selbst.« (SuB 1, 345) Warum ist die Dialektik das Denken der Sprachlichkeit des Menschen? Hier sei nur der Gesichtspunkt herausgegriffen, dass nach Liebrucks die sich in der Logik darstellende Selbstbewegung des Begriffs nichts anderes als die Bewegung der Sprache ist. Im Sinne der Lehre vom spekulativen Satz besteht diese darin, dass jeder Fortgang zugleich Rückgang ist. Der Sinn eines Satzes wird nicht in der Weise erfasst, dass zu den Wörtern qua Sinnbestandteilen linear und additiv weitere dazukommen und dann eine Addition den Sinn des Ganzen ergibt. »Die Zeit im Aussprechen eines Satzes ist nicht ein Pendant des Kantischen, sondern des dialektischen Vernunftbegriffs. Sie ist nämlich zugleich reversibel. Ich laufe im Aussprechen eines Satzes nicht vom ersten Wort des Satzes bis zum letzten, sondern ziehe, in Analogie zu Kants Gleichnis, eine Linie, deren gezogene Teile im zeitlichen Rückblick, nicht in unmittelbarer Gegenwart, aufbewahrt bleiben. Das Erfassen des Sinnes eines Satzes ist nur dadurch möglich, dass ich zeitlich zugleich nach vorn und zurück blicke« (SuB 4, 381). Erst am Schluss – der Logik wie auch jedes Satzes – kann die Bedeutung des Anfanges erfasst werden (was formallogisch Nonsens ist, womit sich aber nur die Abstraktheit der formalen Logik zeigt 88 ). Im Anschluss daran eröffnen sich bei Liebrucks neue Perspektiven, insbesondere auf die Philosophie des Geistes. Unter Aufnahme von Motiven Vicos, Herders, Hamanns und Humboldts unternimmt Liebrucks aufzuzeigen, dass Sprache der Grund des subjektiven wie des objektiven Geistes und darin absoluter Geist ist. Der absolute Geist ist, so betont er, »Die absolute Idee ist die Entsprechung der Sätze und der Wirklichkeit unserer menschlichen Erfahrung. Sie ist weder Innenwelt noch Außenwelt, weder phänomenale noch noumenale Welt, noch ein Gott, der über beiden als Herrscher thront. Sie ist die Sprache selbst, die wir als nur endliche Wesen ohne den logischen Status der Entsprechung niemals hätten erfinden und empfangen können.« (SuB 6/3, 581) 88 Hegels Wesenslogik zeigt nach Liebrucks auf, dass die formale Logik Wirklichkeit nicht erreicht. Hier wäre näher auf die Frage einzugehen, in welcher Weise die moderne formale Logik im Anschluss an Frege und Russell als revolutionär anzusehen ist. Dies würde den Rahmen allerdings sprengen, soll allerdings in weiteren Veröffentlichungen bearbeitet werden. Vorderhand sei diesbezüglich auf Liebrucks’ Interpretation des »Tractatus logico-philosophicus« von Wittgenstein in SuB 6/1 verwiesen, in welcher gezeigt wird, dass sich das Logische hier von der Technik her interpretiert. 87
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nicht in ein Jenseits zu versetzen, sondern als Logos der Sprache, als das »sprachliche Vorgehen des Menschen auf dieser Erde« (SuB 2, 176) immer schon wirklich. Eine solche Relektüre von Hegels Geistphilosophie von der Sprache her ist höchst aktuell. Denn gegenwärtig schätzt man im deutschen Sprachraum das Wort »Geist« nicht mehr, da man dieses als metaphysisches Relikt, d. h. de facto platonistisch im Sinne einer Gespenstermetaphysik deutet; dem entspricht auf der anderen Seite dies, dass im Sinne der »Philosophy of Mind« viel vom »Geist« die Rede ist, wobei zumeist versucht wird, das Subjekt-Objekt als Gegenstand zu beschreiben. Liebrucks' Ansätze zur Deutung des objektiven Geistes (SuB 3) bilden eine herausfordernde Grundlage für ein neues Durchdenken der Grundprobleme der praktischen Philosophie, insbesondere der politischen Philosophie und des Friedensbegriffs von der Sprache her (man denke an seine Neuformulierung des Prinzips des sittlichen Handelns: »Handle sprachlich«). Die vordinglichste Aufgabe unserer Zeit ist es nach Liebrucks, die 2. Revolution einmal zur Kenntnis zu nehmen, um überhaupt den Weg zur 3. Revolution, zum Bewusstsein der Sprachlichkeit des Menschen, sehen zu können. Nur so wird die über sich nicht aufgeklärt Aufklärung, das nihilistische Verwandeln alles Ansichseins in ein Fürunssein im Sinne des Primats des Technisch-Praktischen, in unblutiger Weise überwindbar und die Weltgeschichte durch eine »Geschichte des Menschen« abgelöst, in welcher gewusst wird, dass das, was dem Menschen in der Geschichte entgegentritt, nicht ein fremdes Schicksal, sondern sein eigener Weltumgang ist.
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Bruno Liebrucks und Immanuel Kant: Die Logik, das Geld des Geistes und die (praktische) Vernunft im Leben des Menschen Bruno Liebrucks behandelt in einem Vortrag 1 die Parallelität, die er in Bezug auf Geld und Logik hervorhebt. Liebrucks greift hier einen wichtigen Gedanken auf, der schon implizit von Hegel mit seiner Kritik der formalen Logik 2 und explizit von Marx angesprochen wurde. Denn bei Marx z. B. heißt es: »Die Logik – das Geld des Geistes, der spekulative, der Gedankenwert des Menschen und der Natur – ihr gegen alle wirkliche Bestimmtheit vollständig gleichgültig gewordenes und darum unwirkliches Wesen – das entäußerte, daher von der Natur und dem wirklichen Menschen abstrahierende Denken; das abstrakte Denken.« 3 An diesem Gedanken ist auch und gerade heute sehr bemerkenswert, wie versucht wird, im Kontext von Freiheit und Leben die Dialektik zwischen Verfügungsstreben und Unverfügbarkeit deutlich zu machen. Wir können heute durch die Folgen, die ein vereinseitigtes Denken für das wirkliche Handeln der Menschen hat, einen erneuten Anstoß für eine genauere Einsicht in diese Dialektik erwarten. Wir erzeugen uns heute mittels Computer eine virtuelle Welt, von der wir meinen, dass wir sie nur noch mit immer neuen Computerprogrammen überhaupt noch beherrschen können, wo aber in dieser »Welt« wirkliche Menschen in ihrer freien Subjektivität vollständig abgeblendet werden. Auch dem unreflektierten Denken schwant immer mehr, dass die verB. Liebrucks, Über den logischen Ort des Geldes, in: B. Liebrucks, Erkenntnis und Dialektik. Zur Einführung in eine Philosophie von der Sprache her. Aufsätze aus den Jahren 1949 bis 1971, Den Haag 1972. Die Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diesen Vortrag. 2 Vgl. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Vom Begriff im allgemeinen, 2. Band, Die subjektive Logik, in: Gesammelte Werke Bd. 12, Hamburg 1981, 11–28. Dazu auch: Th. S. Hoffmann, Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2004, 38 f. 3 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Marx, Engels Werke (MEW), herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 40, Berlin 1974, 571. 1
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meintlich alternativlosen Mittel zur Freiheit der Menschen sich als Destruktivmittel seiner Freiheit, ja seiner bloßen Existenz zu zeigen beginnen. Bruno Liebrucks hat vor über 50 Jahren dieser Tendenz seinen Vortrag gewidmet. Im ersten Teil meiner Ausführungen möchte ich deshalb darauf eingehen, wie Liebrucks im Jahre 1957 mit dem Titel »Über den logischen Ort des Geldes« eine dieser Tendenz zugrunde liegende abstrakte Logik deutlich macht, die den Menschen zu einem Unmenschen und den Geist zu einem haltlosen Wanderer in der bloßen Sachlichkeit werden lässt. Er begreift dies als »propädeutischen Vorläufer« für die »Entzifferung« (265, Fußnote) der Hegelschen Logik, die er für eine wirklich menschliche Logik ansieht und die er als 6. Band von »Sprache und Bewußtsein« vorbereitete. Liebrucks wälzt keine abstrakten philosophischen Elfenbeinturm-Probleme. Er geht den gerade heute wieder aktuell gewordenen Fragen auf den Grund, ob die Logik des Marktes Leitfunktion für ein menschliches Leben haben kann. Diese Grundsatzfrage ist wichtig, um die Diskussion beurteilen zu können, ob der Staat dem Markt seinen Zweck setzt oder ob der Staat sich nur als Vollstrecker der immanenten Logik des Marktes gegen dessen eigene Tendenzen zur Übertreibung verstehen soll. Ich möchte dann in einem zweiten Teil die Philosophie Kants, wenn man sie – mit meiner Sicht auf Kant, die nicht immer die Liebrucks’sche ist – von ihrem praktischen Gehalt aus entfaltet, als ein wirksames Mittel gegen die das Leben des Vernunftwesens Mensch bedrohenden Folgen eines einseitigen Gebrauchs des Denkvermögens (Verstandesvermögens) anempfehlen.
I.
Liebrucks’ Kritik der formalen Logik als Orientierung für ein menschliches Leben
Ich beginne mit einer kurzen Darstellung und Erläuterung des Zusammenhanges, in dem Bruno Liebrucks, der sich in seinem Vortrag dabei vor allem auf Georg Simmel bezieht, seine Gedanken zur Entfaltung bringt. Der Mensch tritt in seiner Geschichte immer mehr aus der ursprünglichen Eingebundenheit seiner Existenz in natürliche, vorgegebene Zusammenhänge heraus und wird sich seiner Vermögen als eines Freiheitswesens bewusst. Er entdeckt, dass er die Dinge der Welt als 94
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Mittel zu seinen Zwecken einsetzen kann. Die Achtung vor der Natur als göttlicher Schöpfung, die dem Menschen, der selber Geschöpf ist, als ein zu achtendes Geschenk gegeben ist, tritt zurück im Bewusstsein, durch technisch-wissenschaftliche Verfahren Herrschaft über die Natur – und damit auch über die Natur des Menschen – gewinnen zu können. Die Menschen beginnen, vor allem seit der Renaissance in Europa, immer stärker, das Bewusstsein der notwendigen Ein- bzw. Unterordnung des Menschen in den Gesamtkontext der Schöpfung durch ein Bewusstsein zu ersetzen, dass es der Mensch selber sei, der sich seine Natur erst schafft aus seinem Vermögen heraus, Erkenntnisse über die Welt zu gewinnen und diese Erkenntnisse für seine Zwecke uneingeschränkt anwenden zu können. Wir können dies auch mit Kant als ein Bewusstsein der »schrecklichen Freiheit« 4 bezeichnen. An dieser modernen Bewusstseinsstufe setzt Liebrucks an. Für ihn ist das Geld Ausdruck und Mittel des Willens des Menschen, sich so als Zweck der Welt zu verstehen, dass er aus seinem eigenen Vermögen heraus sich die Welt in seine Verfügungsgewalt bringen könne. Liebrucks weist nachdrücklich auf das selbst-zerstörerische Potenzial dieses Vernunftgebrauchs hin. Der Mensch orientiert sein Denken an einer neuen Leitvorstellung von »Wissenschaftlichkeit«, die aber, wie Liebrucks zeigt, nur noch einen eingeschränkten, einseitigen Begriff der Wissenschaft hat. Erkenntnis wird in den Horizont der Verfügbarmachung, der Beherrschung der Natur gestellt. Kurz: Es geht um technische Machbarkeit. Unter dieser Leitvorstellung, unter diesem nun einzigen Zweck der Wissenschaft wird die Erkenntnis einer »menschlichen Umwelt« aufgegeben, die Welt wird unlebendig, versachlicht zu einem bloßen Gegenstand »menschlich« sein sollender, in Wirklichkeit aber unmenschlicher, bloß formal-logischer Erkenntnis. Die formale Logik wird zum »Instrument« richtigen Denkens. Sie wird es, indem sie zugleich die Wirklichkeit menschlichen Umgangs, das wirkliche Leben als irrational und wissenschaftlich nicht haltbares Hirngespinst denunziert. Nur die von dem formal-logischen Denken zubereitete Wirklichkeit, die Liebrucks auch als Realität bezeichnet, soll jetzt die wahre Welt des Menschen sein. Dass die Menschen gegen diese Vergewaltigung ihres Selbst immer schon rebelliert haben und so auch heute rebellieren, braucht nicht I. Kant, Moral Mrongovius, in: Kants gesammelte Schriften [= AA] Bd. XXVII, 2.2, hg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., 1409.
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besonders betont zu werden. Vielmehr gilt es zu verstehen, dass selbst in der Rebellion sich die Leitvorstellung mathematisch-naturwissenschaftlichen, also abstrakten Denkens, und damit auch die formale Logik weiter hält und ihr (Un-)Wesen treibt. Liebrucks hat darauf nachdrücklich aufmerksam gemacht. Wir sollten also darauf achten, unter welche, meist unreflektierten, Voraussetzungen wir unser Denken und damit auch unser philosophisches Denken stellen. Selbst die Philosophie kann als ein Moment und als ein Hort dieses lebensfeindlichen Denkens auftreten, wenn sie sich einem Wissenschaftsbild unter der Leitung der formalen Logik unterwirft. Heute tun es viele allzu leichtfertig. Auch Kant hat in der »Kritik der reinen Vernunft« dieses formallogische Denken, wie es sich in der Mathematik zur exakten Wissenschaft wird, als ein unerreichbares Vorbild für die Philosophie hingestellt. 5 Aber tatsächlich ist die Mathematik als Vorbild für die Philosophie nicht nur unerreichbar, sondern auch ungeeignet, nämlich weil sie ihre Gegenstände rein, d. h. abstrakt konstruiert. Ihr Vorteil in der Darstellung apodiktischer Gewissheit ist zugleich ihr Mangel bei der Vermittlung wirklicher Einsicht in das Leben. In der Philosophie ist natürlich auch ein Moment dieses abstrahierenden Verfahrens tätig, aber die Philosophie hat es gerade mit dem Leben, mit dem wirklichen Menschen zu tun und nicht mit der Vorstellung von Zahlen und rein geometrischen Gegenständen. Liebrucks scheint aber bei Kant noch eine unerfüllbare Sehnsucht nach der Exaktheit, der Präzision der mathematischen Wissenschaft zu vermuten, die aber, wie das Wort schon sagt, nur durch das Abschneiden ihren Charakter erhält. 6 Wir wollen versuchen, die Leitvorstellung, die Verfügungsgewalt über die Natur zu gewinnen, in ihrem Grund aufzusuchen, wir wollen die Quelle offenlegen, aus der sich diese Geisteshaltung, ungeachtet aller gut gemeinten Ratschläge und Hinweise immer wieder neu speist und Liebrucks soll uns den Weg weisen. Versuchen wir uns den Zusammenhang klar zu machen: Der Mensch als ein empirisches Wesen ist darauf ausgerichtet, sich die GeVgl. B 754 f., ebenso: I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), AA IV, 327; ders., Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?, herausgegeben von D. Fr. Th. Rink (1804), AA XX, 262. 6 Praecisio: das Abschneiden. 5
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genstände seines Lebens anzueignen. Die Arbeit an der Erzeugung seiner Lebensverhältnisse im umfassendsten Sinne ist gerade ein Moment seiner Bewusstwerdung als Vernunft- und Freiheitswesen. Der Mensch muss sich, um seine Existenz zu sichern, immer auch als Zweck ansehen, dem die Gegenstände der Natur bloße Mittel sind. Dieses Verhältnis, die Natur als Lebensmittel des Menschen anzusehen, ist notwendig zur Entfaltung freier Selbstbewusstheit. Indem der Mensch seine Vermögen zur Lebenssicherung entfaltet, bekommt er ein Bewusstsein der Macht zweckrationalen Denkens. Aus Lebenszusammenhängen werden bestimmte Aspekte abstrahiert und es werden abstrakte Gesetzmäßigkeiten erkannt, die die Beherrschung von natürlichen Abläufen ermöglichen sollen. Wenn es zum Selbstverständnis des Menschen gehört, dass er als unbedingter Zweck alle seine Vermögen zur Entfaltung bringen soll, dann ist es auch notwendig, dass er sich der Macht der einzelnen Momente in ihrer Wirksamkeit, in ihrer Produktivität bewusst wird. Wir sehen also das, was sich in der modernen Technik Bahn bricht, tief in dem Prozess der Geschichte des Menschen verankert, durch den er sich als empirisches Wesen aus seinen ursprünglichen Naturzusammenhängen herausarbeitet, sich also seiner wirklichen Freiheit bewusst wird. Dabei setzt sich der Mensch immer mehr nur noch mit der anorganischen Seite der Natur auseinander, wobei er vergisst, dass er es selbst ist, der die Natur sich so zubereitet hat. Denn, so heißt es bei Liebrucks »diese [anorganische Seite] gehorcht in jedem Fall. Vor dem, was jetzt Erkenntnis heisst, ist sie machtlos.« (272) Die bloß verstandesmäßige Auffassung der Technik gegenüber der Natur entfaltet sich dann aber auch zu einer Auffassung von Technik gegenüber dem gesellschaftlichen Charakter des Menschen selbst, wie es sich im Wirtschaften und besonders im modernen Wirtschaften (Stichwort Marktwirtschaft, genauer: kapitalorientierte Marktwirtschaft) ausdrückt. In Bezug auf sein gesellschaftliches Leben entfaltet der moderne Mensch unter der Leitvorstellung effektiven Einsatzes seiner Mittel ein Denken, eine Logik, die von seinem wirklichen Menschsein abstrahiert und gerade darin eine Produktivität entfaltet, die aus sich selbst heraus schrankenlos zu sein scheint. Das Geld ist die angemessene Darstellung genau dieses Momentes an den gesellschaftlichen Verhältnissen, das der Mensch in seiner Freiheit hervorbringt. Die ganze Fülle des Menschseins, die sowohl dem A
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Einzelnen als auch seiner jeweiligen Gemeinschaft unverfügbar bleibt, reduziert sich bzw. soll sich reduzieren in diesem Vorstellungshorizont auf quantitative, mathematisch berechenbare Funktionen, auf die sich so auch der Mensch als frei Handelnder reduziert denkt im Verfolgen einer immer effektiveren Beherrschung seiner natürlichen Notdurft. Bedürfnisse erlangen nur dann Anerkennung, wenn sie sich an dieses Schema anpassen. Oder anders ausgedrückt: Nur marktfähige Bedürfnisse gelten überhaupt als berechtigte Bedürfnisse. Liebrucks beschreibt dieses Verhältnis so: Indem das Geld nur aus Freiheit geboren ist, ist es gerade nicht ein bestimmter Wert, eine bestimmte Bewertung, »sondern Darstellung des Wertcharakters der Werte« (265), es ist Darstellung für das Werten selbst, aber als Abstraktion. So kann es auch als nicht bloß gegenständlich, sondern als »praktisch-gegenständlich« im Kantischen Sinne angesehen werden (266). Was Bruno Liebrucks zum logischen Status des Geldes sagt, ist gerade auch heute wieder durch die aktuellen Ereignisse für ein philosophisches Aufschließen der Gründe für die Krise von unschätzbarem Wert, zumal er sich gegen eine »törichte Verwerfung der Geldwirtschaft« wendet (275). Dass sich die Geldgeschäfte von dem realen Strom der Warenlieferungen scheinbar emanzipiert haben, gilt heute in noch weit stärkerem Umfange als vor über 50 Jahren. Bei den Geldgeschäften »handelt es sich um eine Realisierung des Prinzipiencharakters, die nicht Verwirklichung ist. Das Prinzip verschwindet nicht als Moment in einer Wirklichkeit, sondern lebt als Prinzip in dieser Welt.« Das Prinzip behält darin »als Prinzip seinen harten Herrschaftscharakter« (267). Das Geld ist »Prinzip aller Mittel« (280), es ist »das absolute Mittel« (281). Liebrucks macht deutlich, wie der die Gegenstände um sich herum herstellende Mensch sich sein produktives Vermögen und seine Herrschaft mit dem Geld teilt. Das Geld selber in Form des Kapitals wird als produktiv angesehen. 7 Im Geld erfährt »der Zweck-Mittelcharakter eine Pervertierung« (268). Für Liebrucks kann aber der perWir können hier nochmals auf K. Marx verweisen: Die Selbstzweckhaftigkeit des Geldes zeigt sich bei der »Verwandlung von Geld in Kapital« als »ein automatisches Subjekt«. »In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen,
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verse Charakter des Geldes, wenn es zur Herrschaft gebracht wird, nur in seinem wahren Grund erkannt werden, wenn man den Momentcharakter einer Logik, eines Denkens einsieht, »in der alle Wahrheit an die Eindeutigkeit der Aussagen geknüpft ist, deren oberster Grundsatz der vom zu vermeidenden Widerspruch ist« (268). »Nur im Neingesagthaben zum Sein kann ich formallogisch einwandfrei operieren«. 8 Wir denken an die Präzision. Eine Metaphysik, die dieses Moment als ein Absolutes setzt, ist selbst Ausdruck der Herrschaft des Geldes. Diese Logik ist das Geld des Geistes, also einer absoluten Wertsetzung, weil es die »Produktivität« nicht nur in Bezug auf die Herstellung von Gegenständen als Waren aufweist, sondern vor allem auch als Hervorbringung von bestimmten Bewusstseinsformen. Diese Bewusstseinsformen orientieren sich an der Leitvorstellung der »quantitativen Erfaßbarkeit«, die wiederum dem Grundsatz des zu vermeidenden Widerspruchs folgt. Damit wird die bäuerliche Kultur abgelöst, die sich noch auf qualitative Mannigfaltigkeit bezog (283). Aber dieser Ablöseprozess ist zugleich ein Moment der Freiheit. Der Mensch versucht, sich von der ursprünglichen Produktivität der Natur unabhängig zu machen. Das Geld ist ein notwendiges Moment dieses Prozesses. »Geld bedeutet […] Ermöglichung einer Freiheit, auf die kein Mensch mehr wird verzichten wollen« (284); »Geld schuf mit an der Freiheit des Menschen« (289). In dieser Freiheit entfernt sich der Mensch aber von den wirklichen Dingen: »Der Ort des Geldes ist in einer unendlichen Entfernung von den Dingen zu suchen. Es ist der Ort der formalen Logik. Solange sich beide nicht erdreisten, schon der Geist des Menschen zu sein, oder unter Kaschierung des Namens die Rolle des Absoluten usurpieren, sondern ihres technisch-praktischen Charakters bewußt bleiben, mögen sie den Ruhm behalten, der ihnen seit den Griechen gebührt. So lange sind sie die Platzhalter der Freiheit« (285). Solange also das Geld und damit eine bestimmte Leitvorstellung des Denkens ihren Mittelcharakter zugewiesen behalten, erfüllt das Geld diesen Zweck im Gesamthaushalt des vernünftigen Menschseins. Versuchen wir nun mit Liebrucks diese Bewusstseinsform, die sich vom wirklichen Leben entfernt, noch genauer zu verstehen. weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier.« (K. Marx, Das Kapital, in: MEW Bd. 23, 169) 8 SuB 6/2, 22. A
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Am Geld kann man sehen, wie das quantitative Verhältnis die Qualität ersetzt, selbst zur alles dominierenden Qualität wird. Die ursprüngliche Qualität des Geldes tritt vor seinem Zahlenwert zurück (269). Das Material des Geldes verschwindet hinter seinem Zahlenwert. War früher zur Vernichtung von Geldwert noch Papier und die Druckerpresse nötig, so fällt bei dem vollständig virtuell gewordenen Geld auch diese Qualität noch fort. Geld ist zu einem Flimmern auf Bildschirmen geworden. Schlimmer noch, es braucht gar nicht mehr für einen menschlichen Betrachter zu flimmern, der Computer verarbeitet die Impulse nach einem vorgegebenen Algorithmus und nimmt den Menschen auch noch diese Möglichkeit freien Eingreifens ab. Die Quantität läuft sich selbst in ihrem eigenen Automatismus heiß oder leer, wie wir anlässlich der Börsencrashes lernen. Das Geld bereitet so auch eine »Todeslandschaft« (275). Der Philosoph kann Einsicht in die tragenden Gründe dieser Entwicklung erlangen, wenn er die Logik dieses Bewusstseinszustandes erkennt. Dass Geld den Raum und die Zeit verkürzt, den Horizont des Menschen gerade nicht erweitert, sondern radikal einschränkt, kann hier leider nicht weiterverfolgt werden. Aber auf die zusammenballende Funktion des Geldes sei zumindest verwiesen. Die immer schnellere Verdichtung der Zeit und des Raumes, das Vorwegnehmen, lässt keinen Platz mehr für eine private Freiheitssphäre, ja es bleibt keine Zeit und kein Raum für ein wirkliches Leben. Der Mensch wird zur sich selbst ausschreienden Dutzend-Ware auf dem öffentlichen Weltmarktplatz des Internets. Sind wir als uns am Markt orientierende Wesen auf dem Wege zu einem inhaltsleeren, nichtigen Ich, das sein ganzes wirkliches Leben verleugnet, zu dem bloß logischen Punkt der formalen Einheitsstiftung, den Kant als die Einheit des Bewusstseins bloß gegenständlichen Denkens bezeichnet hat? Ist der Mensch nur noch ein substanzloses Wesen im Marktgeschehen? Der Zusammenhang mit dem (positiven) Rechtsbewusstsein kann hier nicht näher ausgeführt werden. Aber die Globalisierung von Markt, Geld, Recht und Ausrichtung, um nicht das belastete Wort Gleichschaltung zu verwenden, sowie der diesen Momenten entsprechenden abstrakten Bewusstseinsformen und Verdrängungen anderer, menschlicher Bewusstseinsformen sei doch zumindest erwähnt. Wichtig für uns aber ist einzusehen, dass die Geldstufe des Bewusstseins »höhere Absturzmöglichkeiten bietet« (271). Indem nicht der dialektische Begriff im Sinne Hegels, sondern der verstandesmäßig 100
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sein sollende Begriff das Denken regiert, schlafwandeln die Menschen an der Absturzkante. Indem die relativen, nämlich für bestimmte Zwecke gemachten Werte Absolutheit beanspruchen, will sich die Dialektik des Verstandes als undialektisch verstanden wissen (281). Wie wir schon wissen, relativiert der Mensch mit seiner Orientierung am Geld als Zweck sich selbst als absoluten Zweck vor seinem Mittel. Der menschliche Umgang der Menschen miteinander im Tauschen ihrer Produkte bekommt einen anderen, unmenschlichen Charakter. Das wirkliche gegenseitige Geben und Nehmen »hört in der rechtlichen Welt der Geldwirtschaft auf. […] Die gegenseitige Darstellung hat sich im Geld verdinglicht.« (287) »Geld ist die Vergegenständlichung der Unterbelichtung aller Wirklichkeit des Menschen im hellen Reich von reinen Prinzipien« (288). Das Geld ist eine wirkliche Totalität. Es entfaltet aus sich heraus eine ganze Welt. Liebrucks zieht den Vergleich von Geld und Sprache: »Geld und Sprache sind nicht zuerst Gegenstände oder Substanzen, die dann noch eine Bedeutung erhalten. Bei ihnen ist die Bedeutung die Sache selbst, nämlich der Gebrauch. Wie der Mensch alles, was er denkt und tut, auf dem Umweg über die Sprache denkt und tut, so ist das Geld als bestimmte Reduktionsstufe der Sprache der Vermittler zu den Dingen als Waren« (289). Geld als Reduktionsstufe hatte, wie gesagt, auch Marx angesprochen, wenn er vom Gelde als von dem »automatischen Subjekt« sprach. Die Vorstellungswelt, für die das Geld Ausdruck und zugleich Motor zu ihrer Erzeugung ist, ist bloß ein Ort der abstrakten Freiheit. »Die durch Geld verschafften Mannigfaltigkeiten bleiben verschlossene Modelle. Denn das Geld ist nur der gegenständlich erscheinende Formalismus« (293). Dass das Geld Ausdruck und Darstellung von Freiheit in einer Todeslandschaft ist, hat auch Dostojewski zum Thema eines Romans bzw. eines Berichts gemacht. In den »Aufzeichnungen aus einem toten Hause« spricht er von dem Geld als »geprägter Freiheit« 9 . Er zeigt, dass die Freiheit, die das Geld gewährt, eben die Freiheit im Raume des Gefängnisses ist. Es verschafft nur die Illusion wirklicher Freiheit. 10 Wie aber auch in diesem Totenhaus wirkliche Freiheit gelebt wird, zeigt die SchilF. M. Dostojewskij, Aufzeichnungen aus einem toten Hause, übersetzt von R. E. Riedt, 3. Auflage, München 1988, 29. 10 Vgl. a. a. O., 114. 9
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derung einer von den Sträflingen inszenierten Theateraufführung, wo das Geld seine dominierende Funktion verliert. 11 Wenn Geld ein Moment des sich abstrakt darstellenden Geistes ist, also in seiner Spitze Negation der Fülle des Geistes, dann realisiert Geld abstrakte Freiheit, also Unfreiheit in einem qualifizierteren, menschlich-lebendigen Sinn. Geld ist so materiale Darstellung von Freiheit in gegenständlichen Verhältnissen, es drückt die Freiheit der Gegenstände auch in ihrem Zusammenhang gegeneinander als gleich-gültige aus. Das Geld erweitert den Freiheitsraum der einzelnen Menschen nur, indem es sie weiter in die Sphäre der Unfreiheit, des bloß abstrakt Gegenständlichen einwebt. Hier zeigt sich eine Realität, die man mit Liebrucks »die Hölle des formallogischen Denkens« 12 nennen kann. Aber auch die Illusion der Freiheit ist ein Scheinen wirklicher Freiheit. In der Sehnsucht nach Freiheit zeigt sich schon die Wirksamkeit dieser Idee. Diese abstrakte Freiheit wird lebensgefährlich, wenn ihr Schein für ihre Wirklichkeit genommen wird. Um der wirklichen Freiheit willen, um des wirklichen Menschen willen muss dieser ScheinCharakters bewusst werden. Der Schein-Charakter der bloß negativen, das wirkliche Leben zerstörenden Freiheit muss in seiner Anmaßung wirklicher Freiheit bewusst werden. Nur dadurch kann es zu einem Bewusstsein qualifizierter Freiheit kommen. Deshalb ist diese Stufe des Bewusstseins auch notwendig. So sagt Liebrucks: »Dennoch ist die Stufe der Geldwirtschaft gegenüber dem Tauschverkehr als höher, ja als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit anzusehen. Niemand gelangt zu konkreten Erfahrungen, der nicht durch diese Stufen hindurchging« (293). Der Durchgang durch diese Stufe erschien G. Simmel als tragisch. Die Tragik dieses geschichtlichen Vorgangs liegt, wie Simmel so eindringlich zeigt, gerade darin, dass diese Konsequenz der Versachlichung des Menschen aus seinem Streben nach Freiheit erfolgt, also gerade im Bemühen, den Sachzwängen einer unbeherrschten Natur zu entkommen. Aber wo er der Natur und ihren Zwängen zu entfliehen hofft, entfaltet er die Bedingungen einer viel umfassenderen und scheinbar ausweglosen Knechtschaft. Der moderne Mensch wird Knecht seiner eigenen Produkte, deren abstrakter Logik er seine Freiheit unterwirft. Die Befreiung aus der Unmittelbarkeit der Natur schlägt um in eine 11 12
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Vgl. a. a. O., 202–227. SuB 4, X.
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hoffnungslose Sklaverei. Der Drang nach realisierter Freiheit führt die umfassende Unfreiheit herauf. Liebrucks zeigt deutlich, dass Simmel bei aller Kritik doch selbst in der Vorstellungswelt des homo oeconomicus verhaftet bleibt. Für Liebrucks ist der Mensch als Freiheitswesen durch seine Freiheit nicht verdammt, in der Art eines Sisyphos an Gegenstände gekettet zu sein. Der Mensch ist nicht dazu verdammt, sich einer eingebildeten Logik der Dinge, die aber nur Waren sind, zu unterwerfen. Es ist vielmehr sein Streben nach Herrschaft, nach Verfügung über ihm auch Unverfügbares, das ihn dazu treibt, seinen eigenen Grund als Freiheitswesen zu zerstören. Dagegen steht das wirklich praktische Vermögen, einen wirklich menschlichen Umgang gegen das abstrakt sachliche Funktionieren als Marktteilnehmer oder als Kunden eines Dienstleistungsbetriebs namens Staat zu pflegen. Dazu ist eine Revolution der Denkart notwendig, die Liebrucks in der Hegelschen Logik angelegt findet. Hier wird das bloß formal-logische Denken, das seinen Ort in der Wesenslogik hat, durch die Logik des Begriffs überwunden.
II.
Kants Kritik des versachlichenden Vernunftgebrauchs
Ich möchte aber jetzt das Augenmerk auf Kant richten, der diese Revolution nicht nur vorbereitet, sondern in weiten Teilen auch durchgeführt hat. Kant will Einsicht verschaffen in die Bedingungen der Möglichkeit der wissenschaftlichen Praxis (die eigentlich im Horizont der Machbarkeit steht) seiner Zeit, die immer auch noch unsere Zeit ist. Es gilt dem Philosophen, das, was ist, zu verstehen, das heißt die Gründe seiner Entstehung transparent zu machen. Dies ist der Zweck der ersten Kritik Kants. Liebrucks hat Recht, dies ist ein eingeschränkter und zudem ein höchst gefährlicher Zweck, wenn die Voraussetzungen, die diesen Zweck nur rechtfertigen können, nicht mehr die Reichweite des Gebrauchs bestimmen. Für Kant ist aber, wenn man über diese erste Kritik hinausblickt – und man muss dies tun – die Reichweite des gegenständlich-abstrakten Denkens durch das Sittengesetz eingeschränkt. Schon in der Methodenlehre der »Kritik der reinen Vernunft« macht Kant dies unmissverständlich deutlich. Und man muss das Sittengesetz nicht, wie es Liebrucks tut, nur von seiner abstrakt-gesetzlichen Seite her auffassen. Der Mensch als Freiheitswesen ist für Kant durch die Vernunft in A
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seiner »schrecklichen Freiheit« immer schon eingeschränkt durch ein ursprünglich zur Vernunft gehörendes Bewusstsein des Sittengesetzes. 13 Als empirisches Freiheitswesen kann er sich aber nur bewusst werden, wenn er auch noch dieses Bewusstsein des Eingeschränktseins aus Freiheit verwerfen kann. Er muss dies können, weil er sich nicht an seiner Freiheit stoßen könnte, weil er sonst nicht das Freiheitswesen wäre, als das er sich ansehen will und als das er sich durch seine ihm auch unverfügbare Vernunft ansehen muss. Dies macht aber auch gerade das lebensgefährliche Moment an der Freiheit, wenn sie sich dem Herrschaftswillen des Menschen und nicht seiner Vernunftidee unterstellt, aus. Das Bewusstsein der Freiheit kann sich nur dadurch entfalten, dass es sich an seiner Negativität stößt, dass es sich an sich selbst wie an einem Gegen-Stand abarbeitet. Für Kant findet der theoretische Vernunftgebrauch seinen Sinn im Praktischen. Der letzte Zweck aller Theorie ist das Praktische. 14 Das vom wirklichen Leben abstrahierende Denken zum Zwecke der Beherrschung findet seine Einschränkung durch den Zweck des wirklichen Lebens der Menschen. Alle zuzubereitenden Lebensmittel des Menschen dienen dem einen Zweck, dass der Mensch als Vernunft- und Freiheitswesen existieren soll. Der Zweck der bestimmten Zubereitung der Lebensmittel zeigt sich als ein relativer Zweck. Ein möglichst gutes Leben mit einer reichlichen Versorgung gegenständlicher Lebensmittel mag ein erstrebenswertes Ziel sein; es ist und bleibt ein relatives, ja sekundäres Ziel. Dass die Menschen nach derartigem »Glück« streben, liegt für Kant in der Natur des Menschen. 15 Die philosophische und die menschliche Frage sind vielmehr, wie der Mensch sein eigentliches Glück, sein Menschsein zur Entfaltung bringen kann. Die Logik einer relativen Zielsetzung kann so auch nicht die LeitLogik des Menschen als eines konkreten Vernunftwesens sein. Weder ein sachlich bestimmter Zusammenhang der Menschen in ihrer Gesellschaft, noch das individuelle Glücksstreben erschöpfen diese Wirklichkeit des Menschen. Der wirklich menschliche Umgang der Menschen miteinander entfaltet sich in einer Logik, die gerade nicht ein abstraktes Verhältnis, einen abstrakten Zusammenhang darstellt. Diese Logik enthält den Menschen als unverfügbaren Zweck. Mit Hegel können wir 13 14 15
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Vgl. I. Kant, Moral Mrongovius, AA XXVII, 2.2, 1409. Vgl. I. Kant, Logik, AA IX, 87. Vgl. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 37.
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sagen: Der Mensch ist existierender Begriff; er fällt nicht unter einen Begriff. Der Mensch kann dieser sich selbst entfaltende Zweck aber nur sein, wenn er sein Unverfügbares für sich auch auf das Vermögen seiner Freiheit ausdehnt. Das Unverfügbare des Menschen ist zugleich seine Unvergleichlichkeit. Dies erscheint einer einseitigen »Wissenschaft«, die sich ja nur über Vergleichbares verständigen kann, als irrational. Jeder wirkliche Mensch als ein solcher ist aber auch immer ein Unvergleichliches. Hegels Kritik an der Urteilsform hat genau dies zum Inhalt, dass das Urteil einem Menschen gegenüber immer schon unangemessen und im eigentlichen Sinne auch böse ist. Wir können hier auch auf Kant verweisen, denn er hat darauf hingewiesen, dass ein abschließendes Urteil, wir können hinzufügen: gerade auch in Bezug auf andere, nicht zu rechtfertigen ist und man solle sein Urteil »in suspenso lassen« 16 . Der Mensch ist insofern ernst zu nehmen und als ein Unverfügbares anzuerkennen, als er nie als wirkliches Freiheitswesen (im Liebrucks’schen Sinne) Objekt eines Urteils sein kann, eben aus dem Grund, weil er kein Objekt im Sinne eines bloß äußerlichen Gegenstandes ist. Der urteilende Verstand verliert hier das Recht seiner Geltung. Das ganze Projekt der Kantischen Philosophie ist darauf ausgerichtet, dem Verstandesdenken seine Grenzen zu zeigen. Die Berauschung des Menschen an den Fähigkeiten seines Verstandes ist gerade Ausdruck der »schrecklichen Freiheit«, die sich aus allen nicht verstandesmäßig zu begründenden Bindungen gelöst sieht bzw. danach strebt, diese Bindungen zu lösen. So ist es gerade auch Kant, der die Wirklichkeit der Freiheit im Durchgang durch ihr schreckliches Moment transparent macht. Die Freiheit hat dieses schreckliche Moment an ihr, der Mensch ist nur im Angesicht dieses (metaphysischen) Schreckens frei. Seine Freiheit qualifiziert sich gerade darin, dass er diesen Schrecken bemeistert. Gerade nicht unterdrückt oder gar ausmerzt, sondern die Potenzen der Gestaltung einer ihm gemäßen Welt in die Ordnung der Vernunft einfügt. 17 Bei aller Kritik, die Hegel an Kant übt, so hat er doch von Anfang an das Potenzial der Praktischen Philosophie Kants erfasst. So heißt es im »Ältesten Systemprogramm«: »[D]ie ganze Metaphysik [fällt] künfI. Kant, Nachlassreflexion 2506, vgl. auch 2588. Bei Kant heißt es: So »macht sich [Vernunft, K. H.] mit völliger Spontaneität eine eigene Ordnung nach Ideen, in die sie die empirischen Bedingungen hinein paßt« (Kritik der reinen Vernunft, B 576).
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tig in die Moral […] – wovon Kant nur ein Beispiel gegeben, nichts erschöpft« 18 habe. Und in einer Vorlesung heißt es in Bezug auf Kant: »Die praktische Vernunft ist sogleich als konkret aufgefaßt. Die letzte Spitze der theoretischen Vernunft ist abstrakte Identität; sie kann nur Kanon, Regel zu abstrakten Ordnungen abgeben. Nur die praktische Vernunft ist gesetzgebend, konkret; das Gesetz, das sie sich gibt, ist Sittengesetz. Es ist ausgesprochen, daß sie in sich konkret sei.« 19 Das wirkliche Leben besteht ja gerade darin, seine verstandesmäßig als widersprüchlich aufzufassenden Momente als fruchtbringend in ihrem Zusammenspiel zur Einheit zu bringen. Das zersetzende und zugleich doch auch produktive Moment des Gesellschaftslebens des Menschen findet seine Darstellung im Marktgeschehen, das durch seine eigene Logik sein statisches Gleichgewicht immer wieder zerstört und in dieser Gewalttätigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber den wirklichen Menschen auch wieder herstellt. Wenn also das »automatische Subjekt« immer versucht, seine Einheit zu finden, so besteht diese doch immer in der Negation des Lebens. Der Markt zeigt gerade nicht Respekt vor Personen als Trägern von Würde, sondern Respekt vor abstraktem Eigentum als Träger von Wert. Nur als Eigentümer aber hat die Person Geltung auf dem Markt. Der Wert solchen Personseins aber bemisst sich nach dem Umfang der Verfügung über Eigentum. Eigentum aber kann entwertet werden, damit der Markt sein Gleichgewicht findet. Würde hat jedoch keinen Grad, weil sie sich dem bloß quantitativen Denken entzieht. So kann man auch nicht ein bisschen entwürdigen. Würde kann keine Ware auf irgendeinem Markt sein. Gegen alle hilflosen bis lächerlichen Versuche von Ökonomen so etwas wie Moralität aus dem Marktgeschehen zu entfalten bzw. die Moralität im Horizont der Logik des Marktes zu verstehen 20 , kann man mit Kant aber leicht einsehen, dass die Würde des Menschen, der Respekt vor der
G. W. F. Hegel, Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt am Main 1969 ff., Bd. 1, 234. Ob nicht doch Schelling der Autor ist, lassen wir hier unberührt. Vgl. Ch. Jamme/H. Schneider (Hgg.), Mythologie der Vernunft, Frankfurt am Main 1984, 63–69. 19 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: Werke in zwanzig Bänden, a. a. O., Bd. 20, 367. 20 Vgl. z. B. Priddat, der Moral nach »Effizienzkriterien« beurteilt wissen will. Man wählt sich dann eine Moral, die »transaktionskostensenkende Effekte« verspricht (B. Priddat, Moral und Ökonomie, Berlin 2005, 56). 18
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Totalität seiner Person, sich aus anderen Quellen des Menschseins speist und diese gerade zum Bewusstsein gebracht werden sollen. Den Respekt fremder Vernunft, aber auch die Achtung vor der Schöpfung versucht Kant gerade aus dem praktischen Umgang der Menschen zu entfalten. Das Praktische ist dabei nicht nur in seinem technisch-formalen Moment zu verstehen, sondern enthält auch im Sinne von Aristoteles den Bezug des Tätigseins auf die Vorstellung des Allgemeinen oder des Gemeinwohls der Polis. In der Kantischen Rechtsphilosophie ist so der Versuch zu erblicken, den wirklichen Menschen auch in einer formal-logischen Verstandeswelt als unverfügbares, mit Würde ausgestattetes Wesen zu verstehen. Das Recht zum Schutz der Würde ist der Schein der Vernunft in diese Welt. Im Recht erscheint Gerechtigkeit. Gerade indem sich dieser Schein zu einem deutlichen Bewusstsein bringt, wird jetzt auch der Blick frei für eine weiterführende Einsicht in den Gehalt der Moral, die eben nicht nur vom einzelnen Bewusstsein ausgeht und quasi in diesem verschlossen bleibt, sondern die sich auf der Grundlage und unter dem Schutz des Rechts weiter »übt«, um eine Gemeinschaft der Menschen als wirklich freie und in ihrer Freiheit selbstbewusste Gemeinschaft durch eine bewusst gemeinsame Anstrengung hervorzubringen. In der Entfaltung des Rechtsbewusstseins zeigt sich erst sein wahrer Grund, ein Moment an ihm selbst, das sich als Moral von ihm abstößt und als ein wirksames Allgemeines zeigt gegen die Zersetzung des wirklichen Lebens durch die Gleich-Gültigkeit, die die Sphäre des Rechts ausmachen muss. Der tragende Grund des Rechtsbewusstseins als Moment der wirklichen Freiheit zeigt sich im Durchgang durch die Kantische Rechtslehre. Er zeigt sich als ein Bewusstsein, das im Menschen mit seinem Gewissen immer auch schon wirksam ist, ohne dass sein genaues Verhältnis zum positiven Recht eingesehen werden konnte. Der Konflikt zwischen Moral und Recht zeigt sich als ein scheinbarer, als ein Scheinen im Wesen. Das Recht ist die Wirklichkeit der Moral, indem es das Freiheitswesen in seiner Würde respektiert, schützt und fördert. All dies geht über die Logik des Wertens, des Bewertens, des Vergleichens, des Gleichgültig-Machens, also der Logik des Marktes, des Geldes, kurz: der abstrakten Logik hinaus. Und dieses »Hinaus« lässt sich nur wirklich einsehen, bleibt keine bloß leere Vorstellung, wenn man diese Logik in ihrem ganzen – vielleicht auch schrecklichen – Ausmaß durchschritten hat. A
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Wenn das Recht als gemeinschaftliche Zwangsverwaltung gesellschaftlichen Umgangs aufgefasst werden kann, so findet es in der Würde des Menschen sein Ziel. Aber dieses Ziel bleibt im Recht als ein solches Grenzbegriff. Das Recht kann die Würde aus seinem wesentlich äußerlichen Moment heraus nicht verwirklichen, aber es kann, mit Liebrucks zu sprechen »vor uns als Wegweiser« 21 stehen. Die Würde des Menschen kommt aus ihm selbst als einem freien Vernunftwesen. Das Recht kann und muss aber dies äußerlich sichern. Die kalkulierende Klugheit kann Rechtsverhältnisse erzeugen. Selbst Menschen ohne einen Funken von Moral könnten aus Klugheit dazu genötigt werden. 22 Aber sie kann nicht gegen »Schwarzfahrer« absichern. Nicht der Appell an relative Zwecke, sondern der Appell an den absoluten Zweck, der der Mensch selbst ist, kann den Respekt, die Anerkennung der wirklichen Würde, der wirklichen Einzelheit des Subjekts zur Sprache bringen. Es sollte in diesem Beitrag darum gehen, aus Kantischem und Liebrucks’schem Geist heraus, die »Todeslandschaft« unseres einseitig marktwirtschaftlich bzw. naturwissenschaftlich orientierten Denkens überwinden zu lernen, einzusehen, dass wir die Mauern unserer Freiheit aus der Freiheit des Verstandes selbst aufbauen, sie aber durch die Freiheit der Vernunft auch wieder schleifen können oder besser ausgedrückt: diese Mauern zu wirklichen Fundamenten zum Zwecke unserer Freiheit machen können. Wenn wir die Philosophie Hegels und die so wertvollen Bemühungen Liebrucks wirklich uns einsichtig machen wollen, so sollten wir den »praktischen« Kant auch angemessen zur Kenntnis nehmen. Liebrucks hat dies leider nicht immer getan. Nun gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob es Kant gelungen ist, den Bruch, den viele zwischen dem theoretischen und dem praktischen Vernunftgebrauch ausgemacht haben, wirklich zu vermitteln. Ich bin der Auffassung, dass »Die Metaphysik der Sitten«, wenn auch nicht ein abschließender, so doch ein einleitend erfolgreicher Versuch dieser Vermittlung ist. Allerdings halte ich es Kant gegenüber nicht für angemessen, ihm zu unterstellen, er hielte das in der »Kritik der reinen Vernunft« Ausgeführte – wobei dann gerne von der Methodenlehre abgesehen wird –, SuB 7, 16. Kant sagt drastisch: Selbst »ein Volk von Teufeln« (Zum Ewigen Frieden, AA VIII, 366).
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für das letzte und grundlegende Wort in Bezug auf die Selbsterkenntnis des Menschen. Um zu einer solchen Auffassung zu gelangen, muss man schon viele ausdrückliche Äußerungen Kants, selbst in dieser (propädeutischen) Schrift nicht zur Kenntnis nehmen. Es bleibt Kant gegenüber unangebracht, ihn auf einen abstrakten Formalismus festzulegen. Philosophisch unbehaglich wird einem zumute, wenn z. B. Liebrucks in Bezug auf die Menschheitsformel des Kategorischen Imperativs Kant unterstellt, dass er sie nicht als etwas Weiterführendes ansehe. 23 Das Gleiche gilt für die Zweck-Mittel-Formel. 24 Ebenso halte ich es für unzulässig, Kant zu unterstellen, er wolle das Sittengesetz vom Naturgesetz her verstehen und er hätte dessen Dialektik nicht sehen können. 25 Die Bedeutung des Gewissens bei Kant bleibt Liebrucks so auch verschlossen. 26 Was Liebrucks hier allerdings deutlich zur Sprache bringt, ist eine gefährliche, weil in die extreme Unsittlichkeit führende Aufnahme des Kantischen Formalismus. Gerade indem die Verallgemeinerungsfähigkeit verstandesmäßig, d. h. auf abstrakt gedachte Subjekte bezogen wird, kommt der sich selbst aussprechende Gehalt eines Allgemeinen, das sich der Verfügung, dem besitzergreifenden Zugriff der Einzelnen in seinem Sich-Aufdrängen zugleich auch nur entziehen kann, gerade nicht in den Blick. Kant geht es aber meiner Ansicht nach genau um die dialektische Negation dieses Verstandesbewusstseins mit seinen bloß regulativ vorausgesetzten Ideen. Die bloße Form des Gesetzes wird gerade von einer Form, die sich auf als Gegebenes Vorausgesetztes bezieht, wie im theoretischen Kontext, abgehoben. Die Form soll als eine Sich-selbst-inhaltlich-Aussprechende aufgefasst werden. Dass genau hierin die Schwierigkeit für das Verstandesdenken liegt, weiß Kant durchaus. Indem er mit dem praktischen Vernunftgebrauch eine andere Sichtweise der Vernunft zur Sprache bringt, versucht er das Frei-Vernünftige aus der Engführung des Verstandesdenkens, dessen Notwendigkeit, aber auch dessen Grenze er gezeigt hatte, herauszuführen. Das Subjekt, der Mensch, ist eben nicht mehr als »Fall von« aufzufassen. Die Menschheitsformel und die Zweckformel des Kategorischen Imperativs sind gerade als Schlüssel aufzufassen, um Einsicht in die wirkliche 23 24 25 26
SuB 3, 346 f. Vgl. a. a. O., 366. Vgl. a. a. O., 348. Vgl. a. a. O., 356. A
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Subjektivität des Menschen zu gewinnen, die darin zu sehen ist, dass der Mensch ursprünglich als ein existierendes Vernunftwesen seine Wirklichkeit darin findet, als dieser bestimmter Einzelne nicht ein »Fall von« Gattung zu sein, sondern wirkliche Gattung, wirklich erzeugendes Moment. Das Subjekt ist dem Vernunftgesetz gerade nicht so zugeordnet, wie der Stein dem Fallgesetz. Der Stein ist ja gerade nicht als ein freies Wesen angesehen, das sich sein Gesetz erzeugt. Er und das Gesetz werden eben so angesehen, dass er diesem nur unterliegt und das Gesetz ist gegenüber dem einzelnen Stein durchaus gleich-gültig, denn der Verstand hat diese Gesetzgebung erzeugt. Das Sittengesetz Kantischer Prägung ist gerade nicht ein solches Gesetz, dem seine »Objekte«, also die Subjekte, gleich-gültig sind oder sein können, nach dem so oft missverstandenen Ausdruck: »fiat iustitia, pereat mundus«. Der Einzelne ist wirklich ein Allgemeines, er ist in seinem Vernünftigsein ursprünglich dazu aufgerufen, eine Ordnung hervorzubringen, die die unverletzliche Würde jedes Einzelnen mit seinem Leben gegen äußere Willkür garantiert. Dieser Aufruf zur Gemeinschaftstat verhindert auch, dass er sich als bloß Einzeln-sein-Wollender von der Last der großen Aufgabe erdrückt fühlt oder in Hybris verhebt. Wir sollten hier nicht darüber streiten, ob die theoretische Sichtweise auch der praktischen nicht doch noch zugrunde liegt 27 , sondern darauf achten, wie Kant die theoretische Sichtweise durch die praktische so erweitert, dass eine Einsicht in die Wirklichkeit der Vernunft gewonnen werden kann, die der Einsicht Hegels doch nicht so ferne liegt. Ernst zu nehmen ist Liebrucks’ Hinweis, dass es keine praktischen Sätze gibt, die nicht zugleich auch theoretisch sind. 28 Das ist aber nicht gegen Kant zu verstehen. Die Wirklichkeit des Menschen besteht ja gerade im Durchdrungensein dieser Momente. Das vernünftige Denken ist aus sich selbst heraus immer schon über die Einseitigkeit verstandesmäßig bestimmter Leitvorstellungen dieses Denkens hinaus. Den Instrument-Charakter des Denkens, wie er den theoretischen Vernunftgebrauch im Kantischen Sinne eigen zu sein scheint, hat Hegel z. B. in einem treffenden Bild karikiert, wenn er davon spricht, als wolle jemand schwimmen lernen, ohne ins Wasser zu gehen. Aber wir wollen das Beispiel noch weiterführen: Man muss zwar ins Wasser gehen, d. h. Vgl. hierzu auch ein fiktives Gespräch zweier Philosophen, das Liebrucks 1972/73 veröffentlicht hat: B. Liebrucks, Von der Koexistenz zum Frieden, Bern u. a. 1972/73, 64. 28 Vgl. SuB 3, 368. 27
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sich praktisch üben, aber dazu ist auch immer ein Anhalt, ein Ausruhepunkt notwendig, weil man sonst als Ungeübter wirklich ertrinkt. Wir können das Verstandesdenken in dieser Rolle auffassen. Das Verstandesdenken erzeugt auch die Verlässlichkeit in der Vorstellung einer Naturgesetzgebung, die unseren Alltag sicherer, weil berechenbarer machen kann. Wir können uns in dem, was uns die praktische Vernunft offenbart, nur üben, wenn wir uns auch immer wieder von dem Verstandesdenken, das auch ein zur moralischen Faulheit einladendes Denken ist, abstoßen. Wenn wir das Verhältnis von theoretischem und praktischem Vernunftgebrauch so verstehen, dann schließen sich viele Verstehensschwierigkeiten in der Kantischen Philosophie auf. Liebrucks selbst sieht das ähnlich, wenn auch nicht in Bezug auf Kant. Nach ihm kann auch die »formale Logik« mit »einer Brücke« verglichen werden, die »zur Aktualisierung einer Stütze verhilft« 29 . Wir können mit Liebrucks festhalten, dass »[d]er Mensch […] nicht die Möglichkeit [hat], auf verschiedene Weise zu denken« 30 , aber dieses Denken findet unter Voraussetzungen statt, die als Leitgesichtspunkte das Denken dirigieren. Durch das formale Denken hindurch erhebt sich das Denken »zu seinem Fürsichsein« 31 . Das formale, theoretische Denken im Sinne Kants, also ein einseitiges Denken, um sich einen bestimmten Zusammenhang im Lebenszugang verständlich zu machen, kann so auch nicht mehr als das »wahre Denken« angesprochen werden. Vielmehr zeigt es sich als ein Moment wahren Denkens, des Denkens von Wahrheit, indem es seinen Momentcharakter nicht nur erkennt – was Liebrucks zugibt –, sondern auch das durchgreifende Moment an diesem Denken, eben das Praktisch-menschlich-Vernünftige zu einer Einsicht bringt.
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Die Betrachtung der Kategorien an ihnen selbst und die Sprache. Zu Liebrucks’ Deutung der Hegelschen Logik Nicht Gott ist transzendent, sondern der Satz ›A = A‹. Bruno Liebrucks
I.
Vorbemerkung
Hegels »Wissenschaft der Logik« stellt einen der wichtigsten, wenn nicht den zentralen philosophischen Referenzpunkt im Denken von Bruno Liebrucks dar. Liebrucks hat dem Hegelschen Hauptwerk in »Sprache und Bewußtsein« (SuB 6/1–3) in diesem Sinne drei stattliche Bände gewidmet, die die entschieden revolutionäre Tat der Hegelschen Logik unter den Bedingungen einer Gegenwart, die nach Liebrucks’ Diagnose in aller Regel noch das Niveau der ersten Revolution der Denkart bei Kant unterschreitet, zur Sprache bringen wollen. Dieses Zur-Sprache-Bringen der Logik hat Liebrucks dabei als den Versuch verstanden, einer bis heute ausstehenden wirklichen »Antwort« auf Hegels Logik vorzuarbeiten. Die eigentliche Antwort auf Hegel wird, so Liebrucks, »noch lange« 1 auf sich warten lassen, weil wir uns einstweilen in Verhältnissen eingerichtet haben, die Hegel gar nicht als eine (An-)Frage verstehen lassen, die einer Antwort harrte. Letzteres tut übrigens auch die sogenannte Hegel-Forschung nicht, die, schon weil sie Hegel zum Objekt der Forschung zu machen versucht, ihn nur im Raum des vergegenständlichenden Bewusstseins und eben nicht in dem der Sprache erfährt. Die sich so nennende Hegel-Forschung kann in diesem Sinne geradezu als organisierte Verhinderung des von Hegel selbst her einzig angezeigten Bemühens, sich zu ihm, wie Liebrucks sagen würde, sprachlich zu verhalten, angesehen werden, und es überrascht so gesehen auch umgekehrt nicht wirklich, wenn Liebrucks von 1
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den meisten akademischen Protagonisten der »Hegel-Forschung« nur marginal oder gleich gar nicht rezipiert worden ist. 2 Versteht man indes mit Liebrucks auch den Logiker Hegel sprachlich, versteht man ihn damit stets auch als Frage, auf die wir die Antwort noch schuldig sind, dann heißt dies, dass wir ihm den Raum, in dem er ursprünglich sprechen kann, womöglich noch erst bereiten müssen. Nach Liebrucks vermögen wir das am ehesten, wenn wir, auch auf die Gefahr von Redundanzen, ja Palillogien hin, Hegel in unseren Bewusstseinsstatus hinein paraphrasieren. 3 Wie alle Bewusstseinsstatus ist sich auch der unsere zunächst seiner Sprachlichkeit, will sagen: seines Gehaltenseins in einer bestimmten Weise, sich sprachlich zu vermitteln, nicht bewusst. Nach Liebrucks genügt es freilich auch nicht, wenn sich ein Bewusstseinsstatus der Bedingungen seiner Bewusstheit nur erst bewusst wird, wie dies mit der ersten Revolution der Denkart durch Kant für das Bewusstsein als solches geschehen ist. 4 Vico, Hamann und Humboldt – um nur diese für Liebrucks selbst besonders relevanten Namen zu nennen – haben bereits gewusst, dass sich die reine Bewusstheit nie aus sich selbst heraus einzuholen vermag, sondern dass es dazu des scheinbaren Umwegs über die Sprache als der vom Bewusstsein immer auch ausgeblendeten Vermittlung seiner selbst bedarf. Auch Hegel wusste nach Liebrucks um diese Wechselverweisung von Sprache und Bewusstsein aufeinander, mehr noch: er hatte dabei nicht nur eine psychologisch zu nehmende Interdependenz im Sinn, sondern er hat die »innerlogische Genesis« Man wird z. B. in dem von Paul Cobben herausgegebenen »Hegel-Lexikon« (Darmstadt 2006) Liebrucks’ Namen vergeblich suchen – was auch angesichts des eher bescheidenen Niveaus mancher dort sonst angegebenen Literatur zu denken gibt. 3 Liebrucks betont an der Anm. 1 zitierten Stelle, dass sein Hauptwerk »aus logischen Gründen redundant geschrieben« sei. »Redundanz« gilt in der Logik gewöhnlich als Vitium, während die Rhetorik sie als Stilmittel, genauer »Tropus der Emphase« kennt. Eine »semantische Emphase« liegt vor, wenn ein Begriffsmerkmal »durch einen Begriff, der dieses Merkmal [zwar] als Merkmal, aber unausdrücklich, enthält«, ausgedrückt wird (H. Lausberg, Elemente der literarischen Rhetorik, 8. Auflage München 1984, § 208). So spricht, wer zu einem Mann sagt: »Sei ein Mann!«, logisch gesehen zwar redundant, rhetorisch gesehen aber emphatisch, indem er den Angeredeten selbst einen hier und jetzt schlüssigen Schluss vom Allgemeinen auf das Einzelne vollziehen lässt. Eine aus logischen Gründen redundante Darstellung der Logik kann sich nur auf eine Logik beziehen, zu deren Begriff die Realisierung durch den Leser gehört. 4 Das Thema der Philosophie Kants sind – abgekürzt gesprochen – die Bedingungen der Möglichkeit der Selbsterhaltung eines rationalen Bewusstseins in theoretischer und praktischer Hinsicht. Die Genesis des rationalen Bewusstseins, die nach Hegel eine sprachliche ist, tritt nicht in Kants Blick. 2
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der Sprache »gegeben« (SuB 6/1, 165). Hegels Logik zu paraphrasieren, zielt dann auf den Versuch, auch unseren Bewusstseinsstatus von seiner sprachlichen Genesis her aufzuschließen, d. h. ihn eigentlich erst als das, was er ist, zur Sprache zu bringen. Nur so kann Hegels Denken zur Frage werden, die diesen Status als ganzen betrifft, ihn aus seiner unmittelbaren Befangenheit in sich erweckt und womöglich eine ihrerseits sprachlich verfasste Antwort provoziert, die sich tatsächlich hören lassen kann. Das Liebrucks’sche Unternehmen will, wie wir auch sagen können, auf eine Teilhabe an Hegel hinaus, die durchaus dialektisch, d. h. von der konkret-sprachlichen Bewegung des Begriffs her gedacht ist und sich jedenfalls nicht in der »Abbildung« Hegelscher »Wahrheiten« in nicht mehr als korrekten Sätzen über dieselben erschöpft. Liebrucks ist dabei bewusst, dass gerade diese von ihm intendierte und in Anspruch genommene hermeneutische Figur einer sprachlich-dialektischen Teilhabe von niemandem so prägnant gedacht worden ist wie eben von Hegel: von Hegel, dem Phänomenologen, genauso wie von Hegel, dem Logiker. Form und Inhalt des Philosophierens, das Liebrucks in »Sprache und Bewußtsein« pflegt, stimmen insofern in Beziehung auf Hegel sogar in besonderer Weise überein, und es nimmt eben deshalb nicht wunder, dass Hegel, wie gesagt, der zentrale Referenzpunkt gerade auch des Liebrucks’schen Philosophierens von der Sprache her werden konnte, ja werden musste. Allerdings soll der vorliegende Beitrag nun nicht so sehr von jenem Umriss einer wiederum sprachlichen Antwort auf Hegel handeln, den man bei Liebrucks ausmachen kann. Er soll vielmehr auf zwei Fragen zu sprechen kommen, die sich von Hegel her an das Liebrucks’sche Programm von »Sprache und Bewußtsein« stellen. Die erste dieser Fragen betrifft die bei Liebrucks faktisch vollzogene unmittelbare Verschränkung von Logik und Realphilosophie, das Ineinanderschieben von logischer und geistphilosophischer Perspektive, das – aus der Sicht Hegels – zwar sicherlich geistphilosophisch, aber nur mit erheblichen Einschränkungen auch logisch gerechtfertigt werden kann. 5 Die zweite In der Geistphilosophie ist die Logik als Moment aufgehoben, weshalb z. B. die konkrete Sprache einer bestimmten Epoche (die Sprache also als Manifestation des objektiven Geistes) niemals unmittelbar logisch korrigiert werden kann; hier überwiegt die Sprache die Logik. In der logischen Perspektive dagegen als einer Perspektive der absoluten Form ist die unmittelbare Bestimmtheit jeder nur besonderen Sprache (so auch die der besonderen Sprache einer Epoche) schon überwunden; insofern überwiegt hier die Logik die Sprache, nämlich gesamtsystematisch gesehen auf den absoluten Geist hin.
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Frage zielt auf die Sprachlichkeit des Begriffs, die nach Liebrucks keineswegs nur als logische, sondern – zumindest grenzbegrifflich – auch als mythische zu denken ist. Dabei geht es natürlich auch um die von Liebrucks anvisierte Entelechie des Logischen auf das Mythische hin, wie sie in der Gesamtkomposition von »Sprache und Bewußtsein« vor allem auch in der Perspektive einer Überwölbung der Hegelschen Logik durch die Hölderlinsche Dichtung zum Ausdruck kommt. In dieser Überwölbung wird in der Konjunktion von Bewusst-Sein von Liebrucks der Akzent nochmals in einer Weise auf die Seins- oder Unmittelbarkeits-Seite gelegt, die in diesem Sinne von Hegel her nur schwer nachvollzogen werden kann. 6 Beide Fragen hängen der Sache nach natürlich zusammen und lassen sich auch nur gemeinsam erörtern. Wir beginnen mit der Frage nach der Engführung von Logik und Geistphilosophie, also dem Verschränkungsproblem!
II.
Logik und Sprache
Unsere Vorbemerkung hat bereits daran erinnert, dass es Liebrucks in seinen Erläuterungen zur Hegelschen Logik nicht einfach um eine Reproduktion der Hegelschen Philosophie um dieser selbst willen, sondern um deren wirkliche Mitsprache im Kontext eines Bewusstseins geht, das auf wesentlich »vorrevolutionäres«, sprich unterkantisches Niveau gefallen ist. 7 Die Rettung für dieses Bewusstsein besteht nicht darin, dass man es auffordert, sich noch diesem oder jenem bisher überVon Hegel her denkend könnte man hier vermuten, dass Liebrucks mit »Mythos« einen unmittelbar absoluten Geist meint, der seine persistierende Absolutheit darin beweist, dass er in der Tat unmittelbar absolut bleibt – was nach Hegel allerdings ein Einwand gegen diesen Geist oder zumindest ein Hinweis auf seine stillschweigend nicht reduzierte Objektivität wäre. Aus der Sicht Liebrucks’ dagegen stellt sich dies so dar, dass »Hegel … kein Wissen davon« hatte, »daß er in der Logik Zugänge zum Mythos in moderner Zeit vorgetragen« hätte (SuB 7, 8). 7 Von einem »Rückfall« kann die Rede sein, insofern im philosophischen Diskurs der Gegenwart noch das mit Kant erreichte Niveau des Selbstbesitzes des Denkens weithin verloren gegangen ist und so auch wiedererstandene Gespenster wie das des naiven Realismus, das des Naturalismus und das der Überzeugung, durch widerspruchsfreies Denken unmittelbar »die Wahrheit« zu produzieren, in neuem Gewande alte Aporien erzeugen können. Inwieweit die Philosophie auch in solchen Manifestationen »ihre Zeit in Gedanken gefasst« zu sein vermag, kann hier dahingestellt bleiben; was sie sonst aber war: logische Avantgarde, ist sie so jedenfalls nicht. 6
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sehenen »Problem« zu stellen und es zu »lösen«; die Rettung besteht vielmehr darin, die Tatsache seiner eigenen sprachlichen Vermitteltheit logisch erst zur Kenntnis zu nehmen, was nach Liebrucks die Hegelsche Logik zumindest mit dem Versuch, die »innerlogische Genesis der Sprache« zu entfalten, tut. Dabei ist die Hegelsche Logik, wenn sie zur Frage wird, selbst ein Sprachgeschehen, und zwar ein Sprachgeschehen jetzt im Sinne einer sprachlichen Genesis der Logik, wie sie dem vorrevolutionären Bewusstsein am wenigsten einleuchten will. Die Hegelsche Logik ist insoweit – das klang bereits an – nicht nur ihrem logischen Gehalt nach, sondern stets auch als konkreter Sprechakt aufgefasst. Entsprechende, über einen vermeintlich isolierbaren abstrakt-propositionalen Gehalt der Logik hinausweisende »pragmatische« Perspektiven sind Hegel selbst, wie nicht zuletzt die Vorreden auf die »Phänomenologie des Geistes« und die »Wissenschaft der Logik« belegen, alles andere als fremd. Eine Philosophie, die immerhin eine Logik umfasst, die sich expressis verbis »der modernen Welt angehörig« 8 weiß, weiß auch, dass sie nicht die abstrakte Idee zum letzten Gegenstand haben kann, die in der Sprache als ihr äußerer Form nur erschiene. Die Philosophie gibt sich in der Sprache vielmehr ein lebendiges Dasein, sie geht ganz in den aktualen Begriff ein, in dem Subjekt und Objekt, Ich und Welt einander wirklich erschlossen sind. »Wirklich« bedeutet im Hegelschen Sinne dabei: ohne einen Rest, ohne ein Jenseits der Vermittlung, ohne »Ansich«, das nirgends und niemand »erscheint«. Von dieser bei Hegel selbst angelegten Perspektive einer immer schon geistphilosophisch kontextualisierten Logik zu unterscheiden ist gleichwohl die Frage, wie es denn streng systematisch um das Verhältnis von Logik und Sprache steht. Bei Hegel selbst gibt es darauf eine zunächst recht einfache Antwort: Während die Logik als »Wissenschaft der absoluten Form« zu verstehen ist, in der es, in Hegels bekanntem Bilde gesprochen, um »die Gedanken Gottes vor der Schöpfung« geht, fällt die Sprache in den Bereich der Realphilosophie, den Bereich also der bereits geschehenen Schöpfung, und zwar näherhin in den Bereich der Philosophie der explizit aufgehobenen Natur, der Philosophie des Geistes. Wenn wir jetzt nicht auf die verschiedenen Entwicklungsstufen des Hegelschen Sprachdenkens eingehen, die von den Jenenser Systementwürfen über die »Phänomenologie des Geistes« bis zur »Enzyklopä-
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G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Vorrede zur zweiten Ausgabe, GW XXI, 20.
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die« reichen, 9 sondern uns sogleich auf die Systematik letzter Hand beziehen, dann lässt sich hier grundsätzlich folgende – man möchte sagen: Trivialität – festhalten: der Ort der Thematisierung der Sprache bei Hegel ist nicht die Logik, sondern die Philosophie des Geistes, näher des subjektiven Geistes, und dort die Psychologie, in der sie als Mitte des »theoretischen Geistes« erscheint. 10 Die Sprache tritt hier näherhin in gewisser Weise als Mitte von Anschauung und Denken auf, genauer noch als Funktion der Einbildungskraft, die selber wieder die tätige Mitte des Vorstellens ist. Die Einbildungskraft nämlich reproduziert das im »Schacht« der Intelligenz »an sich« bereits angeeignete Anschauliche zu einer »bildlichen Existenz«, in der sich die Intelligenz jetzt ein für sie seiendes Sein gibt und zugleich sich selbst zur »Sache« macht. 11 Sprechen bedeutet so nach einem Motiv, das bereits beim Jenenser Hegel begegnet, vor allem dies: sich selbst in die Unmittelbarkeit – zum Beispiel des Tones – geben, sich – auch sich selbst – anschaulich setzen, darin aber sich sich selbst entgegensetzen, sich objektivieren und überhaupt einen Raum der Objektivation aufspannen, den das bloße Denken, das sich noch erst vom Anschauen unterscheidet, so gar nicht kennt. Sprechen bedeutet immer, das Selbst in die Äußerung geben und es aus der Äußerung ebenso wieder empfangen. In jedem Sprachakt wiederholen wir in gewisser Weise das Sich-Entlassen der Idee in die Natur, indem wir nämlich den Sprung aus der reinen Kontinuität des logischen Binnenraums in eine, wie Hegel sagt: »Gebehrde der leiblichen Sprech-Aeußerung« 12 vollziehen, deren Geheimnis es freilich ist, nicht eine rein natürliche Äußerlichkeit zu kreieren, sondern ein Äußeres, das als geistiges ebenso sehr ein Inneres ist. 13 Oder, noch einEine Übersicht dazu findet sich bei Th. S. Hoffmann, G. W. F. Hegel, in: Klassiker der Sprachphilosophie, hg. von T. Borsche, München 1996, 257–273 (Anm. 490–492). 10 Das versteht sich der Sache nach auch insofern von selbst, als Sprache immer ein Moment naturaler Äußerlichkeit inkludiert, das in ihr zwar als aufgehoben gesetzt, aber dennoch überhaupt (mit-)gesetzt ist; die neueren Differenzphilosophien schließen bekanntlich bei diesem Mitgesetztsein der Natur im Sprechen an. Für das Denken als Denken dagegen gibt es kein entsprechendes Mitgesetztsein von Natur. 11 Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 457 Anm., GW XX, 451; zum Bild des »nächtliche[n] Schacht[s]« zudem § 453, GW XX, 446. 12 Hegel, a. a. O., § 459 Anm., GW XX, 454. 13 Der Vergleich hinkt insofern, als die absolute Idee im Unterschied zu einem Sprecher keine Geistgestalt, sondern vollendete logische Subjektivität ohne jeden Raum-Zeit-Bezug ist. 9
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mal anders gewendet: Die »Sprech-Äußerung« geht auf ein wahrhaft Unendliches, dessen Sein ein bestimmtes Sich-Zeigen im Kontinuum von Innerem und Äußeren ist. 14 Ihre entscheidende Präsenz erreichen die Sprache bzw. das Sprechen dabei nach Hegel im Namen, in welchem der unmittelbare Umschlag von cogitatio und extensio in konzentriertester Form vorliegt. 15 Im Namengeben findet entsprechend (anders, als uns die Semiotik glauben machen will) nicht nur eine Bezeichnung statt, die wiederum nur die Öffnung der Diastase zwischen intelligibler Bedeutung und bezeichneter äußerer Sache wäre; im Namengeben geht es noch weniger um eine bloß denkende Subsumtion einer gegebenen Anschauung unter einen ebenfalls schon gegebenen Begriff. Das Namengeben ist seinem radikalen Sinn nach Inkarnation, ist die Kreation jener bestimmten Äußerlichkeit, die unmittelbar eine bestimmte Innerlichkeit ist und in der sich insofern Manifestation ereignet. Im Namengeben vollzieht sich wirklicher Geist und das wirkliche Denken: hier »ist«, was »gedacht ist«, und das, »was ist«, »ist« nur, »insofern es« – für sich seiender – »Gedanke ist«. 16 Reelles, nicht abstraktives Denken, findet deshalb im Nennen von Namen statt, in denen es sich unmittelbar anschaulich ist; reelles Denken ist, wenn man so will, Sprache im Modus des Nennens und jedenfalls (auf die Weise der Linguisten gesprochen) immer parole. Das schließt nach Hegel freilich nicht aus, dass im »Inneren« des Sprechens ein logischer Horizont aufgespannt ist, der die Totalität der Vermittlung der Sprache im Modus der »Innerung« enthält und der sich dann auch als leitender »logischer Instinkt« 17 des Sprechens als wirksam zu erweisen vermag. Es ist in der Tat ja nicht so, dass wir zuerst das Sprechen und dann – etwa im akademischen Studium – dessen Logik erlernten; vielmehr entfaltet sich diese mit jenem Zum besseren Verständnis sei daran erinnert, dass in der Hegelschen Logik im Sinne der Aufhebung der Wesens-Disjunktionen (des wesentlichen Verhältnisses) das Absolute die Einheit von Innerem und Äußerem ist. Die Sprache ist so in der Tat (was ein Hauptpunkt der Liebrucks’schen Hegel-Lektüre ist) eine Weise des Daseins des Absoluten – allerdings nicht einfach und schlechthin schon auf absolute Weise, weshalb die Logik ihr sprachkritisches Potential auch gegenüber der schon gesprochenen Sprache nicht einbüßt. 15 Schon in der Auszeichnung des Namens als des Primärelements der Sprache zeigt sich der wesentlich nicht-dualistische Zugang Hegels zur Sprache, der ihn z. B. von der modernen Linguistik und ihren philosophischen Ablegern von Chomsky bis Derrida unterscheidet. 16 Hegel, Enzyklopädie § 465, GW XX, 464. 17 A. a. O., § 459, Anm., GW XX, 454. 14
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simultan, so dass auch die logisch-formelle Betrachtung der Sprache in der Grammatik dieser nicht ab extra übergestülpt werden muss, sondern in dieser ihr fundamentum in re bereits hat. Es ist klar, dass wir schon hier an einem Punkt stehen, der die Fragestellung von »Sprache und Bewußtsein« unmittelbar betrifft, und wir kommen auf diesen Punkt auch nochmals zurück. Das Projekt von »Sprache und Bewußtsein« hat indes, wenn in ihm von »Sprache« die Rede ist, diese keineswegs nur ihrer subjektiv-geistigen Seite nach im Blick. »Sprache« referiert bei Liebrucks vielmehr immer ebenso auf den objektiven wie den absoluten Geist, wofür es bei Hegel ebenfalls Anhalt gibt, den wir uns kurz vergegenwärtigen wollen. – Als Medium des objektiven Geistes erscheint die Sprache bei Hegel insofern, als sie (wiederum »linguistisch« gesprochen) nicht zwar qua unmittelbare »parole«, wohl aber als geschichtlich bestimmtes System einer »langue« in ihrer je bestimmten Verfasstheit auf eine ganze »Welt« zeigt, die ihr jeweils entspricht. Wir wissen, dass Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« nicht zuletzt die Bewegung der Bildung als eine Sprachgestaltengeschichte dargestellt hat. 18 Einer der hier markantesten Punkte betrifft dabei die Genese des »Ich« aus sprachlichen Konstellationen. »Ich« ist wesentlich sprachliche Wirklichkeit, es wird, wie Hegel ausdrücklich sagt, von der »Sprache […] allein« ausgesprochen und verbreitet sich, einmal ersprochen, auch wie »eine Ansteckung« 19 sprachlich. Die objektive Realität von Ich liegt hier nicht in der subjektiven Form, die es aufruft, sondern in einer bestimmten, Subjektivität erst erschließenden Sprachpraxis, die am Ende in ein »allgemeines Selbstbewusstsein« 20 einmündet. Hegel kann in diesem Sinne beispielsweise darauf insistieren, dass Kants Rückgang auf die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption und die damit verknüpfte Aufspannung des Bewusstseins als des eigentlichen Erkenntnisraumes in dem Sinne sprachlich vermittelt ist, dass zwar nicht ein willkürlicher Wechsel im subjektiven Sprachgebrauch schon eine Revolution der Denkart darstellen kann, wohl aber kein genuiner Erkenntnisraum aufgespannt werden kann, der nicht zuerst ein uns von der Vgl. dazu Th. S. Hoffmann, Bildung, Entzweiung, Sprache. Zur Dialektik des Bildungsgeschehens nach Hegel, in: Axel Hutter / Markus Kartheininger (Hgg.), Bildung als Mittel und Selbstzweck. Korrektive Erinnerung wider die Erinnerung des Bildungsbegriffs, Freiburg / München 2009, 82–104. 19 Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW IX, 276. 20 Ebd. 18
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Sprache als objektiv-geistiger Macht her eingeräumter Raum ist – ein Raum, der eben zuerst ersprochen sein muss, bevor der einzelne ihn dann auch durchdenkt. Wir glauben eben deshalb an die Möglichkeit objektiver Erkenntnis, weil reale Erkenntnisräume nicht Kreationen des Subjekts, sondern Prämissen für solche Kreationen sind. Das Ersprochensein dieser Prämissen aber liegt dem Subjekt, das sich um objektive Erkenntnis bemüht, im Rücken. – Nicht nur im Rücken, sondern deutlich vor Augen liegt ihm dann das Dasein des absoluten Geistes, das Hegel ebenfalls an die Sprache zu binden vermag. Ein sprachliches Dasein des absoluten Geistes ereignet sich so zumal im »Wort der Versöhnung«, von dem die »Phänomenologie des Geistes« im Kontext der Überwindung der abstrakten Selbstbehauptung des »harten Herzens« spricht. Im »Wort der Versöhnung« tritt an die Stelle der abstrakt ihren Selbststand behauptenden Subjektivität ein sprachliches Sich-Empfangen vom Anderen seiner selbst her, das Hegel »ein gegenseitiges Anerkennen« nennt, »welches der absolute Geist ist« 21 . Aber auch die Stufenfolge der Religionen kann Hegel systematisch daran bemessen, wie fern oder nah sie dem Dasein des absoluten Geistes je alleine im Wort sind. In der absoluten Religion, die das Wort als den ersten Anfang setzt, ist dieses als Medium der Offenbarkeit schlechthin gewusst. Die Sprache fällt hier mit der Natur des Geistes, tätiges Offenbaren schlechthin zu sein, 22 zusammen. Das Wort ist entsprechend als Medium der Selbstpräsenz des Geistes die »unmittelbar unendliche, absolute Wirklichkeit« 23 geworden. – Kehren wir aber nach dieser Markierung der Stützpunkte, auf die sich das Projekt von »Sprache und Bewußtsein« bei Hegel durchaus beziehen kann, zurück zu unserer an Hegels Gesamtsystematik orientierten Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Logik und Sprache! Zwei Seiten oder Funktionen sind hier in jedem Fall zu unterscheiden: denn einmal ist die Logik innere Prämisse des Geistes, das andere Mal aber – nämlich als selbst ersprochene Daseinsweise des Geistes – ihrerseits dessen Funktion. Das Problem, das jede nur unmittelbare Verschränkung von Logik und Sprache – etwa im Sinne des Sprachrelativismus, in mancher Hinsicht jedoch auch im Sinne des Projekts von »Sprache und Bewußtsein« – erzeugt, besteht in der Hauptsache darin, 21 22 23
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A. a. O., IX, 361. Vgl. dazu Hegel, Enzyklopädie § 383, GW XX, 382. Ebd.
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dass diese beiden Funktionen von vornherein nicht angemessen geschieden werden. Für die Frage nach der Logik als der Prämisse des Geistes geht es zum Beispiel gerade nicht darum, daran zu erinnern, dass es eine Wissenschaft der Logik ohne Sprachlichkeit ihrer Gestalt faktisch nie geben kann. Eine solche Erinnerung ist ohne Zweifel am Platze, wenn und sofern es um die Logik eben als Produkt des Geistes zu tun ist. So ist es in jedem Fall angezeigt, Wissenschaften, die meinen, sich als Wissenschaften sprachfrei konstituieren zu können, daran zu erinnern, dass sie ihre Vermittlung niemals in einer außersprachlichen Evidenz, sondern immer nur in einem zunächst ersprochenen Erkenntnisraum haben, der auf der Ebene der wahrhaften Wissenschaft seine Sprachlichkeit auch einzuholen vermögen muss. Liebrucks’ entschiedene, nahezu sein gesamtes Lebenswerk durchziehende Abwehr aller nur formal sein wollenden Logik zielt genau auf diesen Punkt einer Sprachvergessenheit, die am Ende gerade die Logosferne des Vergessens der eigenen Vermittlung betrifft. Die formale Logik vergisst ihre eigene Vermittlung etwa in der Statarik eines mathematischen Identitätsbegriffs, der allen Inhalt schon aus sich ausgeschlossen hat. Gemessen an einem im Hegelschen Sinne geistigen Erkennen, das gerade ein konkretes Durchlaufen und Aufheben von Inhalten meint, betreibt die formale Logik eine forcierte Abstraktion, die zunächst daran zu erinnern ist, dass auch ihr eigentlicher Angelpunkt – der Punkt, an dem sie erst Halt und Bedeutung gewinnt – nicht die sprachfreie Evidenz, sondern die konkrete Beziehung auf jenes inhaltsbezogene Sprechen ist, von dem sie sich emanzipieren will. In diesem Sinne findet dann in der Tat keine Wissenschaft außerhalb jenes ursprünglich geistigen Manifestierens statt, das Hegel in der Sprache der Logik »die Selbstbewegung der absoluten Idee nur als das ursprüngliche Wort« 24 nennen kann. Die wissenschaftliche Selbstkontinuation des Wissens in sein Äußeres hinein, die über das stets den Ursprung des Wissens selbst mit aufrufende Wort erfolgt, ist in jedem Fall sprachbezogen, mehr noch: eigentliche Wissenschaft weiß als Gestalt des absoluten Geistes, die eben als solche sich ihre eigene Form transparent macht, um ihre Sprachbezogenheit, und nur untergeordnete Gestalten des Wissens schließen ihre eigene Vermittlung aus sich noch aus. In genau diesem Sinne nimmt es nicht wunder, wenn Hegels Logik, wie es mehr als einmal geschieht, auf ihre eigene Sprachgestalt, zum Beispiel ihr Vokabular, reflektiert, oder wenn 24
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Hegel sich wünschen kann, sie »siebenundsiebzigmal« 25 umarbeiten zu können, was gewiss nicht dem Ideal eines more geometrico verfassten Buches entsprechen kann. Noch einmal also: die Logik als Gestaltung des absoluten Geistes ist genau deshalb nicht »sprachfrei« zu imaginieren, sondern ihrer eigenen Sprachlichkeit durchgängig mächtig. Das jedoch ist, wie schon gesagt, nur erst die eine Seite bezüglich des Verhältnisses von Logik und Sprache, die Seite der relativen Sprachbedingtheit einer Logik als Wissenschaft, der die andere, die zentral das Logische der Logik und deren Autonomie betrifft, beizugesellen ist. Es geht dabei, wie schon erwähnt, um die systematische Differenz, die nach Hegel zwischen der Logik als Wissenschaft der absoluten Form auf der einen Seite und der Geistphilosophie auf der anderen festzuhalten ist. Das Geschäft der Logik im Sinne Hegels ist, wie wir hier in Kurzform sagen wollen, die denkende Betrachtung der Denkbestimmungen an ihnen selbst. Denkbestimmungen logisch an ihnen selbst zu betrachten, heißt zunächst gerade nicht, diese Bestimmungen auf den Aspekt ihrer Sprachlichkeit und sprachlichen Objektivität hin zu betrachten. Es heißt vielmehr, sie im Aspekt ihrer strengen Selbstbezüglichkeit zu denken, oder es heißt, sie aus der absoluten Negativität heraus darzustellen. 26 An ihnen selbst betrachtet, sind Denkbestimmungen ausdehnungslos oder sie haben allenfalls eine »innere« Extension, die insofern ins Thema tritt, als sich die Denkbestimmungen in ihrer spekulativen Betrachtung, d. h. als sich durch sich selbst bestimmende in Selbstunterscheidung und Selbstbewegung auf sich selbst beziehen. Oder anders: sie bringen ihren Status, Denkbestimmungen und eben nicht Realkategorien zu sein, gerade darin zur Geltung, dass sie unter ihrer Betrachtung ihre nur unmittelbare außergedankliche Extension abstreifen und sich als selbsterfüllend erweisen. Das heißt natürlich nicht, dass sie grundsätzlich nicht extensionsfähig wären. Es tritt vielmehr an die Stelle der primären – vorstellungshaften oder auch
Hegel, Wissenschaft der Logik, Vorrede zur zweiten Ausgabe, GW XXI, 20. Die Sprache hindert in der Regel die streng reflexive Entfaltung eines Gedankens, da sie ihm immer eine Wendung ad extra gibt; der »Realismus« des gewöhnlichen Vorstellens folgt nur dieser sprachlichen Dissoziation des Denkens. Aber auch, wenn Fichte nicht zu Unrecht von der »GrundWendung aller Sprache«, der »Objektivität« gesprochen hat (Wissenschaftslehre 1804. Zweiter Vortrag, GA II/8, 229), gilt zugleich, dass die Sprache der Verflüssigung auf den selbstbezüglichen Gedanken hin durchaus fähig ist; die Dialektik hat seit alters nichts anderes als das einzuüben versucht. 25 26
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sprachlichen – außergedanklichen Extension die aus dem Selbst der Kategorie heraus sich herstellende begriffliche Extension, die Kontinuation der Bestimmung auf ihr bestimmtes Anderes hin. Wir können diese zunächst sehr abstrakte Aussage versuchsweise an einem, hier etwas vereinfacht wiedergegebenen Beispiel erläutern. Wenn die gewöhnliche Logik Denkformen nur aufzählt und nebeneinander stellt, etwa indem sie meldet, es gäbe den Begriff, das Urteil und den Schluss, zeigt Hegel auf, dass Begriff, Urteil und Schluss nicht einfach beziehungslos nebeneinander stehen, sondern aneinander ihre innerlogische Extension haben. Sie lassen sich nämlich auseinander entwickeln, und zwar nach einem Gesetz der Selbstanwendung der Kategorien, das für unsere Zwecke wie folgt wiedergegeben werden kann: Das logische Begreifen des Begriffs, der Begriff des Begriffs, ist, als reine Form der Begriffsreduplikation betrachtet, das Urteil. Die entsprechende logische Darstellung des Urteils, also die Anwendung des Urteils auf das Urteil, das Urteilen über ein Urteil oder die Reduplikation des Urteils, ist der Schluss, der zugleich die Differenzgestalt Urteil wieder in eine Einheit überführt und insofern den Begriff, aber jetzt als Resultat einer Gedankenbewegung, d. h. als gesetzte Erkenntnis, wiederherstellt – denn in einem schließenden Schluss begreifen wir wirklich, d. h. wir urteilen nicht nur und haben auch das nur unmittelbare Wissen verlassen, auf dessen Niveau wir uns im Modus des bloßen Denkens befinden. Dieser zunächst »konstruktiven« innerlogischen Bewegung entspricht bei Hegel zugleich eine »deduktive«, die die zunächst so scheinende Subjektivität der Konstruktion aufhebt, was wir uns an dem gleichen Beispiel veranschaulichen. 27 Der Begriff als die zunächst unmittelbare Daseinsweise der absoluten Negativität oder als das unmittelbare Wissen vermag sich nicht identisch mit sich zu erhalten, so wenig irgend ein konkretes Subjekt im Status des unmittelbaren Wissens verharren kann, ohne sich einer Welt zugleich zu öffnen und mitzuteilen. Im unmittelbaren Begriff widersprechen Vollzug und Gehalt des Begreifens, die unmittelbar ineinander liegen, einander, sie treten in einer Reduplikation des Begriffs auseinander. Der Begriff geht so ins Urteil ein, indem er sich zugleich als unmittelbarer Begriff verliert. Die Unterscheidung von »Konstruktion« und »Deduktion«, die Hegel ausführlich in der Jenenser »Logik« des Systemzyklus von 1804/05 entwickelt (vgl. GW VII, bes. 113– 124), geht zunächst auf die euklidische Geometrie zurück, wird von Hegel aber für die dialektische Methodologie adaptiert.
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Denn im Urteil (dem ersten Anderen des Begriffs) teilt sich nicht nur der Begriff; er teilt sich auch in es mit dem anderen Begriff. Machen wir uns dies in Kürze auch in gnoseologischer Hinsicht klar: Mein Status als Urteilender (also als nicht nur als Begreifender qua unmittelbar Wissender) ist der, mich selbst von mir unterschieden, darin aber auch mich selbst verobjektiviert zu haben. Als Urteilender bin ich nicht nur bei einem Objekt angekommen, auf das ich mich begreifend beziehe, was die Seite der Konstruktion war; ich bin auch selbst in der objektiven Beziehung »objektiv« bzw. ein Objekt geworden, auf das sich der andere Begriff überhaupt, darin aber auch anderes Begreifen bezieht. 28 Ich bin insofern nicht mehr nur begreifend, sondern ebenso begriffen. Hegel sagt deshalb, dass das Urteil die Antinomie des Begriffs darstellt. Das Urteil ist in diesem Sinne auch nicht die »Form der Wahrheit«, auch wenn es als Weise des sich selbst darstellenden (konkret: des sich in seiner unmittelbaren Besonderheit darstellenden) Begriffs selbstverständlich auf dem Wege zur Wahrheit ist. Das Urteil ist der gesetzte Widerspruch zwischen Einzelheit und Allgemeinheit, Subjekt und Objekt und deshalb als unmittelbares ohne reale Bedeutung. Nur verständigen wir uns auch nicht über unmittelbare Urteile, sondern so, dass wir Urteile immer schon auf andere Urteile beziehen. 29 Bereits bei Kant hat entsprechend nicht das einzelne Erfahrungsurteil Wahrheit, sondern das Urteil, das ich im (schließenden) Kontext der Erfahrung überhaupt, d. h. im Kontext anderer Urteile fälle. Das im Kontext anderer Urteile gefällte Urteil aber ist der Schluss. Der Schluss ist nach Hegel der wiederhergestellte Begriff, das vermittelte Wissen. Er ist der Grund des Begriffs, und die reflexive Bewegung des Begriffs in diesen Grund ist seine Deduktion. Wir belassen es hier bei diesem Beispiel einer im Sinne Hegels dialektischen Betrachtung der Denkbestimmungen an ihnen selbst und unterstreichen nur nochmals die grundsätzliche Relevanz des streng negativitätslogischen Begriffs der Logik, der bei Hegel im Kern darin besteht, alle Bestimmtheit als ein Sich-Beziehen, sie mithin differenzAn sich geht jeder Objektbeziehung die Selbstverobjektivierung voraus; für uns dagegen ist immer zuerst das Objekt, dann unsere objektive Beziehung auf es. In der Sprache im Liebrucks’schen Sinne liegen beide Bewegungen ineinander. 29 Zur Systematik der Urteilslehre Hegels vgl. im übrigen Th. S. Hoffmann, »Hegels Urteilstafel«, in: M. Gottschlich / M. Wladika (Hgg.), Dialektische Logik. Hegels »Wissenschaft der Logik« und ihre realphilosophischen Wirklichkeitsweisen, Würzburg 2005, 72–89. 28
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logisch aufzufassen. Die Relevanz dieser differenzlogischen Methode ist nicht zuletzt darin zu sehen, dass nur dann, wenn die dialektische Bewegung der Betrachtung der Denkbestimmungen an ihnen selbst die vollständige Reduktion der unmittelbaren gedanklichen Extension dieser Bestimmungen umfasst, die Philosophie jene Sachwalterin der Freiheit zu sein vermag, die sie im Sinne Hegels jederzeit zu sein hat und auch ist. Konkret auf das Verhältnis von Logik und Sprache bezogen heißt dies, dass nur dann, wenn die Logik im letzten aus der absoluten Negativität heraus gedacht ist, sie nicht nur den Grund legt für eine realphilosophisch darzustellende selbstbewusste Sprachlichkeit, die bis in die Sphäre des absoluten Geistes hinaufragt, sondern ebenso auch den Grund für eine logisch jederzeit mögliche Sprachkritik, ohne welche ein Insistieren auf der menschlichen Sprachlichkeit nur allzu leicht in einem fatalistischen Sinne missdeutet werden kann. Sprache zwingt das Denken nicht, jedenfalls dann nicht, wenn dieses sich seiner Autonomie in dem Sinne vergewissert hat, wie es die spekulative Logik es lehrt. Wenn Heidegger die geschickliche Übermacht der Sprache über das Wesen der Sterblichen beschworen und damit die Sprache gerade nicht als Medium der Freiheit, sondern als Büttel einer sich wesentlich anonym haltenden Notwendigkeit vorgestellt hat, erledigen sich dergleichen Mythen bei Hegel logisch – nämlich negativitätslogisch – von selbst. Auch Liebrucks’ Satz, dass »bei Hegel entsprechend der Natur des Logischen die Sprache die Führung« habe, 30 wird man in diesem Kontext mit einem deutlichen Fragezeichen versehen müssen. Die Logik als solche, d. h. die reine »Innerung« des Begriffs, die doch nicht in einen Platonismus der Wesenheiten, sondern in eine Innerung des absoluten Begreifens mündet, bedarf schlechthin keiner »Führung«, so wenig ein Sich-Einlassen auf die Dialektik überhaupt eine Bejahung von Heteronomie meinen kann. Das ändert nichts daran, dass später, auf dem Boden der Realphilosophie, bis hinein etwa in die Ethik, in der Tat alleine die sprachlich eröffneten Räume, wie Liebrucks zu betonen nicht müde wurde, die eigentlich menschlichen sind und sein können. Übrigens hat auch Liebrucks zumindest per nefas gesehen, dass bei Hegel die Logik ihre Selbständigkeit gegen die Sprache wahrt. Liebrucks sagt in diesem Sinne beispielsweise ausdrücklich, dass Hegel die Logik einer »Philosophie von der Sprache her« nicht geschrieben habe; in seiner Logik, so heißt es weiter, stehe die Sprache »noch schweigend im 30
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Hintergrund« 31 – was durchaus einen Mangel anzeigen soll. Liebrucks selbst scheint dagegen eine zumindest eschatologische Perspektive auf eine Logik hin zu besitzen, die nicht mehr nur eine Logik der Genesis der Sprache, sondern eine jetzt veritable Logik von der Sprache her wäre; es steht zu vermuten, dass im Sinne von Liebrucks in dieser Perspektive dann auch die Antwort auf die Frage läge, die Hegel, sprachlich verstanden, einstweilen ist. Von Hegel her freilich müsste schon jetzt eine Logik, bei der irgendetwas »schweigend im Hintergrund« stehen bliebe, in jedem Fall als gescheitert gelten; die Logik als Wissenschaft, in der sich das Denken als alle seine Voraussetzungen selber setzend erkennt, wäre durch eine Reflexion vertreten, die ihren Grund nicht erreicht. Kommen wir damit zu unserem zweiten Punkt, der Frage nach einer »Überbietung« des Logos im Raum eines neuen Mythos, wie er nach Liebrucks einer zu Ende gedachten Sprachlichkeit zumindest als »Gegenpol« zum Logos stets eingeschrieben sein soll!
III. Logik und Mythos Liebrucks hat es als einen der zentralen Mängel der Kantischen Philosophie angesehen, dass in ihr die »Methexis von Mensch und Welt« gerade nicht geleistet worden sei. 32 Die Transzendentalität verharrt als solche in einem Status der Wesentlichkeit, die als Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit« des realen Begriffs unmittelbar das wirkliche Begreifen von sich ausschließt. Worauf hier gezielt wird, ist klar: Kant, so Liebrucks, hat zwar die Räume des Bewusstseins neu vermessen, die logische Genesis dieser Räume jedoch nicht erkannt; er wollte den Anspruch der Wissenschaft auf objektive Erkenntnis sichern, hat aber so nur um so mehr Subjekt und Objekt gegeneinander ausgespielt, ohne zu einer definitiven Synthese beider jenseits eines »Als ob« zu gelangen. Kant selbst ist zu Lebzeiten noch von Hamann und Herder daran erinnert worden, dass in der Sprache, diese verstanden nicht bloß als Zeichensystem, sondern als wirklicher Logos, eine solche Synthese schon liege – wobei freilich bezweifelt werden kann, dass Hamann und
Ebd. SuB 6/3, 11. Die entsprechende Kantkritik durchzieht im Übrigen wie ein roter Faden das gesamte Projekt von »Sprache und Bewußtsein«.
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Herder den Sinn der ersten Revolution der Denkart zureichend verstanden haben oder in ihrer Kritik von mehr als von einem »Instinkt« der Totalität geleitet waren, der sie Ahnungen über Kant hinaus haben ließ. Hamann, Herder und später auch Humboldt haben Kant nach Liebrucks freilich auch nur eine »Sprachphilosophie«, nicht schon eine »Philosophie von der Sprache her« entgegengesetzt, in die hinein die Kantische Revolution hätte aufgenommen werden können. Erst Hegel vermochte beides: Kant ernst zu nehmen und »die Frage nach der Methexis der Idee mit der menschlichen Wirklichkeit« zu stellen. 33 Hegel ist dies nach Liebrucks gerade in seiner Logik gelungen, wobei der Kulminationspunkt seine Lehre vom Begriff ist. Wir gehen auf diese Lehre kurz ein, da Liebrucks an sie Ambitionen zu knüpfen versucht, die eben über das bei Hegel anzutreffende logische Programm hinausgehen. Der Hegelsche Begriff ist der Sache nach zunächst der Begriff der Subjektivität, des Kantischen »Ich denke«, das hier jedoch nicht im gerade erwähnten transzendentalen Status der Wesentlichkeit verharrt. Hegels Begriff meint nicht einen »höchsten Punkt«, an den irgendetwas zu heften sei; er meint das hier und jetzt aktuale Begreifen. Als existierender Begriff ist das Subjekt nicht ein Prinzip zu Erkenntnissen, es ist als Begriff existierendes Erkennen (und darin aufgehobene Prinzipialität). Hegels berühmt-berüchtigter Satz, dass die Wirklichkeit vernünftig und Vernunft durchaus wirklich sei, entspricht exakt seiner Lehre vom Begriff, die ebenfalls von der Wirklichkeit der Vernunft und der Vernunft des Wirklichen spricht. Auch Hegelkritiker können nicht anders, als ihn zumindest unfreiwillig noch zu bestätigen, halten sie doch, so sie ihre Kritik denn ernst meinen, die eigene Vernunft für wirklich und die Wirklichkeit ihrer Kritik für vernünftig. Sie kritisieren aus einem Begreifen heraus, das sie sind. Ob sie deshalb auch das Niveau des Begriffs erreicht haben oder zu diesem hin noch unterwegs sind, ist eine andere Frage – die Logik hat viele Wohnungen in verschiedenen Stockwerken, und mancher, der meint, er habe begriffen, hat de facto doch allenfalls erst reflektiert. Liebrucks hat gelegentlich betont, dass Hegel »zum ersten und bisher einzigen Mal den Unterschied von Reflexion und Begriff aufgezeigt« 34 habe. Wir halten für den Unterschied, um den es hier geht, so viel fest, dass die Reflexion
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als Wesensgestalt notwendig außerhalb der Totalität steht und entsprechend ihre wahre Vermittlung nicht kennt, der Begriff jedoch deren sich selbst transparentes Dasein ist. Die Reflexion ist niemals mehr als – maximal – der Modus des spinozistischen Absoluten, ist das Bilden von Bildern außer dem Grunde, während der Begriff sich als selbstbegründend oder das wirkliche Absolute als konkreten Selbstvollzug weiß. Was hier eher formelhaft klingt, lässt sich mit Liebrucks dahin erläutern, dass wir sagen: reflektierend unterscheiden wir uns unmittelbar von aller Wirklichkeit, im Begriff aber haben wir (im Sinne der Methexis) an ihr teil, verwirklichen sie und sprechen sie aus. Die Reflexion affirmiert insoweit den Chorismos, der Begriff überwindet ihn dialektisch. Die dialektische Methexis von Welt und Mensch im Begriff sieht Liebrucks nun freilich, wie wir schon wissen, in der Sprache gehalten, die beide umgreift, was es nach Meinung von Liebrucks gestattet, Begriff und Sprache unmittelbar zu verschränken. Auch, wenn wir unsererseits die Sprache nicht als den »Hintergrund«, sondern eher als das selbst über die Logik vermittelte Medium des Begreifens ansetzen, kann man in normativer Wendung festhalten, dass der existierende Begriff jedenfalls das existierende Maximum der Klärung des menschlichen Weltverhältnisses meint. Insofern menschliche Weltstellungen realphilosophisch sprachlich zu entschlüsseln sind, ist der Begriff jener Punkt, in dem sich diese Weltstellungen aussprechen und eben damit auch zu Bewusstsein bringen. Er ist der einzige Punkt, an dem in der wirklichen Welt wirkliche Klarheit herrscht. Die unmittelbare (oder auch unvermittelte) Sprachlichkeit des Begriffs bringt bei Liebrucks indes ein Moment mit sich, auf das hier zumindest mit wenigen Worten noch eigens einzugehen ist. Die unmittelbare Sprachlichkeit des Begriffs kann bei Liebrucks nämlich immer wieder auf einen Rest des Nichtvermittelten, ja Nichtvermittelbaren zeigen, das in der Liebrucks’schen Perspektive fast so etwas wie der Sand im Getriebe der Hegelschen Logik sein könnte. Es gibt, näher besehen, mehrere Hinsichten, in denen sich diese logische Nichtvermitteltheit ausspricht; wir nennen die wichtigsten. Zum einen kann Liebrucks, wie wir schon wissen, im Sinne einer eschatologischen Perspektive davon sprechen, dass die Hegelsche Logik die eigentliche Logik von der Sprache her noch nicht sei, sondern eher nur erst das Angeld auf sie. Dergleichen könnte man auf die Endlichkeit ihres Autors, sprich Hegels, beziehen, der seinerseits, mit Liebrucks zu 128
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reden, »ein Mensch des beginnenden 19. Jahrhunderts« 35 und also vom Geist seiner Zeit, der, wie jeder Zeitgeist, nicht einfach der absolute war, affiziert war. Das eigentliche Projekt der umfassenden Aufdeckung der sprachlichen Genesis der Logik scheint Hegel jedenfalls nicht vollendet zu haben, was nur heißen kann, dass sich ihm der von Liebrucks anvisierte Vollsinn von Sprache noch nicht erschloss. Der Begriff, hieße dies freilich, wäre bei Hegel selbst erst Wesensgestalt, die ihre (sprachliche) Fülle erst finden müsste. In einer gewissen Spannung dazu steht freilich die bei Liebrucks ebenfalls anzutreffende These, dass »die Sprache […] nicht der Begriff für sich betrachtet, sondern der Begriff [ist], wie er im endlichen Menschen ist« 36 . Nimmt man diese Aussage beim Wort, dann wäre Sprachlichkeit als solche – trotz des Moments der Absolutheit, das sie auch als Ort der Genese der Logik stets impliziert – Endlichkeitsindikator, was jedoch in direkter Spannung nun wieder zu Hegels Aussagen über die Sprache auch noch als Medium des absoluten Geistes und dabei schon der Logik 37 stehen müsste. Der Satz, dass Sprache nicht die Gestalt des Begriffs, sondern die seiner Endlichkeit ist, wäre zwar mit einer Herderschen Anthropologie des Mängelwesens, jedoch schon nicht mehr mit der Hegelschen Phänomenologie des »Wortes der Versöhnung« vereinbar. Wir erinnern uns hier freilich einer Unterscheidung, die wir oben bereits gemacht haben: Sprache als Geistgestalt überhaupt ist dies nicht einfach und unmittelbar auf absolute Weise; die Logik als Wissenschaft der absoluten Form ist zum einen die Wissenschaft des inneren Kompasses der Sprache wie zum anderen ihr kritisches Gegenüber. Wer spricht, denkt in der Tat nicht nur, sondern hat es auch mit dem Anderen des Denkens zu tun. Wer jedoch im logischen Sinne denkt, spricht nicht nur mit sich selbst, sondern öffnet den Horizont, in dem Sprache überhaupt sprechen kann. Wie dem auch sei: Die Aporie, die sich hier nach Liebrucks zeigt – SuB 6/3, 632. SuB 6/3, 598. Liebrucks referiert hier allerdings die Hegelsche Nürnberger »Propädeutik«, und es ist nicht ganz klar, inwieweit die oben zitierte Feststellung daher nur für den Hegelschen Sprachbegriff gelten soll. 37 Als philosophische Wissenschaft ist eine Wissenschaft der Logik, wie wir schon wissen, Manifestation des absoluten Geistes. Dass dieser zugleich in sprachlicher Endlichkeit aufzutreten vermag, ist nach Hegel kein Einwand gegen seine Absolutheit, sondern umgekehrt gerade deren höchster Ausweis. Das Absolut-Absolute exkludiert das Nicht-Absolute nicht abstrakt, sondern »medialisiert« es. 35 36
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Hegel erreicht den Vollsinn einer Logik von der Sprache her nicht und Sprache als solche erreicht den Vollsinn des Begriffs nicht – löst sich, wenn man eine Mehrdeutigkeit im Wort »Sprache« mithört, wie es Liebrucks verwendet. Liebrucks kann davon sprechen, dass die Sprachlichkeit des Begriffs Anzeige einer anderen Seite der Sprache sei, die im Logischen selbst nicht mehr aufgehen kann. Er beansprucht in diesem Sinne etwa, gezeigt zu haben, dass Hegels »Logik entgegen dem Selbstverständnis, das Hegel von ihr gehabt haben dürfte, an den Mythos heranreicht« 38 . Das schließt – um nur dieses Beispiel zu nennen – ein, dass der »Hegelsche Begriff« zumindest »in nuce« »die Hölderlinsche Sphäre […] in sich« haben, also in die Sprache der Kunst hineinreichen kann. 39 Andererseits heißt es, dass wir »die mythischen Erzählungen in der Philosophie mitführen« müssen, »solange wir in der sich heute nüchtern gebenden Begriffs- und Sprachblindheit herumirren« 40 – der Mythos ist hier nicht das Telos der logischen Selbstentfaltung, sondern eher die Signatur ihrer Nichtvollendetheit, ihres noch einmal im Zeichen eines Fatalismus des objektiven Geistes zu denkenden Fragmentencharakters. Vielleicht kann man ohnehin die relative Problematik, die Liebrucks’ Verschränkung von Logik und Sprache bei allen genialen Ausblicken, die sie bietet, am Ende enthält, dahin zusammenfassen, dass es zuletzt der nicht noch einmal logisch gebrochene, sondern unmittelbar wirksame objektive Geist ist, den Liebrucks in einem Maße auf der Logik lasten lässt, die deren absolut-formaler schlechthinniger »Leichtigkeit« jedenfalls nicht nur gerecht wird. Das, was wir mit der »logischen Leichtigkeit« meinen, ist hier nicht etwa das Leichte der Reflexion, des platonistischen Höhenflugs oder sonst einer Wesensgestalt des Denkens. Es ist die Leichtigkeit einer Innerung, die immer der Kern des Bewusstseins der Freiheit und darin der schon als aufgehoben gesetzte objektive Geist ist. Oder, im Sinne des Telos der Logik gesprochen: es ist die Leichtigkeit des Wortes, das Präsenz des Begriffs und nichts außer dem ist. Man geht kaum fehl, wenn man das Erreichen der logischen Leichtigkeit für das wohl Schwerste hält, auf das die Philosophie hin denkt. Liebrucks ist im Interesse der Bewältigung dieses Schwersten Recht zu geben, wenn er die Rückholung Hegels in unsere Sprache, vor allem in 38 39 40
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SuB 6/1, 13. SuB 6/3, 142. SuB 6/3, 632.
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Die Betrachtung der Kategorien an ihnen selbst und die Sprache
die Sprache der Philosophie, fordert. Ihm ist zugleich zu danken für den beachtlichen Teil der Rückholung, den er selbst geleistet hat. Die Antwort auf Hegel, die er als ausständig ansah, mag am Ende gerade durch ihn eine weniger eschatologisch vertagte sein, als es der Lauf der Zeiten bisweilen glauben machen will. Die Antwort auf Hegel mag vielmehr hier und jetzt bereits aussprechbar sein.
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Fritz Zimbrich
»Die Götter Hölderlins wohnen im Hegelschen Begriff«. Versuch einer Beschreibung dieser göttlichen Wohnstätte
(1) »Die Götter Hölderlins wohnen im Hegelschen Begriff«. Bruno Liebrucks hat diesen Satz gesperrt als »Einführungsthese« an den Anfang des 7. Bandes von »Sprache und Bewußtsein« 1 gesetzt und hinzugefügt: »Die These […] schließt ein, daß das Mythologische im Logischen zu finden ist.« Der Mythos im Logos – das ist das Thema meines Vortrages. (2) Auf Seite 563 desselben Bandes von »Sprache und Bewußtsein« bekennt Liebrucks, dass er nun zum ersten Mal sagen könne, »was die Götter Hölderlins sind. Sie sind der gestalthaft begegnende Sinn der sprachlich erfahrenen Natur im menschlichen Umgang mit ihr.« Da ist zunächst der gestalthaft begegnende Sinn, dann die sprachlich erfahrene Natur und schließlich der Umgang des Menschen mit dieser sprachlich erfahrenen Natur. Das aber, worin diese drei eins sind, das, worin die Götter sich zu Hause fühlen, ist der Hegelsche Begriff. Die Metapher des »Wohnens im Begriff« findet sich auch bei Hegel. Dort heißt es mit Bezug auf die formallogische Bestimmung des Begriffs: »Das Gehaltlose der logischen Formen liegt allein in der Art, sie zu betrachten und zu behandeln. Indem sie als feste Bestimmungen auseinanderfallen und nicht in organischer Einheit zusammengehalten werden, sind sie tote Formen und haben den Geist in ihnen nicht wohnen, der aber ihre lebendige konkrete Einheit ist.« 2 Da ist zunächst die lebendige konkrete Einheit – der Geist, in dem die Bestimmungen eines Begriffs ihren Bestand haben; dann die Bestimmungen des Begriffs selbst in ihrer Verschiedenheit und Teilnahmslosigkeit gegeneinander; und schließlich die organische Einheit, in der die Vielheit der Bestimmungen zusammengefasst werden. (3) Der Hegelsche Begriff steht dem Wesen des Begrifflichen ent1 2
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SuB 7, 11. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, I. Teil, hg. v. G. Lasson, Hamburg 1963, 29.
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»Die Götter Hölderlins wohnen im Hegelschen Begriff«
gegen, wie es von der formalen Logik im Verfolgen ihrer Interessen in Anspruch genommen wird. Der Unterschied zwischen formallogischem und dialektischem – also Hegelschem – Begriff ist der zwischen abstrakt und konkret Allgemeinem, wobei das erste wie eine Tautologie, das zweite wie ein Widerspruch in sich selbst an unsere formallogisch sozialisierten Ohren dringt. Auch für Kant gilt: der Begriff »ist eine allgemeine Vorstellung oder eine Vorstellung dessen, was mehreren Objekten gemein ist«. 3 Der Begriff ist als »allgemeine Vorstellung« der Anschauung entgegengesetzt, die eine »einzelne Vorstellung« ist. So etwas wie einen »Begriffsblick«, den Liebrucks einführte, kann es danach nicht geben. Erkenntnis ist »alle mit Bewußtsein auf ein Objekt bezogene Vorstellung«. Und Erkenntnisse sind mithin entweder Anschauungen oder Begriffe, und »Erkenntnis durch Begriffe heißt das Denken« 4 . Der Begriff ist danach stets ein abstrakter, ein allgemeiner Begriff, der von Einzelheiten abstrahiert, um nur das Gemeinsame der Objekte festzuhalten. Es ist deshalb fehlerhaft, Begriffe in Allgemeinbegriffe, Artbegriffe und Individualbegriffe einzuteilen: »Nicht die Begriffe selbst – nur ihr Gebrauch kann so eingeteilt werden.« 5 Diese Betonung des Begriffsgebrauchs führte nach Kant zu einer allmählichen Außerdienstsetzung des Wortes »Begriff« in der formalen Logik. Da in ihm nichts begriffen ist, spricht man nur noch von Prädikaten mit einer Leerstelle. Begriffe sind nur noch Funktionen, die erst nach dem Ausfüllen der Leerstelle Bestimmtheit – einen Inhalt – erlangen. (4) Was Kant verbietet, nimmt Hegel in Anspruch. »Dieser allgemeine Begriff […] enthält die drei Momente: Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit.« 6 Allgemein ist der Begriff nicht, weil er von Bestimmtheiten der Erkenntnisobjekte abstrahiert, sondern weil er das Allgemeine allen Begreifens (allen Erkennens) zum Ausdruck bringt, das, was Kant das »Ich-denke, das alle meine Vorstellungen begleiten können muß«, genannt hat. Hegels »Ich-denke« ist nicht »ursprünglich synthetische Einheit der transzendentalen Apperzeption«, sondern die gewordene Einheit von Ich und Welt als Bewusstsein. Erkenntnis I. Kant, Immanuel Kants Logik – ein Handbuch zu Vorlesungen (Jäsche Logik), in: I. Kant, Werke in zwölf Bänden, Bd. VI, hg. v. W. Weischedel, Wiesbaden 1958, A 139 f. 4 Kant, Jäsche-Logik, a. a. O., A 139. 5 Kant, Jäsche-Logik, a. a. O., A 140. 6 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, II. Teil, hg. v. G. Lasson, Hamburg 1963, 239. 3
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ist nach Hegel nicht eine »mit Bewußtsein auf ein Objekt bezogene Vorstellung«. Sie ist das tätige, sich als Denken auf sich als Wissen beziehende, sich selbst erkennende Bewusstsein. Da ist nicht auf der einen Seite ein dem Bewusstsein externes Objekt, das dem Erkennenden als »Ding an sich« unerkannt und unerkennbar bliebe, und auf der anderen Seite ein erkennendes bzw. vorstellendes Subjekt – ein Bewusstsein, das diesem Unerkennbaren in der Vorstellung eine Gestalt gäbe. Da ist nur dieses Bewusstsein, das derart »bewusst« ist, dass es in sich die Sache als das Gedachte und sich selbst als das Denkende unterscheidet. Dieses Bewusstsein, dieses Subjekt-Objekt, nennt Hegel den Begriff, der nicht die Form des Begreifens, sondern als die Einheit von Denkendem und Gedachten das Begriffene ist. Es ist an ihm, dem Begriff, dass er allgemein ist, und zugleich Besonderes und Einzelnes. Allgemein ist er als reines Denken, als Bewusstsein überhaupt, als reines Ich, d. h. dann, wenn er denkend in sich sich selbst allem Gedachten entgegensetzt. Konkret ist diese Allgemeinheit des Begriffs, weil er eben nicht nur von außen als bloße Form an die Sache herangetragen wird, sondern als die je besondere, durch die eigene Biographie inhaltlich bestimmte Art und Weise einer praktischen Weltbegegnung. Von dem im Begriff Gedachten – von der Sache – wird nicht abstrahiert, es wird als das die Reinheit des Denkens Negierende, als Nicht-Ich, im Begriff aufbewahrt. Die Allgemeinheit des Begriffs ist »absolute Negation«, nämlich das tätige Unterscheiden von Denkendem und Gedachtem, das in seiner Besonderheit – in dem, was es als Gedachtes von sich unterscheidet – das Ich als dieses Denkende in die Welt setzt, wo es als »existierender Begriff« eine unvergleichliche, individuelle Gestalt gewinnt. (5) Das Wagnis der Behauptung eines existierenden, eines allgemeinen, besonderen und individuellen Begriffs besteht darin, dass wir den Begriff als konkret Allgemeines nicht dingfest machen können. Wir haben keine Vorstellung von ihm, nur ein lebendiges Dasein als »Idee« – als (in Liebrucksens Schreibweise) Bewusst-Sein. Alle Versuche, diesen Begriff zu bestimmen, landen letztlich in einem abstrakt Allgemeinen, bei einer reinen Verstandesbestimmung, der das Besondere und das Einzelne äußerlich bleibt. Und es ist auch nur ein problematischer Behelf, unter der Devise »das Wahre ist das Ganze« zu sagen, dass der Begriff als konkret Allgemeines nur durch schlechthin alle Bestimmungen der Sache konstituiert wird. Die Unendlichkeit dieser Ganzheit dämpft die Erwartungen derer, die der Wahrheit nachjagen, 134
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treibt sie in Resignation und verführt sie zur Ächtung des konkret Allgemeinen. (6) Nun ist allerdings, wenn auch nicht in unserer Vorstellung, ein konkret Allgemeines sehr leicht zu finden. Es bedarf nicht der Dreieinigkeit Gottes. Es genügt der hübsche Salamander, der mit abgerissener Schwanzspitze vor mir über den Weg wackelt. Er ist zugleich allgemein, besonders und individuell. Denn er ist ein Salamander, ein Salamander besonderer Art, nämlich ein schwarzer Alpensalamander, und er ist mit seinem abgerissenen Schwanz, an diesem Ort, zu dieser Zeit und in seiner unvergleichlichen Bestimmtheit (u. a. durch die abgerissene Schwanzspitze) ein Individuum. Und wir sehen sehr schnell, dass jeder Stein, jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch in diesem Sinne Begriff ist, nämlich ein konkret Allgemeines. Aber – so lautet der Einwand aus der Perspektive Kants, der dem Begriff keine konkret allgemeine Existenz, sondern nur einen abstrakten Gebrauch zugesteht – der Begriff ist ja auch kein Stein, keine Pflanze, kein Tier, kein Mensch; er ist »eine Vorstellung«; er hat kein Dasein in Zeit und Raum und als Begriff ist er eben ein Allgemeines, dem das Besondere und das Individuelle entgleitet. Und umgekehrt ist weder der Salamander, noch der Stein, noch der Mensch ein Begriff. Er wird begriffen, in Gedanken gefasst, in Gattungen, Arten und Individuen eingeteilt. Er selbst wäre dann dies alles nicht. Zur Debatte steht damit die Existenz, das Dasein des Begriffs und – wenn das Denken in Begriffen geschieht – auch die Existenz, das Dasein des Denkens. Existiert ein Gedanke? Gibt es einen existierenden Begriff, der dann in gleicher Weise wie ein Salamander konkret allgemein sein könnte? Wie Hegel uns deutlich genug vor Augen führt, ist es keine Kleinigkeit, nach der hier gefragt wird. »Diese einfache Unendlichkeit oder der absolute Begriff ist das einfache Wesen des Lebens, die Seele der Welt, das allgemeine Blut zu nennen, welches allgegenwärtig, durch keinen Unterschied getrübt noch unterbrochen wird, das vielmehr selbst alle Unterschiede ist, so wie ihr Aufgehobensein, also in sich pulsiert, ohne sich zu bewegen, in sich erzittert, ohne unruhig zu sein.« 7 Und an anderer Stelle sagt er: »Die Existenz des reinen Begriffs, in den der Geist aus seinem Körper geflohen, ist ein Individuum, das er sich zum Gefäße seines Schmerzes erwählt.« 8 Und G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, neu hg. v. H.-F. Wessels / H. Clairmont, Hamburg 1988, 115. 8 Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 461. 7
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Liebrucks gibt die Richtung an, in der wir zu suchen haben: Der existierende Begriff »ist nicht Begriff eines von der Welt abgelösten psychisch-subjektiven oder prinzipiell-subjektiven Ich, sondern die Weltbegegnung im logischen Status Bewußt-Sein.« 9 Bruno Liebrucks hat die Existenz des Begriffes in der Sprache als »dem bildenden Organ des Gedankens« gesucht und auf den Spuren Hölderlins im Gespräch, das wir sind, gefunden. Von diesem Gespräch ist zu zeigen, dass es Begriff ist: ein Allgemeines, das zugleich Besonderes und Einzelnes in sich schließt. Damit ist schon angedeutet, dass das Gespräch nicht einfach »das Gerede« ist, in dem sich nach Heidegger das Verfallensein an die Uneigentlichkeit des Man dokumentiert, und das im Schweigen bzw. der Verschwiegenheit seine Eigentlichkeit findet. Das Gespräch zeigt sich dem gegenüber als »das Gefäß des Schmerzes«, von dem Hegel spricht, und nach Liebrucks als »der Abgrund«, den der Begreifende in ihm zu überspringen hat. Weniger dramatisch, aber doch in aller Deutlichkeit hat Josef Simon die Existenz des Begriffs in der »wahren Rede« im Gespräch gefunden: »Wahr ist die Rede, insofern sie sich in diesem ihrem eigenen, unreduzierten Begriff gegenseitigen Verstehens erfüllt, also dann, wenn das, was einer sagt, von anderen akzeptiert wird, weil es ihnen ebenfalls etwas bedeutet, ohne daß postuliert wird, dies müsse mit Gewißheit ›dasselbe‹ identische ›Etwas‹ sein wie beim Sprechenden.« 10 Lassen Sie mich die folgenden, doch etwas sperrigen Ausführungen zunächst in einem Bild vorstellen (vgl. S. 139). Ein ähnliches Bild hat Peter Fuchs 11 in einem Vortrag benutzt, um das Wunder der gelingenden Kommunikation bei Niklas Luhmann darzustellen. Es ist die Skizze eines Gesprächs zwischen drei Personen. [Die umwölkte Sprechblase steht für einen non-verbalen Gesprächsbeitrag – für eine entsetzte Miene.] Die Skizze zeigt, dass die Gesprächsteilnehmer, indem sie auf die Beiträge der anderen eingehen, einen »logischen« Zusammenhang herstellen, der uns – als den Beobachtern des Gesprächs – allerdings verborgen bleibt. Das Bild unterscheidet zwei streng voneinander getrennte Welten: Sprache und Bewusstsein. Wer am Gespräch teilnehmen will, kann sich nur auf das beziehen, was zur Sprache kommt, nicht SuB 6/3, 142. J. Simon, Wahrheit als Freiheit, Berlin / New York 1978, 34. 11 1990 in Frankfurt am Main, im Rahmen eines Weiterbildungslehrganges für das Schulfach Ethik. 9
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auf das, was in den Köpfen der Teilnehmer vorgeht. Nach Liebrucks hat die Welt der Sprache eines Gesprächs (der im Bild grau unterlegte Bereich) ein eigenes Bewusstsein, das Liebrucks Bewusst-Sein schreibt. Sprache ist nicht teilnahmslose Form der Gedanken in den Köpfen der Teilnehmer des Gesprächs, sondern ein eigener, im Gespräch erzeugter (gedachter) objektiver Gedanke. Dieses Bewusst-Sein ist nach Liebrucks die Existenz des Begriffs. Dieser existierende Begriff ist konkret allgemein: er ist allgemein, nämlich ein Gespräch wie viele andere; er ist ein jeweils besonderes Gespräch – hier zwischen den drei Personen; und er ist an diesem Ort, zu dieser Zeit, mit diesen Worten ein ganz und gar individuelles Ereignis; denn natürlich hätten diese drei Personen auch ganz anders miteinander reden können. Die Wahrheit dieses Begriffs liegt jedoch nicht allein in der Welt der Sprache. Sie liegt in der Einheit der unaufgehobenen Trennung von Sprache und Bewusstsein, d. h. sie ist in einer Sprache zu gewinnen, die die Welt des Bewusstseins eines Gesprächs in die Sprache aufgenommen hat oder – umgekehrt formuliert: sie ist das Bewusstsein, das sich im Bewusst-Sein der Sprache wiedererkennt. Wenn Sie im Folgenden meine Ausführungen auf die Skizze beziehen, bitte ich Sie, in die Sprechblasen an die Stelle der Minibeiträge z. B. die Vorträge dieser Tagung einzusetzen. Die Konsequenzen werden dadurch noch deutlicher. (7) Wenn der Dichter sagt: »Denn voll göttlichen Sinnes ist alles Leben geworden«, dann kommt das, was er dabei denkt, nicht zur Sprache; zur Sprache kommt nur das, was die Sprache von sich aus vermag: nämlich durch artikulierte Sprach- oder Schriftzeichen beim Hörenden die Gewissheit zu erzeugen, dass etwas mit einer Bedeutung zu ihm gesagt wird. Das, was gesagt wird – die inhaltliche Bedeutung der Worte – kommt dem Angesprochenen nicht von außen entgegen, sondern aus ihm selbst durch das, was er auf dem Grund seines Lebens in der Sprache als Bedeutung in sich erzeugt. Dieses Erzeugnis jedoch verknüpft der Hörende (oder Lesende) derart mit den Sprachlauten, als wäre es gerade nicht der eigene Gedanke des Angesprochenen, sondern der Gedanke des Sprechers und darüber hinaus der erklingenden Sprache, das also, was die Sprache gemäß der Unterstellung des Angesprochenen von sich aus »objektiv« bedeutet. Der Angesprochene unterstellt, dass die Sprache ihre Bedeutungen an sich selbst habe, die sowohl für den Sprecher wie auch für den Angesprochenen verbindlich sind, wenn eine Meinung allgemein verständlich kundgetan werden soll. Das Gesagte begegnet mithin als Sprache und Bewusstsein, als Worte mit einer BeA
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deutung, die mit den Sprachlauten verknüpft scheint, tatsächlich aber im Bewusstsein des Sprechenden wie im Bewusstsein des Angesprochenen auf je eigene Weise hervorgerufen wird. Die je eigenen Verknüpfungen von Sprache und Bewusstsein, die Sprecher und Angesprochener in sich erzeugen, bleiben jedoch solange labil, virtuell, subjektiv, solange dieser nicht durch eine emotionale oder verbale Reaktion dem Sprecher gezeigt hat, dass er versteht. »Verstanden« heißt, dass der Angesprochene die Gedanken des Sprechers, die in dem, was er sagte, untergegangen sind, mehr oder weniger zutreffend in sich selbst hatte auferstehen lassen; was auch dadurch hätte geschehen können, dass der Zuhörende dem Dichter, der die Fülle göttlichen Sinnes allen Lebens beschworen hatte, abwehrend und widersprechend geantwortet hätte: »Nichts Göttliches kann ich darin erkennen!« So wie dem Sprecher ergeht es jetzt natürlich auch der Antwort des Angesprochenen: auch diese Verknüpfung von Sprache und Bewusstsein bedarf der Anerkennung. (8) Das, was die miteinander Sprechenden sich bei dem denken, was als Sprachlaut erklingt, findet keine Präsenz im Gesagten. Bezüglich der Bedeutung des Gesagten ist jeder der Gesprächspartner allein auf sich selbst zurückgeworfen. Die Vermutung jedoch, dass aus diesem Grunde überhaupt keine Verständigung stattfinden könne, bestätigt sich nicht. Allein das Gewahrwerden, dass das, was da erklingt, etwas zu bedeuten hat, sosehr auch diese Bedeutung verborgen bleibt, eröffnet eine Sphäre des Verstehen-Könnens, in der die Fortsetzung des Gesprächs möglich wird. Liebrucks entdeckt das Bewusstsein der Sprache, das er als Bewusst-Sein anschreibt, als ein Sein, das überhaupt nur deshalb seiend genannt werden kann, weil es bewusst ist, und an dem die Sprechenden auch dann teilhaben, wenn sie ihr eigenes Bewusstsein als ausgeblendet haben erfahren müssen. Liebrucks nennt dieses BewusstSein der Sprache auch den »Abgrund«, den die Teilnehmer des Gesprächs zu überspringen haben, um miteinander im Gespräch zu bleiben. Denn es ist das Ungewisse, das sowohl der Sprecher als der Angesprochene für ihr Bewusstsein in Anspruch nehmen, um an ihm Zustimmung oder Widerspruch festzumachen. Die Teilhabe an diesem Bewusst-Sein der Sprache vollzieht sich in der Anerkennung des Anderen im Gespräch: anerkannt wird er als ein sprechendes Wesen, als ein Wesen, das etwas sagt, was eine Bedeutung hat, obwohl diese gerade nicht gegeben, sondern nur aufgegeben ist. Der Abgründigkeit solcher Aufgaben versuchen die Menschen von je her, aber doch heute in zunehmendem Maße durch Normierung der Sprache in Wörterbüchern, 138
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Grammatiken und Lehrbüchern der Rhetorik, durch die Entdeckung einer Idealsprache oder die Reinigung der Alltagssprache sowie durch die Ausbildung von Konventionen – Familiensprache, Small Talk, Schulsprachen, Fachsprachen – zu entfliehen. Aber solche »Hilfen« sind doch zugleich ein Sich-Abwenden von der Sprache: eine Vernebelungsaktion gegen die »Abgründe«. (9) Die Einheit von Sprache und Bewusstsein ist das, was die Sprache »von sich aus« denkt und spricht: das Bewusst-Sein. Das ist nicht so zu verstehen, als sei da ein Ding, genannt Sprache, das denkt und spricht. Im sprachlichen Verhalten, im Gespräch, im gegenseitigen Sich-Anerkennen als Sprachwesen erringt die Sprache eine Eigenheit, die nicht darin aufgeht, ein Gedachtes, ein bestimmtes Bewusstsein zu sein. Das, was gesagt und gedacht wird, ist weder im Bewusstsein des Sprechenden, noch in dem des Angesprochenen zu Hause, sondern dort, wo beide sich begegnen: im Sprechen der Sprache. Wer sich vom eigenen Bewußtsein abwendet, weil er weiß, dass es zur Sprache kommen muss, und dies nur in der Anerkennung durch Andere möglich ist, wird sich der Frage stellen müssen, was zur Sprache kommen kann, wenn in dieser Weise die Sprache denkt und spricht. Und um das, was dieserart zur Sprache kommt, geht es im Folgenden. A
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(10) Wer einen Regenbogen sieht, sieht eigentlich keinen Regenbogen, sondern etwas, von dem er weiß, dass es ein Regenbogen ist. John Rogers Searle unterscheidet »sprachunabhängige Tatsachen« – »etwa die Tatsache, daß der Gipfel des Mt. Everest von Schnee und Eis bedeckt ist« – von den »sprachabhängigen Tatsachen« – »etwa die Tatsache, daß ›Der Gipfel des Mt. Everest ist von Schnee und Eis bedeckt‹ ein Satz des Deutschen ist«. 12 Searle will nicht sehen, dass es unabhängig von der Sprache weder einen Gipfel noch einen Mount Everest, weder Schnee noch Eis gibt. Nur innerhalb der Sprache gibt es etwas, das außerhalb der Sprache ist.« 13 Das Sehen des Regenbogens nimmt zweierlei in Anspruch: die Präsenz dieses »Etwas« und ein Wissen von ihm, das allerdings wahr und auch falsch sein kann. Das Wissen wird dabei nicht so in Anspruch genommen, wie es irgendwo in unserem Gehirn abgespeichert ist, sondern so, wie der Sehende es sich bewusst macht, indem er ausspricht, was er weiß. Das Wissen wird als Bewusstsein – als zur Sprache gebrachtes Wissen – in Anspruch genommen. (11) Das erste mithin, was zur Sprache kommt, ist ein Wissen. Und das ist nicht nur so beim Sehen eines Regenbogens, sondern grundsätzlich bei allem, was zur Sprache kommt: ob vom Staat geredet wird oder von der Gerechtigkeit, von Atomen, der Materie, dem Geist, der Liebe, der Seele, der Welt im Ganzen oder von Gott – immer kommt ein Wissen zur Sprache. Jedoch im Denken und Sprechen der Sprache ist gerade die Bestimmtheit dieses Wissens ausgeblendet, untergegangen, verschwunden. Nur dass da ein Wissen zur Sprache kommt, dass das, was gesagt wird, etwas Bestimmtes zu bedeuten hat, bringt die Sprache zum Ausdruck. Und wenn dieser Eindruck des Bedeutsamen nicht entsteht, endet das Gespräch. Das Bewusst-Sein der Sprache ist wissende Unwissenheit: Es ist wissend, weil ein Bewusstsein in ihr zur Sprache kommt; es ist jedoch zugleich Unwissenheit, weil dieses Wissen nicht als Wissen, sondern als Sprache zur Sprache kommt, womit nicht nur das unbekannte, nicht als Wissen verfügbare Bewusst-Sein der Sprache an die Stelle des Bewusstseins eines Sprechenden gerückt wird, sondern es wird auch das, was zur Sprache kommt, der Zustimmung der
J. R. Searle, Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, Frankfurt am Main 2011, 70. 13 Vgl. SuB 1, 4. 12
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Angesprochenen ausgeliefert. Diese wissende Unwissenheit ist das Allgemeine, in dem die Bestimmtheit des einzelnen Wissens untergegangen ist, das aber, da etwas gesagt wurde, als wissende Unwissenheit bestätigt wird. (12) Es kann allerdings auch geschehen, dass jemand etwas wahrnimmt oder von etwas reden hört, von dem er nicht weiß, was es ist. Er wird dann, falls jemand anderes zugegen war, fragen, ob jemand wisse, was er da eben wahrgenommen oder gehört habe. Wenn ihn die Antwort befriedigt, wird er sie der durchaus nicht immer zuverlässigen Erinnerung ausliefern und – wenn alles gut geht – in Zukunft bei ähnlichen Fällen Bescheid wissen. Wenn er aber nicht fragen kann, was er gesehen oder (z. B. im Radio) gehört hat, dann wird er sein Wissen überhaupt – also das, was er überhaupt weiß – zu Rate ziehen müssen, um durch Vergleiche, Analogien, kreative Verknüpfungen sein Nicht-Wissen in Wissen zu verwandeln. Er wird dann vielleicht sagen: das, was er da gesehen habe, müsse eine Fata Morgana, ein Zeichen Gottes oder eine Lichtbrechung gewesen sein, oder er wird sich das Gehörte mit Hilfe anderer Worte als der gehörten verdeutlichen. Die Ganzheit des Wissens ist das zweite – nämlich das Besondere, was zur Sprache kommt, wenn die Sprache denkt und spricht. Diese Ganzheit kommt nicht gegenständlich zur Sprache. Sie ist die beschriebene Praxis – das Vergleichen, das In-Beziehung-Setzen, das kreative Verknüpfen – und dergestalt nicht positiv bestimmt, sondern nur negativ durch das, was ihr möglich bzw. unmöglich ist. Die Ganzheit zeigt sich nicht in ihrer Ganzheit, sondern nur durch das, was sie im Gespräch vermag. Der im Gespräch Zuhörende nimmt im Text der Rede nicht nur ein Wissen auf, das allerdings in seiner Bestimmtheit noch zu erfassen ist, sondern auch die Ganzheit dieses Wissens als die Notwendigkeit der sprachlichen Gestalt – des je besonderen Textes des Gesprächs. Kann diese Notwendigkeit in der Sprache nicht aufgenommen werden, muss der Zuhörende nachfragen, solange bis sie zur Sprache kommt. (13) Das Gespräch präsentiert die Ganzheit des Wissens in einer Erzählung – einem Mythos – von dem, was in ihm überhaupt durch die Anerkennung im Gespräch zur Sprache kommen kann. Der Mythos liegt nicht vor. Er zeigt sich deutlich in der Ablehnung bestimmter Redeweisen, undeutlich in der Anerkennung. Erst im Rückblick auf das geführte Gespräch zeigt sich der Mythos als ganzer – dennoch als Mythos, der immer schon tätig war. Mythen, das sind die Geschichten, an die ein Sprechender anknüpfen muss, um in einem Gespräch überhaupt A
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verstanden zu werden und dadurch Anerkennung zu finden. Zu diesen Mythen gehören nicht nur die Homerischen. Alle religiösen Offenbarungen gehören dazu und natürlich auch die Mythen der Naturwissenschaften, die ihnen über die Kluft der Unwissenheit hinweghelfen. Zu nennen sind auch die Mythen des Alltags, die nicht nur das mediale Konzert der Stimmen, sondern auch die familiären, freundschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen ermöglichen. (14) Im Mythos – der Faktizität der wissenden Unwissenheit des Bewusst-Seins der Sprache – öffnet sich die Kluft zwischen Wissen und Nicht-Wissen. Die erklingende Sprache wirft die Teilnehmer am Gespräch auf das zurück, was sie wissen – auf ihr Bewußtsein – und offenbart die Unwissenheit, in die das Bewußtsein im Gespräch versinkt, als den hier und jetzt, in diesem individuellen Gespräch – und nur in ihm – hervortretenden Widerspruch. »Ich bin es und ich bin es nicht«, ruft das Bewusstsein angesichts dessen, was das Gespräch zur Sprache bringt und präsentiert damit einen Widerspruch, der zu überwinden ist. Vom Mythos zum Logos führt nicht die Vermeidung des Widerspruchs. Der Logos des Gesprächs ist der Widerspruch, aus dem die Philosophie von der Sprache her lebt. Die Erzählung (der Mythos) hält zusammen, was keinen Zusammenhang hat. Damit das Gespräch gelingt, damit es in Gang kommt und fortgeführt werden kann, bedarf es einer Rede, die den Widerspruch als überwindbaren ausspricht. Die Philosophie von der Sprache her ist insofern freier Entschluss, als sie den Mythos anerkennt und in ihm seine allerdings widersprüchliche Wahrheit hat. (15) Der Hegelsche Begriff ist das Begriffene, nicht die Art und Weise, etwas zu begreifen; nicht eine rationale Alternative zu Wahrnehmung, Empfindung, Gefühl, Sinnlichkeit, sondern die Präsenz eines verständigen Weltumgangs, die aus dem sinnlichen Erleben, der gefühlten Wirklichkeit, der organisierten Wahrnehmung und dem zur Sprache gebrachten Wissen hervorgegangen ist. Der hegelsche Begriff ist begriffenes Wissen in dem Sinne, dass dieses Wissen als ein Inneres eine äußere Gestalt in der Sprache gefunden hat, in der es sich allerdings zunächst nur als wissende Unwissenheit, als Mythos und als lebendiger Widerspruch – als das Ich-bin-es-und-ich-bin-es-nicht-Ich – präsentiert. Der Hegelsche Begriff ist zur Sprache gebrachtes Wissen – das vereinigende und trennende UND zwischen Sprache und Bewusstsein. Es ist Bewusstsein in der Sprache. Er ist reines Wissen nicht im Sinne inhaltlicher Leere, sondern im Sinne der Ausschließlichkeit. Er ist nur zur Sprache gebrachtes Wissen und sonst nichts. 142
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»Die Götter Hölderlins wohnen im Hegelschen Begriff«
(16) Hans Blumenberg 14 erzählt wie er seinem Vater in der Dunkelkammer half, dessen Photoplatten zu entwickeln. Er war fasziniert davon, wie aus dem Nichts etwas entstand. »[…] ich sah es vor mir, wie es bei der Erschaffung der Welt zugegangen war. Erst nichts und dann etwas – und etwas nur, weil zuerst einmal für Licht gesorgt worden war. Die biblische Prozedur erschien mir phototechnisch als ganz richtig, und die Dunkelkammer als Imitation der Gesamtlage im Universum vor dem ersten Schöpfungstag.« Blumenberg beschließt die Erzählung mit der Einsicht: »Man wird es mir nicht verzeihen: Einer, der an die Schöpfung nicht glaubt, versteht ihren Begriff doch immer noch, wie er ihn in der Dunkelkammer anschaulich vor sich ›produzierte‹. Seither ahnte ich wenigstens, wie Begriffe entstehen.« Da ist zunächst das Licht, dann der Mythos – die biblische Schöpfungsgeschichte –, und schließlich ein sichtbar gemachtes Wissen – die Prozedur zur Entwicklung von Photoplatten – und der an ihm aufbrechende Widerspruch des sich vom Mythos abwendenden in ihm aber gehaltenen Wissens. Anders haben die Götter nie gewohnt unter den Menschen.
14
H. Blumenberg, Begriffe in Geschichten, Frankfurt am Main 1998, 7 f. A
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Werner Schmitt
Liebrucks’ Umwege zu Hölderlin
I.
Überblick
Die Stellung des 7. Bandes von »Sprache und Bewußtsein« deutet schon äußerlich darauf hin, dass Liebrucks davon ausgegangen ist, dass erst nach den Auseinandersetzungen mit den Werken von W. v. Humboldt, Kant und Hegel mit logisch wachem Bewusstsein die Dichtung Hölderlins aufgenommen werden kann und begreiflich zu machen ist. Angesichts der Texte Hölderlins, die einen modernen Mythos zur Sprache bringen, erhebt sich die Frage, welche Philosophie ihm gewachsen ist. Liebrucks hat es sich zur Aufgabe gemacht, aufzuzeigen, dass Hölderlin eine Revolution der Dichtung vorgetragen hat und Hegel eine solche des Denkens. Diese moderne Dichtung ist nur im Raum des Denkens zu erreichen, das selbst auf logisch nachvollziehbare Weise zu solchen in der Dichtung aufbewahrten Erfahrungen offen ist. Das ist nicht leichthin gesagt, sondern erfordert die Anstrengung des Hegelschen Begriffs, der sich angesichts des wissenschaftlichen Denkduktus’ der Neuzeit nicht scheut, die logische Statusbestimmung desselben als des »Wesens« vorzutragen und damit das geistige Käfigdasein zu verlassen, das aber erst durch dieses Verlassen in den Begriffsblick gelangt ist. Der philosophische und dichterische Anspruch geht darauf, dem modernen Menschen mit Hilfe von Philosophie und Dichtung eine Wahrnehmung zu vermitteln, die ihn zur Hegelschen Wirklichkeit führt und zur Hölderlinischen Natur und Geschichte als sphärische, gestalthafte und sprachliche Erscheinungen. »Hölderlin und Hegel haben die deutsche Sprache wieder aus den intelligiblen Allgemeinbegriffen zu wahrnehmbaren zurückgeführt, was zugleich eine philosophische (Hegel) wie eine dichterische Revolution (Hölderlin) war, die bei Hegel aus dem Rückblick auf die Philosophie seit den Griechen, bei Hölderlin zunächst auf den Krücken des griechischen Mythos, dann in 144
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eigener Sprache vorgetragen worden ist.« 1 Die mit der Logik des Wesens verbundene Entsinnlichung der Allgemeinbegriffe zu idealen Bestimmungen und Gesetzen ist im Zeitgeist so weit verfestigt, dass es eines großen Umweges bedarf, um ihre auf die Erstellung von Realität eingeschränkte Geltung vor den Blick zu bekommen. Solche Bestimmungen haben wir im Bereich des formallogischen Denkens nur von Kantischen Objekten, die a priori als an ihnen selbst durchgängig bestimmt angesehen werden. Diese durchgängige Bestimmtheit ist das Merkmal der wissenschaftlichen Realität. Erst mit Hegel ist zu begreifen, dass Realität ein Moment in der menschlichen Wirklichkeit ist, die immer als die Entsprechung von Innen und Außen anzusehen ist. Was in der Subjekt-Objektspaltung als unabhängige Realität gesetzt und vorausgesetzt wird, schlägt gerade als Inbegriff einer Objektwelt von Mechanismen auf das Denken zurück, das sich als ebensolcher Mechanismus interpretiert, indem es Denken mit der Anwendung von Denkgesetzen verwechselt. Zum anderen ist mit dem Begriff Wirklichkeit aufgedeckt, dass die Formen von Gewalt, die der Natur durch ihre Unterwerfung angetan werden, auch objektiv auf den Menschen selbst zurückfallen. Die Dialektik des Herrschaftswissens ist die Aufklärung der von ihr selbst veranstalteten und über sie hereinbrechenden Katastrophen. Obwohl die objektiven Rückwirkungen des mit Liebrucks so genannten technisch-praktischen Weltumgangs heute nicht zu übersehen sind, hält dieser Denkduktus die Einsicht über seinen logischen Status von sich ab und empfindet den Gedanken und die Anschauung außerhalb seines Käfigdaseins als erträumt. »Die ewige Wahrheit des platonischen Höhlengleichnisses ist an uns selbst zu erfahren, die wir uns zu solchen Gesängen verhalten wie die Bewohner der Höhle, die, an ihre Schattenwahrnehmung, unter einem selbst hergestellten l u z i f e r i s c h e n Feuer, das sich vor dem Menschen nicht verbeugt, gefesselt, unter prometheischen Vorzeichen die Gesichte der im Licht Wandelnden als Verblendung begreifen und nicht davor zurückschrecken, gegen denjenigen, der sie vor die wirkliche Natur bringt, wobei er der realen ihren Tribut bezahlt, heute mit Worten, morgen mit der Tat als Feinde von Philosophie, Kunst und Religion aufzutreten.« 2 Wer den Mythos auf seine realen Aspekte hin nivelliert, erklärt 1 2
SuB 7, 360. SuB 7, 564. A
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sein wissenschaftliches Weltbild, das dem der Bewohner in der Höhle gleicht, zum einzigen Erfahrungsraum. Dieser Erfahrungsraum definiert dasjenige, was überhaupt zum Gegenstand des Interesses werden kann. Alles andere erscheint verblendet und damit als nicht wissenschaftsfähige Angelegenheit. Der von Platon erzählte Mythos vom Höhlengleichnis hat seine logische Aufklärung in der Statusbestimmung der »Logik des Wesens« (Hegel) gefunden. Das Moderne auf dem Weg zur Gewinnung des Hegelschen Begriffs besteht in der Einsicht, dass das Wesen und damit der realistische Aspekt an der Wirklichkeit unverzichtbares Moment im Begriff ist. Der Begriff zahlt diesen Tribut an den Platonismus unserer Tradition, wenn er zum Anblick der Natur in ihrer Wirklichkeit gelangt. Die Erweiterung des Erfahrungsraums über den Realismus hinaus zur Wirklichkeit ist der Gang in den Hegelschen Begriff. In der Kunst hat Hölderlin einen vergleichbaren Weg eingeschlagen. Er hat in Aufsätzen diesen Gang als einen in das transcendentale Gefühl, in die Innigkeit in ihrem Maß und Übermaß wie in das Übermaas von Objektivität 3 entwickelt, das aus der herrische(n) Furcht des Unbekannten 4 stammt, was seit je zur Signatur des technisch-praktischen Weltumgangs zählt. Damit wären sowohl die Hegelsche 2. Reflexion wie die 1. Reflexionsstufe des Bewusstseins umschrieben. Solche logischen Überlegungen zu unterschiedenen Status des Bewusstseins können zwar mit Hilfe der Aufsätze Hölderlins angestellt werden, doch ihr systematischer Zusammenhang lässt sich nur von der Hegelschen »Wissenschaft der Logik« her erblicken, die damit auf philosophischem Gebiet das leistet, was Hölderlin in seinen Aufsätzen umschreibt und dann im Drama »Der Tod des Empedokles«, in den Oden, Hymnen und Elegien mit ihrer Tag- und Nachtthematik in dichterischer Genauigkeit zum Ausdruck und zur Darstellung bringt. Liebrucks hebt an vielen Stellen hervor, dass wir ohne das Studium der »Wissenschaft der Logik« Hegels nicht dazu in der Lage wären, den Begriff in diesen Hölderlinischen Termini zu entdecken. »In den Aufsätzen, die im Umkreis um die Empedoklestragödie entstehen, versichert sich Hölderlin des dichterisch bereits Erreichten in einem theoretischen Anlauf. Dann steckt er in der Dimension einer philosophisch zu nennenden Sprache die neuen Horizonte ab, innerhalb deren sich nicht nur das Trauerspiel vom Tod 3 4
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F. Hölderlin, Große Stuttgarter Ausgabe, Bd. 4/1, Stuttgart 1961,162; SuB 7, 433. Hölderlin, 4/1, 162.
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des Empedokles abspielt, sondern auch die Oden und Hymnen stehen. Das Ringen in der denkerischen Bemühung hört auf, sobald das neue Land während der Arbeit am »Tod des Empedokles« nicht nur von ferne gesichtet ist, sondern wirklich erreicht und durchschritten wird, was in der Sprache der Empedoklesdichtung und der der Elegien und Hymnen geschieht. Das Auftauchen neuer Horizonte ist auch dort schon dichterisch, wo sie mitten in der Arbeit am Empedokles in der Form des Begriffs auftauchen. Es handelt sich um eine größere Form der Vo r w e g n a h m e «5 . Die Aufgabe, der sich Hölderlin stellt, ist mit der »Forderung des ersten Systementwurfs des deutschen Idealismus gestellt, einen Mythos vorzutragen, dessen sich Philosophie, das heißt die Aufklärung, nicht zu schämen habe.« 6 Damit geht es um nichts Geringeres als um die Gewinnung einer neuen Wahrnehmung und ihres sowohl logischen wie poetischen Ausdrucks. Diese Revolution der Dichtung kann somit das Logische nicht mehr im Hintergrund lassen, weil sie im Vortrag eines neuen Mythos Philosophie und Dichtung gemeinsam erweitert. »Sehen wir uns also an, wie Hölderlin die W a h r n e h m u n g einer mythisch wahrgenommenen Welt philosophischer Klärung zuzuführen versucht hat.« 7 Liebrucks hat im 7. Band von »Sprache und Bewußtsein« diesen Teil der Aufnahme des Hölderlinischen Werks mit »Umwege« 8 überschrieben, auf denen nun nicht die Hegelschen Hauptwerke im Mittelpunkt stehen, sondern die Aufsätze Hölderlins, die aber mit den Augen des Hegelschen Begriffs gelesen werden. »Da es in unserer Bemühung um das Hölderlinische Werk nicht um eine ästhetische Betrachtung geht, sondern um die Bestimmung des logischen Status einer Dichtung, die im genuinen Sinn Dichtung ist und doch zugleich Philosophie, da es um das Verständnis des logischen Status einer solchen Einheit von Philosophie und Dichtung a l s Dichtung (nicht als Philosophie) geht, müssen wir uns den ›Aufsätzen‹ Hölderlins zuwenden« 9 . Es gibt keinen direkten Weg zu Hölderlins Erfahrung einer göttlichen Natur. Die Erfahrung von Natur und Geschichte als göttliche Gestalten ist für das
5 6 7 8 9
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moderne Bewusstsein so unerhört, dass Hölderlin vor dieser Erfahrung stehend in die denkerische Auseinandersetzung mit ihr gezwungen wird, soll er ihr gewachsen sein. Die Umwege, die Liebrucks macht, um sich der Darstellung einer Erfahrung der Natur in göttlichen Gestalten zu nähern, nehmen den Weg auf, den Hölderlin selbst vor der Darstellung dieser Erfahrung im Gedicht macht. Somit werden die Aufsätze sowohl zu Wegbereitern zur Erfahrung des Göttlichen als auch der Fähigkeit, sie darzustellen. Im Vortrag sollen nur einige wichtige Begriffe hervorgehoben und durch den Liebrucks’schen Kommentar dazu erläutert werden. Liebrucks unterscheidet die Selbstinterpretation des Menschen als wesentliche Subjektivität von der begrifflichen Subjektivität. Mit der wesentlichen Subjektivität ist die 1. Reflexion bezeichnet, die sich als Ichzentrum setzt und sich gegenüber die Welt der Objekte hat. Mit dieser Subjekt-Objektspaltung scheint ein fester Standpunkt gewonnen zu sein, der im Verstand überhaupt zwar prinzipieller Natur bleiben soll, was Kant in seiner transzendentalen Erörterung zur Begründung wissenschaftlicher Erkenntnis fordert, aber gegen Kants Intention als wirklicher Verstand hypostasiert werden muss, wenn der Verstandesgebrauch etwas mit dem Menschen auf dieser Erde zu tun haben können soll. Eine real-ideale Existenz eines sowohl abstrakt allgemeinen wie zugleich einzelnen Verstandes lässt sich mit der formalen Verschiedenheit von entweder ideal oder real nicht fassen. »Denn wenn bei Kant nur die Subjektivität die Objektivität des Gegenstandes verbürgt, so sind bei ihm sowohl das Subjekt wie das Objekt prinzipielle Setzungen, nicht etwas, worauf wir in der menschlichen Erfahrung stoßen. Den Status von Ich als der Unmittelbarkeit des Menschen als Weltumgang hat l o g i s c h nur Hegel erreicht.« 10 Die durch die Subjekt-Objektspaltung erst möglich gewordene »Welt der Positivität« (Liebrucks) ist im Empedokles-Drama der Ausdruck »der höchsten Feindseligkeit von Menschen und Natur« 11 . »Der feste Standpunkt kann immer nur ein n u r prinzipieller und damit ein nihilistischer sein. Ob dabei die vorkantische Metaphysik ontologisch von einem intelligiblen nicht sichtbaren Sein sprach, oder Wittgenstein mit der Notwendigkeit s e i n e s logischen Standpunktes von dem Subjekt spricht, das metaphysisch ist, macht in Bezug auf den Nihilismus 10 11
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SuB 7, 370. SuB 7, 425.
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keinerlei Unterschied aus.« 12 Dem ist bei Hölderlin die sphärische Erfahrung der Wirklichkeit entgegengesetzt. Im Aufsatz »Über Religion« 13 wird der Mensch nicht als Ichzentrum verstanden, dem die Welt gegenüberliegt, sondern er erfährt sich in der ihn umgebenden Welt und den anderen Menschen. Damit existiert er als »Weltumgang« (Liebrucks) oder als begriffliche Subjektivität, die sich nicht mehr nur als Prinzip fasst, sondern als existierender Begriff. Mit dieser Erfahrung allein ist es aber nicht getan, denn der Mensch stellt sich diesen Zusammenhang, den er zwischen sich, der Welt und den anderen Menschen fühlt, vor Auge und Ohr. Die sprachlichen Gebilde, die er aus sich heraussetzt, tragen seine Gefühle und Gedanken nach außen, womit sie für ihn selbst und die Mitmenschen vernehmbar werden. An diesen Gebilden lässt sich vernehmen und ablesen, welche Erfahrungen er in seinem Weltumgang gemacht hat. Da diese Gebilde als gegenständliche Form die in ihnen mitgeteilten Inhalte festhalten und weitergeben, lassen sich diese erst in einer Formbetrachtung aufschließen.
II.
Die objektive Reflexion
Eine physikalische Formel bezeichnet den technisch-praktischen Weltumgang; die Nachrichten im sermo humilis des Neuen Testaments halten den Geist der Liebe und Freiheit, den Christus in die Welt gebracht hat, in der Möglichkeit ihrer Evokation durch den Leser; und die Kunstgebilde zeigen auf Wirklichkeitserfahrung so hin, dass darin zugleich der Künstler als Individuum mitspricht. Hier könnte der Schein eines einfachen Nebeneinanders verschiedener Formen des Weltumgangs mit den ihnen entsprechenden Formen ihrer Darstellung entstehen. In Wahrheit aber ist im begrifflichen Weltumgang der technisch-praktische als Moment enthalten, was schon daraus ersichtlich ist, dass die sprachliche Äußerung mit Herstellen, poiesis, zu tun hat und deshalb gerade in den Kunstwerken eine entscheidende Rolle spielt. Allgemein kann über die unterschiedlichen Darstellungsformen, gleich ob es sich um eine Formel, eine sprachliche Nachricht, ein Bild oder ein Gedicht handelt, gesagt werden, dass sie als 12 13
SuB 7, 370. Hölderlin, 4/1, 162 ff.; SuB 7, 404. A
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»objektivierter Geist« (N. Hartmann, Liebrucks) zu begreifen sind, der in »objektiver Reflexion« (Liebrucks) im Bewusstsein des Menschen zu neuem Leben erweckt werden kann. Wie der Ausdruck sagt, handelt es sich hierbei nicht um ein subjektives Reflektieren, sondern durch das an den Sprachgebilden sich entfaltende Anschauen und Denken. Da es sich hierbei um eine der wichtigsten Einsichten in die Sprachlichkeit des menschlichen Bewusstseins handelt, sei eine dazu entscheidende Stelle im 7. Band herangezogen. Das Woher und Wovon die Sprachgebilde die Umschreibung geben stammt aus der Begegnung des Menschen mit der ihn umgebenden Welt. Aus dieser wirklichen Begegnung werden sie geschöpft, was nur dadurch möglich ist, dass sich das Bewusstsein von außen, aus der Wirklichkeit entgegenkommt und das so Erfahrene als seinen Zusammenhang mit der Welt in Sprachgebilde vor sich hinstellt. Das ist die Umschreibung des Hegelschen Begriffs, der offen ist zur Begegnung mit einer Natur, die in dieser Begegnung ihren Sinn so anbietet wie eine Blüte, die erst durch das Hinzutreten des diesen Sinn buchstabierenden Menschen zur Frucht wird. Diese ursprüngliche Erfahrung und ihre Aufhebung ins Sprachgebilde gelingt nur den Seltenen, weil sie zum einen ein Äußerstes an Offenheit zur Natur voraussetzt, die den Kampf um die Selbsterhaltung für diesen schöpferischen Augenblick hinter sich lassen konnte, und zum anderen zu ihrer Darstellung eines hohen Kunstverstandes bedarf, weil nur so dieses Neue in eine ebenfalls um Sprachhorizonte erweiterte Sprache gelangt. Das Dasein dieses an der Natur wie von einer Blüte dargebotenen Sinnes verdankt sich der wirklichen Begegnung. In Bezug auf Hölderlin heißt das, dass sein Werk Zeugnis ablegt von der Erfahrung der Natur in göttlichen Gestalten. Davon spricht diese Kunst und es liegt an uns, diese Sprache zu vernehmen und mit ihrer Hilfe die darin aufgehobenen Inhalte in uns zu erwecken. »Ihr Dasein verdanken sie jedoch der Begegnung der Natur in göttlichen Gestalten, letzten Endes dem Frieden, theoretisch antizipatorisch gesprochen: einer Innigkeit, die nicht dem Kampf und der Notdurft, also keinem Bedürfnis entspringt.« 14 Die von Hölderlin erfahrenen göttlichen Gestalten wurden von ihm in Sprachgebilde übersetzt, die wir als Text vor uns haben. In den aufgeschriebenen Worten wird 14
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diese Erfahrung aufbewahrt. Der Text bewahrt sie »wesentlich« 15 auf, was heißt, dass wir als Leser im Text nicht die wirkliche Erscheinung der Gestalten vor Augen haben, »sondern die Nachricht von ihnen« 16 . Dabei ist entscheidend, dass die Sprache, in der diese Gestalten aufgehoben gegenwärtig gehalten werden, aus der wirklichen Begegnung mit ihnen stammt. Diese Sprache bleibt mit dem, wovon sie Mitteilung macht, verbunden: Sie stammt aus der in Innigkeit (Hölderlin) wahrgenommenen Welt. Darin liegt der Ausweis ihrer Wahrheit. Es ist keine wesentliche Sprache, die über fremde Inhalte berichtet; vor allem gleicht sie nicht mathematischen Formeln, die auf den Kampf um die Selbsterhaltung zurückdeuten und Zeichen für die Herrschaft über die Natur in und außer uns sind. Für Hölderlin sind solche Formeln Ausdruck eines Gesetzesdenkens, das in höchster Feindschaft zur Natur steht, aber dennoch als Moment auch in der Kunst zu achten ist. Dieser Gegensatz wird in den Elegien als Tag- und Nachtthematik gestaltet, wobei die Nacht den Raum umgrenzt, in dem ein Übermaas von Objectivität 17 die Herrschaft ausübt, entsprechend der Hegelschen Einsicht im 2. Teil der »Wissenschaft der Logik«, wo die Logik des Wesens sich zur Verschiedenheit von Denkbestimmungen entäußert hat, die damit »das Herrschende« 18 sowohl über das Denken selbst wie über die zur Objektivität nivellierte Wirklichkeit geworden sind. Der Text der Dichtung gibt uns Lesern eine nicht wesentliche Nachricht von den erfahrenen göttlichen Gestalten. Diese Sprache hebt das Erfahrene begrifflich auf und kann auch nur vom Menschen als existierendem Begriff so aufgenommen werden, dass dabei entsprechende, d. h. dem jeweiligen logischen Niveau des Lesers entsprechende Wahrnehmungen erweckt werden (W. v. Humboldt). Solche Entsprechungen schaffen und lassen Raum für individuelle Erfahrungen, die weder identisch mit denen Hölderlins noch davon einfach verschieden sind. Das Richtig oder Falsch der exakten Wissenschaften ist im Hinblick auf solche Gestalterfahrungen zu ungenau, weil sie weder abstrakte Allgemeingültigkeit beanspruchen noch nur einer unverständlichen Singularität angehören. Eine wesentliche und damit unter dem Satz des 15 16 17 18
Ebd. Ebd. Hölderlin, 4/1, 162. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, 2. Teil, Hamburg 1966, 22. A
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zu vermeidenden Widerspruchs formulierte Nachricht »wäre eine blos gedachte, nicht die Darstellung einer Sphäre. Zur Darstellung der Sphäre gehört vor allem der hörbare Grundton und der Wandel der Töne, die nicht nur g e m a c h t , h e r g e s t e l l t sind, sondern im Herstellen der Dichtung zugleich e r f a h r e n wurden. Sie sind daher nicht nur p o i e s e i s oder Macharten, sondern an ihnen selbst logisch-poetisch, wie sie in unser Bewußtsein aufnehmbar sind.« 19 An diesem Aufnehmen hängt es, ob wir nur die wesentlichen Aspekte von Form und Inhalt des Textes betrachten und damit in wissenschaftlicher Bescheidenheit davon ausgehen, daß die Rede von Göttern allenfalls subjektive Projektionen sind, die von pathologischer Überspanntheit zeugen, oder ob wir mit diesen wesentlichen Betrachtungen im Rücken das Wagnis auf uns nehmen, diese Gestalterfahrungen einem modernen Bewusstsein zuzugestehen und uns darauf einlassen, sie mit ebenfalls wachem Bewusstsein zu buchstabieren und sie langsam lesend und lernend auch zum Thema unseres Lebens zu machen. Liebrucks hat Hölderlins Satz aus der Ode »An die Deutschen«, »daß er ihnen nicht vernehmlich ist« 20 als nüchterne Aussage gelesen. Sie gehört zur Einschätzung der Lage, in die sich der begibt, der die Horizonte des Erfahrungsraums erweitert, der keinem direkten Zugriff zugänglich ist, sondern der Wege und Umwege bedarf, die der Leser auf sich nehmen muss, um sich zu seiner Aufnahme heraufzubilden. Die Sprachgebilde sind als objektivierter Geist erst im Hören und Lesen »objektive Reflexion« (Liebrucks). Als Text sind sie tote Zeichen, die an ihnen auf Silben, Worte und Sätze hinweisen, aber nur dann, wenn ein Mensch sie liest. Sie haben dieses Zeigen an ihnen, d. h. im Bewusstsein des Menschen. Als solches Bewusstsein ist der Mensch Hegelscher existierender Begriff, der an den Zeichen mit deren Hilfe die mit ihnen bezeichneten Worte in sich erweckt und damit auch die im Text aufbewahrten Inhalte. »Die objektive Reflexion der dichterischen Gebilde stößt sich von sich selbst ab, wenn ein Mensch das Drama oder auch das Gedicht liest oder einen Schauspieler sprechen hört.« 21 Der Terminus »objektive Reflexion« bezeichnet eine Reflexionsbewegung, die innerhalb von Bewusstsein zugleich außerhalb von ihm an den Zeichen stattfindet. Die Zeichen stoßen sich an ihnen von sich ab, haben aber dieses 19 20 21
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Sichabstoßen nur an ihnen und damit im Bewusstsein des Menschen. Sie zeigen an ihnen als Zeichen auf die mit ihnen bezeichneten Wörter, die der Leser mit den in ihnen wesentlich aufbewahrten Inhalten in sich erwecken muss, um sie sich über diese Vermittlung bewusst zu machen. Dieses Innen- und Außensein des Bewusstseins gehört zu seiner Sprachlichkeit. Es erfährt sich nicht nur beim Lesen auf dem Umweg über eine äußerliche Welt, sondern seine Existenz hängt an dieser »Rückkehr aus seinem Anderssein« (Hegel), an seiner Selbsterfahrung im Fremden (W. v. Humboldt), an der Anerkennung nicht nur durch Menschen, sondern auch durch die Dinge der Welt, in der wir leben. Als existierender Begriff ist das Bewusstsein des Menschen im Außersichsein in sich reflektiert. Nur dadurch, dass er sich seines Außersichseins bewusst ist, ist er nicht nur in der Wahrnehmung an die Dinge hingegeben, sondern darin zugleich bei sich selbst. Er reflektiert noch im Gefühl das Gefühlte, in der Vorstellung das Vorgestellte und im Denken das Gedachte, was nach Liebrucks nur über die Sprache selbst möglich ist, weil sie diesen Zusammenhang selbst noch artikuliert und so vor Auge und Ohr stellt. Die Sprache selbst ist nach Hegel »das Dasein des Geistes« 22 und als solches Dasein die Präsentation und Repräsentation des Zusammenhangs und des darin aufbewahrten Unterschieds von Mensch und Welt. In ihr werden die Erfahrungen artikuliert und so für das Bewusstsein begreiflich. In der schriftlichen Fixierung der Sprache werden diese Erfahrungen wesentlich aufbewahrt. In den Formeln, Bildern und Texten als toten Gegenständen wird der Geist in objektiver Weise festgehalten. In diesen Zeichen ist der Geist objektiviert, also verwesentlicht. In ihnen ist er »wie in einem Sarkophag aufbewahrt« 23 . Erst dadurch, dass der Mensch als existierender Begriff hinzutritt und beim Lesen der Zeichen dem »objektivierten Geist« Leben einhaucht, wird er aus seiner wesentlichen Existenz in die begriffliche Existenz übersetzt und kann so im Bewusstsein seine Wirksamkeit auf Anschauung und Denken entfalten. Ohne Mithilfe des Lesers bleibt der Geist im σαρκοφάγοϚ der Buchstaben in solcher wesentlichen Existenz eingeschlossen. Diese Mithilfe ist notwendig, »weil der objektivierte Geist der im Sarkophag als dem Fleischfresser liegende Geist, Wesen nach der Verwesung ist.« 24 22 23 24
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, 458. SuB 7, 436. Ebd. A
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Die Verwesentlichung geschieht durch die Fixierung der Sprache in der Schrift. Die im aktualen Gespräch gesprochenen und gehörten Worte sind die Form des lebendigen Geistes. In der schriftlichen Fixierung haben wir die Nachricht von ihm, der einmal lebendig war und nun in den Zeichen über lange Zeit in der wesentlichen Möglichkeit seiner Auferstehung in einem ihm verwandten Geist harrt. »Nur in existierenden Begriffen, d. h. im Bewußtsein von Menschen stoßen sich die Gebilde der objektiven Reflexion, die des von Nicolai Hartmann so genannten objektivierten Geistes, nicht von den Menschen, sondern von sich ab. Man kann hier nicht von einer dialektischen Struktur sprechen, wenn diese Struktur 1) an den toten Gebilden ist, 2) aber an ihnen nur, sofern sie im Begriffsblick von Lebendigen sind.« 25 Der Begriffsblick spricht mit Hilfe des geschriebenen Textes die damit bezeichneten Sätze, in denen der Geist aus seinem Wesensstatus zu neuem Leben erwacht und fruchtbar werden kann. Es handelt sich hierbei um eine dem logischen Niveau des Lesers entsprechende Übersetzung, wobei die mit der Sprache erweckte allgemeine Bedeutung die individuelle Vorstellung, die sich der Sprechende und Hörende macht, in Grenzen frei läßt 26 . Die große Einsicht W. v. Humboldts, dass wir im Lesen und Hören immer nur entsprechende, nicht dieselben Gedanken in uns erwecken können, grenzt diese Form des sprachlichen Verkehrs von der wissenschaftlichen Form ab, die Denken als eine Funktion oder in der noch weiter äußerlichen Form als eine Operation ansieht, die wie in der Mathematik in festen Bahnen verlaufen soll. Nach Humboldt ist »Alles Verstehen […] daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, eine Wahrheit, die man auch im praktischen Leben trefflich benutzen kann, alle Uebereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen« 27 . In objektiver Reflexion wird der im Text wesentlich aufbewahrte Inhalt zu neuem Leben erweckt, wobei diese Übersetzung keine exakte Wiederholung eines abstrakt allgemeinen Inhalts ist, sondern seiner individuellen Auffassung Raum lässt. »Exakte Begriffe, falls es solche gibt, können wohl auf den Schultern der Sprache mitgetragen werden, wäre jedoch die Sprache selbst ein exaktes System, so gibt es überhaupt 25 26 27
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Ebd. SuB 2, 286. W. v. Humboldt, Werke, Bd. III, Darmstadt 1969, 228; SuB 2, 286.
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kein Begreifen mehr, weil dann allgemeine Bewegungslosigkeit eingetreten wäre.« 28 Wenn es eine Geschichte von Kulturen soll geben können, in denen die Fortschritte im »Bewusstsein der Freiheit« (Hegel) konkrete Gestalt in rechtlichen, wirtschaftlichen und religiösen Organisationen annehmen, dann geht das nur über Umgestaltungen des Überkommenen. »Dadurch wird das geistige Fortschreiten des Menschengeschlechts möglich, indem jede gewonnene Erweiterung des Denkens in den Besitz Anderer übergehen kann, ohne in ihnen der Freiheit Fesseln anzulegen, welche zur Aneignung, und zu neuer Erweiterung nothwendig ist« 29 . In der Sprachlichkeit des Bewusstseins wird sein Begriffsstatus reflektiert. Als Begriff erweckt der Mensch beim Lesen im Text wesentlich aufbewahrte Inhalte zu neuem Leben, die wie ein Echo in ihm widerhallen. Im Bewusstsein als Echo wird nicht nur der gegebene Text reflektiert, sondern mit ihm zugleich das Bewusstsein selbst, mit dem es vernommen wird. Die stumme Sprache des Textes nimmt im Nachsprechen die Stimme des Interpreten an, dessen Fühlen und Denken den auch fremd bleibenden Text belebt. Wenn, wie in Hölderlins Werk, von göttlichen Gestalten die Rede ist, dann müssen wir als Leser dessen eingedenk bleiben, dass uns damit nur die Nachricht von solchen Erscheinungen vermittelt wird, was nicht heißt, dass uns solche wirklichen Erfahrungen zuteil geworden sind. Das Buchstabieren solcher Nachrichten bringt uns noch nicht zur eigenen Erfahrung der »Natur als göttlich sprechende Gestalt« 30 ; »dazu ist etwas notwendig, zu dem wir nicht durch die genaue Aufnahme der Hölderlinischen Dichtung gelangen, sondern, wenn überhaupt, auf dem Berg der Geschichte unseres Bewußtseins« 31 . Der Leser muss den weiten Bogen über die Tradition unserer Kultur spannen, um sich zu solcher neuen Erfahrung heraufzubilden. Dazu gehört nach Liebrucks das Begreifen der durch Hegel heraufgeführten Revolution der wissenschaftlichen Denkungsart, die zur sprachlichen Erfahrung von Wirklichkeit führt, die nicht mehr von einer Art ist. »Sollte jemand durch die Aufnahme der Hölderlinischen Dichtung zur Erfahrung der göttlichen Gestalt gelangen, so wird er, da er sie anders 28 29 30 31
SuB 2, 285. W. v. Humboldt, Akademieausgabe V, 419; SuB 2, 286. SuB 7, 437 Ebd. A
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gar nicht bestehen kann, sofort sprechen, und zwar wird er in dieser Erfahrung nicht die Sprache der Konvention sprechen, die auf keine »Wohlgestalt« hinzuweisen vermag, sondern s e i n e e i g e n e . Dieses ist es, was Hölderlin in vielleicht einmaliger Weise vermocht hat.« 32 Die konventionelle Sprache heute bemüht sich um wissenschaftliche Exaktheit und zeigt die Tendenz zum schematisierten Bild und zur Formel. Diese Darstellungssysteme gehören in das Übermaß der Objektivität, innerhalb deren die Natur zu einer Welt positiver Objekte erstarrt ist. Formeln treffen auf »rekonstruierte Realität« 33 zu. Auf ihrem Feld kann Natur nicht in ihrer Wohlgestalt erscheinen. Was dort anvisiert wird, das sind die Schattenbilder, die die Platonischen Höhlenbewohner beobachten. Ihnen ist das luziferische Licht des Kantischen »Verstandes überhaupt« verborgen, das die Bilder an die imaginären Wände ihrer modifizierten Anschauungswelt wirft. Nach Liebrucks hat Kant das Geheimnis Platons ausgesprochen, dass die reinen Ideen, die im modernen Bewusstsein zu widerspruchsfreien Verstandesbegriffen erniedrigt wurden, nur in Bezug auf eine schon von vorneherein modifizierte Anschauung Geltung haben, sollen sie wissenschaftliche Erkenntnis erstellen können. Nicht nur die Verstandesbestimmungen allein geben als feste Gestelle den Rahmen möglicher Erfahrung im Singularis ab, sondern sie nur im Verein mit einer Anschauung, die gegen die Wirklichkeit blind ist. Das ist kein Befund, sondern ergibt sich als Folge aus der Überlegung, wie wissenschaftliche Erkenntnis möglich sein können soll. Solange die Bewohner der Platonischen Höhle die Umwendung ihres Standpunktes verweigern, solange bleiben sie über ihr eigenes Tun unaufgeklärt. Die Kantische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis öffnet schon den Weg in die Hegelsche zweite Aufklärung, mit der die sich für aufgeklärt haltenden Höhlenbewohner aber nichts anzufangen wissen. Sie bleiben unbeweglich dabei, dass ihre Verstandesbegriffe in Bezug auf die wahrgenommenen Bilder deren Erkenntnis ermöglichen. Der Fortschritt in dieser Frage beginnt mit der Einsicht, dass Verstandesbegriffe widerspruchsfreie Erkenntnis nur dann garantieren, wenn sie auf eine Schattenwelt bezogen bleiben, also nur auf »rekonstruierte Realität« (Liebrucks) angewendet werden.
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Ebd. Ebd.
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III. Der Ursprung der Kunst Die Kunst hat ihren Ursprung nicht in der Begegnung mit solchen Schattenbildern und deren realistischer Deutung. Sie stammt aus der Begegnung mit einer Wirklichkeit, die nicht in der Subjekt-Objektspaltung als bloßes Gegenüber erscheint, sondern als Sphäre einer »zum Anblick ihrer Gestalten offenen Natur« 34 . In dieser Erfahrung bleibt auch das Bewusstsein des Unterschieds von Mensch und Welt gewahrt, beherrscht aber nicht das Denken. Nach Hölderlin steht daher der moderne Mensch immer auch unter der Herrschaft des Jupiter, doch so, dass diese Herrschaft mit ihrer klaren Unterscheidung von Subjekt und Objekt nicht das ganze Bewusstsein unterwirft. In den Augenblicken der wirklichen Begegnung ist diese Herrschaftsstruktur in den Hintergrund getreten und hat einer Offenheit Platz gemacht, in der die Natur selbst auch als offene erfahren wird. In dieser Offenheit erscheinen ihre Gestalten, erscheint sie selbst als sprachliche Gestalt. Dieser Bereich ist der des Hölderlinischen Saturn. »Der Ursprung der Kunst liegt dort, wo jegliche Macht aus den Freuden des Friedens erwächst. Darin liegt die Entthronung des obersten Gottes aller Herrschaft und damit die Entthronung des Herrschaftsgedankens auf dieser Erde.« 35 Der Dichter, der aus dieser Erfahrung heraus spricht, äußert nicht seine subjektiven Gedanken, sondern das, was ihm die an ihr selbst als sprechend erfahrene Natur verkündet. »Das Wesen des Kronion besteht in der Verkündung, im Aussprechen nicht der eigenen Gedanken, sondern dessen, was noch im menschlich sprachlosen Ursprung des Saturn als magisch Numinoses ungesagt und unbenannt blieb. Das für diese Stufe Entscheidende aber liegt darin, daß die Dichtung und der Dichter jetzt, nach dem Durchgang durch die Innigkeit zu dem, was früher Sphären und Bereiche waren, in das Ich-Du Verhältnis getreten ist. Sphären und Bereiche sind an ihnen selbst noch sprachlos. Was jetzt begegnet, ist da in der Form des Anspruchs, in dem der Ansprechende wie der Angesprochene sind. Der Dichter erfährt die Mächte der Wirklichkeit nicht mehr in Andeutungen, sondern steht zu ihnen im Vokativ.« 36 Die Mächte der Wirklichkeit können im sprachlichen Weltumgang 34 35 36
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als selbst sprechende Gestalten vernommen werden, weil der Dichter über seine bisherige Dichtung und über die »Aufsätze« diesen neuen Horizont der Erfahrung geöffnet hat.
IV. Die Innigkeit als Umschreibung des Hegelschen Begriffs Nur wen die Mächte der Wirklichkeit in den wenigen Augenblicken eines herrschaftsfreien Weltumgangs berührt haben, kann im Ausdruck und der Darstellung dieser Erfahrung zu seiner eigenen Sprache finden. Auch wenn sie die Nachricht davon gibt, muss sie mit dem, wovon sie spricht, verschränkt bleiben. Hier gehört es zur dichterischen Exaktheit, nicht die Haltung wissenschaftlicher Distanziertheit dem Gegenstand gegenüber zu bewahren, auch nicht in Form von Protokollsätzen abstrakt allgemein zu berichten. Mit dem Hegelschen Begriff im Rücken paraphrasiert Liebrucks den Hölderlinischen Aufsatz Grund zum Empedokles 37 , in dem es vor allem um die Bestimmung der Innigkeit geht. Sie ist kein Innerliches, dem ein Äußerliches gegenübersteht, sondern wie der Hegelsche Begriff »Weltumgang« (Liebrucks). Die Gestalt des historischen Empedokles (ἘμπεδοκλῆϚ) dient dazu, den sprachlichen Weltumgang des Menschen zu bestimmen und zu gestalten. Im Aufsatz wird er in philosophischer Diktion umsprochen, im Drama gestaltet. Das Entscheidende wird zu Anfang gesagt: »Es ist das Göttliche […], das der Dichter in seiner Welt empfindet. Der Dichter empfindet das Göttliche nicht in seinem Inneren, sondern in der Welt. Allein deshalb ist hier nicht von einem Subjekt die Rede, das das Seelenvermögen der Empfindung hat. Nur als Weltumgang kann er die Empfindung in seiner Welt haben.« 38 Er empfindet nicht nur das Göttliche in seiner Welt, sondern ist sich dieser Empfindung bewusst. Da es sich hierbei »um einen Austausch von Mensch und Welt« 39 handelt, wird der Mensch aorgischer und die Natur organischer. Dieses Werden ist kein seiendes Übergehen des einen in das andere, sondern ein Übersetzen. Der Mensch trägt seine Erfahrung mit der Natur in sie hinein und kultiviert z. B. als Ackerbauer den Boden. Der Bildungstrieb, den alle Lebewesen gemeinsam 37 38 39
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Hölderlin, 4/1, 149 ff.; SuB 7, 415 ff. Hölderlin, 4/1, 150; SuB 7, 415, 416. SuB 7, 416.
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haben, schafft die Welt in Umwelt um, die Natur in Kulturlandschaften, in denen sich das menschliche Tun spiegelt. Aber nicht nur die Arbeit an der Natur kommt darin zum Vorschein, sondern auch die Natur selbst, die an dieser Arbeit mitwirkt. Sie wirkt schon im Bildungstrieb des Menschen mit, die Mitwirkung tritt aber erst in der Kulturlandschaft in die Sichtbarkeit. »Auf dem Weg, den die Natur über den bildenden cultivirenden Menschen 40 , nicht nur auf dem Weg über den Ackerbau, sondern schon auf dem Weg über die Bildungstriebe und Bildungskräfte des Menschen, eingeschlagen hat, ist sie organischer geworden. Wie Natur sich im Bildungstrieb und im sich kultivierenden Menschen organisiert hat, so erscheint sie nun auch v o r diesen beiden als organisch.« 41 In der Natur erscheint in gegenständlicher Weise das Verhältnis, in dem der Mensch zu ihr nicht nur als Empfindung steht, sondern das er durch sein Tun an ihr zum Ausdruck bringt. Dabei wirkt die Natur so mit wie die Sprache nach Humboldt bei der Hervorbringung unserer Gedanken behilflich ist. Was wir der Natur mit ihren kultivierten Formen ansehen und was wir über die Sprache und mit ihr vernehmen, ist immer in einer Gemeinschaftsarbeit entstanden. Nach Hölderlin haben die Himmlischen uns lächelnd den Aker gebauet, / In Knechtsgestalt 42 . Sie waren nicht dem Zwang technischer Machbarkeit unterworfen, sondern haben lächelnd dem Menschen gedient, weil dieser in seinem Bildungstrieb noch nicht als selbstherrlicher Ausbeuter der Natur aufgetreten ist. Das Kultivieren des Bodens und die Kultivierung des Menschen waren dem Menschen ein noch nicht bewusstes Geschehen, wurde kaum gefühlt 43 . Erst die in Innigkeit bewusst gewordene Erfahrung dieser lächelnd gewährten Mithilfe der göttlichen Kräfte der Natur in der Gestaltung und Mitgestaltung von Natur und Mensch bringt den modernen Dichter dazu, diese Begegnung mit der Wirklichkeit ins Gedicht zu übertragen, das damit ein ebensolches Gemeinschaftswerk wie die kultivierte Landschaft ist. Das Gedicht ist Die Frucht […], der Götter und Menschen Werk / Der Gesang, damit er beiden zeuge 44 . Damit ist das Gedicht die Darstellung der in diesem sprachlichen
40 41 42 43 44
Hölderlin, 4/1, 153. SuB 7, 420. Hölderlin, 2/1, 119, V. 34, 35. Hölderlin, 2/1, 119, V. 32. Hölderlin, 2/1, 119, V. 48, 49. A
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Weltumgang sich Begegnenden, von Mensch und Kräfte(n) der Götter 45 . Die Darstellung dieser Begegnung ist nicht die wirkliche Begegnung selbst, sondern die Frucht aus dieser Begegnung, die der Dichter unter Mithilfe des Wahrgenommenen mit den Mitteln seines Kunstverstandes und dem Wissen um die ihn prägende Tradition, aber in eigener Sprache geformt hat. In dieser Frucht wird die Erfahrung aufgehoben und für die Mitmenschen in der Möglichkeit der objektiven Reflexion gehalten. Die dichterische Sprache trägt die Spur des himmlische(n) Feuer (s) 46 , das den Dichter nicht vernichtet, der reinen Herzens 47 geblieben ist. Das reine Herz charakterisiert die Absichtslosigkeit, in der er solche Erfahrungen macht. Sie bewahrt ihn davor, in das Übermaas der Innigkeit 48 zu fallen, dessen sich die Gestalt des Empedokles im Drama Tod des Empedokles schuldig macht, indem er wähnt, dass durch ihn allein die Stimmen der Natur zur menschlichen Sprache gelangen. Wer die Absicht hegt, die Himmlischen zu schauen 49 , wird zum falschen Priester 50 , der des Unterschieds zu sehr vergisst. Im Gedicht als dem Sprachgefäß wehet ihr [der Götter und ihrer Kräfte; Zusatz, W. S.] Geist 51 , aber nur dann, wenn der Mensch als Begriff hinzutritt und mit Hilfe der Sprachgefäße den in ihnen in wesentlicher Existenz festgehaltenen Geist herausruft. Das schriftlich fixierte Sprachgebilde ist in doppelter Form objektive Reflexion: Es ist erstens das Sichabstoßen der Zeichen an ihnen selbst zu den mit ihnen bezeichneten Wörtern, und zweitens das Sichabstoßen der Wörter an ihnen selbst zu dem mit ihnen bedeuteten Inhalt. Das Sichabstoßen zu irgendwelchen Inhalten haben die Schrift als Sekundärsystem der Sprache und die Sprache in unserem Bewusstsein, sofern das Bewusstsein entsprechende Gedanken und Anschauungen in sich zu erwecken vermag. Das Gedicht selbst ist die Frucht, die der Begegnung von Dichter und an ihr selbst als bedeutend erscheinender Natur entstammt. In der Frucht wird aufbewahrt, was der Dichter in der wirklichen Begegnung 45 46 47 48 49 50 51
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Hölderlin, 2/1, 119, V. 36. Hölderlin, 2/1, 119, V. 54. Hölderlin, 2/1, 119, V. 61. Hölderlin, Grund zum Empedokles, 4/1, 155. Hölderlin, 2/1, 119, V. 70. Hölderlin, 2/1, 119, V. 72. Hölderlin, 2/1, 119, V. 37.
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gefühlt und in seiner Sprache zum Ausdruck bringen konnte. Ohne die Sprache bliebe die Erfahrung im Übermaß einer stummen Begeisterung und damit sich selbst und den Mitmenschen gegenüber verschlossen. Liebrucks arbeitet am Aufsatz Grund zum Empedokles vor allem den Austausch von Mensch und Natur heraus, den Hölderlin als Innigkeit begreift, und die Aufgabe ihrer Darstellung. Der Austausch ist nur in Verhältnissen möglich, die nicht direkt der Selbsterhaltung und der Herrschaft dienen. Aber auch die Innigkeit läuft Gefahr, zu einem nefas zu werden, indem sie »im Rollentausch von Göttlichem und Menschlichem […] vergißt, daß er [der Mensch, Zusatz, W. S.] ein Sterblicher ist.« 52 Die Gefahr verlangt nach der Besonnenheit, nach der Reflexion auf diesen Rollentausch, die auch den Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Welt festhält. Für die Darstellung ist, wenn sie sich ihrer selbst als solcher bewusst sein können soll, die Reflexion mit dabei, weil das Gedicht mit Kunstverstand hergestellt wird. Dazu kommt noch die Verfremdung, die notwendig ist, um den göttlichen Eindruck in die sprachliche Form von ihm zu übersetzen. Solche sprachlichen Formen werden aus der Tradition übernommen, wie die Sprache selbst, die immer geschichtlich ist. Um ein Bild der Innigkeit sprachlich zu gestalten, muss der Dichter die unmittelbare Erfahrung derselben verläugnen 53 . Um sie sichtbar zu machen, gebraucht er eine andere Welt, fremde Begebenheiten, fremde Karaktere 54 . »Nur in ihnen kann, wie in einem verfremdenden Spiegel die Innigkeit des göttlichen Eindrucks sichtbar gemacht werden« 55 . In dieser Verfremdung muss aber der erfahrene Eindruck erhalten bleiben. Die fremden Gestalten und Begebenheiten dürfen deshalb blos in der äußeren Gestalt 56 heterogen sein, sie dürfen »unterschieden, nicht verschieden von der Innigkeit sein« 57 , soll das Göttliche […], das der Dichter in seiner Welt empfindet und erfährt 58 auf dem Weg über seine Darstellung erfahrbar bleiben. So fasst Liebrucks den Hölderlinischen Gedankengang in den Satz: »Die Fremdheit der Formen dient nicht der Verleugnung der Innigkeit,
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SuB 7, 416. Hölderlin, 4/1, 151; SuB 7, 418. Hölderlin, 4/1, 150. SuB 7, 418. Hölderlin, 4/1, 150. SuB 7, 418. Hölderlin, 4/1, 150. A
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der Verleugnung der Begegnung der Welt in göttlichen Gestalten, sondern zu ihrer Aufrichtung. Diese Aufrichtung des Göttlichen nicht in der Empfindung, sondern in der Dichtung kann nur in einem dem Dichter und seiner Zeit fremden Stoff geschehen.« 59 Der Dichter braucht den fremden Stoff, um seine Totalempfindung in ihn hineinzutragen; und in ihm, wie in einem Gefäße, zu bewahren 60 . Liebrucks begreift diese dichterische Verfahrensweise zur Aufrichtung der in Innigkeit erfahrenen göttlichen Gesichte in der Dichtung nicht als einen technisch-praktischen Kalkül, weil ein solches Verfahren schon außerhalb oder oberhalb der wirklichen Erfahrung stünde. Ein mit bloßem Kalkül hergestelltes Kunstgefäß zeigt auf Wirklichkeit nur in ihrer Nivellierung auf ihren Modellcharakter und damit auf eine Schattenwelt, nicht auf Wirklichkeit. Das Bild, das der Dichter aufrichtet, wird zwar mit Kunstverstand gebildet, aber die Verfahrensweise darf den lebendigen Eindruck des Göttlichen nicht ausblenden. Sie soll im Gegensatz dazu seiner Aufhebung im Hegelschen Sinn dienen, womit sowohl ihre Aufhebung als auch ihre Erhaltung zu verstehen ist. Das Hinübertragen der Totalempfindung in das Gefäß der dichterischen Sprache ist das Tun des Dichters. »D a r i n b e s t e h t d i e B e d e u t u n g d e s M e t a p h o r i s c h e n b e i H ö l d e r l i n .« 61 Solches Hinübertragen bliebe leer, hätte der Dichter nicht den Augenblick der Innigkeit der Vertauschung der Gegensätze des Menschlichen und Göttlichen. Die darin erfahrenen Gesichte werden über ihre Darstellung in die Sichtbarkeit und Denkbarkeit erhoben. Die Philosophie hat nach Liebrucks mit Hegel den Menschen als Begriff in die Offenheit einer Natur geführt, in der der Mensch »aufstaunend in die Nähe des Ursprungs der Sprache« 62 gelangt. Natur wird nicht mehr als Objektwelt betrachtet, sondern ihre Gestalten »haben ihren anorganischen Schein abgestreift und deuten die Sprachlichkeit ihrer Wirklichkeit an« 63 .
59 60 61 62 63
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SuB 7, 418. Hölderlin, 4/1, 151. SuB 7, 418, 419. SuB 7, 507. Ebd.
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V. Die Geburt der Götter Die Sprachlichkeit der Wirklichkeit kann erst vom Hegelschen Begriff aus erblickt und begriffen werden. Diese Einsicht lässt sich über dessen Entwicklung in der »Wissenschaft der Logik« zum Begriff im Status der Idee als »Entsprechung« (Hegel, Liebrucks) gewinnen. Erst der Begriff begegnet einer sprachlich wahrgenommen Wirklichkeit, die er mit Hilfe einer sowohl dichterischen wie philosophischen Sprache aus der Unmittelbarkeit der Erfahrung heraushebt und so für sich und andere begreiflich macht. Das ist die »Geburt der Götter in der Sprache« 64 . »Dazu bedarf es einer Phänomenologie des Bewußtseins, die immer von der Logik gelenkt wird, die wir uns zu erarbeiten versuchen.« 65 Zu der Geburt der Götter in der Sprache ist zunächst zu sagen, dass alles Geistige erst mit dem Hinzutreten des Menschen zur Existenz kommt, der es in sein Bewusstsein aufnimmt und im Aufnehmen Existenz verleiht. Die im geschriebenen Text wie in einem Sarkophag wesentlich aufbewahrten Inhalte werden erst durch den Leser zu neuem Leben erweckt, der sie in objektiver Reflexion, also unter Mithilfe der Zeichen und den mit ihnen bezeichneten Worten in sich erweckt. Dem Gefäß der Sprache kann nur der diese Inhalte entnehmen, der sie in seine Welt übersetzt und assimiliert. Solche Assimilation ist die Aneignung fremden Stoffs durch Umwandlung, was schon die Organismen zu ihrer Erhaltung tun. Das Leben des Geistes hängt wie das unmittelbare Leben an dieser Übersetzung. Schon die Organismen sind Darstellungssysteme (Portmann) 66 . Im Geistigen reflektiert der Mensch noch seinen Weltumgang über Sprachgebilde. Auch da gibt es eine unmittelbare Form, in der dieser Bildungstrieb in die Sichtbarkeit tritt. Das von Hölderlin angeführte reine Leben 67 ist dasjenige, das der Kindheit entspricht. Sie steht für einen Weltumgang, in dem der Mensch noch nicht in der Entfremdung zu seiner ihn umgebenden Welt lebt. Die Subjekt-Objektspaltung hat noch nicht bewusst stattgefunden und so begegnet dieses Bewusstsein noch weitgehend »ohne Arg« (He-
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gel) seinem natürlichen und sozialen Umfeld, das ihm seines kindlichen Bewusstseins wegen auch mit Offenheit entgegenkommt. Da auch in diesem Stadium der Entwicklung der Mensch seinen Weltumgang darstellendes Wesen ist, ist der Bildungstrieb noch ein natürlicher. Sollte hier so etwas wie Kunst entstehen, dann geschieht das noch ohne Reflexion auf das Hervorbringen. Kunst entsteht noch als Blüthe, als Vollendung der Natur 68 . Der Mensch ist schon von Natur aus Sprachwesen. In ihm vollendet sich die Natur. Er ist von allen Lebewesen wohl das komplexeste organische System und damit Der organischere künstlichere gegenüber einer Natur, die als aorgischere erscheint 69 . Der organischere künstlichere Mensch ist die Blüthe der Natur, die aorgischere Natur, wenn sie rein gefühlt wird, vom rein organisirten, rein in seiner Art gebildeten Menschen, giebt ihm das Gefühl der Vollendung. Aber dieses Leben ist nur im Gefühle und nicht in der Erkenntniß vorhanden. Soll es erkennbar sein, so muß es […] sich darstellen. 70 In der Kindheit wird der Zusammenhang von Mensch und Welt noch rein gefühlt. Auch die sprachlichen Darstellungen stammen noch aus einem nicht reflektierten Bildungstrieb, an dem sich ablesen lässt, dass der Mensch schon von Natur aus künstlicher organisiert ist als die anderen Lebewesen. Das Gefühl der Vollendung wird ihm von einer Natur gegeben, die, weil sie reinen Herzens gefasst wird 71 , ihr Sprachantlitz zeigt. Mit der Erkenntnis ihres Sprachantlitzes wird das reine Herz zum wachen Herz, das in den hochherstürzenden Stürmen / Des Gottes, wenn er nahet […] doch fest bleibt 72 . Fest kann das Herz nur bleiben, wenn es in seinem Weltumgang noch in Offenheit Wie Kinder 73 zur Welt und den Mächten der Wirklichkeit steht, aber durch die Bemühung, diese Erfahrung der Erkenntnis zuzuführen, gereifter und erfahrener an das Werk ihrer Darstellung geht. Hölderlin spricht vom reinen Herzen, das doch zugleich wach ist, und umschreibt damit nach Liebrucks den Hegelschen Begriff, der auf dem Umweg über die Welt der Positivität, die Ausdruck für die höchste Entfremdung von Menschen und Welt ist, zur Einsicht in deren Ge68 69 70 71 72 73
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Ebd. Ebd. Ebd. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage …, 2/1, 120, V. 61. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage …, 2/1, 120, V. 65, 66. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage …, 2/1, 120, V. 62.
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setztsein kommt. Die Welt der Positivität ist keine gegebene Wirklichkeit, sondern eine Herrschaftskonstruktion, die dazu erfunden ist, die Natur als Inbegriff von Objekten in die Dienstschaft zu zwingen. »Als Inbegriff von Objekten, die vom Menschen als unabhängig vorgestellt werden, ist Natur nicht göttlich. Göttlich w i r d sie erst durch die Verbindung mit einer Kunst, die zwar harmonisch, aber von ihr verschiedenartig ist. Das Göttlichwerden der Natur ist an ihre Begegnung mit einer Kunst gebunden, die nicht wie eine Blüte aus ihr entstanden ist, sondern als ihre Ergänzung auftritt.« 74 Damit ist ein entscheidender Gedanke ausgesprochen. Wer in dem modernen Selbstverständnis des Menschen als eines Ichzentrums hängt, das sich einer Welt von Objekten gegenüber wähnt, legt die Subjekt-Objektspaltung als einen Fakt zugrunde, ohne dabei zu begreifen, dass das Faktum der Zerrissenheit in die Entwicklung des Bewusstseins gehört, das sich im Kampf um die Selbsterhaltung solche Abstraktionen, wie die von Ich und Welt als verschiedener, vornimmt. Auch hier bleibt der Weltumgang gewahrt, obwohl er zu einem technisch-praktischen nivelliert wird. Da das eine weltgeschichtliche Angelegenheit ist, die heute auch in ihren Folgen für unseren Lebensraum Erde nicht mehr zu übersehen ist, ist es von großer Wichtigkeit, das Ringen um das Thema der Sprachlichkeit des Bewusstseins im Werk Hegels und der Dichtung Hölderlins zu verfolgen, indem wir ihre Auslegung unter dem neuen Gedanken der Sprachlichkeit, den Liebrucks in die Philosophie eingebracht hat, mit Hilfe des Liebrucks’schen Werks zu begreifen. Nach Liebrucks trägt Hölderlin einen neuen Mythos vor, was nur dann einsichtig ist, wenn er sich diesem Hauptthema der Neuzeit stellt. Dieses Thema behandelt Hölderlin im Tod des Empedokles und in den Hymnen und Elegien, in denen die Tag- und Nachtthematik im Mittelpunkt steht. Die Nacht ist der Bereich, in dem die moderne Entfremdung herrscht. Sie wird als Fehlen der Erfahrung der Natur in ihrer Wohlgestalt, später als das Fehlen einer sprachlich begegnenden Wirklichkeit charakterisiert. Solches Fehlen stammt noch aus der Güte des Gottes, der auch die Zeiten seiner Abwesenheit im Bewusstsein der Menschen zulässt. Dadurch wird der Gang in die Nacht, in die Welt der Positivität nicht als Untergang einer obsolet gewordenen göttlichen Naturerfahrung angesehen, sondern als Durchgang zu einem Bewusstsein, das begriffen hat, wohin dieses Einhausen in den technisch-prak74
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tischen Weltumgang führt. Der bewusste Durchgang durch diese Bewusstseinsstufe gehört in die Revolution des Denkens, das erst dadurch wieder mit Bewusstsein zum sprachlichen Weltumgang hin offen ist. Die Kunst, die solche Erfahrungen in die Darstellung bringen kann, ist nicht mehr im unmittelbaren Sinn rein. Sie naht und übersetzt sie mit wieder rein gewordenen Händen. Sind schuldlos unsere Hände 75 , dann kann der Künstler mit seiner Kunst solche Erfahrungen fassen und ins Lied / Gehüllt die himmlische Gaabe […] reichen 76 . Solche Kunst entstammt nicht einem nur natürlichen Bildungstrieb, sondern einem solchen, der sich seiner bewusst geworden ist. »Das Göttlichwerden der Natur ist an ihre Begegnung mit einer Kunst gebunden« 77 , die im Status des Begriffs steht. Der Begriff vergisst auch des Unterschieds zwischen sich und der Welt nicht. Sie weiß um den Rollentausch von Mensch und göttlicher Welt in der Innigkeit, worin die Natur mit ihren Sprachcharakteren sichtbar wird. Sie weiß auch darum, dass in diesem Rollentausch die aorgischere Natur zu ihrem Bewusstsein im Menschen kommt. Es ist das Bewusstsein des Menschen, in dem sich die Natur fühlt und gefühlt wird. Nur in dieser Vertauschung erfährt umgekehrt der Mensch eine Natur, die wie der Kosmos auf ihn herabblickt, also selbst als Gestalt erscheint, die wie das Du eines anderen Menschen angesprochen werden kann und auch selbst zu sprechen scheint. Das Scheinen hat sie mit der objektiven Reflexion der Sprache gemeinsam, die uns dazu verhilft, beim Lesen und Hören nicht bloß unsere Gedanken zu vernehmen, sondern die, die im Text geäußert werden. So äußert sich die Natur dem ihr mit der Kunst im Status des Begriffs nahenden Menschen. Es ist Äußerung der Natur selbst, aber an ihr erscheinende Äußerung, die zu dieser Erscheinung im Bewusstsein des Menschen kommt. Das Bewusstsein des Menschen spiegelt sich zugleich selbst in dieser Erscheinung, die dadurch zu einem Doppelschein wird: Natur und Mensch erscheinen in ihr in diskreter Einheit. In dieser Begegnung bleiben Natur und Kunst auch Besondere gegeneinander. »Beide sind, was sie sind, nur als je besondere. Als diese Besonderen können sie das, was sie sind, nur unter der Bedingung zusammen sein, wenn jedem von ihnen ein Mangel anhaftet. In der Ver75 76 77
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Hölderlin, Wie wenn am Feiertage …, 2/1, 120, V. 62. Hölderlin, Wie wenn am Feiertage …, 2/1, 120, V. 59, 60. SuB 7, 419.
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bindung von Natur und Kunst als je besonderer, als Mängelwesen wird die Natur göttlich und ist die Vollendung da 78 . Der aorgischeren Natur mangelt es an Bewusstsein ihrer selbst, das sie erst im Menschen erlangt, der auch ein Naturwesen ist, aber künstlicher gestaltet. Und der Mensch erfährt sich nur auf dem Umweg über Natur, Geschichte, Mitmenschen und Sprache, weil wirkliches Wissen nicht solipsistisch ist, sondern aus der Welt stammt. Der Begriff ist sich bewusst geworden, dass er ein Mängelwesen ist, das der Ergänzung durch die natürliche und geschichtliche Welt und damit auch der Anerkennung durch den anderen Menschen bedarf. Seine wirkliche Existenz verdankt er dieser Anerkennung. Außerhalb ihrer ist er nur eine Abstraktion, die den Grund ihrer Existenz nicht begriffen hat, obwohl sie nur von ihm her Dasein hat. Die Hölderlinische Vollendung ergibt sich aus dem Zusammentreffen zweier Mängelwesen, die einander ergänzen. Als abstrakt Besondere, also in ihrer Anschauung als gegeneinander gleichgültige Existenzen, sind »weder die Natur noch die Kunst als göttlich« 79 anzusehen. Das Bewusstsein unter der Herrschaft der durch es selbst in die Welt gesetzten Subjekt-Objektspaltung kann dem nur zustimmen. In der Welt der Positivität kann keine göttliche Gestalt erscheinen, weil der Satz des zu vermeidenden Widerspruchs solche zweideutigen Erfahrungen ausschließt. Ein objektiver Gott ist mit Recht ein Unding. Die Rede von ihm weist nur dann auf etwas und nicht auf nichts hin, wenn sie aus dem Grund wirklicher Erfahrung stammt, die niemals nur eindeutig ist, weil zu seiner Wahrnehmung immer schon die Zweideutigkeit der Innigkeit, des Rollentauschs wie der eigenen Existenz als einer durch Anerkennung gesetzten gehört. Nur im sprachlichen Weltumgang begegnen sich Mensch und Welt so, dass in ihrem Zusammentreffen das Göttliche vernehmbar wird; dann ist das Göttliche da, und das Göttliche ist die Mitte von beiden 80 . In dieser Begegnung ist der Mensch nicht solipsistisches Subjekt, sondern Hegelscher Begriff, der so außer sich gekommen ist, dass er sich über die ihn umgebende Wirklichkeit begreift. »Der Weg zur Erkennbarkeit des Gefühls, der Erkenntnis der nur gefühlsmäßigen
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Verbundenheit von Natur und Mensch geht über die Darstellung« 81 . Ohne diese bleibt »das Gefühl des tat wam asi: das, was in der ersten Begegnung mir als fremde Natur erschien, das bin ich selbst«, unerkannt. 82 Die Geburt der Götter ist ein Gemeinschaftswerk. Als Blüthe bedarf Natur des menschlichen Bewusstseins, um fruchtbar zu werden. Ihrem Zusammentreffen in der Wahrnehmung entsteigen die göttlichen Gestalten mit den an ihnen erfahrenen Aufforderungscharakteren zu ihrer Darstellung. Der nach Liebrucks sowohl göttliche wie menschliche Ursprung der Sprache stammt aus dieser Wahrnehmung: Diese Sprache ist modern, weil sie sich im Anblick der Hölderlinischen Nacht und nach dem Durchgang durch die Welt der Positivität neue Erfahrungen aufgeschlossen hat. Von da her erscheinen die Hölderlinischen Auseinandersetzungen mit den künstlerischen Mitteln, den Verfahrensweisen bei der Darstellung auf dem Weg über fremde Stoffe notwendig, weil solche neuen Inhalte auch die Kunst verändern. Die Umwege über die Aufsätze liest Liebrucks als Vorwegnahme neuer Bewusstseinsstufen mit den ihnen entsprechenden Erfahrungen. Mit Blick auf die mit Hegel wiedergewonnene Sprachlichkeit des Bewusstseins wird der moderne Mythos, den Hölderlin vorgetragen hat, entziffert. Das Wagnis dieser Werke besteht darin, dass es keinen, der sich an ihre Übersetzung macht, unverändert lässt.
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II. Anthropologie und Praktische Philosophie
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Liebrucks’ Interpretation von Herder und Gehlen
Liebrucks’ Auseinandersetzung mit Herder und Gehlen finden wir im einleitenden Band seines Hauptwerkes, der eine noch »undialektische Betrachtung« 1 des Themas »Sprache und Bewußtsein« gibt. 2 Liebrucks versucht hier, zum Teil phänomenologisch vorgehend, eine Einführung in die folgende Untersuchung, deren Ziel die »Gewinnung der Sprachlichkeit des Menschen in allen seinen Lebensbezügen« ist. Von einer »philosophischen Erörterung« kann im Sinne des eingeschlagenen Weges »von den undialektischen Gebilden zur dialektischen Bewegung« erst dort die Rede sein, wo »auf dem Umwege über Kant und Hegel die dialektische Dimension« gewonnen wird. 3 Wir werden diesen ihren »propädeutischen Charakter«, der es mit sich bringt, dass vieles von dem hier Gesagten bloß »behauptend« vorgetragen ist, mit zu berücksichtigen haben, wenn wir einen Teil der Ausführungen des ersten Bandes als Liebrucks’ Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Anthropologie lesen. Warum der Einsatz mit Herder? Mit Herder beginnt die Epoche der Sprachphilosophie! 4 Erich Heintel schreibt in der Einleitung zu den von ihm herausgegebenen sprachphilosophischen Schriften Herders 5 : »Die Sprache ist Herder in stärkerem und umfänglicherem Maße zum Gegenstand der Reflexion geworden als es jemals vor ihm bei einem Denker unserer SuB 1, 43. Diese Charakterisierung als »vorläufig« gilt selbst noch für die Erörterung des Wesens der Sprache im Raum Wilhelm von Humboldts im zweiten Band von »Sprache und Bewußtsein«. 3 SuB 1, 43. 4 Vgl. SuB 1, 48. 5 Es ist wohl diese Schrift von 1960 und das in ihr zum Ausdruck kommende Interesse an sprachphilosophischen Themen gewesen, welche Heintel und Liebrucks zuerst aufeinander aufmerksam und in der Folge davon miteinander bekannt hat werden lassen. 1 2
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abendländischen Tradition der Fall gewesen ist.« 6 Aber nicht nur die Sprachphilosophie, in der von Sprache nicht mehr nur wie bisher noch in jeder Philosophie, die diesen Namen verdient, gewissermaßen nebenbei die Rede ist, sondern das Thema Sprache, insbesondere das Verhältnis von Sprache und Denken ins Zentrum der philosophischen Problemstellungen rückt, schließt an Herder an, »[d]ie Theoreme der Herderschen Sprachphilosophie liegen […] direkt und indirekt wichtigen philosophischen, sprachphilosophischen und linguistischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts zugrunde« 7 . Was liegt da näher, als dass auch eine Philosophie von der Sprache her, wie sie Bruno Liebrucks schreibt, die Auseinandersetzung mit Herder zum Ausgangspunkt der Überlegungen nimmt. Warum aber setzen die Überlegungen zu »Sprache und Bewußtsein« nicht gleich bei Hegel ein? Die Antwort von Liebrucks besteht zum einen im Hinweis darauf, dass Dialektik »immer Einheit des Weges und des Resultates« 8 ist und daher nicht in Resultaten, sondern erst im Nachvollzug des Weges zu diesen gegeben werden kann, zum anderen im Hinweis auf das besondere, mit den Gegebenheiten in anderen Wissenschaften unvergleichliche Verhältnis der Philosophie zu ihrer eigenen Geschichte. Während das geschichtliche Gewordensein in den Wissenschaften als etwas bloß Historisches außerhalb ihrer selbst liegt, sind wir in der Philosophie, »was wir sind, […] zugleich geschichtlich […]. Der Besitz an selbstbewußter Vernünftigkeit, welcher uns, der jetzigen Welt angehört, ist nicht unmittelbar entstanden, und nur aus dem Boden der Gegenwart gewachsen; sondern es ist dies wesentlich in ihm, eine Erbschaft und näher das Resultat der Arbeit, und zwar der Arbeit aller vorhergegangenen Generationen des Menschengeschlechts zu sein.« 9 Als Weg der Entwicklung des Geistes ist die Geschichte der Philosophie keine bloße »Galerie von Meinungen« 10 , sondern ein sinnvoller Entwicklungszusammenhang des Denkens, der als integrierender J. G. Herder, Sprachphilosophische Schriften. Ausgewählt und mit einer Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von E. Heintel, Hamburg 1960, XV. 7 U. Gaier, Johann Gottfried Herder, in: Klassiker der Sprachphilosophie von Platon bis Noam Chomsky, hg. von T. Borsche, München 1996, 231. 8 SuB 1, 79. 9 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hg. von H. Glockner, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 17, 28. 10 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 40. 6
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Bestandteil des philosophischen Systems begriffen werden muss, wie dies Hegel gefordert und getan hat. Philosophie, die immer von der Gegenwart ausgeht, weil sie gar nicht anders kann, muss, wenn sie vorwärts kommen will, zurückgehen. Die philosophische Tradition liegt als unangeeignete nicht hinter, sondern vor uns, von ihr verabschieden kann man sich nur durch Zuwendung zu ihr oder, um in einem Bild von Bruno Liebrucks zu reden, die Schätze der Tradition können erst als gehobene über Bord geworfen werden. 11 Dass Liebrucks das Problem von »Sprache und Bewußtsein« nicht dort aufnimmt, »wo die Philosophie es bei Hegel stehenließ«, sondern am »anthropologischen Zipfel«, also gewissermaßen »von unten« anfasst, muss solcherart als Tribut an das Zeitalter, »dort anzufangen, wo es uns hingeführt hat« 12 , verstanden werden. Letzteres gilt insbesondere von der Auseinandersetzung mit Gehlen als philosophischem Repräsentanten einer Zeit, die zu charakterisieren Theodor Litt im Vorwort von »Mensch und Welt« schreibt: »›Anthropologie‹ heißt das philosophische Thema des Tages.« 13 Diese neuzeitliche Anthropologie beginnt mit Max Schelers »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, die 1928 erschienene Schrift, deren Autor noch im selben Jahr gestorben ist, gibt erst den Entwurf zu einer Anthropologie, nicht schon deren Ausführung, hat aber trotzdem oder gerade deswegen eine große Wirkung entfaltet und den Versuch, »das Wesen des Menschen in vergleichender Abhebung von der Daseinsform des Tiers zu klären« 14 , programmatisch bestimmt. Die Philosophische Anthropologie wird nicht nur in den Jahrzehnten danach zu einer philosophischen Modeerscheinung, mit ihr verbindet sich sogleich auch der Anspruch, nicht bloß eine der Disziplinen der Philosophie, sondern die philosophische Disziplin zu sein. In diesem Sinn heißt es schon bei Scheler: »Ich darf mit Befriedigung feststellen, daß die Probleme einer Philosophischen Anthropologie heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik […] getreten sind« 15 , die neue Art und Weise, nach dem Menschen zu fragen, tritt sogleich als Fundamentalphilosophie auf. Vgl. B. Liebrucks, Über einige transzendentale und einige dialektische »Implikationen« der formalen Logik, Frankfurt am Main 1971, 15. 12 SuB 1, 47. 13 Th. Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, Heidelberg 2 1961, 5. 14 Litt, Mensch und Welt, a. a. O., 281. 15 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bern und München 1966, 6. 11
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Im Anschluss an Scheler lassen sich zusammenfassend drei Charakteristika festhalten, durch welche die neuzeitliche Anthropologie bestimmt ist: die Wende zur Natur, 16 die Verwissenschaftlichung (Biologie), der Mensch-Tier-Vergleich als bevorzugtes methodisches Mittel. 17 Die neuzeitliche Anthropologie möchte den Menschen von seiner Stellung in der Natur her verstehen. Diese »Wende zur Natur« wird nicht nur bei Scheler bereits aus dem Titel seiner Schrift erkennbar: »Die Stellung des Menschen im Kosmos«, der Mensch wird in die lebendige Natur (Kosmos) gestellt und in Vergleich und Abhebung aus diesem Zusammenhang mit dem »Biopsychischen« bestimmt. Neben manch expliziter Formulierung: »Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen« 18 , ist auch bei Helmuth Plessner diese Wertigkeit des Bezugspunktes Natur schon im Titel seines Hauptwerkes: »Die Stufen des Organischen und der Mensch«, das ebenfalls 1928 erschienen und lange im Schatten der schelerschen Stufen gestanden ist, sichtbar. Und in der nämlichen Weise stellt Arnold Gehlen den Menschen in die Natur und versucht, ihn aus dem Zusammenhang mit dem Belebten in seiner spezifischen Eigenart zu begreifen. Auch im Titel seines Hauptwerkes: »Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt« (1940) zeigen sich die Natur des Menschen und die Besonderheit seiner Weltstellung aufeinander bezogen, wobei der Begriff Natur in all der Mehrdeutigkeit, die diesen Begriff kennzeichnet, erscheint: einmal als Inbegriff alles Nichtmenschlichen, also des nicht vom Menschen hervorgebrachten Seienden (im Sinne einer schon aristotelischen Bestimmung von Natur), das andere Mal in der Doppeldeutigkeit, in der von einer Natur des Menschen im Sinne der hegelschen Unterscheidung von erster und zweiter Natur (biologisch-leibliche Organisation versus Vernunft, Freiheit, Kultur etc.) die Rede ist. In dieser Fokussierung auf die Natur als Bezugspunkt der anthropologischen Bestimmung des Menschen werden das Problem der Sonderstellung des Menschen, das Problem der Unterscheidung von Mensch und Tier sowie der Bezug der Seele (bzw. des Geistes) zum Leib zu den zentralen Themen resp. Problemen dieser Anthropologie. Für die »neue Weise«, Vgl. O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ›Anthropologie‹ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main 1982, 135 f. 17 Vgl. W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1974, 419 f. 18 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 2 1965, 26. 16
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in der die Frage nach dem Menschen aufgeworfen werden soll, ist es zudem maßgebend, dass sie »auf der Grundlage der gewaltigen Schätze des Einzelwissens, welche die verschiedenen Wissenschaften vom Menschen erarbeitet haben« 19 , erfolgen soll. Im Sinne dieser Aufnahme von Ergebnissen, die sich einem empirischen, nicht spekulativen Blick auf den Menschen verdanken, steht die moderne Anthropologie im Zeichen einer Verwissenschaftlichung, die ihrer philosophischen Grundeinstellung widerspricht. Dass unter den Wissenschaften, die »über die philosophischen Fachkreise [hinaus] an einem neuen Bilde vom Wesensaufbau des Menschen arbeiten« 20 , die Biologie an erster Stelle steht, ist aus dem Zusammenhang mit der sie kennzeichnenden Wende zur Natur begreiflich, Biologie ist die Wissenschaft, die uns heute in empirisch verlässlicher Weise ein Wissen über die Natur, auch über die menschliche Natur, bereitstellt. Aus dem Widerspruch zwischen einer grundsätzlich philosophischen Fragestellung und dem Versuch ihrer Beantwortung auf dem Boden empirisch ausgerichteter Einzelforschung resultieren eine Reihe ganz spezifischer Schwierigkeiten, welche die neuzeitliche Anthropologie von Scheler an begleiten. Ganz generell wird in der anthropologischen Argumentation ein Bruch 21 , im Sinne eines Überschreitens der Empirie, sichtbar. Liebrucks zeigt an den Widersprüchen und Inkonsequenzen der gehlenschen Position, dass überall dort, wo vom Menschen die Rede ist, ganz unabhängig vom eigenen methodischen Selbstverständnis, die Ebene empirischer Forschung überschritten werden muss. Bezugspunkt für die Auseinandersetzung mit Herder ist dessen berühmte Preisschrift: »Über den Ursprung der Sprache« 22 , die Liebrucks aufnimmt, um »sie nachkantisch lesend, aus ihr [zu] lernen«. 23 Es gilt, »von unserer heutigen Situation, unserer Bewußtseinsstufe aus in seine [Herders] Fragen einzutreten« 24 , das aber nicht unbewusst, sondern in einer Weise, die sich darin, dass sie »dieses Vorgehen eigens ins Bewußtsein« hebt, als sprachlich erweist. So hat Liebrucks’ AusScheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, a. a. O., 7. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, a. a. O., 6. 21 Vgl. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 458. 22 J. G. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: ders., Sprachphilosophische Schriften, a. a. O., 1–87. 23 SuB 1, 54. 24 SuB 1, 53. 19 20
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einandersetzung mit Herder nicht den Charakter eines Berichtes, sondern den einer Antwort, ein Begriff, in dem die Sprachlichkeit seines Vorgehens angezeigt ist. Herders ein Jahrzehnt vor der »Kritik der reinen Vernunft« erschienene Preisschrift »enthält bereits Ansätze zu einem Weiterdenken auf dem durch die Kantische Kritik eingeschlagenen Wege«. Sie repräsentiert darin gegenüber Kant die »Unmittelbarkeit […] einer höheren Denkstufe« 25 , ist eben deshalb aber auch als unbeholfen, ja als dogmatisch zu qualifizieren. 26 Der Neueinsatz Herders besteht darin, die Reflexion nicht mehr auf »die Frage nach der menschlichen Erkenntnis und die Sprache«, wie sie in der Entwicklungsrichtung der Philosophie gelegen hat, »sondern auf die Sprache allein« gerichtet und dabei »Sprache nicht mehr als einen Gegenstand unter Gegenständen […,] sondern als Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände überhaupt, sofern diese Gegenstände die des Menschen sind« 27 , beschrieben zu haben. In diesem Sinn sagt Liebrucks mit Herder, dass es »die Sprache ist, die alle meine Vorstellungen muß begleiten können«, was über das im kantischen »Ich denke« ausgesprochene Prinzip aller gegenstandskonstitutiven Synthesis insofern hinausgeht, als die »Sprache […] nicht nur gegenstandskonstitutive Synthesis, sondern zugleich Gegenstand« 28 ist. In diesem Zusammenhang weist Liebrucks Heintels Ansicht, dass die Positionen von Kant (ohne Kategorie keine Gegenstände) und Herder (ohne Wort keine Welt) »gar nicht so weit entfernt« 29 voneinander liegen würden, zurück. Liebrucks bemerkt ironisch, dass er sich um eben diese kleine Entfernung bemühen will, weil in ihr eine »Unendlichkeit im Unterschied der Methode« liegt. Die Trennung »einer gegenständlichen Wissenschaftsproblematik von einer philosophischen des Sinnes«, um die es Kant geht, verfehlt die Sprache als Einheit von Gegenstand und Bedeutung: »Wo die Sprache Bedeutung ist, liegt Sinnproblematik vor, wo sie Artikulationsgebilde ist, liegt ein wirklicher Gegenstand vor.« 30 Im SuB 1, 48. Ein Umstand, auf den Liebrucks die Erfolglosigkeit von Herders Metakritik der Kritik der reinen Vernunft zurückführt. 27 SuB 1, 48 f. 28 SuB 1, 49. 29 E. Heintel, Herder und die Sprache, in: Herder, Sprachphilosophische Schriften, a. a. O., XX. 30 SuB 1, 52 f. 25 26
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Hinblick auf diesen »ungegenständlichen Gegenstand«, den Liebrucks »Sprachlichkeit des Menschen« nennt, weiß er im Denken Herders eine Dialektik angeschlagen, ohne die »auch nicht das leiseste Begreifen von Sprache möglich« ist, so ist auch im Versuch, die Sprachlichkeit des Menschen zu begreifen, die Wiedergewinnung dieser Dialektik die primäre Aufgabe. 31 Den für alle neuere Sprachforschung bahnbrechenden Neuansatz Herders bringt Liebrucks von ihrem nicht minder berühmten ersten Satz aus in Sicht: »Schon als Tier hat der Mensch Sprache« 32 . Dieser Satz Herders steht im Zusammenhang der Ursprungsfrage. In Gegenwendung zur These vom göttlichen Ursprung der Sprache bei Süßmilch, die er ablehnt, weil sie die Reduktion der Sprache auf Buchstaben impliziert, lehrt Herder ihren menschlichen Ursprung. Die Folgerung, dass der Ursprung der Sprache ein natürlicher ist, wenn der Mensch schon als Tier Sprache hat, bleibt, so veranschaulicht Liebrucks, von dem dabei vorausgesetzten Naturbegriff abhängig. Mit Blick auf eine Reihe unterschiedlicher Naturbegriffe der philosophischen Tradition, von den Griechen über Spinoza und Kant bis zum Positivismus, gibt er zu bedenken, dass es alle diese Begriffe von Natur »nicht ohne den Menschen« gibt, sodass sich die »Naturen«, von denen wir abstammen sollen, als »Kinder von uns« 33 erweisen, von denen wir gerade nicht abstammen können. Die Behauptungen eines göttlichen und eines menschlichen Ursprungs der Sprache erscheinen dort, wo »Gott und Mensch als Gegenstände genommen werden« 34 , als Alternative. Liebrucks wird Herder folgend und »ihn zugleich weiterdenkend« 35 zeigen, dass der menschliche Ursprung der Sprache die beiden anderen, den göttlichen wie den natürlichen, mit sich führt. 36 Zunächst aber gilt es, eine Reihe von Missverständnissen abzuwehren, denen Liebrucks sein Verständnis des herderschen Satzes: »Schon als Tier hat der Mensch Sprache« entgegenhält: »daß der Mensch dort, wo er sich als noch vorsprachlich ansehen möchte, immer
31 32 33 34 35 36
SuB 1, 50. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 3. SuB 1, 55. SuB 1, 54. SuB 1, 60. SuB 1, 75. A
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schon sprachlich ist. Also zum Beispiel in jeder Art seiner Bewegungen, bevor er noch spricht.« 37 Im Bewusstsein, dass Herders Position »nur in einer dialektisch schon weiter fortgeschrittenen Überlegung und Bewußtseinslage […] verständlich gemacht werden« 38 kann, hält Liebrucks weit vorausgreifend fest, dass der Mensch nicht als ein »gegenständlich vorhandener« spricht. »Er kann nur sprechen bei dieser physiologischen Ausstattung und einer Extramundanität«, die zu illustrieren Liebrucks auf die Unnatürlichkeit des Menschen als eines Wesens, »das etwas versprechen kann«, hinweist. Schon der Umstand, dass er im Sinne eines gegebenen Versprechens über alle physiologischen Veränderungen hinaus an einer Identität festhält, zeigt, dass der Mensch »den Kopf aus welcher physiologischen Ausstattung auch immer« 39 , die als solche wohl Bedingung der Möglichkeit solchen Setzens sein kann, nicht aber selbst Identität zu setzen vermag, hinausstreckt. Wenn der Mensch Sprache schon als Tier hat, muss er diese »von seiner physiologischen Ausstattung« 40 her haben. Die bestimmte Physiologie des Naturwesens Mensch (Kehlkopf, Stimmbänder etc.) ist seinem Sprechen-Können vorausgesetzt, aber »dieses Naturwesen ist nicht der Dirigent«, sondern wird vom sprechenden Menschen »in Dienstschaft« genommen. »Der Mensch ist also wohl ein natürliches Wesen, aber ein solches, das sich selbst in die Dienstschaft zu nehmen imstande ist.« 41 So zeigt Herders Satz, »daß der Mensch schon physiologisch ein geistiges Wesen ist« 42 , dabei »ist der Mensch nicht Naturwesen und auch Geistwesen, sondern als dieses bestimmte Naturwesen ist er Geist.« 43 Dass der Mensch schon als Tier Sprache hat, darf also auch nicht so verstanden werden, als würde menschliche Sprache aus tierischen Ursprüngen hervorgehen. Eine solche »Entstehung der Sprache aus vorsprachlichen Zuständen ist schon deshalb schlechterdings undenkbar, weil diese ›vorsprachlichen Zustände‹ bereits innerhalb unserer Sprache, von ihr her gesehen, diejenigen sind, die noch ohne sie sein sollen.«
37 38 39 40 41 42 43
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SuB 1, 56. SuB 1, 53. SuB 1, 54. SuB 1, 52. SuB 1, 55. SuB 1, 54. SuB 1, 55.
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Eine solche genetische Ableitung übersieht nicht nur, dass es nur innerhalb der Sprache des Menschen Vorsprachliches gibt, in ihrem Rahmen bleibt auch unerklärlich, wie »aus Sinnfreiheit Sinn entstehen« 44 soll. Als »dasjenige Licht der Welt, in dem wir leben«, verbietet die Sprache selbst eine genetische Betrachtung, also etwa die »Frage nach eine[m] Tage, an dem der Mensch zu sprechen anfing«, denn nach »einem hinter diesem Licht liegenden Ursprung zu fragen, heißt […] desjenigen Lichtes entraten zu wollen, das uns überhaupt Fragen zu stellen gestattet.« 45 Zwar haben Mensch und Tier die »Sprache der Empfindung« gemeinsam, doch ist Empfindungssprache nicht der Unterbau für menschliche Sprache, wenn diese nicht wiederum als Gegenstand betrachtet werden soll. Empfindungssprache ist »evokatorisch«, sie »tönt«. Hier liegt für Liebrucks bereits ein erster Hinweis auf die Unterscheidung von Naturlaut und Sprachlaut. 46 Herders Satz bedeutet in dieser Hinsicht, »daß zum mindesten das akustische Moment der Sprache tierisch ist«. Um Töne hervorzubringen, bedürfen wir der Physis, zum Hervorbringen artikulierter Töne aber bedarf es einer Physis, die Logos ist. Erst die Sprache als »tönendes System« 47 macht aus dem Menschen »das sympathetische Geschöpf« 48 , das ihn mit anderen verbindet. Die Tonalität der Sprache ist daher, so antwortet Liebrucks Herder, Vernunftmoment. 49 Hier hat Herders »genialer Vergleich von Mensch und Tier« 50 seinen Ort. Worauf Herders Überlegungen abzielen, sind dabei nicht die Gemeinsamkeiten, sondern die Unterschiede zwischen Tier und Mensch. Er geht davon aus, dass »der Mensch den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinktes weit nachstehe, ja daß er das, was wir bei so vielen Tiergattungen angeborene Kunstfähigkeiten und Kunsttriebe nennen, gar nicht habe« 51 . Der von der Philosophie bisher (Herder denkt dabei vor allem an Reimarus) in der Suche nach den Ursachen für diese Situation verfehlte Hauptgesichtspunkt ist dabei das, was Herder die »Sphäre der Tiere« nennt und folgend beschreibt: »Jedes Tier hat 44 45 46 47 48 49 50 51
Ebd. SuB 1, 56. Vgl. SuB 1, 57. SuB 1, 58. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 11. Vgl. SuB 1, 58. SuB 1, 59. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 15. A
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seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört, gleich eintritt, in dem es lebenslang bleibt und stirbt; nun ist es aber sonderbar, daß je schärfer die Sinne der Tiere und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis: desto einartiger ist ihr Kunstwerk.« 52 Die Sphäre der Tiere und ihre Künste zeigen sich verkehrt proportional aufeinander bezogen: »die Empfindsamkeit, die Fähigkeiten und Kunsttriebe der Tiere nehmen an Stärke und Intensität zu im umgekehrten Verhältnisse der Größe und Mannigfaltigkeit ihres Wirkungskreises,« 53 wofür etwa Biene und Spinne das Beispiel geben: »Wie wundersam ist das Insekt und wie enge der Kreis seiner Wirkung!« 54 Hier ist, wie es der an Herder anschließende Gehlen formuliert hat, »zum ersten Male deutlich die Einpassung der ›Fähigkeiten‹ der Tiere, sowohl ihrer Aktionen wie ihrer Wahrnehmungen und Instinkte, in einen begrenzten Weltausschnitt […] erkannt und ausgesprochen.« 55 Herder hat im Begriff der Sphäre vorweggenommen, was wir später etwa bei Jakob von Uexküll als »Umwelt« 56 bezeichnet und beschrieben finden. Uexküll selbst aber hat im Begriff Umwelt, wie bereits der Titel seines Werkes: »Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen« deutlich macht, auch den Menschen bruchlos miteinbezogen, d. h. auch dem Menschen eine, nämlich seine Umwelt zugeordnet, wie der Zecke die ihre, obschon ein Blick auf den Untertitel des Werkes: »Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten« 57 erkennbar macht, dass die Umwelten der Tiere für den Menschen gerade nicht über die Sinne, sondern über das Denken erschlossen sind. »Die Frage, ob menschliche Umwelt und menschliche Intelligenz, welche ihre eigene Umwelt und die der anderen begreift, aus ihrer biologischen Bindung herausgelöst werden können, hängt demnach mit dem Anspruch zusammen, dass sie nicht nur eine Umwelt neben anderen Umwelten ist, sondern ihr Rahmen und ihre Basis im Ganzen. Jede biologische Umweltinterpretation muss in letzter
Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 15 f. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 16 f. 54 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 16. 55 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt am Main 10 1974, 83. 56 Vgl. J. v. Uexküll u. G. Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Frankfurt am Main 1983. 57 Uexküll und Kriszat, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, a. a. O. 52 53
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Instanz auf einem außerbiologischen Weltbegriff ruhen. An dieser Frage setzt die Philosophische Anthropologie ein.« 58 Blickt man, den Gedanken Herders weiterverfolgend, von den solcherart charakterisierten Tieren auf den Menschen, so »ändert sich die Szene ganz« 59 . Verglichen mit dem Tier ist der Mensch »das verwaisteste Kind der Natur. Nackt und bloß, schwach und dürftig, schüchtern und unbewaffnet: und was die Summe seines Elends ausmacht, aller Leiterinnen des Lebens beraubt«, 60 er ist, wofür später wiederum Gehlen die Formel gibt, ein »Mängelwesen«. 61 Diese Charakterisierung des Menschen erinnert fast wörtlich an die, die uns der Prometheusmythos gibt. Bereits dort wird der Mensch in Abhebung vom Tier bestimmt und gezeigt, dass die natürliche Ausstattung des Tieres oder der Tiere in keiner Weise mit der des Menschen vergleichbar ist. Ich bringe in Erinnerung, dass in diesem Mythos die Lebewesen ihre Ausstattung, welche die körperliche Beschaffenheit, bestimmte Fähigkeiten, Bewaffnung, Wohnung, Nahrung usw. betrifft, durch Epimetheus erfahren, der diese, den beiden gestellte Aufgabe alleine zu lösen, vom Prometheus sich erbeten hat. Die Zuteilung dieser Spezifika, die Kennzeichen der jeweiligen Art sind, erfolgt dabei unter dem Gesichtspunkt, den Tieren ihres »Wechselverderbens Entfliehung« 62 zustande zu bringen, d. h. ihr Überleben hinsichtlich ihres Mit- resp. Gegeneinanders zu sichern. Sie erfolgt mit einem Blick auf das Naturganze, der sich sowohl auf die Harmonie zwischen Eigenschaften und Umwelt, als auch auf die Aufeinanderbezogenheit der Arten untereinander bezieht, also das Zusammenleben der Tiere, das zwar nicht in Harmonie, wohl aber in Homöostase erfolgt, durch welche sich die einzelnen Arten neben- bzw. gegeneinander behaupten können, gerade auch dann, wenn sie z. B. als Raub- und Beutetier aufeinander bezogen sind. In diesem Sinn verfährt Epimetheus, was die Ausstattung der Tiere betrifft weise, doch ganz weise ist er eben nicht, der Nachherdenkende vergisst bei dieser Ausstattung den Menschen und der das Ergebnis der Verteilung beschauende Prometheus findet den Menschen im Unterschied zu den wohl H. Plessner, Mensch und Tier, in: Gesammelte Schriften VIII. Conditio humana, hg. von G. Dux et al., Frankfurt am Main 1983, 59. 59 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 17. 60 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 18. 61 Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 20. 62 Vgl. Platon, Protagoras, in: Werke in acht Bänden, gr.-dt., übers. von F. Schleiermacher, hg. von G. Eigler, Darmstadt 1973, Bd. 1, 321 a. 58
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ausgestatteten Tieren »nackt, unbeschuht, unbedeckt [und] unbewaffnet«, so lesen wir es jedenfalls in der Fassung des Prometheusmythos, die wir in Platons Dialog »Protagoras« finden. 63 Was hier über das Wesen des Menschen inhaltlich gesagt ist, ist der Umstand, dass der Mensch nicht in der Weise des Tieres in das Ganze der Natur eingeordnet ist, dass ihm keine den Tieren vergleichbare Artbestimmtheit (Spezialisierung) zukommt oder, zugespitzt ausgedrückt, dass der Mensch nicht von einer Art ist, dass er die einzige Art ist, die keine ist. Dass weder Herder noch Gehlen diesen naheliegenden Bezug zum Prometheusmythos erwähnen, lässt vermuten, dass sie den Mythos bloß für ein Märchen halten und nicht für »eine Geschichte, die nie geschah und dennoch immer ist« 64 , wie das Sallustius ausgedrückt hat, eine Erzählung, in der Einsichten über die Grundbefindlichkeit des Menschen, seine besondere Weltstellung und das Verhältnis von Mensch und Tier ausgesprochen sind. 65 Doch zurück zu Herder und seiner Sicht der Dinge. Die »umgekehrte Proportion«, die zwischen Kunstfähigkeiten und Aufgabenbereich besteht, kann zwar auch beim Menschen wiedergefunden werden, den mangelnden Kunstfähigkeiten, den »Lücken und Mängeln« 66 entspricht die große »Welt von Geschäften und Bestimmungen« 67 , die um ihn liegt, während aber die Natur auf diese Weise jedem Tier »gab […,] was und wieviel es brauchte«, ist der Mensch so nicht lebensfähig, sollte sie also »gegen ihn die härteste Stiefmutter« 68 gewesen sein? »Mit einer so zerstreuten, geschwächten Sinnlichkeit, mit so unbestimmten, schlafenden Fähigkeiten, mit so geteilten und ermatteten Trieben geboren, offenbar auf tausend Bedürfnisse verwiesen, zu einem großen Kreise bestimmt – und doch so verwaist und verlassen […] Nein! ein solcher Widerspruch ist nicht die Haushaltung der Natur.« 69 Damit ist der Weg frei, die Überlegenheit des Menschen mit seiner Vgl. Platon: Protagoras, in: Werke in acht Bänden, a. a. O., Bd. 1, 320 b – 324 d, Zitat 321 c. 64 Sallustius, Concerning the Gods and the Universe, hg. von A. Darby Nock, gr.-engl., Cambridge 1926, § IV, 8.14, S. 9. 65 Für Arnold Gehlen gilt das schon deshalb, weil jemand, der vor der Metaphysik auf der Flucht ist, natürlich nicht im Mythos landen will. 66 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 19. 67 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 17. 68 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 19. 69 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 18. 63
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Mängellage in eins zu denken, d. h. Lücken und Mängel auf den ihm zukommenden »Vorzug der Freiheit« 70 zu beziehen und darin die tierische Organisationsform des Menschen als Ermöglichung von Sprache, Verstand, Vernunft, Besinnung, Reflexion 71 , also als Voraussetzung der dem Menschen zukommenden spezifischen Weltstellung, zu begreifen: »Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung« 72 . Was den Unterschied von Tier und Mensch betrifft, so liegt dieser bei Herder nicht »in Stufen oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Auswicklung aller Kräfte« 73 , ist also ein Unterschied nicht der Quantität, sondern der Qualität. »Es ist die ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte, die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur; oder vielmehr – es ist die einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird, die bei ihm Freiheit heißt und bei den Tieren Instinkt wird.« 74 Vernunft und Sprache liegen beim Menschen nicht in der Entwicklungsrichtung tierischer Fähigkeiten, sie werden weder als Weiterentwicklung resp. »Stufenerhöhungen der Tierkräfte« 75 verstanden, eine Vorstellung, welche die Biologie im Lichte des Evolutionismus heute mehr denn je bestimmt, noch als »abgetrennte Kraft« 76 , die, man weiß nicht woher, zu einem sonst der tierischen Organisationsform entsprechenden Organismus hinzukommt, ihm gewissermaßen von außen aufgesetzt wird. Hier wird einiges gedacht, was dann später etwa bei Scheler wieder verloren ist. In Schelers Stufentheorie finden wir ja gleich beide von Herder als ungenügend durchschauten Konzepte wieder, das der Weiterentwicklung der Tierkräfte dort, wo sich etwa, mit Blick auf seine sich in verwandelter Form beim Menschen wiederfindenden Stufen, ein zwar sehr großer, aber doch wiederum nur gradueller Unterschied »[z]wischen einem klugen Schimpansen und Edison, dieser nur als Techniker
70 71 72 73 74 75 76
Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 20. Herder ist, was die Verwendung dieser Begriffe anlangt, nicht gerade zimperlich. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 20. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 21. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 20. Ebd. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 21. A
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genommen,« 77 auftut, und das der abgetrennten neuen Kraft, in der nur dem Menschen zukommenden fünften Stufe, durch welche gerade die Aufeinanderbezogenheit von Geist und Leib nicht erklärt werden kann. In diesem Sinn hat schon Plessner gegen Scheler eingewendet, dass seinem Geistbegriff die erste Natur des Menschen äußerlich bleibt: »Die spezifische Körpergestalt der Hominiden mag eine hierbei unterstützende Rolle spielen – aufrechter Gang, Freisetzung der Hand, Zerebralisation – entscheidend ist sie nicht. Warum sollte in dieser Sicht nicht auch ein Vogelkörper Schauplatz von Triebverdrängung und Weltoffenheit sein – wenn der Geist in ihn fährt?« 78 Vom herderschen Satz her ist festzuhalten, dass der Mensch vom Tier sich nicht dadurch unterscheidet, dass er behauptet, kein Tier zu sein. Es genügt »nicht zu sagen, der Mensch sei kein Tier, sondern [es ist] zu begreifen, daß der Mensch deshalb kein Tier ist, weil er weiß, daß er Tier ist« 79 , wie Liebrucks im Anschluss an eine Stelle aus Hegels Ästhetik sagt: »Der Mensch ist Tier, doch selbst in seinen tierischen Funktionen bleibt er nicht als in einem Ansich stehen, wie das Tier, sondern wird ihrer bewußt, erkennt sie und erhebt sie, wie z. B. den Prozeß der Verdauung, zu selbstbewußter Wissenschaft. Dadurch löst der Mensch die Schranke seiner ansichseienden Unmittelbarkeit auf, so daß er deshalb gerade, weil er weiß, daß er Tier ist, aufhört Tier zu sein, und sich das Wissen seiner als Geist gibt.« 80 Eine einfache Gegenüberstellung von Mensch und Tier, die im Sinne eines »Entweder-Oder« den Charakter einer Auseinanderreißung hat, ist auf der Grundlage der hegelschen Einsicht ebenso wenig möglich wie ein aspekthaftes Abspannen der beiden widersprüchlichen Momente Tier und Nicht-Tier im Sinne eines »Sowohl-Als auch«. Der Mensch ist als Tier Nicht-Tier und als Nicht-Tier Tier. 81 Die spezifische Weise des menschlichen Inder-Welt-Seins ist nur in der Einheit beider Momente, die von einander abgetrennt und jeweils für sich genommen abstrakt bleiben, fassbar. Die Philosophie leugnet keineswegs, dass der Mensch Tier ist, bleibt aber
Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, a. a. O., 37. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., XI. 79 SuB 1, 56. 80 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders., Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hg. von H. Glockner, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964 ff., Bd. 12, 120. 81 Vgl. E. Heintel, Einführung in die Sprachphilosophie, Darmstadt 1975, 188. 77 78
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bei dieser Einsicht nicht stehen, sondern ergänzt sie durch die Einsicht, dass der Mensch nicht Tier ist, wobei Liebrucks an anderer Stelle erläutert: »daß der Mensch nur in dem Maße nicht Tier ist, als und in welchem Maße er weiß, daß und in welchem Maße er Tier ist.« 82 Mit diesem Satz aber sind wir noch nicht beim Menschen: Als Tier und NichtTier »ist er [der Mensch] zunächst eine Art, die es unter den Tieren nicht gibt, das Übertier. Der Weg zum Menschen mag darin eingeschlagen sein, aber wir sind ihn nicht zu Ende« gegangen 83 , der Mensch als Sprachwesen ist damit noch nicht in Sicht gebracht. 84 Was die »Sprachen« der Tiere betrifft, so gehören sie für Herder in den Raum der jeweiligen tierischen Umwelt: »Die Biene summt wie sie saugt, der Vogel singt wie er nistet« 85 . Anders als beim Menschen finden wir Sprache beim Tier als »Moment ihrer Verhaltensweisen« 86 , das, ohne der Subjektivität zu bedürfen, »in ihr objektives Verständigtsein mit ihren Sphären« 87 gehört. Beim Menschen dagegen ist Sprache »›Antwort‹ auf seine Bedürftigkeit«, die mit einem Wort darin besteht, »daß seine Sinne ›allgemein‹ sind.« 88 Man hat den Grundgedanken Herders immer wieder auf die SuB 3, 287. SuB 1, 56 f. 84 Wir sind noch nicht beim Menschen, haben aber bereits ein schönes Beispiel für einen philosophischen Satz vor uns, mit dem in der Wissenschaft nicht das geringste anzufangen ist. Ein Wissenschaftler wird, sofern er Biologe ist, sein Erstaunen darüber zum Ausdruck bringen, dass hier der Satz: »Der Mensch ist Tier« ausgesprochen wird, weil er bisher der Meinung war, Philosophie würde leugnen, dass der Mensch Tier ist; er wird die Aussage erfreut zur Kenntnis nehmen, insofern sie dem entspricht, was auch er über den Menschen zu sagen weiß: Der Mensch ist Tier. Dabei wird er dann aber auch stehenbleiben und, sofern wir an dem Satz, der Mensch ist nicht Tier festhalten wollen, darauf hinweisen, dass es sich hierbei um einen Widerspruch handelt. Ein solcher kommt wohl auch in der Wissenschaft vor, muss aber dort, wo er vorkommt, eliminiert werden. Unser Widerspruch hat dort nicht den Charakter einer Einsicht, sondern steht im Verdacht, ein Taschenspielertrick zu sein, der unweigerlich zur Aufforderung führen muss, uns zu entscheiden: ist der Mensch nun Tier oder nicht Tier? 85 Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 18. Das Summen der Bienen ist, wie wir heute wissen, hier nicht das geeignete Beispiel, weil diese zwar summen, aber nicht hören können, wie übrigens schon Aristoteles vermutet hat, sodass man, soweit es das Summen betrifft, hier von Sprache nicht einmal in Anführungszeichen sprechen kann. Karl von Frisch hat in seinen Arbeiten zur Sprache der Tiere, für die er den Nobelpreis erhalten hat, gezeigt, dass es Tänze sind, über die Bienen kommunizieren. 86 SuB 1, 61. 87 SuB 1, 59. 88 SuB 1, 61. 82 83
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Formel gebracht: »Vernunft ist Sprache«. 89 Diesem Satz untrennbar verbunden ist der andere, »Sprache ist Sinnlichkeit«. Herders große Einsicht besteht nach Liebrucks darin, dass im »ungegenständlichen Gegenstand« Sprache die Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit, wie sie von Descartes an die Philosophie bestimmt hat, aufgehoben ist. Er zeigt, dass die Momente Sprache, Sinnlichkeit und Vernunft so ineinander verschränkt erscheinen, dass sie nur in ihrer Bezogenheit aufeinander überhaupt begreifbar sind. »Die uns allein bekannte menschliche Sprache verlangt von ihrem Begriff her die Preisgabe des Begriffs einer Sinnlichkeit, die die Menschen in unvollkommener Weise mit den Tieren, und einer Vernunft, die die Menschen ebenfalls in unvollkommener Weise mit höheren Wesen gemeinsam haben sollten, so daß der Begriff jeweils ein die Sinnlichkeit der Tiere oder die Vernunft höherer Wesen mit umfassender Allgemeinbegriff sein könnte. Hier verschiebt sich also mit der Reflexion des Sprachproblems die herkömmliche dichotomische Topologie der Begriffe in der Selbstreflexion oder Wesensbestimmung des Menschen.« 90 Die Allgemeinheit der Sinne, welche den Menschen im Gegensatz zur spezialisierten Sinnlichkeit des Tieres kennzeichnet, ist daher die Ermöglichung der Selbstreflexion des Menschen. »Die Andersartigkeit der Sinne des Menschen ist zugleich die Andersartigkeit seiner Vernunft. Diese Andersartigkeit ist nicht mehr so etwas wie die ›Vernunft des Leibes‹, sondern diejenige eines Wesens, das nicht nur erkennt, sondern ›auch weiß, daß es erkenne, wolle und wirke‹«. 91 So gibt auch Herders »Satz von der geschwächten Sinnlichkeit des Wesens Mensch […] nur die halbe Wahrheit«, der Mensch kann auf Umwegen »die Sinnlichkeit sämtlicher Tiere wieder einholen. Dieser Umweg heißt Sprache.« 92 Auch hier folgt Liebrucks Herder, ihn zugleich weiterdenkend. In diesem Sinn bezieht Liebrucks Herders Begriff der Besonnenheit, »die die sprachliche Struktur der menschlichen Weltbegegnung ist, nämlich, daß der Mensch, indem er sich zu den ihm jeweils gewordenen Gegenständen verhält, zugleich zu sich selbst verhält« 93 , auf den hegelschen Begriff: »Besonnenheit ist nicht ein Daseiendes, das reflektiert, […] nicht eine Eigenschaft eines besonnenen Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., XXI. J. Simon, Sprachphilosophische Aspekte der neueren Philosophiegeschichte, in: ders. (Hg.), Aspekte und Probleme der Sprachphilosophie, München 1974, 27. 91 SuB 1, 62. 92 SuB 1, 61. 93 SuB 1, 62. 89 90
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Menschen, Besonnenheit ist diese Doppelreflexion [nämlich sich im Verhalten zu den Dingen immer zugleich zu sich selbst zu verhalten] als daseiende. Besonnenheit ist der existierende Widerspruch selbst.« 94 Herders Auslegung der Besonnenheit als Reflexion trägt freilich dieser »Dialektik der Besonnenheit« nicht in angemessener Weise Rechnung, sondern zeigt ihn selbst weit entfernt davon, die »Ungeheuerlichkeit seiner Entdeckung« zu ermessen. Die von Liebrucks unterschiedene erste und zweite Reflexion zeigen sich in der Reflexion, die bei Herder ihre Wirksamkeit dadurch beweist, »daß sie in dem ganzen Ocean von Empfindungen, der sie durch alle Sinne durchrauscht, eine Welle […] absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke« 95 , nicht ausreichend unterschieden. Liebrucks stellt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der zweiten Reflexion und zeigt, dass der Mensch »die Aufmerksamkeit auf die Aufmerksamkeit nur durch und mit der Sprache leisten kann.« 96 Hier kommt Sprache wiederum als tönendes System in Sicht. Der Mensch kann nur dadurch aus der ersten Aufmerksamkeit heraustreten, dass er Laute artikuliert. Im Sinne der ersten Reflexion wird ein Merkmal abgesondert, um dieser Absonderung im Sinne der zweiten Reflexion bewusst zu werden, muss dieses Merkmal »zuerst als ein neuer Gegenstand« vor dem Menschen stehen, als »der Ton, den er dabei ausstößt, auf den er dann zurückkommen kann.« 97 Dieser Sprachton ist dialektisch, er »weist auf die Sache und auf den Sprechenden zurück« 98 . Der Ton hält nicht nur die Bedeutung der abgesonderten Welle fest, er legt ebenso Zeugnis ab vom Herausrufen dieser Bedeutung. Die semantische Relation »zur Sache und, in einem Akt, zum Sprechenden« zeigt sich hier zunächst als zweistrahlig: »Kein Wort wird gesprochen, das nicht sofort von dem Sprechenden in Aufmerksamkeit genommen würde. Diese Reflexion ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ich den Gegenstand als einen menschlichen Gegenstand überhaupt vor mir habe.« 99 Am berühmten Lamm-Beispiel Herders – auch hier ist die Gewiss-
94 95 96 97 98 99
SuB 1, 63. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 24. SuB 1, 63. SuB 1, 63. f. SuB 1, 64. Ebd. A
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heit in einem akustischen Merkmal versammelt, nämlich im Blöken 100 – zeigt Liebrucks, dass im Sprachton nicht nur die Verbindung des Menschen mit der Sache, sondern auch die mit dem Mitmenschen liegt. »Die Sprache stiftet distanzierte, über den Dingen und zwischen den Menschen schwebende, Gemeinsamkeit. Sie teilt dem Partner nicht die Dinge, sondern etwas ›über‹ sie mit. Sie fügt die Ringhälften der Unmittelbarkeit der Töne und der Vermittlung ihrer Bedeutungen zusammen. Nur beides zusammen ist gemeinschaftsstiftend, niemals entweder die Unmittelbarkeit oder die Vermittlung.« 101 In diesem Schritt über Herder hinaus, bei dem sich das »gesellschaftliche Moment der Sprache […] noch recht anhangsweise behandelt« 102 findet, erscheint die sprachliche Dimension in ihrer Dreistrahligkeit, nämlich als Subjekt – Subjekt – Objekt Relation und darin auch der sprachliche Ursprung der Gesellschaft. 103 Unter den Hauptvertretern der neuzeitlichen Anthropologie ist es Arnold Gehlen gewesen, der sich auf Herder bezogen und in ihm nicht nur einen Vorgänger gesehen, sondern sein eigenes Werk geradezu als Ausführung der herderschen Grundgedanken mit zeitgemäßen Mitteln programmatisch charakterisiert hat. »Herder hat das geleistet, was jede philosophische Anthropologie […] zu leisten verpflichtet ist: die Intelligenz des Menschen im Zusammenhang seiner biologischen Situation, seiner Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bedürfnisstruktur zu sehen, d. h. ›die gänzliche Bestimmung seiner denkenden Kräfte im Verhältnis seiner Sinnlichkeit und Triebe.‹ Das menschliche Bewußtsein setzt eine besondere morphologische Ausstattung, eine besondere Bewegungsfähigkeit, Wahrnehmungsleistung und Antriebsstruktur voraus, eine ›ganz verschiedenartige Richtung und Auswickelung aller Kräfte‹. Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan, und es ist im Schema dieselbe Auffassung, die ich mit den Mitteln moderner Wissenschaft entwickeln will. Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist die Wahrheit.« 104 Wenn also Liebrucks Herders Ansatz bei der konkreten Sprache für einen riesigen, freilich nur skizzenhaft ausgeführten Entwurf hält, in Gehlens Werk
100 101 102 103 104
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Vgl. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, a. a. O., 24 ff. SuB 1, 65. SuB 1, 77. Vgl. SuB 1, 66. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 84.
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dagegen nur die detailreiche, aber auch beschränkte Ausmalung einiger Teilbereiche desselben sieht, so widerspricht dies dem Selbstverständnis Gehlens in seinem Bezug zu Herder nicht. 105 Gehlen geht davon aus, dass der Mensch ein Wesen ist, »zu dessen wichtigsten Eigenschaften es gehört, zu sich selbst Stellung nehmen zu müssen« 106 . Er ist ein Wesen, das sein Wesen deuten muss, das also von einem bestimmten Bild seiner selbst und seiner Mitmenschen her sein Leben führt und sein Verhältnis zum Mitmenschen gestaltet, und das in durchaus unterschiedlicher Weise tun wird, je nachdem, ob er sich »als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten Affen« 107 , beide begegnen uns bereits im zweiten Absatz von Gehlens erstem Hauptwerk. Was diese wesensmäßige Nichtfestgestelltheit des Menschen betrifft, schließt Gehlen an Nietzsche an, der den Menschen »das noch nicht festgestellte Tier« genannt hat: »Dieses Wort ist richtig und exakt doppelsinnig. Es meint erstens: es gibt noch keine Feststellung dessen, was eigentlich der Mensch ist, und zweitens: das Wesen Mensch ist irgendwie ›unfertig‹, nicht ›festgerückt‹. Beide Aussagen sind zutreffend und können übernommen werden.« 108 Aber nicht in Kategorien des Außermenschlichen, weder von Gott noch vom Tier her, kann der Mensch begriffen werden, er muss aus sich selbst begriffen werden. Damit ist zunächst einmal Gott verabschiedet, der Affe bleibt insofern im Spiel, als der Mensch durch den Vergleich mit dem Tier, also zumindest über die Abhebung vom Affen, sich als »ein ›Sonderentwurf‹ der Natur« 109 erweist: nicht die Ableitung des Menschen vom Tier, wohl aber der Vergleich mit diesem macht seine Unvergleichbarkeit mit jeder tierischen Lebensform sichtbar und zeigt uns, dass der Mensch »ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur« 110 ist. Wissenschaftliches Vorgehen ist für Gehlen identisch mit empirischer Analyse. 111 Dass Gehlen kein Problem darin sieht, seine Schrift »eine philosophische und wissenschaftliche« 112 zu nennen, hat seinen Grund darin, dass für ihn auch die Philosophie eine empirische Wissen105 106 107 108 109 110 111 112
Vgl. SuB 1, 341. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 9. Ebd. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 10. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 15. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 14. Vgl. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 10. Ebd. A
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schaft ist 113 , jedenfalls die Philosophie, die nicht Metaphysik ist, und eben deshalb, weil er beide zuvor schon identifiziert hat, besteht für Gehlen auch keine Veranlassung, nach dem problematischen Charakter des ›und‹ zu fragen. So sieht er sich – man möchte sagen: guten Gewissens – als Vertreter einer empirischen Philosophie, von der Bruno Liebrucks sagt, dass es sie »nicht gibt und niemals gegeben hat«, weil Philosophie in dem Wissen besteht, »daß Empirie nur von der Spekulation her erreichbar ist«. 114 Auf die Kuriosität einer »Empirischen Philosophie« kommt Gehlen einerseits durch die Identifizierung von Wissenschaft und Philosophie, andererseits durch die Abhebung seines Vorgehens von dem, was er Metaphysik nennt, einem Unternehmen, dem er »eine nur sehr bedingte Überzeugungskraft« zuspricht und damit »echte, motivbildende und die Handlungen realer Menschen bestimmende Macht« 115 abspricht. 116 Dass es nach Gehlen vor allem »das Thema ›Geist‹« ist, »welches eine metaphysische Stellungnahme herausfordert«, 117 zeigt zweierlei: zum einen, dass Gehlen trotz aller Kritik an Schelers Stufenschema an dessen Geistbegriff festhält – der Geist bleibt als Gegenstand nicht empirischer, sondern irgendwie jenseitiger Provenienz vorgestellt; und zweitens, dass Gehlen von der bekannten Karikatur von Metaphysik ausgeht, nach der diese irgendwie »jenseitige Entitäten« zum Gegenstand hat und sich insgesamt, um es mit Kant zu sagen, als »Kampfplatz« endloser Streitigkeiten charakterisieren lässt, auf dem kein Sieg je zu erringen ist. 118 Die Erfolglosigkeit ihres »jahrhundertelangen« Nachdenkens über Fragen, wie etwa das Leib-Seele Problem, ist jedenfalls ein beredtes Zeugnis dafür, dass auf diesem Wege zu keinem Ergebnis zu gelangen ist und empfiehlt dem, der hier weiterkommen möchte, die metaphysische »Fragestellung und Begriffsbildung zu suspendieren«, also »alle metaphysischen, d. h. unbeantwortbaren Fragen auszugrenzen.« 119 Damit ist alles sinnvolle Fragen
Vgl. A. Gehlen, Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg 1961, 16 f. SuB 1, 81. 115 Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 11. 116 Man ist versucht zu fragen, ob sich denn irreale Menschen durch Metaphysik motivieren lassen, oder solcherart sich Motivierende irreale Menschen sind? 117 Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 11. 118 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. 3, B XV. 119 Gehlen, Anthropologische Forschung, a. a. O., 16 f. 113 114
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auf Fragen der empirischen Wissenschaft eingeschränkt. 120 Gehlen erachtet in diesem Sinn eine »technische […] Enthaltung von der Metaphysik« als Voraussetzung dafür, den Menschen als »Forschungsgebiet, auf dem auch heute noch eine unbestimmte Zahl ungesehener und unbenannter Phänomene sich feststellen läßt«, unverstellt zu Gesicht zu bekommen. 121 Was aber hat die Philosophie dann noch für eine Aufgabe und was unterscheidet sie, wenn auch nicht prinzipiell, von der Einzelwissenschaft, und inwiefern ist es angesichts der Identifizierung beider überhaupt noch nötig resp. möglich, Philosophie und Wissenschaft terminologisch zu differenzieren? Nach Gehlen hat die Philosophie nun einmal das Thema Mensch und da sie ohne Empirie, also etwa in der Weise der Metaphysik, nur zu unverbindlichen Spekulationen zu gelangen vermag, kann die Philosophie dieses Thema nur unter Bezugnahme auf eine ganze Reihe von Einzelwissenschaften, die sich auf empirische Weise mit dem Menschen beschäftigen, in einer heute vertretbaren Weise bearbeiten: »Für das, was ich zu sagen habe, müssen sehr viele Tatsachen aus mehreren Wissenschaften übersehbar gemacht werden, und dies von einer Gesamtanschauung aus zu tun, war die eigentlich philosophische Aufgabe. Die Philosophie hat es nämlich mit bestimmten vorhandenen Sachverhalten und Gegenständen (mögen dies auch Vollzüge sein, z. B. Handlungen) zu tun, und so ist etwa ›der Mensch‹ ein Thema der Philosophie: keine der Einzelwissenschaften, die sich mit dem Menschen ebenfalls beschäftigen – Morphologie, Psychologie, Sprachwissenschaft usw. –, hat diesen Gegenstand: der Mensch, und wieder gibt es keine Wissenschaft vom Menschen ohne Berücksichtigung der Resultate, die in jenen Einzelwissenschaften liegen.« 122 Philosophie stellt die Wesensfrage, die ihr insofern verbleibt, als die Wissenschaft »Was ist?«-Fragen aus ihrem Fragenrepertoire ausgeschlossen hat und hat darüber hinaus die Aufgabe, die Ergebnisse unterschiedlichster Einzelwissenschaften zusammenzutragen, zu kommentieren und auf die Frage: »Was ist der Mensch?« zu beziehen. In dieser Zusammenschau von Ergebnissen, die sie nicht selbst gefunden hat und im Grunde auch nicht selbst überprüfen kann, kommt der Phi120 Wer unbeantwortbare Fragen stellt, darf sich nicht wundern, wenn er sich im Kreise dreht. Verwunderlich bleibt allenfalls, warum immer schon, immer noch und immer wieder solche Fragen gestellt werden. Aber das Staunen scheint Gehlens Sache nicht gewesen zu sein. 121 Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 11. 122 Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 14.
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losophie nur noch eine integrative Funktion zu, die Kompetenz, eigene Sätze über den Menschen aufzustellen, wird ihr hier nicht mehr zugestanden. In eben diesem Sinn geht es Gehlen darum, einen »leitenden Gesichtspunkt, der […] aus keiner der beteiligten Einzelwissenschaften genommen werden konnte, sondern ein philosophischer ist« 123 , als eine Art »Schlüsselthema« zu finden, das metaphysisches Fragen vermeiden und erfahrungswissenschaftliches Vorgehen ermöglichen würde: »Und als einen solchen Ansatz empfahl sich die Handlung, d. h. die Auffassung des Menschen als eines primär handelnden Wesens, wobei ›Handeln‹ in erster Annäherung die auf Veränderung der Natur zum Zwecke des Menschen gerichtete Tätigkeit heißen soll«. 124 Das Verständnis des Menschen als handelndes Wesen erlaubt es, ein einheitliches Strukturgesetz aufzuzeigen, »das alle menschlichen Funktionen von den leiblichen bis zu den geistigen beherrscht«, sodass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht mehr erst in so etwas wie Geist sichtbar, sondern »genau so schon in physischen Bewegungsformen aufweisbar« wird 125 , anders gesagt, das empirische Vorgehen verlangt die Wesensbestimmung des Menschen als eines Handelnden. Dieser Bestimmung des Menschen als handelndes Wesen bei Gehlen hält Liebrucks die Bestimmung des Menschen als Sprachwesen entgegen, der zufolge »der Mensch wohl als Sprachwesen handelt, aber niemals als handelndes Wesen schon spräche.« Die für alle weitere Behandlung von »Sprache und Bewußtsein« grundlegende Gegenthese lautet: »Handlungsfähigkeit des Menschen ist Moment innerhalb seiner Sprachlichkeit, niemals aber ist die Sprachlichkeit Moment innerhalb seiner als des handelnden Wesens.« 126 Im Anschluss an Herder macht auch Gehlen die schon im Prometheusmythos beschriebene Situation des Menschen unter dem Begriff »Mängelwesen« zum zentralen Angelpunkt seiner Anthropologie, er rekonstruiert und formuliert die entscheidenden Einsichten auf der Grundlage der wissenschaftlichen Ergebnisse des 20. Jahrhunderts: »Morphologisch ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als 123 124 125 126
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Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 13. Gehlen, Anthropologische Forschung, a. a. O., 17. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 23. SuB 1, 46 f.
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Liebrucks’ Interpretation von Herder und Gehlen
Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ. Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten und er unterliegt während der ganzen Säuglings- und Kinderzeit einer ganz unvergleichlich langfristigen Schutzbedürftigkeit. Mit anderen Worten: innerhalb natürlicher, urwüchsiger Bedingungen würde er als bodenlebend inmitten der gewandtesten Fluchttiere und der gefährlichsten Raubtiere schon längst ausgerottet sein.« 127 Der Mensch ist ein Mängelwesen, freilich nicht im Sinne einer Wesensbestimmung, er ist ein Mängelwesen nur im Vergleich mit dem Tier. Es gilt zu zeigen, dass der Mensch von Natur aus weniger ist als ein Tier, damit er als das Ganze, das er ist, mehr als ein Tier sein kann. Man setzt den Menschen fiktiv als Tier mit dem Ergebnis, dass er unvollkommen und mehr noch: nicht lebensfähig ist. Eben darin liegt die Leistung des Begriffs Mängelwesen: »die übertierische Struktur des menschlichen Leibes erscheint schon in enger biologischer Fassung im Vergleich zum Tier als paradox und hebt sich dadurch ab. Selbstverständlich ist der Mensch mit dieser Bezeichnung nicht ausdefiniert, aber die Sonderstellung bereits in enger, morphologischer Hinsicht […] markiert.« 128 So ergibt die biologische Betrachtung des Menschen, »daß der Mensch schon auf Grund seiner biologischen Natur keine nur biologische Natur sein kann« 129 , in dieser Einsicht liegt nach Liebrucks die Stärke der gehlenschen Untersuchung, ihre Grenze liegt darin, dass diese Einsicht nicht durchgehalten wird. 130 Der Tier-Mensch-Vergleich hat bei Gehlen weder den Sinn, die Überlegenheit des Menschen über das Tier zu demonstrieren noch ihn aus dem Tierreich abzuleiten. Gehlen betrachtet den Menschen als Tier, d. h. biologisch, eine biologische Betrachtungsweise darf sich aber nicht auf das Körperliche beschränken, sie muss die Existenzbedingungen des Menschen in die Fragestellung einbeziehen. 131 In diesem Sinn geht es Gehlen nicht mehr bloß um Anthropologie, sondern um »Anthropo-
127 128 129 130 131
Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 33. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 20. SuB 1, 82. SuB 1, 83. Vgl. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 16. A
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biologie«, – ein Begriff, der die Bedeutung gerade der biologischen Fragestellung für Gehlens Unternehmung eindrucksvoll unterstreicht. 132 Die anthropobiologische Betrachtungsweise führt zunächst zu einer Umkehrung. Im Gegensatz zum Tier-Mensch-Vergleich gewissermaßen alltagssprachlicher Provenienz erscheint in der Folge dieser Betrachtung der Mensch dem Tier nicht über-, sondern unterlegen. Biologisch gesehen ist der Mensch dieses nackte, unbeschuhte, unbedeckte und unbewaffnete Wesen, von dem im Prometheusmythos die Rede ist. Und angesichts dieser stiefmütterlichen Ausstattung durch die Natur, angesichts dieser biologischen Unvollkommenheit und Mangelhaftigkeit ergibt sich das Problem, wie dieses mit jedem Tier wesentlich unvergleichbare Wesen überhaupt lebensfähig ist. Die anthropobiologische Grundfrage lautet dementsprechend: »wie kann ein so schutzloses, bedürftiges, ein so exponiertes Wesen sich überhaupt am Leben erhalten?« 133 Und auch hier ist Gehlens Antwort: durch Handlung: »ein physisch so verfaßtes Wesen ist nur als handelndes lebensfähig« 134 . Darin, so zeigt Liebrucks, verweisen Gehlens eingeschränkte Fragestellung und ihr Resultat aufeinander: »Von ihr aus kann man nur zur Wesensbestimmung des Menschen als Handelnden gelangen.« 135 Der Mensch muss, um überleben zu können, »die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten« 136 , wobei der »Inbegriff der von ihm ins Lebensdienliche umgearbeiteten Natur« 137 Kultur heißt. Die menschliche Welt ist Kulturwelt 138 , der Mensch ein Kulturwesen von Natur aus. 139 Es gilt der Satz: Der Mensch überlebt, weil er Kultur hat, es gilt aber auch der Satz: Der Mensch hat Kultur einzig um zu überleben! Bei aller Fruchtbarkeit der Fragestellung nach der Überlebensfähigkeit des Mängelwesens wird der Begriff des Menschen hier insofern biologisch verkürzt und darin verfehlt, als Kultur ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Überlebensdienlichkeit gesehen ist. Interpreten, wie etwa Theodor Litt in
132 133 134 135 136 137 138 139
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Vgl. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 15. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 18 f. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 23. SuB 1, 90. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 36. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 38. Vgl. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 38. Vgl. Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 80.
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Liebrucks’ Interpretation von Herder und Gehlen
»Mensch und Welt« 140 , haben an dieser Stelle von Biologismus gesprochen und an der »anthropobiologischen« Deutung des Menschen durch Gehlen die im Tier-Mensch-Vergleich vollzogene »Angleichung nach unten hin« 141 kritisiert: »Geht sie den Weg ›von unten nach oben‹, glaubt sie schon an der Physis des Menschen das Gesetz seines Wesens ablesen zu können, dann ist die Auslegung des Nachfolgenden in eine Richtung gedrängt, in der das im tiefsten und letzten Sinne Menschliche nicht in Sicht kommen kann, weil der Gesichtspunkt der vitalen Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit die Perspektive bestimmt.« 142 Auch Liebrucks wendet gegen den Kulturbegriff Gehlens, in den Künste sowenig eingeschlossen sind wie Philosophie, ein, dass hier nicht von Welt, sondern bloß von einer vom Menschen hergestellten höheren Umwelt die Rede ist. 143 Auch gegen die hiermit im Zusammenhang stehende Ansicht, dass die »Aufgabe des Menschen […] in erster Linie darin [besteht], überhaupt am Leben zu bleiben« 144 , ist geltend zu machen, dass der Mensch keineswegs in der Weise des Tieres auf die Zwecke der Selbst- und Arterhaltung festgelegt ist. Darin, dass er reflektierend zu ihnen Stellung zu nehmen vermag, steht der Mensch, selbst dann, wenn er sich wesentlich von auf die Selbst- und Arterhaltung bezogenen Trieben und Interessen her bestimmt, dieser seiner ersten Natur anders gegenüber als das Tier in ihr. Weder die Art- noch die Selbsterhaltung schreiben menschlichem Handeln Zwecke vor. Im Herausgetretensein aus der fraglosen Insichübersichhinausvermitteltheit 145 tierischer Existenz ist der Mensch auch auf der Stufe der Natur als »kluges Tier« motiviert, dem es über das Überleben hinaus immer schon um das gute Leben geht (εὐ ζῆν). Im Spannungsraum von Überleben und gutem Leben aber kommt dem Zweck Selbsterhaltung keine Eindeutigkeit zu, ja man kann sagen, die Berufung auf das Überleben als motivierende resp. sinnTh. Litt, Mensch und Welt. Grundlinien einer Philosophie des Geistes, Heidelberg 1961. Diese zweite Auflage des Werkes enthält im Anhang Überlegungen »Zur Anthropologie A. Gehlens«, vgl. 281 ff. 141 Litt, Mensch und Welt, a. a. O., 289. 142 Litt, Mensch und Welt, a. a. O., 295. 143 Vgl. SuB 1, 91. 144 Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 63. 145 Vgl. E. Heintel, Die beiden Labyrinthe der Philosophie. Systemtheoretische Betrachtungen zur Fundamentalphilosophie des abendländischen Denkens, Wien und München 1968, 127. 140 2
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gebende Instanz bleibt gänzlich leer. Um das Überleben geht es dem Menschen dann, wenn das Leben bedroht ist, also in jenen Extremsituationen, in denen für ihn die sogenannte nackte Existenz auf dem Spiele steht, wo die alltäglichen Bedürfnisse, Triebe, Wünsche etc. aufgehoben sind bzw. in einem Ziel zusammenfallen, in dem Ziel zu überleben, d. h. im Hinblick auf das Überleben ergibt sich die bestimmte Inhaltserfüllung erst aus der bestimmten Bedrohung. Bei Robert Reininger lesen wir in diesem Sinn: »Für den Ertrinkenden wird das Leben ganz von selbst zum Oberwert aller Werte« 146 , daraus freilich folgt keineswegs auch, dass das Leben für den Menschen der höchste Wert ist, sondern, wie Reininger zeigt, dass sich Sinn- und Wertfragen nur unter seiner Voraussetzung, d. h. erst dort stellen, wo keine Lebensbedrohung vorliegt. »Nur Wertsetzungen innerhalb des Lebens, für die das Leben selbst Mittel und nicht Zweck ist, können sinngebend wirken. Diese sind aber nicht vom biologischen Standpunkte aus zu verstehen.« 147 In welcher Weise Gehlen an Herder anschließt, macht die gehlensche Interpretation der Leistungen Herders deutlich: »Es ist bewundernswert, wie Herder […] die biologische Hilflosigkeit des Menschen, seine Weltoffenheit und die ›Zerstreutheit seiner Begierden‹ in ihrem inneren Zusammenhang sieht, wie er dann auf die Frage der ›Schadloshaltung‹ kommt und an dieser Stelle dann die Sprache (Vernunft, Besonnenheit) aus diesem neugefundenen ›Charakter der Menschheit‹ ableitet, als einen ›aus der Mitte dieser Mängel‹ entstehenden Ersatz.« 148 Damit, dass er das spezifisch Menschliche als Ersatz für die Mangelhaftigkeit seiner natürlichen Ausstattung begreift 149 , hat Gehlen Herder in einer Weise interpretiert, die seine Grenzen aufzeigt: Liebrucks ist schon in seiner Herder-Interpretation über Gehlen hinaus. Liebrucks’ Auseinandersetzung mit Gehlens Werk folgt der Frage: 146 R. Reininger, Wertphilosophie und Ethik. Die Frage nach dem Sinn des Lebens als Grundlage einer Wertordnung, Wien 1946, 90. 147 Reininger, Wertphilosophie und Ethik, a. a. O., 91 f. 148 Gehlen, Der Mensch, a. a. O., 84. 149 Der hier ausgesprochene Gedanke der Kompensation ist im Rahmen der Biologie bis heute bestimmend geblieben, etwa bei Konrad Lorenz, für den ja Gehlen kein Unbekannter war. Lorenz ist im selben Jahr (1940) nach Königsberg berufen worden, in dem Gehlen, aus Königsberg kommend, nach Wien berufen wurde, und zwar auf den Lehrstuhl des 1939 emeritierten Robert Reininger. Lorenz versteht in eben diesem Sinn menschliche Moral als Kompensation für den Ausfall jener aggressionshemmenden Verhaltensmechanismen, die im Rahmen tierischen Verhaltens dafür sorgen, dass das sogenannte Böse als Gutes im Dienste der Selbst- und Arterhaltung wirksam wird.
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Liebrucks’ Interpretation von Herder und Gehlen
»Was kommt heraus, wenn das Wesen der Sprache als Handlung gesehen wird und nicht umgekehrt die Handlung als spezialisierte Sprache?« 150 Unabhängig von der Beschränkung auf den Handlungscharakter des Menschen und dem eingeschränkten Verständnis von Sprache als »Zeichen« und »Werkzeug«, das dieser mit sich führt, sieht Liebrucks die »Kraft« der gehlenschen Untersuchung im »Vergleich von Bewegung, Sprache und Wahrnehmung« 151 . Liebrucks zeigt in seiner ausführlichen Interpretation an den zentralen Begriffen der gehlenschen Position, dass das, was in ihr dem Menschen zugestanden bzw. von ihm erwartet wird, von seiner Definition als eines handelnden Wesens her gar nicht verständlich werden kann: seine Weltoffenheit 152 , die auf Bewegung zurückgeführte Wahrnehmung 153 , Hemmbarkeit der Bedürfnisse 154 , Antriebsüberschuss 155 , Entlastung 156 und anderes mehr können nur unter der Voraussetzung der Sprachlichkeit des Menschen adäquat verstanden werden. Bruno Liebrucks hat, wie vor ihm schon Hegel, jenen, die gewillt sind, von der Philosophie etwas zu lernen, empfohlen, »die Philosophen im Umhof ihrer Größe auf[zu]suchen und nicht dort, wo sie sich der Gesellschaft angepaßt haben« 157 , er geht auch selbst nach diesem Motto oder Grundsatz vor. So sind es für ihn, man ist versucht zu sagen, der Bestimmung des Menschen als Mängelwesen gemäß, auch bei Gehlen gerade die Mängel (etwa die Widersprüche in seiner Argumentation), die seine Stärke ausmachen. In diesem Sinne verdankt Liebrucks der Inkonsequenz, »daß Gehlen dort, wo er Handlung sagt, […] oft Sprache denkt […,] eine Fülle von ›Entdeckungen‹« 158 und findet in Gehlens Werk »eine Reihe von Kategorien, die ihren versteckt dialektischen
SuB 1, 341. SuB 1, 81. 152 Vgl. SuB 1, 87 ff. 153 Vgl. SuB 1, 92 ff. 154 Vgl. SuB 1, 101 ff. 155 Vgl. SuB 1, 104 ff. 156 Vgl. SuB 1, 106 ff. 157 B. Liebrucks, Wissenschaftlicher Weltumgang und Entsprachlichung, in: ders., Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, 61. Im konkreten Fall ist darüber hinaus zu bedenken, dass Anpassung gerade für eine so stark an der Biologie sich orientierende Position kein Vorwurf sein dürfte, sofern es sich dabei im Tierreich um eine der wichtigsten Überlebensstrategien handelt. 158 SuB 1, 190. 150 151
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Impuls kaum verbergen« 159 können. Man wird also im Hinblick auf diese Auseinandersetzung durchaus sagen dürfen, die Stärken oder, wenn man so will, die Tugenden der gehlenschen Position liegen in der Interpretation von Liebrucks. Was den Bezug zu den anderen Vertretern der philosophischen Anthropologie betrifft, so ist zu sagen, dass Liebrucks mit Gehlen Max Scheler und Adolf Portmann erwähnt, leider aber auch darin Gehlen zu folgen scheint, dass er Helmuth Plessner vollständig ignoriert. Hier hat das Zeitalter offenbar nicht in der nämlichen Weise zu einer Auseinandersetzung gedrängt wie im Falle Gehlens; ob eine solche Auseinandersetzung mit Plessner nicht doch fruchtbar hätte sein können, ist eine andere Frage. 160 Plessner steht, was seine kritische Besonnenheit in methodischer Hinsicht betrifft, weit über Scheler und Gehlen. Obwohl auch er die Kenntnis der Natur für eine Voraussetzung der Kenntnis des Menschen hielt, ist es ihm nicht in den Sinn gekommen, etwa das Selbstverhältnis für eine empirisch konstatierbare Tatsache auszugeben; er hat begriffen, dass er, wenn er vom Subjekt oder vom Ich spricht, das nur auf eine die Empirie transzendierende Weise tun kann. Im Gegensatz zu Gehlen hat er gewusst, dass er Philosophie betreibt und eine »empirische Philosophie« wäre wohl auch ihm ein »hölzernes Eisen« gewesen. Plessner hat gesehen, dass Gehlens Handlungsbegriff in der Bestimmung des Menschen konsequent festgehalten über ihn hinausführt 161 , er hat auf die Einseitigkeiten des Entlastungsbegriffs hingeSuB 1, 341. Wenn schon bei Gehlen die Widersprüche, die er begangen, wenn auch nicht gesehen hat, das Beste an dieser Position waren, dann kann doch eine Position, die im Versuch einer Wesensbestimmung des Menschen mit vollem Bewusstsein auf den Widerspruch zurückgreift, nicht ganz ohne Interesse sein. 161 »Mit anderen Worten: dank seiner offenen Antriebsstruktur, dank seiner zu ihr wiederum passenden Sprache ist der Mensch von biologischer Eindeutigkeit eines Verhaltens, wie es die Tiere durchweg zeigen, zu biologischer Mehrdeutigkeit emanzipiert. Das pragmatische Kleid nach behavioristischem Zuschnitt paßt ihm nicht. Menschliches Verhalten läßt sich nicht auf ein Schema bringen, nicht auf das der Kettenreflexe, aber auch nicht auf das des zweckgerichteten Handelns. Diese von Gehlen selbst ermittelte, und zwar durch Festhalten am pragmatischen Gesichtspunkt ermittelte, Emanzipation menschlichen Verhaltens vom biologisch eindeutigen Handeln, ermächtigt die Anthropologie, eben diesen von Gehlen empfohlenen Gesichtspunkt aufzugeben. Kein Malheur. Schließlich ist das der Sinn jeder versuchsweisen Einführung eines Modells oder ›Schlüsselthemas‹. Das muß nicht heißen, Gehlen habe sich widersprochen, sondern nur, daß er eine These bis an die Grenze ihrer Tragfähigkeit gebracht hat.« (Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., XVIII.) 159 160
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wiesen 162 und sich nicht gescheut, im Hinblick auf die Möglichkeit, den Menschen adäquat zu begreifen, den Begriff »dialektisch« in den Mund zu nehmen. 163 Natürlich hat auch Plessner Hegel nicht gekannt 164 , aber er hat zumindest bis vor die Dialektik geführt, wenn er die Positionalität der exzentrischen Form, gewissermaßen sehenden Auges, wie man angesichts seiner kritischen Besonnenheit in methodischer Hinsicht wird sagen müssen, durch Widersprüche bestimmt sein lässt. Die anthropologischen Grundgesetze, welche die Sphäre des Menschen explizieren: 165 1. Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit 166 , 2. Das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit 167 , 3. Das Gesetz des utopischen Standorts 168 , sind ja nichts anderes als formulierte Widersprüche. In der »Betrachtung der Gehlenschen Anthropologie« geht es Liebrucks zuletzt darum, die »Notwendigkeit der Philosophie aufzudecken« 169 , worin ein Aspekt der Perennität seines Denkens auch für unsere Gegenwart liegt, denn von der Anthropobiologie Gehlens ist nur die Biologie geblieben, offenbar in die »Schlüsselattitüde« eingetreten, 162 »Nur trägt die Auffassung der Sprache als Handlung nicht eben weit. Jeder Entlastung durch Sparen an körperlichem Arbeitsaufwand steht ein Zuwachs an Last durch die steigende Indirektheit sprachgeleiteten Verhaltens gegenüber. Was erteilt also wem Entlastung?« (Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., XVI.) 163 »Eine Biologie des Menschen ist ein doppelsinniges Unternehmen. Es muß sehr bald die Zone der Instinktreaktionen hinter sich lassen und sich hüten, aus ihrem Vorrat die Erklärung menschlichen Verhaltens zu bestreiten. Das Konzept des homo sapiens als eines in den Tierrahmen passenden und ihn sprengenden Organismus kann gerade bei voller Beachtung der Tatsache, daß es sich um ein Lebewesen handelt, nur dialektisch begriffen werden mit Hilfe der die tierische Natur bewahrend-durchbrechenden exzentrischen Position.« (H. Plessner, Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. I, hg. von L. J. Pongratz, Hamburg 1975, 295 f.) 164 Im Vorwort zur zweiten Auflage der »Stufen« sagt er dazu im Hinblick auf sichtbar gewordene Konvergenzen mit anderen Denkern: »Bei Sartre, vor allem in seinen frühen Arbeiten, und Merleau-Ponty finden sich manchmal überraschende Übereinstimmungen mit meinen Formulierungen, so daß nicht nur ich mich gefragt habe, ob sie nicht vielleicht doch die ›Stufen‹ kannten. Aber das gleiche ist mir auch bei Hegel passiert, auf den ich mich hätte berufen müssen, wären mir damals die entsprechenden Stellen bekannt gewesen. Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluß. Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt.« (Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., XXIII.) 165 Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 288 ff. 166 Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 309. 167 Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 321. 168 Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, a. a. O., 341. 169 SuB 1, 96.
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hinsichtlich der Gehlen die Philosophie an ihr Ende gekommen sah. Die Biologie war schon im 20. Jahrhundert mit dem Anspruch aufgetreten, dass sie »die für den Menschen bedeutendste Wissenschaft« 170 ist und ihm gemäß zu menschlichem Welt- und Selbstverständnis nicht bloß auf der Ebene methodischer Abstraktion beizutragen, sondern ein solches grenzüberschreitend stellvertretend für Kunst, Religion und Philosophie zu leisten berufen ist. An diesem Anspruch, als dessen maßgebliche Figur zumindest aus österreichischer Sicht Konrad Lorenz betrachtet werden kann, dürfte sich im 21. Jahrhundert, als dem »Jahrhundert der Biologie« 171 , nicht allzu viel ändern.
170 J. Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 4 1979, 19. 171 Die heute vielzitierte Wendung dürfte sinngemäß auf Aussagen des amerikanischen Zukunftsforschers John Naisbitt zurückgehen: »Biologie wird im 21. Jahrhundert den heutigen Rang von Chemie und Physik einnehmen.«
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»Handle sprachlich« – Zur Ethik bei Bruno Liebrucks 1
Die Ausführungen unter dem Titel »Handle sprachlich« sollen zeigen, dass ethisches Denken bei Bruno Liebrucks aus seinem Ansatz einer »Philosophie von der Sprache her« 2 zu entwickeln ist, d. h. es kann mitverfolgt werden, wie aus der Sprachlichkeit des Menschen die Aufforderung zu sittlichem Verhalten ableitbar wird, weil dies im Begriff »Sprachlichkeit« bereits involviert ist. In der Konzentration auf einen Gedanken – bei Liebrucks den der Sprache – und im Bewusstsein, dass in der Entsprachlichung des Menschen seine Dehumanisierung mit vollzogen wird, ist sogleich eine Analogie zu Platon auffällig: So wie Platons gesamtes philosophisches Werk, vom ersten bis zum letzten Dialog, die Frage nach dem guten bzw. gerechten Leben motiviert, das ethische Sein des Menschen und die Sorge um die Seele 3 den Angelpunkt seiner philosophischen Bemühungen bilden, ebenso hat der sprachphilosophische Ansatz bei Bruno Liebrucks im Thema »Sprache und Bewußtsein« das Anliegen, aus den Analysen zur Sprachlichkeit des Menschen zugleich die Humanität des Menschen im Sinne seiner Sittlichkeit abzulesen. Bruno Liebrucks unterscheidet sowohl historisch gesehen als auch von seinem sprachlichen Zugang zur Wirklichkeit drei Stufen im Problem der Sittlichkeit. 4 Diese drei historischen Stufen sind im Blick auf In dankbarer Erinnerung an: den Rektor der Universität Wien, Magnifizenz Univ.Prof. Dr. Alfred Ebenbauer, Herrn Univ.-Prof. Dr. Franz Ungler vom Institut für Philosophie der Universität Wien und die Emil Boral-Stiftung mit Sitz in Zürich, die mir im Studienjahr 1992/93 durch ihre Zuerkennung eines großzügig dotierten Forschungsstipendiums eine erste Beschäftigung mit der Philosophie von Bruno Liebrucks ermöglicht haben. 2 Vgl. SuB 1, 3. 3 Vgl. Platon z. B. Phaidon, in: ders., Werke in acht Bänden, gr.-dt., hg. von G. Eigler, Darmstadt 1974, Bd. 3, 82 d. 4 SuB 3, 380. 1
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die Sprache (durch seinen »Sprachblick« 5 ) eingeteilt und in Begriffen, die den Aufbau der menschlichen Rede konstituieren, formuliert: Mit Platon (der ersten Stufe) wird das Gute in einem Wort ausgesprochen: als ἀγαθόν. Das, was das Gerechte ist, wird in der Idee des Guten begründet. 6 Bei Immanuel Kant (der zweiten Stufe) wird das Gute bereits durch einen Satz bestimmt: im kategorischen Imperativ. Ein ganzer Satz wird in Anspruch genommen, um moralisches Handeln zu charakterisieren bzw. um zu wissen, »was gut und böse ist« 7 . Die dritte Stufe findet ihren Ausdruck in der Wendung: »Handle sprachlich«. Das ist formal betrachtet ebenfalls nur ein Satz, und von der Wortanzahl her gesehen antwortet Liebrucks der kantischen Formulierung in ihrer aspektreichen Aufzählung dessen, was zu berücksichtigen und wie zu handeln ist: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« 8 , in geradezu lakonischer Kürze mit einem: »handle sprachlich« 9 . Aber nicht bloß dieser in seiner Wortkargheit schlichte Satz wird für die Bestimmung des Guten benötigt, sondern die ganze Sprache als solche wird zu seiner Auslegung. Liebrucks fasst diese Stufung folgendermaßen zusammen: »Nicht ein Wort, nicht ein Satz, sondern die ganze Sprache des Menschen wird zum Zeigfeld dafür erhoben, daß und zugleich wie er sittlich handeln kann.« 10 Im dritten Band von »Sprache und Bewußtsein« wendet sich Bruno Liebrucks im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der ethischen Position von Immanuel Kant auch kurz den ethischen Implikationen seines eigenen Ansatzes zu: »Es wäre verführerisch, die Bestimmungen des sittlichen Handelns zwischen die Zeilen der ersten beiden Bände von ›Sprache und Bewußtsein‹ einzutragen.« 11 Dieser Hinweis bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. In ihnen wird versucht, SuB 1, 283. Vgl. Platon, Politeia, in: ders.,: Werke in acht Bänden, a. a. O., Bd. 4, 505 a ff. 7 SuB 3, 380. 8 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant’s Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. 4, 429. 9 SuB 3, 380. 10 Ebd. 11 SuB 3, 381. 5 6
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jene ethischen Konsequenzen zu verdeutlichen bzw. darzustellen, die aus den sprachphilosophischen Analysen von Bruno Liebrucks für seinen sittlichen Imperativ folgen. Der erste Teil widmet sich einer kurzen Rekapitulation der Hauptzüge einer »Philosophie von der Sprache her«, im zweiten Teil wird sprachliches Handeln als solches näher erläutert.
I.
Sprache und Sprachlichkeit des Menschen
Die Philosophie von Bruno Liebrucks geht von der Sprache als dem »Grundgeschehen der menschlichen Weltbegegnung« aus: Die »Sprachlichkeit des menschlichen Daseins« besteht darin, »daß der Mensch sich im Sich-verhalten zur Welt immer zugleich zu sich selbst verhält« 12 . Dieser Ansatz einer Philosophie von der Sprache her, der die Sprache ins Zentrum der »Anstrengung des Begriffs« (Hegel) stellt, versteht sich nicht als »Sprachphilosophie« im Sinne einer Teildisziplin der Philosophie oder als eine mit den Sprachwissenschaften konkurrierende Disziplin, sondern als Fundamentalphilosophie. »Was tut die Philosophie, wenn sie das Wesen der Sprache […] zu begreifen versucht«? Sie tut, »was den Wissenschaften von der Sprache ganz überflüssig erscheint: sie meditiert das, was die Sprache täglich vollzieht […] Sie entdeckt dabei, daß es für den Menschen nichts, schlechterdings nichts gibt, was nicht vorher eben durch dieses Wesen der Sprache hindurchgegangen ist. So z. B. auch das menschliche Denken. Es ist da nicht zuvor der einsame Denker, der dann noch ein übriges tut, wenn er dem anderen im Dialog seine Einsichten mitteilt. Schon als einsamer Denker hat er gesprochen, mitgeteilt, sich auseinandergesetzt. Die Dialektik der Sprache ist nicht etwas, dem der Mensch entfliehen könnte.« 13 Und so wie das Denken als sprachlicher Vorgang zu begreifen ist, so auch das sittliche Handeln. »Dem philosophischen Blick auf die Sprache ist diese weder ein dinganalog Gegebenes (Sprachwissenschaft) noch ein bloßes Kommunikationsmittel (pragmatischer Aspekt), Philosophie blickt auf die Sprache als dialektisches Phänomen in der Spannung Gegenständlich-
B. Liebrucks, Sprache und Metaphysik, in: ders., Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, 17. 13 Liebrucks, Sprache und Metaphysik, a. a. O., 21. 12
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keit – Ungegenständlichkeit« 14 . Diese der Sprache eigentümliche Dialektik ins Bewusstsein zu heben, beschreibt dabei die Aufgabe der Philosophie ebenso wie deren sprachlich-methodisches Vorgehen, das darin besteht, »die Sprache selbst in allen ihren Äußerungen zu denken« 15 – weil sie allein dasjenige Phänomen ist, »das die ganze Lehre in sich enthält, ohne daß wir noch etwas dahinter zu suchen hätten« 16 , um solcherart – wie man es als Liebrucks’ Hauptmotiv benennen kann – »einen philosophischen Geistbegriff wiederzugewinnen« 17 . Darin kommt bereits das ethische Anliegen in Sicht, geht es doch immer auch um den Anspruch, der Entsprachlichung des Menschen, und damit seiner Entmenschlichung, entgegenzuwirken. 18 Liebrucks’ sprachlich-methodisches Vorgehen korrespondiert mit dem »sprachlichen Denkstil«, von dem Hegels »Phänomenologie des Geistes« getragen ist, wie sich überhaupt »die Hegelsche Logik im Zusammenhang der Frage nach einer Philosophie von der Sprache her als das Avantgardistischste« erweist, »was bisher auf dem Gebiet nun nicht der Sprache, sondern der Logik erschienen ist« 19 , ohne darin aber einen Hegelianismus vorzuführen, »weil das Verständnis Hegels die Notwendigkeit einschließt, aus der eigenen Situation zu philosophieren« 20 . Philosophie ist im Sinne einer solchen sprachlichen Vorgangsweise im Blick auf die Tradition keine Kritik der abendländischen Metaphysik und auch kein Kommentar zu ihr, sondern eine Antwort auf dieselbe. Sprache ist diesem Ansatz gemäß kein das ›sprachbegabte Lebewesen‹ Mensch (ζῷον λόγον ἔχον – Aristoteles) unter anderen kennzeichnendes Merkmal, sondern konstitutive Voraussetzung menschlicher Wirklichkeit schlechthin – auch der scheinbar sprachlosen –, sie ist Bedingung der Möglichkeit und Medium menschlicher Weltbegegnung
W. Woschnak, Vom Sie zum Du – mehr als eine neue Konvention?, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Heft 3/1991, 264. 15 Liebrucks, Sprache und Metaphysik, a. a. O., 21. 16 SuB 1, 233. 17 SuB 1, 130. 18 Vgl. B. Liebrucks, Wissenschaftlicher Weltumgang und Entsprachlichung, in: ders., Irrationaler Logos und rationaler Mythos, a. a. O., 43. 19 Liebrucks, Irrationaler Logos und rationaler Mythos, a. a. O., Vorwort, 9. 20 B. Liebrucks, Bemerkungen zum Problem der drei Labyrinthe bei Erich Heintel im Blick auf die logische Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit, in: Überlieferung und Aufgabe. Festschrift für Erich Heintel zum 70. Geburtstag, hg. von H. Nagl-Docekal, Wien 1982, Bd. 1, 252. 14
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und Selbsterfahrung. Der Mensch wird mit Wilhelm von Humboldt als »tönendes Erdengeschöpf« 21 betrachtet. Weil uns alle Dinge nur durch die Sprache vermittelt sind 22 , ist die Hinwendung zur Sprache zugleich die Hinwendung zur Wirklichkeit. Sprache und Welt gibt es nicht ohne einander. 23 Die Ethik von der Sprache her wird daher auch fordern: »die Welt menschlich und den Menschen weltlich zu machen« 24 . Die Weltgeschichte des Menschen soll dem Menschen zu einer Menschheitsgeschichte werden. 25 Als was aber ist hier Sprache zu denken? »Einer der Hauptwesenszüge der Sprache besteht darin, daß sie weder ein reales noch ein ideales Wesen im Sinne der Metaphysik ist. Vielmehr ist sie beides in Einem, d. h. aber keines von beiden allein.« 26 Schon der Sprachlaut ist dialektisch, weil er als realer (tönender oder lesbarer), d. h. wahrnehmbarer Laut die ideale Bedeutung an ihm selbst hat. »Der Sprachlaut unterscheidet sich vom Naturlaut dadurch, daß er an ihm selbst eine Bedeutung hat, während der Naturlaut diese nur für mich, also ein Wesen, das außerhalb seiner steht, hat.« 27 Die gehörten Regentropfen (Naturlaute) haben für mich die Bedeutung der Nässe auf der Straße; aber das Wort »Regentropfen« selbst ist nicht nass; es deutet auf die Nässe hin, d. h. es bedeutet sie. Die Sprachlaute tragen als wahrnehmbare, reale Artikulationsgebilde ihre ideale Bedeutung an sich. Der Sprachlaut ist dabei keine Zusammensetzung aus Naturlaut und Bedeutung, sondern er ist als realer Laut bedeutend, d. h. zugleich ideal. »Der Wortlaut in der menschlichen Rede ist also im Gegensatz zu den Naturlauten ein Wesen, das real (als Artikulationsgebilde) und ideal (hier etwas Bestimmtes, Festgelegtes bedeutend) zugleich ist.« 28 Diesen (formallogischen) Widerspruch vermeiden zu wollen hieße nichts anderes, als das Wesen der Sprache selbst zu verfehlen. Als dialektische Einheit einander entgegen gesetzter Momente ist die Sprache »ungegenständlicher GegenVgl. SuB 1, 57. Vgl. SuB 1, 320. 23 Vgl. SuB 1, 308. 24 B. Liebrucks, Zwei Sprachstufen, in: ders., Erkenntnis und Dialektik. Zur Einführung in eine Philosophie von der Sprache her. Aufsätze aus den Jahren 1949 bis 1971, Den Haag 1972, 233. 25 Vgl. SuB 1, 50. 26 Liebrucks, Sprache und Metaphysik, a. a. O., 22. 27 Ebd. 28 Ebd. 21 22
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stand«. Sprache ist – wie Bewusst-Sein – im Zugleichsein von Prinzip und Tatsache der beständige Übergang zwischen beiden. Indem die Philosophie von der Sprache her in der Analyse des Sprachlautes die Sprache sich selbst beschreiben lässt, erschließt sie damit auch das Verständnis für klassische Fragen der Metaphysik. Mit dem Blick auf den Sprachlaut rückt nämlich das traditionelle Problem des Verhältnisses von Idealität und Realität, von Idee und Wirklichkeit, das seit Platon die Philosophie beschäftigt, in eine neue Sicht. »Wovon sprach eigentlich die große Metaphysik des Abendlandes? Glaubte sie nicht, immer vom Sein zu reden und sprach darin vielleicht doch von der Sprache selbst? [… Sprach] sie vielleicht von […] dem Logos, dem Wort, das immer vom Sein ins Wesen, von der Realität in die Bedeutung übergeht? Sobald wir zu verstehen beginnen, daß die Sprache, das jeweilige Wort der Rede, der dauernde Übergang von der Tatsache ins Prinzip, der Übergang von dem Moment ihrer selbst als einem realen, flüchtigen, verschwindenden Ding (Artikulationsgebilde) in die dauernde Idee (die Bedeutung) ist, daß die Vernichtung der Wahrnehmbarkeit des Wortes die Vorbedingung für das Erfassen des Sinnes auch nur des schlichtesten Satzes der menschlichen Rede ist, sobald wir also die menschliche Rede als die dauernd verklingende und in eben diesem Verklingen die bleibende Bedeutung konstituierend begreifen – fangen wir vielleicht an zu erfahren, daß es sich von Plato bis Hegel um das langsame Reifen eines philosophischen Gedankens handelte, der nun, in diesem Augenblick, da wir die Sprache in den Mittelpunkt der Philosophie stellen, aus seiner Verborgenheit an das Licht des Tages tritt.« 29 Zur Konstitution des Satzsinnes ist das Aussprechen der einzelnen Wörter ebenso Bedingung wie ihr sofortiges Verschwinden. Diese Notwendigkeit erweist die Rede vom Wortlaut als dem Übergang vom realen Nursein in die ideale Bedeutung selbst noch als vorläufig – als ein gegenständliches Bild der Vorstellung für einen sprachlogischen Sachverhalt. Da »[d]as Übergehen von der Realität des Artikulationsgebildes in die Idealität des Sinnes […] ein wirkliches Vergehen des Artikulationsgebildes« ist, war der ausgesprochene (reale) Laut kein (selbständiges) Sein, das in den Sinn einer Bedeutung erst übergeht, sondern als Naturlaut ist er Moment des Sprachlautes. Der Naturlaut erweist sich, immer schon gesetzter Naturlaut, also Sprachlaut gewesen zu sein, sodass man deshalb sagen muss: »Der Sinn der Sprache ist vielmehr das 29
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»Handle sprachlich« – Zur Ethik bei Bruno Liebrucks
Gewesensein der Sprache als Tatsache. Der Sinn ist nichts weiter als die aufgehobene Tatsächlichkeit des Gehörten. Der Sinn des Gehörten ist die Aufnahme eines Sachverhaltes der Wirklichkeit in die Unsichtbarkeit des Bewußtseins. Um eine solche Aufnahme vollziehen zu können, muß der Sachverhalt als Sachverhalt vernichtet (aufgehoben) sein, und er muß wiederum als verstandener Sachverhalt bewahrt (aufgehoben) sein. Er ist damit aus der Tiefe der reinen Tatsächlichkeit in die Höhe des Bewußtseins gehoben (aufgehoben), in diesem Aufgehobensein zugleich vernichtet und bewahrt.« 30 Die hegelsche Kategorie der Aufhebung 31 als Mittekategorie dialektischer Gedankenbewegung ist hier mitten im Sprachgeschehen »aufgehoben«, in ihrer dreifachen Bedeutung. Die unmittelbare menschliche Rede wird in diesem beständigen Sein und zugleich Nichtsein zum Symbol für das Leben selbst, dessen Endlichkeit darin besteht, »daß es zugleich ist und nicht ist. Es ist und ist das, was es eben noch war, nicht mehr.« 32 Das Ende haben die endlichen Dinge nicht erst an ihrem zeitlichen Ende, sodass sie eine Weile sind und später dann eben vergangen und nicht mehr sind, sondern ihr dauerndes Vergehen ist schon das Sein des Nichtseins alles Endlichen, wie Liebrucks an dieser Stelle aus Hegels »Wissenschaft der Logik« zitiert: »Das Endliche verändert sich nicht nur, wie Etwas überhaupt, sondern es vergeht; und es ist nicht bloß möglich, daß es vergeht, so daß es sein könnte, ohne zu vergehen, sondern das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben: die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes.« 33 Das erklingende Verklingen der Wörter ist das Erscheinen des Sinns der Rede. In der Sprache wird dieser Gedanke sichtbar gemacht und darüber hinaus gezeigt, dass es keinen »Übergang« von nichts bedeutenden Naturlauten in Sprache geben kann. Alle genetischen Ursprungstheorien der Sprache aus Unsprachlichem, oder des Geistes aus Ungeistigem, begehen die petitio principii, »dem Ursprung von etwas nach[zu] fragen, was selbst Ursprung allen Fragens ist« 34 . »Eine Entstehung der Liebrucks, Sprache und Metaphysik, a. a. O., 27. G. W. F. Hegel, System der Philosophie. Erster Teil. Die Logik, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hg. von H. Glockner, Stuttgart – Bad Cannstatt 1964, Bd. 8, § 96, 228 f. 32 Liebrucks, Sprache und Metaphysik, a. a. O., 25. 33 Ebd. 34 SuB 1, 51. 30 31
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Sprache aus vorsprachlichen Zuständen ist schon deshalb schlechterdings undenkbar, weil diese ›vorsprachlichen Zustände‹ bereits innerhalb unserer Sprache, von ihr her gesehen, diejenigen sind, die noch ohne sie sein sollen.« 35 Nur innerhalb der Sprache des Menschen kann es daher Vorsprachliches geben, oder umgekehrt formuliert, wo sich der Mensch noch als vorsprachlich ansehen möchte, ist er immer schon sprachlich. 36 Weil dort, wo Sprache ist, der Mensch sein muss 37 , sind mit denselben Gründen auch alle evolutionären Ursprungstheorien des Menschen aus (noch so ›komplexen‹) tierischen Vorformen, oder überhaupt des Lebens aus Anorganischem, als unhaltbar abzulehnen. Wie der Mensch schon als Tier Sprache hat 38 (Herder), so ist er gerade deshalb kein Tier, weil er weiß, dass er Tier ist 39 (Hegel), und nur in dem Grad Mensch, in welchem Grad er weiß, dass er Tier ist. 40 Alle von der vergleichenden Zoologie her ausgemachten graduellen Unterschiede zwischen Mensch und Tier haben ihren Grund in der prinzipiellen Differenz zwischen Tier und Mensch. Der Mensch ist schon von seiner Physiologie her geistiges Wesen, jene Physis, die Logos ist. 41 Deshalb hat es auch keinerlei Sinn, menschliches Handeln in Analogie zu tierischem Verhalten begreifen zu wollen, oder an ihm orientieren oder gar von ihm her legitimieren zu wollen, wie manche Biologen meinen. Die Ideologie, den Menschen als »Evolutionsprodukt« verstehen zu können, gehört mit zum Mythos der Gegenwart (Mythos hier in pejorativem Sinn verstanden) und bestätigt nur die Dringlichkeit der Wiedergewinnung eines Geistbegriffs. Der Mensch ist von Haus aus reflexives Wesen, dessen »Besonnenheit« (Herder) »Antwort« auf seine biologische Bedürftigkeit ist 42 , sodass es die Unnatürlichkeit der menschlichen Natur selbst ist, die die Sprachlichkeit des Menschen ausmacht. Besonnenheit meint dabei 35 36 37 38
SuB 1, 55. Vgl. SuB 1, 56. Vgl. SuB 1, 43. Vgl. J. G. Herder, Sprachphilosophische Schriften, hg. von E. Heintel, Hamburg 1960,
3. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: ders., Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 12, 120. 40 Vgl. SuB 1, 252. 41 Vgl. SuB 1, 58. 42 Vgl. SuB 1, 61. 39
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nicht die spezifische Eigenschaft eines besonnenen Menschen, auch nicht ein Daseiendes, das reflektiert, sondern jene »Doppelreflexion«, als die sich die sprachliche Struktur der menschlichen Weltbegegnung erweist, nämlich »daß [sich] der Mensch, indem er sich zu den ihm jeweils gewordenen Gegenständen verhält, zugleich zu sich selbst verhält« 43 . Diese Doppelreflexion ist die Aufmerksamkeit auf die dem Menschen begegnenden Dinge und die »Aufmerksamkeit auf diese seine Aufmerksamkeit«, die er »nur durch und mit der Sprache leisten kann« 44 . »Die Sprache ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß die erste [Aufmerksamkeit] überhaupt ins Bewußtsein gelangt. Wie trete ich aus der ersten [Aufmerksamkeit] heraus? Dadurch, daß ich Laute artikuliere, die nicht nur die Bedeutung [den Ausdruck des Eindrucks] geben, sondern damit zugleich von meinem Tun, dem Herausrufen dieser Bedeutung, Zeugnis ablegen. So gibt es keinen undialektischen Sprachton. Denn dieser Ton weist auf die Sache und auf den Sprechenden zurück. […] Diese Reflexion ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß ich den Gegenstand als einen menschlichen Gegenstand überhaupt vor mir habe.« 45 In diesem sprachlichen Auseinandersetzungsprozess von Mensch und Welt werden daher beide erst konstituiert. »Der Mensch ist nicht Subjekt abgesehen von dem, was ihm begegnet, sondern nur von und in den Begegnungen.« 46 Dabei wird das Gegenüber von Subjekt und Objekt in der Wahrnehmung nicht geleugnet, aber insofern als Abstraktion erkannt, als »nicht das Relationsganze der Weltbegegnung mitgedacht wird, in dem und von dem aus sie ist, was sie ist. Die Sprachlichkeit der Weltbegegnung liegt nicht in einem Subjekt, das Erfahrungen sammelt, oder in einem Objekt, das begegnet, sondern in dem relationalen Gefüge dieser Begegnung selbst, die […] wechselnde und jeweilig sich durchhaltende Relata hervorgebracht hat.« 47 Der Sprachton verbindet den Sprechenden aber nicht nur mit der Sache, sondern auch mit dem oder den anderen Menschen, sodass es die Sprache ist, die den Menschen – in der Überwindung der Isolation, in
SuB 1, 62 f. SuB 1, 63. 45 SuB 1, 64. 46 B. Liebrucks, Über das Wesen der Sprache, in: ders., Erkenntnis und Dialektik, a. a. O., 13. 47 SuB 1, 216. 43 44
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die er durch den Instinktverlust geraten ist 48 – zum Gesellschaftswesen macht. »Der Mensch spricht nicht, weil er soziales Wesen ist. Er ist soziales Wesen, weil er spricht.« 49 Der Auseinandersetzungsprozess von Mensch und Welt geschieht daher innerhalb jener Struktur, die Bruno Liebrucks als »Dreistrahligkeit der einen semantischen Relation« bezeichnet, nach der jede menschliche Rede »etwas von dem enthält, der spricht, immer etwas von dem, der angeredet ist, und immer etwas von der Sache, ›über die‹ gesprochen wird. Dieser nach drei Seiten gerichtete Grundcharakter aller menschlichen Aussagen zeigt schon die nur eingeschränkte Bedeutung der berühmten Subjekt-Objektrelation innerhalb der menschlichen Erkenntnis« 50 . Das heißt, das Ich ist nicht »als Einsamer an der Konstitution der Gegenständlichkeit der Gegenstände beteiligt, sondern immer zugleich mit […] dem Sprachpartner« 51 , sodass ihm die andringende Wirklichkeit nur in der Anerkenntnis durch den anderen Menschen zum Gegenstande wird. Aber auch er selbst wird sich »erst in dieser Anerkenntnis […] faßlich, als dieser Mensch« 52 . Der Mensch gewinnt seine Identität, ja seine Existenz nur als von und in der Sprachgemeinschaft Anerkannter. »Erst sobald zwei Menschen, die vorher nicht Menschen waren, [im Sprachlaut bzw. im Gespräch] geeinigt sind, haben sie in dieser Einigung die Anerkenntnis ihrer selbst als Selbständiger und [die Fassbarkeit ihres Gegenstandes]. Erst in der Anerkennung des Menschen erkennt der Mensch sich und die Dinge als Dinge.« 53 »Zu sich selbst gelangt der Mensch [also] nur durch Sprache, d. h. über den anderen Menschen und die Sache.« 54 Nur die Einheit dieser ganzen Bewegung – »bewußt bei den Dingen, bewußt beim Gesprächspartner, unbewußt bei sich selbst zu sein […] – ist Bewußt-Sein. […] In dieser Einheit spricht und denkt der Mensch als sprachliches Wesen« 55 . So ist der Mensch »dasjenige Wesen, das nur dadurch und in dem Maße in sich selbst ist, als es bei dem anderen Menschen und mit ihm zusammen bei der Welt ist« 56 . Die 48 49 50 51 52 53 54 55 56
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Vgl. SuB 1, 65. SuB 1, 165. SuB 1, 218. SuB 1, 233. SuB 1, 66. Ebd. SuB 3, 519. SuB 1, 16. SuB 1, 13.
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Subjekt-Objektrelation muss daher zu einer Subjekt-Subjekt-Objektrelation erweitert bzw. in die Konkretheit der Relation Mensch-MenschWirklichkeit aufgehoben werden. 57 Nur in dieser dialektischen Grundbewegung – in seinem Anderen bei sich selbst zu sein – vollzieht sich die immerwährende Menschwerdung des Menschen. »Wenn man schon von einer ›Entstehung‹ des Bewußt-Seins sprechen will, so muß man sagen, daß Bewußtsein auf dem bodenlosen Boden der Sprache erwachsen ist. Dieser bodenlose Boden heißt Geist.« 58 – »Das ist schon der Geist, der von der Entgegensetzung subjektiv-objektiv losgelöst ist, der absolute Geist.« 59 In ihm ist die wechselseitige Anerkenntnis geleistet bzw. verwirklicht.
II.
Zum Imperativ: »Handle sprachlich«
Mit den bisherigen Ausführungen darüber, was bei Bruno Liebrucks Sprachlichkeit des menschlichen Weltumganges bedeutet – wobei »sprachlich« niemals bloß sprechend heißt 60 , »als müßte man sich unter Menschen darauf beschränken [nur] miteinander zu reden« 61 – sind jene Voraussetzungen kurz in Erinnerung gebracht, von denen aus die Konsequenzen für die praktische Philosophie bzw. die ethische Dimension der Sprachlichkeit des Menschen gezogen werden sollen. Die Eingeordnetheit der menschlichen Selbst- und Welterfahrung in die Dreistrahligkeit der semantischen Relation kann für die Konzeption einer Ethik nicht folgenlos bleiben. »Immer wieder [und so auch hier] geschieht das Umschreiben philosophischer Disziplinen.« 62 Wie bei Kant das »Ich denke […] alle meine Vorstellungen [muss] begleiten können« 63 , so muss auch die Sprachlichkeit den Menschen immer begleiten können 64 , nicht nur in seinen (theoretischen) Weltbegegnungs-
Vgl. SuB 1, 364. SuB 1, 126. 59 SuB 1, 220. 60 Vgl. SuB 1, 85. 61 Woschnak, Vom Sie zum Du, a. a. O., 265. 62 SuB 1, 5. 63 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant’s Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 3, B 132. 64 Vgl. SuB 1, 144. 57 58
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weisen, sondern vor allem in seinem Handeln. Das, was der Mensch ist, nämlich Sprachwesen, soll er auch in seinem Handeln zur Wirkung und damit sich selbst zur Wirklichkeit (Sprachlichkeit) bringen. »Nur als sprachliches Wesen ist der Mensch Ich« 65 (davon war im vorigen Abschnitt die Rede), er wird »nicht durch die Geburt, sondern durch die Sprache zum Menschen« 66 . Der sittliche Imperativ, den eine Philosophie von der Sprache her an menschliches Handeln stellt, lautet daher: Handle sprachlich. Er fordert vom Menschen sprachliches Verhalten in allem, was er unternimmt. 67 Solcherart soll er »das tun, was die Sprache längst tut« 68 , sofern er im Blick auf die Sprache auf sich in allen Lebenslagen blickt. 69 Auf dem Umweg über die Sprachlichkeit ist daher die Menschlichkeit des Menschen aufzuzeigen, d. h. in der Sprachlichkeit liegt auch das Kriterium menschlicher Sittlichkeit (Humanität). Wie aber ist nun dieses »Tun« zu denken, das die Sprache vollbringt und an dem wir unser Handeln orientieren können? Weil der Mensch nicht in einer Welt ansichseiender Dinge, sondern immer in einer Welt seiner Erscheinungen lebt, die Sprache vor ihn hinstellte 70 , wird der »durch das Fehlen der Instinkte unterbrochene Kreis von Mensch zu [Mensch und] Ding […] durch den selbst hervorgebrachten Ton, der als neuer ›Gegenstand‹ in die Welt fliegt« 71 , geschlossen. In der Sprache erscheint daher die durch die menschliche Erfahrung hindurchgegangene Welt nicht, »wie z. B. in einem Gemälde, als eine zweite sichtbare Welt sondern als Welt tönender Bedeutungen« 72 . Die über den Sprachton geschaffene Verbindung verbindet ihn mit der Sache und über sie mit dem anderen Menschen. Beide Verbindungen – die zu den Dingen und die zum anderen Menschen – sind aber nicht dinglich-gegenständliche Kontakte – Sprache verbindet den Menschen nicht unmittelbar mit dem anderen Menschen oder mit der Sache 73 , sondern
65 66 67 68 69 70 71 72 73
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SuB 3, 405. SuB 2, 83. SuB 1, 155. SuB 2, 89. SuB 2, 83. SuB 1, 127. SuB 1, 65. Liebrucks, Zwei Sprachstufen, in: Erkenntnis und Dialektik, a. a. O., 231. Vgl. SuB 1, 65.
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»Sprache ist […] kontaktlose[r] Kontakt, die Beziehung, die die aufeinander Bezogenen sich gegenseitig verhalten läßt« 74 . Der Begriff »Verhaltenheit« ist in seinem Doppelsinn von entscheidender Bedeutung: er impliziert als Verhalten ein »Sich verhalten zu«, wie das Verhalten als »Sich in Distanz halten von« 75 . D. h. im sprachlichen Sich-Verhalten zeigt sich zugleich eine Verhaltenheit im Sinne einer Zurücknahme oder Zurückhaltung der Willkür, wie es sprechend immer schon geschieht. »Wenn ich [nämlich] ein Wort spreche, so handelt es sich um angehaltenes, verhaltenes Tun […] Wenn ich spreche, trete ich zurück, lasse alles so, wie es ist, gestalte praktisch technisch nichts, sondern mich selbst und meine Erfahrung, vermittelt also: erfahrene Welt.« 76 »Die Sprache verbindet die Getrennten, wie sie allerdings auch die Verbundenen trennt« 77 . Über die Vermittlung, welche die Sprache leistet, wird jene Distanz geschaffen, die eine Verbindung erst ermöglicht – die sprachliche Weltbegegnung ist distanzierend und in der Distanz, und zwar nur in ihr, verbindend. 78 Erst die Sprache ermöglicht wahrhaftes Einverständnis und damit wirkliche Verbundenheit (Innigkeit) zwischen Menschen, wie sie allerdings auch die Möglichkeit des Missverständnisses eröffnet. Die Sprachlichkeit des menschlichen Handelns erweist sich im Sinne dieses sprachlich vermittelten Zurücktretens vor der Unmittelbarkeit der Dinge und der Menschen zugleich als eine Verhaltenheit und ein Zurückhalten der eigenen Unmittelbarkeit vor ihnen 79 – die »Taten des Wortes« sind »theoretisches, gehemmtes Tun« 80 . Menschliches Handeln ist daher dann sprachlich, wenn es »›Zurückhalten der Handlung‹ und ›Handlung‹ im gewöhnlichen Verstande zugleich [ist]. Jede Handlung, die nicht ›in zögernder Eil‹ geschieht, ist unmenschlich« 81 . Indem in der Verhaltenheit des menschlichen Verhaltens das Handeln ebenfalls nur aus der dreistrahligen Grundrelation zu fassen ist, SuB 1, 185. B. Liebrucks, Imperativische Ethik, Wertethik und Sittlichkeit. Erich Heintel zum 60. Geburtstag, in: Erkenntnis und Dialektik, a. a. O., 376. 76 SuB 1, 181. 77 SuB 2, 10. 78 Vgl. SuB 1, 65. 79 Ebd. 80 SuB 1, 75. 81 SuB 1, 122. 74 75
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steht sprachliches Handeln immer »im Spannungsfeld zum anderen hin, vom anderen her und zu den zu behandelnden Widerfahrnissen« 82 . Handeln heißt zunächst: »Plan und Ausführung. Die Antwort der Wirklichkeit entspricht [aber] nicht nur dem Plan und der Ausführung der Handelnden, sondern beiden mit der ganzen Wirklichkeit, in der sie standen. Deshalb weiß kein Handelnder, was er auslöst, und so auch nicht, was er tut. Hier stecken in der Tat viele Unbekannte. In jeder Tat ist der Täter nicht nur tapfer für sich, sondern auch noch für die anderen Menschen, die er in das von ihm Veranstaltete hineinnimmt« 83 . Sprachlich handeln heißt daher auch: kommunikativ zu handeln. 84 »Der Mensch handelt […] menschlich nur dann, wenn er es in Kommunikation, ja in Rücksicht auf den anderen Menschen tut.« 85 Handeln kann der Mensch auch gegen den Menschen, »er [kann] ihn töten, ja verzehren«, sprechen aber kann ich, selbst gegen jemanden, »immer nur im Verein mit ihm« 86 . Nur Personen können miteinander sprechen. Im Gegensatz dazu ist der bloß handelnde Umgang mit dem anderen seine Behandlung als Objekt, d. h. seine Überwältigung. Der unmittelbare Zugriff auf ihn verliert den anderen als anderen aus dem Blick. Das undialektische Heraustreten der Handlung aus der Sprachlichkeit der menschlichen Weltbegegnung ist daher stets auch die Rückkehr zur Unmittelbarkeit purer Gewaltanwendung. Erst von der Sprache her wird der andere als Mensch in Sicht gebracht. 87 Im Verzicht auf das unmittelbare Nahetreten wird jene Anerkennung des anderen wirklich, die mich ihm näherkommen lässt. »Erst wo ›verhandelt‹ wird, sind wir beim Menschen« 88 . In einer Ethik von der Sprache her fordert der Mensch von sich ein Verhalten, das dem entspricht, das er »im Gespräch mit [einem gleichberechtigten] Partner immer schon üben [muss], wenn ein Gespräch überhaupt zustande kommen soll« 89 . Diese Haltung, die man im Gespräch einnimmt, wird zur Folie (zum Korrektiv) für sprachliches Handeln. SuB 1, 155. SuB 1, 17. 84 SuB 1, 119. 85 SuB 1, 98. 86 Ebd. 87 Vgl. Woschnak, Vom Sie zum Du, a. a. O., 264 f. 88 Vgl. SuB 1, 489. 89 B. Liebrucks, Ist Sprache Handlung?, in: ders., Irrationaler Logos und rationaler Mythos, a. a. O., 347. 82 83
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Von den mit Geza Révész zu unterscheidenden drei Sprachintentionen, »die imperative, die aussagende und die eigentlich sprachliche, die fragende«, beherrschen den Menschen im Umgang mit dem anderen »zunächst zwei Intentionen. Einmal die, den Mitmenschen zu einer Handlung aufzufordern, also die imperative Tendenz, dann die indikative Verhaltensweise, dem Mitmenschen etwas mitzuteilen, was nicht in seinem Gesichtsfelde liegt« 90 . Diese für die Verständigung wichtigen Intentionen bleiben aber insofern einseitig und zuletzt Abstraktionen der Sprachlichkeit (untersprachliche »Kommunikationsformen«), als nur »die Ausführung des Befehls bzw. die Entgegennahme der Anzeige, aber keine Erwiderung erwartet wird. Ein gegenseitiger sprachlicher Kontakt entsteht bei der imperativen und indikativen Sprachsituation nicht notwendig« 91 . Hier ist nicht die Handlung sprachförmig, sondern die Sprache handlungsförmig. Sprache selbst wird darin verobjektiviert, zum bloßen Mittel instrumentalisiert. Die der Sprachlichkeit des Menschen adäquate Intention wird nur in ihrer interrogativen Form, im Zwiegespräch, verwirklicht. Sprachliches Handeln zwischen Menschen muss daher als grundsätzlich dialogisches gesehen werden. Der Dialog »beruht darauf, daß ich den anderen Menschen [das Du] als Ich setze und anerkenne« 92 , was nur auf der Grundlage wechselseitigen Personseins, nicht aber im Bezug auf Sachen möglich ist. »Im Befehl [nämlich] wird der Mensch [analog zur Sprache!] untersprachlich zum Mittel gemacht. Befehle gibt es nur von Herren, denen Knechte dienen« 93 . Allein mit Blick auf die Sprache (in ihrer fragenden Intention) wird das Aufeinandertreffen von Menschen human, treten Menschen zueinander in eine menschliche Beziehung. »In der Frage ist der Befehl schon aufgehoben, es wird nicht mehr die Antwort durch eine Handlung erwartet, sondern selbst theoretisches Tun, nämlich sprachliche Äußerung. Erst im Dialog ist der Mensch ganz Mensch, weil in ihm nicht Herr und Knecht, sondern Menschen miteinander sprechen. Erst hier ist er als freies Wesen behandelt und damit überhaupt nicht mehr behandelt, sondern gefragt.« 94 Im Sinne der Aufforderung: »Handle sprachlich« ist ein Handeln
90 91 92 93 94
SuB 1, 183. G. Révész, Ursprung und Vorgeschichte der Sprache, Bern 1946, zit. nach: SuB 1, 183. SuB 1, 125. SuB 1, 183. SuB 1, 184. A
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dann sittlich zu nennen, wenn es handelnd den anderen so in den Blick nimmt, wie es im Gespräch immer schon geschieht. 95 Nur wenn wir unser Handeln an der Anerkennung des Du ausrichten, können wir von einer sprachlich zu nennenden Handlung sprechen. Immanuel Kant hat im kategorischen Imperativ den Weg dorthin beschritten (vor allem in der sog. Menschheitsformel 96 ), ihn aber nach Bruno Liebrucks noch nicht von der Sprachlichkeit des Menschen her gedacht. Zwar bestreitet Liebrucks »keineswegs den bewunderungswürdigen Ansatz [Kants] zu einer Ethik, die dem Menschen zu allen Zeiten bewußt macht, was er tun soll« – nämlich unter einem selbstgegebenen allgemeingültigen Gesetz zu handeln –, aber er bestreitet Kant, »daß die Darstellung der Emanzipation des Menschen, in der er sich als abstrakt autonomer Gesetzgeber begreift, schon die philosophische Darstellung der menschlichen Sittlichkeit ist.« 97 Liebrucks intendiert mit dem Imperativ: »Handle sprachlich« – so wie auch Kant mit dem seinen – keine »neue Moral«, sondern will, wie schon Kant, der Sittlichkeit jene Begründung geben, »die sie immer gehabt hat« 98 . Deshalb muss der kantische Imperativ, der auf der Differenz des Menschen als homo phaenomenon und homo noumenon beruht und ihn darin zum Bürger zweier Welten macht, dessen Einheit perennierendes Sollen bleibt, dialektisch umgeschrieben werden, wenn sein allgemein menschlicher Sinn erreicht werden soll. In bewusster Anknüpfung an Kant und gleichzeitiger Abhebung von ihm wird bei Bruno Liebrucks zwar »[d]ie Sprachlichkeit des menschlichen Ethos [zunächst] imperativisch in dem Satze gegeben: Verhalte dich sprachlich. [Dieser] Imperativ ist [jedoch] kein Kantischer, weil hier in den Imperativ genommen wird, was zwar erst geschehen soll, was aber, wenn auch in anderer Weise, immer schon geschieht. Dann heißt er: Nimm deine Sprachlichkeit in dein Bewusstsein auf, vor allem dort, wo du handelst« 99 – und die Szene verändert sich ganz. In einer Sittlichkeit von der Sprache her bleibt nämlich der Imperativ »nicht mehr nur imperativisch«, weshalb in der Formulierung des sprachlichen Imperativs auch das Rufzeichen am Ende des Satzes entfällt. »Der Mensch Vgl. Woschnak, Vom Sie zum Du, a. a. O., 265. Vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant’s Gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 4, 429. 97 SuB 3, 352. 98 Ebd. 99 SuB 1, 4. 95 96
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ist von Haus aus weder natürliches noch ›geistiges‹ Wesen [im Sinne der kantischen Differenz], sondern sprachlich. Als sprachliches Wesen hat er zu allen Zeiten gehandelt und zu allen Zeiten in allen Weltbegegnungsweisen gelebt […] Die Szene ändert sich [jedoch dann und] dadurch ganz, daß er seine Sprachlichkeit in sein Wissen und seinen Willen aufnimmt« 100 . Während im Bewusst-Sein seiner Sprachlichkeit die Sittlichkeit des Menschen »auf halbem Wege« schon geleistet ist: weil er nur das sein soll, was er ohnehin bereits ist: »nämlich sprachliches Wesen« 101 , bleibt dagegen die Frage der Wirklichkeit von Moralität bei Kant völlig offen: Kant kann zwar vom Maßstab des Sittengesetzes aus für jeden Fall sagen, was geschehen soll, aber für keinen, ob es je geschehen ist. 102 So wird der kategorische Imperativ, vor allem in der Zweck-Mittel-Formulierung, zum Wegweiser sprachlichen Handelns, erreicht aber nicht die Sprachlichkeit der Sittlichkeit. 103 Voraussetzung und Verwirklichung sprachlichen Handelns ist die (liebende) Identifikation des Ich mit dem Du. Für das wahrnehmende Bewusstsein resultiert daraus die widersinnige (»anstößige«) Konsequenz, »daß ich mein Leben verletze, wo ich anderes Leben verletze« 104 – eine dem Sprachblick auf das menschliche Handeln selbstverständliche Einsicht: dass ich mich selbst schädige, wenn ich vermeine, bloß dem anderen zu schaden. Jedes nicht-sprachliche Handeln spricht gegen uns, widerspricht uns als Sprachwesen, es schlägt daher auf uns zurück. Weil der Mensch handelnd nichts »aus sich herausstellen [kann,] was nicht sofort auf ihn zurückwirkte« 105 , ist so der Umgang mit dem Nächsten zugleich auch »der Umweg, der am schnellsten zur Erkenntnis meiner selbst führt. ›Um [daher] die Erkenntnis unserer Selbst zu erleichtern, ist in jedem Nächsten [und meines Umganges mit ihm] mein eigen Selbst als in einem Spiegel sichtbar‹ [Hamann]« 106 . Sofern das Sich-Verhalten zum anderen (und zu den Dingen) im Sinne der Sprachlichkeit des menschlichen Weltumganges zugleich ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten ist, hat jede Handlung notwendigerweise rückwirkende Kraft auf den Handelnden: »Sichzusichselbstverhalten 100 101 102 103 104 105 106
SuB 3, 381. SuB 1, 252. Vgl. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a. a. O., 407. SuB 3, 366. SuB 2, 276. SuB 2, 31. SuB 1, 303. A
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[ist] ein Sichselbsterzeugen« 107 . Als Sprachwesen schneidern wir uns daher das Maßkleid unseres Charakters (und unseres Schicksals) jeden Tag 108 , in jeder einzelnen Handlung und Entscheidung. Weil »Leben […] durch alle Bewußtseinslagen hindurch die Einheit [ist], in der der Mensch in der Aneignung der Welt die Aneignung seiner selbst vollzieht« 109 , gilt dieses Verhältnis von der Sprachlichkeit der menschlichen Weltbegegnung her ebenso auch in umgekehrter Richtung. Wenn Humboldt daher schreibt: »›Mir heisst, ins Grosse und Ganze wirken: auf den Charakter der Menschheit wirken, und darauf wirkt jeder, sobald er auf sich und bloss auf sich wirkt‹, so steckt darin die Einsicht, dass der Mensch, indem er sich zu sich selbst verhält, sich darin eodem actu zur Welt verhält.« 110 Diese Auffassung ist nun nicht mehr im Sinne eines (epikureischen) Egoismus oder gar Solipsismus misszuverstehen. Wieder zeigt Sprache die Dialektik auch unseres handelnden Weltumganges schon an ihr selbst, und zwar an der Identität der Gegenteile Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, wie sie schon in der Lautbewegung grundgelegt ist. Ihre Dialektik äußert sich darin, »daß sie, indem sie erzeugt wird, zurückempfunden wird« 111 . Indem in der Sprache »›das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugnis desselben zum eignen Ohre zurück. Die Vorstellung wird also in wirkliche Objectivität hinüberversetzt, ohne darum der Subjectivität entzogen zu werden‹ [Humboldt]« 112 . Jede Lautbewegung im menschlichen Sprechen geht zum anderen Menschen und zu sich selbst zurück. »Ich als Sprechender behalte die Bedeutungen, verdeutliche sie [auch] mir«, was ich jemandem erkläre, mache ich zugleich mir selbst klar: »Je mehr ich [deshalb] gebe, desto mehr empfange ich.« 113 Indem der Mensch spricht, strahlt die Sprache auf ihn zurück, zugleich zur Sache und zum Partner. Vice versa ist auch das Verstehen von Seiten des Gesprächspartners nicht ein passives Empfangen, sondern beruht auf innerer Selbsttätigkeit, er kann nur verstehen, was er selbst SuB 2, 85. SuB 1, 17. 109 SuB 1, 119. 110 B. Liebrucks, Wilhelm von Humboldts Einsicht in die Sprachlichkeit des Menschen, in: ders., Erkenntnis und Dialektik, a. a. O., 198. 111 SuB 1, 99. 112 SuB 1, 232. 113 SuB 2, 61. 107 108
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hervorbringt. »Man kann den Geist nicht aufnehmen wie einen Stein. Man empfängt ihn, indem man ihn [im Hinhören auf die Worte] erzeugt« 114 . Die Bedeutung des Gesprochenen wird ja nicht zum Gesprächspartner hinübergetragen: »Die Sprache ist nur metaphorisch als metaphorisch zu bezeichnen.« 115 Daraus wird deutlich, dass »Sprechen und Verstehen […] nur zwei Seiten des einen Sprachereignisses [sind], wobei das Verstehen auf zwei, den Sprechenden und den Partner, das Sprechen als lautes auf die Seite des Sprechenden, als leises auf die Seite des Partners als Hinhörenden verteilt ist. Der Sprechende spricht allein, er versteht sich jedoch nicht allein« 116 . Darin, dass Selbstbewusstsein anderem Selbstbewusstsein gegenübersteht, liegt so »die erste Erfahrung der Unendlichkeit durch ein Wesen, das auch endlich ist« 117 . »Im Gespräch bin ich zugleich an zwei Stellen. Ich stehe auf dem Standpunkt von mir als Sprechendem und versetze mich zugleich in den Standpunkt des Hörenden. Das geschieht in einem Akte.« 118 Deshalb haben wir in der Sprache »die Ungeschiedenheit und die Geschiedenheit der Individuen […] als Phänomen vor uns« 119 . Um den einfachsten Satz, den der Partner spricht, zu verstehen, muss ich die Identifizierung mit ihm vorgenommen haben, wie es sprachliches Handeln fordert bzw. immer schon übt. »Nur ein Wesen, das innerhalb seiner selbst außerhalb seiner selbst ist, kann sich in ein anderes ›versetzen‹ […] Nur ein Wesen, das bei sich selbst nicht bei sich selbst ist, ist [Mensch als existierender] Begriff [Hegel]. Der formale Begriff [dagegen] hält sich darin für sachlich, daß er als Begriff nicht bei der Sache, sondern bei sich selbst ist […] Sprache [erreicht] gerade erst bei diesem Beisichselbstbleiben die Dinge […] So verändert der Mensch auch die Welt, indem er bei sich selbst bleibt.« 120 »Jede Theorie, die den Menschen als Handlungswesen [und nicht als Sprachwesen] begreift, endet [nach Bruno Liebrucks daher] dort, von wo sie ausging: im Irrationalismus.« 121 Philosophie dagegen wird in der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Bewusstsein zu114 115 116 117 118 119 120 121
SuB 2, 111. SuB 2, 61. SuB 1, 233. SuB 1, 17. SuB 2, 294. SuB 2, 230. SuB 1, 127. Ebd. A
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gleich auch die Frage nach der Vermeidung der Entsprachlichung stellen, in die wir durch unseren wissenschaftlichen Weltumgang geraten sind – und darin die Voraussetzungen einer Zurücknahme der Entmenschlichung des Menschen aufzeigen.
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Leo Dorner
Zur Politischen Philosophie bei Liebrucks
I.
Demokratiezweifel im Kalten Krieg. System und Geschichte
Bruno Liebrucks verstarb wenige Jahre vor der großen weltgeschichtlichen Wende von 1989; folglich fallen seine vielfältigen philosophischen Äußerungen zur Politik und zur Weltgeschichte, sowie insbesondere auch zur Geschichte Deutschlands, in die Epoche des Kalten Krieges, der wir, wie bekannt, glücklich entronnen sind, sofern wir nämlich behaupten dürfen, aus dem Kalten Krieg wurde kein heißer, kein wirklicher Krieg, wurde nicht der Dritte Weltkrieg. Diese triviale geschichtliche Zuordnung des philosophischen Denkens von Bruno Liebrucks ist nötig, um gewisse Einseitigkeiten und Fehlurteile, Desinteressen und auch Ressentiments zu verstehen, die sein politisches Philosophieren, – oder genauer: sein dialektisch-systematisches Philosophieren über das Politische prägen. Für uns Nachgeborene ist an Liebrucks politischer Philosophie am auffälligsten ein gewisses Desinteresse, ja sogar eine gewisse offenkundige Ablehnung dessen, was die rechtsstaatliche Demokratie der Ersten Welt auszeichnet. Deren weltgeschichtlicher Siegeszug war damals allerdings noch nicht angetreten, und sofern er in Ansätzen doch schon hätte erspürt werden können – etwa an der Stagnation und den Selbstwidersprüchen des Sowjet- und Weltkommunismus – hätte er sich nicht widerstandslos und unwidersprochen mit Liebrucks politischer Philosophie in Einklang bringen lassen. Eher sei es wahrscheinlich, verkündet sinngemäß ein Satz im dritten Band von »Sprache und Bewußtsein«, dass die Gesellschaftsordnung des Westens vor der des Ostens zusammenbrechen werde. 1 Seine Philosophie des Politischen möchte, so Liebrucks, nicht »von vornherein im Dschungel der prakti»Solange wir die Geschichte des Menschen nicht aus seiner Sprachlichkeit zu denken vermögen, zeigen wir damit an, daß wir uns ›ideologisch‹ noch in einer alten Gesell-
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zierten Weltanschauungskämpfe unserer Zeit versinken« 2 – eine Maxime, die vermutlich jede Philosophie, die den Namen verdient, befolgen wird, vor allem aber eine Philosophie, die das Politische und die Weltgeschichte vom absoluten Geist her zu denken versucht, – bei Liebrucks mit und gegen Hegel. Doch ist es just diese Enthaltung von der Alltagspolitik und jener Bezug auf ein Absolutes, über das sich verbindlich denken und reden lasse, wodurch der Graben zwischen moderner Demokratie und Vernunftphilosophie geradezu unüberbrückbar geworden ist. Die moderne rechtsstaatliche Demokratie versucht sich in den Fragen von Weltanschauung, Religion und Philosophie neutral, postmetaphysisch und agnostisch zu geben, Vernunftphilosophie hingegen, die nicht im Namen eines erkennbaren Absoluten auch über das Politische philosophierte, wäre keine Vernunftphilosophie. Folglich scheint Liebrucks politische Philosophie der modernen Demokratie nur mehr Dinge sagen zu können, von denen diese ohnehin nichts (mehr) wissen möchte. Da Liebrucks seinen Versuch jedoch mit und gegen Hegel unternimmt (einem vor allem durch Wilhelm Humboldts Sprachphilosophie und die nachhegelsche Geschichte korrigierten Hegel), ergibt sich zwangsläufig, auch bei starker Abstinenz vom (Demokratie-)Politischen im engeren praktischen und rechtsstaatlichen Sinn, ein hoher Aktualitätsgrad der Liebrucks’schen Thesen und Fragen. Aus evidentem Grund: Geschichtliches muss als Teilmenge des Systematischen erscheinen, wenn das Systematische einen hohen Totalitätsgrad erreicht hat, der dem Hegelschen schwerlich zu bestreiten ist und schon daher auch dem Liebrucks’schen nicht fehlen kann. Dennoch und gerade unter dieser Prämisse, dass nämlich das Geschichtliche als Teilmenge des Systems (philosophischer Weltvernunft) erscheinen muss, gilt auch das Gegenteil: dass das Systematische als Teilmenge des Geschichtlichen erscheinen muss, weil auch dieses nicht auf seinen Verlauf verzichten kann. Aus dieser asymmetrischen Dialektik von einerseits absolutem Systemanspruch – einer politischen Philosophie, die alle politischen Erscheinungen als Realisierungen oder Verfehlungen eines leitenden Vernunftbegriffs namens »absolute Sittlichkeit« zu begreifen versucht – und andererseits nicht weniger absolutem Anspruch der Geschichte schaftsordnung befinden, die im Westen schneller verschwinden mag als im Osten.« (SuB 3, 585) 2 SuB 3, 609.
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auf Eigenbewegung resultieren wohl die meisten Widersprüche und Einsprüche – im Guten wie im weniger Guten – der Liebrucks’schen Philosophie über das Politische. 3 So sei die Bildung neuer Staaten »das ungeheure Thema unserer Tage«, zu dem jedoch von Hegel her nur zu sagen sei, dass »der Geist nur als das wirklich ist, als was er sich weiß.« 4 Diese abstrakte Auskunft durch eine typisch Hegelsche Reflexionsformel konkretisiert Liebrucks mit Hegels Definition von Staat und Staatsverfassung als eines sich wandelnden Organons bestimmter Volksgeister, die – nach Hegel – selbstverständlich als Monarchien, nicht als demokratische Volkssouveränitäten zu organisieren sind. Folglich ist nach Hegel unbedingt, nach Liebrucks offensichtlich gleichfalls, jene Staatsverfassung die beste für die jeweils geschichtlich existierenden Völker, die sich deren Geist zu geben imstande und willens ist. Und unter dieser Prämisse scheint allerdings die Frage, »welche Form, die Monarchie oder die Demokratie die bessere sey« eine müßige Frage, wie Hegel behauptete 5 , und Liebrucks Verwunderung darüber zu teilen scheint, dass moderne Staaten »alle gern mit einem Sprung demokratisch sein möchten.« 6 Obwohl also durch Vernunft nicht oder noch nicht ausweisbar sei, welche Art von Verfassung, welche Art von Staat der bessere und vernünftigere sei, strebe eine »Vielheit der aufstrebenden Völker« 7 , (blind oder verblendet?, könnte man ironisch fragen), nach Demokratie. Und obwohl die Philosophie noch nicht weiß, welche Verfassung zu empfehlen oder dass immer nur die jeweils volksgeisteigene Verfassung zu empfehlen sei, folgen die neueren Völker blind einer Empfehlung, die sich vielleicht nur einem Blindgänger der aktuellen Weltgeschichte verdankt. In der Tat also: Ein »ungeheures Thema« einer ungeheuren Frage: Woher und wozu der Siegeszug moderner Demokratie, wenn über deren politische Vernunft und Vernünftigkeit noch gar nicht (philosoWie auch die Vorstellung zweier Teilmengen, die einander enthalten sollen, widersprüchlich ist; die »Asymmetrie« von System und Geschichte deutet dies bereits an, es muss ein »von außen« für die Gesamtheit von System und Geschichte geben, das durch ein Metasystem weder erfassbar noch lenkbar ist. Vgl. Anmerkung 23. 4 SuB 3, 637 (G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [= Rechtsphilosophie] § 274). 5 SuB 3 637 (Hegel, Rechtsphilosophie § 273, Zusatz). Die Frage war also müßig nur, weil sie Hegel für sich schon beantwortet hatte. 6 SuB 3, 637. 7 Ebd. 3
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phisch) entschieden ist? Und warum demokratische Staaten über andere Formen des Staates stellen, wenn irgendwo auf dieser Erde noch Volksgeister oder andere Kulturen existieren könnten oder sogar sollten, die sich für Alternativen der modernen Demokratie entscheiden könnten oder sogar sollten? Diese unvermeidbaren Folgerungen aus Liebrucks Prämissen erhärten den Verdacht, dass Geist und Wesen der modernen Demokratie, also noch nicht jener, die sich Kant und Hegel unter Demokratie vorstellten, in Liebrucks’ politischem Denken nicht wirklich angekommen sind. Aus zwei nahe liegenden Gründen, die scheinbar völlig unabhängig von einander die Geschichte nach Hegel grundierten: einmal die Übernahme und reale Fortexistenz der Hegelschen Volksgeist-Prämisse im 19. und 20. Jahrhundert und zum andern die gewalttätige Implementierung der rechtsstaatlichen Demokratie in Deutschland nach 1945. 8
II.
Verfassung und Volksgeister. Hitler und Stalin legitim?
Liebrucks zitiert Hegel, ausgiebig bestätigend auch in dieser Frage: welche Verfassung für ein Volk bzw. dessen Staat die beste oder auch nur die zuträgliche sei, hänge allein von der Art und Höhe der Sittlichkeit ab, die den fraglichen Staaten und Völkern möglich und in ihrer geschichtlichen Realität verwirklichbar sei. Wobei Sittlichkeit bedeutet: gesellschaftlich realisierte Freiheit; Unsittlichkeit hingegen: gesellschaftlich realisierte Unfreiheit; folglich müssen jene Staaten als unsittlich angesehen werden, »die das Princip der freien Subjektivität nicht in sich zu ertragen vermögen und einer ausgebildeten Vernunft nicht zu entsprechen wissen.« 9 Es scheint, als würde damit eine Synthese aus Kantischem Moralitätssubjekt und Hegelschem Vernunftsubjekt bzw. ihrer Gesellschaften als beste und unüberbietbar vernünftige VorausIm Zuge des 19. und 20. Jahrhunderts werden beinahe alle Völker Europas (Staats) Nationen, unter welchen jedoch ein stabiles interstaatliches Gleichgewichts- oder Zentralsystem nicht organisierbar war. Auch die Nachzügler-Völker, die teils unter monarchisch-kirchlicher Dominanz, teils unter anderen Fremdherrschaften existierten, wären zu nennen. Man denke an Italien und Spanien einerseits, an die Völker des Balkans andererseits. Verständlich des Volkes Stimme heute: Kaum sind wir nun autonome Nationen geworden, sollen wir uns abermals einer »Fremdherrschaft«, nun unter dem Namen EU, ausliefern? 9 SuB 3, 637 (Hegel, Rechtsphilosophie § 273). 8
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setzung und Grundlage zur Findung und Durchsetzung bester und zuträglicher Verfassungen behauptet. Dieser Schein wäre keiner und wäre keiner gewesen, wäre da nicht noch das Sein der Volkgeister und ihrer ungleichzeitigen und eigenwilligen Entwicklungsgeschichten in Europa gewesen. Wäre der Schein keiner gewesen, weil die angesagte Synthese entweder schon Realität oder auch nur Konzept und Grundlage einer künftigen Staaten- und Völkerrealität Europas gewesen wäre, hätte die Geschichte Deutschlands und Europas gewiss einen anderen Verlauf genommen. (Auf ihrer Grundlage hätte beispielsweise Bismarck nicht an der Aufgabe, ein Gleichgewicht der Mächte in Europa und damit die Verhinderung des Ersten Weltkrieges zu erreichen, scheitern und verzweifeln müssen.) Liebrucks belegt die scheinbare Vernünftigkeit von Hegels These über die politische Prärogative der mentalen Volksverfassung beim Finden und Durchsetzen realer Staatsverfassungen an einem prominenten – Hegelschen – Beispiel. Napoleon habe den Spaniern eine Verfassung gegeben, die ihr Selbstbewusstsein übertraf. Folglich sei die Zurückweisung des politischen Importartikels vernünftig gewesen, – die Vernunft der Spanier wusste sich noch nicht frei genug, den Code Civil zu akzeptieren. 10 Sie wollte nicht, was sie nicht konnte, und sie konnte nicht, was sie nicht wollte. 11 Der Widerspruch, dass etwas, das in den Prämissen als unsittlich definiert wird, in den Folgerungen über jene spanische Ablehnung als vernünftig von Gnaden des christlich dominierten Volksgeistes und somit als sittliche Staatsvernunft behauptet wird, stört Liebrucks, in diesem Fall mit Hegel, keineswegs. Er teilt die Hegelsche Beschränkung des politischen Universalismus sittlicher und vernünftiger Monarchie oder Demokratie durch autarke Volksgeister. Der mittelalterlichen Verfassung Spaniens durfte nicht nahe getreten werden. Die Hegelsche Beschränkung scheint ihm ein vernünftiges Gesetz sogar unter extremen Umständen zu sein. »So konnte auch bei uns,« fährt Liebrucks unmittelbar anschließend fort, »die schmale Opposition des SuB 3, 635 (Hegel, Rechtsphilosophie § 274). Die geschichtliche Antinomie lautet: es ist widersinnig, einer partikular verbliebenen Volksmentalität eine universale politische Verfassung aufzwingen zu wollen; es ist aber ebenso widersinnig, dass eine weltgeschichtlich als vernünftig, weil Freiheit ermöglichende, einsehbare universale Politik vor den Geistern der zurückgebliebenen Völker (womöglich »immerwährend«) kapituliert. Die rechtstaatliche Demokratie muss sich gegen jede Kulturschranke durchsetzen und dabei jede nur mögliche Adaption nationaler und kultureller Eigenheiten durchspielen.
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20. Juli 1944 nur tragisch enden, weil das verzweifelte Nein zu den nationalsozialistischen Verbrechen dem uns in einem solchen Tiefpunkt gewordenen und von uns herbeigeführten objektiven Geist nicht entsprach.« 12 Also hätte der Anschlag vom 20. Juli 1944 mangels zureichender politischer Vernunft unterbleiben sollen? Zu dieser Konsequenz führt offensichtlich eine Lehre, die dem Volksgeist eines Staates auch dann noch als letzte politische Instanz und Legitimationsgrundlage in den Entwicklungen und Konflikten der Weltgeschichte die Stange hält, wenn dieser Geist durch seine manifeste Unvernunft und Unfreiheit zum Verhängnis nicht nur eines Volkes geworden ist. Es ist bezeichnend, dass Liebrucks in diesem Zusammenhang Marx’ Einwurf gegen Hegel zurückweist, dieser (Hegel) habe die weltgeschichtliche Trivialität übersehen, »daß die Verfassung, welche das Produkt eines vergangenen Bewußtseins war, zur drückenden Fessel für ein fortgeschrittenes werden kann« 13 . Am Argumentationskonflikt dieser Stelle können spätestens wir Nachgeborene konstatieren, dass weder eine extrem rechtshegelianische, letztlich nationalistische, noch eine extrem linkshegelianische, letztlich marxistische Auffassung von Staat, Volk und politischem Fortschritt in der Geschichte geeignet waren, die kommenden Katastrophen der Geschichte Europas und nicht nur Europas zu vermeiden. Nur Letzteres scheint auch Liebrucks’ Philosophie zu wissen; sie sucht letztlich nach einer mittehegelianischen 14 Auffassung von Staat, Volk und Weltgeschichte 15 ; seine Kritik an der selbstwidersprüchlichen Konzeption von Marx’ Staatsbegriff weist dessen Lehre als unhaltbar unfreie und daher unsittliche Lehre zurück. Ein Staat, konzipiert auf der Grundlage der Herrschaft einer Partei, mag diese auch als neues Subjekt der Weltgeschichte proklamiert sein, kann nicht einmal die Mindeststandards
SuB 3, 637. Ebd. (Marx, Frühschriften I, 40) Der falsche Universalismus des Marxismus konnte die unter Anmerkung 10 angeführte Antinomie nicht lösen, im Gegenteil: die Fremdherrschaften des Weltkommunismus wurden von den unterjochten Nationen und Völkern noch bedrückender erfahren als jene der Habsburger und des osmanischen Imperiums. 14 Schon dieser Terminus konnte sich mangels Realität nicht bilden. 15 Folglich verweisen die weltgeschichtlichen Problemlösungen der Zukunft: Zusammenbruch des Kommunismus und Aufhebung der Nationalstaaten in transnationale Verbünde oder Kontinental-Staaten sowie Angleichung der Zweiten (islamischen) an die Erste Welt auf eine metahegelianische Philosophie. 12 13
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jener freien Gesellschaft garantieren, von der in Hegels Definition der Sittlichkeit die Rede war. Wenn dies für die russische Revolution gilt, dann, so sollte man meinen, müsse es auch für die nationalsozialistische Revolution und für das nationalsozialistische Deutschland gelten. Dennoch ist für Liebrucks der Aufstieg Hitlers zur Macht und Führung des deutschen Staates nicht nur legal, er sei auch legitim gewesen. 16 Diese Aussage überrascht, da an Liebrucks eindeutigen Urteilen – nach 1945 – über das Verbrecherische von Hitler-Deutschland kein Zweifel besteht. Überdies wird auch dem Aufstieg Stalins Legitimität zugesprochen. 17 Verbrecherisch und dennoch legitim? 18 Um diesen Widerspruch in der politischen Philosophie Liebrucks zu begreifen, ist an einige zentrale Punkte seiner Lehre von der »absoluten Sittlichkeit« zu erinnern. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt an der gleichnamigen in Hegels Rechtsphilosophie, setzt aber an die Stelle von Hegels wirklicher oder vermeintlicher Vergötzung des Staates eine radikale Kritik von Begriff und Realität des Staates, – bis hin zur Forderung einer Abschaffung des Staates, weil dieser durch die Geschichte nach Hegel schlechthin diskreditiert, als Verbrechen an Mensch und Menschlichkeit durchschaubar geworden sei.
III. Zur Tragödie der absoluten Sittlichkeit Einerseits sei mit Hegel daran festzuhalten, dass nur innerhalb des Staates absolute Sittlichkeit als RECHT möglich sei; als gelebte und freie »Hegel ist der Ansicht gewesen, daß die bürgerliche Gesellschaft durch einen Staat in den zu ihr gehörigen Schranken gehalten werden könnte, daß der Staat die bürgerliche Gesellschaft zwar bändigen, aber nicht aufheben müßte. Diese Ansicht ist heute überholt, weil die bürgerliche Gesellschaft gezeigt hat, daß sie eine Gestalt wie Hitler legitim, nicht nur legal zur Macht bringen kann. Die bürgerliche Gesellschaft gehört der Reflexionsstufe der Philosophie an.« (SuB 3, 607, Hervorhebung L. D.) 17 »In unserer Zeit gab es vornehmlich zwei Staatsverbrecher, den von der bürgerlichen Gesellschaft, ja mit den Verbrechen der Korporationen legitim in die Macht gesetzten Hitler und den von denen, die Marx zu folgen vorgaben, in die Macht gesetzten Stalin.« (SuB 3, 610) 18 War die deutsche Revolution legal, dann natürlich auch die bolschewistische. Gegen Carl Schmitts These von der Nichtlegalität von Ermächtigungsgesetzen, die den Sieger der Revolution als kommissarischen Diktator einsetzte, wurden viele Argumente beigebracht, ohne die naive Bestätigung durch den damaligen Rechtspositivismus zu teilen. Vgl.: V. Hösle, Moral und Politik, München 1997, 654. 16
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Einheit von Familie, Recht, Gesellschaft und Staat. Der Hegelsche Staat habe zwar noch nicht den sprachlich verfassten Menschen zu seiner Grundlage, Zielsetzung und Mittelpunkt, aber er lasse das revolutionäre Konzept eines neuen Staates mit neuen Menschen prinzipiell zu. Diesen »Liebrucks-Staat«, wie man ihn nennen könnte, konnte aber Hegel nicht erkennen, noch gar Vorschläge zu seiner Realisierung machen, weil er die Verbrechen der untersprachlichen Staaten- und Gesellschaftsrealitäten von Monarchie und Demokratie, nicht gesehen habe. Nicht gesehen oder nicht vorausgesehen habe? Im ersten Fall hätte Hegel den Makel an seinem System von Familie, Gesellschaft und Staat nicht erkennen können, weil er von einem untersprachlichen Begriff des Menschen ausging. Im zweiten Fall konnte er nichts von den kommenden Verbrechen sehen und erkennen, weil Voraussehen kein Akt vernünftigen Philosophierens sein kann. Sofern aber die Rechtsphilosophie Hegels, wie schwerlich zu leugnen ist, Ausgangspunkt oder auch nur »Gegenanker« der nationalen und marxistischen Staatskonzepte des 19. Jahrhunderts war, wäre sie doch mitschuldig an den gekommenen Katastrophen. Mitschuldig auch an der von Liebrucks total pessimistisch konstatierten Tatsache, dass die modernen Staaten ausnahmslos »defiguriert« und obsolet seien, nicht nur durch »Verbrechen nach außen, sondern auch nach innen, gegen die eigenen Staatsmitglieder.« 19 Anders formuliert: Sind die Verbrechen der bürgerlichen Gesellschaft, die Hegel nicht gesehen hat, seiner Konzeption mit zuzuschreiben, und ist diese Konzeption legitim, dann ist es auch legitim, durch legitime Korporationen den vorhandenen Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat zu verwandeln. 20 Und zwar nicht nur einmal oder zweimal, sondern immer wieder. 21 Und diese sich reproduzierenden Verwandlungen könnten nicht einmal als nichtvernünftig beurteilt werden, weil sie unausweichlich als politische Vernunft und deren permanente Tragödie erkennbar seien. 22 »Das haben Hitler und Stalin vorgeführt. Sind also die Staaten, in ihrem Verhältnis nach innen wie zueinander, heute sittlich endgültig kompromittiert, so ist zu fragen, was es denn für ein Staat ist, den Hegel als den Gang Gottes in der Welt ansieht.« (SuB 3, 613) 20 Selbstverständlich mit dem Anspruch, den endgültigen Gerechtigkeitsstaat zu errichten, sei es als Tausendjähriges Reich, sei es als Klassenlose Gesellschaft. 21 Reine Demokratien, unterrechtsstaatliche Mehrheitsdemokratien müssten immer wieder in Diktaturen umschlagen; Monarchien immer wieder in Tyranneien. 22 Liebrucks schließt sich der Ansicht Hegels an, dass die Weltgeschichte als Tragödie der 19
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Liebrucks schwankt zwischen beiden Auffassungen: einmal wird zugegeben, dass Hegel nicht sehen konnte, was nach ihm geschah, aber zum anderen wird schon an der Hegelschen Vergötzung des Staates ersichtlich gemacht, dass an seiner Konzeption von »absoluter Sittlichkeit« entweder ein materialer Mangel oder nur der formale einer noch allzu formal gefassten absoluten Sittlichkeit zu kritisieren sei. Da jedoch Unrechtsstaaten nach Hegel als unvernünftig und unsittlich deklariert werden müssen, kann nicht der Vernunftstaat Hegels für jene Verwandlungen verantwortlich gewesen sein. In dieser prohegelschen Perspektive waren es lediglich kontingente geschichtliche Nötigungen und katastrophale Entwicklungen, durch keine Philosophie erdenk- und vorhersehbare, die von außen – also aus dem sich bewegenden Abgrund Geschichte – an den Hegelschen Staats-, Gesellschafts- und Menschenbegriff herantraten. 23 Und diese Mächte – Hegel kannte weder den modernen Parteien- und Massenstaat noch den modernen Sozial- und Wohlfahrtstaat – haben jene verbrecherischen Korporationen ermöglicht, die durch legale Revolutionen legale Unrechtsstaaten schufen. Fällt also der Geschichte die letzte Legitimierungsinstanz zu, ist jeweils legitim, was diese hervorbringt; 24 fällt aber der Vernunft die letzte Legitimierungsinstanz zu, ist deren Orakel zu befragen, wie sie es denn meine mit dem Fortgang ihrer systematischen Entwicklung – von Gerechtigkeits-, Freiheits- und Vernunftkategorien. Für Liebrucks ist die Hegelsche Philosophie ein solches Orakel, das er zu neuem Sprechen, zu einer neuen Philosophie des Menschen und damit des Politischen animieren möchte. Er möchte den Kreislauf der Tragödie namens Weltgeschichte durchbrechen, den Zyklus der bisher als notwendig behaupteten Verbrechen von Gesellschaft und Staat beenden und durch eine neue Fassung der »absoluten Sittlichkeit« eine politische Philosophie absoluten Sittlichkeit die Tragödie des Absoluten selbst sei: »Es ist dieß nichts Anderes als die Aufführung der Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt: daß es sich ewig in die Objektivität gebiert, in dieser seiner Gestalt hiermit sich dem Leiden und dem Tod übergiebt, und sich aus seiner Asche in die Herrlichkeit erhebt.« (SuB 3, 82; zitiert nach Glockners Hegel-Ausgabe Bd. I., 500) 23 Dieses »von außen« bestätigt die Grenze der auf Anmerkung 3 behaupteten asymmetrischen Dialektik zwischen System und Geschichte, Vgl. Anmerkung 3: Über die Unmöglichkeit eines Metasystems von System und Geschichte. (Begriff und Geist qua Geschichte sind durch kein Vernunft-System jemals deckungsgleich vor- oder abzufertigen.) 24 Die jeweilige Siegerjustiz wäre die jeweils höchste und gerechte, – bis zum nächsten Ablaufdatum. A
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auf den Weg bringen, die fähig sein soll, als neue Utopie Weltrevolution zu machen oder wenigstens anzuregen. 25
IV. Zur Überwindung des Hegelschen Staatsbegriffs Dies sei möglich durch eine Revolution der Denkungsart, die innerhalb des Hegelschen Systems vorzunehmen sei, ein Konzept, das an vormalige Versuche, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, erinnert. Diesmal auf fundamentale Sprachfüße, weil die offenkundigen Schwächen und Irrtümer der Realphilosophien Hegels – vornehmlich der Geschichtsphilosophie, Rechtsphilosophie, aber auch der Ästhetik – nur von den Fundamentalwerken her – der »Wissenschaft der Logik« und der »Phänomenologie des Geistes« – unter Adaption der Humboldtschen Sprachphilosophie – zu korrigieren wären. 26 Korrekturbedürftig, ja völlig unhaltbar sei Hegels rechtsphilosophische These, dass »das staatliche Zusammenleben der Menschen das höchste für sie erreichbare ist.« Während Hegel noch glauben konnte, dass die Freiheit des Menschen allein im Staat »zu ihrem höchsten Recht« komme, sei dieser Glaube, auch wenn Hegel dabei den Staat zugleich als Weltgeschichte denke oder gar die Weltgeschichte unter den Staat subsumiere, für uns »gegenstandslos« geworden. 27 Eine unverschämte Vergötzung des Staates sei zu beanstanden, die Hegel jedoch gegen seine eigene Philosophie, gegen den Erst- und Zielbegriff seines Systems, also gegen den absoluten Geist, aufgestellt habe. Weder habe der Staat als Endzweck das »höchste Recht gegen die Einzelnen«, noch sei es legitim von diesen zu fordern, es sei »deren höchste Pflicht, Mitglieder des Staates zu seyn.« 28 Weil im höchsten RECHT der höchsten Sittlichkeit die Rechte und Pflichten der Familie, des positiven Rechtes (Legalität 29 ) und der GesellLiebrucks zahllose emphatische Aufrufe in dieser Richtung lassen sich vielleicht so zusammenfassen: – die Geschichte der Menschheit war bisher; nun soll die Geschichte des Menschen beginnen. 26 Nur durch erneuten Rückgang auf die »Zentrale« der Hegelschen Philosophie sei deren Programm erfüllbar. »Es ist ein Programm, das sich nicht weniger zum Ziel setzt als die Vereinigung von christlicher und antiker Weltbegegnung.« (SuB 3, 84) 27 SuB 3, 608 (Hegel, Rechtsphilosophie § 258). 28 SuB 3, 608. – Indirekt wirft Liebrucks damit die Frage nach höheren und höchsten Pflichten gegen eine höhere Instanz auf. 29 Eine abstrakte Chiffre für eine Rechtseinheit, in deren Zentrum die jeweilige von Zivilrecht, Strafrecht und Staatsrecht steht. 25
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schaft (Korporationen) sowie der Moralität (Gewissen) aufgehoben seien, gebiete es Hegel der »philosophische Takt«, vom Staat nicht in christlicher Weise, sondern aristotelisch vom Staat als »unbewegtem Selbstzweck« zu sprechen. 30 Doch sei an dieser Rede, so Liebrucks, zweierlei zu kritisieren. Zum einen unterschlage Hegel, dass Staaten und deren höchste Sittlichkeit einer ständigen Umwälzung ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse unterliegen, und von daher sei der Staat zwar als Selbstzweck, nicht aber als Endzweck möglich. Zum anderen konnte sich zwar der freie griechische, der in Deutschland so beliebte ewige Bürger Athens, als höchste Spitze seiner Polis wissen und danach handeln, – vermittelt durch Glauben und Kult seiner Religion. Aber wie soll sich der Mensch von heute, dessen »Wahrheit in der christlichen Offenbarung« liegt, an einer antiken Sittlichkeit orientieren, wenn er nach einem neuen oder nach gar keinem Staat mehr sucht? Zwar legen einige Stellen in Liebrucks’ drittem Band von »Sprache und Bewußtsein« mehr als die Vermutung nahe, dass ihm eine Art neuer oder besser erstmaliger christlicher Polis vorschwebte. Doch wollte er diese keineswegs durch eine Rückkehr in Vormoderne erreichen. Eine politische Prärogative der Kirche sei durch die Geschichte Europas ebenso diskreditiert, wie die verbrecherischen Mächteschaften des Staates der bürgerlichen Gesellschaft. 31 Liebrucks denkt an einen völlig neuen Interessensausgleich zwischen den Einzelnen, ihren Familien und Gesellschaften sowie positivem Recht und moralischem Gewissen einerseits und dem politischen Macht-Ganzen dieser genannten Sphären, bisher Staat genannt, andererseits. Ein Ausgleich und eine versöhnte Einheit, die eine wahrhaft menschlich gewordene christliche Religion ermöglichen und legitimieren soll, eine gelebte Religion des Wortes sozusagen, ein bei seinem Wort genommenes Christentum, vielleicht als sozial und politisch praktizierbare Liebessprache. Eine solche wäre schon der kultlose Kult eines Lebens, eines erstmals menschlichen Lebens, das sich als »absolute Sittlichkeit« wissen und erfahren könnte, – und es wäre die Grundlage für völlig neue politische Organisationen. Doch selbstverSuB 3, 608. »Der Staat, der den absoluten Geist der Religion usurpiert, wird despotisch; die Kirche, die den objektiven Geist des Staates annimmt, wird tyrannisch. Beides sind Spielformen einer unwahren Haltung, der Verwechslung des objektiven und des absoluten Geistes. Wir werden sehen, daß Hegel dieser Gefahr selbst erlegen ist. Der Staat ist nicht absoluter Geist, sondern ›die Welt, die der Geist sich gemacht hat‹ ([Hegel, Rechtsphilosophie] § 272, Zusatz).« (SuB 3, 636)
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ständlich bei bleibender, weil nicht widerrufbarer Trennung von Religion und Politik, von Kirche und Staat. 32
V. Mit und gegen Hegel über Hegel hinaus Wie der sprichwörtliche Rote Faden zieht sich durch die gesamte politische Philosophie Liebrucks die Antinomie, einerseits an Hegels Philosophie als Leitsystem festzuhalten, andererseits dessen Mängel durch eine metahegelianische Philosophie, die aber zugleich nur als stringent weitergeführte hegelianische Philosophie möglich sein soll, zu beheben. Nicht zufällig, dass sie am überzeugendsten argumentiert, wenn sie die begriffsimmanenten und politischen Defizite der Kantischen Moralität und der Marx’schen Gesellschafts- und Staatslehre bis ins Einzelne aufdeckt und demontiert. Am wenigsten überzeugend, wenn sie die neuzeitliche Geschichte der Wissenschaften und der Technik wie auch die politische Geschichte Europas seit 1789 ressentimentgeladen kritisiert. Kaum ein Argument, das nicht in einer Untergangsvision kulminierte. Was für die Gesamteinstellung Liebrucks’ zu Hegels Werk gilt, das gilt für viele seiner Einzelerörterungen Hegelscher Begriffsentwicklungen. Wie dort die Fundamentalwerke in ihrer Allgemeinheit den richtigen Weg gezeigt hätten, um just diesen Weg in den besonderen Werken der Realphilosophien zum Teil oder zur Gänze zu verfehlen, so begleiten Liebrucks Einzelerörterungen Hegelscher Gedankengänge deren Vermittlungen eine gewisse Wegstrecke, um sich in concreto specifico von ihnen zu trennen. Das Allgemeine des Systems soll bestehen bleiben, es soll auch dessen regeneratio möglich sein, eine mächtige Renaissance, deren das gegenwärtige Beliebigkeits-Philosophieren ohnehin dringend bedürfe, wenn nur in den Spezifika von Mensch und Gesellschaft, Welt und Geschichte Korrekturen vorgenommen würden. Selbstredend kontrafaktische und nicht nur begriffsimmanente, denn es soll nicht nur eine revolutionäre Renaissance der Philosophie, es soll zugleich eine philosophische Welt- und Menschheitsrevolution vorbereitet werden. In dieses Feld einer möglichen »christlichen Polis« gehören die tiefschürfenden Untersuchungen Liebrucks’ zu Hegels Theologischen Jugendschriften, insbesondere zur Geschichte der Urgemeinde und ihrer Aporien.
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Hegel habe gezeigt, dass ein Staat, der sich lediglich den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit seiner Bürger zum Zweck setzt, damit enden würde, »das Interesse der Einzelnen als solcher« als letzten Zweck seines Daseins zu setzen. Mitglied in einem solchen Staat zu sein, könnte nur etwas Beliebiges, keineswegs verpflichtend sein. 33 Die Vernünftigkeit des Hegelschen Staates, in dem das Verbrechen der bürgerlichen Gesellschaft, nach Liebrucks, nicht begangen wird, liege eben darin, dass der Einzelne und das Allgemeine durch gemeinsame Zwecke untrennbar verbunden sind. Und diese Vernünftigkeit sei möglich, wie Hegel, allerdings unter der Generalklausel »abstrakt betrachtet«, ausführt, kraft einer »sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelnheit.« 34 Eine logische Formel des logischen Begriffs, die politisch besagen soll, dass der allgemeine Wille und das allgemeine Wissen des Staates mit dem besonderen und einzelnen Willen und Wissen der Korporationen und Individuen dialektisch identisch seien. Aber diese Vernünftigkeit scheint nicht nur »abstrakt betrachtet« zu sein, sie scheint auch in sich selbst abstrakt sein zu müssen. Denn die behauptete Identität des Staates mit seiner Gesellschaft muss, gerade aufgrund dieser Übereinstimmung »der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handelns« sich verwirklichen. 35 Weder wissen die Gesetze noch können sie jene bestimmten Inhalte und Zwecke wollen, die auszuführen das Gebot der jeweiligen Stunde ist. Es muss entschieden werden, nicht kraft ideal wirkender Gesetze und ideal entscheidender Eliten allein, sondern kraft politischer Realitäten, an denen sich die Gesetze und die Eliten zu bewähren haben. Daher Liebrucks zweifelnde Anfrage an Hegel: Ist dies »nicht doch der alte platonische Idealstaat und nicht der Staat, den wir erfahren können?« 36 Zwischen dem total liberalen Nachtwächterstaat einerseits und dem abstrakten Vernunftstaat Hegels andererseits scheint Liebrucks wie zwischen Pech und Schwefel wählen zu müssen. Ist es dieser oder jener, dessen Abstraktheit zu überwinden wäre, um zu einer neuen und endlich menschlichen Staats- und Bürgersittlichkeit zu gelangen? Hegel habe kein »verstandesmäßiges Ideal« 33 34 35 36
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aufgerichtet, als er behauptete, dass nur ein Staat Bestand haben könne, in dem der allgemeine substantielle Willen mit dem besonderen Wollen der Individuen übereinstimme. Es handle sich folglich um einen vernünftigen Begriff und dessen Wirklichkeit; ein vernünftiger Inhalt, der uns jedoch »heute sehr unvernünftig« vorkomme, weil wir meistens nur »verständig« über vernünftige Inhalte denken. Diese haben es nämlich an sich, dialektische Kategorien zu sein, und dies bedeute: die Gattung ihrer selbst und ihres Gegenteils zu sein. 37 Soll diese Beschwörung des Grundgedankens dialektischer Selbstbegründung bedeuten, dass wir aus Hegels Gattungsbegriff ableiten können und sollen, dass jede Staatsverfassung, womöglich zu jeder Stunde der Weltgeschichte, als sittliche und vernünftige anzusehen ist? Oder sollten wir dies eher nicht ableiten, weil der Gefahr eines Subsumtionsfehler dadurch auszuweichen, dass wir das Subsumieren für vordialektisch und bloß verständig halten, der größtmögliche Subsumtionsfehler sein könnte? Die Vernunft könne sich den Verstand nicht ersparen, hatte doch eine mahnende Stimme Hegels gelautet. Wenn nun aber dieser Verstand, ob wir wollen oder nicht, geschichtlich verfährt, im doppelten Sinn dieses Wortes, nämlich richtig oder falsch, dann ist die Subsumtionsfrage die nach einer vernünftigen Urteilskraft in den Dingen der Politik und Geschichte. Eine Frage, die durch die dialektische Zauberformel einer Selbstenthaltung von Gattungsbegriffen, mag diese zutreffend sein oder nicht, weder zu beantworten noch aus der Welt zu schaffen ist. Denn auch diese dialektische Selbstenthaltung ist in Relation zur Geschichte und deren konkreten Politiken doppelsinnig: Entweder sind alle Verfassungen gleich sittlich oder vernünftig, oder sie sind es keineswegs, weil die totalitäre Subsumtion schon eine Geschichte oder gar einen Fortschritt des Staatsbegriffes für sinnlos erklären würde. Im ersten Fall ist alle Geschichte schon im Begriff enthalten; im zweiten Fall hat sich der Begriff aller Geschichte enthalten. Es muss auch in Hegels Philosophie ein Ort sein, an dem sich vormoderne von modernen Verfassungen unterscheiden lassen, obwohl seine politische Philosophie, weil just an der geschichtlichen Schnittstelle zwischen Vormoderne und Moderne denkend, gleichsam naturgemäß die konstitutionelle Monarchie Preußens und nicht etwa die Demokratie der USA oder gar die des Usurpators Frankreich als Para37
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Zur Politischen Philosophie bei Liebrucks
debeispiel real existierender Vernunft subsumierte. »Erst wenn das Interesse des einzelnen zugleich das Interesse der Gesellschaft ist, lebt der Mensch in derjenigen Welt, die ihm als freiem Wesen entspricht.« 38 Erst diese noch ausstehende Welt sei als politische Realisierung der wahren Wirklichkeit des Menschen als eines sprachlichen Wesens anerkennbar. Und diese Lehre Humboldts sei durchaus mit der Philosophie Hegels, jedenfalls in deren Grundzügen, vereinbar, weil auch der existierende Begriff nach einer Aufhebung aller Entfremdung trachte, oder nach Humboldts Formel danach, dass »ihm im Fremden die innigste Verwandtschaft entgegenkommt.« Nicht für die gesamte Rechtsphilosophie Hegels und schon gar nicht für deren Staatsbegriff kann Liebrucks, wie gezeigt, diese Vereinbarkeit reklamieren. Denn die von Liebrucks als unverlierbar bewerteten Begriffe der Hegelschen Rechtsphilosophie, die Marx verkannt und gegen die er falsch revoltiert habe, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hegel den Staat und dessen Sittlichkeit, wiederum nach Liebrucks, letztlich an die Weltgeschichte und deren Selbsttribunalisierung als Weltgeist verraten habe.
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III. Kunst, Religion und Philosophie
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Bruno Liebrucks’ Konzeption der Sprachlichkeit der Künste unter besonderer Berücksichtigung der bildenden Kunst
Der Aufweis der Sprachlichkeit der Künste ist in dem großen philosophischen Werk von Bruno Liebrucks nicht nur ein integraler Bestandteil, sondern von ausgezeichnetem heuristischem Wert für das volle Verständnis von Liebrucks’ Begriff der Sprache. Der systematische Entwicklungsgang von Liebrucks’ Werk »Sprache und Bewußtsein« nimmt nicht von ungefähr die Arbeit am Begriff der Sprache schon früh zugleich mit dem der Kunst auf (SuB 2), weil die Beziehung von Sprache und Kunst sowohl Einsichten in die Sprachlichkeit der Kunst wie auch in die Kunsthaftigkeit selbst der natürlichen Sprache ermöglicht. Die Kunst gibt Hinweise auf das Un-Ausdrückliche, nicht Gesagte, das jede Sprache begleitet; die Sprache leitet dazu an, auch im künstlerischen Gebilde den Artikulationsprozess zu entdecken. Der voll entwickelte Gedanke der Sprachlichkeit des Menschen deckt eine Vielzahl solcher Analogien von Sprache und Kunst auf. 1 Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat des Öfteren betont, dass jeder bedeutende Denker im Grunde nur einen entscheidenden Gedanken verfolge, aus dem sich sein gesamtes Werk entwickeln lasse. Ein solcher das Ganze prägende Gedanke ist Liebrucks’ Konzeption des Menschen als Sprachwesen und seines ihm entsprechenden und angemessenen Weltumgangs im Modus der Sprachlichkeit. Daher nennt Liebrucks sein Philosophieren insgesamt: Eine Philosophie von der Sprache her. Dabei ist ihm die Sprache sowohl Ursprung wie Ziel und maßstäblich für alles menschliche Verhalten. So bedarf es in dieser Philosophie keiner herkömmlichen Disziplineinteilungen, vielmehr sind Logik, Erkenntnistheorie, Ethik, Religionsphilosophie und auch eine
So kann Liebrucks in SuB 2, 407 feststellen: »In der Sprachlichkeit der Kunst versammeln sich sämtliche bisher in den beiden Bänden angeführten Charaktere.« (Gemeint sind die Sprachcharaktere, v. Verf.)
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Philosophie der Kunst intrinsisch in dieser Philosophie von der Sprache her angelegt. Aus der Sicht dieser Philosophie ist die Kunst, einschließlich der Dichtung und der Musik, »stumme Sprache«. Die Auslegung dieses Schlüsselbegriffs führt zu den wichtigsten Bestimmungen in Liebrucks’ Konzeption der Künste. Das Verhältnis von Sprache und Kunst ist ein so enges, dass eine Theorie der Kunst, die deren sprachlichem Wesen nicht gerecht wird und bei ihrer Gegenständlichkeit stehen bleibt, von Liebrucks stets mit einiger Verachtung als »Ästhetik« bezeichnet wird. Die Unversöhnlichkeit von Philosophie der Kunst und Ästhetik rührt Liebrucks zufolge daher, dass die Ästhetik in einer positivistischen Gebildebetrachtung verharre und zum genuinen Erkenntnischarakter der Künste nicht vordringe. 2 Aus dieser Sicht begrüßt Liebrucks die strikte Trennung von Ästhetik und Philosophie der Kunst, wie sie zum Beispiel Konrad Fiedler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornimmt. Liebrucks entdeckt und bearbeitet diesen Theoretiker der bildenden Künste lange bevor dieser eine besondere Konjunktur in der aktuellen Kunstgeschichtsforschung erfährt. Das liegt vor allem daran, dass Liebrucks in Fiedler einen Autor antrifft, der nicht zuletzt durch Wilhelm von Humboldt zur Einsicht in die starke Analogie von Sprache und Kunst gekommen ist. Er fasst die bildende Kunst wie auch die Sprache als Ausdrucksbewegung auf. Die spezifische Form der Kreativität des bildenden Künstlers sieht Fiedler darin, dass der Künstler von der Wahrnehmung des Auges her einen Impuls zu deren Fortentwicklung durch die Tätigkeit der Hand, das heißt zum bildnerischen Ausdruck, erfährt. Die bildende Kunst trägt zu einem dynamischen Erkenntnisprozess bei, indem sie die Welterkundung durch das Schaffen neuer Anschauungsvorstellungen bereichert. Konrad Fiedler beklagt in seiner Zeit eine Erblindung gegenüber der physischen Welt, wie sie sowohl in den Wissenschaften als auch in der Alltagspraxis eintritt. Die anschaubare Welt werde nur so weit entwickelt, wie ihre wissenschaftliche oder praktische Nutzung es erfordere. Dem entspricht Liebrucks’ Diagnose einer zunehmenden Entsprachlichung im Selbst- und WeltverLiebrucks versteht unter »Ästhetik« eine Disziplin, die sich als empirische Wissenschaft ansieht. Seither hat sich die Ästhetik, soweit sie von den Kunstwissenschaften betrieben wird, von ihrer positivistischen Phase weitgehend verabschiedet und sucht für ihr Selbstverständnis eher Anschluss an eine Definition des Begründers der Ästhetik, nämlich A. G. Baumgarten, der sie unter anderem als »ars analogi rationis« verstand.
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hältnis der Menschen. Die Entwicklung des Begriffs der Sprachlichkeit wird für Liebrucks zum Kriterium einer berechtigten und gelingenden Philosophie von der Sprache her. Der sprachliche Ausdruck selbst – Sprachlichkeit – hat das Gepräge einer Wesenskategorie; zu denken ist aber hierbei die Bewegung des Begriffs zwischen seinen Momenten. Sprachlichkeit meint das relationale Gefüge der menschlichen Weltbegegnung. Liebrucks spricht in Anlehnung an Karl Bühler von einer Dreistrahligkeit der semantischen Relationen. Deren Konstellation enthält einen Sprecher, den Angesprochenen, der seine den gehörten Lauten entsprechenden Vorstellungen in sich erzeugt, und den gemeinsamen Gegenstand, über den diese Sprache geführt wird. Wenn dieses Modell die ganzheitliche menschliche Weltbegegnung, das heißt die Sprachlichkeit des Menschen umreißt, so erweist sich das herkömmliche Konstrukt einer Subjekt-Objekt-Konstellation in Erkenntnisprozessen als dessen defizienter Modus, als untersprachlich. Die sprachliche SubjektSubjekt-Objekt-Einheit wird dann um das Moment der Mitteilung und des Austausches unter den Sprachteilnehmern gemindert. Die lebendige Sprache wird so durch den Automatismus der Zeichenverwendung ersetzt. Der Begriff der Sprachlichkeit ist durch einsinnige Bezugnahmen seiner drei Komponenten noch nicht erfüllt. Das genuin Sprachliche dieser Sprachlichkeit äußert sich vielmehr im dialektischen Verhältnis zwischen Subjekt und Subjekt, zwischen Subjekt und Objekt. Verstehensprozesse in der Sprache sind nur als dialektische Prozesse zu denken. So ist derjenige, der sprachliche Äußerungen empfängt, nur dann ein Verstehender, wenn er selbst sein Verständnis, das heißt seine Entsprechung zu dem Gehörten produziert. Der primäre Sprecher kann seinerseits nicht allein im Produzieren verbleiben; er ist, um sich als verstanden zu wissen, auf das Empfangen der Antwort angewiesen. Das sprachlich Geäußerte ist nicht vom Produzenten gelöst, sondern weist auf ihn zugleich zurück, zeigt die Spuren seiner Identität und die Kennzeichen der Sprache einer Epoche. Bis zum Überschritt in die Dialektik kann Liebrucks seine Konzeption der Sprachlichkeit mit Wilhelm von Humboldts Einsichten über die Sprache entwickeln. Er folgt auch Humboldts Gedanken einer starken Analogie von Sprachprozess und künstlerischer Produktion. So findet sich die bündigste Ausführung von Liebrucks’ eigener Philosophie der Kunst in einem Kapitel des Humboldt-Bandes von »Sprache und A
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Bewußtsein«. 3 Die Dialektik der Sprachlichkeit mit ihrer Dreistrahligkeit der semantischen Relationen erweist sich auch im Verhältnis von produzierendem Künstler, Rezipient und künstlerischem Werk. Der sich in diesen Verhältnissen herstellende Verstehensprozess kann sich jedoch kaum an einem gewohnten Zeichenverstehen orientieren. Das im Werk anschaubare Material macht auf Grund seiner Formierung und Artikulation Anspruch auf seine individuelle Bedeutungskraft. Es hat seine künstlerische Qualität nicht als Zeichen, sondern als Symbol. Mehr noch als in der natürlichen Sprache selbst wird in den Sprachen der Kunst der überzeichenmäßige Charakter der Sprache deutlich. Das artikulierte sinnliche Material steht nicht für die schon bekannten Inhalte, sondern für den Anreiz zur Erzeugung neuer Bedeutung, dies umso mehr, je stärker in der Moderne die mimetische Intention in den Künsten zurücktritt. In den Kunstwerken kann ein entscheidendes Moment der Sprachentstehung nachvollzogen werden, nämlich das allmähliche Sich-heraus-Entwickeln von Bedeutung aus dem geformten Material. Mit Liebrucks’ Worten: Es »wiederholt sich in jeder Herstellung eines Kunstwerkes der Ursprung der Sprache.« 4 Die entscheidende Kategorie in Liebrucks’ Philosophie der Kunst wie auch in seiner Sprachauffassung ist die Bedeutung; in zweiter Linie erst geht es um die Begriffe Ausdruck und Darstellung. Wenn Liebrucks in Auseinandersetzung mit Karl Bühlers Gebildebetrachtung der Sprache sagt: »Sprache ist nur dort, wo der Übergang vom Laut in die Bedeutung lebt« 5 , so kann gefolgert werden, die Sprachlichkeit der Künste ist nur dann bezeugt, wenn sich der Übergang von der sinnlichen Erscheinung in die Bedeutung ereignet. Das sinnliche Material in den Kunstwerken ist zwar artikuliert, aber sein Sprachcharakter ist nicht unmittelbar für den Wahrnehmenden zu erfahren. Der Stein, die Farben und anderes artikuliertes Material sprechen nicht die menschliche Sprache, sie reden nicht, sondern zeigen in Gesten und Gebärden. Das literarische Werk führt zwar eine Rede, in der sich jedoch ein Zeigen verbirgt, das mit Hilfe der Einbildungskraft des Künstlers geschaffen wurde und auf seine Entdeckung durch den Rezipienten wartet, dessen Einbildungskraft zu entsprechender Tätigkeit angeregt werden kann. Liebrucks erörtert ein eindrucksvolles Beispiel für die in der ge3 4 5
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SuB 2, 407–515. SuB 2, 485. SuB 1, 432.
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Bruno Liebrucks’ Konzeption der Sprachlichkeit der Künste
sprochenen Sprache verborgene stumme Sprache an Hand von Kafkas Geschichte »In der Strafkolonie«. 6 In einer nüchternen, affektfreien Alltagssprache werden in dieser Geschichte die äußeren Vorgänge einer unmenschlichen Bestrafung und einer Verfallenheit an eine seelenlose Mechanik dargestellt. Die Harmlosigkeit der gewählten Sprache lässt das Unheimliche und Grausame der Situation umso mehr aufscheinen. Dieses aber drückt sich Liebrucks zufolge in der stummen Sprache aus, die Kafkas Text recht eigentlich zum Kunstwerk werden lässt. Es teilt die erschreckende Wahrheit einer Gesellschaft nicht unmittelbar mit, sondern lässt sie aus der Stummheit einer verborgenen Sprache durch die Imagination entstehen. Liebrucks wählt den Begriff der »stummen Sprache« als Charakterisierung für den Darstellungsmodus aller Künste, auch der Sprachund Tonkunstwerke, die mit den Mitteln der gesprochenen oder tönenden Sprache zugleich eine andere Sprache des Symbols und der Bilder miterzeugen. – Mit dem Begriff des Symbols, das sich in seiner diskursiven Unbestimmtheit, aber zugleich in seiner sinnlich deutlichen Präsenz zeigt, ist in den Künsten die Qualität eines stummen Ausdrucks gegeben. Liebrucks kümmert sich nicht um die vielfältigen elaborierten Konzepte des Symbols, wie sie in den Kunstwissenschaften herrschen, lässt es jedoch auch nicht bei der Trivialbestimmung bewenden, nach der das Symbol ein bildhaftes Zeichen mit einer Überschussbedeutung ist. Für ihn ist in der Sprache wie in den Künsten das Symbol nicht nur Bedeutungsträger, sondern der sinnlich wahrnehmbare Ort der Bedeutungsgenese. Liebrucks zufolge sprechen die Gebilde der Kunst »nicht die menschliche Sprache, sondern die stumme göttliche, von der Vico sprach.« 7 Wie können wir diesen Hinweis für die heutige Konzeption einer Sprachlichkeit der Künste fruchtbar machen? Hierzu muss der Sprachcharakter des Göttlichen aufgeklärt werden und Liebrucks’ Verweis auf Vico nachgegangen werden: Die Konzeption einer stummen göttlichen Sprache, auf die Liebrucks im Kontext seiner Ausführungen über Kunst und Sprache immer wieder zurückkommt, erhält ihren sys-
B. Liebrucks, Die Philosophie der Kunst und die Kunst der Philosophie, in: P. Jaeger/ R. Lüthe (Hgg.), Distanz und Nähe. Festschrift für W. Biemel zum 65. Geburtstag, Würzburg 1983, 91–128. 7 SuB 2, 408. 6
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tematischen Sinn in Giambattista Vicos Sprachtheorie. 8 Diese Sprachtheorie ist dadurch ausgezeichnet, dass sie den Ursprung der Sprache und die Metaphorik gemeinschaftlich behandelt. Das ist insofern gerechtfertigt, als Vico den Menschen vorrangig in seiner verstehendschöpferischen Fähigkeit begreift und so die Poesie an den Anfang der Sprachentwicklung rückt. In seiner Zeitalter-Theorie der Poesie unterscheidet er die Zeitalter der Götter, der Heroen und schließlich der Menschen. Entsprechend werden drei Formen der Sprache, nämlich die stumme göttliche, die heroische oder symbolische und die menschliche Sprache unterschieden. Das Zeitalter der Götter ist das mythische, in dem die Natur dem Menschen gestalthaft begegnet. Alles intensiv Beeindruckende und an ihm selbst Bedeutende erscheint den Menschen als Gott. Bestimmte Naturprozesse werden als Zeichengebung des Gottes aufgefasst. Auf ihn wird im Ritus und in der stummen Gebärdensprache Bezug genommen. Vico charakterisiert die Menschen dieser Urzeit als von einer überbordenden Sinnlichkeit, Phantasie und Leidenschaft, aber noch fern von abstrahierender Verstandestätigkeit. Die »sinnliche Wahrheit« dieser Bewusstseinsstufe ist nur dem Auge offenbar und bleibt gestalthaft. Der Gott vertritt – wie ein Gattungsbegriff – einen Bereich der Natur. Damit wird seine Gestalt zum sichtbaren Gattungsbegriff, zum sinnlichen Allgemeinen oder zum »phantastischen Gattungsbegriff«, wie Vico es ausdrückt. Die poetische Logik hat mit dem sinnlichen Allgemeinbegriff das metaphorische Wesen der Sprache aufgedeckt und zugleich eine Brücke zur Metaphorik der Künste geschlagen, die das Erbe des Mythos antreten. Die späteren Zeitalter versprechen keinen vergleichbar bedeutsamen Fund: Im heroischen Zeitalter, in dem eine zunächst wenig artikulierte Tonsprache entsteht, werden sprachliche Merkmalseinheiten geschaffen. Es kommt zur Bildung von Symbolen, Metaphern und Vergleichen; weiterhin zu Sinnbildern des Heroischen. – In der Phase der menschlichen Sprache gibt es weniger spontane Sprachbildung als vielmehr Übereinkünfte des Gebrauchs. Die Tonsprache ist nun vollständig artikuliert. Die Sprache der Menschen ist die Vulgär-Sprache, die jedes Volk ausbildet. Die poietische Kraft der Sprache ist aus Vicos Sicht hier deutlich gemindert, beziehungsweise in Vergessenheit geraten. Nicht
Mit G. Vicos Konzept der göttlichen Sprache ist Liebrucks in SuB 1, 255–285 ausführlich befasst. Ich folge den Grundzügen dieser Darstellung.
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vergessen werden dagegen die Erfahrungen der schöpferischen Frühphase der Sprachentwicklung von den Dichtern, die Vico zufolge eine Anamnesis an die Epoche der göttlichen Sprache haben. Die Dichter werden stellvertretend für alle Künstler genannt. Der Sinn von Vicos Sprachtheorie ist es offensichtlich, die weltenschaffende, poietische Fähigkeit des Menschen schlechthin auszuloten. 9 Die hierbei von Vico herausgestellten Ausdrucksmittel, durch die ein Gegenstand gebildet wird, sind gemäß den drei Entwicklungsphasen der Sprache: Gebärde, Symbol und artikulierter Laut. In dieser Folge wird deutlich, dass sich die sprachlichen Ausdrucksformen zunehmend aus dem Physischen, Materiellen zurückziehen. Die Gebärde braucht noch die eigene und fremde Leiblichkeit oder das Gesicht der Naturszene zum stummen Selbstausdruck. Das Symbol nutzt das natürliche oder künstliche Material kaum mehr als solches, sondern uneigentlich zum Ausdruck des Sinnes. Im artikulierten Laut ist schließlich das physische Moment fast ganz zum Anhalt der Bedeutung geworden. Die Sprachlichkeit der Künste hat es wohl mehr oder minder mit allen drei Ausdrucksmitteln zu tun, aber das erstgenannte, das die unmittelbare Anschaubarkeit der Bedeutung erreicht, scheint die poietische Kraft der Künste am ehesten zu erweisen. Liebrucks äußert hierzu kategorisch: »Keine Kunst ohne sinnlichen Allgemeinbegriff.« 10 In Anlehnung an Karl Bühler behandelt Liebrucks den Ausdruck im Sprachvorgang als Teil einer Trias von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung, die in jeder Sprachäußerung realisiert wird. Während Bühler die unterschiedliche Struktur von Ausdruck und Darstellung hervorhebt, erkennt Liebrucks dagegen in der sprachlichen Darstellung den aufgehobenen Ausdruck. Wo Bühler die isolierbare Bestimmtheit von Sprachcharakteren sucht, geht Liebrucks der lebendigen Sprachbewegung nach, die ihn zum dialektischen Verständnis ihrer Komponenten führt. Sie lässt ihn auch eine eindrucksvolle Metaphorik für das Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung entwickeln. Am Ende des ersten Bandes von »Sprache und Bewußtsein« heißt es: »Die Sprache ist ein solcher Strom, der auch
Auf diese Intention kommt es auch Liebrucks vorrangig an: Sprache und Kunst schaffen die dem Menschen zugängliche Wirklichkeit, die Wissenschaften dagegen eine instrumentell behandelbare Realität. 10 SuB 2, 407. 9
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seine Ufer stets neu bildet. Dieser Strom heißt Bedeutung. Seine Ufer sind Ausdruck und Darstellung.« 11 Gegen Bühler klagt Liebrucks genau die Momente der natürlichen Sprache ein, die das Erfahrungsmoment von Wirklichem in sich bewahren und daher auch zu evozieren vermögen. Dies ist ein Kriterium der Sprachlichkeit, das Liebrucks ebenso in aller gelingenden Kunst erfüllt findet. Eindrucksvoll ist hier seine Erörterung der Sprachlichkeit der Genese unserer Raumanschauung am Beispiel eines dargestellten Raumes in der Malerei: Der Maler, der auf die Zweidimensionalität seines Malgrundes (Leinwand, Stein, Papier oder anderes) angewiesen ist, tritt hierdurch allein schon aus der Selbstverständlichkeit der Alltagswahrnehmung des Raumes als Behälter heraus. Er muss stattdessen den Raum gestalten, dessen Hervorgang aus der Phantasie des Künstlers auch die antwortende Phantasie des Betrachters in Bewegung versetzt und ihn »das Sphärische der Wirklichkeit« 12 wahrnehmen lässt. »Die Malerei […] präsentiert im stummen Bild, das nicht den auralosen Raum, sondern die Dinge mit der Aura gibt, die Sprachlichkeit der Genese unserer Raumanschauung.« 13 An diesem Beispiel zeigt Liebrucks die generelle Möglichkeit und den Vorzug der Kunstgebilde auf, das Zustandekommen einer Erfahrung menschlicher Erfahrung zu bieten. Die Kunst muss Zeugnis eines menschlichen Weltumgangs sein; Liebrucks kann stattdessen auch sagen, sie muss Geist aufweisen. Für eine gelingende Darstellung ist es in der Kunst wie in der Sprache notwendig, das Subjektive des Ausdrucks zu verwandeln, nicht es zu unterdrücken. Die Aufhebung des Ausdrucks in der künstlerischen Darstellung ist eine Rückkehr zu seiner Genese, das heißt zum Ausdrucksimpuls, der dem Künstler Energien zuführte und nun eingebunden werden muss in ein objektivierendes sprachliches Verfahren seiner Präsentation. Bei den bildenden Künsten scheint mir das objektivierende Moment der Darstellung gewichtiger zu sein als bei den aus der Innerlichkeit hervorgehenden Künsten von Literatur und Musik. Die Gebilde sind, allein durch ihre räumliche Behauptung, in stärkerem Maße von ihren Produzenten abgelöst. Nachdem sie fertiggestellt sind, bedürfen sie keiner erneuten Performanz durch ihre Urheber oder Interpreten. 11 12 13
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Bruno Liebrucks’ Konzeption der Sprachlichkeit der Künste
Darstellung als formierte Entäußerung seines Inneren, seien es Befindlichkeit, Gefühle oder Gedanken, ist dem Menschen so eigentümlich, dass zu den vielen bisher vorgebrachten Wesensbestimmungen des Menschen auch die hinzugetreten ist, er sei »das darstellende Tier.« 14 Zu einem ähnlichen Gedanken kommt Liebrucks in einem Vortrag beim österreichischen Rundfunk über den transzendentalen Sprachcharakter. 15 Er trägt dort die Deutung des menschlichen Organismus als Darstellungssystem vor 16 und tut dies mit Bezug auf den Anthropologen Portmann, der die Tiere als Darstellungssysteme verstand. Das führt Liebrucks dahin, den menschlichen Organismus im Hegelschen Sinn als an sich seiende Sprache zu bestimmen. Ich möchte den Gedanken mit Blick auf die Kunst so fortführen: Wenn sich der Mensch natürlicherweise, das heißt an sich, als darstellender in der Welt bewegt, so kann die künstlerische Produktion als ein In-RegieNehmen dieser Anlage aufgefasst werden. Das darstellende Selbstund Weltverhältnis wird dann zum Für-sich-Sein fortentwickelt und gewinnt hierbei die größere Freiheit zur Bildung und Erschließung der Wirklichkeit. Diese Freiheit sieht Liebrucks jedoch nur mehr gewahrt, wenn die Künstler sich der zunehmenden Verabsolutierung des wissenschaftlichen Weltumgangs zu erwehren wüssten. Zur Signatur der Zeit gehört es Liebrucks zufolge, dass »man die forma formans zugunsten der forma formata vergessen hat.« 17 Die forma formans sieht Liebrucks (u. a. mit Humboldt) in der lebendigen natürlichen Sprache am Werk, während in den Wissenschaften mit fixen Modellen, den formae formatae, gearbeitet wird. Das zu Erkennende wird dort zum bloßen Fall einer Regel. Das auf diese Weise Bestimmte nennt Liebrucks »Realität« im Unterschied zur »Wirklichkeit«, die für ein sprachliches Begreifen und Bilden offen bleibt. Liebrucks stellt sich die Frage: Was wird aus der Kunst im Gefolge einer zunehmenden Entsprachlichung unserer Kultur? Seine Antwort lautet: »Verliert sie (die Kunst, v. Verf.) ihre Sprachlichkeit, haust sie sich in der Subjektivität des von seiner Gesellschaft abgeschnittenen So Christiaan Hart Nibbrig in: Was heißt Darstellen, Frankfurt am Main 1994, 7, 8. Abgedruckt in der Aufsatzsammlung, B. Liebrucks, Erkenntnis und Dialektik. Zur Einführung in eine Philosophie von der Sprache her, Den Haag 1972, 302–316. 16 Ebd. 304 f. 17 B. Liebrucks, Wissenschaftlicher Weltumgang und Entsprachlichung, in: O. Schatz (Hg.), Was wird aus dem Menschen, Graz/Wien, Köln 1974, 239. 14 15
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Einzelnen ein, so liefert sie nur noch erstarrte Gebilde als Gegenbild der Erstarrung ihres eigenen Weltumganges.« 18 Liebrucks’ Ausführungen zur Sprachlichkeit der Künste lassen über den theoretischen Ertrag hinaus erkennen, von welch hoher existenzieller Bedeutung die Kunst für den Menschen Bruno Liebrucks war. Er selbst gibt die deutlichsten Hinweise hierauf in seinem Beitrag für den Sammelband »Philosophie in Selbstdarstellungen« 19 . Der Beitrag liefert Aufschluss darüber, dass die Philosophie und das Philosophieren für Liebrucks weniger eine Profession als vielmehr eine Lebensform gewesen ist. Entsprechend werden bestimmte Kindheits- und Jugenderlebnisse genauso wie hochreflektierte Begegnungen der Spätzeit zu ausschlaggebenden Elementen der Selbstwerdung des Philosophierenden. Liebrucks’ Selbstdarstellung ist allerdings fern davon, in dem Sinne authentisch sein zu wollen, als könne man in völlig unmittelbarer Weise Auskunft über folgenreiche Erlebnisse der Kindheits- und Jugendjahre erteilen und erhalten. Vielmehr wird der hohe Grad der Vermitteltheit der Erinnerungen betont. Der Autor gibt zu, bei seiner Selbstdarstellung eine Maske zu tragen. Aber so, wie der antike Schauspieler durch seine Maske hindurch sich als ein besonderer Typus hörbar machte, ein per-sonare ermöglichte, so wird auch die Person des Bruno Liebrucks hinter der Maske noch gut vernehmbar. Für den Zusammenhang meiner Untersuchung zur Sprachlichkeit der Künste ist es mir wichtig, dass Liebrucks’ Selbstdarstellung einen Beleg dafür darstellt, dass seine enge, geradezu lebenswichtige Beziehung zur Kunst eine durch sein Naturverhältnis vermittelte ist. Das durch Bildung beförderte Kunstverständnis ist demgegenüber durchaus nachgeordnet und hat die Auffassung von der wahren Bedeutung der Künste nicht mehr verändert. Diese Bedeutung sieht Liebrucks in der SuB 2, 407. Diese Sätze mögen unter anderem in Erinnerung und Anlehnung an Arnold Gehlens »Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei« (2. Aufl. Frankfurt am Main/Bonn 1965) geschrieben worden sein. Hier diagnostiziert Gehlen den zunehmenden Rückzug der bildenden Künstler in die Subjektivität und damit in die »Kommentarbedürftigkeit« ihrer Werke. 19 B. Liebrucks, Das nicht automatisierte Denken, in: L. J. Pongratz (Hg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Bd. 2, Hamburg 1975, 170–223. Künftig zitiert aus dem Wiederabdruck: B. Liebrucks, Das nicht automatisierte Denken, in: U. u. F. Zimbrich (Hgg.), Bruno Liebrucks. Philosophie von der Sprache her. Ein Lesebuch zur Einführung in »Sprache und Bewußtsein«, Frankfurt am Main u. a. 2011, 243–280. 18
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Erschließung menschlicher entwicklungsfähiger Wirklichkeit in der stummen Sprache der Künste. In der großartigen und großräumigen Landschaft Ostpreußens erfuhren das Kind und der Jugendliche Bruno Liebrucks tiefe und bildkräftige Natureindrücke, die gelegentlich ein Glücksgefühl vermittelten, das dem Kind noch unerklärlich, dem sich selbst darstellenden Autor jedoch als Folge der intensivierten, absichtsfreien Anschauung der Natur erscheint. Jenseits der Alltagswahrnehmung der umgebenden Natur ändert sich plötzlich die Naturszene. Ihr Selbstausdruck verdichtet sich zu der Gestalt, die Liebrucks »Gesicht« nennt. Was er an dem Ausdruck der Natur erfährt, ist ein Sprechendes ohne jedes signifikative Moment. Es drängt den jungen Liebrucks jedoch, dieser zunächst einzigartigen Naturerfahrung mit eigener Sprache zu »entsprechen«. Dieser »Anspruch« bleibt unvergessen, ohne zunächst eingelöst werden zu können. Der Heranwachsende wird aber erkennen, dass diese Natureindrücke oder »Gesichte«, so individuell sie auch zunächst waren, gewisse Entsprechungen in den künstlerischen Produktionen haben. Exemplarisch berichtet Bruno Liebrucks über ein entsprechendes Erlebnis aus seiner Kindheit, nämlich von einer Bootsfahrt auf der Memel zu einer kleinen Insel, wohin zwei Kühe zum Weiden gebracht wurden. Dem Jungen wird dabei eine »Grunderfahrung« zuteil, in der die alltägliche Wahrnehmung einer Naturszene plötzlich völlig verwandelt wird und in ihrer absichtslosen Schönheit und Klarheit aufscheint. Diese nicht wiederholbare Einzelerfahrung findet für Liebrucks viel später ihre ungefähre Entsprechung in der Begegnung mit einem Werk von Claude Lorrain. Liebrucks bemerkt hierüber: »Die größte Nähe fand ich in einem Stich von Claude Lorrain, auf dem Kühe in das Wasser gehen, dabei trinken, während ein Hirt dahinter steht. Alle Dichtung, Malerei, selbst Musikstücke erinnerten an entsprechende Grunderfahrungen.« 20 Deutlich werden hier Natur und Kunst unter den Bedingungen der Sprachlichkeit erfahren: Das Kind, sensibel und empfänglich für die Gestaltcharaktere der Natur, ist überwältigt von dem Natureindruck und erfährt sich zunächst als unfähig, dem Eindruck Sprache zu verleihen, wähnt sich »allein von einem solchen Gesicht umgeben.« Der Halbwüchsige aber begreift, dass er »mit dieser Erfahrung nicht allein« 20
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ist. 21 Im Umgang mit der Dichtung und bildender Kunst findet er dort ihm verwandte und vertraute Naturerfahrungen zur Sprache gebracht. Den intensiven, ja herausfordernden Ausdruck einer stummen Sprache hat der junge Liebrucks offensichtlich zuerst an der Anschauung der Natur erfahren. Diese Erfahrung ist ihm paradigmatisch geworden für die Begegnung mit der Kunst, die ihm in allen ihren Gattungen – auch in der Musik und Dichtung – stumme Sprache ist. Die stumme Sprache ist, mehr als die sich aussprechende, eine mit Phantasie und Sensibilität entwickelbare Sprache. Sie provoziert die kreative, individuelle Antwort. Ihr Unbestimmtheitspotenzial gleicht dem der Wortbedeutungen der natürlichen Sprache. Wie die durch die natürliche Sprache geschaffene Welt lässt die stumme Sprache der Künste Freiräume für die Fortentwicklung der Wirklichkeit und für das Bewusstsein von der letztlichen Unverfügbarkeit über das Weltganze. Der Gedanke der Unverfügbarkeit über die Natur ist bei allen in der Selbstdarstellung aufgesuchten Stationen der Einsicht, des Verstehens und der Erkenntnis maßgeblich. Liebrucks nennt den Modus solchen Erkennens »göttliche Belehrung«, um auszudrücken, dass diese Erkenntnis nicht aus einer subjektiven Anstrengung hervorgeht. Sie wird nicht planbar erworben, sondern empfangen. Ihr Gegenstand ist offensichtlich unverfügbar, aber sich selbst zeigend und ausdrückend für denjenigen, der offen bleibt für die geduldige, über das bloß wahrnehmende Bewusstsein hinaus verfolgte Anschauung. Sowohl die Naturerfahrung, die Liebrucks »Gesicht« nennt, als auch die Erfahrung großer Kunstwerke haben ihm zufolge eine evokatorische Kraft. Sie provozieren den Wunsch, eine »entsprechende« Antwort zu geben, und sie sind gleicher Weise maßgeblich für künftige Erfahrungen des Lebens. Liebrucks sucht hier deutlich die Analogie der Wirkung von unbeschädigter Natur und großer Kunst: »Damit waren unverlierbare Maßstäbe im Anblick von Natur und im Anblick von Kunstwerken gegeben« 22 . Die Erfahrung des jeweils einzigartigen Gestaltcharakters dieser »Anblicke« setzt die nichtdiskursive, ganzheitliche und nicht verEbd. Adorno handelt in seiner Ästhetischen Theorie von einer vergleichbaren Erfahrung: »Das Wort ›wie schön‹ in einer Landschaft verletzt deren stumme Sprache und mindert ihre Schönheit: erscheinende Natur will Schweigen, während es jenen, der ihrer Erfahrung fähig ist, zum Wort drängt, das von der monadologischen Gefangenschaft für Augenblicke befreit.« (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Ges. Schriften Bd. 7, Frankfurt am Main 1970, 108) 22 Liebrucks, Das nicht automatisierte Denken, a. a. O., 257. 21
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Bruno Liebrucks’ Konzeption der Sprachlichkeit der Künste
fügende Hinnahme der Natur- und Kunstgesichte voraus. Eine entsprechende Antwort ist daher nur als künstlerische zu denken. Das gemeinsame Motiv für die Darstellung der bestimmten Lebenssituationen in Liebrucks’ Selbstdarstellung erweist sich als Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit authentischer Erkenntnis inmitten einer Welt der normierten Denk- und Erkenntnisweise. Aus Liebrucks’ Sicht ist dies nur im Sinne der bestimmten Negation des verwissenschaftlichten Weltumgangs denkbar, der wohl zu einer Bestimmung von Realität, nicht aber zur menschlichen Wirklichkeit gelangt. Die Antwort auf die Frage nach der Erkenntnis verlangt Liebrucks zufolge daher nach einer Radikalisierung. Mit Rückblick auf die referierten bedeutsamen Lebenssituationen erklärt er: »Die Geschichten sollten zeigen, daß Erkenntnis nur dort stattfindet, wo sie in der Form der göttlichen Belehrung auftritt.« 23
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Freiheit als Marionette Gottes. Eine Untersuchung über den Gottesbegriff im Werk von Bruno Liebrucks
I.
Hinführung: Der Gottesbegriff als Beantwortung der Frage nach dem Logischen
»Als was muß das Logische angesehen werden, wenn es in seinem innerlogischen Status auf menschlich erfahrbare Wirklichkeit hinweisen können soll?« 1 Dies ist die Leitfrage, die Liebrucks seiner Hegelrezeption zugrunde legt. 2 Mein Aufsatz wird sich nicht mit der Darstellung und Kritik der von Liebrucks vorgelegten Hegelinterpretation befassen. Da aber Hegel wohl unbestritten das philosophische Vorbild ist, dessen Denkstrukturen Liebrucks für seine eigene Philosophie der Sprache adaptiert, darf die Beantwortung der zitierten Arbeitsfrage auch als Aufgabenstellung der von Liebrucks konzipierten Sprachphilosophie gelten, welche in der Konsequenz die Formulierung des Gottesbegriffs prägt, der den Hauptgegenstand meiner Untersuchung bildet. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass Liebrucks selbst nicht explizit die Formulierung eines Gottesbegriffs als Ziel seiner philosophischen Arbeit ankündigt. Vielmehr habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Liebrucks’ Hauptwerk SuB 6/1, 183. »Die Hegelsche Logik ist die Antwort auf die Logik in der Spannweite von Aristoteles bis Kant.« (SuB 6/1, 12) Sie »wird mit dem Anspruch angefangen, daß es innerlogische Mitteilungen über Wirklichkeit gibt, daß man darüber hinaus nur vor die Wirklichkeit gelangt, wenn man sie in den λόγοιϚ aufsucht. Im Zusammenhang von ›Sprache und Bewußtsein‹ hieße das, daß man nichts von der Wirklichkeit erfährt, wenn man sie nicht in der Sprache aufsucht. […] Die Logik fragt nach den Bedingungen, unter denen Vernunft nicht ein bedeutungsloser Name, sondern das Wort ist, in dem 1) etwas Seiendes 2) das Wesen 3) der Begriff vernehmbar sind. Die Frage, unter der die Hegelsche Logik steht, ist immer die Frage nach der Methexis der Idee mit der menschlichen Wirklichkeit wie die Frage nach der Verbundenheit und Getrenntheit von Subjekt und Erkenntnis und den Objekten. Als was muß das Logische angesehen werden, wenn es als solches auf Wirklichkeit hinweist? Die Sätze der Hegelschen Logik sind als Antworten auf diese Frage anzusehen.« (SuB 6/1, 164 f.)
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»Sprache und Bewußtsein« 3 auf die Formulierung eines Gottesbegriffs hin zu befragen, zumal sich seine Philosophie der Sprache, des Logos, vom Begriff des Logos herleitet, wie er im Neuen Testament bezeugt ist. Der Gottesbegriff bei Liebrucks ist die Konsequenz seiner sprachphilosophischen Erschließung dessen, was er »das Logische« nennt. »Als was muß das Logische angesehen werden, wenn es in seinem innerlogischen Status auf menschlich erfahrbare Wirklichkeit hinweisen können soll?« Diese Arbeitsfrage benennt bereits die Binnenperspektive, unter welcher jede Aussage über »das Logische« zu stehen kommt: Über Logik reden wir immer schon im Vollzug der Logik. Also muss es zum einen ein innerlogisches Zeigen auf »das Logische« geben. Dass das Reden über Logik stets bereits deren Vollzug ist, schließt zum anderen ein, dass wir als diejenigen, die den Vollzug der Logik thematisieren, dabei von uns selbst sprechen und somit »das Logische« immer schon in dessen Hinweisen auf die menschlich erfahrbare Wirklichkeit artikuliert haben. Das Logische, man kann ebenso sagen: die Vernunft, wird sich als Reziprozität von Sein und Begriff erweisen, die der Mensch aussprechen kann, obwohl ihm die Faktizität der eigenen Vernunft entzogen bleibt. Darin erweist sich der göttliche Charakter der Vernunft, des Logischen, dessen Formulierung als Begriff folglich in einem Gottesbegriff resultiert. Wer einen Gottesbegriff formuliert, fragt nach dem ὄντωϚ ὄν. Liebrucks ist davon überzeugt, »daß jede Weltansicht sich auf ein Letztes stützt, unter welchem Namen dieses auch ins Bewußtsein gelangen, oder, wenn es ahnt, daß es damit eine bestimmte Gottesauffassung mitbringt, aus modernen konformistischen Gründen verdrängt werden mag.« 4 Der Begriff eines vernünftigen »Letzten« muss die logische Integration von Widersprüchen schaffen und sich daraufhin befragen lasWo es der Erörterung dient, sind auch die Beiträge aus zwei Aufsatzbänden Liebrucks’ in die Darstellung einbezogen: »Erkenntnis und Dialektik« (1972) sowie »Irrationaler Logos und rationaler Mythos« (1982). Die Dissertations- und Habilitationsschrift wurden unberücksichtigt gelassen. Da Liebrucks seinen originären Entwurf einer Philosophie der Sprache in seinem Hauptwerk niederlegt, ist dieses die bevorzugte Quelle der vorliegenden Untersuchung. Liebrucks’ gesammelte Vorträge und Aufsätze erscheinen wie verdichtete Darstellungen der Thesen aus »Sprache und Bewußtsein«. Eine formal aus dem Rahmen fallende Schrift ist der zum Teil als fiktives Interview verfasste Text »Das nicht automatisierte Denken« (1975), das meiner Untersuchung ebenfalls als Referenztext dient. 4 SuB 5, 263. »Gott ist unter tausend Namen aufgetreten, wenn dem Menschen auch oft nicht bewußt war, daß er von dem Letzten sprach, von dem ihm zu sprechen möglich ist, 3
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sen, ob in der erfahrenen Vielfalt an Gesichtern von Welt auf einen Kontingenzbewältigung gewährleistenden Sinn vertraut werden darf bzw. wie Individualität in ein solches Sinnganzes eingezeichnet werden kann. Eine alle Widersprüche integrierende Einheit führt zum Begriff eines Absoluten. 5 Mit der Annahme der Existenz eines Absoluten ist die menschliche Existenz immer schon als ein Moment dieses Absoluten ausgesagt. Der philosophische Begriff eines Absoluten, das in der Theologie »Gott« genannt wird, wird daher stets im Zusammenhang mit einem entsprechenden Subjektbegriff entwickelt. In erster Linie ist die Arbeit am Gottesbegriff Verhältnisbestimmung göttlicher und menschlicher Freiheit. Aufbau und Titel meiner Untersuchung tragen dem Rechnung: Die Formulierung des Gottesbegriffs bei Liebrucks wird anhand der Darlegung der Freiheit des Menschen als Marionette Gottes erläutert, eines von Liebrucks selbst gewählten metaphorischen Motivs, das dessen Werk wie ein roter Faden durchzieht.
II.
Der Begriff des Begriffs
Bevor sich dieser Aufsatz mit dem von Liebrucks formulierten Gottesbegriff beschäftigen soll, muss darüber Klarheit geschaffen werden, was unter einem Gottesbegriff zu verstehen sei. Im Verlauf der Darstellung wird sich verdeutlichen, dass sich der Gottesbegriff bei Liebrucks in der Aussage zusammenfassen lässt, Gott müsse als Begriff gedacht werden. 6 Wie ist das zu verstehen? Als »Begriff« kann zunächst die einen Denkprozess repräsentierende semantische Einheit gelten, gemäß der Definition Kants »eine allgemeine Vorstellung […], sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann«. 7 Diese Begriffsdefinition entspricht dem, was Hegel in seiner noch daß er immer dann von Gott spricht, wenn er von etwas spricht, das in sich selbst autark ist.« (Ebd.) 5 »Diese absolute Einheit könnte als absolute die Einheit der vollständigen Realität und Idealität sein, wie der Hegelsche Begriff und die menschliche Sprache. Wenn dem so ist, dann ist in Wahrheit noch kein Mensch, der der Sprache mächtig gewesen ist, Atheist gewesen […]. Atheistisch kann der Mensch nur in dem Fall werden, in dem er sich ›entschließen‹ sollte, Sprache und Bewußtsein aufzugeben.« (SuB 4, 187 f.) 6 »Die Darstellung Gottes im Begriff ist er selbst.« (SuB 6/1, 203) 7 I. Kant, Logik, in: ders., Werke in sechs Bänden, Bd. III: Schriften zur Metaphysik und Logik, hg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1998, § 1, Anm. 1.
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Begriffslehre 8 als logischen Status des Wesens bezeichnet. In diesem Status wird der Begriff eines Seienden konstituiert, der den Übergang von der Unmittelbarkeit des Seins zur Vermittlung eines Seienden mit sich selbst formuliert. Das »Wesen« bezeichnet eine äußerliche Notwendigkeit der Dinge, die diesen Zuordnungsschemata auferlegen lässt. Weil dieser wesenhafte Begriff von seinem Objekt strikt unterschieden ist, nennt Hegel ihn auch »subjektiv«. Von diesem »subjektiven« oder »wesenhaften« grenzt er ein Verständnis des Begriffs als »adäquaten« ab. Der adäquate Begriff oder Begriff des Begriffs ist der sich in der Selbstentfaltung über den eigenen Widerspruch gewinnende dialektische Begriff. Während der wesenhafte Begriff ein Abstrakt-Allgemeines formuliert, behauptet Hegel den Begriff als ein Konkret-Allgemeines, das sich in der Reziprozität von Subjektivität und Substantialität erzeugt. Dieses Verständnis des Begriffs als eines dialektischen legt Liebrucks seinem Gottesbegriff zugrunde. Der Begriff ist die Sprachform, in welcher sich das Denken selbst denkt und zum Begriff bringt. Hegel spricht daher auch vom sich selbst denkenden Denken als dem Begriff des Begriffs. Hegels Begriffslogik gestaltet sich als Logik des Begreifens, die spekulativ nachvollzieht, was im rein formalen Begriff immer schon vorausgesetzt ist: die wechselseitige Applizierbarkeit von Sein und Begriff. Hegel erreicht dies, indem er die Negation als identitätsstiftendes Moment in die logische Genese des Begriffs einholt. In der Genese des Begriffs ist die Negation immer eine zweifache. Das Wesen ist die einfache Negation des Seins, die Reduktion der mannigfaltig bedeutenden Welt zu einer Welt, die nach Kant als »Dasein unter Gesetzen« erscheint. Der logische Status des Wesens bezeichnet das Übergehen des Seins in den Begriff. Im Übergehen in das Wesen erweist sich das Sein, bloße Erscheinung zu sein. Sein und Begriff sind im Status des Wesens erst äußerlich vermittelt, sofern eine Beziehung zwischen beiden angezeigt ist, die selbst nicht thematisch wird. Erst im dialektischen Begriff als Negation der wesentlichen Negation sind Sein und Wesen als Momente des Begriffs zu diesem aufgehoben, da im dialektischen Begriff die Unterschiedenheit von Sein und Wesen gedacht ist, in der beide unterschieden und zugleich aufeinander bezogen werden. Der Begriff ist nie von seinem Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil: Die Wissenschaft der Logik. Mit den mündlichen Zusätzen (1830), Werke 8, hg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel, Frankfurt 1970, § 160 f.
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Inhalt abstrahiert, er kommt erst in seinem Inhalt zu sich. Dementsprechend ist der Begriff einer Sache nicht von außen auf sie zu applizieren, vielmehr ist er aus der Betrachtung ihrer selbst zu entwickeln. 9 In der logischen Genese des Begriffs setzt die Vernunft nicht Begriffe und Gegenstände in Beziehung, sondern ist diese Beziehung. Auf diese Art und Weise erfährt der Begriff gleichsam eine Hypostasierung zur treibenden Kraft der Dinge. 10 Der dialektische Begriff ist Träger aller Unterschiede und daher deren Totalität, die Aufhebung von Allgemeinem und Konkretem. Der Begriff des Begriffs – dessen Identifizierung mit dem Selbstbewusstsein in der Hegelrezeption strittig ist, auch wenn er nie unabhängig von diesem gewonnen werden kann – ist als »Reich der Wahrheit« 11 eine alle ihre Differenzierungen in sich enthaltende Identität, die sich selbst als Bei-sich-selbst-Sein im Sein-bei-Anderem begreift. Als dialektische c r e a t i o c o n t i n u a ruft er im Sein wie im Denken beständig seinen eigenen Gegensatz hervor, um sich in Überwindung seiner Nicht-Identität als Identität zu begründen. Ausgehend vom An-sich vollendet sich der Begriff zum An-und-für-sich, zum selbstbewussten Begriff. Als solcher ist er absoluter Geist, in dem jedes der Momente das Ganze ist. 12 Das Konkret-Allgemeine ist der Begriff, der sich in seinem Gang in die Konkretion als Begriff eines Allgemeinen darstellt. Dies ist der Begriff eines Absoluten: Gott als Begriff.
III. Der logische Weltumgang als Doppeldarstellung Gottes und des Menschen Der Selbstwiderspruch ist das treibende Moment in der von Hegel dargelegten Logik des Absoluten, in welcher sich dieses als sich in seinen Selbstüberwindungen entsprechender Begriff konstituiert, indem es Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. H.-F. Wessels u. H. Clairmont, Hamburg 2006, 65. 10 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, a. a. O., 100 f. 11 »Der Begriff ist das Reich der Wahrheit. Er ist die ›Grundlage‹ des Seins als Sein und des Wesens als Wesen.« (SuB 6/3, 149) 12 Der Begriff des Bewusst-Seins kann synonym gebraucht werden zum Begriff des Geistes. »[D]ie Wirklichkeit des Geistes steht nicht einem Bewußtsein gegenüber, das die Menschen von ihm haben mögen oder auch nicht. Das Sichwissen des Geistes ist der Begriff. Wesentlich dagegen ist dieses Sichwissen nicht der Begriff, sondern das, was wir Bewußtsein zu nennen pflegen. Der Geist aber ist Bewußt-Sein, Weltumgang, nicht Bewußtsein.« (SuB 6/1, 228) 9
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sich in die Abstraktionen seiner selbst entlässt. 13 Das Absolute erreicht seine Vollendung als νόησιϚ νοήσεωϚ über unablässige Selbstnegation, d. i. die Hingabe an die Existenz als Gegensatz seiner selbst, aus dem es sich zur Einheit des Begriffs erhebt, der das Geistige und das Sein zu seinen Momenten hat. Der hegelsche Begriff des Absoluten verläuft somit über die Formulierung eines Identitätsbegriffs, der die Negation als identitätsbildendes Moment einholt. Nach Hegel hebt jede Negation das Negierte in sich auf. 14 Aufhebung als dialektische Überwindung eines Widerspruchs wird bereits von Hegel als spekulativer Geist der Sprache begriffen, die in der Lage ist, gegensätzliche Bedeutungen selbst in ein und demselben Wort zu vereinen. Hier nimmt Liebrucks’ Sprachphilosophie ihren Ausgangspunkt. 15 Worauf es im Logischen ankommt, ist der gelingende Übersprung vom Begriff zur Existenz, die sich in jedem Moment der Sprache als logischer Struktur der Vernunft aneinander erzeugen. Die Existenz ist die Verendlichung des Begriffs, der Begriff ist die Aufhebung der Existenz in die Unendlichkeit der Bedeutung. Liebrucks kann sagen, innerhalb des Begriffs existiere Gott. 16 Er nimmt mit dieser Behaup»Die Kraft des Geistes besteht darin, in der Entäußerung bei sich selbst zu sein.« (SuB 5, 291) 14 »Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts ist das Unmittelbare; ein Aufgehobenes dagegen ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseyende, aber als Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist; es hat daher die Bestimmtheit aus der es herkommt, noch an sich.« (G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I. Die Lehre vom Sein (1832), Neuausgabe der GW 21, Hamburg 1990, 94) 15 Liebrucks zufolge ist ohne eine dialektische Logik »nicht das leiseste Begreifen von Sprache möglich.« (SuB 1, 50) Zumindest haben wir für die Koinzidenz des Widersprüchlichen in der Sprache (bisher) keinen anderen Ausdruck als das Wort »dialektisch«. (Vgl. SuB 6/1, 17) Das dialektische Denken mag nur eine Durchgangsstufe in der Entwicklung des menschlichen Bewusst-Seins sein; Liebrucks jedenfalls bescheinigt ihm keine »Ewigkeitsgeltung«. (Vgl. SuB 4, XII) Er geht desgleichen davon aus, dass, sollte jemand zeigen können, »daß die Sprachlichkeit nicht die volle Charakteristik des menschlichen Bewußtseins als Bewußt-Sein hergibt«, auch sie »zum Moment herabsinken« würde. (Ebd.) Sprache ist der dialektische Begriff selbst. Sie wird von Liebrucks bedeutet als die im Bindestrich des Wortes »Bewusst-Sein« ausgesprochene Bewegung des Geistes zwischen Wesen und Existenz. »Diese Bewegung ist keine nurseiende, keine wesentliche, sondern die Begriffsbewegung, für die es kein formallogisches Bildnis gibt. Es ist daher nicht nötig, innerhalb des Begriffs zu sagen, ›du sollst dir kein Bildnis machen‹. Vom Begriff können wir uns kein Bildnis machen. Bildnisse sind wesentlich. Sie sind schriftlich. Das einzige Bild, das der Mensch vom Begriff, d. h. von sich selbst wie von Gott hat, ist der Mythos, das gesprochene Wort.« (SuB 6/3, 306) 16 Vgl. SuB 6/3, 367. 13
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tung das Argument des ontologischen Gottesbeweises von der Vorfindbarkeit des Gottesgedankens im menschlichen Bewusstsein auf: Gott ist i d , q u o n i h i l m a i u s c o g i t a r i p o t e s t , er könne nicht als nicht seiend gedacht werden, weshalb vom Begriff Gottes auf dessen Existenz zu schließen sei. 17 Sofern der menschliche Weltumgang als sprachlicher auf dem dialektischen Übergehen vom Begriff in das Sein und vom Sein in den Begriff beruhe, werde in jedem seiner Momente »ein kleiner Gottesbeweis« erbracht. 18 »Als Begriff schwebt Gott nicht über der Wirklichkeit. Er hat sie als Begriff in sich. Die Wirklichkeit hat ihn in sich.« 19 Die a d a e q u a t i o von Begriff und Gegenstand setzt eine Identität aller möglichen Verweisungszusammenhänge in Bewahrung von deren Nicht-Identität voraus, die den logischen Anfang bedeutet, hinter den nicht zurückgegangen werden kann. 20 »Der Anfang wird in seinem logischen Status erst am Schluß der Logik erkannt. Das Fortschreiten der Logik wird ein Vgl. Anselm von Canterbury, Proslogion. Untersuchungen, lateinisch-deutsche Ausgabe, hg. v. F. S. Schmitt, Stuttgart/Bad Cannstatt 3 1995, 84 f. 18 SuB 1, 109. Der Existenzbeweis Gottes »wird in allen Taten und Unterlassungen aller Menschen nicht einen Augenblick nicht geführt.« (SuB 5, 364) Zwar gebraucht Liebrucks hier den Ausdruck »Gottesbeweis«, dennoch sind seine sprachphilosophischen Erörterungen nicht als Beweisführung zur Existenz Gottes misszuverstehen. Vgl. SuB 1, 54; 109; SuB 3, 288. 19 SuB 6/2, 254. 20 Vor dem Hintergrund der Gleichsetzung des logischen Weltumgangs mit Sprache ist die Frage nach dem Ursprung der Sprache gleichbedeutend mit der Frage nach dem Ursprung der Welt: Schöpfung. »Die jüdische Religion faßte das Logische als den Anfang, in dem Gott sprach. Das Johannesevangelium hat das Logische als das Wort ausgesprochen, das im Anfang war, und zugleich gesagt, daß Gott das Wort war.« (SuB 6/1, 202) Am Anfang ist immer das Wort. »Wir können heute zwar – wohl endgültig – nicht mehr so sprechen, als sei die Ansicht vom Sechstagewerk Gottes in der Unmittelbarkeit der biblischen Aussage philosophisch noch diskutierbar.« (B. Liebrucks, Sinnfrage und Kontingenzerfahrung, in: ders., Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, 273–309, 297) Auch naturwissenschaftlich ist sie das nicht – und will es nicht sein: Eine Schöpfungserzählung ist kein Tatsachenbericht, sie legt Zeugnis ab von der Erfahrung des Ursprungs der Dinge, wie er gegenwärtig erfahren wird. Unsere Anfänge sind uns entzogen. Wir können dennoch von ihnen reden, weil sie in ihrer uns entzogenen Faktizität zugleich in jedem Moment unseres logischen Welterlebens wirksam sind. Die Besonderheit eines Schöpfungsmythos’ ist sein universaler Anspruch: Er will erzählen, wie alles begann. Das heißt auch, dass er nicht ein oberstes Prinzip darstellt, das er sich erschließt. Der Mythos spricht nie von einem Transzendenten, sondern er erzählt, d. h. er beschreibt eine Erfahrung. Mythos ist die Schilderung der Gegenwart des Unendlichen im Endlichen. »Demnach ist eine Ursprungsgeschichte von einer Schöpfung durch Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt, nicht als eine positive Aussage über einen 17
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solches sein, in dem der Anfang mitgeht. Deshalb ist der Anfang nicht ein hypothetisch angenommener«. 21 Das Gewordensein des Begriffs ist zugleich der Hinweis auf den logischen Anfang, der in diesem Begriff aufgehoben und als dieser präsent ist. Philosophie hat daher zur Aufgabe, die Bewegung des Gewordenseins von Wahrheit auf dem jeweiligen Erkenntnisniveau darzustellen. Diese Darstellung ist selbst ein Moment der Genese der Wahrheit, die Liebrucks in der Selbstaussage des im Neuen Testament verkündeten Logos ausgesprochen findet, wie sie in Joh 14, 6 verzeichnet steht: »Der Weg und die Wahrheit fallen zusammen.« 22 Das Absolute ist der Weg zu sich selbst und das Resultat: Das Wahre ist das Ganze (Hegel). So ist der Inhalt des Logischen zu allen Zeiten und für alle Menschen das eine Logische, das Räume und Zeiten schafft, das Subjekte und Objekte verbindet, das ebenso Beziehung zu anderen und (als solche) zu sich selbst ist. Unmittelbar auszusagen ist es daher nicht. »Das Logische wäre insofern Gott zu nennen, als es auch nur aus ihm selbst heraus verständlich sein soll. Es ist aber dasjenige, durch das wir in Methexis zur Welt stehen« 23 . Das Wort Methexis kann übersetzt werden als »Teilhabe« des Seins am Begriff. Sie ist in aller Tätigkeit der Vernunft vorausgesetzt als das Übereinstimmen von Begriff und Erfahrung, das all unseren Äußerungen als Annahme von deren Wahrheit inhäriert. 24 Die Genese der Wahrheit ist die Genese der Sprache als der einfachsten und grundlegenden, erfahr- und denkbaren Einheit von sinnlichem Erleben und geistiger Tätigkeit, »in der wir als dem einzigen Medium das menschliche Denken ohne metaphysische Vorannahmen studieren können« 25 . In der Sprache wird diese ebenso wie Wahrheit selbst thematisch, sie ist in jedem Moment ihrer Verwirklichung zugleich ein Verweis auf ihre eigene logische Struktur. Der Gegenstand der Philosophie als Philosophie der Sprache ist daher mit einem simplen tatsächlichen Vorgang anzusehen, weil dieser seinen logischen Ort nicht in der Wirklichkeit, sondern im Raum der wissenschaftlichen Realität hätte.« (Sinnfrage, 301 f.) 21 SuB 6/1, 242. 22 SuB 5, 354. Vgl. B. Liebrucks, Reflexionen über den Satz Hegels »Das Wahre ist das Ganze«, in: ders., Erkenntnis und Dialektik. Zur Einführung in eine Philosophie von der Sprache her. Aufsätze aus den Jahren 1949 bis 1971, Den Haag 1972, 152–195, 178. 23 Sinnfrage, 296. 24 »Jeder Mensch, der zu einem anderen Menschen spricht, hat bewußt oder unbewußt vorausgesetzt und anerkannt, daß es Wahrheit gibt.« (SuB 3, 1) Vgl. SuB 6/3, 133. 25 SuB 3, 87. A
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Satz benannt: »Ich spreche mit einem Partner über die Dinge. Mehr als der immer weiter und tiefer ausgreifenden Meditation dieses Satzes bedarf es nicht.« 26 Dieser Satz bringt zum Ausdruck, dass alles Denken des Logischen immer schon Vollzug des Logischen ist. Aus dieser Binnenperspektive vermag sich die menschliche Vernunft niemals zu befreien und kommt sich daher begrifflich nie näher als in der Thematisierung ihrer Selbstentsprechung in der Selbstentzogenheit. 27 Das Absolute übersetzt sich in die Individuen in kontinuierlicher Natalität 28 , die Liebrucks in der logischen Struktur der Sprache vollzogen sieht. Der Weltumgang des Menschen ist ein andauerndes »Neuschaffen seiner [d. i. Gottes, S. L.] Verkündigung in Natur, Geschichte und Wort« 29 . Als Moment des absoluten Geistes empfängt der subjektive Geist die logische Struktur seines Weltumgangs aus der logischen Struktur des Absoluten, der Dialektik von Begriff und Existenz, die Liebrucks auch Idealrealität resp. Realidealität nennt und als logische Struktur der Sprache erkennt. Entsprechend nennt er das Absolute auch den Logos, aus dem sich die Logik herleitet, in welcher der subjektive
SuB 2, 355. Vgl. SuB 4, 40 f. »Das Logische ist auch der Inhalt jedes menschlichen Weltumgangs, wie es der Inhalt aller Entsprechungen in der Welt ist. Würde dieses als eine dogmatische Auffassung mißverstanden werden, so kann man dem hinzufügen, daß dieser Inhalt […] in einem erkennenden Denken als immer schon vorausgesetzter Inhalt angesehen werden muß und auch wird, sobald wir mit einem anderen Menschen sprechen. Darin liegt die logische Genesis der Sprache. Es wird hier nicht die Aufforderung an uns gerichtet, eine solche dann leicht metaphysisch genannte Voraussetzung zu machen. Es ist uns gesagt, daß wir sie immer machen, gemacht haben und machen werden.« (SuB 6/1, 203) 28 SuB 6/2, 406; vgl. SuB 6/3, 477. Der Ausdruck »Natalität« legt eine Assoziierung Hannah Arendts nahe. (Vgl. H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 3 2005) Laut Arendt ist der Mensch Anfang (I n i t i u m ), d. h. sein Menschsein konstituiert sich dadurch, daß der Mensch selbst Anfang ist und Anfänge initiieren kann. Arendt entwickelt ihren Begriff von Natalität dabei in Orientierung an dem durch die antike Philosophie gesetzten Dualismus zwischen ζωή und βίοϚ. Die körperliche Geburt erhält ihren sie über bloße Reproduktion hinaushebenden Sinn erst vermittels der politischen Geburt des Individuums in der Gesellschaft. Die biologische Menschwerdung bedarf der gesellschaftlichen Menschlichwerdung – damit ergeben sich Parallelen zur Absage Liebrucks’ an eine logische Selbstfindung des Menschen über reine Innerlichkeit und die Behauptung der Geburt des Individuums aus der sprachlichen Subjekt-Subjekt-ObjektBeziehung, die sein Weltumgang ist. Die Analogisierung soll nicht überstrapaziert werden, daher genüge dieser kurze Hinweis. 29 SuB 1, 326. 26 27
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Geist seinen Weltumgang als sprachlichen bestreitet. 30 Als ζῷον λόγον ἔχον spricht der Mensch mit jedem seiner Worte den Logos aus. »Das Begreifen Gottes ist ein Moment innerhalb des Menschen als sprachlichen und begrifflichen Wesens. Aber er begreift Gott nicht als von Gott emanzipiertes Wesen, sondern soweit, als er als Begriff mit Gott in jener Identität steht, die die Momente des Unterschieds und der Verschiedenheit in sich selbst hat.« 31 Der Mensch als derjenige, in dessen Sprechen und Denken der Begriff als Unterscheidung von Denkendem und Gedachtem entsteht, ist der existierende Unterschied, der existierende Begriff. Im sprachlich-vernünftigen Weltumgang steigt der Begriff in die Existenz. Das Werden des absoluten Logos als Sprache bedeutet nicht nur eine c o o p e r a t i o von Gott und Mensch, sondern c o n c r e a t i o – der Logos wird durch uns geboren. 32 Logik ist die Doppeldarstellung Gottes und des Menschen. 33 Das Logische »ist nicht Gott, dessen Erhabenheit jenseits bleibt, sondern seine Darstellung in jedem uns als anorganisch Erscheinenden, jedem Grashalm, jeder menschlichen Empfindung, jedem Gefühl, jeder Anschauung und schließlich dem Denken, vor dem solche Darstellung als Darstellung ist.« 34 »Die Sprachlichkeit des menschlichen Weltumgangs ist seine Logizität.« (SuB 6/1, 151) 31 SuB 6/2, 129. »Die Existenz des Geistes ist die Erstellung des Unterschiedes zwischen Begriff und Begriffenem, eines Unterschiedes, der nicht etwa in positiver Vorstellung nur innerhalb des Begriffs Platz hat […]. Die Erstellung des Unterschiedes ist vielmehr die Existenz des Begriffs selbst, der der Unterschied von sich selbst ist.« (SuB 5, 284) 32 »Der Aufgang der Sonne des Absoluten ist an die Selbstentzündung des Lichtes in uns und durch uns gebunden.« (SuB 5, 336) 33 »Wir sind nicht in Gott als einem objektiv Wesentlichen, wenn nicht zugleich hinzugefügt wird, daß Gott als nur wesentliche Idee doch in uns als existierenden Begriffen als den sprechenden Menschen und den in allen Lagen immer sprachlich umgehenden Menschen ist. Gott ist weder der nur Erhabene noch ein erhebender Inhalt, der uns als das Logische zu ihm erhebt. […] Nur indem der Mensch sich ausdrückt, stellt er Gott dar und nur indem Gott nicht als omnitudo realitatis, sondern als die Darstellung der Welt seine Darstellung ist, können wir uns ausdrücken, d. h. sprachlich miteinander umgehen.« (SuB 6/1, 204) Auch diese Auffassung geht auf Hegel zurück: »Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt d i e D a r s t e l l u n g G o t t e s i s t , w i e e r in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines e n d l i c h e n G e i s t e s i s t .« (Hegel, Wissenschaft der Logik I, 33 f.) 34 SuB 6/1, 204. Wirklichkeit »konstituiert sich in den Verhältnissen Ganzes-Teil, Kraft und Äußerung, das Äußere und das Innere. Die Einheit der beiden letzten ist die menschliche Wirklichkeit. Diese menschliche Wirklichkeit wird in ihrer Unmittelbarkeit als ›das Absolute‹ erscheinen. Das ist ein bedeutender Fingerzeig dieser Logik auf die Vermittlung des Absoluten in der Sprache. Die Vermittlung des Absoluten in der Sprache ist der 30
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Liebrucks formuliert seinen Begriff von Gott wie folgt: Gott ist »dauernder Korrespondent von Sprache und Bewußtsein« 35 . Mit dieser Formulierung ist Gottes Erkennbarkeit ebenso ausgesagt wie seine Entzogenheit. Der Ausdruck »Korrespondenz« steht für eine Identität von Identität und Nicht-Identität. 36 Als Korrespondenz begegnet hier in einem anderen Wort der Begriff der Entsprechung, den Liebrucks sowohl von Hegel als auch von Humboldt vorgegeben findet. Bereits die Termini »Korrespondenz« und »Ent-sprech-ung« zeigen an, wie das Verhältnis von Gott und Mensch logisch bestimmt ist: als Sprache. Sprache ist die logische Struktur des Absoluten. Sie ist das KonkretAllgemeine, in welchem Subjektivität und Substantialität sich aneinander entfalten. »So handelt die Sprache schließlich von Gott, aber nicht von Gott als einem spekulativen Wesen, sondern von ihm als dem Wort, dem Logos.« 37 Jedes unserer Worte ist ein Gleichnis unseres Verhältnisses zum Absoluten, welches in jedem Wort als artikuliertes Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, Begriff und Existenz ausgedrückt wird. Der Logos ist die Vernunft als Sprache, die mit Gott als dem Korrespondenten von Sprache und Bewusstsein gleichursprünglich ist: Über sie stehen Gott und Mensch a b o r i g i n e in Verbindung. 38 So erfolgt das Sich-selbst-Denken des Absoluten im subjektiven Geist des Menschen als Dialektik logischer Anthropogonie und Theogonie. Die Geschichte des Menschen ist das gegenständlich gewordene Werden seines Begriffs im Werden des absoluten Begriffs. 39 Als Identität aller Identität und Nicht-Identität ist Gott dem endlichen Sein als seinem Selbstwiderspruch niemals transzendent. Transzendent bleibt dagegen ein Absolutes, das als p r i n c i p i u m i d e n t i t a t i s formuliert zum Gedanken hinzutretende Mensch (Bacon, Humboldt). Der Logos des Menschen, der menschliche Begriff, ist die Einheit von Wesen und Sein. In ihm ist das Absolute enthalten.« (SuB 6/2, 301) 35 SuB 4, 188; vgl. a. a. O., 193 u. ö. 36 »Die Auslegung des Absoluten ist noch nicht seine absolute Auslegung. Die Auslegungen des Menschen sind es nie.« (SuB 6/2, 329) 37 SuB 2, 151. »Die Sprache, der Logos ist ein […] Gott, den es natürlich nicht gibt, der aber als Möglichkeit unsere geistige Sphäre bildet«. (SuB 2, 150) 38 »Am Anfang war das Wort. Es schuf Himmel und Erde wie den Menschen. Deshalb ist die sprachliche Besinnung des Menschen auf sich selbst zugleich die Besinnung des Menschen auf seinen Ursprung als sprachliches Wesen.« (SuB 2, 5) 39 »Alles, was uns als Gegenstand begegnet, ist unsere vergessene Vergangenheit.« (SuB 5, 39)
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ist. 40 Eine solch tautologisch formulierte Identität, A bleibe sich immer als A gleich, fungiert als rein formale Kontingenzbewältigung durch Bereitstellung von Strukturinvarianzen. 41 Der formallogische Satz der Identität sagt nichts über Inhalte aus, sondern über syntaktische Beziehungen. Er liegt der Bildung des Begriffs Gottes als einer durchgängige Bestimmung der Dinge garantierenden o m n i t u d o r e a l i t a t i s zugrunde. Eine unbewegt mit sich gleichbleibende Identität ist aber keine Identität, die das Sein als Veränderliches in sich trägt, und als solche der vom Menschen erfahrenen Welt transzendent. Der Begriff eines Absoluten wäre damit unterlaufen: »Ein Absolutes, das das andere seiner selbst nicht an sich hat, kann immer nur geglaubt, niemals begriffen werden.« 42 Empfängt aber der Mensch die Logik seines Weltumgangs aus der Logik des Absoluten, wie es der Begriff eines Absoluten verlangt, so muss der absolute Begriff das Sein in sich begreifen. Somit vermag sich auch der Mensch in der Partizipation an der Logik des Absoluten einen Begriff von Sein zu machen. In der Erhabenheit über die Endlichkeit des Seins liegen die Freiheit sowohl des Absoluten als auch des Menschen begründet. 43 Das Endliche ist in dessen Begreifen über das Sein erhaben und somit unendlich, weil das Unendliche nicht das Gegenteil des Endlichen und auch nicht dessen Analogie ist, sondern das endliche Sein zu seinem Moment hat. Der Unterschied beider muss innerlogisch sein, wenn das Endliche unendlich sein können soll. Er ist dies in der Logik als Sprache. Als sprachliche sind die Dinge im Moment, da sie ins Sein treten, ihrer Vergänglichkeit enthoben. Im Verklingen seiner Artikulation ersteht das einzelne Sprachereignis in seinem Eingehen in die Allgemeinheit der Sprache auf zu seiner Bedeu-
40 »Nicht Gott ist transzendent, sondern der Satz ›A = A‹. Diese Transzendenz ist eine dem Menschen zur Beherrschung von Mensch und Natur gegebene.« (B. Liebrucks, Das nicht automatisierte Denken, in: L. J. Pongratz (Hg.), Philosophie in Selbstdarstellungen, Hamburg 1975, 168–223, 196.) 41 Die als durchgängig bestimmt gesetzte formallogische Identität ist »als solche Unmittelbarkeit selbst noch gegenständlich und nicht zugleich gegenständlich und übergegenständlich wie der Begriff. Er [der formallogische Begriff, S. L.] ist logisch noch objektiv. Die Identität erscheint darin als oberste Regelanweisung für die unmittelbar gebliebene Abtrennung des Logischen vom Wirklichen.« (SuB 6/2, 108) 42 SuB 5, 124. 43 »Gott […] ist nicht nur transzendent, sondern der Erhabene, der die göttliche Demut des Herabneigens geübt hat, damit wir wissen, wie es mit uns bestellt ist, wenn Wahrheit erscheint.« (Denken, 196)
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tung. 44 Indem sie auf das vergangene Einzelereignis verweist, aus dem sie hervorging, und zugleich eine Mannigfaltigkeit an Deutungen zulässt, verweist eine Bedeutung in ihrer semantischen Mehrstrahligkeit auf das Ganze der Sprache. Das Über-sich-hinaus-Bedeuten jedes Wortes zeigt die Präsenz des Unendlichen im Endlichen an. Diese wird von Liebrucks metaphorisch umschrieben im Bild des Menschen als Marionette des Logos.
IV. Freiheit als Marionette Gottes Die Metapher vom Menschen als Marionette Gottes hat eine lange Traditionsgeschichte. Schon Platon charakterisiert in seinen »Nomoi« die Menschen als Drahtpuppen, als den Trieben von Lust und Schmerz ausgesetzte Geschöpfe. 45 Auch Kant verwendet das Bild der Marionette, um einen Menschen zu schildern, der weder im Denken noch im Handeln seiner selbst mächtig ist. 46 Georg Büchner beklagt den Menschen als einen in die Hände des Schicksals gelegten, passiven Gegenstand. 47 »In der Sprache ist das Verschwinden […] die Konstitution des Sinnes.« (SuB 6/1, 362) – »Wenn das Endliche dadurch, daß es jeden Augenblick vergeht, über sich hinausweist, so hat die Sprache die göttliche Natur, die Endlichkeit auf die Augenblicklichkeit verklingender Laute zusammenschrumpfen zu lassen – zugunsten der unendlichen Bedeutung.« (SuB 2, 321) 45 »So wollen wir uns denn die Sache folgendermaßen vorstellen. Wir wollen jedes von uns lebendigen Wesen als eine sogenannte Marionette ansehen, welche die Götter, sei es bloß zu ihrem Spielzeug, sei es zu einem ernsteren Zwecke, gebildet haben, denn das wissen wir so recht eigentlich nicht. Das aber wissen wir, daß die ebengenannten Regungen in uns gleichsam wie innere Drähte oder Schnüre uns leiten und, wie sie selbst einander entgegengesetzt sind, auch einander entgegenwirkend uns zu entgegengesetzten Handlungen hinziehen, und daß eben hierin der Unterschied von Tugend und Laster beschlossen liegt.« (Platon, Nomoi, I/15, in: ders., Nomoi, Buch I–III, übers. u. komm. v. K. Schöpsdau, Göttingen 1993) 46 »Der Mensch wäre Marionette oder ein Vaucansonsches Automat, gezimmert und aufgezogen von dem obersten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußtsein würde es zwar zu einem denkenden Automate machen, in welchem aber das Bewußtsein seiner Spontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird, bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ so genannt zu werden verdient, weil die nächsten bestimmenden Ursachen seiner Bewegung, und eine lange Reihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachen hinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchste doch aber gänzlich in einer fremden Hand angetroffen wird.« (Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, Werke in zwölf Bänden, Bd. 7, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt am Main 1977, 227) 47 »Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir 44
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In den Briefen Heinrich von Kleists findet sich – anders als in seinem Aufsatz »Über das Marionettentheater« – ein ähnliches Bild: »[E]ine Puppe am Drathe des Schicksaals – dieser unwürdige Zustand scheint mir so verächtlich […], daß mir der Tod bei weitem wünschenswerther wäre.« 48 Auch Liebrucks kann das Bild der an Drähten gespielten Puppe im pejorativen Sinne verwenden. Er spricht dann von Menschen als Sklaven ihrer eigenen institutionellen Errungenschaften, die sich selbst entmündigen, indem sie wie »Marionetten bewegt werden, die mit ihren Fäden an Prinzipien gebunden sind« 49 . Vor allem aber schreibt Liebrucks die Tradition des Marionettenmotives in ungewöhnlicher Weise fort: Bei ihm wird das Bild vom Menschen als Marionette zum Inbegriff des freien Menschen. Es ist hierbei entscheidend, wessen Marionette wir sind: »Nur als Marionette Gottes bin ich lebendig und frei.« 50 Liebrucks bindet die Freiheit des Menschen an dessen Gottesbezug und legt somit einen theologischen Grundzug seiner Philosophie offen. 51 Der Gebrauch der Marionettenmetapher erweist sich bei Liebrucks als Veranschaulichung der hegelschen Philosophie des Absoluten. Die Verwendung des Bildes der Marionette funktioniert hierbei über dessen Brechung: Liebrucks wählt eine bewusstseinslose Puppe als das Bild, in dem sich seine Bewusstseinstheorie verdichtet. Die durch seine Kontextualität entstehende Widersprüchlichkeit des Bildes lenkt aufgrund selbst!« (G. Büchner, Dantons Tod, in: ders., Werke und Briefe, Münchner Ausgabe, hg. v. K. Pörnbacker/G. Schaub/H.-J. Simm/E. Ziegler, München/Wien 1988, 100) 48 H. v. Kleist, Brief an Ulrike von Kleist (Mai 1799), in: ders., Sämtliche Werke, BKA IV/1, Briefe 1. März 1793 – April 1801, hg. v. R. Reuß/P. Staengle, Frankfurt am Main/ Basel 1996, 62. 49 SuB 5, 9. 50 SuB 7, 182. 51 »Das Verhältnis von Philosophie und Religion ist heute wegen unserer philosophischen Halbbildung den Religionen gegenüber kaum noch vortragbar. Plato hatte von uns als Marionetten Gottes gesprochen. Er konnte nicht sehen, daß wir gerade als solche freie Wesen sind, die sich nur als diese ihres Verstandes ohne fremde Leitung bedienen können. Man glaubt gegenüber solcher Behauptung darauf hinweisen zu müssen, daß der Vf. sich noch in einem Konfirmandenstadium befinde, in dem er das, was er auf den Knien seiner Mutter gelernt hat, nicht vergessen konnte. Wird er womöglich kurze Zeit nach der Konfirmation Professor und glaubt darin die ersten Schritte getan zu haben, so ist es nicht verwunderlich, daß er zu solchem – gelinde gesagt – Mißverständnis gelangt. Man begegnet, hier einen Ausdruck Schadewaldts zu gebrauchen, in einer solchen Situation der Marionette Gottes sozusagen ›schulterklopfikos‹.« (B. Liebrucks, Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, Vorwort, 14) A
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der doppelten Paradoxalität – eine Puppe mit Bewusstsein, eine freie Marionette – die Aufmerksamkeit auf die Pointe der Sprachphilosophie, die Liebrucks entfaltet. Um zu verdeutlichen, dass der Mensch seine Freiheit aus seinem logischen Weltumgang als Darstellung des göttlichen Logos empfängt, wird nicht von der Freiheit der Marionette gesprochen, sondern von der Freiheit des Menschen als Marionette Gottes. Das Wort »als« kann eine symbolische Prägnanz bezeichnen (Cassirer, König, Husserl). Bei Liebrucks hingegen ist hiermit die dialektische Genese des Absoluten im menschlichen Subjekt zum Ausdruck gebracht. Das Marionettendasein steht bei Liebrucks für das erkenntnistheoretische Scheitern der menschlichen Vernunft an ihrer eigenen Faktizität. Es ist der Vernunft aber möglich, nach dem Ursprung ihrer Faktizität zu fragen. Die Freiheit der Marionette besteht demnach in dem, was Herder die »zweite Reflexion« nennt. In ihr thematisiert die Vernunft im Denken ihrer Gegenstände zugleich sich selbst als das Denken der Gegenstände. Nur als Marionette Gottes sind wir frei. 52 Diese Einsicht ist nicht etwa »eine religiöse oder weltanschauliche Beteuerung« 53 . Sie ist die Einsicht, dass die Freiheit des Menschen darin besteht, um seine Unfreiheit zu wissen und diesen seinen Selbstwiderspruch auszuhalten. 54 Dieses Verständnis von Freiheit ist über einen Identitätsbegriff gewonnen, der den Selbstwiderspruch als identitätsbegründendes Moment behauptet. Über einen solchen Begriff sind auch die Freiheit des Menschen und die Freiheit Gottes nicht mehr gegeneinander auszuspielen. Wird Gott als der widerspruchslos mit sich Identische verstanden, ist alles sich von ihm Unterscheidende eine Störung Gottes. »Dann ist nämlich so etwas wie Bewußt-Sein eine Sekundärerscheinung […] Es ist dann nicht Kind Gottes, sondern nur eine Einschränkung der omnitudo realitatis, was doch gerade die Definition alles als bestimmt angesehenen Wirklichen war, nicht eines Wirklichen, das von Gott gesprochen war.« 55 Das Absolute und seine Mitteilungen stehen nie als ein Objektives vor uns. »Wäre es [das Absolute, S. L.] objektiv, so wäre der Vgl. B. Liebrucks, Das Problem der Sprachaufstufung und der Vorrang der Eindeutigkeit bei Theodor Litt, in: ders., Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, 232–271, 251 u. ö. 53 Ebd. 54 Unsere Freiheit ist »nichts weiter als das Maß der Einsicht in unsere Abhängigkeit, das wir gerade noch ertragen.« (SuB 2, 281) Vgl. SuB 1, 17; SuB 3, 120. 55 SuB 6/2, 160. 52
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Mensch dadurch, daß es sich im menschlichen Aussprechen ausspricht, eine unfreie Marionette.« 56 In der sprachlichen Bewegung des Logos als Entfaltung des Absoluten spricht der Mensch das Absolute aus, indem er sich selbst ausspricht. Wird die Freiheit des Menschen als Vollzug des göttlichen Absoluten begriffen, sind die Freiheit des Menschen und die Freiheit Gottes keine rivalisierenden Größen mehr: Die Freiheit des Menschen bringt die Freiheit des Absoluten zur Geltung. So bildete der Mensch zu jeder Zeit »Gott nach seinem Bilde, wie Gott ihn nach seinem Bilde erschuf. Über diese Dialektik ist noch keine Philosophie hinausgekommen.« 57 Die Sätze, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei (Protagoras), und dass Gott das Maß aller Dinge sei (Platon), sind nie getrennt voneinander auszusagen. Wovon der Mensch abhängig ist, dient ihm zugleich. Er spricht das Absolute nicht nur für das Absolute aus, sondern auch für sich. »Es ist die Güte Gottes, daß er sich über den Menschen als ein freies Wesen ausspricht, daß er den Menschen in Freiheit an seinem Werk mitwirken läßt.« 58 So verstanden ist die Selbstentäußerung Gottes in die Welt »die Freiheit der Individuen selbst. Das ist der geoffenbarte christliche Gott, den Hegel in das Denken der Philosophie eingebracht hat.« 59 Hegel bringt ihn in die Philosophie ein als den dialektisch sich forttreibenden Begriff des Begriffs, der sich als Identität über seine Widersprüche konstituiert. Dies ist die begriffslogische Fortschreibung des zentralen Motivs der christlichen Tradition: des in seinen tiefsten Widerspruch gehenden Gottes. Der christliche Gott erweist sich als Gott, indem er der kümmerlichste aller Menschen wird, verurteilt, verspottet, hingerichtet – und indem er vom Tode aufersteht zu seiner ganzen Herrlichkeit, in welcher sein Gang in den Selbstwiderspruch aufgehoben ist. 60 Liebrucks sieht in Anlehnung SuB 3, 431. SuB 5, 301. »Immer formt er [der Mensch, S. L.] Gott nach seinem Bilde, wie Gott ihn nach seinem Bilde geschaffen hat. Nur in diesem Widerspruch bleibt der Mensch Mensch. Nur in diesem Widerspruch lebt die Logik als Logos des menschlich-sprachlichen Weltumganges.« (SuB 6/2, 282) – »Die Absolutheit des Geistes besteht darin, daß Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf und daß der Mensch Gott immer nach seinem Bilde schafft. Das ist die Preisgabe Gottes an den Menschen, daß er ohne diesen Menschen kein Sein hat, daß er ihn nicht nicht lieben kann, weil sein Sein nicht den Charakter der absoluten Position hat.« (SuB 5, 184) 58 SuB 3, 431. 59 SuB 3, 611. 60 Von Liebrucks wird der christliche Mythos der Auferstehung als mythische Beschreibung der Bewusstseinsentwicklung gedeutet (so schon bei Hegel). Der Tod bezeichnet 56 57
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an Hegel in der neutestamentlichen Verkündigung des ins Sein eingehenden göttlichen Logos, seines Todes und seiner Auferstehung nicht allein den Gang des absoluten Geistes, sondern auch den des subjektiven geschildert. In Anlehnung an einen von Liebrucks vielzitierten Ausdruck Hamanns formuliert, ist der Gang Gottes zu den Menschen die logische Selbstunterscheidung des absoluten im subjektiven Geist, dessen Teilhabe an der Logik des Absoluten der Gang des Menschen zu Gott ist. »Der Mensch gelangt aber zu sich selbst […] nur auf dem Umweg über Gott […] Der Mensch ist nicht in sich selbst in sich, sondern nur in Gott. Dieser Gott ist als Logos menschgewordener Gott. Indem ich den Menschen als Vernunftwesen konzipiere, habe ich ihn schon mitkonzipiert.« 61 Gott und Mensch sind jeweils in ihrem Anderen bei sich. 62 Sie sind dies im Logos, d. i. der Vernunft, die Sprache ist. Der Mensch empfängt seine Freiheit aus der Freiheit des Absoluten und verwirklicht sie im Zugestehen der Freiheit seiner Mitmenschen als sich entsprechender Subjekte. So bringt er die Struktur der eigenen Freiheit als Darstellung des Absoluten zur Geltung. Unter der Bedingtheit seiner Existenz kann er diese Freiheit nur reglementiert realisieren. Aber »[i]n jedem Augenblick, in dem der Mensch den anderen Menschen frei läßt, handelt er, als sei er Gott, dessen Macht darin besteht, seine Zwecke auf dem Weg über die Freiheit des Menschen zu erreichen. […] Dieser Augenblick ist immer dort gegeben, wo der Mensch mit dem anderen Menschen spricht und mit ihm im Raum der Sprache handelt.« 63 Der »Raum der Sprache« öffnet sich, wo das Subjekt insofern demnach die erste Negation vom konkret erfahrenen Sein zum wesentlichen Allgemeinbegriff, die Auferstehung umschreibt die Negation der Negation, die Aufhebung des Seins und des Wesens zu Momenten des Begriffs. So ist »[d]er christlich verstandene Vorgang von Sterben und Auferstehen […] Bedingung der Wirklichkeit der Erkenntnis.« (SuB 3, 119) 61 SuB 3, 368. 62 »Gott und Mensch können nicht in abstrakter Geschiedenheit begriffen werden, ja, nicht einmal die menschlichen Individuen untereinander.« (SuB 1, 230) Folglich ist »[a]lle Göttlichkeit […] in der Erfahrung menschlichen Daseins gegeben oder überhaupt nicht.« (SuB 2, 230) 63 SuB 6/3, 594. Dagegen ist die verwehrte Anerkennung des Anderen als Gesprächspartner Ausdruck eigener Unfreiheit. »Etwas kann nur als begrenzt zugleich begrenzend sein. Indem ich den Nächsten als Nächsten negiere, gegen ihn kämpfe, zeige ich mich als Begrenzter. Liquidation des Anderen ist immer schon Selbstliquidation. In der Sprache ist diese Erfahrung der Menschheit aufbewahrt. Die christliche Religion hat das im Sprachkleid vorgetragen.« (SuB 6/1, 355)
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Gott gleich, i m a g o D e i , ist, als es seine Identität schafft, indem es sich in seinen eigenen Unterschied entlässt. Angelehnt an das hegelsche Theorem des Beim-Anderen-bei-sich-selbst-Seins prägt Liebrucks für diese Selbstentsprechung in der Selbsttranszendierung den Terminus »Subjekt-Subjekt-Objekt-Beziehung«. Indem ein Subjekt mit dem anderen spricht, hat es anerkannt, dass dieses andere ein sich selbst entsprechendes Subjekt ist. Wird es von diesem Subjekt angesprochen, ist es dadurch selbst als ein dem anderen Subjekt korrespondierendes anerkannt. 64 Die Marionettenmetapher transportiert die grundlegende Einsicht, dass Freiheit ihr Gegenteil, Unfreiheit, als eines ihrer Momente in sich trägt: Sie ist Aushalten der Freiheit des Anderen. Der freie Mensch ist immer auch Marionette dessen, der ihm diese Freiheit gewährt. Der Grund seiner Freiheit ist dem Menschen darin ebenso eigen wie entzogen. Ihre Entzogenheit ist Schutz der Freiheit. Sie ist unverlierbar; noch ihre Depravationsformen sind ihr Moment. Die Gefahr, eine ihrer Depravationsformen könnte anstelle der Freiheit als Erfüllung des Menschseins befohlen werden, ist nicht gegeben, weil allein Freiheit als solche über ihre Widersprüche erhaben ist, indem sie diese in sich aufzuheben weiß. Unfreiheit kann sich nur als Freiheit ausgeben, sofern sie alles ihr Widerstreitende nivelliert. Aus diesem Grund trägt die rein formal behauptete Identität des p r i n c i p i u m c o n t r a d i c t i o n i s als Freiheitsbegriff nichts aus: Eine freie Identität muss ihre eigene Genese als Selbstentsprechung auch in defizitären Selbstbeschreibungen vollziehen. Als dieses Aushalten des eigenen Widerspruchs ist Freiheit immer schon inhaltlich. Als inhaltliche ist Freiheit nie Prinzip oder Postulat, sondern nur in ihrem Vollzug. 65 Zwar wird Freiheit, »immer nur im Befolgen der immanenten Notwendigkeit der formalen Logik erreicht«, denn Freiheit ohne Gesetzmäßigkeit ist Chaos. 66 Um geäußert zu werden, braucht Freiheit Form, z. B. Sprachformen. Je differenziertere Ausdrucksmöglichkeiten etwa eine Grammatik eröffnet, desto freier kann 64 »Im Sprechen erhalte ich mich als dieses Selbst. Ich werde darin erst dieses Selbst, indem ich dieses Selbst dem anderen hergebe. […] Um die Erhaltung des Selbst brauche ich keine Sorge zu haben. Ich spreche, also bin ich, aber als durch den Partner Anerkannter.« (SuB 5, 255) 65 »Ein Denken, das auf die Freiheit nur hinweisen kann, hat sie nicht in dieser Welt.« (SuB 3, 487) 66 SuB 6/3, 161. »Freiheit des menschlichen Lebens gibt es nur bei erfüllter Gesetzmäßigkeit.« (SuB 2, 233)
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in ihr eine Person ihre Individualität aussprechen. 67 Doch das formale und technische Moment des menschlichen Weltumgangs darf nicht vom Vehikel des Geistes zu dessen Stellvertreter werden, sonst ist der Mensch Marionette seiner eigenen Herstellungen, anstatt sich über diese zu begreifen. »Der Mensch kann nicht ein Teil des von ihm Gesetzten sein.« 68 Er ist selbst die logische Spannung von Allgemeinem und Einzelnem – und eben als solche »göttliches Kind« 69 , existierender Begriff. Der Begriff des Menschen muss ein Begriff sein, der sich in der Mannigfaltigkeit seiner Existenz bewährt. Das Menschliche ist niemals ein reiner Begriff, vielmehr ist es immer schon inhaltlich geworden in den es konkretisierenden Individuen. Eine formallogische Identität wie das von Kant postulierte Ich erfüllt seine systemtragende Funktion als formale Erkenntnisbedingung kraft seiner Definition als unveränderlich im Wechsel ihrer Bestimmungen bleibende Identität des Bewusstseins. Diese Sichselbstgleichheit ist formal erschlichen, weil kein Ich auch nur einen Augenblick identisch mit sich selbst bleibt. 70 Ein solcher Subjektbegriff versäumt das Denken einer Einheit eines allen Menschen gemeinsamen Subjektprinzips und der individuellen Person. Das kantische »Ich denke« ist zwar ein Singular, aber kein Individuum. Ein Begriff, in dem der Mensch von sich zugleich so sprechen kann, dass er das allgemeine Menschsein in sich und ebenso seine individuelle Persönlichkeit zur Geltung bringt, muss ein Begriff sein, der nicht allein eine formale Identität definiert, sondern das veränderliche Sein zu seinem Moment hat. Das menschliche Ich ist auch und gerade dann bei sich selbst, wenn formale Zuschreibungen unterlaufen werden. Naturwissenschaft und Technik kommen mit wesenslogischen Betrachtungen aus, sie beschäftigen sich mit dem Verallgemeinern von Einzelbeobachtungen. Gesellschaftstheoretische Diskussionen benötigen zusätzlich die begriffslogische Reflexion, in welcher das Allgemeine im Besonderen und das Besondere im Allgemeinen zur Geltung gebracht ist. 71 In»Gesetzmäßigkeit und Freiheit wachsen miteinander, nicht gegeneinander.« (Ebd.) SuB 3, 211. 69 Vgl. SuB 4, 173. 70 »Denn das Bewußtsein von mir selbst als existierendem Menschen ist nicht das Bewußtsein einer Identität, die sich durchhält.« (SuB 4, 496) 71 »Die menschliche Praxis ist nicht die technische Praxis wie die menschlich-sprachliche Theorie nicht die Theorie ist, die von generellen Implikationen spricht, die rein logisch sein sollen.« (SuB 6/3, 128) – »Den Menschen im menschlichen Umgang (πρᾶξιϚ) mit dem Menschen sollte das Dieses da als Individuum interessieren.« (SuB 6/3, 144) 67 68
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dividuum, aristotelisch formuliert: »dieser da«, d. h. in der Vermitteltheit des Seins sein eigener, existierender Begriff zu sein, ist die logische Leistung, hinter welcher der Mensch nicht zurückbleiben darf. Es ist eine sprachlich vollbrachte Leistung. Ein Denken und Handeln, welche diese logische Leistung nicht zur Geltung bringt, ist untersprachlich und untermenschlich.
V. Jesus Christus als Inbegriff des zu sich gekommenen Selbstbewusstseins Allgemeines und individuelles Menschsein in sich zu vereinen, resultiert aus dem Verhältnis des Menschen zu Gott. Das Empfangen des Selbstbewusstseins aus dem Gottesbewusstsein sieht Liebrucks in bisher uneingeholter Deutlichkeit in der Gestalt Jesus Christus inszeniert. Liebrucks erkennt im vom Neuen Testament verkündeten Logos die mit Hamann als Sprache begriffene Vernunft dargestellt, als welche sich die Genese des Absoluten in der Aufhebung seiner Widersprüche zu einer absoluten Identität vollzieht. Die Reflexion auf den sich entäußernden und sich mit sich versöhnenden Geist als Logos (Joh 1, 1) hebt für Liebrucks die christliche Überlieferung von allen philosophischen und religiösen Weltzugängen ab, auch wenn sie mythisch im Sinne von vorphilosophisch bleibt, weil sie ihr Wirklichkeitsverständnis noch auf der Schwelle von narrativer zu begrifflicher Reflexion artikuliert. 72 Die Genese des Absoluten drückt sich in der Sprache des Christentums aus im Motiv der Inkarnation des Logos als Kenosis des Gottessohnes, der zum Menschensohn wird und sich so tief herabwürdigt, dass er am Kreuz stirbt. In diesem Opfer seiner selbst verwirklicht sich das Absolute als Bei-sich-Selbst-Sein im Sein-bei-Anderem. In der Gestalt Jesus Christus fallen das Jenseitige (mit Hegel gesprochen: das Ansich) und das Diesseits (das Für-sich) zusammen. 73 Jesus Christus ist Offenbarung des An-und-für-sich-Seins: Er ist Gestalt des Selbstbewusstseins, das sich als Moment des Absoluten weiß. Um sich als Moment des Absoluten zu begreifen, muss das Selbstbewusstsein den Umweg über die Selbstentfremdung gehen, in welcher Vgl. SuB 3, 480. Der wahre christliche Gedanke besteht nach Liebrucks darin, dass er »das Jenseits im Diesseits ergreift.« (SuB 5, 105)
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es sich am Anderen seiner selbst zum Begriff wird. Seine Selbstentsprechung ist erst in der Selbstentfremdung herausgefordert: Identität gewinnt sich über den Gang in den eigenen Widerspruch. Um nachvollziehen zu können, was in der Gestalt Jesus Christus über das Selbstbewusstsein und die Freiheit des Menschen ausgesagt ist, muss daher zunächst die Geschichte des sogenannten Sündenfalls Adams in den Blick kommen. 74 In der paradiesischen Verträumtheit des An-sichSeins 75 kann der Mensch sich weder selbst verfehlen noch entsprechen. Das An-sich-Sein ist noch nicht in die dialektische Entzweiung hinausgetreten und insofern identitätslos, wenn Identität als Einheit von Identität und Nicht-Identität bestimmt wird. Das An-sich-Sein ist das Ich in dessen Unmittelbarkeit. Es sieht seine Unterschiedenheit von anderem nicht, da es sich nicht in Beziehung setzt. Seine Identitätslosigkeit ist gleichbedeutend mit Unfreiheit. Freiheit zur Selbstentsprechung oder Selbstverfehlung setzt voraus, dass der Mensch einen Begriff seiner selbst hat, der er werden kann. Bewusstsein ist erst, sofern sich solches aussprechen kann. So betrachtet ist An-sich-Sein analphabetisch im Sinne von vor- oder untersprachlich. Erst das Bewusstsein als Für-sich-Sein wagt es, in die dialektische Entfremdung hinauszutreten und ist insofern bereits beim Anderen bei sich selbst. 76 Das Für-sich-Sein ist Überwindungsstufe des An-sichSeins. Liebrucks zufolge ist es der Eintritt des Bewusstseins in den Status des Für-sich-Seins, der in der biblischen Erzählung vom Sündenfall geschildert wird. Als Für-sich-Sein unterscheidet sich das Bewusstsein als subjektiver Geist vom absoluten Geist im Denken und Aussprechen Bewusstseinstheoretisch und in Aufnahme hegelscher Kategorien vollzieht Liebrucks nach, was der Apostel Paulus mit seiner Adam-Christus-Typologie im fünften Kapitel des Römerbriefes aussagt: »Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtigkeit des Einen für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum Leben führt.« (Röm 5, 18) 75 An-sich-Sein bedeutet bei Kant etwas anderes als bei Hegel, dessen Bestimmung des Terminus im Folgenden zugrundegelegt wird. Bei Kant ist das An-sich-Sein ein Grenzbegriff für den Bereich der Erscheinungen; alles was jenseits dieses Bereichs liegt, ist »an sich«, ein vom Bewusstsein Unabhängiges, dessen Wirklichkeit der menschlichen Vernunft unzugänglich bleibt. Dagegen kann bei Hegel das An-sich-Seiende gerade nicht für es selbst sein, sondern ist es nur für andere. Weder nimmt es sich selbst wahr, noch hat es ein Selbstbewusstsein; es ist in seinem Eigendasein in den Augen anderer, für diese. 76 »Fürsichsein als Bewußtsein ist beim anderen bei sich selbst. Darin ist es sprachlich. In der Einsicht, daß ich mein Weltverhältnis nur auf dem Umwege über meinen Nächsten habe, liegt die christliche Komponente.« (SuB 3, 34) 74
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eines Ichs. Im Moment des Für-sich-Seins ergreift der Mensch seine Freiheit in der unmittelbaren Form der einfachen Negation, in welcher dem Ich alles, was Nicht-Ich ist, zum Objekt, d. h. dem eigenen Selbst transzendent gesetzt wird. 77 Dieser radikale Selbstbezug 78 ist theologisch gesprochen das Selbstverhältnis als Selbstverabsolutierung des Sünders. Das Bewusstsein ist in den Unterschied getreten, den es nur am Anderen hat, es ist aber kein Bewusstsein davon, dass dieses Andere nur eines für das Für-sich-Sein ist und beide allein innerhalb ihres Unterscheidens sowohl an als auch für sich sind. Erst die Überwindungsstufe des Für-sich-Seins, das An-und-für-sich-Sein, ist zweite Negation, in welcher erkannt ist, daß Negation eine Beziehung begründet: Sie ist als Negation von etwas zu etwas eine logische Bewegung, die ihren Grund und ihr Ziel zugleich in sich trägt. Die Reflexionsbestimmungen von An-sich-Sein und Für-es-Sein haben beide ihren Ort im Bewußtsein, sofern dieses beides ist: Auf-sich-Beziehen und Von-sich-Unterscheiden. Bewußt-Sein ist ein stetes Messen, inwieweit das An-sich vom Für-sich unterschieden ist. Der Unterschied beider ist an ihm, er hat kein selbständiges Sein. 79 Die Deutung des sogenannten Sündenfalls als Aufbruch des Bewusstseins zu sich selbst ist eine Kritik an der traditionell zu nennenden theologischen Auffassung, der praelapsarische Mensch hätte sich in Der Status des Für-sich-Seins ist der Status des technisch-praktischen Handelns. Ohne die Fähigkeit zu diesem Handeln wäre der Mensch nicht (über)lebensfähig. Der Fall in das Für-sich-Sein gehört also durchaus zur Wahrheit seines Menschseins dazu. Die Freiheit zur technischen Praxis zeigt aber schon die Dialektik der Freiheit an, denn die Ausübung der Freiheit als Herrschaft über die Natur hängt daran, »daß Natur als göttliche das zuläßt.« (SuB 6/2, 71) – »Die Dinge an sich müssen an ihnen wohl die Möglichkeit der Behandelbarkeit haben, wenn so etwas wie Zubereitung der Welt zu einer Welt der Positivität möglich und wirklich sein können soll. Das ist immer schon vorausgesetzt. So ist auch in den Naturwissenschaften die Idee des Wahren immer schon vorausgesetzt, wie sie in jedem Gespräch vorausgesetzt ist. Die Natur antwortet immer mit Ja oder Nein, wenn ich unter dem Erwartungsvorgriff bestimmter Hypothesen ein Experiment anstelle.« (SuB 6/3, 510) 78 Auch »Gott wird aus der Welt hinausgeschoben, transzendiert, Objekt.« (SuB 3, 176) Für Liebrucks ist damit die Geburtsstunde positiver Religion umschrieben: Gott erscheint als Objekt, als das ganz Andere, das der Welt fremd und von ihr ausgeschlossen ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser Gott Gegenstand im Sinne eines archaischen Götterbildes ist oder ein metaphysisch ersonnenes Prinzip. Im Sündenfallmythos wird sie illustriert im »Glauben Adams, er könne sich vor Gott verstecken.« (Ebd.) Adams Weghören ist die in Szene gesetzte erste Negation. 79 So verstanden ist sie »ein Unterschied, der kein Unterschied mehr ist.« (SuB 5, 77) 77
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einem Zustand der Vollkommenheit befunden. 80 Dieser Deutung Liebrucks’ ähnlich sieht auch der Theologe Paul Tillich das n o n p o s s e n o n p e c c a r e nicht als Schwäche Adams an, sondern versteht es als »Freiheit zur Sünde« und unterstreicht, »daß die Möglichkeit der Abwendung von Gott eine Qualität der Struktur der Freiheit als solcher ist. […] Symbolisch gesprochen: Es ist das Ebenbild Gottes im Menschen, das die Möglichkeit des Falls schafft. Nur das Wesen, das Ebenbild Gottes ist, hat die Macht, sich von Gott zu trennen.« 81 Die Unentschiedenheit des noch unschuldigen Adam ist Kennzeichen eines nicht erlangten Bewusstseins eigener Freiheit, die im Bewusstsein eigener Potentialität und der Fähigkeit besteht, sich zwischen Möglichkeiten zu entscheiden. Freiheit liegt im p o s s e p e c c a r e . Sie wird ergriffen in der selbstbestimmten Unterscheidung von Gott in der Behauptung des Ich. Ist das Absolute die Vermittlung seiner selbst im Denken des Subjekts, wird es dort zur Geltung gebracht, wo die Selbstbehauptung des Subjekts als dessen Moment gewusst wird. Liebrucks versteht eine Emanzipation der menschlichen Vernunft nicht als Absage an ein frommes Selbstbewusstsein, sondern als dessen Konsequenz. So wenig Adam in der Ausbildung eines Selbstbewusstseins unschuldig bleiben konnte, so wenig entspricht Christus dem praelapsarischen Adam. Die widersprüchlich erscheinenden Kreuzesworte der neutestamentlichen Überlieferung bringen dies in den Blick: Die Klage über die Gottverlassenheit (Mk 15, 34 par) bezeugt die Entschiedenheit des Menschen Jesus zu sich selbst; in seiner Selbstunterscheidung immer auf den verwiesen zu sein, von dem er sich unterscheidet, bringen die Worte »Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!« (Lk 23, 46) und das johanneische »Es ist vollbracht!« (Joh 19, 30) zum Ausdruck. Solange der Mensch nicht »Ich« sagen kann, kann er auch nicht »Gott« sagen, weil er, indem er sich nicht behauptet, auch kein Gegenüber (an)erkennen kann. »In der vorphilosophischen Ebene religiöser Diktion gesprochen, ist Verschlossenheit des Menschen die Verschlossenheit Adams vor Gott. In Christus wird sie gekreuzigt, als Jesus in den fragenden Ruf ausbricht, warum Gott ihn verlassen habe.« 82 Die Erwiderung des Rufes Gottes, Hier sei insbesondere an das von der altprotestantischen Orthodoxie formulierte Lehrstück vom s t a t u s i n t e g r i t a t i s erinnert. (Vgl. H. Schmid, Die Dogmatik der ev.luth. Kirche, Frankfurt am Main 1843, 9. Aufl., darg. u. durchg. v. H. G. Pöhlmann, Gütersloh 1979, 150–181) 81 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, Stuttgart 3 1958, 39. 82 SuB 3, 27. 80
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der schon im Paradiesgarten an den Menschen ergeht, ist die Selbstaussprache des Subjekts in der Subjekt-Subjekt-Objekt-Dialektik seines sprachlichen Weltumgangs, in der es sich in seiner Bezogenheit auf das Andere seiner selbst begreift. Am Kreuz stirbt das Bewusstsein im Status des Für-sich-Seins. Die Subjektivität des gefallenen Adam ist höchste Subjektivität, die Subjektivität Christi dagegen absolute. 83 In Christus hängt Adam am Kreuz, d. h. nicht Christus wird gekreuzigt, sondern etwas an ihm: »die Ansicht, Gott habe den Menschen verlassen« 84 .
VI. Selbstentsprechung im Selbstwiderspruch – Ein Fazit Im Gottesbegriff wird ausgesprochen, was Wahrheit für den Menschen sein kann. Für den Menschen stellt sich die Frage nach der Wahrheit als Frage nach Übereinstimmung mit sich selbst, nach seinem wahren Menschsein. Folglich ist die Frage nach der Wahrheit des Menschen die Frage nach dessen Freiheit – zur Selbstentsprechung oder zur Selbstverfehlung. Es ist die Stärke des von Liebrucks erarbeiteten sprachtheoretischen Identitätsbegriffs, Selbstentfremdung als konstitutives Moment einer Selbstentsprechung aussagen zu können und somit das Menschsein in dessen tiefstem Widerspruch zu erkennen. In seiner Selbstentfremdung erleidet das Bewusst-Sein Gewalt – allerdings eine Alle endliche Bestimmtheit erweist sich, als in der Sprache ausgesprochen und darin in ihr aufgehoben zu sein. Sprache ist die absolute Identität. Über die Sprache sagt Liebrucks: »In Wahrheit war sie immer Christus«. (SuB 1, 470) Durch seinen Sohn spricht Gott den Menschen in menschlicher Sprache an. »Erst in Jesus Christus erschien nicht nur eine göttliche Transzendenz sichtbar, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut, der des Menschen Sohn wie Gottes Sohn war.« (SuB 7, 784) 84 SuB 4, 3. In der Gestalt Jesus Christus ist die Gegenwart des Absoluten im Einzelnen ein für allemal ausgesprochen. »Von da ab ist Verschlossenheit nicht mehr die natürliche des Adam, sondern diejenige, die an der Logosnatur des Christusgeschehens, in der die Verschlossenheit starb, willentlich vorbeigegangen ist. Von da ab war alles nichtdialektische Denken zweitrangig, relativ zur vom Menschen erreichten Bewußtseinsstufe provinziell.« (SuB 3, 27) Im Zuge seiner von Hegels Theorie des Selbstbewusstseins gelenkten Deutung der Verkündigung des christlichen Gottes als Gestalt gewordene Selbstbeziehung des Bewusstseins im absoluten Geist wird Liebrucks das Kreuz zum Ort, an dem die Selbstauslegung des Absoluten in unüberbietbarer Klarheit Ausdruck gewinnt. Was in der neutestamentlichen Schilderung von Tod und Auferstehung Jesu Christi anschaulich wird, ist laut Liebrucks die von Hegel philosophisch entfaltete Einsicht in den logischen Selbstwiderspruch als das konstitutive Moment von Identität. (Vgl. SuB 5, 208 f.) 83
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Gewalt, die von ihm selbst ausgeht. Der Mensch ist theologisch gesprochen immer Sünder, das sich selbst widersprechen könnende Wesen. Er ist aber das Wesen, das scheitert und sich widerspricht, um sich in seiner Fähigkeit zum Selbstwiderspruch am tiefsten zu entsprechen. Diese Selbstwidersprüchlichkeit zu nivellieren, zeigt hingegen ein Niveau des Bewusst-Seins an, auf dem der Mensch den Widerspruch (logisch) nicht aushält und sich somit selbst in seinem Menschsein unterlegen bleibt. Den Menschen als das Wesen zu bestimmen, das sich verfehlen kann (n o n p o s s i t n o n p e c c a r e ), gelingt nur unter der Voraussetzung einer Wahrheit des Menschen, die immer den Horizont von dessen Handlungen, Worten und Gedanken bildet, vor dem diese erst als widersprüchlich erscheinen können. In jedem Augenblick ist der Mensch bereits, was er sein soll. Er ist dies im unaufhörlichen Abarbeiten von Nicht-Identität. Der von Liebrucks geführte Identitätsbegriff vereint gegenwärtige Erfüllung des Menschseins mit unablässiger Selbstentfremdung, ohne beide gegeneinander auszuspielen. Es ist die Leistung der Vernunft, die Spannung zwischen Selbstentsprechung und Selbstwiderspruch nicht allein auszuhalten, sondern auch zu generieren. Die Freiheit des subjektiven Geistes zur Identität von Identität und Nicht-Identität liegt darin begründet, dass das Absolute, dessen Moment er ist, sich nicht verfehlen kann. »Der absolute Geist hat den Menschen in seine Freiheit entlassen. Das heißt logisch, daß er als existierender Begriff auf dieser Welt lebt und leben soll. Diese Sollensforderung hat nur dann einen Sinn, wenn der Mensch frei ist, ihr nicht zu entsprechen.« 85 Mit Hegel gesprochen ist Wahrheit »Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst«. 86 Doch diese ist eine Übereinstimmung mit sich selbst, die nicht tautologisch ist. Wer die Wahrheit festhalten will, geht an ihr zugrunde. Dies ist die große Einsicht Hegels, anhand derer er das Bewusst-Sein als das in seinem steten Selbstverlust sich gewinnende darstellt. Wahrheit zeigt sich im Zugrundegehen unmittelbarer Gewissheit, sie erweist sich als solche in ihren Sollbruchstellen. Sich zu entsprechen, bedeutet, den eigenen Begriff auf mannigfaltige Weise zur Geltung zu bringen. 87 Daher gehen weder das Absolute noch das individuelle menschliche Subjekt in einem Begriff SuB 6/2, 330. Vgl. Hegel, Enzyklopädie, 86. 87 »Wahrheit ist die Einheit von Diesem da und dem Allgemeinen. Wahrheit ist nicht ein Oberbegriff, unter dem andere Begriffe subsumiert werden könnten.« (SuB 6/2, 160) 85 86
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auf. Jeder Begriff von ihnen bezeugt sie im Sinne des lutherischen e x e g e s a t o : Gott (man mag hinzufügen: auch die menschliche Seele) hat nie jemand gesehen, bis Christus ihn verkündet hat. Wir hören Gottes Stimme, indem wir Gott aussprechen. Indem wir Gott aussprechen, sprechen wir uns aus als das Gott bezeugende Subjekt. Das Bezeugen Gottes ist der Verzicht darauf, ihm Namen zu geben, ihn in ein Bild fassen oder ihn beweisen zu wollen. Die Intensität der Nähe Gottes raubt die Worte für dessen Beschreibung. Wie spricht man vom Absoluten, das doch in keinem einzelnen Wort ausgedrückt werden kann, gerade weil es in jedem einzelnen Wort präsent ist? 88 Liebrucks verzichtet auf die Bestimmung von Gottesprädikaten, -bildern oder -namen. Gott wird dargestellt in jedem Moment des menschlichen Weltumgangs. Konsequenter kann man den Begriff Gottes als des Absoluten, der allumfassenden Wirklichkeit nicht auffassen. In all unseren menschlichen Äußerungen ist Gott aber zugleich verneint: Sie sind der endliche Widerspruch des Unendlichen. Entscheidend ist, hier keine negative Theologie zu vermuten, sondern eine Theologie der Negation der Negation. Wird Gott allein aus dem Gegensatz zur Welt heraus gedacht, ist er von der Welt abhängig gesetzt. Das Absolute aber ist ebensowenig Steigerungsform wie Gegenteil des Menschlichen. Weder in der Rede vom e n s e n t i u m noch in der Rede vom »ganz Anderen« wird über Gott gesprochen. Beide Denkfiguren scheitern an ihrem Vorhaben, die wesenhafte Differenz zwischen Gott und Mensch nicht unterlaufen zu wollen. Dem Absoluten kann als solchem nichts äußerlich sein. Ein dem Menschen äußerlich bleibendes Absolutes ist das transzendentallogische Postulat einer formalen Totalität, die dem es Proklamierenden immer ein d e u s a b s c o n d i t u s bleibt, von dem wir nicht wissen, ob er p r o n o b i s ist. Solch ein Postulat eines unbekannten Gottes, der nur als formales Prinzip einer o m n i t u d o r e a l i t a t i s auszusagen ist, ist kein vertrauenswürdiger Gott. Die Idee eines Gottes als Garanten einer Wahrheit, die sich letztlich unserer Kenntnis entzieht, ist logisches Einspinnen in eine Abhängigkeit von einem Gott, den der Mensch benötigt, um die Resultate seiner Verstandeshandlungen als wahr ansehen zu dürfen. Dieser Gott schenkt keine »Gott geht in keinem Begriff auf, den Menschen sich bisher von der Wirklichkeit gebildet haben. […] Sprache und Bewußtsein gehen gleichfalls in keinem Begriff auf, den sich Menschen bisher von der Wirklichkeit wissenschaftlich haben bilden können.« (SuB 3, 123 f.)
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Freiheit – er kann keine schenken, denn er ist selbst nicht frei, sondern ein Produkt des menschlichen Verstandes, Teil eines Systems, dem er selbst nicht entrinnen kann. Anstatt als Schöpfer dieses »Gottes« auf dem Höhepunkt seiner Freiheit angelangt zu sein, ist der Mensch somit sich selbst ausgeliefert, da er sich damit begnügt, Objekt unter Objekten in einer durch ein oberstes Objekt verbürgten Ordnung zu sein. Wenn Gott ein formallogisch erschlossener Gegenstand ist, ist auch dem Menschen nicht zugestanden, mehr als das zu sein. Daher betont Liebrucks, dass nicht Gott, sondern der Mensch den Menschen entmündigt. 89 Die Freiheit des Menschen empfängt sich aus der absoluten Freiheit Gottes, daher ist der Mensch nur als Marionette Gottes frei. Bei Liebrucks sind somit das menschliche und das göttliche Tun immer ein und dasselbe. Lösen sich daher Menschsein und Gottsein in Liebrucks’ Begriff des Absoluten auf, auch wenn ihr jeweils am Gegenüber erzeugtes Anderssein betont wird? Liebrucks’ sprachphilosophische Theorie steht wie ihr hegelsches Vorbild in der Gefahr, in den immanent-transzendenten Pantheismus des deutschen Idealismus abzugleiten. Ist hier zugunsten der Selbständigkeit des Menschen Gottes Personalität untergraben? Kann aber, wenn Gott nicht mehr personal ist, sein Geschöpf eine eigenständige Person sein? Liebrucks spricht von Gott als dem Logos, einer metaphorisch zu umschreibenden Bewegung des Geistes, als dessen Selbstreferenz sich das menschliche Subjekt ausspricht. Das zu sich kommende Bewusst-Sein ist so betrachtet Ausdruck eines Gottesbewusstseins, wie es in der Botschaft Jesu Christi bisher unübertroffen verkündet wird. Das Heilige offenbart sich in allen Religionen; aber die adäquate Darstellung hat es laut Liebrucks bisher einzig in der Gestalt Jesus Christus gefunden, weshalb das Neue Testament als »größte Revolution auf unserer Erde« wertzuschätzen sei. 90 Mit Liebrucks kann man jedoch nicht mehr nach der Identität Jesu Christi fragen, sondern »Frei bin ich erst als Marionette des christlichen Gottes, weil es sich hier um eine nicht objektive Leitung handelt […] Erst als Marionette des christlichen Gottes kann ich mich meines Verstandes ohne fremde Leitung bedienen, da dieser Gott in Christus dem Menschen dient und der Gott des Friedens ist.« (B. Liebrucks, Schriftstellerische, mythische, mythologische, mythologisch-geschichtliche sowie logische Rede über den Mythos, in: ders., Irrationaler Logos und rationaler Mythos, Würzburg 1982, 311–345, 331 f.) 90 B. Liebrucks, Bemerkungen zum Problem der drei Labyrinthe bei Erich Heintel im Blick auf die logische Unterscheidung von Realität und Wirklichkeit, in: H. Nagl-Docekal (Hg.), Überlieferung und Aufgabe. FS für Erich Heintel zum 70. Geburtstag, Bd. 1, Wien 1982, 239–264, 256. 89
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Jesus Christus lediglich als Reflexionsgestalt von Identität überhaupt begreifen. Für das christliche Kerygma ist aber die Vollkommenheit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus entscheidend: Das Bekenntnis zum wahren Gott, der wahrer Mensch ist, beinhaltet den Exklusivitätsanspruch der Offenbarung, der sich aus deren Bindung an einen besonderen Menschen ergibt. Sofern Liebrucks diese Bindung der Offenbarung an die historische Person Jesus von Nazareth nicht nachvollzieht, stellt sich ihm das Christentum als ablösbare Bewusstseinsstufe dar, wodurch das theologische Selbstverständnis des Christentums verkannt ist. Trotz bzw. aufgrund dieser Bedenken sollte sich der Theologe durch Liebrucks’ begriffliche Aufarbeitung des Logos-Begriffs herausgefordert sehen in Bezug auf seine eigenen Sprachformen, die er zur Vermittlung des an sich Unvermittelbaren findet. Im Begriff Gottes als des Korrespondenten von Sprache und Bewußtsein wird das christliche Vertrauen philosophisch paraphrasiert, dass sich der Mensch ohne sein Zutun immer schon von Gott gehalten und bewahrt wissen darf. Der Ruf Gottes, sich mit ihm versöhnen zu lassen (II Kor 5, 20), ist an uns ergangen in dem Moment, in dem wir in die Entzweiung, die unser irdisches Leben ist, geboren werden. Die Vorgängigkeit der Wahrheit, welche die Philosophie das Absolute und die Theologie Gott nennt, lässt unser Fragen nach ihr begründet sein. Unsere Wahrheit korrespondiert uns. Sie ist schon die unsere und will doch erst noch von uns begriffen sein.
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Absoluter Geist und Persönlichkeit. Bruno Liebrucks zum 100. Geburtstag am 12. 10. 2011
Ein jeder, weil er spricht, glaubt, auch über die Sprache sprechen zu können. 1
Bruno Liebrucks spricht in seinem sechsbändigen Werk »Sprache und Bewußtsein« von einem Weg der Philosophie von undialektischen Gebilden zur dialektischen Bewegung. Er geht dabei von der Kritik an einem Bewusstsein aus, das glaubt, die Sprache als objektivierbaren Gegenstand verstehen zu können. Es handelt sich bei diesem Ansatz also nicht um »Sprach-Philosophie« als besondere Disziplin, sondern um eine historisch verstandene Alethiologie »von der Sprache her«. Im Folgenden möchte ich versuchen, diesen Ansatz von einem bestimmten Verständnis der Geschichte der europäischen Philosophie her darzustellen. Wenn man die Geschichte, wie es bei Hegel und bei Liebrucks der Fall ist, als Hinführung zu einer »absoluten Idee« und diese Idee aus ihrem konkreten philosophischen Zusammenhang heraus versteht, hat es eine für den philosophischen Gesichtspunkt weiterführende Bedeutung. Bei Platon, mit dem man im Allgemeinen die europäische Philosophie beginnen lässt, sieht Liebrucks bereits eine Kritik des Parmenideischen Gebots des Denkens der Einheit von Denken und Sein. Diesem Gebot und dem entsprechenden Verbot der Göttin der Gerechtigkeit, das Nichtseiende zu denken, kann man den bekannten Heraklitischen Satz folgen lassen, dass der »Herr, dem das Orakel zu Delphi« gehöre, weder verkünde noch verberge, vielmehr gebe er Zeichen (σημαίνει). 2 Anstelle der »göttlichen Sicht« Dikes auf das »Sein« steht nun die Stimme des Orakels, die der auslegenden Vermittlung eines Hermeneuten bedarf. Verschiedene philosophische Grundpositionen sind hier noch 1 2
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J. W. v. Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 1033, Hamburger Ausgabe, XII, 511. Heraklit, Fragment B 93.
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einander »abstrakt« entgegengesetzt. Sie beziehen sich noch nicht aufeinander. In den späteren Schriften Platons, in denen es um die Frage nach dem Sein des Nichtseins geht, von dem wir auch dann reden, wenn wir sagen, dass es nicht gedacht, d. h. hier: zu denken versucht werden soll, sieht Liebrucks die philosophische Aufhebung dieses Gegensatzes und damit den Anfang der Entwicklung zu einer dialektischen Philosophie. 3 In seiner späteren Philosophie, im ersten Band des Werkes »Sprache und Bewußtsein«, ist von Hamann, Herder, W. v. Humboldt, Kant und Hegel die Rede, in deren Schriften das Sprachproblem als philosophisches Grundproblem selbst zur Sprache kommt. – Ich möchte unter dem geschichtlichen Aspekt dieser Entwicklung vor allem auf Kant und Hegel eingehen, ausführlicher auf Kant, um die philosophiehistorischen Voraussetzungen für die Entwicklung von einer formalen zu einer dialektischen Logik und deren Bedeutung für die Erörterung der Struktur und Funktion der Sprache und des philosophischen Gesprächs darstellen. Kant geht in der »transzendentalen Dialektik« der »Kritik der reinen Vernunft« jeweils von zwei einander zunächst abstrakt entgegengesetzten »Grundsätzen« aus, z. B. von dem Satz, »die Kausalität nach Gesetzen der Natur« sei »nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden« könnten, und es sei »noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig«, und dem entgegengesetzten Satz, es gebe »keine Freiheit, sondern alles in der Welt« geschehe »nach Gesetzen der Natur«. 4 Jeder dieser beiden »Grundsätze«, die dann aber eigentlich keine Grundsätze mehr sind, wird durch die Widerlegung des Gegensatzes bewiesen. »Wie viel« von einer Handlung »reine Wirkung der Freiheit«, »wie viel der bloßen Natur« »zuzuschreiben sei«, könne aber »niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten«. 5 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Kants Bemerkung, »in dieser Dialektik« gebe es »keinen Sieg«, über den man »besorgt zu sein Ursache« hätte. 6 Insofern geht es eigentlich auch hier schon um die Befriedung eines philosophischen Disputs über das, was Vgl. B. Liebrucks, Platons Entwicklung zur Dialektik. Untersuchungen zum Problem des Eleatismus, Frankfurt am Main 1949. 4 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV) B 472 f. – Vgl. hierzu: W. Hogrebe, Kant und das Problem einer transzendentalen Semantik, Freiburg / München 1974. 5 Kant, KrV B 579 Anm. 6 Kant, KrV B 775. 3
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wir anderen zurechnen, nämlich die Freiheit im Handeln und damit die Möglichkeit von Moralität, und dem, was unter dem Gesichtspunkt einer axiomatischen Naturwissenschaft gesagt werden kann. Die Sprache ist nach Liebrucks, als Vollzug der unverkürzten »menschlichen« Weltbegegnung, »Gegenstand« einer philosophischen Weltbetrachtung und damit eigentlich nicht mehr ein »Gegenstand« im üblichen Sinne. Er legt besonderen Wert darauf, dass die auf diese Weise kritisierte Terminologie aber doch diejenige sei, unter deren Bestimmung uns bewusst ist, dass wir in unserer Welt mit ihr leben, im Bewusstsein, dass dies nicht »alle Welt« sein kann. Mit den »Antinomien« reiner Vernunft, von denen hier nur die dritte vorgestellt wurde, ist die Entwicklung zur Dialektik im Hegelschen Sinn schon bei Kant vorgezeichnet: Der Urteilende muss, soweit es ihn etwas angeht, selbst wissen, ob und warum er »etwas« als Wirkung der Freiheit oder als determiniertes Naturgeschehen verstehen will. Man kann bereits von Kant her sagen, die dialektische Logik sei nicht die Logik des menschlichen Denkens schlechthin, sondern die eines Gesprächs, in dem eine Person es vorziehen mag, etwas als Wirkung persönlicher Freiheit anzusehen, eine andere aber dasselbe anders, nämlich als naturgesetzlich bestimmtes Geschehen. Die der eigenen Position entgegengesetzte Position bedeutet die Erfahrung eines fremden Bewusstseins. – Wer spricht, spricht, was er auch immer sagt, nicht nur über Gegenstände seines Bewusstseins, sondern mit anderen, von Person zu Person, also gerade nicht unter der Voraussetzung einer »transzendentalen Einheit« der Subjektivität. Das »transzendentale Subjekt« Kants hat keine Sprache. Es hat seinem Begriff nach seine Gegenstände sprachlos für sich und ist insofern ein Konstrukt der kritischen Philosophie, in dem etwas zunächst »gesagt«, d. h. vorausgesetzt werden muss, damit unter dieser Voraussetzung die Möglichkeit der objektiven Gültigkeit synthetischer Urteile a priori und damit auch der Kategorien, mit denen wir empirische Begriffe zu Urteilen verknüpfen und auf Gegenstände beziehen, gedacht werden kann. 7 Kant unterscheidet unter diesem systematischen Gesichtspunkt die transzendentale Erörterung der Begriffe von Raum und Zeit von deren metaphysischer Erörterung, die, sozusagen vorkritisch, sagen will, »was« Raum und Zeit, »darinnen« ich mich zusammen mit ande-
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Vgl. Kant, KrV B 197.
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ren »befinde« 8 und worin jeder seinen eigenen Standpunkt und damit auch seinen eigenen Horizont hat, an sich seien. Die transzendentale Erörterung will dagegen sagen, was gesagt, d. h. vorausgesetzt werden muss, damit die Möglichkeit der objektiven Gültigkeit synthetischer Urteile a priori gedacht werden kann. Das zu denken ist nach Kant dann möglich, wenn wir »die Synthesis der Einbildungskraft […] auf ein mögliches Erfahrungserkenntnis überhaupt beziehen, und sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt« seien »zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« und hätten »darum objektive Gültigkeit«. 9 Das dies voraussetzende Sagen steht hier logisch vor dem ontologischen Denken des Seins. Liebrucks hebt diese Zusammenhänge ins Bewusstsein, indem er sie zur Sprache bringt. Damit hebt er ihren ontologischen Anspruch auf. Schon nach Kant erkennt die menschliche Vernunft »keinen anderen Richter« an, »als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat«. 10 »Ein jeder« bringt gegenüber anderen seine vernünftige Sicht zur Sprache, ohne Anspruch auf ein letztes Wort. Descartes hatte versucht, den ontologischen Anspruch des Denkens gegenüber dem Skeptizismus dadurch zu retten, dass er ihn auf das »cogito sum« und dies im Rekurs auf den »ontologischen« Beweis des Daseins eines Gottes bezog, der uns in seiner absoluten Güte nicht täuschen wolle. Aber auch der Satz »ich denke; also bin ich« (cogito sum) gilt schon nach Descartes selbst nur »solange ich denke« (quandiu cogito). 11 Was hier das ontologische Fundament aller Erkenntnisse sein soll, ist im Kantischen Kontext dann nur noch ein »empirischer Satz«, 12 »dadurch ein Ding an sich selbst,« das wir als solches nicht erkennen können, »vorgestellt wird«. 13 »Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht,« sagt Kant, »und ich brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann«. 14 Mit anderen gemeinsam »haben« wir nicht einmal unsere Vorstellungen, sondern nur die Zeichen für Vorstellungen, die wir »ohne
Kant, KrV B 38 (Hervorhebung v. Vf.). Kant, KrV B 197 (Veränderte Hervorhebung). 10 Kant, KrV B 780. 11 R. Descartes, Meditationes de prima philosophia, II, 6. 12 Kant, KrV B 428. 13 Kant, KrV B 402 (Hervorhebung v. Vf.). 14 Kant, KrV B 332 f. 8 9
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ein ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum« 15 verstehen, sodass wir, wie es später bei Nietzsche heißt, im Befolgen einer »gemeinsamen Philosophie der Grammatik« 16 der Verbindung von Zeichen über unsere Vorstellungen sprechen können. Ob wir dabei »dasselbe« wie andere verstehen, zeigt sich nach Kant erst im gemeinsamen Handeln. Alles gemeinschaftliche, also auf Sprache bezogene Verstehen ist ein als hinreichend deutlich erachtetes Zeichenverstehen anzusehen und verlangt daher eine begrenzte »hermeneutische Nachsicht«. Identität, auch die der eigenen Person, ist hier unmittelbar auf das Leben bezogen, und »Leben« ist nach Kant »das Vermögen eines Wesens, seinen Vorstellungen gemäß zu handeln«. 17 Dazu gehören auch die Vorstellungen, die man sich von den Vorstellungen anderer macht. Insofern befindet man sich im »Geist« eines gegenseitigen Verstehens, wenn auch noch nicht im Bewusstsein des Daseins dieses Geistes, das sich damit als ein Sollen darstellt, das noch nicht Wirklichkeit ist. In Liebrucks’ Philosophie ist die Unterscheidung von »Wirklichkeit« im Leben und »Realität« als unter der Voraussetzung bestimmter Bedingungen als objektiv angesehenes Ergebnis grundlegend. Es verhält sich mit dem vermeintlich »rein« theoretischen Verstehen von »etwas« ebenso wie mit dem Begriff der Freiheit auf dem Gebiet der praktischen Philosophie: Nach Kant »gesteht« »selbst der hartnäckigste Sceptiker, daß, wenn es zum Handeln kommt, alle sophistische Bedenklichkeiten wegen eines allgemein-täuschenden Scheins wegfallen müssen. Eben so muß der entschlossenste Fatalist, der es ist, so lange er sich der bloßen Speculation ergiebt, dennoch, so bald es ihm um Weisheit und Pflicht zu thun ist, jederzeit so handeln, als ob er frei wäre, und diese Idee bringt auch wirklich die damit einstimmige That hervor und kann sie auch allein hervorbringen.« 18 Er hat den »Begriff« der Freiheit nicht als definitiv definierenden Begriff, sondern »nur« als Wort oder Namen »dafür«. Das lässt ihn frei, »Freiheit« von sich aus zu verstehen, z. B. etwas entweder als frei und damit als Person oder als naturkausal bedingt. Alles, mit dem wir es wirklich zu tun haben, lässt die Möglichkeit offen, es angesichts der gegebenen Umstände nicht nur J. G. Hamann, Metakritik über den Purismumer Vernunft, Sämtliche Werke, hg. von J. Nadler, III, 284. 16 F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 20, Kritische Studienausgabe (KSA) 5, 34. 17 Vgl. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten (MS), Akademieausgabe (AA) VI, 211. 18 I. Kant, Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre, AA VIII, 13. 15
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anders als jetzt, sondern im Sinne gelungener Kommunikation auch besser zu verstehen. Wenn man davon ausgeht, dass man nur dann nach der Bedeutung eines Zeichens fragt, wenn man es nicht oder nicht hinreichend versteht, wird die Sprache, auch wenn es einem so noch nicht bewusst ist, vom Gespräch her verstanden: als »energeia« im Humboldtschen Sinn und nicht als ein in sich abgeschlossenes Werk (ergon). Nach Humboldt gehört die Sprache wesentlich (mindestens) »zweien« an, 19 die sich über ihre räumliche und zeitliche Distanz hinweg »etwas« zu sagen haben. Für das Finden einer in der jeweiligen Situation als hinreichend deutlich erachteten Sprache gibt es keine allgemeine Regel. Es muss sich zeigen, ob sie in der gegebenen Situation hinreichend ist. Insofern ist Humboldt Kantianer. Das Subjekt bewahrt sich die Möglichkeit, nicht nur den fremden, sondern auch den eigenen Standpunkt der Urteilsbildung in Frage zu stellen und sich von »fremder Vernunft« 20 etwas sagen zu lassen. Das Urteilen ist dann, unter dem Gesichtspunkt der ihrem Begriff nach individuellen Urteilskraft, ein Fürwahrhalten. Man soll nach Kant sein Urteil daher prinzipiell »in suspenso lassen, nicht weil wir zweifeln, sondern nicht genug wissen«. 21 Wer denkt, den »Versuch« nicht nötig zu haben, ob die Gründe des eigenen Fürwahrhaltens auf »fremde Vernunft eben dieselbe Wirkung tun«, 22 verhält sich logischegoistisch und damit unvernünftig. »Die Natur hat uns zwar viele Kenntnisse versagt, […] aber den Irrthum verursacht sie doch nicht. Zu diesem verleitet uns unser eigener Hang zu urtheilen und zu entscheiden« 23 . Während die formale Logik um der Möglichkeit ihrer »reinen« Formalität willen voraussetzen muss, dass Wörter in Sätzen, so wie in jedem besonderen Gebrauch, eine und nur eine Bedeutung haben, oder besser doch nur eine Bedeutung haben sollen, geht die dialektische LoW. v. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: Akademieausgabe (AA) VII, 63. 20 Zum Kantischen Begriff der »fremden Vernunft« vgl. v. Vf.: Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/New York 2003. 21 I. Kant, Nachlassreflexion 2588. 22 Kant, KrV B 849. 23 I. Kant, Logik, hg. von G. B. Jäsche, AA IX, 54. Kant bemerkt, »daß es etwas anders ist, sein Urtheil in dubio, als es in suspenso zu lassen. Bei diesem habe ich immer ein Interesse für die Sache, bei jenem ist es nicht immer meinem Zwecke und Interesse gemäß zu entscheiden, ob die Sache wahr sei oder nicht.« (Ebd., 75) 19
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gik davon aus, dass die Fügungen der Begriffe zu Urteilen verschiedenen Personen über die Verschiedenheit ihrer Gesichtspunkte und Bedürfnisse hinweg etwas bedeuten können und auch bedeuten sollen. Diesen systematischen Unterschied zwischen formaler und dialektischer Logik sieht Liebrucks in der Dichtung und überhaupt in der Kunst gegeben. Hamann hatte die Poesie, die die Gegensätze formallogischer Begriffsbestimmungen in sich aufheben kann, als die »Muttersprache des menschlichen Geschlechts« 24 bezeichnet. Sie löst festgewordene Begriffe in einem neuen Gebrauch »metaphorisch« wieder auf. Am Anfang des Liebrucks’schen Hauptwerkes steht ein Hölderlin-Zitat: »Ein Zeichen sind wir, deutungslos Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren.« 25 Wir haben die Sprache fast verloren, wenn wir denken, in allgemeingültigen und unmittelbar auf Seiendes bezogenen Begriffen zu denken, ohne Offenheit für einen anderen Gebrauch. Aber wir haben sie doch nur »fast« verloren, weil unsere uns jeweils gegebene Sprache mit allen Veränderungen durch ihren Gebrauch offen bleibt für ein anderes Verstehen der uns hier und jetzt gegebenen »äußerlichen«, d. h. zu verstehenden, aber zugleich auch »innerlichen«, also verstandenen Zeichen. Das Wort »Zeichen« ist hier nicht mehr als Wort für ein Zeichen zu verstehen, das einem Gegenstand »äußerlich« angeheftet sei und (s)eine feste Bedeutung darin habe, dass es auf einen in einem Allgemeinbegriff vorgegebenen Gegenstand verweist. Nur wenn wir ein Zeichen unmittelbar, d. h. so, wie es uns »gegeben« ist, nicht oder nicht hinreichend verstehen, fragen wir, je nachdem, was für uns »dabei im Spiele ist«, 26 nach seiner und damit überhaupt nach einer Bedeutung. Das Denken kann sein explizierendes Erklären der Namen durch andere Zeichen aber auch resümierend wieder zusammenfassen, 27 sodass die »Tätigkeit des Gedankens« sich, um des gegenseitigen Verstehens willen, eines Zeichens für eine »ganze Reihe von Zeichen« bedie-
24 25 26 27
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J. G. Hamann, Aesthetica in nuce, a. a. O. II, 197. F. Hölderlin, Mnemosyne, in: Werke, hg. von F. Beissner, II, 1, 195. Kant, KrV B 853. Vgl. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Enz), § 459.
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nen kann. 28 Die Humboldtsche Aussage, im Verstehen von Person zu Person hätten die Beteiligten nicht »dieselben«, sondern nur »entsprechende« Vorstellungen, 29 könnte irreführend sein, wenn eine Vergleichbarkeit von Vorstellungen von einem übergeordneten Standpunkt aus anzunehmen wäre. Das führte unvermeidlich in den Dogmatismus. Nach Humboldt haben wir »nicht einmal die entfernteste Ahndung eines andren als eines individuellen Bewusstseyns«. »Denn das Ahnden einer Totalität und das Streben danach ist unmittelbar mit dem Gefühle der Individualität gegeben und verstärkt sich in demselben Grade, als das letztere geschärft wird, da doch jeder Einzelne das Gesamtwesen des Menschen, nur auf einer einzelnen Entwicklungsbahn, in sich trägt.« 30 Das hat Auswirkungen auf die Sprache der Philosophie. Ein definierter Begriff ist nach Kant »ein zureichend deutlicher und abgemessener«, 31 aber nicht »definitiv« festgelegter Begriff. 32 Der Philosoph »macht« keine Begriffe. Er »macht nur gegebene Begriffe deutlich«. 33 »Die Philosophie wimmelt von fehlerhaften Definitionen, vornehmlich solchen, die zwar wirklich Elemente zur Definition, aber [diese] noch nicht vollständig enthalten. Würde man nun eher gar nichts mit einem Begriffe anfangen können, als bis man ihn definiert hätte, so würde es gar schlecht mit allem Philosophieren stehen. […] Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriffe vom Recht.« 34 Nur in der Mathematik, soweit sie ihre Begriffe in reiner Anschauung konstruiert, 35 führt die Definition »ad esse«, in der Philosophie aber, so wie in der normalen Sprache, immer nur »ad melius esse« 36 . Die Zeichen bleiben gegenüber jeder Bestimmung »ästhetisch« stehen für weitere Bestimmungen. »Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken«, und »Denken ist Reden mit sich selbst«. Menschen, die »sprechen und hören können, verstehen darum nicht immer sich selbst oder Andere, und an dem Nietzsche spricht von »›Abkürzungen der Zeichen‹ im Gegensatz zu den Zeichen selber«. (Nachlaß, KSA 12, 17) 29 Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, AA VII, 170. 30 Ebd., 37. 31 Kant, Logik, AA IX, 140 (Hervorhebung v. Vf.). 32 Vgl. v. Vf. Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989. 33 Kant, Logik, AA IX, 64. 34 Kant, KrV B 759 Anm. 35 Vgl. Kant, Logik, AA IX, 23. 36 Kant, KrV B 759 Anm. 28
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Mangel des Bezeichnungsvermögens, oder dem fehlerhaften Gebrauch desselben (da Zeichen für Sachen und umgekehrt genommen werden) liegt es, vornehmlich in Sachen der Vernunft, daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar wird.« 37 Entsprechend heißt es in der »Kritik der reinen Vernunft«: »Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Wortes mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache; und die Einheit des Bewußtseins, in dem, was empirisch ist, ist in Ansehung dessen, was gegeben ist, nicht notwendig und allgemein geltend.« 38 Erkenntnis ist »nicht ohne Beschränkung des Subjects möglich«. 39 »Vorstellung« ist für sich »noch nicht Erkenntniß, sondern Erkenntniß setzt immer Vorstellung voraus«. Aber schon »was Vorstellung sei«, ließe sich »durchaus nicht erklären«: weil man es »doch immer wiederum durch eine andere Vorstellung erklären« müsste. 40 Man soll den »Horizont Anderer nicht nach dem seinigen messen«; 41 denn »alles unser Begreifen ist nur relativ, d. h. zu einer gewissen Absicht hinreichend, schlechthin begreifen wir gar nichts«. 42 Auch die Rede von Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori kann selbst noch keine Erkenntnis sein, weil sie als diese Rede nicht unter die Bedingungen fällt, von denen sie redet. In der transzendentalen Methodenlehre, auf die die »Kritik der reinen Vernunft« im ganzen ausgerichtet ist, ist deshalb von Dichtungen der Einbildungskraft die Rede. Nur »wo nicht etwa Einbildungskraft schwärmen, sondern, unter der strengen Aufsicht der Vernunft, dichten soll, so muß immer vorher etwas völlig gewiß und nicht erdichtet, oder bloße Meinung sein, und das ist die Möglichkeit des Gegenstandes selbst«. Als vernünftig ausgerichtete Dichtungen sind sie die sprachliche Darstellung der Kritik. »Alsdann« sei es nach Kant »wohl erlaubt, wegen der Wirklichkeit« des Gegenstandes »zur Meinung seine Zuflucht zu nehmen, die aber, um nicht grundlos zu sein, mit dem, was wirklich gegeben und folglich gewiß ist, als Erklärungsgrund in Verknüpfung gebracht werden muß, I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 192 f. Kant, KrV B 140. 39 I. Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VIII, 400, Anm. 40 Kant, Logik, AA IX, 34. 41 Kant, Logik, AA IX, 43. 42 Kant, Logik, AA IX, 65. 37 38
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und alsdann Hypothese heißt«. 43 Etwas »als ein hypothetisches Ding zum Behuf möglicher Erscheinungen anzunehmen« und in der jeweils verfügbaren Sprache mit anderen darüber zu sprechen, heißt demnach »dichten.« 44 Wir müssen in diesem transzendentalen Sinne »sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt« seien »zugleich Bedingungen«, aber keineswegs »die« Bedingungen »der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung«, und sie hätten »darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteil a priori.« 45 Ob im konkreten Fall alle Bedingungen erfüllt sind, können wir nicht wissen. Wir brauchen es auch nicht zu wissen, weil diejenigen, die Kant nennt, für seinen transzendentalen Sprachgebrauch hinreichend sind. Auch die reinen Verstandesbegriffe können nur unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten Zweckes hinreichend, aber nicht definitiv »zergliedert« werden. Selbst innerhalb der »Kritik der reinen Vernunft« werden sie nur »bis auf den Grad« zergliedert, der »in Beziehung auf die Methodenlehre«, so wie Kant sie für seinen kritischen Zweck bearbeitet, »hinreichend ist«. 46 Es sei »Unfug«, Wörter, »die in der Kritik d. r. V. selbst nicht wohl durch andere gangbare zu ersetzen sind, […] auch außerhalb derselben zum öffentlichen Gedankenverkehr zu brauchen«. 47 Diese Kritik wurde aber auch schon vor Kant »zur Sprache gebracht«, besonders deutlich und folgenreich bei Descartes, wenn hier auch noch im Interesse der Bewahrung eines ontologischen Begriffs der Beziehung von Denken und Sein. Das Cartesische »cogito sum« vermittelt zwar die Gewissheit, dass ich bin, »solange ich denke« (quandiu cogito). »Solange« kann das Denken »nicht von mir getrennt werden«. 48 Aber das sagt noch nicht, was ich bin. Die Frage nach der objektiven Gültigkeit der spezifizierenden, »empirischen« Begriffe bleibt damit dahingestellt. Descartes bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das traditionell vorgegebene Beispiel einer Wesensbestimmung des Menschen: »Was also habe ich vordem geglaubt zu sein? Doch wohl ein Mensch. Aber was ist das, ›ein Mensch‹ ? Soll ich sagen: ein vernünftiges, lebendes Wesen (animal rationale)? Keineswegs, denn dann müßte 43 44 45 46 47 48
Kant, KrV B 798. I. Kant, Opus postumum, AA XXII, 121. Kant, KrV B 197 (Hervorhebung v. Vf.). Kant, KrV B 108 f.: »die ich bearbeite«. Kant, MS, AA VI, 208. Descartes, Meditationes, II, 6. A
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man ja hernach fragen, was ein ›lebendes Wesen‹ und was ›vernünftig‹ ist«, d. h. hier: was diese Wörter bedeuten, »und so geriete ich aus einer Frage in mehrere und noch schwierigere«. Auch habe er »nicht soviel Zeit« (nec iam mihi tantum otii est), dass er »sie mit derartigen Spitzfindigkeiten vergeuden möchte«. 49 Sie führten »an sich« ins Unendliche, d. h. im Interesse der Erkenntnis zu nichts. Jede Analyse der Begriffe muss an irgendeiner Stelle abgebrochen werden, und sie kann auch abgebrochen werden, wenn sich die Frage nach der Bedeutung der in Frage stehenden Wörter nicht mehr stellt. Wer wisse denn z. B. nicht, »was Bewegung sei« (quis ignorat quid sit motus). 50 Damit verabschiedet sich Descartes von der nach dem Wesen von etwas fragenden ontologischen Philosophie. Leibniz hat dieses Abbrechen dann doch wieder ontologisch verstanden. Wenn wir die Explikation der Begriffe, über einen als sinnvoll erscheinenden Abbruch ihrer Erklärung hinaus weiterführten, könnte sich immer noch »ein Widerspruch ergeben« (fit ut lateat nos contradictio). 51 Der Begriff erwiese sich dann als »unmöglich«. Dagegen wieder könnte eine andere Person sagen, die erklärenden Wörter seien so, wie es in der Antwort auf die Frage nach der Bedeutung verstanden worden sei, nicht gemeint gewesen. Der erscheinende Widerspruch könnte sich dann als produktiv erweisen. Da nach Kant nur in der Mathematik, d. h. unter der Voraussetzung reiner Anschauung »Realdefinitionen« möglich sind, ist, wie er in seiner frühen Schrift »Über die Deutlichkeit« schreibt, »nichts der Philosophie schädlicher gewesen […] als die Mathematik, nämlich die Nachahmung derselben in der Methode zu denken, wo sie unmöglich kann gebraucht werden«. 52 Die Philosophie muss sich um ihres uneingeschränkt allgemeinen Anspruchs willen der Sprache bedienen, wie sie im allgemeinen Sprachverkehr, d. h. ohne definitorische Festlegungen der Begriffe gebraucht wird. Sich darauf beziehende Überlegungen finden sich bei dem mit Kant korrespondierenden Zeitgenossen, Mathematiker, Physiker und
Descartes, Meditationes, II, 5. R. Descartes, Regulae ad directionem ingenii, XII, 23. 51 G. W. Leibniz, Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis, in: Philosophische Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, IV, 424. 52 Kant, Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, AA II, 283. 49 50
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Philosophen Johann Heinrich Lambert. 53 Sie ergaben sich mit dem erreichten Reflexionsniveau dieser Zeit. Auch in Lamberts »Organon« (1764) geht es um eine »Methodenlehre«, die »die Bedingungen der Möglichkeit einer Anwendung der Methode der mathematischen Wissenschaften auf die theoretische Philosophie untersucht«. 54 Auch hier bleibt dahingestellt, ob das »Gefüge der Begriffe nach Gattungen und Arten«, das in logischen Operationen zugrunde gelegt wird, sich ontologisch in den Dingen wiederfindet. Die Forderung nach einer charakteristischen Bezeichnung, in der die Zeichen vorausliegenden Dingen »adäquat« sein sollen, erfüllt sich nach Lambert in den »wirklichen Sprachen« gerade nicht. Jede Antwort auf die Frage nach der Bedeutung gegebener Zeichen müsste wiederum in Zeichen bzw. Zeichensequenzen gegeben werden. Man könne nur »das hypothetische in der Bedeutung der Wörter« aufsuchen und zugleich darauf sehen, »wie die Bedeutung festgesetzt« werden könne, »weil dieses bey den sogenannten Nominaldefinitionen nothwendig wird, als welche nicht ins unendliche können fortgesetzt werden«. 55 Um nicht in dieses Dilemma zu geraten, muss man es dabei belassen, die die »Bedeutungen« erklärenden Zeichen zuletzt unmittelbar, d. h. ohne weitere Frage nach ihrer Bedeutung zu verstehen. Es bleibt bei den Zeichen. Im Unterschied zu Versuchen, die Arbitrarität der Zeichenrelation in einem Rekurs auf »die Sache selbst« zu überspringen, ist dann, auf dem Stand der philosophiehistorischen Reflexion seiner Zeit, auch Hegels Verständnis der Zeichen und der Sprache zu verstehen. Hegel zog daraus die Konsequenz, dass wir in der Wirklichkeit unseres Sprechens nicht in Begriffen im Sinne der Metaphysik, sondern in Namen »für« Begriffe denken, die wir gerade nicht in definitiver, sondern nur in einer für den aktuellen Gebrauch hinreichenden Deutlichkeit explizieren und, etwa in erklärenden Nebensätzen, mitbezeichnen können, solange noch um des Verständnisses willen nach der Bedeutung gefragt wird. Das Gespräch unter Personen und nicht das einzelne Urteil ist die allgemeine Form von Vorstellungen oder der »Geist«, in dem eine Person von ihrem Standpunkt aus einer anderen etwas vermittelt oder zu J. H. Lambert, Neues Organon. Philosophische Schriften, Bd. I und II, hg. von H. W. Arndt, Hildesheim 1965. – Vgl. v. Vf.: Johann Heinrich Lamberts Zeichenkunst als Weg zur Kritik, in: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung, hg. von M. Beetz u. G. Cacciatore, Köln/Weimar/Wien, 2000. 54 Lambert, Philosophische Schriften, I, Einleitung des Herausgebers. 55 Lambert, ebd., Vorrede. 53
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vermitteln versucht, die es von ihrem anderen Standpunkt aus anders versteht. Unter dem Begriff, füreinander Person zu sein, erkennen sich verschiedene Personen über das gegenseitige Verstehen oder Missverstehen hinaus an. Sie beziehen ihr Nichtverstehen ebensosehr wie ihr Verstehen immer auch auf sich und können, im Geist der gegenseitigen Anerkennung, selbst dann im Gespräch bleiben, wenn es durch Missverständnisse oder Hindernisse unterbrochen worden war. An jeden Versuch kann sich nach Humboldt im Prinzip – wenn auch nicht unter den jeweils gegebenen Umständen – »ein neuer« anschließen. 56 Als »Namen«, d. h. als Zeichen verstanden, bleiben die Begriffe in Bewegung. »Es ist in Namen, daß wir denken«, 57 schreibt Hegel. Wir können uns von ihrem Verständnis wie von den ihm zugrundeliegenden Vorstellungen wiederum nur unsere Vorstellungen machen, aber in der Entwicklung der Gedanken und ihrer möglichen Vermittlung bewegen sich die Namen und mit ihnen die Begriffe. Erst »seitdem man vergessen« habe, »was Namen als solche sind, nämlich für sich sinnlose Äußerlichkeiten, die erst als Zeichen eine Bedeutung haben«, fordere man »statt eigentlicher Namen den Ausdruck einer Art von Definition«, 58 die dann aber wieder in unmittelbar zu verstehenden Zeichen formuliert werden muss, und es muss sich jeweils zeigen, wieweit das gelingt. Das eigene Urteil, das man möglichst »in suspenso halten« soll, weil ein allgemeines materiales Wahrheitskriterium auch wegen der raum-zeitlichen Beschränkung des Standpunktes des urteilenden Subjekts nicht möglich sei, 59 ist nach Hegel schon rein als solches »ungeschickt, das Konkrete – und das Wahre ist konkret«, »auszudrücken«. Es ist schon »durch seine Form einseitig und insofern falsch«. 60 Auf der Differenz zwischen dem urteilenden Verstand und der die Differenz zu anderem Bewusstsein im Denken mitbedenkenden Vernunft beruht das Gespräch unter verschiedenen Subjekten, die Kant unter dem Aspekt, dass man ihnen eine Handlung – also auch eine Sprachhandlung – zurechnen kann, »Person« nennt. Liebrucks schließt Vgl. Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues …, AA VI, 160. 57 Hegel, Enz. § 462. 58 Hegel, Enz. § 459. 59 Kant, Logik, AA IX, 50. 60 Hegel, Enz. § 31. Wittgenstein geht dagegen, um die Urteilswahrheit zu begründen, davon aus, dass »die Welt« »in Tatsachen« zerfalle. (Tractatus logico-philosophicus, Satz 1.2.) 56
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sich dem der Sache nach an. Er unterscheidet zwischen einer subjektiv durch die Urteilsformen konstituierten »Realität« und der auf keinen allgemeingültigen Begriff zu bringenden »Wirklichkeit«, in der wir zusammen mit anderen und deren anderen Gesichtspunkten und Urteilsbildungen leben und in der dann auch diese Unterscheidung ihren kommunikativen Sinn hat. Liebrucks nennt den sich auf die so verstandene »Wirklichkeit« beziehenden Begriff den »Hegelschen Begriff«. Er gehört zum Leben, ohne Übersicht über die Welt als ein Ganzes. 61 Dieser »Hegelsche Begriff« ist dann nicht mehr einer der Begriffe, die man als Subjekt »hat«, indem man sie sich von seinem Standpunkt aus von der Wirklichkeit macht, sondern der Begriff, der man in seiner Beziehung auf andere selbst »ist«. Er ist, als »absolute Idee«, »freier, subjektiver Begriff, der für sich ist und daher die Persönlichkeit hat, – der praktische, an und für sich bestimmte, objektive Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Subjektivität ist, – der aber ebensosehr nicht ausschließende Einzelheit, sondern für sich Allgemeinheit und Erkennen ist und in seinem Andern seine eigene Objektivität zum Gegenstande hat. Alles übrige ist Irrtum, Trübheit, Meinung, Streben, Willkür und Vergänglichkeit; die absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit«. 62 – Hegels »Phänomenologie des Geistes« hat, als Philosophie der fortschreitenden Erfahrung des Bewusstseins, ihr Telos im »absoluten Geist«, als dem im »Wort der Versöhnung« »daseiende[n] Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut«. 63 Das »Wort der Versöhnung« ist hier das Wort der Anerkennung fremden Bewusstseins und das »Anschauen« des Gegensatzes »seiner selbst als allgemeinen Wesens« und »in sich seiender Einzelheit«. Ihre Vermittlung finden sie in der Logik der Wirklichkeit, in der eine Logik der Realität als abstraktes Moment aufgehoben ist. Liebrucks geht es hier um die Kritik eines gegenwärtigen Zustandes, in dem die so verstandene Wirklichkeit zwar da, aber noch nicht im Zum Begriff der Orientierung vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008. Zum Begriff des Lebens in Hegels Logik vgl. Liebrucks, SuB 6/3, 464 ff. 62 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik (Log), Sämtliche Werke, hg. von G. Lasson, Leipzig 1948, II, 484. 63 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Phä), Sämtliche Werke, hg. von J. Hoffmeister, Leipzig 1949, 471. 61
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allgemeinen Bewusstsein ist. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem philosophisch begriffenen »Frieden«, der »erst in der nicht mehr apologetischen christlichen Religion und im menschlich gewordenen Begriff« wohne. 64 Dieser Begriff übersteige den Begriff der absoluten Idee im Sinne Hegels, weil er nicht mehr nur der rein logischen Methode der »bestimmten Negation« entspräche, von der Hegel sagt, sie sei »das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen«. 65 Im Mythos sieht Liebrucks die sinnliche Gestaltung des Logos als logisch absolute Idee. Die griechischen Götter seien »niemals realiter existierende Einzelgestalten gewesen, sondern sinnliche Allgemeinbegriffe«. 66 Der Begriff eines allgemeinen materialen Wahrheitskriteriums, das über das formale Kriterium der Widerspruchsfreiheit hinausreichte, ist schon auf dem Boden der Kantischen Kritik »nicht möglich«; er ist »sogar in sich selbst widersprechend«. 67 Auch die durch ihre besonderen »Anfangsgründe« spezifizierten Einzelwissenschaften können unter diesem kritischen Aspekt nur soweit objektiv gültig sein, »als darin Mathematik anzutreffen ist«. Die die einzelnen Wissenschaften spezifizierenden inhaltlichen Begriffe, mit denen die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft beginnen, wie z. B.: die Begriffe »Ruhe« oder »Bewegung«, nennt Kant »abgesonderte, obzwar an sich empirische Begriffe«. 68 Sie bewirken die Besonderung der von ihrem Anfang an unterschiedlichen Einzelwissenschaften und deren unterschiedliche Begriffe von »Realität«. Für das Verständnis dieser kritischen Position ist Kants persönliche Bemerkung am Ende des Vorworts zur »Kritik der Urteilskraft« aufschlussreich: »Hiemit endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft. Ich werde ungesäumt zum doktrinalen schreiten, um wo möglich meinem zunehmenden Alter die dazu noch einigermaßen günstige Zeit noch abzugewinnen.« 69 Die kritischen Schriften sind insofern nur die Voraussetzung, gewissermaßen die Propädeutik einer in ihrem Anspruch auf objektive Gültigkeit kritisch begrenzten Metaphysik. In diesem kritischen Sinn folgt im Bereich der praktischen Philosophie auf die 64 65 66 67 68 69
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Liebrucks, SuB 7, 99. Hegel, Log I, 35. Liebrucks, SuB 7, 98. Kant, Logik, AA IX, 50. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, AA, IV 470 und 472. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Vorrede.
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»Kritik« der praktischen Vernunft eine »Metaphysik« der Sitten. In der theoretischen Philosophie sind das die »metaphysischen« Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Die Metaphysik, in die »verliebt zu sein« Kant sein »Schicksal« sah, 70 bleibt wenngleich selbst nicht als Wissenschaft, doch als »Naturanlage (metaphysica naturalis)« 71 nicht nur möglich, sondern wirklich und unvermeidlich. Die Frage nach »Bedingungen« der Möglichkeit objektiver Erkenntnis a priori – die sich schon auf die urteilsbildenden Verstandesbegriffe bezieht – und damit auch die Frage nach einem entsprechend bedingten Wahrheitsbegriff in der Form des Urteils ist die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft. Im Grunde ist mit der Frage nach vorausgesetzten »Bedingungen«, auf die »wir« uns einigen müssen, um objektiv geltende Urteile bilden zu können, das Gespräch die letzte »Form« der Erkenntnis. Bei Kant führt das zu einem dreifach gegliederten Wahrheitsbegriff, der unter kritischem Aspekt nur noch ein Begriff des Fürwahrhaltens sein kann. Diesem kritischen Begriff nach sind drei Modi des Fürwahrhaltens möglich: das Meinen als ein im Bewusstsein der urteilenden Person weder subjektiv noch objektiv hinreichend begründetes Fürwahr- oder Fürmöglichhalten, das (hier nicht moralischpragmatisch verstandene) Glauben als ein subjektiv, aber nicht objektiv hinreichendes Fürwahr- oder Fürwirklichhalten und das Wissen als ein sowohl subjektiv als auch objektiv hinreichend begründetes Fürwahroder Fürnotwendighalten. 72 Ein sich als rein objektiv begründet verstehendes Fürwahrhalten bezeichnet Kant als »Ahnung des Übersinnlichen«. 73 Es verfällt der Kritik. Die Bezeichnung der Modalität gehört nach Kant zur Vollständigkeit der Form des Urteils. Man soll, wenn man urteilt, dazusagen, ob man den Inhalt seines Urteils meint, glaubt oder zu wissen glaubt, d. h. ob es als Meinungssache, als Glaubenssache oder als Wissenssache zu verstehen sei. Wenn ein Urteil »für jedermann gültig« sein soll, »sofern er nur Vernunft hat«, kann »der Grund desselben«, wenn er auch nicht rein objektiv gültig sein kann, dennoch »objektiv hinreichend« sein. »Das Fürwahrhalten heißt alsdann Überzeugung«. Hat es aber »nur in I. Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, AA II, 367. 71 Kant, KrV B 21. 72 Vgl. Kant, Logik, AA IX, 65 ff. 73 I. Kant, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VIII, 397. 70
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der besonderen Beschaffenheit des Subjekts seinen Grund, so wird es Überredung genannt. – Überredung ist ein bloßer Schein, weil der Grund des Urteils, welcher lediglich im Subjekte liegt, für objektiv gehalten wird. Daher hat ein solches Urteil auch nur Privatgültigkeit, und das Fürwahrhalten läßt sich nicht mitteilen. Wahrheit aber beruht«, ihrer (abgebrochenen) Namenserklärung nach, »auf der Übereinstimmung mit dem Objekte, in Ansehung dessen folglich die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein müssen (consentientia uni tertio, consentiunt inter se). Der Probierstein des Fürwahrhaltens, ob es Überzeugung oder bloße Überredung sei, ist also, äußerlich, die Möglichkeit, dasselbe mitzuteilen und das Fürwahrhalten für jedes Menschen Vernunft gültig zu befinden; denn alsdann ist wenigstens eine Vermutung, der Grund der Einstimmung aller Urteile, ungeachtet der Verschiedenheit der Subjekte untereinander, werde auf dem gemeinschaftlichen Grunde, nämlich dem Objekte, beruhen, mit welchem sie daher alle zusammenstimmen und dadurch die Wahrheit des Urteils beweisen werden.« 74 Wer überredet worden ist, ist selbst überzeugt. Das begründete, für sich genommen, einen Konsensusbegriff der Wahrheit. Im Gespräch muss jedoch offen bleiben, ob jemand sich bei dem, was ein anderer sagt, wirklich »dasselbe« denkt. Was »dasselbe« sein soll, muss wiederum in Zeichen angegeben werden. Das ist die »Wirklichkeit« im Unterschied zur festgestellten »Realität«. Sie beruht auf der Setzung einer Relation zwischen Zeichen und einer Bedeutung. Die Entfaltung der drei logisch möglichen Modi des subjektiven Fürwahrhaltens ist ein Resultat der kritischen Eingrenzung reiner Vernunft, synthetische Urteile a priori mit objektiver Gültigkeit nur durch die Voraussetzung bestimmter Bedingungen bilden zu können. Synthetische Urteile a priori, d. h. Urteile aus »reiner« Vernunft, sind wohl wirklich und auch unvermeidlich, aber in »objektiver Gültigkeit« doch nicht möglich. Kant entfaltet die Modi des Fürwahrhaltens sowohl in der »transzendentalen Methodenlehre« der »Kritik der reinen Vernunft« als auch in der »Logik«. 75 Sie entsprechen der dreifach modifizierten Stufung der Urteilskraft als der individuellen Kraft zur Urteilsbildung. Unter dem Namen einer durch Vernunft geregelten Einbildungskraft bleibt sie ein individuelles Vermögen. In der Welt eines sich als rein theoretisch verstehenden Wissens 74 75
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Kant, KrV B 848 f. Kant, KrV B 848 ff.; Logik, AA IX, 65 ff.
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kann man sich nichts als Ursache denken, das nicht durch eine vorausliegende Ursache bedingt wäre. Im Bereich des Praktischen aber ist die Handlung aus Freiheit, die daher persönlich zurechenbar und zu verantworten ist, die eigentliche ratio essendi. Auch ein Urteil ist solch eine Handlung. Deshalb soll man nach Kant sein Urteil »in suspenso« halten. Wenn man es aber äußert, soll man an ihm mitbezeichnen, ob man es selbst als eine Meinung, einen Glauben oder ein Wissen versteht. Am deutlichsten zeigt sich der Vorrang des Praktischen daran, dass man moralische Urteile nicht »in suspenso« halten soll. Sie mit anderen zu teilen und zu befolgen ist kategorisch gebotene Pflicht. Schon der Kantische Urteilsbegriff hat praktisch-philosophische Bedeutung. Das moralische Urteil ist seiner Bedeutung nach kein Fürwahrhalten, sondern ein kategorisches, d. h. unbedingtes Gebot. Es bedarf deshalb auch keiner Transzendentalphilosophie, die in kritischer Absicht auf einschränkende Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori mit objektiver Geltung reflektiert. Als kategorische Gebote der Vernunft stehen moralische Urteile nicht zur Disposition des individuellen Fürwahrhaltens. Man darf sie nicht »in suspenso« halten. »Das vornehmste Augenmerk bei der Einteilung einer solchen Wissenschaft [der Transzendentalphilosophie] ist: daß gar keine Begriffe hineinkommen müssen, die irgend etwas Empirisches in sich enthalten; oder daß die Erkenntniß a priori völlig rein sei. Daher, obzwar die obersten Grundsätze der Moralität und die Grundbegriffe derselben Erkenntnisse a priori sind, so gehören sie doch nicht in die Transzendental-Philosophie, weil sie die Begriffe der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen usw., die insgesamt empirischen Ursprungs sind, zwar selbst nicht zum Grunde ihrer Vorschriften legen, aber doch im Begriffe der Pflicht, als Hindernis, das überwunden, oder als Anreiz, der nicht zum Bewegungsgrunde gemacht werden soll, notwendig in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinziehen müssen.« 76 Sie beziehen sich, als Gebot des Handelns im einzelnen Fall, auf Gefühle. Der oberste Grundsatz der Moral ist der kategorische Imperativ, als ein Gebot, das besagt, welchen Maximen man folgen solle. Er besagt aber noch nichts für die moralische Orientierung im einzelnen Fall. Dazu bedarf es »kasuistischer Fragen«. 77 Dass Kant mit der »Kritik der Urteilskraft« sein ganzes kritisches 76 77
Kant, KrV B 28 f. Vgl. Kant, MS, Ethische Elementarlehre, § 6 ff. AA VI, 422 ff. A
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Geschäft beenden wollte, um »ungesäumt zum doktrinalen« fortzuschreiten, gilt auch und vor allem für die »Kritik der reinen praktischen Vernunft«. Ihr folgt die »Metaphysik der Sitten«. Uneingeschränkt verbindliche Gesetze können sich nur auf die Maximen der Handlungen beziehen, aber nicht auf die »wirklichen« Handlungen, »denn das thut das Ius«. Diese vernunftkritische Einschränkung der Möglichkeit einer allgemein verbindlichen Ethik über eine Maximenethik hinaus impliziert die notwendige Begründung des Rechts als einer Instanz des »objektiven« Geistes. Die Ethik, so wie Kant sie in der »Metaphysik der Sitten« kritisch versteht, kann wegen der kategorischen, uneingeschränkten Verbindlichkeit der Normen moralischen Handelns »nicht Gesetze für Handlungen« geben, »sondern nur für die Maximen der Handlungen«. 78 Ethische Pflichten sind daher »von weiter«, die Rechtspflichten dagegen von »enger Verbindlichkeit«. 79 Deshalb bedarf die Ethik angesichts gegebener Fälle einer Kasuistik, nach der von Fall zu Fall, also praktisch entschieden werden muss, unter welchen Begriff von Tugenden oder Lastern der zu beurteilende, gegebene Fall zu subsumieren sei. Das zu bedenken ist eine Frage der Gerechtigkeit. Unter »kasuistischen Fragen«, z. B. im Zusammenhang mit der Lüge, erörtert Kant dann auch so Verschiedenes wie »die bloße Höflichkeit« in der Formulierung am Ende eines Briefes »Ihr ganz gehorsamer Diener« als auch eine unwahre Auskunft, die ein Verbrechen verhindern soll. Deshalb kann es in einer »katechetischen Moralunterweisung« auch nur darum gehen, »bei jeder Pflichtzergliederung einige casuistische Fragen aufzuwerfen und die versammelten Kinder« an einem Beispiel für die ethische Beurteilung eines Falles, »ihren Verstand versuchen zu lassen, wie ein jeder von ihnen die ihm vorgelegte verfängliche Aufgabe aufzulösen meinte«. 80 Wichtig ist für Kant hier das Üben des Subsumierens unter einen ethisch relevanten Handlungsbegriff, denn dafür kann es keine allgemeine Regel geben. Es bedarf der Urteilskraft, die als vom Verstand geregelte Einbildungskraft individuell ist. Das ist das Ergebnis einer »Kritik der praktischen Vernunft«. »Sie soll blos darthun, daß es reine praktische Vernunft gebe, und kritisirt in dieser Absicht ihr ganzes praktisches Vermögen. Wenn es ihr hiemit gelingt«, so braucht sie »das reine Vermögen selbst nicht zu kri78 79 80
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Kant, MS, AA VI, 388. Kant, MS, AA VI, 389. Kant, MS, AA VI, 483 f.
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tisiren, um zu sehen, ob sich die Vernunft mit einem solchen als einer bloßen Anmaßung nicht übersteige, (wie es wohl mit der speculativen geschieht). Denn wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich.« 81 Das betrifft dann auch den kritischen Begriff der Aufklärung. Nach Kant ist es »sehr was Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie notwendig ausfallen müsse«. 82 »Aufklärung« ist nach Kant bekanntlich »der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«, und »Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.« Nach dem Abbruch der begrifflichen Explikationen des Verstandes steht dann nur noch der Imperativ: »Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« 83 Anstelle definitiv zu Ende gebrachter begrifflicher Bestimmungen ist nach Hegel »die Erkenntnis des logischen Satzes, daß das Negative ebensosehr positiv ist, oder daß das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, […] das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen«. 84 »Bestimmte Negation« bedeutet hier, dass die Negation als ein rein logischer Begriff sich auf eine positiv vorgegebene Bestimmung bezieht. Sie wäre dann als davon abhängig gedacht. Der im Leibniz’schen Sinne erscheinende Widerspruch wird damit zur produktiven Negation, in der sich die positive Bestimmung ebenso erhält: Keine Philosophie ist demnach »widerlegt worden. Was widerlegt worden, ist nicht das Princip dieser Philosophie, sondern nur dieß, daß dieß Princip das Letzte, die absolute Bestimmung sey.« 85 Jeder Bestimmungsschritt ist die historische Aufhebung des vorausliegenden. So wie es keinen vorurteilsfreien, absoluten Anfang der Wissenschaft geben kann, so gibt es für sie auch kein im voraus bestimmbares Ende, I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, AA V, 3. Kant, KrV B 775. 83 I. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? AA VIII, 35. 84 Hegel, Log I, 35 f. 85 G. W. F. Hegel, Geschichte der Philosophie, Sämtliche Werke, hg. von H. Glockner, XVII, 67. 81 82
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sondern nur die ad melius esse, aber nicht ad esse ausgerichtete Bewegung von Zeichen zu anderen Zeichen. »Was [zu einer Zeit] vernünftig ist, das ist [zu dieser Zeit] wirklich; und was [zu einer Zeit] wirklich ist, das ist [zu dieser Zeit] vernünftig.« 86 Analog zu der Frage nach einem vorurteilsfreien Anfang der »Wissenschaft der Logik« heißt es – um es in diesem Zusammenhang noch einmal zu zitieren – an ihrem logischen Ende: Die absolute Idee ist der freie »Begriff, der für sich ist und daher die Persönlichkeit hat, – der praktische, an und für sich bestimmte, objektive Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Subjektivität ist, – der aber ebensosehr nicht ausschließende Einzelheit, sondern für sich Allgemeinheit und Erkennen ist und in seinem Andern seine eigene Objektivität zum Gegenstande hat«. 87 – Der dieser Idee zugrundeliegende Begriff ist ein Begriff, den der Mensch nicht »hat«, sondern der er als dieser Mensch selbst »ist«. Phänomenologisch, d. h. als Erfahrung des Bewusstseins verstanden, ist der »absolute« Geist »das Wort der Versöhnung«. 88 »Ich habe wohl Begriffe«, da ich Namen »dafür« habe, aber »Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Dasein gekommen ist«. 89 Es ist der »daseiende Geist, der das reine Wissen seiner selbst als allgemeinen Wesens in seinem Gegenteile, in dem reinen Wissen seiner als der absolut in sich seienden Einzelheit anschaut, – ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist.« 90 Es ist der als »Geist« existierende Begriff, der andere anerkennt, die von ihrem anderen Gesichtspunkt aus und damit aus einer anderen Beschränkung des Denkens heraus »ich« sagen. – Indem ich die anderen, mit denen ich es »wirklich« zu tun habe, anerkenne, auch wenn ich sie nicht oder noch nicht verstehe und sie mir darin fremd sind, gestehe ich ihnen Spielräume des Verstehens und damit auch des Handelns zu. »Das reproduzierende Gedächtnis hat und erkennt im Namen die Sache, und mit der Sache den Namen, ohne Anschauung und Bild.« 91 Der »eigene Inhalt der Anschauung und der, dessen Zeichen sie ist«, gehen – wegen der Arbitrarität der Zeichenrelation, die dann aber eigentlich keine Relation zwischen Gegebenen mehr ist, – »einander 86 87 88 89 90 91
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G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, Werke VII, 33. Hegel, Log II, 484. Vgl. Liebrucks, SuB 6/3, 626. Hegel, Phä 471. Hegel, Log II, 220. Hegel, Phä 471. Hegel, Enz § 462.
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nichts an«. Das Gedächtnis bewahrt die vorgegebene Relation zwischen Zeichen und Bedeutung aber auf. Es hat es überhaupt »nur mit Zeichen zu tun«. 92 »Auf diese Weise« ist es »der Übergang in die Tätigkeit des Gedankens«, 93 der im »Aufheben« des »Unterschiedes der Bedeutung und des Namens« 94 keine von den Zeichen für die Sache verschiedene Bedeutung mehr hat, sodass von seiner »Objektivität nicht mehr das Subjektive ein Verschiedenes ist«. 95 Es bleibt in jedem Fall bei den Zeichen und damit bei dem Zugeständnis, »etwas« anders und nicht unbedingt auch als »etwas« zu verstehen. Dass wir dennoch von einer Relation sprechen, verdankt sich dem überkommenen philosophischen Sprachbegriff, nach dem wir im Wahrheitsbegriff von einer Übereinstimmung von Zeichen und Bezeichnetem ausgehen. Nach Gadamer bedeutet »Verstehen« nicht, »sich in einen anderen Versetzen«, sondern »sich in der Sache Verständigen«. 96 Hegel sieht in der Bildung, in der das Subjekt sich seine Sprache aneignet und sie gestaltet, einen »sich entfremdeten Geist«. 97 »Diese Entfremdung geschieht allein in der Sprache, welche hier in ihrer eigentümlichen Bedeutung auftritt.« In ihr gibt sich das individuelle Bewusstsein anderem individuellen, anderem daseienden Bewusstsein »so vollkommen als im Tode« hin, da sein Leben auf dem Zusammensein mit ihm gründet. In »dieser Entäußerung« »erhält« es sich aber auch, denn »es wird dadurch als das wirklich, was es an sich ist, als die identische Einheit seiner selbst und seiner als des Entgegengesetzten«. Darin, und nicht in der definitiven Bezeichnung transzendenter Objekte, hat nach Hegel die Sprache ihre »eigentümliche[n] Bedeutung«. »Sie allein spricht Ich aus, es selbst«. »Ich ist dieses Ich«. Indem es spricht, bezeichnet es zugleich für sich und für andere den individuellen, raumzeitlichen Ort des Sprechens. Aber im gleichzeitigen »Verschwinden« der Stimme, in der »Ich« sich sinnlich darstellt, ist es »ebenso allgemeines« Ich. 98 Indem mit der Stimme die Zeichen verhallen, vermittelt sie von einer Person zu anderen. Im Unterschied zu anderen sinnlichen Medien der Kommunikation, wie z. B. der Schrift, ist sie »das Nächste zum Den92 93 94 95 96 97 98
Hegel, Enz § 458. Hegel, Enz § 464. Hegel, Enz § 463. Hegel, Enz § 464. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965, 361. Vgl. Hegel, Phä 347 ff. Hegel, Phä 362. A
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ken; denn hier wird die reine Subjektivität gegenständlich, nicht als eine [an sich schon] besondere Wirklichkeit, als ein Zustand oder eine Empfindung, sondern im abstracten Elemente von Raum und Zeit«. 99 Hegels Rekurs auf die Stimme ist in diesem Zusammenhang nicht nur von beiläufiger Bedeutung. Sie ist hier als die physische Grundlage des Sprachvermögens verstanden. Damit wird deutlich, dass sich die Überlegungen nicht auf die Sprache als Gegenstand, sondern auf das »wirkliche« Sprechen beziehen. Bei der logisch-egoistischen Bildung von Sätzen, die je für sich wahr oder falsch, also im auf Gegenstände bezogenen Sinn wahrheitsdefinit sein sollen, ist die Wirklichkeit des Sprechens von Person zu Person nicht betroffen. 100 Dieser eingeschränkte Wahrheitsbegriff ist, als der »Metabegriff« wahrer Sätze aufgefasst, schon seiner Form nach falsch. Hegel ist diesem Problem dadurch begegnet, dass er, als Hinführung zu dem Begriff eines »absoluten Geistes«, jeder Gestalt oder »Stufe« des Bewusstseins ihre eigene Sprache zuspricht, als einem Sprechen, das bereits nach dem ersten Kapitel der »Phänomenologie«, der »Sinnlichen Gewißheit«, die »göttliche Natur« hat, »die Meinung«, mit einem begrifflos Gegebenen und damit unmittelbar anfangen zu können, »unmittelbar zu verkehren, zu etwas anderen zu machen und so sie gar nicht zum Worte kommen zu lassen«. 101 Es hilft auch nicht weiter, wenn man es mit einem vermeintlich sprachlosen Zeigen versucht. Auch dann muss gesagt werden, auf »was« gezeigt werden soll. Die Stimme zeigt den Ort ihrer Herkunft und damit den individuellen Gesichtspunkt des Sprechenden, von dem aus er mir etwas zu sagen versucht. Mit der Stimme kommt die Individualität des Sprechenden und damit auch die des Gesagten zur Sprache. Im Sprechen, mit dem das Individuum, das als solches »ineffabile« ist, 102 jeweils auf seine eigene Weise zu Ende kommen muss, wenn es überhaupt »etwas« sagen und vermitteln und sich nicht im Unendlichen verlieren will, zeigt sich das »Dasein« der Sprache. Davon wird in einer gegenständlichen Sprachbetrachtung, d. h. im Reden »über« die Sprache abstrahiert. Die auf die Stufe der »sinnlichen Gewißheit« folG. W. F. Hegel, Naturphilosophie, § 351, Werke IX, 581. Vgl. den Kantischen Begriff des logischen Egoismus: »Der logische Egoist hält es für unnöthig, sein Urtheil auch am Verstande Anderer zu prüfen.« (Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, 128) Vgl. auch Kant, Logik, AA IX, 80. 101 Hegel, Phä 89. 102 Goethe an Lavater, am 20. 9. 1780. 99
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gende Bewusstseinsstufe der »Wahrnehmung« in sich bestimmter Gegenstände wird dadurch erreicht, dass die Stufe der »sinnlichen« Gewißheit nicht abstrakt negiert, sondern in der »Wahrnehmung« aufbewahrt bleibt. Ebenso verhält es sich bei jedem weiteren Übergang zu der nächsten, sozusagen »höheren« Bewusstseinsstufe. Die letzte Stufe, die alle anderen »in« sich und keine mehr abstrakt »außer« sich hat, ist die des »absoluten«, durch keine »Positivität« mehr eingeschränkten Geistes. Den »Weg« dorthin zeigt die »Phänomenologie« als Philosophie der »Erfahrung des Bewußtseins« in den Erscheinungsweisen dieses Geistes. Die auf die Formulierung, was der absolute Geist sei, noch folgenden Kapitel der »Phänomenologie« stellen keine »Stufen« mehr dar, die sich auf dem logischen Weg der »bestimmten Negation« der vorausliegenden ergeben, sondern Ausgestaltungen des Daseins dieses Geistes auf der höchsten Stufe. Man versteht die Sprache, die man spricht, im »Allgemeinen« ohne Frage nach Bedeutungen. Es gehört zum Verstehen, dass man mit »metasprachlichen« Überlegungen zu einer einsehbaren und befriedigenden Erklärung kommen muss. »Wenn ich über Sprache (Wort, Satz etc.) rede, muß ich die Sprache des Alltags reden.« »Und wie wird denn eine andere gebildet? – Und wie merkwürdig, daß wir dann mit der unsern überhaupt etwas anfangen können!« 103 – Alle »metasprachlichen« Erläuterungen, »was« Sprache sei und wie man die Arbitrarität der semantischen Relation zu überbrücken gedenke – z. B. indem man »sie« als Kausalrelation, als Analogie, als Korrespondenz oder wie auch immer zu verstehen versucht – scheitern daran, dass die Kategorien des Verstandes sich auf die Bildung objektiv gültiger Urteile beziehen sollen. Ihrer Arbitrarität zufolge fällt die sprachlich-semantische Relation wesentlich unter keinen dieser Begriffe. Man kann dann aber auch nicht mehr fragen, ob die Sätze, in denen man »metasprachlich« nach Kriterien der Wahrheit solcher auf »Objekte« ausgerichteten Sätze fragt, ihrerseits im Sinne des so oder so formulierten Wahrheitsbegriffs wahr seien. Sie sind, gerade weil sie den auf Objekte bezogenen Wahrheitsbegriff zum Inhalt haben, in diesem Sinn weder wahr noch falsch. Es bleibt dann aber auch ein Problem, was es heißt, mit anderen Worten »dasselbe« zu sagen, wenn man das, was zur Bestimmung ad melius esse gegeben ist, dadurch hinreichend erklären will. Die Sprache ist, soweit sie im Sprechen »da« ist, von höherer, und 103
L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nr. 120. A
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d. h. nach Hegel und auch nach Liebrucks, von »göttlicher«, also uns entzogener Natur. Der Wahrheitsbegriff ist dann aber auch »menschlich«, wenn er die Zeichen für Gegenstände, mit denen man es wirklich zu tun hat, zugleich ästhetisch stehen lässt für andere Bestimmungen, entweder zu einer anderen Zeit oder zur selben Zeit durch andere Personen, und insofern nicht ad esse, sondern immer nur ad melius esse. 104 – »Die absolute Idee, wie sie sich [hier] ergeben hat, ist die Identität der theoretischen und der praktischen [Idee], welche jede für sich noch einseitig, die Idee selbst nur als ein gesuchtes Jenseits und unerreichtes Ziel in sich hat.« 105
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Vgl. Kant, KrV B 759 f. Hegel, Log II, 483 f.
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Leo Dorner Dr. phil.; geb. 1947; Studium der Philosophie (bei E. Heintel), Musikwissenschaft, Pädagogik an der Universität Wien und Komposition an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien; 1974 Promotion (Dissertation: Studien zu den formalen Grundlagen des tonalen Systems im 19. Jahrhundert, Tutzing 1977); Unterrichtstätigkeit, wissenschaftlicher Dienst und Bibliotheksleitung an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz bis 2009; Lehraufträge zu philosophischen und musikwissenschaftlichen Themen. Veröffentlichungen u. a.: Das Philosophon. Essays zur Musik, Würzburg 2005 Traktat über vormoderne und moderne Kunst, Würzburg 2010 Thomas Sören Hoffmann Prof. Dr. phil.; geb. 1961; Studium der Philosophie, Ev. Theologie und Italianistik in Tübingen, Wien und Bonn; 1999 Habilitation und Privatdozentur in Bonn, verschiedene Lehrstuhlvertretungen; 2005 apl. Professur für Philosophie in Bonn; 2004 Mitinitiator des »Südosteuropäischen Bioethikforums«, Ko-Direktor des Referenzzentrums für Bioethik in Südosteuropa, Zagreb; 2006 Mitherausgeber der Zeitschrift »Synthesis philosophica«; 2007 Karl Jaspers-Förderpreis der Universität Oldenburg; 2007–2009 Mitglied der Arbeitsgruppe »Internationale Aspekte der Bioethik« der Deutschen UNESCO-Kommission; seit 2009 Lehrstuhl II für Praktische Philosophie: Ethik, Recht, Ökonomie an der FernUniversität in Hagen. Veröffentlichungen u. a.: Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie (Quaestiones – Themen und Gestalten der Philosophie 14), Suttgart-Bad Cannstadt 2003 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2012 A
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Klaus Honrath Dipl. Volkswirt, Dr. phil.; geb. 1954; Studium der Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin; 1978–1994 Tätigkeiten in der Privatwirtschaft im Bereich Organisation und Logistik; 2000–2009 Studium der Philosophie und Geschichte an der Friedrich Wilhelms Universität Bonn; Assistent am Lehrstuhl II für Praktische Philosophie: Ethik, Recht, Ökonomie an der FernUniversität in Hagen. Veröffentlichungen u. a.: Die Wirklichkeit der Freiheit im Staat bei Kant, Würzburg 2011 Max Gottschlich Mag. DDr. phil.; geb. 1979; Studium der Philosophie und Musikwissenschaft an der Universität Wien; seit 2007 Assistent für Philosophie am Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz. Veröffentlichungen u. a.: Auf der Suche nach dem Logos der Musik. Eine Kritik der Tonalitätsbegründung bei Ansermet, Würzburg 2010 Franz Ungler, Bruno Liebrucks’ »Sprache und Bewußtsein«. Vorlesung vom WS 1988, mit einem Geleitwort von Josef Simon, hg. von M. Gottschlich, erscheint 2013 bei K. Alber Simone Liedtke Dr. phil.; geb. 1978; Studium der Evangelischen Theologie in Bielefeld und Hamburg; 2007–2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel (Systematische Theologie); 2011 Promotion zum Gottesbegriff bei B. Liebrucks an der Universität Kassel; nach dem Zweiten theologischen Examen zurzeit theologische Referentin für Kunst und Kultur im Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers. Veröffentlichungen u. a.: Freiheit als Marionette Gottes. Der Gottesbegriff im Werk des Sprachphilosophen Bruno Liebrucks, Berlin/New York 2013 Theodoros Penolidis Prof. Dr. phil., geb. 1961; Studium der Philosophie, Erziehungswissenschaft und Kunstgeschichte an der Rheinischen Friedrich Wilhelms Universität Bonn; 1995 Promotion; 1998–2001 Adjunct Professor an der Universität Kreta-Rethymnon, Griechenland; 2001 Assistant Pro306
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fessor (Lektoras), 2004–2007 Assistant Professor (Epikouros Kathegetes), 2008 Assistant Professor (Monimos Epikouros Kathegetes) und seit 2010 Professor der Philosophie (Ontologie und Erkenntnistheorie) an der Aristoteles Universität Thessaloniki, Griechenland; Übersetzer grundlegender Werke ins Griechische (u. a. von N. Cusanus, R. Descartes, J. G. Fichte, F.W.J. Schelling und G.W.F. Hegel). Veröffentlichungen u. a.: Der Horos. G.W.F. Hegels Begriff der absoluten Bestimmtheit oder die logische Gegenwart des Seins, Würzburg 1997 Methode und Bewußtsein. Der Begriff des Bewußtseins in der neueren Philosophie (in griechischer Sprache), Athen 2004 Brigitte Scheer em. Prof. Dr. phil.; Studium der Philosophie, Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte in Köln und Frankfurt am Main; Promotion bei B. Liebrucks; mehrere Jahre Assistentenzeit bei B. Liebrucks, ab 1972 Professur für Philosophie am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt am Main; Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Philosophie der Kunst, Philosophie des deutschen Idealismus, Kant, Sprachphilosophie. Veröffentlichungen u. a.: Dimensionen der Sprache in der Philosophie des Deutschen Idealismus hg. mit G. Wohlfart, Würzburg 1982 Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 1997 Werner Schmitt Dr. phil.; Studium der Philosophie in Frankfurt am Main; 1972 Promotion bei B. Liebrucks; 1977–1979 Habilitandenstipendium der DFG für den Forschungsauftrag »Hegels Philosophie der Kunst und Liebrucks’ Philosophie von der Sprache her«; 1966–1981 Tutor, Hilfsassistent und letzter Assistent von B. Liebrucks; 1980–1984 nebenberuflicher pädagogischer Mitarbeiter der Volkshochschulen Frankfurt und Offenbach; 1984–2007 Erzieher und Lehrer am Evangelisch-lutherischen Studienheim des Windsbacher Knabenchors. Veröffentlichungen u. a.: Das Selbstbewußtsein als Inbegriff der drei Formen der Positivität, Bern/Frankfurt am Main 1975
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Josef Simon em. Prof. Dr. phil. Dr. h.c.; geb. 1930; Studium der Philosophie, Germanistik, Geographie und Geschichte in Köln; 1957 Promotion in Köln (»Das Problem der Sprache bei Hegel«) bei B. Liebrucks; 1967 Habilitation in Frankfurt am Main für das Fach Philosophie (»Sprache und Raum. Philosophische Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Wahrheit und Bestimmtheit von Sätzen«); 1967–1971 Oberassistent, Dozent und Professor an der Universität Frankfurt am Main; 1971– 1982 Ordinarius für Philosophie an der Universität Tübingen; 1982– 1995 Ordinarius für Philosophie an der Universität Bonn; 1985–1994 Herausgeber der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie; seit 1990 Mitherausgeber der Nietzsche-Studien; 1995 Emeritierung; 2004 Dr. h.c. der Aristoteles-Universität Thessaloniki. Veröffentlichungen u. a.: Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989 Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/ New York 2003 Maria Woschnak (geb. Fasching) Dr. phil.; geb. 1954; Studium der Philosophie, Psychologie und Pädagogik bei Erich Heintel und Hans-Dieter Klein; Promotion 1986; 1988– 2005 Universitätslektorin an der Universität Wien (Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaften), seit 1995 Lehrbeauftragte an der Veterinärmedizinischen Universität Wien (Tierethik). Veröffentlichungen u. a.: Zum Begriff der Freundschaft bei Aristoteles und Kant, Würzburg 1990 Kuno Fischer, Arthur Schopenhauer. Leben, Werke und Lehre, hg. mit W. Woschnak, Wiesbaden 2010 Werner Woschnak Dr. phil.; geb. 1953; Studium der Philosophie, Psychologie und Pädagogik bei Erich Heintel und Hans-Dieter Klein; Promotion 1983; seit 1985 Universitätslektor an der Universität Wien (Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaften); 1990 Förderungspreis für Wissenschaft des Landes Kärnten. Veröffentlichungen u. a.: Zum Begriff der Sitte. Überlegungen zum Verhältnis von Sitte, moralischer Autonomie und Rechtsordnung, Wien 1988
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Kuno Fischer, Arthur Schopenhauer. Leben, Werke und Lehre, hg. mit M. Woschnak, Wiesbaden 2010 Fritz Zimbrich Dr. phil.; geb.1936, Studien an der Universität Frankfurt am Main: Lehramt für Haupt- und Realschulen mit den Fächern Deutsch, Mathematik und Geschichte; Zweitstudium Philosophie (bei B. Liebrucks), Rechtsgeschichte und Pädagogik; 1975 Promotion; 1981–2001 Tätigkeit im Hessischen Landesinstitut für Pädagogik; Lehraufträge in den Fächern Didaktik der Philosophie sowie Didaktik des Ethikunterrichtes an den Universitäten Frankfurt am Main, Darmstadt, Erfurt und Jena; heute Lehrbeauftragter der Universität des dritten Lebensalters an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main im Fach Philosophie. Veröffentlichungen u. a.: Eine Untersuchung über den Begriff des Wissens, Frankfurt am Main 1975 (Diss.) Die Sprachlichkeit der Erziehung, Henn 1977
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https://doi.org/10.5771/9783495998496 .
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